Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen: Religiöse Reform im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts 3515121714, 9783515121712

Der Pietismus auf dem Gebiet des heutigen Thüringen ist bislang ein wenig bearbeitetes Thema. Die Autorinnen und Autoren

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German Pages 327 [330] Year 2018

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Table of contents :
VORWORT
INHALT
(Alexander Schunka)
Einleitung
(Veronika Albrecht-Birkner) „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiographischer Problemaufriss
I: URSPRÜNGE: POLITIK UND FRÖMMIGKEIT IM HERZOGTUM SACHSEN-GOTHA
(Terence McIntosh)
Das „Werck der christlichen Disciplin“ Herzog Ernsts des Frommen.
Inspiration für die Glauchaer Kirchenzucht August Hermann Franckes?
(Mary Noll Venables)
Ardentissimum Piorum Desiderium. Christoph Brunchorst and the
Encouragement of Piety in Mid-Seventeenth-Century Thuringia
(Jonathan Strom)
Johann Hieronymus Wiegleb and the Experience of Conversion
II: ETABLIERUNG UND KONSOLIDIERUNG: PIETISMUS IN DER THÜRINGISCHEN FRÖMMIGKEITSLANDSCHAFT
(Douglas H. Shantz)
Ahasver Fritsch’s Conception of Christian Renewal compared with
Spener’s
(Mathias Müller)
„[…] daß man sich beym Hochf. Consistorio in der Saalfeld und
Pößneckischen Pietistischen Sache überaus wol vorzusehen habe“.
Die sogenannten Pößneckschen Händel
(Wolfgang Breul)
Otto Heinrich Becker (1667–1723) zwischen Waldeck und Reuß
(Ernst Koch)
Von Jena nach Weimar. Johann Ernst Stolte (1672–1719) und seine
Bedeutung für den Pietismus in Thüringen
III: INTERAKTIONEN: REFORMPROJEKTE ZWISCHEN THÜRINGEN UND DEM MITTELDEUTSCHEN RAUM
(Wolfgang Miersemann)
Tanzkritik aus dem Thüringischen. Zu den Anfängen der
pietistischen Kampagne gegen das „Weltübliche Tantzen“
(Antje Schloms)
Thüringen – Glaucha und zurück. Gegenseitige Beeinflussung
und Verbindungen im Bereich der Waisenfürsorge seit der Mitte
des 17. Jahrhunderts
(Holger Trauzettel)
Fromme Grafen? Das höfische Leben in den reußischen Territorien
in den Tagebüchern Heinrichs XXIII. von Reuß-Lobenstein (1715)
und August Hermann Franckes (1718)
IV: KONTAKTAUFNAHMEN: THÜRINGISCHER PIETISMUS IN GRENZÜBERSCHREITENDER PERSPEKTIVE
(Alexander Schunka) Pflanzgarten. Thüringische Akteure in der europäischen Reich-Gottes-Arbeit des Halleschen Pietismus seit 1700
(Christoph Rymatzki)
Der Freundeskreis des Institutum Judaicum und der Hallenser
Judenmission in Thüringen (1728–1742)
(Rüdiger Kröger)
Die Brüdergemeine in den ernestinischen Territorien und Erfurt
ANHANG
Biographische Informationen zu den Autorinnen und Autoren
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
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Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen: Religiöse Reform im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts
 3515121714, 9783515121712

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Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen Religiöse Reform im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Veronika Albrecht-Birkner und Alexander Schunka

Kulturwissenschaften Franz Steiner Verlag

Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit – 13

Veronika Albrecht-Birkner / Alexander Schunka (Hg.) Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen

gothaer forschungen zur frühen neuzeit Herausgegeben vom Forschungszentrum und der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt Schriftleitung: Martin Mulsow und Kathrin Paasch Band 13

Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen Religiöse Reform im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Veronika Albrecht-Birkner und Alexander Schunka

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12171-2 (Print) ISBN 978-3-515-12177-4 (E-Book)

VORWORT Der vorliegende Band dokumentiert die internationale und interdisziplinäre Tagung Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen. Interaktionen einer religiösen Reformbewegung im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts, die vom 12. bis 14. März 2015 auf Schloss Friedenstein in Gotha stattfand. Diese Tagung hat Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Irland, den Vereinigten Staaten und Kanada zusammengeführt. Dies wäre nicht möglich gewesen ohne die großzügige Unterstützung zahlreicher Institutionen und Personen. Für die institutionelle und wissenschaftliche Förderung der Konferenz danken wir dem Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt, vertreten durch seinen Direktor Martin Mulsow, und der Forschungsbibliothek Gotha, insbesondere der Direktorin Kathrin Paasch sowie dem Mitorganisator der Veranstaltung Sascha Salatowsky. Die Tagung wurde in wissenschaftlicher Kooperation mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle durchgeführt. Sie fand statt im Rahmen des an Forschungsbibliothek und Forschungszentrum Gotha angesiedelten Projekts „Bildungslandschaft und Wissenskultur“ (gefördert aus Mitteln des Thüringer Ministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur) sowie in Verbindung mit dem DFG-geförderten Projekt „Ausbau der Forschungsbibliothek Gotha zu einer Forschungs- und Studienstätte für die Kulturgeschichte des Protestantismus“. Förderer der Tagung waren die Ernst Abbe-Stiftung Jena, die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland sowie der Freundeskreis der Forschungsbibliothek Gotha. Das Zustandekommen des Sammelbandes wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuss der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften sowie durch die Unterstützung der Freien Universität Berlin und der Universität Siegen. Forschungszentrum und Forschungsbibliothek Gotha sei ferner für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit“ gedankt. Unerlässliche redaktionelle Arbeiten einschließlich der Erstellung der Register übernahmen (in alphabetischer Reihenfolge) Berit Biewald (Leipzig), Lennart Gard (Berlin), Julia Muhametov (Siegen), Adrina Schulz (Berlin) und Merve Tekgürler (Berlin). Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Wir hoffen, dass der Band in der internationalen und interdisziplinären Pietismusforschung Impulse setzen möge in Richtung einer tiefergehenden und weiterführenden Beschäftigung mit Phänomenen protestantischer Frömmigkeit und Reform im thüringischen Raum – und vielleicht auch darüber hinaus. Siegen und Berlin, im Juni 2018 Veronika Albrecht-Birkner und Alexander Schunka

INHALT Alexander Schunka Einleitung ...........................................................................................................

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Veronika Albrecht-Birkner „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiographischer Problemaufriss ................................................................................................... 21 I URSPRÜNGE: POLITIK UND FRÖMMIGKEIT IM HERZOGTUM SACHSEN-GOTHA Terence McIntosh Das „Werck der christlichen Disciplin“ Herzog Ernsts des Frommen. Inspiration für die Glauchaer Kirchenzucht August Hermann Franckes? ......... 51 Mary Noll Venables Ardentissimum Piorum Desiderium. Christoph Brunchorst and the Encouragement of Piety in Mid-Seventeenth-Century Thuringia ..................... 71 Jonathan Strom Johann Hieronymus Wiegleb and the Experience of Conversion ...................... 85 II ETABLIERUNG UND KONSOLIDIERUNG: PIETISMUS IN DER THÜRINGISCHEN FRÖMMIGKEITSLANDSCHAFT Douglas H. Shantz Ahasver Fritsch’s Conception of Christian Renewal compared with Spener’s .............................................................................................................. 101 Mathias Müller „[…] daß man sich beym Hochf. Consistorio in der Saalfeld und Pößneckischen Pietistischen Sache überaus wol vorzusehen habe“. Die sogenannten Pößneckschen Händel ............................................................ 113 Wolfgang Breul Otto Heinrich Becker (1667–1723) zwischen Waldeck und Reuß .................... 129

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Inhalt

Ernst Koch Von Jena nach Weimar. Johann Ernst Stolte (1672–1719) und seine Bedeutung für den Pietismus in Thüringen ........................................................ 149 III INTERAKTIONEN: REFORMPROJEKTE ZWISCHEN THÜRINGEN UND DEM MITTELDEUTSCHEN RAUM Wolfgang Miersemann Tanzkritik aus dem Thüringischen. Zu den Anfängen der pietistischen Kampagne gegen das „Weltübliche Tantzen“ ............................... 185 Antje Schloms Thüringen – Glaucha und zurück. Gegenseitige Beeinflussung und Verbindungen im Bereich der Waisenfürsorge seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ........................................................................................... 209 Holger Trauzettel Fromme Grafen? Das höfische Leben in den reußischen Territorien in den Tagebüchern Heinrichs XXIII. von Reuß-Lobenstein (1715) und August Hermann Franckes (1718) .............................................................. 223 IV KONTAKTAUFNAHMEN: THÜRINGISCHER PIETISMUS IN GRENZÜBERSCHREITENDER PERSPEKTIVE Alexander Schunka Pflanzgarten. Thüringische Akteure in der europäischen Reich-GottesArbeit des Halleschen Pietismus seit 1700 ........................................................ 243 Christoph Rymatzki Der Freundeskreis des Institutum Judaicum und der Hallenser Judenmission in Thüringen (1728–1742) .......................................................... 265 Rüdiger Kröger Die Brüdergemeine in den ernestinischen Territorien und Erfurt ...................... 289 ANHANG Biographische Informationen zu den Autorinnen und Autoren ......................... Abkürzungsverzeichnis ...................................................................................... Personenregister ................................................................................................. Ortsregister .........................................................................................................

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EINLEITUNG Alexander Schunka 1. AUSGANGSLAGE UND ZIELE Der Pietismus auf dem Gebiet des heutigen Thüringen ist bislang ein wenig bearbeitetes Forschungsfeld. Die Ernestinischen Herzogtümer einschließlich ihrer Nachbarterritorien, die das frühneuzeitliche Thüringen bilden, werden in der umfangreichen Geschichte des Pietismus nur en passant erwähnt.1 Nicht als erster stellte der Kirchenhistoriker Ernst Koch vor knapp zwei Jahrzehnten in aller Deutlichkeit fest: „Zu den hinsichtlich des Pietismus völlig unbefriedigt erforschten Gebieten gehören die ehemaligen Teilterritorien des 1920 gegründeten Landes Thüringen.“2 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich daran bis heute nichts Grundlegendes geändert. Ein solcher Befund mag insofern überraschen, als die Bedeutung Thüringens gerade für die Frühgeschichte der zentralen protestantischen Reformbewegung des Pietismus nicht in Frage steht. An dieser Stelle setzt die vorliegende Tagungsdokumentation3 an. Angesichts der kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Pietismusforschung in den letzten Jahren4 wollen die im Band versammelten Aufsätze dazu beitragen, das Feld der Forschung für den ernestinisch geprägten mitteldeutschen Raum des 17. und 18. Jahrhunderts zu vermessen, Forschungsdesiderate zu markieren und die Signifikanz der thüringischen Territorien für die Frömmigkeits- und Reformbewegung des Pietismus in ihren regionalen und europäischen Dimensionen zu umreißen. Gemeinsamer Angelpunkt ist nicht so sehr eine strikt theologieund kirchengeschichtliche Perspektive. Das Augenmerk gilt vielmehr insbesondere

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Besonders misslich ist dies etwa im zweiten Band des Werks (Geschichte des Pietismus. Bd. 2. Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995). Ernst Koch: Generalsuperintendent Henrich Fergen und die Anfänge des Pietismus in Gotha. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Breul-Kunkel u. Lothar Vogel. Darmstadt 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 5), 189–211, hier: 189. Vgl. zur Tagung Mary Noll Venables: Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen. Interaktionen einer religiösen Reformbewegung im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts (Gotha 2015). Tagungsbericht. URL: https://networks.h-net.org/node/25693/discussions/ 71303/conference-report-%E2%80%9Cpietism-thuringia%E2%80%9D (6.6.2018). Festzustellen ist dies insbesondere in den Dokumentationen der Internationalen Pietismuskongresse, beginnend mit: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter. 2 Bde. Halle/Saale 2005 (HaFo, 17).

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Alexander Schunka

den zeitgenössischen Formen von Interaktion und Kommunikation,5 den sozialen Praktiken und Mobilitätsphänomenen, die eine Vergemeinschaftung der Frommen ermöglichten. Forschungspragmatisch wird im Folgenden von ‚Thüringen‘ gesprochen, weil sich damit die mehr als zwanzig frühneuzeitlichen territorialen Einheiten auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes und Freistaats erfassen lassen, dessen Grenzen sich grob an der mittelalterlichen Landgrafschaft orientieren und in etwa das Gebiet zwischen Harz und Thüringer Wald, Saale und Werra einschließen. Inbegriffen sind sowohl die Ernestinischen Herzogtümer als auch die ihnen benachbarten Grafschaften, die kurmainzische Stadt Erfurt oder die Reichsstadt Mühlhausen.6 Die territoriale Zersplitterung des Thüringer Raums in der Frühen Neuzeit ging einher mit einem übergreifenden Landesbewusstsein, das nicht nur in Druckwerken verschiedener Genres erkennbar ist,7 sondern sich auch in spezifischen politisch-administrativen und kulturellen Traditionen ausdrückte. Dazu gehörten etwa sukzessionsrechtliche Aspekte der Ernestiner wie die Ablehnung der Primogenitur oder eine besondere reformatorische Erinnerungskultur.8 Diese Aspekte stehen in einem interessanten Spannungsverhältnis zum Aufkommen pluraler Frömmigkeitskulturen und protestantischer Reformtendenzen im thüringischen Raum, wie sie sich im Pietismus konkretisierten. Dass die politisch-kulturellen Bedingungen und lutherischen Vorprägungen dieses heterogenen Territoriengebildes zur Ausbildung einer spezifischen Frömmigkeitslandschaft beitrugen, die gerade für die protestantischen Reformbewegungen des Pietismus eine besondere Wirkmächtigkeit besaß, 5

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Als Beispiel für eine kommunikations- und interaktionsbasierte Herangehensweise in der neueren Pietismusforschung s. London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle/Saale 2014 (HaFo, 39). Grundsätzlich für die Geschichte der Frühen Neuzeit: Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Paderborn 2014; s. auch die grundlegende Arbeit von Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 129). Vgl. den Überblick von Steffen Raßloff: Geschichte Thüringens. München 2010 (Beck’sche Reihe, 2616). Als geographischer Zusatz in Leichenpredigten und anderen Textgattungen ist „Thüringen“ über die gesamte Frühe Neuzeit verbreitet; als Beispiele aus dem Bereich der frühneuzeitlichen Historiographie und Chronistik s. etwa Zacharias Rivander: Düringische Chronica. Von Ursprung vnd Herkommen der Düringer […]. [Frankfurt/Main] 1581; Caspar Sagittarius: Antiquitates Regni Thvringici. Das ist: Gründlicher / und Ausführlicher Bericht von dem Nahmen und alten Zustande Des Thüringer Landes insonderheit aber von dem alten Thüringischen Königreich […]. Jena 1685; Georg Michael Pfefferkorn: Merkwürdige und Auserlesene Geschichte von der berümten Landgrafschaft Thüringen […]. Frankfurt, Gotha 1684; zu den Ursprüngen s. Matthias Werner: Die Anfänge eines Landesbewußtseins in Thüringen. In: Aspekte thüringisch-hessischer Geschichte. Hg. v. Michael Gockel. Marburg/Lahn 1992, 81–138. Siegrid Westphal: Nach dem Verlust der Kurwürde. Die Ausbildung konfessioneller Identität anstelle politischer Macht bei den Ernestinern. In: Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise. Hg. v. Martin Wrede u. Horst Carl. Mainz 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz, Beiheft, Abt. Universalgeschichte, 73), 173–192.

Einleitung

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liegt dem Band als Vermutung zugrunde; wie sich eine solche Thüringer Frömmigkeitslandschaft zu einem größeren mitteldeutschen Raumgefüge verhielt, ist bislang offen. In zeitlicher Perspektive behandeln die hier versammelten Beiträge die Kernepoche des lutherischen Pietismus von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Im Bewusstsein nicht abschließend geklärter terminologischer und inhaltlicher Diskussionen in der kirchengeschichtlichen Pietismusforschung setzen wir einen Begriff von Pietismus als dynamische, durch Aushandlungspraktiken in bestimmten räumlich-territorialen Milieus geprägte Bewegung voraus. Zugrunde liegt arbeitspragmatisch also in gewisser Weise ein ‚enger‘ Pietismusbegriff, der zur Beschreibung der gleichnamigen religiösen Erneuerungsbewegung im mitteleuropäischen Protestantismus zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert dient.9 Im Sinne der Zielsetzung des Bandes rückt allerdings die Frage nach der Abgrenzung des Phänomens eher in den Hintergrund: So geht es im Folgenden um die Sondierung eines bislang nicht ausreichend erschlossenen Forschungsfelds in kulturwissenschaftlich-kommunikationsorientierter Perspektive. Einige der folgenden Beiträge thematisieren denn auch speziell die Heterogenität protestantischer Reformversuche, auf die gerade jüngere Arbeiten hingewiesen haben: die frömmigkeitlichen Ursprünge und aufgenommenen Traditionen,10 die Überlagerungen zwischen Reformorientierung und ‚traditionellem‘ Luthertum und schließlich die Schnittmengen zwischen unterschiedlichen Reformansätzen und Frömmigkeitskulturen.11 Ziel des Bandes ist es jedoch nicht zuletzt, anhand spezifischer Fallstudien das Terrain zu sondieren, Desiderate zu markieren und Anstöße für künftige Forschungen zu geben. 2. FORSCHUNGSLINIEN Bereits der bisherige Kenntnisstand, der häufig auf älteren Forschungen wie denen Theodor Wotschkes (1871–1939) aus dem frühen 20. Jahrhundert beruht,12 legt die Relevanz des Themas „Pietismus in Thüringen“ unmittelbar nahe. Für den Halleschen Pietismus und insbesondere für das Personal der Glauchaer Anstalten sind bestimmte Rekrutierungsgebiete und Einflusszonen im Reich bekannt. Dazu gehören zum Beispiel die Grafschaften Waldeck und Stolberg-Wernigerode, aber auch 9 10

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Vgl. zusammenfassend Wolfgang Breul: Pietismus. In: Enzyklopädie der Neuzeit 10, 2009, 12 f. Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Zur Rezeption Johann Arndts in Sachsen-Gotha (1641/42) und in den Auseinandersetzungen um den Pietismus der 1690er Jahre. In: PuN 26, 2000, 29– 49; Douglas Shantz: An Introduction to German Pietism. Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe. Baltimore 2013 (Young Center Books in Anabaptist and Pietist Studies). S. zur Problematik Veronika Albrecht-Birkner: „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiografischer Problemaufriss. In: PuN 41, 2015, 126–153 (nochmals abgedruckt im vorliegenden Band). Insbesondere Theodor Wotschke: Vom Pietismus in Thüringen. In: Beiträge zur Thüringischen Kirchengeschichte 1/2, 1930, 295–311; 1/3, 1931, 356–397; ders.: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, 1929, 1–55.

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Alexander Schunka

Berlin oder der mecklenburgische Raum. Bisher nicht weiter systematisch erforscht ist das Gebiet des heutigen Thüringen, obgleich ältere Arbeiten ebenso wie aktuelle internetbasierte Suchmöglichkeiten eine enorme Dichte an Thüringer Geistlichen mit engen Kontakten nach Halle und in andere Zentren der pietistischen Bewegung nahelegen.13 Eine Thüringer Herkunft, zeitweilige Anstellungen oder verwandtschaftliche Beziehungen spielten für zentrale Figuren des Halleschen Pietismus eine Rolle – allen voran für August Hermann Francke (1663–1727), der mit Ausnahme der ersten drei Lebensjahre selbst seine gesamte Kindheit und Jugend in Gotha verbracht hatte und auch in späterer Zeit – so im Herbst 1690 nach seiner Entlassung als Prediger in Erfurt – immer wieder in die Residenzstadt zurückkehrte.14 Sein Leben lang griff Francke auf Thüringer Kontakte zurück, wie sich an prominenten Mitstreitern zeigt. Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) wirkte von 1685 an für einige Jahre als Meininger Hofprediger und hielt sich anschließend um 1690 gemeinsam mit Francke in Erfurt auf; Paul Anton (1661–1730) war als Hofprediger in Eisenach tätig, bis er 1695 nach Halle ging. Die Biographien von Heinrich Julius Elers (1667–1728) und Johann Jakob Rambach (1693–1735) verbinden sich mit pietistischen Kreisen in Arnstadt, die Familie Vockerodt hatte Mühlhäuser Wurzeln, Johann Heinrich Callenberg (1694–1760) stammte aus Molschleben im Herzogtum Sachsen-Gotha und Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739) hatte in Jena studiert – die Reihe ließe sich mühelos fortsetzen. Dass es sich beim frühneuzeitlichen Thüringen um einen wanderungsintensiven, enorm durchlässigen Raum handelte, kann kaum bezweifelt werden.15 Sucht man nach thüringischen Spuren innerhalb der weltweit agierenden pietistischen Bewegung(en), dann muss allerdings nicht unbedingt das eher anekdotische Ziel im Vordergrund stehen, möglichst viele Thüringer zu finden, die es – unter welchen Umständen auch immer – nach Halle und hinaus in die Welt verschlagen hat.16 Mindestens ebenso interessant sind Fragen nach kommunikativen Mustern, nach der Etablierung von Netzwerken und der Zirkulation bzw. Transformation einschlägiger Ideen. 13

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Dies lässt sich etwa durch eine ortsbasierte Suche in der Datenbank Das bio-bibliographische Register zum Archiv der Franckeschen Stiftungen leicht feststellen (URL: https://digital.franckehalle.de/fsbio [7.6.2018]). Für die ältere Forschung bieten insbesondere die Arbeiten Wotschkes wertvolle Hinweise [s. Anm. 12]. Vgl. Gustav Kramer: August Hermann Francke. Ein Lebensbild. Bd. 1. Halle/Saale 1880, Abschnitte 1, 3 und passim. Vgl. Alexander Schunka: Lutherische Leitkultur. Migranten und Konvertiten im frühneuzeitlichen Thüringen. In: Im Kampf um die Seelen. Glauben im Thüringen der frühen Neuzeit. Ausstellungskatalog. Hg. v. Sascha Salatowsky. Gotha 2017 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 54), 129–140, mit weiterführender Literatur. Vgl. aber die aufschlussreiche Sammlung „Hinaus ins Weite …“ Reisen Thüringer Protestanten. Hg. v. Susanne Böhm u. Miriam Rieger. Erfurt 2010 (Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte, NF, 4); außerdem die Biogramme deutscher Angehöriger der Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC), die überwiegend aus dem thüringisch-sächsischen Raum stammten, bei Roelof van Gelder: Das ostindische Abenteuer. Deutsche in Diensten der Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC), 1600–1800. Hamburg 2004 (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums, 61), 219–228.

Einleitung

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In Umrissen ist durchaus bekannt, dass sich seit dem späteren 17. Jahrhundert in Thüringen unterschiedliche Zentren religiöser Erneuerung herausbildeten – gelegentlich im Verbund mit dem territorialstaatlichen und kirchlichen Establishment, häufig aber auch in Abgrenzung davon. Nach Ansicht der Forschung ist hier insbesondere die Achse Gotha-Halle von großer Bedeutung. Das unter dem Eindruck des Dreißigjährigen Krieges im Jahr 1640 gegründete Herzogtum Sachsen-Gotha unter Ernst I., dem ‚Frommen‘ (1601–1675), gilt gemeinhin als Keimzelle (vor-) pietistischer Reformprojekte. Unter dem Begriff „Reformation des Lebens“ etablierte sich hier eine enge, obrigkeitlich gesteuerte Bewegung zur umfassenden Reform von Kirche und Gesellschaft, die auf die religiöse Erziehung der Untertanen zielte. Dies drückte sich in Bildungsanstrengungen aus, aber auch in ausgefeilten Sittenzucht-, Disziplinierungs- und Überwachungsmaßnahmen.17 Zahlreiche Ideen und Karrieren wichtiger Protagonisten im frühen Pietismus verweisen zurück nach Sachsen-Gotha. Zu einer Keimzelle protestantischer Reformbestrebungen in Thüringen war seit den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts das Gothaer Gymnasium Ernestinum geworden. Dort hatte sich „ein Kreis gebildet […], der sich als ein zweites Zentrum des Pietismus neben Halle verstand“.18 Diese Gruppe um den Rektor Gottfried Vockerodt (1665–1727) und die Lehrer Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1732) sowie Johann Conrad Kesler (1665–1716) stand in enger Verbindung mit Francke. In theologischer und frömmigkeitlicher Hinsicht verweisen sowohl pietistische Radikalisierungstendenzen der Frühzeit19 als auch Positionsbestimmungen der Reformbewegung zu orthodoxen Traditionen, etwa im Hinblick auf die Adiaphoraproblematik, auf thüringische bzw. Gothaer Kommunikationszusammenhänge.20 17

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Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002 (LStRLO, 1); Andreas Klinger: Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen. Husum 2002 (Historische Studien, 469). Vgl. Johannes Wallmann: Neues Licht auf die Zeit Johann Sebastian Bachs in Mühlhausen. Zu den Anfängen des Pietismus in Thüringen. In: ders.: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III. Tübingen 2010, 191–257, hier: 233 f. Vgl. u. a. Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der Radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen 2010 (AGP, 55), 57–84; Johannes Wallmann: Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte – Universitätsgeschichte. Hg. v. Ulman Weiß. Weimar 1992, 403–422. Vgl. Gudrun Busch: Die Beer-Vockerodt-Kontroverse im Kontext der frühen mitteldeutschen Oper oder: Pietistische Opern-Kritik als Zeitzeichen. In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. v. Rainer Lächele. Tübingen 2001, 131–170; Rainer Bayreuther: Der Streit zwischen Beer und Vockerodt. Zur Physiognomie der Musikauffassung im Spannungsfeld von pietistischer Kunstkritik und antipietistischer Polemik. In: Johann Beer. Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter 1655–1700. Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels, Oktober 2000. Hg. v. Ferdinand von Ingen. Bern [u. a.] 2003 (Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A, 70), 285–303; Irmgard Scheitler: Der Streit um die Mitteldinge. Menschenbild und Musikauffassung bei Gottfried Vockerodt und seinen Gegnern. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen

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Alexander Schunka

Es ist daher kaum überraschend, dass im Streit um weltliche Vergnügungen wie Tanzen, Musik oder Wirtshausbesuche gerade der Gothaer Gymnasialrektor Vockerodt energisch Partei ergriff.21 Obwohl im Umfeld des Gothaer Gymnasiums Ideen vertreten wurden, die der offiziellen Linie Halles zum Teil widersprachen, scheint August Hermann Francke sich aus dem Gothaer Personal- und Ideenreservoir immer wieder bedient zu haben. Die Übernahme von Sachsen-Gothaer Bildungs- und Schulkonzepten (z. B. Andreas Reyhers [1601–1673] Gothaer Schulmethodus von 1642), von Lehrbüchern (z. B. Kurtzer Unterricht Von Natürlichen Dingen von 1657) sowie entsprechenden Lehrund Lernmethoden legt nahe, dass die Schulreformen im Herzogtum entscheidende Vorbildwirkung für den Halleschen Bildungskosmos beanspruchen können.22 Ähnliches gilt für die lutherischen Disziplinierungs- und Sittenzuchtkonzepte,23 bei denen erstaunliche Übereinstimmungen zwischen dem Kirchenwesen Ernsts des Frommen und dem Halleschen Pietismus festgestellt wurden.24 Sogar die jeweiligen Gründungsmythen, die sich im Fall von Franckes Glauchaer Anstalten in auffallender Analogie zur Gründungserzählung des „Gothaer Fürstenstaats“ im Kontext frühneuzeitlicher Sozialutopien und Universalreformprojekte darstellen, bedürften eigentlich einer genaueren Untersuchung: Auffällig ist nicht allein die Dominanz zweier schöpferischer Vaterfiguren, die Ordnung ins Chaos und Frömmigkeit in die Herzen gebracht hätten;25 bemerkenswert sind auch die zeitgenössischen Verbindungslinien. Hier wäre etwa an den Einfluss Veit Ludwig von Seckendorffs (1626–1692) zu denken.26

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Kongress für Pietismusforschung 2005. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Bd. 2. Halle/Saale 2009 (HaFo, 28), 513–530. Vgl. Reimund B. Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit, 107), 257–281. Vgl. Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Ausstellungskatalog. Hg. v. Sascha Salatowsky. Gotha 2012 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 49). Vgl. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 17], 443–445. Vgl. Terence McIntosh: Pietism, Church Discipline, and Ministry. The Tribulations of Christoph Matthäus Seidel. In: Politics and Reformations: Histories and Reformations. Essays in Honor of Thomas A. Brady, Jr. Hg. v. Christopher Ocker [u. a.]. Leiden, New York 2007 (Studies in Medieval and Reformation Traditions, 127), 397–424; Mary Noll Venables: Pietist Fruits from Orthodox Seeds. The Case of Ernest the Pious of Saxe-Gotha-Altenburg. In: Confessionalism and Pietism. Religious Reform in Early Modern Europe. Hg. v. Fred van Lieburg. Mainz 2006 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz, Beiheft, Abt. Abendländische Religionsgeschichte, 73), 91–109. Vgl. hier nur die prägenden biographischen Darstellungen: August Beck: Ernst der Fromme, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des 17. Jahrhunderts. Weimar 1865; Kramer, Francke [s. Anm. 14]. Die neuere Forschung ist dabei, sich von derartigen zeittypischen Überhöhungen abzusetzen, vgl. Die Welt verändern. August Hermann Francke. Ein Lebenswerk um 1700. Ausstellungskatalog. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Wiesbaden 2013 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 29). Zu Seckendorff s. Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005 (Historia profana et ecclesiastica, 11). Für Sachsen-Gotha unter Ernst dem Frommen s. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 17]; Beck, Ernst der Fromme [s. Anm. 25].

Einleitung

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Die Wirkmächtigkeit der Achse Gotha-Halle für die Konstituierung des Halleschen Pietismus scheint unbestritten. Gleichwohl wäre es unzureichend, pietistische Frömmigkeit in Thüringen und entsprechende Reforminitiativen allein auf das Gothaer Herzogtum und die Verbindungen nach Halle zu beziehen. Charakteristisch für das 17. Jahrhundert scheint vielmehr vor dem Hintergrund lutherischer Prägungen die Pluralität der politischen und frömmigkeitlichen Landschaft Thüringens zu sein, gemeinsam mit der Mobilität der Zeitgenossen innerhalb dieses Raumes.27 Man sollte daher nicht übersehen, dass sich zwischen Saale und Werra auch andere frömmigkeitliche Strömungen etablierten, die sich nicht gänzlich – oder überhaupt nicht – in Einklang mit einem späteren kirchlichen Pietismus Hallescher Prägung bringen ließen. Dazu gehörte das Wirken Ahasver Fritschs (1629–1701) in Rudolstadt, aber auch das Phänomen der „Begeisterten Mägde“, das in den frühen neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts Erfurt erreichte, ferner das Umfeld der Eisenacher Hofdame Eva von Buttlar (1670–1721) und schließlich separatistische Gruppen im Altenburger Land.28 Für die ersten fünfzig Jahre der pietistischen Bewegung waren gerade die kleineren Territorialherrschaften (Sekundogeniturfürstentümer oder Grafschaften) von kaum zu überschätzender Bedeutung. Dort entstanden mitunter eigenständige Frömmigkeitsformen mit beträchtlicher Ausstrahlung ins Reich.29 Im frühen 18. Jahrhundert etablierte sich im ernestinischen Sekundogeniturfürstentum Sachsen-Saalfeld unter dem Enkel Ernsts des Frommen kurzzeitig eine dezidiert pietistische Regierung, deren Bedeutung für das Verhältnis von Pietismus und Staatsbildung kaum bekannt ist.30 Zur selben Zeit verfolgte der einflussreiche Gothaer 27 28

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S. dazu jetzt den Band: Im Kampf um die Seelen [s. Anm. 15]. Zu Fritsch vgl. Ernst Koch: In der Liebe Christi Christus gleichförmig werden. Frömmigkeit in der Grafschaft Schwarzburg-Rudolstadt im 17. Jahrhundert. In: Im Kampf um die Seelen [s. Anm. 15], 113–128. Zu den „Begeisterten Mägden“ s. Claudia Wustmann: Die „begeisterten Mägde“. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig, Berlin 2008. Zu Eva von Buttlar s. Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998 (AGP, 35); zum Altenburger Land s. Miriam Rieger: Religionsstreitigkeiten in Kahla und Orlamünde um 1700. In: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 31, 2007, 27–50. Dies gilt etwa für die Reußischen Grafschaften, vgl. Anke Brunner: Aristokratische Lebensform und Reich Gottes. Ein Lebensbild des pietischen Grafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz (1681–1748). Herrnhut 2005 (UF Beiheft, 13); für die Ausstrahlung von Ebersdorf in die Oberlausitz s. Lubina Mahling: Um der Wenden Seelenheyl hochverdient. Reichsgraf Friedrich Caspar von Gersdorf. Eine Untersuchung zum Kulturtransfer im Pietismus. Bautzen 2017 (Schriften des Sorbischen Instituts, 64); s. auch Eberhard Winkler: Der Kaufunger Schulstreit. Die Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Erweckung in einer sächsischen Dorfgemeinde. In: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 28/29, 2006, 157–167. Vgl. Christoph Bochinger: Aus Anton Heinrich Walbaums Tagebuch. Beobachtungen zur Religionskultur und weltweiten Kommunikation des Hallenser Pietismus in der zweiten Generation. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 1: Vormoderne. Hg. v. Erich Donnert. Weimar [u. a.] 1997, 521–537; s. auch Johann Adolph von Schulte: Sachsen Coburg=Saalfeldische Landesgeschichte, unter der Regierung des Kur= und fürstlichen Hauses Sachsen von den ältesten bis zu den neuesten Zeiten. Eine Fortsetzung der Coburgi-

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Kirchenrat Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) als führender Kopf der sogenannten ‚Lutherischen Spätorthodoxie‘ energisch eine antipietistische Kirchenpolitik in Thüringen und im Reich. Dies hielt ihn indes nicht von direkter Kommunikation mit führenden Anhängern des Pietismus oder von der Sammlung pietistisch-nonkonformistischer Drucke ab, die heute noch einen bedeutenden Bestand der Forschungsbibliothek Gotha ausmachen.31 Vor Ort setzte sich Cyprian unter anderem aktiv gegen das Ausgreifen von Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700–1760) Herrnhuter Brüdergemeine in den Thüringer Raum ein, der seinerseits über gute Beziehungen nach Jena verfügte und seinen Sohn Christian Renatus (1727–1752) dort studieren ließ. Die Verbindungen der Herrnhuter nach Thüringen oder die Thüringer Unterstützerkreise von Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum et Muhammedicum verweisen darauf, dass Anhänger protestantischer Reformbewegungen in Thüringen mit der Außenwelt eng vernetzt waren und ihrerseits von außen beeinflusst wurden. So legten die Protagonisten in Halle und Herrnhut großen Wert auf Kontakte nach Thüringen, wobei neben dem Gothaer Gymnasium insbesondere das Umfeld der ernestinischen Landesuniversität Jena um den Gelehrten Johann Franz Buddeus (1667–1729) als Kristallisationspunkt bekannt ist.32 Theologen wie Anton Heinrich Walbaum (1696–1753) oder Otto Heinrich Becker (1667–1723) fungierten als Verbindungsleute zwischen den ‚frommen‘ Herrschaften in Thüringen und andernorts im Reich.33 Die Beziehungen zwischen Reuß-Ebersdorf und der Oberlausitz deuten darüber hinaus beispielhaft auf Versuche hin, eine spezielle (Thüringer?) Spielart pietistischer Frömmigkeit auch jenseits von Halle oder Herrnhut zu verbreiten.34

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schen Landesgeschichte des Mittelalters. Mit einem Urkundenbuche. Bd. 3. Coburg 1822, 11–29. Vgl. Gertraud Zaepernick: Verzeichnis der Handschriftenbestände pietistischer, spiritualistischer und separatistischer Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts in der Landesbibliothek Gotha, sowie in anderen Handschriftensammlungen und Archiven in Gotha und Erfurt. [Halle/Saale] o. J.; Ernst Salomon Cyprian (1673–1745). Zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Vorträge des internationalen Kolloquiums vom 14. bis 16. September 1995 in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, Schloss Friedenstein. Hg. v. Ernst Koch u. Johannes Wallmann. Gotha 1996 (Veröffentlichungen der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, 34); Alexander Schunka: Fighting or Fostering Plurality? Ernst Salomon Cyprian as a Historian of Lutheranism in the Early Eighteenth Century. In: Archeologies of Confession. Writing the German Reformation, 1517–2017. Hg. v. Carina L. Johnson [u. a.]. New York, Oxford 2017, 151–172. Zur Erschließung von Cyprians Nachlass s. das Forschungsprojekt Die reformationsgeschichtlichen und historiographischen Quellen des frühen 18. Jahrhunderts auf Schloss Friedenstein Gotha. Erschließung des Nachlasses des Theologen und Kirchenhistorikers Ernst Salomon Cyprian (1673–1745). Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte (URL: https:// www.uni-erfurt.de/forschung/forschungsprojekte/sammlungsbezogene-forschungsprojekte/ nachlass-cyprian/#c192995 [7.6.2018]). Zu Buddeus s. Friederike Nüssel: Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus. Göttingen 1996 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 77); Johannes Wallmann: Der Pietismus an der Universität Jena. In: PuN 37, 2011, 36–85. Bochinger, Walbaums Tagebuch [s. Anm. 30]. Vgl. Mahling, Gersdorf [s. Anm. 29].

Einleitung

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Auf diese Doppelperspektive, die eine Untersuchung pietistischer Frömmigkeit und Reform in Thüringen gleichzeitig immer auch zu einer Geschichte der Außenwirkungen und äußeren Einflüsse macht, verweist der Titel des vorliegenden Bandes. Es geht nicht allein um die Etablierung pietistischer Reformansätze in Thüringen, sondern auch um deren mögliche Ausstrahlung in andere Gebiete und um die Aneignung pietistischer Frömmigkeitsformen von außerhalb in den thüringischen Territorien. Es ist die Hoffnung der Herausgeberin und des Herausgebers, dass sich die Bedeutung des Pietismus im thüringischen Raum auf der Grundlage dieses Bandes schärfer als bisher konturieren lässt, und zwar auf mehreren Ebenen: vor dem Hintergrund eines spezifischen politisch-territorialen Rahmens, innerhalb dessen sich bestimmte konfessionskulturelle Eigenheiten ausprägen konnten; als personeller Rekrutierungsraum, der auf familiären, verwandtschaftlichen und lokalen Beziehungen, auf Bildungskontakten und Patronageverhältnissen beruhte; als Ideenpool und religiös-frömmigkeitlicher Schmelztiegel; schließlich als historisches Gegengewicht zu den bislang weitaus bekannteren Anstalten August Hermann Franckes in Halle und ihrem Umfeld. 3. INHALT DES BANDES Die charakteristische Zersplitterung Thüringens in unterschiedliche Herrschaften und Gemeinwesen bringt für die heutigen historisch arbeitenden Wissenschaften besondere Herausforderungen mit sich, allein was die Archiv- und Bibliothekslandschaft und die unterschiedliche Überlieferungssituation betrifft. Ganz praktisch hat sich etwa für AutorInnen und bei der Redaktion des Bandes immer wieder das Problem ergeben, dass längst nicht in allen Fällen die Lebensdaten historischer Personen ermittelt werden konnten. Insofern liegt ein Ziel dieses Bandes nicht allein in der Sichtbarmachung unterschiedlicher regionaler Facetten des Themas, sondern auch im Aufzeigen von Desideraten und Forschungsperspektiven und im Verweis auf Materialien und Institutionen. Hier könnte und sollte eine künftige, vielfach immer noch zu leistende Grundlagenforschung zur Genese und Wirksamkeit des mitteldeutschen Pietismus im Kontext protestantischer Frömmigkeitsentwicklungen und Reformbestrebungen ansetzen. Im Vorfeld der diesem Band zugrunde liegenden Tagung sind unterschiedliche inhaltliche Aspekte als einschlägig formuliert worden. Dazu gehörten frömmigkeitliche Prägungen und reformpolitische Konstellationen vor Ort, territorialadministrative und kirchenpolitische Rahmenbedingungen, Kirchenzucht und „Reformation des Lebens“, Konventikel- und Netzwerkbildung in Stadt und Land, pädagogische und bildungspolitische Initiativen, Gelehrsamkeit und Gelehrtenzirkel in Jena, Rudolstadt und anderswo, sozialreformerische Ideen und Praktiken, pietistische Konfliktkulturen in ihren frömmigkeitlichen, theologischen, bildungs- und kommunalpolitischen Dimensionen, Thüringer Einflüsse auf die Evangelisierungs- und weltweite Reich-Gottes-Arbeit Halles und Herrnhuts und einiges mehr. Nicht alles aus dieser ‚Wunschliste‘ findet sich in angemessener Ausführlichkeit im Band wie-

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Alexander Schunka

der, die meisten Aspekte werden allerdings in der einen oder anderen Form aufgegriffen. Die Binnengliederung des Bandes orientiert sich nicht an eher klassischen Kategorien der Pietismusforschung (z. B. ‚kirchlicher Pietismus‘, ‚radikaler Pietismus‘, ‚Theologie‘, ‚Soziales‘ usw.), sondern folgt einer kommunikationsorientierten Herangehensweise. Entsprechend sind die Beiträge vier Themenbereichen zugeordnet, die gleichsam konzentrische Kreise abbilden: ausgehend vom Herzogtum Sachsen-Gotha (I. Ursprünge) über einen innerthüringischen (II. Etablierung und Konsolidierung) und einen mitteldeutschen Kontext (III. Interaktionen) bis hin zum Ausgreifen über die religiösen oder territorialen Grenzen des deutschen Protestantismus hinaus (IV. Kontaktaufnahmen). Diese Themenbereiche implizieren zugleich einen chronologischen Duktus. So stehen das Umfeld der SachsenGothaer „Reformation des Lebens“ und die Verbindung von Staatsbildung und religiöser Reform am Beginn. Der Blick wendet sich dann einzelnen ernestinischen Teilherzogtümern und Grafschaften ausgangs des 17. Jahrhunderts zu, bevor die Beziehungen nach Halle und in den mitteldeutschen Raum ins Zentrum rücken und schließlich die Außenkontakte und Rückwirkungen in europäischer Perspektive mit dem frühen 18. Jahrhundert als zeitlichem Schwerpunkt angesprochen werden. Dadurch soll gewährleistet werden, dass Pietismus in Thüringen nicht von vornherein als statische Einheit aufgefasst wird, sondern zeitgenössische Dynamiken in geographischer, sozialer und frömmigkeitlicher Hinsicht sichtbar bleiben. Den Einzelbeiträgen vorangestellt ist ein breiter Problemaufriss von Veronika Albrecht-Birkner, die sich dem Spannungsfeld von Pietismus, protestantischer Reform und Konfessionalisierung widmet. Der erste Themenbereich führt in den politischen und frömmigkeitlichen Kontext ernestinischer Staatsbildung ein und behandelt das Verhältnis zwischen der „Reformation des Lebens“ im Herzogtum Sachsen-Gotha und der Entstehung pietistischer Reformansätze: unter Einbeziehung lokaler Trägergruppen wie der Hofpredigerschaft (Mary Noll Venables) und der Pastoren vor Ort (Terence McIntosh) sowie unter Berücksichtigung des Phänomens individueller Bekehrung im Umfeld des Gothaer Gymnasiums (Jonathan Strom). Der zweite Themenbereich ist frömmigkeitlichen Entwicklungen und Reformansätzen in benachbarten Territorien gewidmet. Dabei kommt am Beispiel des Schwarzburg-Rudolstädter Theologen und Politikers Ahasver Fritsch das Projekt der „Jesusgesellschaft“ (Douglas Shantz) in den Blick, daneben anhand der sogenannten Pößneckschen Händel der soziale Kontext frommer Zirkel (Mathias Müller), ferner die intellektuellen und personellen Verbindungen pietistischer Reform zwischen den Grafschaften Waldeck und Reuß (Wolfgang Breul) sowie schließlich der Kreis um den Jenaer Magister Johann Ernst Stolte (1672–1719), eine Schlüsselgestalt pietistischer Reform im Umfeld der Universität Jena (Ernst Koch). Der dritte Themenbereich lenkt den Blick auf die Kontakte zwischen thüringischem und Halleschem Pietismus – anhand der Adiaphoraproblematik, die sich im Konflikt um die Ablehnung des „Weltüblichen Tantzens“ niederschlug (Wolfgang Miersemann), der institutionellen und konzeptionellen Zusammenhänge zwischen den Waisenhäusern v. a. in Erfurt, Gotha und Halle (Antje Schloms) sowie des Verhältnisses zwischen Halle und den reußischen Höfen (Holger Trauzettel). Größere,

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grenzüberschreitende Kommunikationsbeziehungen stehen im Zentrum des vierten Themenbereichs, in dem zunächst, ausgehend von der Metaphorik des „Pflanzgartens“, der thüringische Raum als Ideen- und Personalreservoir für Pietisten in London, Moskau und der Levante thematisiert wird (Alexander Schunka) und anschließend die Thüringer Wurzeln und Unterstützerkreise des Institutum Judaicum et Muhammedicum Johann Heinrich Callenbergs (Christoph Rymatzki) sowie das Ausgreifen der Herrnhuter Brüdergemeine auf die Thüringer Territorien unter Hinweis auf bislang ungenutzte Quellenbestände (Rüdiger Kröger) vorgestellt werden. Nach der Lektüre der Beiträge mag man sich die Frage stellen, ob oder inwieweit Thüringen möglicherweise einen Sonderfall gegenüber anderen kleineren Territorien darstellte: als Rekrutierungsgebiet von Personen, als Ideenpool für die Entwicklung und als Resonanzraum für die Ausstrahlung pietistischer Frömmigkeits- und Reformprojekte. Dies herauszufinden wäre sicherlich – neben vielen anderen Aspekten – eine interessante Aufgabe künftiger Forschung.35

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Diese Frage wurde in der Abschlussdiskussion der dem Band zugrunde liegenden Tagung aufgeworfen (Venables, Pietismus in Thüringen [s. Anm. 3]).

„REFORMATION DES LEBENS“ UND „PIETISMUS“ – EIN HISTORIOGRAPHISCHER PROBLEMAUFRISS* Veronika Albrecht-Birkner 1. „REFORMATION DES LEBENS“ UND „PIETISMUS“ – EINE METHODISCHE REFLEXION „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ sind unter den zahlreichen Kindern der Idee einer programmatischen Verbesserung in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts prima vista zwei ungleiche Geschwister.1 Schon im Ausmaß ihres expliziten Vorkommens – sowohl zeitgenössisch als auch in der Forschung – unterscheiden sie sich erheblich. Programme einer „Reformation des Lebens“ im Luthertum wären vermutlich noch weniger bekannt geworden, als dies der Fall ist, wenn Ernst der Fromme (1601–1675) ein solches nicht zu seinem Regierungsprogramm erhoben hätte. Bei näherem Hinsehen ist von einem solchen Programm – mit leicht abweichenden Bezeichnungen, wie z. B. „Lebensreformation in allen Ständen“ – aber gar nicht so selten die Rede.2 Zu nennen sind an dieser Stelle lutherische Theologen wie z. B. Balthasar Meisner (1587–1626) (Wittenberg), Johann Saubert d. Ä. (1592–1646) (Nürnberg), Johannes Müller (1598–1672) (Hamburg), Johann Conrad Dannhauer (1603–1666) (Straßburg), Johann Jakob Fabricius (1620–1673) (zuletzt Amsterdam)3 oder Theophil Großgebauer (1627–1661) (Rostock). Das Feld erweitert sich erheblich, wenn man Forderungen nach einer „Reformation der Kirche“ (Andreas Kessler [1595–1642], Eisfeld) und vor allem auch nach einer „Reformation der Welt“ im Sinne einer „Allgemeinen“ oder „Generalreformation“ (z. B. Wolfgang Ratke [1571–1635] [Erfurt], Johann Valentin Andreae [1586–1654] [Stuttgart], Johann Amos Comenius [1592–1670] [zuletzt Amsterdam], Johann Balthasar Schupp [1610–1661] [Hamburg]) einbezieht. * 1 2

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Überarbeitete Fassung des in PuN 41, 2015, 126–153, erschienenen Aufsatzes mit gleichlautendem Titel. Die Überlegungen beziehen sich auf Vorgänge im Luthertum im 17. und 18. Jahrhundert. Bibliografische Nachweise beschränken sich aufgrund der Komplexität des Themas im Folgenden auf ausgewählte Belegstellen. Vgl. zum Folgenden Theodor Mahlmann: Art. Reformation. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8, 1992, Sp. 416–427, v. a. 48 f. u. 424; Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002 (LStRLO, 1), 82–84. Zu Fabricius vgl. Harm Klueting: Reformatio vitae. Johann Jakob Fabricius (1618/20–1673). Ein Beitrag zu Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung im Luthertum des 17. Jahrhunderts. Münster 2003 (Historia profana et ecclesiastica, 9).

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Veronika Albrecht-Birkner

Die mit diesen Personen angesprochenen Programme zu einer „Reformation des Lebens“ im Sinne einer ‚Verbesserung der Welt‘ – wobei „Welt“ alles von lokalen Einheiten wie einer Stadt oder einem Territorium bis zum gesamten Globus meinen konnte – bilden bereits ein ganzes Panorama an konkreten vorgeschlagenen Maßnahmen einschließlich verschiedener theologischer und soziologischer Konnotationen. Was sie strukturell verbindet, ist der selbst erhobene Anspruch auf Legitimität – und zwar eben aufgrund der Verwendung des Begriffs „Reformation“. Denn dieses ‚Etikett‘ implizierte, dass es nicht um beliebig erfundene, illegitime Maßnahmen ging, sondern um Programme zu einer Fortsetzung dessen, was im 16. Jahrhundert zur Entstehung der protestantischen Konfessionen geführt und als „Reformation“ inzwischen gewissermaßen ‚kanonisiert‘ worden war. Programme zu einer „Reformation des Lebens“ stehen in der Frühen Neuzeit für Diskurse, die genau die Realität schaffen sollten, die sie bezeichneten: eine der Reformation tatsächlich gemäße Lebenswirklichkeit. In welchem Maße dieser normierende Anspruch in wie auch immer geartete Maßnahmen umgesetzt wurde, ist freilich eine ganz andere Frage. Dies hing nicht nur vom Stand und den politischen bzw. administrativen Möglichkeiten desjenigen ab, der die Forderungen erhob, sondern auch davon, inwieweit es sich überhaupt um Konzepte handelte, die die Spannung zwischen Utopie und Realität auf letztere hin zu lösen versuchten. „Pietismus“ – zeitgenössisch und in der Forschung wesentlich breiter thematisiert – hingegen steht im 17. und 18. Jahrhundert zunächst einmal nahezu für das Gegenteil einer sich begrifflich selbst legitimierenden „Reformation des Lebens“. Es handelt sich, wie vielfach nachgewiesen wurde, um eine polemisch-pejorative Zuschreibung, die den so Bezeichneten explizit massive Abweichungen von den Lehren der Reformation bescheinigte und sie auf diese Weise zu marginalisieren versuchte.4 So beklagte etwa der Jenaer Theologieprofessor Caspar Sagittarius (1643–1694) in seinem Brief vom 25. Juli 1690 an den zu diesem Zeitpunkt in Gotha lebenden Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1730), dass diejenigen, die es mit der Frömmigkeit etwas genauer nehmen als andere, gleich „Pietist[en]“ genannt werden würden, als seien sie abergläubische Menschen und als seien ihre Anliegen gleichzusetzen mit Weigelianismus, Quäkerianismus, Quietismus, Böhmismus und Chiliasmus – und dies betreffe Wiegleb ebenso wie Philipp Jakob Spener (1635– 1705), Johann Arndt (1555–1621) „& plures alii sincerae pietatis“.5

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Vgl. grundlegend Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsformen der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 129), v. a. 206–243. Casparis Sagittarii SS. Theol. D. Historici sax. histor. p. p. Epistola ad Cl. M. Jo. Hier. Wieglebium Thuringum et Petr. Jacob. Langeian Luneburgensem. Jena 1690, zitiert nach: Veronika Albrecht-Birkner: Zur Rezeption Johann Arndts in Sachsen-Gotha (1641/42) und in den Auseinandersetzungen um den Pietismus der 1690er Jahre. In: PuN 26, 2000 [2001], 29–49, hier: 33. Vgl. zu Sagittarius Johannes Wallmann: Der Pietismus an der Universität Jena. In: PuN 37, 2011, 36–85, hier: 53 f. – Ähnlich benannte auch Spener Anfang der 1690er Jahre den „so genannten Pietismum“ als eine pejorative Zuschreibung (vgl. Ph. J. Spener an Jakob Wilhelm Imhoff, Dresden, 16.7.1690, und an Johann Heinrich Hassel, Dresden, 30.8.1690. In: Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Bd. 4: 1690–1691. Hg. v. Udo

„Reformation des Lebens“ und „Pietismus“

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Dieser Zuschreibung entsprechend wurde in der 1693 publizierten Außfuehrliche[n] Beschreibung Des Unfugs zum ersten Mal explizit der Sektenvorwurf gegen den Pietismus erhoben. Der Vorwurf implizierte eine Einordnung des „Pietismus“ in Fehlentwicklungen, die mit Thomas Müntzer (1489–1525), dem schlesischen Bauernprediger Antonius und den Münsteraner Täufern eingesetzt hätten.6 Als sein „Urheber“ galt Spener.7 In seiner handschriftlichen Abhandlung unter dem Titel Von der übern Pietisten entstandenen Kirchen=Unruhe erklärte der in Erfurt abgesetzte und inzwischen in Wittstock tätige Pfarrer Johann Melchior Stenger (1638–1710) im Jahr 1694 „Pietismum“, „Arndianismum“ und „Spenerismum“ zu gleichermaßen pejorativ verwendeten Synonymen.8 Der Titel einer kaiserlichen Ediktesammlung aus dem Jahr 1703 weist schlaglichtartig aus, wie „Pietismus“ zu diesem Zeitpunkt auf reichsrechtlicher Ebene wahrgenommen wurde. Die Edikte, so heißt es, wenden sich „Wider die Rebellischen Wider=Täuffer / neuen einschleichenden Schwärmer / David Joristen / Weigelianer / Rosencreutzer / Pansophisten, Boehmisten, Chiliasten, Enthusiasten, Quacker / Labadisten, Offenbahrungs= und Frey=Geister / Quietisten / Träumer / Scheinheiligen neuen falschen Propheten und anderer Sectirischen Schleicher / wie die nahmen haben und sich selbst nennen die stillen vollkommenen Heiligen oder Pietisten“.9 „Pietist“ wurde hier also zu einer Selbstbezeichnung erklärt, hinter der sich jegliche Art von Irrlehre verbergen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war der Ausdruck „Pietist“ auch in den Niederlanden zusätzlich „zu den üblichen für religiöse Randfiguren in Deutschland in Gebrauch“ gekommen.10 So publizierte Wilhelmus à Brakel (1635–1711) 1707 eine in den Niederlanden weit verbreitete „Warnung vor den Pietisten, Quietisten und andern Irrgeistern, welche unter dem Schein der Gottesfurcht [zu] einem natürlichen und geistlosen Gottesdienst verfallen“.11 „Pietismus“ stand hier für „falsche Ausartung“ von „pietas“ als wahrer Frömmigkeit im Luthertum und anderer Ausdruck für „allerlei Phantasien und Irrtümer“, wie sie

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Sträter u. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Tübingen 2017, 295– 301, hier: 300 f., u. 351–363, hier: 360–363, Zitat 360). Ausführliche Beschreibung / Des Unfugs / Welchen / Die Pietisten / in Halberstadt / im Monat Decembri 1692. / umb die heilige Weihnachts=Zeit / gestifftet. / Dabey zugleich von dem / Pietistischen Wesen / in gemein etwas gründlicher / gehandelt wird. O. O. 1693, 7–12. Ausführliche Beschreibung [s. Anm. 6], 12. Johann Melchior Stenger: Von der übern Pietisten entstandenen Kirchen=Unruhe. O. O. 1694 (SUB Göttingen, Acta pietistica VII, Nr. 5, unpag.). Vgl. hierzu Johannes Wallmann: Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 325–350, hier: 330–332. Der Römischen Kayserlichen Majestät Und Des Heil. Röm. Reichs Geist= und Weltlicher Stände / Reichs=Abschiede Und CONSTITUTIONES Desgleichen Königliche / Chur= und Fürstliche absonderliche EDICTA Wider die Rebellischen Wider=Täuffer [… usw., s. o., d. Vf.in]. Anitzo männiglich zur Warnung und Nachricht dargestellet und zum Druck befordert. Im Jahr 1703. Fred van Lieburg: Wege der niederländischen Pietismusforschung. Traditionsaneignung, Identitätspolitik und Erinnerungskultur. In: PuN 37, 2011, 211–253, hier: 216. Zitiert nach van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 216.

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Veronika Albrecht-Birkner

„die Mystische, Quietisten, Irrgeister, Schwärmgeister, Davidjoristen, Böhmisten, Quäker, und dergleichen Gattung Leute“ vertreten würden.12 Angesichts dieser Zuschreibungen verwundert es nicht, dass in der Frühen Neuzeit niemand, dem etwas an seiner Kirchenmitgliedschaft und somit auch an seiner legalen Existenz im Reich lag, freiwillig unter das Label „Pietismus“ fallen wollte. Wie gleich noch etwas genauer zu zeigen ist, haben sich die so Bezeichneten vielmehr in zum 18. Jahrhundert hin eher noch zunehmender Weise gegen dieses Etikett gewehrt. Nach meinem Eindruck war der Ausdruck gerade im 18. Jahrhundert ein absolutes no go – nicht einmal im Württembergischen Reskript von 1743, das „besondere Versammlungen zerschiedener Persohnen zu allerhand geistlichen Ubungen“ erlaubte, taucht er auf.13 Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts etablierte sich allmählich, zunächst über den neutralen Begriff ‚Pietät‘ oder die Formulierung ‚sogenannter Pietismus‘ ein positiver Begriff von „Pietismus“, der sich zunächst einmal auf August Hermann Francke (1663–1727) und die Halleschen Anstalten und von dort aus auf Spener und ggfls. auf Württemberg bezog.14 Hiervon unterschieden waren die Herrnhutische Tradition und nonkonforme religiöse ‚Solisten‘. Dieser Stand der Begriffsentwicklung ist gut ablesbar an Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Unterscheidung von Herrnhutern, Pietisten und Separatisten.15 „Pietismus“ als umfassenderes historisches Konstrukt ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, zu dem, wie mehrfach rekonstruiert wurde, neben Max Goebel (1811–1857), August Tholuck (1799–1877) und Heinrich Schmid (1811–1885) insbesondere Heinrich Heppe (1820–1879) und Albrecht Ritschl (1822–1889) maßgeblich beigetragen haben.16 Entscheidend an der nun vollzogenen Konstruktion von „Pietismus“ als Sammelbezeichnung war die Subsumierung nicht nur des Herrnhutertums, sondern auch der niederländischen und bei Heppe zudem der englischen reformierten religiösen Erneuerungsbewegungen des 17. Jahrhunderts unter diesen Begriff, wobei die Integration des ‚reformierten Zweiges‘ keineswegs von allen Forschern übernommen wurde. Heppe schrieb über „Pietismus“, den er von der „Mystik“ unterschied, freilich überhaupt fast ausschließlich in reformierten Zu12 13

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Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 217. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. Das württembergische Pietisten-Reskript vom Jahr 1743. Hg. v. Evangelischen Oberkirchenrat Stuttgart. [Faksimile]. Stuttgart 1977. Der Ausdruck „Pietisten-Reskript“ ist ein offenbar nachträglich hinzugefügter Titel der das Reskript enthaltenden Akte im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (General-Rescript betr[effend] die Privat-Versammlungen der Pietisten. Vom 10. Oct. 1743 [Landeskirchliches Archiv Stuttgart A 26, Bund 464, 1]). Ich beziehe mich hier auf meine in Vorbereitung befindliche Publikation über Hallesche Theologen im Spannungsfeld von Universität, Waisenhaus und Berliner Hof (1750–1794) [erscheint 2019 in den HaFo]. Vgl. Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999. Hg. v. Paul Raabe. [Halle] 1999 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 6). Ausführliche Darstellungen finden sich bei Johannes Wallmann: Die Anfänge des Pietismus. In: PuN 4, 1977/78, 11–53, hier: 11–24 [Lit.], Wiederabdruck in: ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 2: Pietismus-Studien. Tübingen 2008, 22–66, hier: 24–35; ders.: Einleitung. In: Der Pietismus. Göttingen 2005, 21–27.

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sammenhängen und definierte ihn dabei als „das Streben nach Vervollständigung der Kirchenreformation des sechszehnten Jahrhunderts als einer blosen Reform der Lehre durch Erweckung der pietas oder durch eine Reform des Lebens“.17 Mit anderen Worten: Heppe erklärte „Pietismus“ dadurch zu einer positiven historischen Kategorie, dass er ihn in die Denkfigur einer „Reformation des Lebens“ überführte. Daneben war „Mystik“ für ihn aber ebenfalls ein legitimes „Phänomen des religiösen Lebens, welche der Kirche überhaupt, der evangelischen wie der katholischen angehört“. Ritschl hingegen setzte „Pietismus“ bekanntlich mit „Mystik“ gleich und erklärte letztere und somit den „Pietismus“ zu einer bis in seine eigene Gegenwart hineinreichenden Irrlehre im Protestantismus. Mit Hilfe seiner „Geschichte des Pietismus“ versuchte Ritschl also, „Pietismus“ als historisches und gegenwärtiges Phänomen auf der mit dem Begriff ursprünglich verbundenen konfessionellen Marginalisierung zu behaften und auf diese Weise dessen definitives Ende im 19. Jahrhundert heraufzubeschwören. Dieser in der Vorrede zum dritten Band seiner Publikation explizit benannte Zusammenhang18 verdeutlicht beispielhaft die Rolle der beginnenden Historiographie des „Pietismus“ im Rahmen theologischer Identitätsfindungen des 19. Jahrhunderts. Durchgesetzt haben sich außer dem „Pietismus“ selbst freilich andere Sichtweisen auf diesen, die seit dem beginnenden 20. Jahrhundert – ganz im Gegensatz zu Ritschls Auffassung – das gesellschaftliche Modernisierungspotential des „Pietismus“ in den Vordergrund stellten und stellen.19 Auf der Basis des mit Heppe etablierten Verständnisses von „Pietismus“ als legitimer Fortsetzung der Reformation im Bereich des „Lebens“, die man bis heute in allen einschlägigen Darstellungen zur Geschichte des Pietismus lesen kann, dehnte sich der hierunter subsumierte historische Forschungsgegenstand immer weiter aus. Dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch etliche Formen marginalisierter Religiosität, mit denen die im 17. und 18. Jahrhundert als „Pietisten“ Bezeichneten gegen ihre eigene Wahrnehmung gleichgesetzt worden waren, als sogenannter „Radikaler Pietismus“ unter diesen wieder dezidiert subsumiert wurden, war ein Symptom dieser gewissermaßen hegemonialen Entwicklung des Pietismusbegriffs.20 Gerade an dieser Stelle sind in der jüngeren Pietismusforschung zugleich am deutlichsten inhaltliche und terminologische Anfragen formuliert worden.21 Zur 17 18 19 20

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Heinrich Heppe: Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformirten Kirche, namentlich der Niederlande. [Leiden 1879]. ND Goudriaan 1979, 6. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 3. Bonn 1886 (ND Berlin 1966), V–VIII. Vgl. hierzu zuletzt Udo Sträter: Art. „Pietismus“. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Hg. v. Heinz Thoma. Stuttgart, Weimar 2015, 395–406. Vgl. v. a. Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: PuN 8, 1982, 15–42 und PuN 9, 1983, 117–152, wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze I. Der radikale Pietismus. Hg. v. Wolfgang Breul u. Lothar Vogel. Leipzig 2011, 9–80. Freilich darf nicht übersehen werden, dass Schneiders Anliegen seinerzeit v. a. darin bestand, in einer sich zunehmend auf den „Pietismus“ als maßgeblicher ‚Meistererzählung‘ der Frühen Neuzeit fokussierenden Kirchengeschichte auch den religiösen Nonkonformisten Aufmerksamkeit zu sichern. Vgl. Martin Brecht: Der radikale Pietismus. Die Problematik einer historischen Katgorie. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen

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Ausweitung des Pietismusbegriffs gehörte auch die weitergehende Einbeziehung der reformierten religiösen Erneuerungsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts in England, den Niederlanden und Deutschland.22 Dabei kennzeichnet in merkwürdiger Parallelität zu christlichen Strömungen, die sich bis in die Gegenwart als „Pietisten“ verstehen, auch die sich ausdrücklich auf den „Pietismus“ als historischem Phänomen beschränkende wissenschaftliche Pietismusforschung vielfach ein essentialistischer Zuschnitt, dem gemäß nach dem „Wesen“ des Pietismus und nach der für diesen zu veranschlagenden Epoche gefragt wird. Das führt dazu, dass innerhalb des Forschungsfeldes „Pietismus“, der im Kern teils als ‚Bewegung‘ definiert wird,23 jeweils zwar vieles erforscht und behauptet, nicht aber am Etikett „Pietismus“ gezweifelt werden darf. Anfragen, ob die aus pejorativen Zuschreibungen geborene Bezeichnung „Pietismus“ als historiographische Kategorie in diesem oder jenem Fall sinnvoll und sachgemäß für das darunter Subsumierte ist, führen in den letzten Jahrzehnten unter diesen Voraussetzungen zu Diskussionen um historiographische ‚Besitzstände‘. Um es im Vergleich mit dem Etikett „Reformation des Lebens“ auf den Punkt zu bringen: Niemand würde auf die Idee kommen, sich im Blick auf historische Personen darum zu streiten, ob jemand ein „Reformator des Lebens“ war – aber an der Frage, ob jemand ein „Pietist“ war oder nicht, oder ob etwas zum historischen Konstrukt „Pietismus“ gehört oder nicht, scheinen sich mitunter ganze wissenschaftliche Bekenntnisse oder auch Existenzen zu entscheiden.

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2010 (AGP, 55), 451–467; Hans Schneider: Rückblick und Ausblick. In: Der radikale Pietismus, aaO, 451–467, wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Aufsätze I [s. Anm. 20], 405–422. Die hegemoniale Entwicklung des Pietismusbegriffs einschließlich der damit zwangsläufig einhergehenden Unschärfen in den Darstellungen der einzelnen ‚Zweige‘ des „Pietismus“ ist in den von 1993 bis 2004 erschienenen Bänden der Geschichte des Pietismus vorerst gewissermaßen ‚zementiert‘ worden. Vgl., auch zu den in der Folge entstandenen Diskussionen um den Pietismusbegriff, Hans-Jürgen Schrader: Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hg. v. Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, 17), 91–130, hier: 97 f., Anm. 11. Diese Definition korrespondiert ebenso wie die theologiegeschichtliche Argumentation mit einem Zusammenfall des Beginns von Pietismus und Neuprotestantismus [vgl. Anm. 31] mit einem ‚engen‘ Pietismusbegriff. Vgl. Hans Schneider: Art. „Soziale Bewegungen, religiöse“. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 12. Stuttgart [u. a.] 2010, Sp. 229– 240, hier: 237 f. Schneider merkt allerdings zu Recht an, dass der Begriff der „pietistischen B[ewegung]“ „meist ohne definitorische Klärung gebraucht wird, wie denn die Pietismusforschung generell noch einen Nachholbedarf hinsichtlich sozialgeschichtlicher und soziologischer Zugänge hat“ (ebd.). In der Tat ist es aus meiner Sicht fraglich, ob man sozialhistorisch fundiert tatsächlich von einer ‚pietistischen Bewegung‘ sprechen kann. – Der sozialgeschichtliche Aspekt der „Bewegung“ ist zentral auch bei Wolfgang Breul: Art. „Pietismus. 1. Evangelische Kirchen“. In: Enzyklopädie der Neuzeit, aaO, Bd. 10, 2009, Sp. 12–17, und bei Douglas H. Shantz: An introduction to German pietism. Protestant renewal at the dawn of modern Europe. Baltimore, Md. 2013, sowie im Konzept des kürzlich erschienenen englischsprachigen Kompendiums zum deutschen Pietismus (vgl. Douglas H. Shantz: Introduction. In: A companion to German Pietism, 1660–1800. Hg. v. D. H. Shantz. Leiden, Boston 2014 [Brill’s Companions to the Christian Tradition, 55], 1–13).

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Die sich auf diese Weise partiell selbst blockierende deutsche Pietismusforschung hat ein Pendant in der ebenfalls im 19. Jahrhundert geborenen niederländischen Nadere-Reformatie-Forschung, die v. a. seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine auf die eigene Identität ausgerichtete Geschichtsschreibung mit einem deutlichen Hang zum „Definitionszwang“ betreibt.24 Fred van Lieburg hat die komplizierten Verflechtungen zwischen den sich im 19. Jahrhundert herausbildenden verschiedenen Flügeln der niederländischen Kirche und deren Identitätskonstruktionen via Geschichtsschreibung aufgearbeitet, einschließlich der mit der Gründung des niederländischen Reformierten Bundes (1906) verbundenen Zielsetzung einer Wiederbelebung der „Nadere Reformatie“ als „Ausarbeitung der theokratischen Ideale Calvins“.25 Das diesem Ziel entsprechende kirchenhistorische Programm verfolgt die Konstruktion einer „kohärenten Bewegung“, der gemäß „Nadere Reformatie“ als „Fortsetzung der calvinistischen Reformation und ein Gegengewicht zu deren Deformation“ ebenso im 17. Jahrhundert wie in der Gegenwart verstanden wird.26 Der Fokus des Interesses liegt folglich zunehmend auf einer Abkehr von „Pietismus“ als Frömmigkeit der ‚Verinnerlichung‘ und ‚Weltvermeidung‘ und einer Rückkehr zu Johannes Calvins (1509–1564) „ursprünglichen Ziele[n] der Neugestaltung der Kirche, des Staates und der Gesellschaft“ – ebenfalls sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Gegenwart.27 Aber auch jenseits der identitätsorientierten Nadere-Reformatie-Forschung ist die Rede von einem „Reformierten Pietismus“ für die niederländischen Frömmigkeitsbewegungen der Frühen Neuzeit in den Niederlanden inzwischen offensichtlich nicht mehr konsensfähig.28 Entsprechend ihrer unterschiedlichen historischen Verortung, Genese und Funktion in der Forschung ist also zu berücksichtigen, dass ein Vergleich der mit „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ bezeichneten Phänomene einer sorgfältigen methodischen Reflexion bedarf. Eine Analyse des Bedeutungsgehaltes von „Reformation des Lebens“ kann als ‚Finder‘ die explizite Verwendung dieses oder vergleichbarer Programmbegriffe nutzen und von hier aus nach den inhaltlichen Konnotationen der damit verbundenen Intentionen sowie nach deren sachgemäßer Einordnung fragen. „Pietismus“ hingegen ist zeitgenössisch eine pejorative und retrospektiv eine identitätsstiftende bzw. historiographische Zuschreibung und markiert insofern einen sowohl in der synchronen als auch in der diachronen Perspektive gebrochenen Diskurs. Vermeintliche „Pietisten“ im 17. und 18. Jahrhundert betonten, dass ihre Lebensrealität und die mit „Pietismus“ bezeichnete Realität etwas Grundverschiedenes seien. Als hegemoniale, also ‚sagbare‘ und zudem essentialistische historische Konstruktion setzte sich „Pietismus“ ab dem 19. Jahrhundert durch. Dabei spielte die Etablierung eines Pietismusverständnisses, dem gemäß dieser eine nicht nur legitime, sondern auch notwendige Fortsetzung der Reformation im Bereich des ‚Lebens‘, also eine „Reformation des Lebens“ gewesen sei, eine entscheidende Rolle. 24 25 26 27 28

Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], passim, hier: 234. Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], passim, hier: 226. Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 226 u. 233. Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 227. Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 245 f.

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Es darf nicht übersehen werden, dass die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachtende Etablierung von „Pietismus“ als kirchenhistorischer „Meistererzählung“ für die Frühe Neuzeit neben derjenigen der „Aufklärung“ im Gegenüber zur „Reformation“ ihr Gegenstück in der Erfindung der ‚toten Orthodoxie‘ hatte.29 Nahezu in Umkehrung der historischen Situation erhielt die kirchliche ‚Normalsituation‘ im Protestantismus des 17. Jahrhunderts somit ein pejoratives Etikett – das des ‚Alten‘, ‚Leblosen‘, das von Pietismus und Aufklärung als dem ‚Neuen‘, Modernen und Besseren im Zuge der Entwicklung zur Neuzeit überwunden wurde. „Orthodoxie“ wurde auf diese Weise zum Inbegriff einer die Aufbrüche der Reformation mehr oder weniger verstellenden Fehlentwicklung im Protestantismus.30 Es war folgerichtig, dass Spener unter den teleologischen Prämissen dieser nach Modernisierung fragenden (Kirchen-) Geschichtssicht zum ‚Vater des Neuprotestantismus‘ im Sinne eines „Wegbereiter[s] auch der deutschen theologischen Aufklärung“ avancierte.31 Überspitzt könnte man formulieren: Was der Reformation das ‚finstere Mittelalter‘ ist, ist Pietismus und Aufklärung die ‚tote Orthodoxie‘. Die ‚positiven‘ Potentiale der „Orthodoxie“, wie z. B. Programme zu einer „Reformation des Lebens“ – v. a. von Hans Leube (1896–1947) und Winfried Zeller (1911–1982) seinerzeit als „Reformorthodoxie“ profiliert – wurden tendenziell unter „Pietismus“ subsumiert und damit als ihrer Zeit sozusagen vorausweisende Ausnahmen von der Regel vom Mainstream einer „Orthodoxie“ faktisch wieder isoliert.32 Dabei war es bei der Ablehnung des Begriffs „Reformorthodoxie“ ursprünglich im Gegenteil darum gegangen, das ‚Reformpotential‘ der Orthodoxie nicht nur einer von einer 29

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Vgl. hierzu pointiert Stefan Michel u. Andres Straßberger: Einleitung. In: Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699). Leipzig 2009 (LStRLO, 12), 11–18, hier: 12; zum Gegenüber zur „Reformation“ vgl. Thomas Kaufmann: Lutherische Konfessionskultur in Deutschland – eine historiographische Standortbestimmung. In: ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, 29), 3–26, v. a. 3–7. – Diese Vorstellung von einer im Doppelsinn des Wortes „herrschenden“, vermeintlich monolithischen Orthodoxie spielt auch in allgemeinhistorischen Arbeiten zum konfessionellen Zeitalter weiterhin eine konstitutive Rolle (vgl. z. B. den Band Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Andreas Pietsch u. Barbara Stollberg-Rilinger. Heidelberg 2013 [Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 214]). Vgl. zum Verhältnis von Pietismus und Orthodoxie zuletzt Markus Matthias: Pietism and Protestant Orthodoxy. In: Shantz, Companion [s. Anm. 23], 17–49. Vgl. Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener, der Vater des Neuprotestantismus. In: ders., Gesammelte Aufsätze 2 [s. Anm. 16], 132–145, hier: 145. Wallmann formulierte weiter: „Aber es bleibt doch Speners Verdienst, das Erbe der Reformation, das eine sich dem neuzeitlichen Erfahrungsdenken verschließende lutherische Orthodoxie zu verspielen drohte, selbständig angeeignet und, wenn auch in veränderter Gestalt, künftigen Generationen weitervermittelt und so für die Zukunft bewahrt zu haben.“ (ebd.) Vgl. auch ders.: Der Vater des Neuprotestantismus. Der Ertrag des Gedenkens zum 300-jährigen Todestag Philipp Jakob Speners. In: ThLZ 132, 2007, 1033–1044. Diese Einordnung Speners war erstmalig von Emanuel Hirsch (1888– 1972) vorgenommen worden (vgl. Wallmann, Der Vater des Neuprotestantismus, aaO, 1041, Anm. 17). Vgl. hierzu summarisch Michel/Straßberger, Einleitung [s. Anm. 29], 12 f., Anm. 9.

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‚herrschenden Lehrorthodoxie‘ zu trennenden Gruppe innerhalb der Orthodoxie, sondern dieser insgesamt zuzuschreiben.33 2. FRÜHNEUZEITLICHER REFORMPROTESTANTISMUS ALS TEIL VON KONFESSIONALISIERUNGSPROZESSEN – EINE THESE Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und methodischen Überlegungen schlage ich vor, vorausgehende Begriffsessentialismen einmal beiseite zu lassen und mit „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ angesprochene programmatische Bemühungen um eine ‚Verbesserung‘ von Kirche und christlicher Gesellschaft im Protestantismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts jenseits scheinbar eindeutiger Etikettierungen und Periodisierungen auf einer strukturierenden Metaebene in den Blick zu nehmen. Damit soll nicht einer ‚Einebnung‘ der sehr wohl zu unterscheidenden historischen Strömungen das Wort geredet werden, wohl aber einer anschlussfähigen wissenschaftlichen Gesprächskultur, die sich mögliche Erkenntnisoptionen durch ‚historiographische Besitzstandskämpfe‘ nicht selbst verstellt. Bei der Suche nach einer sachgemäßen Metaebene scheinen mir folgende Überlegungen entscheidend zu sein: Es ist evident, dass sämtliche protestantischen Programme zu einer ‚Verbesserung‘ der Christen ihre Legitimität über die Denkfigur einer ‚Vervollständigung‘ der – entsprechend für unvollständig oder in Verfall gekommen erklärten – Reformation bezogen, und zwar nicht erst retrospektiv, sondern bereits auch zeitgenössisch.34 Dabei ist es vor allem für das Luthertum kennzeichnend, dass die in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Maßnahmen alle mit einem mehr oder weniger starken und mehr oder weniger offensichtlichen Zugriff auf nicht der eigenen konfessionellen Tradition entsprechende Glaubens- und Lehrinhalte verbunden waren. Dies konnte sowohl Anleihen bei anderen Konfessionen als auch bei in keiner Hinsicht konfessionell konnotierten, ‚freien‘ religiösen Diskursen betreffen.35 Unter genau diesem Aspekt wurden Erneuerungsprogramme 33

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Vgl. hierzu programmatisch den ersten der im Ergebnis der von 1994 bis 2006 veranstalteten „Wittenberger Symposien zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie“ publizierten Sammelbände: Pietas in der Lutherischen Orthodoxie. Tagungsband zum Zweiten Wittenberger Symposium zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie 8. bis 10.12.1995. Hg. v. Udo Sträter. Wittenberg 1998 (Themata Leucoreana). Hierauf reagierte Valentin Ernst Löscher (1673–1749), indem er zu den „allgemeinen Kennzeichen des pietistischen Übels“ auch den „Reformatismus“ zählte (vgl. Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924, 36). Vgl. zu Anleihen bei der reformierten Tradition z. B. Johannes Wallmann: Lutherische Konfessionalisierung – ein Überblick. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988. Hg. v. Hans-Christoph Rublack. Gütersloh 1992 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 197), 33–53, hier: 53. Wallmann formulierte pointiert: „‚Lutherische Konfessionalisierung‘ im Sinne einer religiösen Formierung der Gesellschaft ist im 17. Jahrhundert auf weite Strecken gleichzusetzen mit dem, was Ernst Troeltsch die Calvinisierung des Luthertums nannte.“ (ebd.). Wallmann hat dies zum damaligen Zeitpunkt aber nicht auf pietistische Reformbestrebungen bezogen. – Thomas Kaufmann hat generell eine „im Zuge des Dreißigjährigen Krieges gesteigerte innere

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von scharfsinnigen Gegnern entsprechend auch bekämpft.36 Solche ‚Anleihen‘ erhielten ihre Plausibilität aber dadurch, dass sich die postulierte ‚Vervollkommnung‘ der Reformation eben nicht auf die Lehrbildung, sondern auf eine ‚Reformation‘ der Glaubens- und Lebenspraxis (praxis pietatis) bezog,37 was freilich zunächst einmal die Konstruktion einer Divergenz von Theorie und Praxis (‚Lehre‘ und ‚Leben‘) in bzw. seit der Reformation voraussetzte.38 Inzwischen ist aber durchaus nicht nur erwogen, sondern exemplarisch auch nachgewiesen worden, dass solche Anleihen bei nichtlutherischen Traditionen, selbst wenn sie in großem Umfang erfolgten, letztlich eben nicht zu einer Relativierung, sondern zu einer Stärkung von Konfessionalität führten.39 Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, die protestantischen Reformbemühungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zunächst einmal zu verstehen als Bestandteil von Konfessionalisierungsprozessen.40 Mit diesem Begriff ist freilich die gesamte,

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Pluralisierung im Luthertum“ (9; vgl. 140 f.) mit Anleihen bei den verschiedensten Traditionen (144) konstatiert, aufgrund derer er „die Pluralisierung in konfessionskultureller Perspektive als Modus der die frühneuzeitlichen Gesellschaften prägenden lutherischen Konfessionalisierung“ (150; vgl. 142) bezeichnet (Thomas Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998 [BHTh, 104]). – Markus Matthias hat bereits im Blick auf Ägidius Hunnius eine „gelebte konfessionelle Kultur“ konstatiert, die keineswegs „immer dieselbe ‚Reinheit‘ wie die Lehre haben“ musste (Markus Matthias: Theologie und Konfession. Der Beitrag von Ägidius Hunnius [1550–1603] zur Entstehung einer lutherischen Religionskultur. Leipzig 2004 [LStRLO, 4], v. a. 233–246, hier: 246). – Martin Brecht hat auf die generelle „Durchlässigkeit des kirchlichen Pietismus zum Separatismus und zur Heterodoxie“ aufmerksam gemacht (vgl. Brecht, Der radikale Pietismus [s. Anm. 21], 15–18). Vgl. hierzu in reformationsgeschichtlicher Perspektive Thomas Kaufmann: Nahe Fremde – Aspekte der Wahrnehmung der „Schwärmer“ im frühneuzeitlichen Luthertum. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. v. Kaspar von Greyerz u. a. Heidelberg 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 201), 179–241. Thomas Kaufmann hat „‚Reformation des Lebens‘“ als „das heimliche oder offene Leitthema der protestantischen Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts“ bezeichnet (Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 151). Auf die historiographische Problematik der Annahme einer solchen Divergenz von Dogmatik und Frömmigkeit im Sinne einer „Frömmigkeitskrise“ im nachreformatorischen Luthertum haben Walter Sparn und Jörg Baur bereits 1992 hingewiesen (vgl. Matthias, Theologie [s. Anm. 35], 23). Vgl. u. a. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 8 f.; Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Mystik. In: Zur Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts. Beiträge eines Symposiums zum Tersteegen-Jubiläum 1997. Hg. v. Dietrich Meyer und Udo Sträter. Köln 2002 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 152), 129–147, hier: 146; Veronika Albrecht-Birkner: Der Berliner Hof und die Theologische Fakultät Halle. Konfessionelle Aspekte eines spannungsvollen Verhältnisses (1690–1790). In: Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge der 8. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus. Hg. v. Matthias Freudenberg u. Georg Plasger. Neukirchen-Vluyn 2011 (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus, 14), 107–127. Vgl. Fred van Lieburg, der für eine Erforschung der „historischen Bemühungen um die praxis pietatis im Kontext der Konfessionalisierung von Kirche, Kultur und Gesellschaft“ plädiert

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seit den 1980er Jahren intensiv geführte Debatte um das Konfessionalisierungsparadigma einschließlich der mit diesem zunächst verbundenen Verengungen auf eine etatistische Top-down-Perspektive aufgerufen.41 Schon aufgrund der interdisziplinären Anschlussfähigkeit halte ich es für sinnvoll, hier dennoch anzuknüpfen – allerdings nicht unter Übernahme der systemtheoretischen Perspektive, der gemäß „Konfessionalisierung“ lediglich die Funktion von ‚Konfession‘ im Rahmen der Durchsetzung einer für die Staatsbildung notwendigen Sozialdisziplinierung meint und in dieser Hinsicht nach Konfession als Motor von Modernisierung fragt.42 In Anknüpfung an Überlegungen zu inter- und transkonfessionellen Phänomenen, zu binnenkonfessionellen Differenzierungen sowie der Notwendigkeit, mikro- und makrohistorische Perspektiven zu berücksichtigen,43 geht es vielmehr um konkrete inhaltliche Entwicklungen von konfessioneller Theologie und Frömmigkeit in eben diesen Spannungsfeldern als Teil gesamtgesellschaftlicher Prozesse.44

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(van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 245). Vgl. auch ders.: Conzeptualizing religious reform movements in early modern Europe. In: Confessionalism and Pietism. Religious reform in early modern Europe. Hg. v. F. v. Lieburg. Mainz 2006, 1–10. Einen Überblick hierzu bieten Thomas Brockmann u. Dieter J. Weiß: „Konfessionsbildung“ und „Konfessionalisierung“ – Einleitung. In: Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen. Hg. v. Thomas Brockmann u. Dieter J. Weiß. Münster 2013 (Bayreuther Historische Kolloquien, 8), 1–22 [Lit.]. – Marianne Taatz-Jacobi spricht im Blick auf ihre Studie ausdrücklich von einer von ihr beabsichtigten „Reaktivierung des Konfessionalisierungsparadigmas“ (Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Universität Halle als Instrument brandenburgischer Konfessionspolitik [1680–1713]. Berlin 2014 [Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 13], 26). Perspektivenerweiterungen sind in die Konfessionalisierungsdebatte bereits seit den späten 1990er Jahren eingebracht worden (vgl. Brockmann/Weiß, Konfessionsbildung, 10–13 [Lit.]). Als jüngere Publikation vgl. v. a. den Band Konfessionelle Ambiguität [s. Anm. 29]. Der Band dokumentierte eine Tagung, die unter der Frage stand, „was es eigentlich über das europäische Zeitalter der Konfessionalisierung verrät, dass der Diskurs um Lüge, Betrug und Verstellung Hochkonjunktur hatte […]“ (Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung. In: Konfessionelle Ambiguität, aaO, 9–26, hier: 11). Vgl. v. a. Thomas Kaufmann: Einleitung: Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität – Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. v. Kaspar von Greyerz u. a. Heidelberg 2003 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 201), 9–15 [Lit.!]; Hartmut Lehmann: Grenzen der Erklärungskraft der Konfessionalisierungsthese. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität, aaO, 242–249. Unter diesen Prämissen findet das Denkmodell „Konfessionalisierung“ in der Kirchengeschichte seit Längerem faktisch Anwendung (vgl. u. a. Thomas Kaufmann: Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1500 und 1675. Gütersloh 1997 [Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 66]; Ernst Koch: Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus [1563–1675]. Leipzig 2000 [Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, II/8]; Marcel Nieden: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung. Tübingen 2006 [Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 28]).

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Genauer scheint mir der Beitrag, den Untersuchungen zu Inhalten konfessioneller Theologie und Frömmigkeit zur Konfessionalisierungsforschung leisten können, in der Berücksichtigung von Bottom-up-Perspektiven und -Prozessen zu bestehen, wie sie gegenüber der der Konfessionalisierungsthese zunächst einmal inhärenten Top-down-Perspektive gerade ein Korrektiv bilden können. Sozialgeschichtlich impliziert dies den Fokus auf das Verhältnis von Konformisierungs- und Nonkonformisierungsprozessen. Über die Verwendung solcher Begrifflichkeiten kann man sich freilich streiten – ich halte eine Diskussion über eine Rezeption der für historische Prozesse bislang, so weit ich sehe, kaum verwendeten Denkfigur Top-down / Bottom-up auch in der Kirchengeschichte aber durchaus für erkenntnisfördernd. Innerhalb der kirchenhistorischen Forschung knüpfe ich damit insbesondere an die von Udo Sträter im Blick auf Kirchenreformbemühungen in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts getroffene strukturelle Unterscheidung regulativ-gesetzlicher von persuasiv-basisorientierten Maßnahmen an.45 Wie exemplarisch zu zeigen sein wird, lassen sich die mit „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ angesprochenen Reformbemühungen im Luthertum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts durchgängig unter diesen Strukturmerkmalen erfassen.46 Hinsichtlich des Konfessionalisierungsparadigmas unterstütze ich damit die Annahme, dass auch deutlich über das Jahr 1648 hinaus von „Konfessionalisierung“ zu sprechen ist.47 Zu diskutieren ist an dieser Stelle der von Thomas Kaufmann in Relativierung der etatistischen Perspektive in die Konfessionalisierungsdebatte eingebrachte Begriff der „Konfessionskultur“ – zumal Kaufmann in Bezug auf diesen „offenen Begriff“ bereits 1998 vorgeschlagen hat, „Gestalten und Positionen, die im Namen einer ‚Reformation des Lebens‘ gegen den Eifer für die ‚Orthodoxie‘ auftreten, als maßgebliches Moment, vielleicht auch als Richtung innerhalb der lutherischen Konfessionskultur zu verstehen“.48 Allerdings bleibt der Begriff „Konfessionskultur“ bei Kaufmann ambivalent: Einerseits geht es ihm dabei um den Aspekt der Umsetzung konfessioneller Vorgaben in kirchlichen Alltag und insofern um eine 45 46

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Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995 (BHTh, 91). Vgl. Abschnitt 3. Polina Serkova spricht im Blick auf den deutschen Protestantismus des 17. Jahrhunderts ähnlich strukturierend von „Reformation des Lebens zwischen Sozialdisziplinierung und Verinnerlichung“ (Polina Serkova: Spielräume der Subjektivität. Studien zur Erbauungsliteratur von Heinrich Müller und Christian Scriver. Duisburg 2013 [Ess-KuLtur, 7], 17 [Zitat], v. a. auch 25–32). Die „cultura animi als Subjektivierungskonzept, das strenge Disziplinierung und Verinnerlichung vereint“, sieht Serkova in besonderer Weise, aber nicht nur, als spezifisch pietistisch an (32–40, hier: 40). Vgl. auch Martin Gierl, der für das 17. Jahrhundert ein „piety movement“ konstatiert, das „was defined, on the one hand, by the organisation of the laity, and on the other, by the internalisation and control of faith“ (Martin Gierl: Pietism, Enlightenment, and Modernity. In: Shantz, Companion [s. Anm. 23], 348–392, hier: 356 f.). Gierl bezieht dies dezidiert nicht nur auf protestantische Bewegungen. Vgl. zu der bereits auf die 1980er Jahre zurückgehenden These, dass „Ausläufer von Konfessionalisierung bis ins 18. Jahrhundert“ nachweisbar seien, Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie [s. Anm. 41], 26. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 145. Weiter profiliert in Kaufmann, Lutherische Konfessionskultur [s. Anm. 29].

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Ergänzung makro- durch mikrohistorische Ansätze – andererseits will er unter dem Label „Konfessionskultur“ generell nach der ‚Innenperspektive‘ von Konfessionen fragen, die sich in Gestalt von Pluralisierungen möglichen Normierungen ja gerade entzog.49 Wegen ihrer Anschlussfähigkeit an die sich seit den 1980er Jahren etablierende neue Kulturgeschichte hat die Eintragung einer kulturgeschichtlichen Perspektive in die kirchenhistorische Forschung zweifellos Vorteile und spricht teils sogar für Tendenzen zu einem generellen cultural turn auch in dieser Disziplin.50 Damit wird allerdings auch das dieser Richtung in der Geschichtswissenschaft inhärente Problem einer sehr fluiden Gegenstandsbestimmung übernommen.51 So hat Hartmut Lehmann mit Blick auf die Pietismusforschung nachdrücklich davor gewarnt, allzu unkritisch auf die „unter dem Label des Cultural turn proklamierte kulturwissenschaftliche Forschung“ zu setzen, da diese eher eine sich weiterhin im Fluss befindliche Sammelbezeichnung für verschiedenste cultural turns als eine klar definierte Methode umschreibe.52 Für die Kirchengeschichte entsteht dann rasch der Eindruck, dass mit „Kultur“ ‚irgendwie alles‘ erfasst werden kann und soll. Dabei wird insbesondere in dieser Disziplin gern auch übersehen, dass gerade die Kulturwissenschaften mit stark differenzierten Theoriediskursen arbeiten, die es zu rezi49

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Vgl. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], v. a. 7–9, 144 f. Vgl. auch Thomas Kaufmann: Religion und Kultur. Überlegungen aus der Sicht eines Kirchenhistorikers. In: Archiv für Reformationsgeschichte 93, 2002, 397–405. – Der von Kaufmann geprägte Begriff der „Konfessionskultur“ ist zunächst von Wolfgang Sommer angefragt worden (vgl. Wolfgang Sommer: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Rückblick und Ausblick auf die Diskussion in der gegenwärtigen Forschung. In: ders., Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1999 [Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 74], 286–307, hier: 305 f.). – Markus Matthias, der dezidiert „einen Beitrag zu einem kulturwissenschaftlichen Verständnis des konfessionellen Zeitalters“ leisten will, d. h. zu einem Verständnis, „das Religion wie andere ‚symbolische Formen‘ nicht funktional, sondern als sinnstiftende Ausdrucksgestalt menschlichen Lebens wahrnimmt“, hat an Kaufmanns Begriff der „Konfessionskultur“ die „Vorstellung von einer wesentlich bestimmten, statt sich historisch wandelnden Theologie oder Konfession“ kritisiert und diesem deshalb den Begriff der „Religionskultur“, „der die Theologie selbst als eine in jeder Hinsicht historisch gebundene, religiöse Ausdrucksform versteht“, entgegengesetzt (vgl. Matthias, Theologie [s. Anm. 35], 18 u. 21). Letztlich fragt er aber selbst primär in einer Top-down-Perspektive nach der „Bedeutung der wissenschaftlichen Theologie für die Konfessionsbildung“ (aaO, 25), insofern „die Theologie religiöse Lebensformen (Formen religiöser Praxis) begründet, legitimiert oder kritisiert“ (aaO, 233). Vgl. z. B. das Projekt „Cultural History of Pietism and Revivalism 1650–1850“ und die in dessen Ergebnis vorgelegten Publikationen (genauere Angaben hierzu bei van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 252, Anm. 140). Thomas Kaufmann spricht davon, dass „dem Begriff der Kultur als denkbar umfassendster Kategorialisierung alles dessen, was Menschen denken und tun“, „Universalität, perspektivische Weite, Elastizität, aber auch operative Unbestimmtheit“ eignen, und will deshalb einen ‚weichen‘ Kulturbegriff mit einem ‚harten‘ Konfessionsbegriff kontrastieren und im Begriff „Konfessionskultur“ gerade auch kombinieren (Kaufmann, Lutherische Konfessionskultur [s. Anm. 29], 9). Hartmut Lehmann: Pietismusforschung nach dem Cultural Turn. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013 (AGP, 59), 13–26, hier: 13.

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pieren gilt, wenn man explizit Anschluss an diesen relativ jungen Wissenschaftszweig sucht. Die Übernahme des Ausdrucks „Kultur“ allein macht noch keinen Anschluss an die Kulturwissenschaften. Anschließend an Johannes Wallmann, Wolfgang Sommer und Thomas Kaufmann sehe ich es weiterhin als sinnvoll an, für die Kirchenhistoriographie der Frühen Neuzeit am Begriff des Protestantismus festzuhalten.53 Jenseits der Annahme eines mehr oder weniger vollständigen Bruchs, wie die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus ihn voraussetzt,54 ginge es dabei meiner Ansicht nach aber um einen „frühneuzeitspezifischen Protestantismusbegriff“. Als einen solchen Begriff schlage ich den eines „frühneuzeitlichen Reformprotestantismus“ vor. „Frühneuzeitlicher Reformprotestantismus“ wäre als eine Richtung in den frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsprozessen oder auch im konfessionellen Zeitalter – das dann allerdings bis in das frühe 18. Jahrhundert hinein anzunehmen wäre – zu begreifen. Er wäre einem weniger theologisch-systematischen Blick auf die kirchengeschichtlichen Entwicklungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts verpflichtet und würde es deshalb besser als die Annahme eines Bruchs zwischen einem Alt- und einem Neuprotestantismus ermöglichen, „[n]icht das Nach-, sondern das Ineinander des Verschiedenen“55 oder anders gesagt „die für das 17. Jahrhundert typische Ungleichzeitigkeit der Phänomene“56 wahrzunehmen. Mit einem solchen, gewissermaßen stärker ‚integrativen‘ Blick auf das 17. und frühe 18. Jahrhundert wären die Rede von einem ‚Zeitalter der Orthodoxie‘ und die damit verbundenen unsachgemäßen Klischeebildungen57 überholt und ein Anschluss an den Stand der Orthodoxieforschung geleistet.58 Es wäre sowohl der Tatsache Rechnung getragen, dass dieselben Theologen, die für orthodoxe Lehren eintraten, seit dem frühen 17. Jahrhundert vielfach auch für eine intensivierte Praxis pietatis votierten, als auch der Tatsache, dass die als „Pietisten“ Bezeichneten – sofern sie innerkirchlich agierten – ja keinesfalls eine ‚Orthodoxie‘ angrei53 54 55

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Vgl. Wallmann, Lutherische Konfessionalisierung [s. Anm. 35], 53; Sommer, Politik [s. Anm. 49], 306, Anm. 55; Kaufmann, Nahe Fremde [s. Anm. 36], 191. Bei Kaufmann ebd. das folgende Zitat. Gegen die Annahme eines solchen Bruchs plädiert auch Sommer (vgl. Sommer ebd.). Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 149. Kaufmann sieht im gesamten Pluralisierungsprozess des 17. Jahrhunderts „den Auftakt der neuzeitlichen Protestantismusgeschichte“ – nicht in „einer bloßen Opposition gegenüber einer angeblich monolithisch gefestigten Orthodoxie“ (aaO, 146). Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 73. S. Abschnitt 1. Vgl. hierzu insbesondere Kenneth Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004 (BHTh, 127), der Orthodoxie als „‚offene Konsensbildung‘“ und insofern als „‚Konfessionsbildung‘“ versteht (312). Appold betont: „Die Alternative hierzu wäre die Vereinheitlichung gewesen, die man diesen Theologen lange zugeschrieben hat. Doch das Disputationswesen enthüllt ein anderes Bild der Zeit. Es ist nicht das einer toten Orthodoxie, sondern das einen lebendigen und offenen Gesprächs.“ (aaO, 317) Entsprechend seien Universitätstheologen der lutherischen Orthodoxie auch nicht als Instrumente einer „politisch-etatistisch verstandenen Konfessionalisierung“ begreifbar – dazu sei der „Prozeß der Orthodoxie“ [!] „einfach zu selbständig“ gewesen (ebd.).

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fen, sondern ganz im Gegenteil diese erst richtig zur Geltung bringen wollten und sich insofern als ‚die eigentlichen Orthodoxen‘ verstanden.59 Nur zu diesem Zweck machten sie auch Anleihen bei anderen Traditionsbeständen. Sachgerechter als mit der Vorstellung von der Ablösung eines ‚Zeitalters der Orthodoxie‘ oder auch eines ‚konfessionellen Zeitalters‘ durch ein ‚Zeitalter von Pietismus und Aufklärung‘ könnte die „Wahrnehmung von Übergängen und langwierigen Transformationsprozessen“ innerhalb der Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit erfolgen.60 Um diese These näher zu erläutern und die unter der Denkfigur ‚frühneuzeitlicher Reformprotestantismus als Teil von Konfessionalisierungsprozessen‘ aus meiner Sicht liegenden Potentiale für die kirchenhistorische Erforschung frühneuzeitlicher Reformbestrebungen exemplarisch aufzuzeigen, möchte ich mich im Folgenden wieder dem prima vista ungleichen Geschwisterpaar „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ zuwenden. Ich befrage konkrete, unter dem einen oder anderen der beiden Label fassbare historische Konstellationen jenseits einer begriffsessentialistischen Vorabetikettierung auf die hier jeweils erkennbaren Intentionen und schaue anschließend, wie sich unser Geschwisterpaar im Licht der Ergebnisse dieses Durchgangs ausnimmt. 3. REFORMPROTESTANTISMUS IM LUTHERTUM DES 17. UND FRÜHEN 18. JAHRHUNDERTS ALS TEIL VON KONFESSIONALISIERUNGSPROZESSEN – EXEMPLARISCHE ÜBERLEGUNGEN Im Blick auf lutherische Kirchenreformbestrebungen bereits im frühen 17. Jahrhundert ist in der kirchenhistorischen Forschung zum einen auf erhebliche reformierte Einflüsse hingewiesen worden. Diese firmierten weitgehend unter dem Label Praxis pietatis und umfassten ebenso die Rezeption von Methoden der Meditation wie disziplinierender Lebensregeln61 – teils verknüpft mit expliziten Forderungen

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Besonders deutlich wird diese Vermischung z. B. bei Veit Ludwig von Seckendorff (1626– 1692) (vgl. Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff [1626–1692]. Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005 [Historia profana et ecclesiastica, 11], 163 u. ö.). Vgl. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 144–150, hier: 148. Vgl. Kaufmann, Lutherische Konfessionskultur [s. Anm. 29], 7–14. Vgl. hierzu v. a. Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke and Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987 (BHTh, 71); Sträter, Meditation [s. Anm. 45], v. a. Kap. 3 (zu Johann Arndt, Johann Gerhard, Ludwig Dunte und Johann Schmidt); Johann Anselm Steiger: Meditatio sacra. Zur theologie-, frömmigkeits- und rezeptionsgeschichtlichen Relevanz der „Meditationes Sacrae“ (1606) Johann Gerhards. In: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Gerhard Kurz. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung, 2), 37–56; Jan van de Kamp: Die Einführung der christlichen Disziplinierung des Alltags in die deutsche evangelische Erbauungsliteratur durch Lewis Baylys Praxis Pietatis (1628). In: PuN 37, 2011, 11–19.

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nach einer ‚Reformation des Lebens‘ oder auch einer ‚Reformation der Kirche‘62. Das Briegische Bedenken Herzogs Johann Christian von Schlesien-Liegnitz-Brieg (1591–1639) aus dem Jahr 1627 ist das markanteste Beispiel des frühen 17. Jahrhunderts für den Versuch einer Durchsetzung reformiert konnotierter Kirchenreformen im Luthertum mit Hilfe obrigkeitlicher Maßnahmen.63 Schon Winfried Zeller hat unter Rückgriff auf Paul Althaus d. Ä. (1861–1925) zum anderen auf die breite Rezeption mittelalterlicher mystischer Meditationsliteratur im Luthertum bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hingewiesen.64 Es ist evident, dass diese verschiedenartigen Reformbemühungen teils auf regulative und teils auf persuasive Maßnahmen setzten und – trotz bzw. wegen ihrer Anleihen bei anderen Konfessionen – spezifische Profilierungen im Luthertum selbst förderten. Die unter dem Label „Reformation des Lebens“ firmierenden Maßnahmen Herzogs Ernst des Frommen in Sachsen-Gotha ab den frühen 1640er Jahren als Konfessionalisierungsvorgang zu fassen, liegt schon deshalb nahe, weil die hierfür als konstitutiv geltenden Merkmale – Disziplinierung und Normierung in einem Top-down-Prozess unter konfessionellen Aspekten – unmittelbar gegeben sind.65 Was die Lage allerdings auch hier vielschichtiger macht, ist die Tatsache, dass in Sachsen-Gotha zwar ein lutherischer Fürst agierte und der Bevölkerung auch dezidiert lutherische Lehrinhalte vermittelt werden sollten. Die konkreten Maßnahmen (Bildung und ‚Erziehung‘ aller bei engmaschiger Kontrolle und intensivierten Kirchenzuchtmaßnahmen mithilfe von ‚Disziplininspektoren‘) aber waren eher der reformierten Tradition entlehnt und hatten auch in ihrer tendenziell theokratischen Hauptzielsetzung – der Errichtung einer erneuerten, aus wahren Christen bestehenden Gesamtgesellschaft via Gesetz und in enger Kooperation von Kirche und Obrigkeit – hier ihre Parallelen.66 Das Etikett „Reformation des Lebens“ entsprach 62 63 64

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Vgl. u. a. Leube, Reformideen [s. Anm. 34], v. a. 37–39; Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 2], 78–84; Wolfgang Sommer: Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt im Dienst einer Erneuerung der Frömmigkeit. In: ders., Politik [s. Anm. 49], 239–262. Vgl. zum Briegischen Bedenken und dessen breiter Rezeption im gesamten 17. Jahrhundert Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 76. Vgl. Winfried Zeller: Luthertum und Mystik. In: ders., Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2. Hg. v. Bernd Jaspert. Marburg 1978, 35–54, hier v. a. 41–49. Vgl. zu konfessionsübergreifenden Traditionslinien u. a. auch Ernst Koch: Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert. Hg. v. Matthias Richter u. Johann Anselm Steiger. Waltrop 2005 (Texte und Studien zum Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhunderts, 3); Meyer/Sträter, Zur Rezeption [s. Anm. 39]. Vgl. zum Folgenden Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 2]; dies.: Calvinismusrezeption im Luthertum. Eine kirchengeschichtliche Spurenlese zwischen Calvinjahr und ‚Lutherdekade‘. In: Calvins Theologie – für heute und morgen. Beiträge des Siegener CalvinKongresses 2009. Hg. v. Georg Plasger. Wuppertal 2010 (Siegener Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung, 1), 283–292. Im Ausschreiben zur Generalkirchen- und Schulvisitation von 1641 hieß es, es seien „gruendliche wahre Busse“ und eine „Reformation […] deß Lebens“ im Sinne einer „Abschaffung deß Boesen / hergegen Anschaffung und Fortpflanzung des Guten und der wahren Gottseligkeit“ notwendig (zitiert nach Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 2], 77). – Die Deutung von Markus Matthias, der gemäß die Vorgänge in Gotha ein Beispiel für die Konkurrenz religiöser und politischer „Sinnentwürfe“ seien, bei der von „mangelnder konfessioneller Kon-

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dem, suggerierte aber, dass es lediglich um eine Fortsetzung der lutherischen Reformation im Bereich des ‚Lebens‘ und somit um einen in konfessioneller Hinsicht allemal legitimen Vorgang gehe. Dass die Gothaer Maßnahmen zu einer „Reformation des Lebens“ über den Rahmen dessen, was die lutherische Tradition vorsah, hinausgingen, haben konfessionsbewusste Zeitgenossen wie der Weimarer Generalsuperintendent Johannes Kromayer (1576–1643) und die Theologische Fakultät Wittenberg bemerkt und benannt.67 Auch ein Pfarrer aus dem Gothaischen – Elias Johannes Heßling (um 1605- um 1667) aus Günthersleben – meldete sich mit einer umfangreichen, allerdings nur handschriftlich überlieferten Abhandlung zu Wort.68 Darin erhob er jegliche Art von Heterodoxievorwurf gegen die Hoftheologen Christoph Brunchorst (1604–1665) und Salomon Glassius (1593–1656). Hinter ihrer „newen arth die leüte [zu] bekehren, und dieselbe from [zu] machen“ und „durch Herrn Johann Arndts wahres Christenthumb die gottseligkeit wider auff [zu] richten“ würden sich „Viel Weigelianische und puritanische Irthumer“ verbergen, schrieb er.69 Man rede zwar viel von Luthers Schriften, würde „in der thatt aber dieselben in Vielen stücken Verleügnen“. Im Kern lag das Problem der Abweichung von der lutherischen Tradition aus Heßlings Sicht darin, dass Glauben als Frucht und Mittel der Erleuchtung und Heiligung verstanden wurde. Auch würden die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Natur und die (mystische) Vereinigung mit Christus gelehrt. In diesem Zusammenhang erhob Heßling auch Vorwürfe wie ‚Schwenckfeldianismus‘ und ‚Papismus‘. Jenseits der Top-down-Maßnahmen reformierter Couleur des Herzogs nahm der Kritiker aus der Pfarrerschaft am Gothaer Hof also mystisch-spiritualistische Züge wahr, die er mit einer Rezeption von Johann Arndts Wahrem Christentum in Verbindung brachte – was immerhin voraussetzt, dass er diese Publikation selbst sehr gut kannte. Überhaupt war Heßling – so muss man das jedenfalls seinem späteren Streitschriftenwechsel mit Württembergischen Medizinern entnehmen – nicht der ‚stramme Lutheraner‘, als der er hier erscheint. Neben seinem Theologiestudium hatte er, ausgehend von der Lektüre von „Herrn D. Jacob Boehmen Medicinische[r] Praxin“70 ein medizinisches Privatstudium absolviert. Zeitlebens war er neben seinem Pfarramt als Arzt tätig und behauptete ab den 1650er Jahren, durch eine besondere Erleuchtung das Theophrastische Allheilmittel (wieder-) gefunden zu haben. Heßling beanspruchte für sich also offensichtlich eine handfeste Kryptoheteroxie, insofern er unterschied zwischen dem, was er als Mediziner tat und glaubte, und seiner offiziellen Existenz als Pfarrer. Es fragt sich, ob ihn an den Gothaer Maßnahmen zu einer Verbesserung nicht vor allem die Tatsache störte, dass sie ‚von oben‘

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sequenz“ zu reden sei (Matthias, Theologie [s. Anm. 35], 26), setzt die hier nicht sachgemäße Vorstellung von ‚Politik‘ und ‚Religion‘ als funktional getrennten Bereichen voraus. Vgl. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 2], 112–131 u. 515 f. Überliefert im Thüringischen Staatsarchiv Gotha, Oberconsistorium Generalia, Loc 29b, No 1. Vgl. hierzu Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], hier: 37–49. Zitiert nach Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], 40. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. Elias Johannes Heßling: Theophrastus Redivivus, Illustratus, Coronatus & Defensus […]. Hamburg 1663, 95. Gemeint ist Jakob Böhme (1575–1624).

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kamen und ‚wahres Christentum‘ auf regulativem Weg, durch Gesetz und Kontrolle, herstellen wollten. Heßling wäre somit zu den Pfarrern zu zählen, die für sich einen religiösen Nonkonformismus bei formaler Erfüllung ihrer Amtspflichten beanspruchten, an einer Reform der Kirche aber kein Interesse hatten und sich in einem christlich normierten Staatswesen zutiefst bedrängt fühlten. Es verwundert nicht, dass Heßling ein Jahr nach Abfassung seiner theologischen Kritik am Gothaer Hof als Pfarrer amtsenthoben wurde. Ein Schlaglicht auf die Selbstwahrnehmung der Gothaer Hoftheologen in diesem Kontext wirft die Vorrede von Salomon Glassius zum Gruendliche[n] Bericht Von allen nothwendigen Artickelen […] der allein seligmachenden Evangelischen Religion aus dem Jahr 1643 des Erfurter Pfarrers Bartholomäus Elsner71 (1596– 1662), den Spener ein halbes Jahrhundert später ausdrücklich zu denen zählte, die „das werck des Herrn ernstlich getrieben“ hätten72. Es seien, so Glassius, mitten unter denen unschlechtigen argen Menschen, noch allezeit Christen gewesen, welche ihr Licht durch gute wercke haben leüchten laßen, […] Solche aber haben ihrer Christlichen bekaentniß und wandels wegen, der Satan undt seine werckzeüge zu allen Zeiten gehaßet, verfolget, undt beschuldiget, ob gläubten undt lebten Sie nicht recht, sondern weren Ketzer, Schwärmer, neülinge, Puritaner p[erge] […].73

Es ist durchaus naheliegend, dass Glassius dabei Kritiker wie Heßling im Blick hatte. Folgt man Heßlings theologischer Analyse der Positionen der Gothaer Hoftheologen, bei denen er sich v. a. auf eine am 23.11.1641 von Brunchorst gehaltene Predigt und eine am 15.6.1642 in Gotha durchgeführte Disputation „De sacra scriptura“ zwischen Glassius und Martin Wandersleben (1608–1668) bezieht,74 entsteht der Eindruck, dass neben und unter Herzog Ernsts reformiert konnotierten Versuchen zu einer Reform von Kirche und Gesellschaft auf dem Weg gesetzlicher Regulierung des Einzelnen als Objekt durchaus Versuche einer Wiederanknüpfung an Johann Arndts Impulse zum Ansatz bei den Möglichkeiten geistlicher Erfahrungen des Gläubigen als Subjekt eine Rolle spielten. Das würde bedeuten, dass sich im Gotha der 1640er Jahre beide für das 17. Jahrhundert maßgeblichen, hinsichtlich ihres Ansatzes entgegengesetzten Versuche zu einer Erneuerung von Kirche und christlicher Gesellschaft finden: der regulative ‚Top-down‘-Zugriff und der persua-

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Bartholomäus Elsner: Gruendlicher Bericht Von allen nothwendigen Artickelen oder Stuecken der allein seligmachenden Evangelischen Religion […]. Gotha 1643. Zu Elsner und den Bezügen zwischen Erfurt und Gotha vgl. Wallmann, Erfurt [s. Anm. 8], v. a. 328–333. Wallmann spricht im Blick auf Herzog Ernst von „frühpietistischen Reformideen“ und meint, dass sich in den Auseinandersetzungen um Elsners Reformvorschläge in Erfurt „die Bekämpfung der pietistischen Reformbestrebungen durch die Orthodoxie“ angekündigt habe (aaO, 329 f.). Philipp Jakob Spener: Warhafftige Erzehlung / Dessen was wegen des so genannten Pietismi in Teutschland von einiger Zeit vorgegangen. Frankfurt/Main 1697, 137. Zitiert nach Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], 37. Martin Wandersleben war seit 1641 Pfarrer und Inspektor in Schönau v. d. W. Er wurde 1648 Pfarrer und Superintendent in Waltershausen (vgl. Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 1: Herzogtum Gotha. Neustadt a. d. Aisch 1995 [Schriftenreihe der Stiftung Stoye, 26], 695). Weder die Predigt noch die Disputation sind überliefert.

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sive, auf einen ‚Bottom-up‘-Prozess zielende Ansatz bei den Glaubenserfahrungen des einzelnen Christen. Beide Arten des Versuchs, Reformen anzustoßen, fanden im Luthertum ab der Mitte des 17. Jahrhunderts markante Fortsetzungen. Für den Ansatz bei den geistlichen Erfahrungen der Gläubigen sind insbesondere Joachim Lütkemanns (1608– 1655) (Wolfenbüttel) Vorschmack göttlicher Güte (Wolfenbüttel 1653) und Heinrich Müllers (1631–1675) (Rostock) Himmlischer Liebeskuß (Frankfurt, Rostock 1659) zu nennen75 – beide vielfach wieder aufgelegt. Für den Weg, der den Gläubigen „als Objekt umfassender Maßnahmen zu seiner Erziehung und Kontrolle“ durch Obrigkeit und Pfarrer ansah, stand vor allem die 1661 in Frankfurt/Main erschienene, einflussreiche Reformschrift Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion von Theophil Großgebauer.76 In dieser Schrift machte Großgebauer, wie Jan van de Kamp inzwischen nachgewiesen hat, großzügige Anleihen bei dem niederländischen Theologen Willem Teellinck (1579–1629), genauer bei dessen Reformprogrammschrift Noodwendigh vertoogh aus dem Jahr 1627 – allerdings ohne dies dazu zu schreiben.77 Dass sich in den folgenden Jahrzehnten im Luthertum weniger Reformvorschläge wie diejenigen Großgebauers als vielmehr Reformversuche auf der Basis geistlicher Erfahrungen des einzelnen Christen durchsetzten, lag nicht zuletzt daran, dass es Spener als Pfarrer in Frankfurt schon bald gelang, diese unter Rückgriff auf Arndt in ein für viele seiner Zeitgenossen offenbar attraktives Reformkonzept umzusetzen.78 Dieses Konzept entwickelte er bekanntlich nicht erst in seinen be75

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Vgl. v. a. Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 114 f.; Serkova, Spielräume [s. Anm. 46]; Wolfgang Sommer: Johann Arndt und Joachim Lütkemann – zwei Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur. In: ders., Politik [s. Anm. 49], 263–285; Christian Deuper: Theologe – Erbauungsschriftsteller – Hofprediger. Joachim Lütkemann in Rostock und Wolfenbüttel. Wiesbaden 2013 (Wolfenbütteler Forschungen, 136). Vgl. Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 150–156, hier: 150. Vgl. Jan van de Kamp: Internationale Vermittlung von Reformprogrammen. Die Rezeption von Willem Teelincks Noodwendigh vertoogh in Deutschland im 17. Jahrhundert. In: „Schrift soll leserlich seyn“. Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013. Hg. v. Christian Soboth [u. a.]. Bd. 1. Halle 2016 (HaFo, 44/1), 261–283. Diese Attraktivität erklärt sich sicher u. a. daraus, dass Spener mit diesem Programm einen ‚Trend zur Individualisierung‘ aufgriff und fruchtbar machte, nicht einfach etwas ‚implantierte‘. Einen solchen ‚Trend‘ kann man beispielsweise auch bei Veit Ludwig von Seckendorff feststellen, der 1664 den Gothaer Hof Ernsts des Frommen nach nur einem Jahr Dienst in höchsten Ämtern verließ (vgl. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 2], 43–47). Dabei hatte er in seinem Teutschen Fürstenstaat das Gothaer Modell kurz zuvor (1656) als „Idealfall fürstlicher, von Gott verliehener Macht in geistlichen und weltlichen Dingen“ dargestellt (aaO, 44 f., hier: 45). In seinem Christenstaat beklagte Seckendorff später (1685) u. a. „das Fehlen einer ausführlichen ars meditandi in deutscher Sprache“ (Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 107). Vgl. zu Seckendorffs Entwicklung insgesamt Strauch, Seckendorff [s. Anm. 59]. – Thomas Kaufmann erklärt die Tatsache, dass die bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angelegte „Pluralisierung der religiösen Lebensformen im Protestantismus“ zu „einer dynamischen“, „die Formen des sozialen Lebens verändernde[n] Dynamik“ erst nach den mit dem Westfälischen Frieden geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen kommen konnte (Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 37], 151 f.). Das „Spezifische der langwie-

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rühmten Pia Desideria von 1675, sondern bereits als Vorrede zu einer Ausgabe von fünf Traktaten des 1640 verstorbenen Mühlhäuser Pfarrers Andreas Cramer79 (1582–1640) unter dem Titel Der gläubigen Kinder Gottes Ehrenstand und Pflicht zu Aufferbauung und Ubung deß wahren Christenthumbs, die er erstmals 1668 in Frankfurt/Main publizierte.80 Wenn man diese Publikation Speners als seine erste Programmschrift und die Pia Desideria, die dann ja zunächst als Vorrede zu seiner Ausgabe von Arndts Postille erschienen, als zweite sieht, kann man dies so interpretieren, dass er seinen Reformansatz nacheinander in einen kleineren und einen größeren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang gestellt wissen wollte: Zunächst in den Kontext von Impulsen, wie sie vor 1640 aus Thüringen gekommen waren, und dann in eine breitere, auf Johann Arndt zurückgehende Tradition.81 Was Speners Reformprogramm so wirksam machte, war freilich nicht nur der Rückgriff auf Arndt an sich, sondern in Gestalt der Etablierung der Collegia pietatis die Schaffung eines institutionellen Rahmens in der Kirche, in dem es nicht um intellektuelles Verstehen von Glaubensinhalten oder um die Kontrolle der Einhaltung ethischer Standards ging, sondern um die Beförderung religiöser Erfahrungen des Einzelnen.82 So sehr Spener dabei mit Luthers ‚Priestertum aller Gläubigen‘ argumentieren konnte, war doch auch klar, dass er mit dieser Aufwertung des cultus privatus neben dem cultus publicus ein Proprium reformierter Konfessionsbildung aufnahm. Den Vorwurf der Beförderung falscher Lehre handelte sich Spener im Blick auf die Collegia pietatis aber vor allem deshalb ein, weil sie unter das Label ‚Konventikel‘ fielen, wie sie gerade auch in Frankfurt schon seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine große Rolle spielten und ein kirchlich nonkonformes, in hohem Maße von Reformierten getragenes Milieu repräsentierten.83 Solche Konventikeltraditionen hat Jonathan Strom auch für Lübeck nachgewiesen.84 Zudem stand in Gestalt des Labadismus sowohl Reformierten als auch Lutheranern die mit

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rigen Auseinandersetzungen um den Pietismus“ könne, so vermutet Kaufmann, darin gesehen werden, „daß man sich nun der Unausweichlichkeit der Vielfalt bewußt wurde, Strategien zur ‚Veralltäglichung‘ der Differenz einübte […] und zu einer Neubewertung des ja seit der frühen Reformation auch erlittenen Verlustes der Einheit der Kirche, nun auch der Konfessionskirche, gelangte“ (aaO, 150, Anm. 375). Andreas Cramer, 1631–1640 Pfarrer in Mühlhausen, 1634–1636 aber vom Dienst suspendiert (vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 2: Biogramme Br-Fa. Leipzig 2004, 221). Vgl. Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 21986 (BHTh, 42), 241–243; Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 150–156. Die ‚Thüringer Impulse‘ in Gestalt von Cramers Publikation spielten für Spener allerdings weiterhin eine Rolle. Dies lässt sich der Tatsache entnehmen, dass er weitere Auflagen des Buches (mit leicht abweichenden Titeln) 1669 ebenfalls in Frankfurt und 1688 in Dresden publizierte, wobei er die Dresdner Ausgabe mit „doppelter Vorrede“ versah (postum erneut aufgelegt Dresden 1716 und 1765). Vgl. Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 129–144 u. 156–166. Vgl. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002 (BHTh, 119). S. auch Werner Bellardis systematisierende Studie zur Vorgeschichte der von Spener eingeführten Collegia pietatis (Werner Bellardi: Die Vorstufen der Collegia Pietatis bei Philipp Jacob Spener. Gießen 1994 [Diss. Breslau 1930]). Vgl. Jonathan Strom: Early Conventicles in Lübeck. In: PuN 27, 2001, 19–52.

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der Abhaltung gesonderter Versammlungen im kirchlichen Rahmen grundsätzlich gegebene Gefahr der Separation als abschreckendes Beispiel vor Augen.85 Es waren die von Spener angeregten Collegia pietatis, die im Luthertum einen Bottom-up-Prozess bislang nicht gekannten Ausmaßes auslösten. Entgegen Speners Hoffnung bedeutete dies aber nur bedingt und weitgehend auch nur temporär eine Einbindung von Kreisen, die der Kirche kritisch und distanziert gegenüberstanden.86 Vielmehr breiteten sich neben den Collegia als Teil kirchlichen Lebens, wie Spener sie zu initiieren beabsichtigt hatte, in den folgenden Jahrzehnten im Luthertum zugleich kirchlich nicht mehr integrierbare Lehren und Gemeinschaften in neuer Intensität aus. Hier spielten ebenso mystisch-spiritualistische wie hermetische und theosophische Traditionen eine Rolle und dabei in fast allen Fällen abweichende eschatologische Lehren, wozu Spener mit seinem ‚subtilen‘ Chiliasmus immerhin auch Anstöße geliefert hatte. Die in diesem Zusammenhang in Leipzig, Erfurt und zunächst dann auch Halle entstehenden religiösen Jugendbewegungen mit ihren ekstatischen Erscheinungen und der aktiven Beteiligung von Frauen aller Stände entfalteten eine nicht mehr einholbare Eigendynamik mit langfristigen Wirkungen, z. B. in Gotha, im Harz, im Leipziger Raum oder in Merseburg.87 Auch Francke, der in diesen Bewegungen in den späten 1680er und frühen 1690er Jahren eine entscheidende Rolle spielte, wurde dadurch nachhaltig geprägt und verfasste in diesen Kontexten in Erfurt seinen Bericht über eine persönliche Glaubensgewissheitserfahrung.88 Diese nonkonformen Bewegungen erfuhren neuen Aufschwung im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts durch Konvergenzen mit dem europaweiten Auftreten der Inspirierten. Die Tatsache, dass sich erst mit dem Auftreten der nonkonformen religiösen Jugendbewegungen am Ende der 1680er Jahre, die sich auf Spener beriefen, in größerem Stil und mit pejorativer Bedeutungszuschreibung der Begriff „Pietismus“ verbreitete und faktisch den Sektenvorwurf beinhaltete,89 erklärt das oben benannte Missverhältnis zwischen dieser Zuschreibung und den Spenerschen Reformanliegen90. Gleichwohl sind die 1690er Jahre von Versuchen einer positiven Rezeption der Zuschreibung „Pietismus“ gekennzeichnet. Nach dem Leipziger Rhetorikprofessor Joachim Feller (1638–1691) mit seinem berühmt gewordenen Epicedium 85 86 87 88

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Vgl. Veronika Albrecht-Birkner u. Matthias Plaga-Verse: Erbauungsversammlungen im reformierten Bereich als Parameter und Multiplikatoren von (pietistischen) Reformbestrebungen bis um 1710. In: Der Pietismus und die Medien [s. Anm. 77], 67–86. Vgl. Sträter, Art. Pietismus [s. Anm. 19], 398 f. Vgl. u. a. Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004 (HaFo, 14). Vgl. Lebensläufe August Hermann Franckes. Autobiographie und Biographie. Hg. v. Markus Matthias. Leipzig 2016 (EPT, 9), 161 f.; Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 49–79, hier: 58. Vgl. Christian Peters: „Daraus der Lärm des Pietismi entstanden“. Die Leipziger Unruhen von 1689/1690 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In: PuN 23, 1997, 103–130. S. Abschnitt 1.

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von 168991 und den schon zitierten Caspar Sagittarius und Johann Melchior Stenger92 ist in diesem Zusammenhang Spener selbst mit seiner 1697 erschienenen Warhafftigen Erzehlung93 zu nennen. Ein konstitutiver Aspekt dieses Prozesses war der Rückbezug auf Johann Arndt als Referenz dafür, dass auch der eigene Einsatz für ‚wahres Christentum‘ nichts mit Heterodoxie zu tun habe. Damit diese Argumentation funktionierte, mussten orthodoxe Gegner allerdings zugleich erst einmal von Arndts Rechtgläubigkeit überzeugt werden – insofern hatte die Berufung auf Arndt gerade auch wieder eine Achillesferse. So verwundert es nicht, dass Spener auch schreiben konnte, dass er erkenne, dass „unsere Kirche freylich einer Reformation, nicht zwar in der Lehr […] jedoch in vieler Lehrart und dem Leben bedörffe / nach dero so offt absonderlich und öffentlich seuffze“.94 „Reformation im Leben“ war das allemal sicherere Etikett. Francke hat, nachdem er sich in der ersten Hälfte der 1690er Jahre von der nonkonformistischen Szene abgewandt hatte, im Unterschied zu Spener, so weit ich sehe, nie auf eine positive Rezeption des Etiketts „Pietismus“ für seine Anliegen und Aktivitäten gesetzt – im Gegenteil hat er diese Bezeichnung mit im 18. Jahrhundert noch zunehmender Vehemenz abgelehnt.95 Dies hing offensichtlich damit 91

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Luctuosa desideria. Wiedergefundene Gedenkschriften auf den Leipziger pietistischen Studenten Martin Born [1666–1689]. Mit Gedichten von Joachim Feller, August Hermann Francke und anderen. Hg. v. Reinhard Breymayer. Teil 1. Luctuosa desideria und Vetterliche und Freund-verbundene Letzte Pflicht. Text. Tübingen 2008, 24 f.; vgl. hierzu Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus (1921). In: ders., Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Hg. v. Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975 (AGP, 13), 153–267; Wolfgang Miersemann: „Pietismus und „Teutsche Poeterey“. Zu einem Schlüsseltext des Poesieprofessors und „Sängers der Leipziger pietistischen Bewegung“ Joachim Feller (1638–1691). In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. v. Rainer Lächele. Tübingen 2001, 191–241. S. Abschnitt 1. Spener, Warhafftige Erzehlung [s. Anm. 72]; vgl. Peters, Daraus der Lärm [s. Anm. 89], 109– 113; Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], 35–37. Philipp Jakob Spener: Letzte Theologische Bedencken. Teil 1. Halle 1711 (21721) (ND Hildesheim u. a. 1987), 434 (undatiert). Zum Argument des wieder verloren gegangenen „guten anfangs der reformation“ bei Spener vgl. auch Claudia Drese: Der „Faden“ der Geschichte. Zur Evaluation der Vergangenheit durch den Halleschen Pietismus. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung [s. Anm. 52], 115–128, hier: 118. Vgl., auch zum Folgenden, Antje Schloms u. Holger Trauzettel: Francke, der Lutheraner? Selbst- und Feindbild zu Lebzeiten. In: FranckeBilder und Festkultur. Jubiläen von der Aufklärung bis in die DDR. Hg. v. Andreas Pečar [u. a.]. Halle/Saale 2013, 17–29, v. a. 26; Veronika Albrecht-Birkner: Franckes Krisen. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 24. März bis 21. Juli 2013. Hg. v. Holger Zaunstöck, Thomas Müller-Bahlke u. Claus Veltmann. Halle 2013 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 29), 81–99; Holger Zaunstöck: Das „Werck“ und das „publico“ [!]. Franckes Imagepolitik und die Etablierung der Marke Waisenhaus. In: Die Welt verändern, aaO, 259–271, hier: 260–262; Veronika Albrecht-Birkner: Einleitung. In: August Hermann Francke: Tagebuch 1714. Hg. v. ders. [u. a.]. Wiesbaden 2014 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 13), XI–XXIX, hier: XXV. – Die Zurückweisung des „Pietismus“-Begriffs ist auch bei Joachim Lange: Apologetische Erläuterung der Neuesten Historie Bey der Evangelischen Kirche von 1689 bis 1719 […]. Zur erwünschten Endigung Des sectirischen Fabel-Wesens vom PIETISMO […]. Halle 1719, deutlich greifbar

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zusammen, dass der Ausdruck durch das Auftreten der Inspirierten aus Franckes Sicht noch zusätzlich so ‚besetzt‘ war, dass es ihm klüger erschien, ihn nun endgültig aufzugeben. Freilich erklärt sich seine größere Distanz zum Etikett „Pietismus“ auch schon daraus, dass er das mit dem Begriff bezeichnete Vorwurfsprofil im Gegensatz zu Spener nahezu exemplarisch erfüllt hatte bzw. – andersherum gesagt – sich der pejorative Pietismusbegriff an den zentral von ihm mitgetragenen Entwicklungen der späten 1680er Jahre erst etabliert hatte. Im Verhör in Leipzig hatte Francke 1689 auf die Frage, „Ob er nicht statuire / daß eine andere Reformation, als Lutheri gewesen / zu erwarten?“ geantwortet: „Nein / Reformatio dogmatum nicht / sondern reform[atio] morum wäre zu wünschen“.96 Das, was Francke zunächst in seiner Glauchaer Gemeinde und dann mit der Gründung seiner Schulstadt in der Stadt als Ort, von dem via Erziehung und Disziplinierung eine ‚Reform‘ letztlich der ganzen Welt ausgehen sollte, installierte, implizierte nicht nur umfangreiche Anleihen bei der reformierten Tradition, sondern vor allem auch bei den Konzepten einer „Generalreformation“ Andreaes und Comenius’ mit ihren eindeutig chiliastischen Implikationen.97 Hatte Spener mit den Collegia pietatis den Weg zu Reformen ausgehend von den Glaubenserfahrungen des einzelnen Christen stark gemacht, kehrte Francke in einer spezifizierten Weise nun zum regulativen Top-down-Ansatz zurück.98 Dabei konnte er an manches anknüpfen, was bereits im Gotha Ernsts des Frommen entwickelt worden war, denn hier wie dort sollte die ideale christliche Gesellschaft entstehen.99

(vgl. Peters, Daraus der Lärm [s. Anm. 89], 114–120). Lange (1670–1744) betonte mit Spener die auf Arndt zurückgehende Tradition des ‚sogenannten Pietismus‘ (vgl. Peters, aaO, Anm. 53 u. 66). 96 Gerichtliches Leipziger PROTOCOLL In Sachen die so genannten PIETISTEN betreffend […]. Abgedruckt in: August Hermann Francke: Streitschriften. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin u. New York 1981 (Texte zur Geschichte des Pietismus, II/1), 1–111, Zitat 64. 97 Vgl. Udo Sträter: Der hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg v. U. Sträter [u. a.]. Bd. 1. Tübingen 2005 (HaFo, 17/1), 19–36; Wolfgang Breul: August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung [s. Anm. 52], 68–83. – In Halle spielte die explizite Anknüpfung an Comenianisches Denken eine erhebliche Rolle. Francke erwog schon 1689, zusammen mit Andreaes Christianopolis auch Comenius’ De bono unitatis zu veröffentlichen (vgl. A. H. Francke an Ph. J. Spener, Leipzig, 12.11.1689. In: Ph. J. Spener, Briefwechsel mit August Hermann Francke. 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, 15–17) – letztlich geschah dies 1710 in London durch Anton Wilhelm Böhme (1673–1722). Vor allem aber hatte er Interesse an der Consultatio Catholica (vgl. Brigitte Klosterberg: Traditionsbildung und Archivierung. Die Anfänge des Archivs der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus und die Medien [s. Anm. 77], 379–397, hier: 384 f.), deren erster Teil (Panergesia) 1702 im Waisenhausverlag in Halle tatsächlich erschien (hg. v. Johann Franz Buddeus). 98 Vgl. hierzu auch Shantz, Introduction [s. Anm. 23], 287. 99 Vgl. hierzu auch Claudia Drese: Auf dem Weg ins Universelle. August Hermann Franckes Erfahrungshorizont und die Formung eines Ideals. In: Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe. Hg. v. Holger Zaunstöck. Halle 2010 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 25), 67–76.

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Strukturell sind zwischen Halle und Gotha freilich erhebliche Unterschiede festzustellen, denn Francke war im Gegensatz zu Ernst dem Frommen ja kein Landesherr, der tatsächlich auf politischem Wege christliche Reformen hätte auf den Weg bringen können. Das Besondere bei Francke ist, dass er den Anspruch auf gesellschaftliche Reformen als Pfarrer erhob und über das Label „Waisenhaus“ Interessenkonvergenzen mit politischen Verantwortungsträgern und einflussreichen Adligen erzielen konnte, die ihm die hierfür notwendige Lobby verschafften. Nach innen verdankte das Hallesche Modell zur Reform von Kirche und Gesellschaft seine temporäre Durchsetzungskraft dem erfolgreichen Setzen auf die Bereitschaft, vorgegebene religiöse Normen so stark zu internalisieren, dass sie in Gestalt von Selbstkontrollmechanismen funktionierten. Die damit zugleich beanspruchte einzigartige Kongruenz von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ des einzelnen Menschen führte allerdings auch bald zum Vorwurf der Heuchelei als zentralem Bestandteil des Vorwurfsprofils gegenüber den Halleschen Anstalten im 18. Jahrhundert. Was das ‚Etikett‘ für seine besonderen Aktivitäten in Halle betraf, so hat Francke sich generell sehr zurückgehalten. In seiner 1697 in Glaucha gehaltenen Predigt unter dem Titel Die höchstnöthige Kirchen- Hauß- und Hertzensreformation,100 hat er allerdings die Notwendigkeit betont, „daß auch bey uns, und zwar nicht allein in der Kirchen insgemein, sondern auch in dem Hause eines ieglichen, ia in eines ieglichen Hertzen eine Reformation fürgenommen werde.“101 Hier wird ganz deutlich, dass die Argumentation mit einer Vervollkommnung der Reformation im Bereich des ‚Lebens‘ rasch fließende Übergänge zur Forderung einer neuen Reformation überhaupt und damit gerade eines Verlassens der lutherischen Tradition aufweisen konnte. Um diesem Eindruck wiederum zu entgehen, hat sich Francke ständig und explizit auf Luther bezogen.102 Dies lässt sich z. B. anhand von Franckes ‚Werbemaßnahmen‘ im Zuge seiner Reise ins Reich 1717/18 eindrucksvoll zeigen, was Gegenstand der Forschungen von Holger Trauzettel ist. Dabei kann man auf der Basis des gegenwärtigen Forschungsstandes davon ausgehen, dass diese jedenfalls in der Öffentlichkeit konfessionell geglättete Selbstdarstellung eine Inszenierung war, die die heterodoxen Kontinuitäten zu den Anfängen in Leipzig und Erfurt überdecken sollte und dies auch tat.103 Die Verlegung konfessionell abweichender Auffassungen in den Bereich des Privaten, die sogenannte Kryptoheterodoxie, 100 Vgl. August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften. Bearb. v. Paul Raabe u. Almut Pfeiffer. Tübingen 2001 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 5), Nr. E 50.1–3. 101 Vgl. Drese, Der Faden [s. Anm. 94], 120 f., Zitat 120. Zur Selbststilisierung des ‚Halleschen Pietismus‘ als Vollender der in Verfall gekommenen Reformation generell vgl. Drese, aaO, 123–128. 102 Vgl. zu dieser Ambivalenz Udo Sträter: August Hermann Francke und Martin Luther. In: PuN 34, 2008, 20–41. 103 Vgl. Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus [s. Anm. 21], 57–84; Markus Matthias: Rechtfertigung und Routine. Zum Verständnis der Rechtfertigungslehre im lutherischen Pietismus. In: Reformation und Generalreformation – Luther und der Pietismus. Hg. v. Christian Soboth u. Thomas Müller-Bahlke. Halle 2012 (HaFo, 32), 1–19, v. a. 9–19; Albrecht-Birkner, Franckes Krisen [s. Anm. 95]; Klosterberg, Traditionsbildung [s. Anm. 97] (zu umfangreichen Anschaffungen

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wurde ebenso ein zentrales Merkmal in der einerseits durch Speners Reformkonzept und andererseits durch theosophische und chiliastische Traditionen geprägten Württembergischen Frömmigkeit. Die ab dem 18. Jahrhundert von Herrnhut ausgehenden Impulse wären im Gegensatz zu den Halleschen schon wegen ihrer Initiation durch einen Nichttheologen als den Spenerschen Ansatz konsequent weiterführendes kirchliches Bottom-up-Modell zu verstehen. Hier ging es wieder um die Entfaltung individueller Gottesbeziehung und eigener Glaubenserfahrungen – jenseits vorgegebener Regulative – also, so Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760), „vom Pietismo [worunter er das Hallesche Reformmodell verstand, d. Vf.in] das oppositum“104. Ergänzend sei erwähnt, dass sich auch in den deutschen reformierten Reformbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts ein Trend von Top-down- zu Bottom-upProzessen durchsetzte.105 Während Theodor Undereyck (1635–1693) in den 1660er Jahren in Mülheim/Ruhr und nach seinem Vorbild mehrere Pfarrer am Niederrhein und im Bergischen ganz auf Reformen durch Katechismuslehre und Kirchenzucht setzten, was entsprechend der reformierten Tradition auf den häuslichen Bereich zielende Maßnahmen einschloss, lassen sich ab dem frühen 18. Jahrhundert verstärkt kirchlich nicht normierte Privatversammlungen feststellen. Diese wurden von reformiert-kirchlicher Seite mit dem negativen Einfluss einzelner herumreisender „Pietisten“ wie Hochmann von Hochenau (1670–1721) in Zusammenhang gebracht, stellten faktisch aber auch ein Wiederaufleben älterer reformierter Konventikeltraditionen dar. Ein eindrucksvoller literarischer Beleg für den Trend zu einem Neuansatz bei den Glaubenserfahrungen des Einzelnen auch bei den deutschen Reformierten ist die 1706 in Wesel von Philipp Erberfeld (1639–1709; Pseudonym „Deutschlieb“) unter dem Titel Gottseelige Begierden und andächtige Seufzer publizierte Neuausgabe der Pia Desideria des Jesuiten Hermann Hugo (1588–1629).106 Mit Gerhard Tersteegen (1687–1769) erreichte die mystische Glaubensindividualisierung bei den deutschen Reformierten ihren vorläufigen Höhepunkt – wobei Tersteegen seine Privatversammlungen dadurch verteidigte, dass er sie auf Theodor Undereyck als deren Stifter und „Mülheimischen Reformator“ zurückführte.107

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von Handschriften heterodoxer Provenienz in der Frühzeit der Entstehung des Archivs der Franckeschen Anstalten). Zitiert nach Sträter, Art. Pietismus [s. Anm. 19], 401. Vgl. zum Folgenden Albrecht-Birkner/Plaga-Verse, Erbauungsversammlungen [s. Anm. 85]. Vgl. Jan van de Kamp: „auff bitte und einrahten etzlicher frommen Menschen ins hochteutsche ubersetzet“. Deutsche Übersetzungen englischer und niederländischer reformierter Erbauungsbücher 1667–1697 und die Rolle von Netzwerken. Diss. theol. [masch.]. Amsterdam 2011, Kap. 5.18. Gerhard Tersteegen: Briefe. Bd. 2. Hg. v. Gustav Adolf Benrath unter Mitarb. v. Ulrich Bister u. Klaus vom Orde. Gießen u. Göttingen 2008 (Texte zur Geschichte des Pietismus, V/7,2), 162 f., hier: 162.

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4. FAZIT Historische Konstellationen im Luthertum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die aufgrund von Selbstbezeichnung bzw. zeitgenössischer oder historiographischer Zuschreibung unter den Labels „Reformation des Lebens“ bzw. „Pietismus“ gefasst werden können, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als weniger ‚ungleiche Geschwister‘, als dies prima vista der Fall ist. Sie lassen sich vielmehr als Facetten eines ‚frühneuzeitlichen Reformprotestantimus‘ begreifen und stehen im Luthertum für einen Teil einer sich zunehmend pluralisierenden Konfessionalisierung. Ihre enge Verwandtschaft erklärt sich schon daher, dass im Zuge der zeitgenössischen Nostrifizierung wie auch der retrospektiven Legitimierung in der Historiographie die pejorative Zuschreibung „Pietismus“ selbst in die Denkfigur einer „Reformation des Lebens“ im Sinne der Fortsetzung der vermeintlich nur in der ‚Lehre‘, also in der Theorie, erfolgten Reformation überführt wurde. Zudem lassen sich innerhalb der kirchlichen Erneuerungsbewegungen im Luthertum des 17. und 18. Jahrhunderts strukturelle Kontinuitäten feststellen, die vor allem die mit „Pietismus“ gegebene Vorabetikettierung zur Abgrenzung ganz bestimmter historischer Phänomene von einer ‚überwundenen‘ „Orthodoxie“ stark relativieren. Es lassen sich vielmehr durchgängig zwei verschiedene Arten von Reformkonzepten unterscheiden: Zum einen Konzepte, die auf eine Erneuerung von Kirche und Gesellschaft mit Hilfe eines regulativen Top-down-Zugriffs via Erziehung und Kontrolle setzten und damit faktisch Anleihen bei zentralen Proprien reformierter Konfessionsbildung machten, und zum anderen Konzepte, die auf einen Bottom-up-Prozess, ausgehend von intensivierten Glaubenserfahrungen des Einzelnen setzten und in Gestalt der Förderung des cultus privatus ebenfalls reformierten Vorbildern folgten. Beide sind im Luthertum seit dem frühen 17. Jahrhundert nachweisbar und konnten sich sowohl auf Johann Arndt als auch auf englische Erbauungsliteratur berufen. Tendenziell war den Bottom-up-Programmen, für die transkonfessionelle Rezeptionen von Meditationsliteratur eine große Rolle spielten, und die durch die Einführung der Collegia Pietatis als kirchlich approbierter Institution zur Förderung der religiösen Mündigkeit der Laien durch Spener einzigartige und nachhaltige Impulse erhielten, auf die Dauer größerer Erfolg beschieden.108 108 Im Grunde hat Johannes Wallmann – nur unter dem übergreifenden Label „pietistisch“ – die Rolle Speners in den lutherischen Erneuerungsbestrebungen des 17. Jahrhunderts ähnlich formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass „die Grundlagen pietistischer Frömmigkeit“ bereits in Arndts Wahrem Christentum ‚enthalten‘ gewesen seien, sieht er in Spener denjenigen, der den Pietismus „nicht geschaffen, so doch im Protestantismus durchgesetzt hatte“ (Wallmann, Philipp Jakob Spener [s. Anm. 31], 132 u. 144). Verzichtet man hier zugunsten eines frühneuzeitlichen Reformprotestantismusbegriffes auf die ‚subkutane‘ Ausweitung des Pietismusbegriffs auf das gesamte 17. Jahrhundert, ist Speners besondere Rolle in den lutherischen Reformbemühungen des 17. Jahrhunderts in gleicher Weise hervorhebbar. – Fred van Lieburg hat Spener ebenfalls eine strukturell herausragende Rolle bei der Einführung protestantischer Reformprogramme in der Frühen Neuzeit zugeschrieben, die nicht – wie calvinistische Programme – durch obrigkeitliche Maßnahmen realisiert werden sollten (vgl. Fred van Lieburg: The Dutch Factor in German Pietism. In: Shantz, Companion [s. Anm. 23], 50–80, hier: 69 f.; ders.: Dynamics of Dutch Calvinism. Early Modern Programs for Further Reformation. In:

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Hier ergaben sich zweifellos Konvergenzen mit neuzeitlichen Individualisierungstendenzen.109 Begreift man diese strukturell verschiedenen Reformströmungen im Luthertum als Teil des Konfessionalisierungsprozesses, ließe sich resümieren, dass sich in den Top-down-Prozessen die für die lutherische Konfessionsbildung charakteristische soziale Struktur hier noch einmal verstärkte und dabei in zunehmendem Maße auf Konformisierung setzte. In den Bottom-up-Modellen aber käme die in den Anfängen der lutherischen Reformation betonte, dann aber eher in den Hintergrund getretene Laienkompetenz in neuer Weise zum Zuge und unterstützte nonkonforme Tendenzen. Das heißt, es wurde kurz- und langfristig eine Infragestellung der traditionellen Hegemonie akademischen theologischen Wissens durch religiöses Erfahrungswissen befördert, die kirchlich nicht mehr integrierbar war bzw. auf die Schaffung von Sonderkirchen hinauslief. Pfarrer, die sich nonkonformen Erfahrungswissensdiskursen öffneten, tendierten offenbar vielfach dazu, diese jenseits des zu predigenden ‚gelernten‘ Wissens privat zu pflegen. Theoretisch fundiert und legitimiert war auch dies eben durch die Einführung der Unterscheidung von ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ der Reformation. Indem unter dem Label Praxis pietatis konfessionelle Schranken faktisch stark relativiert wurden, gewann die eigene Konfession – in neuzeitlicher Wahrnehmung – als nun gewissermaßen flexiblere Identität aber vielleicht gerade wieder an Attraktivität.

Calvinism and the Making of the European Mind. Hg. v. Gijsbert van den Brink u. Harro M. Höpfl. Leiden, Boston 2014, 43–66, v. a. 61–65). 109 Vgl. Kaufmann, Religion und Kultur [s. Anm. 49], 404: „Dann aber wäre die Individualisierung als Moment der inneren Dynamik der Konfessionalisierungsprozesse selbst zu beschreiben.“

I URSPRÜNGE: POLITIK UND FRÖMMIGKEIT IM HERZOGTUM SACHSEN-GOTHA

DAS „WERCK DER CHRISTLICHEN DISCIPLIN“ HERZOG ERNSTS DES FROMMEN Inspiration für die Glauchaer Kirchenzucht August Hermann Franckes? Terence McIntosh 1. EINLEITUNG Für Ernst I., Landgraf von Hessen-Rheinfels-Rotenburg (1623–1693), illustrierten vor allem drei Städte die strenge Ernsthaftigkeit, mit welcher Protestanten den Sonntag feierten: Mann gehe nach Genff / Cassel / Gotha / und andern vielen Protestirenden Oerthern mehr hin / und sehe zu / wie der Sonntag und hohe Feyertage daselbst gantz anderst / als bey den Catholischen ins gemein nicht geschiehet / gefeyret werde. Da nehmlich die Stadthore den gantzen Tag zugehalten / und jedermann in den Kirchen gesehen / und das spielen / und die Gelächer [sic] in den Wirthshäusern; viel weniger aber Comoedien / Mascaraden / Balletten und dergleichen Fladerwerck nicht gelitten werden.1

Die Beobachtungen des Landgrafen, eines glühenden Anhängers der irenischen Theologie, der den Großteil seiner Jugend im reformierten Hessen-Kassel verbracht hatte und 1652 zum Katholizismus konvertiert war, verweisen auf das bemerkenswerte Phänomen, dass das lutherische Gotha ein System religiös-moralischer Disziplinierung durchsetzte, das die Zeitgenossen in hohem Maße an Proprien der reformierten, also auf Johannes Calvin (1509–1564) zurückgehenden, Tradition erinnerte. Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwiefern die überlieferten Quellen eine solche Sicht belegen. Zudem wird untersucht, welche neuen Erkenntnisse im Blick auf den Ursprung und die Gestalt des Pietismus in Mitteldeutschland sich aus dieser Verortung ergeben können. 1

Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes wurde im Rahmen der jährlichen Konferenz der German Studies Association im September 2014 in Kansas City, Missouri, USA, vorgetragen. Der Verfasser dankt für die nützlichen Anregungen, die er nach seinem Vortrag auf der Tagung „Pietismus in Thüringen“ erhalten hat, sowie für die Förderung durch das von der Fritz Thyssen Stiftung finanzierte Herzog-Ernst-Stipendienprogramm am Forschungszentrum Gotha, wo die dem Aufsatz zugrundeliegenden Quellenforschungen durchgeführt wurden. Den Herausgebern sei für die sorgfältige Durchsicht besonders gedankt. [Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels-Rotenburg]: EXTRACT Deß veri, sinceri & discreti CATHOLICI Oder Eines gewissen in wenig gedruckten Exemplarien alleine bestehenden Buchs / Der warhaffte / auffrichtige und discrete Catholische genannt / Auff Verscheidener allerseits Religionen Zugethanen / so wol hohen Standes=Personen / als auch Gelehrten / einständiges Begehren. o. O. 1673, 27. Die Wiedergabe des Zitats des Landgrafen in August Beck: Ernst der Fromme, Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des siebenzehnten Jahrhunderts. Weimar 1865, 390 f., lässt die Verweise auf Genf und Kassel aus.

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Bekanntlich trug das Herzogtum Sachsen-Gotha im Herzen Thüringens in einzigartiger Weise dazu bei, die protestantische Frömmigkeit im Heiligen Römischen Reich des frühen 17. Jahrhunderts zu stärken. Das Herzogtum mit rund 20.000 Einwohnern entstand 1640, und bereits sein erster Regent, Ernst der Fromme (1601– 1675), führte mehrere Kirchenreformen durch, die sein großes Interesse an einer wahrhaft christlichen Lebensweise seiner Untertanen verdeutlichen. Die bisherige Forschung hebt unter diesen Reformen vor allem die Einführung des Katechismusunterrichts für Erwachsene, den Einsatz gründlicherer Visitationen, um Glauben und Verhalten der Untertanen zu überwachen, und den Erlass neuer Schulverordnungen zur Verbesserung des Primarschulunterrichts für Jungen und Mädchen hervor.2 Demgegenüber haben die von Herzog Ernst eingeführten Maßnahmen zur Stärkung der Kirchenzucht weniger Aufmerksamkeit erhalten. Dieser Aufsatz untersucht einige der Maßnahmen – insbesondere den Bericht Von Dem Straff=Ampt von 1645 und die außergewöhnlich innovativen Reformen der letzten zwölf Jahre seiner Herrschaft, die 1675 endete. Eine sorgfältige Lektüre des Bericht[es] Von Dem Straff=Ampt zeigt, dass der Herzog und seine theologischen Berater in Sachsen-Gotha einige Vorschriften aus den lutherischen Kirchenordnungen lockerten, die ursprünglich die Ortspfarrer von der Ausübung einer willkürlichen Kirchendisziplin abhalten sollten. Schon in den frühen Jahren seiner Regentschaft gestand er den Pastoren seines Herzogtums in bestimmten Fällen eine umfassendere Kompetenz zu, um widerspenstige Gemeindeglieder zu maßregeln, als diese sie traditionell hatten. Eine Analyse des „Werck[s] der christlichen Disciplin“ (verstanden als zeitgenössischer Sammelbegriff für Ernsts spätere Reformen) offenbart, dass der Herzog zur Intensivierung der Gottesfurcht in seinem Territorium von den Pastoren forderte, Inspektoren zu ernennen und mit diesen zu kooperieren. Diese Inspektoren unterschieden sich kaum von Kirchenältesten in reformierten Gemeinden. Der Bericht Von Dem Straff=Ampt und das „Werck der christlichen Disciplin“ dienen als geeigneter Rahmen, um den Umfang von Ernsts Maßnahmen zur Verbesserung der Kirchendisziplin zu untersuchen. Als solche illustrieren sie die Bereitschaft des Herzogs, von etablierten lutherischen Praktiken abzuweichen. Inwieweit hier eine Verbindung zu späteren Formen der Kirchendisziplin im Halleschen Pietismus besteht, wird abschließend diskutiert. 2. EINE NEUBEWERTUNG DES BERICHT[ES] VON DEM STRAFF=AMPT Der Bericht Von Dem Straff=Ampt, ein Nachtrag zu dem wesentlich umfangreicheren Synodal-Schluß, der eine Bilanz über die Generalvisitation von 1641 bis 1645 zog, erörtert zwei grundlegende Maßnahmen, mittels derer Pastoren wider2

Vgl. v. a. Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002 (LStRLO, 1) und Andreas Klinger: Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen. Husum 2002 (Historische Studien, 469).

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spenstige Gemeindeglieder disziplinieren konnten: private Ermahnungen und öffentliche Zurechtweisungen. Der Bericht setzt voraus, dass private Ermahnungen dem Ziel der Kirchenzucht weit effektiver als „offentliche Straffen“ oder „Straff= und Gesetz=Predigten“ dienten – selbst in Fällen notorischer Sünde und Lasterhaftigkeit.3 Die Gegenüberstellung dieser beiden Sanktionsmöglichkeiten im Bericht hatte ihren Ursprung in den Kontroversen um religiöse Reformen, wie sie im Herzogtum Sachsen-Weimar nach den protestantischerseits verhängnisvollen Schlachten bei Lützen (1632) und Nördlingen (1634) geführt worden waren. Hauptdisputanten waren hier die theologischen Berater Herzog Ernsts sowie die seines älteren Bruders Herzog Wilhelm IV. (1598–1662) gewesen. Auch Theologen aus dem nahegelegenen Erfurt waren in die Streitigkeiten einbezogen.4 Vor dem Hintergrund dieses Konflikts scheint immer wieder – zumindest implizit – die Anschuldigung aufgekommen zu sein, dass Herzog Ernst calvinistische Reformen favorisiere. So benutzte der Erfurter Pastor Nicolaus Stenger (1609–1680) in einer Predigt, die er am 3. August 1642 hielt und 1646 veröffentlichte, den polemischen Begriff „Calvinisten Vorschlag“, um die umstrittene Neuerung zurückzuweisen, wonach lutherische Geistliche ihre Gemeindeglieder zu Hause besuchen und dort den christlichen Glauben sowie das Verhalten einer jeden Person (auch von Kindern und Gesinde) mit Hilfe neuer Methoden katechetischer Unterweisung überprüfen sollten.5 Die visitatio domestica war ein grundlegender Bestand-

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5

Bericht Von Dem Straff=Ampt / Wie dasselbe von Lehrern und Predigern / so wol offentlich / als absonderlich / gegen ihre Pfarr=Kinder zu führen sey. Zum Synodal=Schluß / im Fürstenthumb Gotha / gehörig. Gotha 1645, 3 f., 21. Die Fassung von 1695 ist im Artikel „Straff=Amt“ abgedruckt. In: Grosses vollständiges UNIVERSAL-LEXICON Aller Wissenschafften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Bd. 40. Halle u. Leipzig 1744, 485–498, hier: 485–497. Vgl. Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 112–120; Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 216; Holger Berg: Military Occupation under the Eyes of the Lord. Studies in Erfurt during the Thirty Years War. Göttingen 2010 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 103), 138–169; Theodor Mahlmann: Johannes Kromayers Wirken für Schule und Kirche im frühen 17. Jahrhundert. In: PuN 20, 1994, 28–54, hier: 43–50; Georg Mentz: Weimarische Staats- und Regentengeschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Carl Augusts. Jena 1936 (Carl August. Darstellungen und Briefe zur Geschichte des Weimarischen Fürstenhauses und Landes, 1. Abt.), 242 f. Nicolaus Stenger: Tausend Zeuge nemlich Das Gewissen des Menschen, Nach anleitung heiliger göttlicher Schrifft des alten und newen Testaments: In vier und dreissig Predigten / Männiglich / bey diesen letzten grundbösen Zeiten zur Besserung vorgestellet / geprüfet / berichtet vnd nunmehr auff begehren samt beygefügten nützlichen Registern heraus gegeben. o. O. 1646, 140–142, hier: 141. Ziel von Stengers Polemik war vermutlich Bartholomäus Elsner (1596– 1662), Senior des Evangelischen Ministeriums in Erfurt, dessen für Stadt und Umland Erfurts unterbreitete Reformvorschläge denen entsprachen, die Ernst in seinem Herzogtum einführte. Zwischen Elsner und den theologischen Beratern Herzog Ernsts existierten Verbindungen, und der Hof in Gotha verstand Stengers Publikation als einen Angriff auf Ernsts Reformen. Vgl. Berg, Military Occupation [s. Anm. 4], 154–161, 163, 169–177; Ernst Koch: Tausend Zeuge. Nicolaus Stengers Predigten über das Gewissen. In: Nicolaus Stenger (1609–1680). Beiträge zu Leben, Werk und Wirken. Hg. v. Michael Ludscheidt. Erfurt 2011 (Schriften der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums Erfurt, 2), 137–151, hier: 151; Johannes Wallmann: Erfurt und

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teil der Generalvisitationen Herzog Ernsts.6 Stenger und andere zweifelten jedoch daran, dass diese Innovation zu sinnvollen Ergebnissen führen würde. Vielmehr behauptete Stenger, dass konventionelle Methoden des pastoralen Dienstes auch weiterhin ihren Zweck erfüllten. Zudem verteidigte er an wenigstens drei Stellen das Instrument der Mahnpredigt als probates Mittel, durch welches ein Pastor seine Gemeindeglieder davon überzeugen konnte, sich von Sünde fernzuhalten.7 Indem er die Wirksamkeit der Mahnpredigt in Zweifel zog, reagierte der Bericht Von Dem Straff=Ampt andersherum auf Geistliche wie Stenger, die keinerlei Begeisterung für Herzog Ernsts Reformpläne zeigten. Darüber hinaus ermächtigte der Bericht die Pastoren auch dazu, abgemahnte Gemeindeglieder vom Empfang des Heiligen Abendmahls auszuschließen, und zwar in drei im Folgenden erläuterten Fällen. Sollte erstens ein Gemeindeglied verärgert auf die vertrauliche Ermahnung bezüglich eines Fehlverhaltens reagieren, den mutmaßlichen Klägern oder dem Pastor Vergeltung androhen und diese Drohung auch nach einigen Tagen nicht zurücknehmen, so hatte der Pastor diese Angelegenheit dem Konsistorium zu melden und das Gemeindeglied vom Sakrament auszuschließen.8 Zweitens sollte der Pastor ein Gemeindeglied bei Vergehen wie öffentlichem Fluchen, Trunkenheit, unentschuldigtem Versäumen der Predigt, Tragen anmaßender Kleidung, öffentlicher Beleidigung von Nachbarn etc. zunächst vertraulich ermahnen und auf einen drohenden Abendmahlsausschluss sowie eine Meldung an die Kirchenoberen hinweisen. Sollten wiederholte und nachdrücklichere Warnungen dieser Art scheitern, war der Pastor dazu angehalten, ein solches Fehlverhalten tatsächlich zu melden und das Gemeindeglied vom Abendmahl auszuschließen.9 Drittens schließlich sollte der Pfarrer auch bei Ehe- und Nachbarschaftsstreitigkeiten alle beteiligten Personen vertraulich ermahnen, um den Konflikt zu schlichten. Wer durch sture Ablehnung eines Kompromisses eine Rückkehr zu friedlichen Beziehungen behinderte, konnte durch den Pastor ebenfalls vom Abendmahl ausgeschlossen werden – vorausgesetzt, dass der Superintendent davon in Kenntnis gesetzt worden war.10 Eine Suspendierung durch den Pastor war jedoch unabhängig von dem Bericht, den der Geistliche dem Konsistorium oder Superintendenten übermittelte.

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der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: ders., Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 325–350, hier: 329–331. Vgl. Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 84–85. Stenger, Tausend Zeuge [s. Anm. 5], 138, 167 f., 640–645. Obwohl Stenger die Nützlichkeit privater Zurechtweisung anerkannte (aaO, 138), hob er doch den Gewinn von Strafpredigten in einem viel größeren Maße hervor. „[S]o hat ers / wie gedacht / an gehörige Orth zu berichten / und daselbst sich Raths und Bescheids zuerholen. Auff welchen Fall denn / so es vors Consistorium / oder die hohe Obrigkeit selbst gelangen würde / ihme wol Schutz geleistet / und der Sachen Nothdurfft weiter beobachtet werden wird. Unter dess aber / und biss solche Sache zu ihrer Richtigkeit komme / kan und sol er dieselbe zur Beicht und zum Tisch des HErrn nicht zulassen.“ Bericht Von Dem Straff=Ampt [s. Anm. 3], 12–17, hier: 16 f. Bericht Von Dem Straff=Ampt [s. Anm. 3], 17 f. Bericht Von Dem Straff=Ampt [s. Anm. 3], 19 f.

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Diese drei zur Ahndung durch Ausschluss vom Abendmahl vorgesehenen Fallkonstellationen sind durchaus bedeutsam, denn sie leiteten Praktiken ein, die sich von den Verfahren der früheren lutherischen Kirchenordnungen erheblich unterschieden. Die neuere Forschung hat diese Tatsache übersehen. Die den Bericht Von Dem Straff=Ampt verfassende Synode sah es nicht als zwingend notwendig an, dass der Pastor seine Vorgesetzten um Erlaubnis bat, bevor er einen Ausschluss verhängte. Stattdessen hatte er sie unmittelbar nach einem solchen Vorgehen zu informieren. Dies erlaubte ihnen, noch rechtzeitig einzugreifen, sollte es sich bei der Suspendierung um einen klerikalen Missbrauch handeln. Um Missbräuche zu verhindern, hatte im Gegensatz zu dieser Regelung z. B. die Kirchenordnung Kursachsens von 1580 dem Pastor das Verhängen einer Suspendierungsstrafe streng untersagt, wenn dieser nicht zuvor die Erlaubnis des Superintendenten, des Generalsuperintendenten, des Konsistoriums in Leipzig oder Wittenberg und der Synode in Dresden eingeholt hatte.11 Die auf den Sachsen-Coburger Herzog Johann Casimir zurückgehende Kirchenordnung von 1626 (Casimiriana) hatte die kursächsischen Regelungen zu Beichte, privater Absolution und Bann mit nur minimalen Veränderungen wiederholt.12 Diese Bestimmungen hatten den Pastor explizit am Suspendieren eines Gemeindegliedes gehindert und seine Kompetenzen damit noch deutlich stärker eingeschränkt, als dies im Bericht Von Dem Straff=Ampt der Fall war. Zudem spiegelt der Bericht einen gewissen Wandel der Interessenschwerpunkte wider: Während die Kirchenordnung Kursachsens von 1580 vor allem im Blick gehabt hatte, dass die Rachsucht eines Pastors zur ungerechtfertigten Suspendierung eines Gemeindegliedes führen könne, beschreibt der Bericht die Mahnpredigt als 11

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Kirchenordnung für Kursachsen von 1580. Abgedruckt in: Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Hg. v. Emil Sehling. Erste Abtheilung: Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten. Erste Hälfte: Die Ordnungen Luthers. Die Ernestinischen und Albertinischen Gebiete. Leipzig 1902, 115, 428, 431–434. Die Warnungen, die der Suspendierung vorausgingen, unterschieden sich in mancherlei Hinsicht von den gradus admonitionum, die zuvor in der Anordnung beschrieben wurden (aaO, 408). Die Formulierung in der Casimiriana („[D]ie aber in ihren Sünden vnbußfertig verharren / vnd sich nicht bessern wollen / sollen zur Communion nicht gelassen / doch mit ihnen nicht geeilet / sondern die gradus admonitionum vorgenommen / vnd also niemand allein auff eigen Erkändtniß der Pfarrer vom heiligen Abendmahl abgehalten werden“.) unterscheidet sich nur minimal von der entsprechenden Passage in der kurfürstlichen Kirchenordnung. Vgl. Ordnung Wie es in deß Durchleuchtige[n] Hochgebornen Fürsten vnd Herrn Herrn Johann Casimiri, Herzogen zu Sachsen, Gulich, Cleve vnd Berg, Landgraven in Thuringen, Marggraven zu Meissen, Graven zu der Marck vnd Ravenßburgk, Herrn zu Ravenstein [et]c. [et]c. Fürstenthumb vnd Landen Orts-Francken vnd Thüringen, in den Kirchen, mit Lehr, Ceremonien, Visitationen vnd was solchen mehr anhängig, Dann im Fürstlichen Consistorio, mit denen verbotenen gradibus in Ehesachen vnd sonsten, auch im Fürstlichen Gymnasio, so wol Land vnd Particular Schulen, gehalten werden solle. Coburg 1626, 177, und Kirchenordnung Kursachsen 1580 [s. Anm. 11], 428. Die Formulierungen in den wesentlich längeren Abschnitten der Casimiriana, die die gradus admonitionum beschreiben, weichen an einigen Stellen erheblich von jenen der sächsisch-kurfürstlichen Kirchenordnung ab. Bis auf einige Ausnahmen zielen sie auf eine Verbesserung der Klarheit und Verständlichkeit. Die bedeutendste Veränderung besteht darin, dass die Casimiriana das Oberkonsistorium nicht erwähnt, weil eine solche Institution in SachsenCoburg nicht existierte. Vgl. Ordnung Coburg 1626, 265–274, und Kirchenordnung Kursachsen 1580, 431–435.

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Hauptgefahr für die Vermischung von schädlichen Eigeninteressen und Passionen mit Kirchenzuchtmaßnahmen durch den Pfarrer.13 Zu betonen ist daher, dass der Bericht Von Dem Straff=Ampt die Kompetenzen des Pastors in Bezug auf Suspendierungen einzelner Gemeindeglieder erweiterte und gleichzeitig einen möglichen Missbrauch pastoraler Zucht weniger in der Suspendierung als in der Strafpredigt sah. Zu einer etwas anderen Bewertung des Bericht[es] kommt allerdings Veronika Albrecht-Birkner. Angesichts der Vielzahl an Richtlinien für das Verhalten bei privaten Ermahnungen sei der Bericht vielmehr als Ausweis einer Einschränkung pastoraler Kompetenzen zu verstehen, während zuvor auch dem persönlichen Zorn eines mahnenden Pfarrers noch Tür und Tor geöffnet gewesen seien.14 Ohne die Reichweite dieser Richtlinien leugnen zu wollen, muss man meines Erachtens jedoch die Unterschiede zwischen dem Bericht einerseits und der Kirchenordnung Kursachsens sowie der Casimirana andererseits stärker gewichten. Andreas Klinger wiederum betont in seiner Analyse die Tatsache, dass Pastoren nunmehr Gemeindeglieder ausschließen konnten. Allerdings gingen die meisten Gemeindeglieder in Sachsen-Gotha nur ein- oder zweimal pro Jahr zur Kommunion und sahen sich, so Klinger, insofern nur selten mit den möglichen Konsequenzen eines Ausschlusses konfrontiert. Deshalb geht er davon aus, dass die disziplinarische Gewalt effektiv nur in beschränktem Maße zunahm.15 Seine Schlussfolgerung erscheint plausibel, setzt sich aber nicht mit den potentiellen Konsequenzen des Berichts Von Dem Straff=Ampt auseinander. Durch die Stärkung und Erweiterung bestimmter Befugnisse der Geistlichen hat der Bericht – im Zusammenhang mit anderen Faktoren – möglicherweise die Bereitschaft einzelner Pastoren verstärkt, Unwürdige vom Abendmahl auszuschließen. Diese Tendenz spielte in vielen Gegenden Mitteldeutschlands während der Pietismuskontroverse in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts erneut eine große Rolle. 3. EINE NEUBEWERTUNG DER RÜGEGERICHTE Um die Diskussion der Kirchenzuchtreformen Ernsts des Frommen während der letzten zwölf Jahre seiner Regentschaft besser einordnen zu können, ist an dieser Stelle ein kurzer, kritischer Forschungsüberblick zu einer seiner früheren Unternehmungen notwendig. In den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts etablierte der Herzog verschiedene Institutionen und führte eine Reihe gesetzlicher Maßnahmen zur Umsetzung seiner religiösen Reformen ein. So schuf Ernst 1641 zunächst ein 13

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Kirchenordnung Kursachsen 1580 [s. Anm. 11], 428 (Rachgier); Bericht Von Dem Straff=Ampt [s. Anm. 3], 3, 8. Der dritte Abschnitt des Bericht[es] räumt allerdings ein, dass Emotionen und Leidenschaften den Pastor bei der Durchführung privater Ermahnungen auch fehlleiten könnten. Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 480: „[d]ie Kompetenz des Pfarrers wurde mit der Aufstellung dieser die Seelsorge betreffenden Regeln im Grunde zutiefst beschnitten“. Vgl. aaO, 518. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 223 f.

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Konsistorium zur Regelung aller Kirchen- und Schulangelegenheiten des Herzogtums. Obwohl der Generalsuperintendent und der Hofprediger im Konsistorium saßen, kontrollierten weltliche Räte diese Institution.16 Bis 1644 hatte Ernst zudem ein System geistlicher Untergerichte geschaffen, die sich über die elf Ämter des Herzogtums, die vier kleinen Städte sowie einige Adelsherrschaften verteilten und denen sowohl weltliche (der Gerichtshalter oder ein Stadtrat) als auch geistliche Amtsträger (der Superintendent oder sein Adjunkt) angehörten. Zusätzlich zur Beaufsichtigung der Schulen, der Kirchen und der Armenfürsorgeeinrichtungen entschieden diese Gerichte auch Fälle, die Eheschließungen oder die Kirchenzucht betrafen. Anders als weltliche Gerichte tagten diese geistlichen Untergerichte jedoch nicht nach einem festen Terminplan, sondern nur bei Bedarf. Unabhängig davon führten die Superintendenten und ihre Adjunkten alle sechs Monate Visitationen im gesamten Herzogtum durch.17 Um zur Hebung sozialer und religiöser Standards in seinem Herzogtum beizutragen, schuf Herzog Ernst 1646 die sogenannten Rügegerichte. Andreas Klinger beschreibt sie als zentralen Mechanismus zur Verankerung der Kirchenzucht in den örtlichen Gemeinden unter Umgehung der Kirche vor Ort. Durch Identifizierung und Bestrafung eines Übeltäters wurde laut Klinger versucht, die rituelle Reinheit der Gemeinde zu bewahren. Demnach dienten die Rügegerichte der Überwachung von Gottesdienst- und Abendmahlsteilnahme sowie Einhaltung der Sonnund Feiertagsheiligung und zudem der Sanktionierung von Blasphemie, Fluchen, Schwören und Zauberei.18 Die Verankerung dieser überwiegend den religiösen Bereich betreffenden Zuchtmaßnahmen in der örtlichen Gemeinschaft sollte dadurch erreicht werden, dass gewöhnliche Stadt- und Dorfbewohner mit gutem Ruf diesen Rügegerichten beisaßen. Entsprechend der Zuständigkeit der Gerichte für eine beachtliche Vielfalt an Delikten konnten kleinere Strafzahlungen und kürzere Gefängnisstrafen verhängt werden. Alle Untertanen des Herzogs verpflichteten sich durch Eid, das Gericht über jegliches Fehlverhalten ihrer Nachbarn zu informieren. Die Gerichte sollten über Anklagen entscheiden, die von offiziell eingesetzten, geheimen Informanten übermittelt wurden.19 Obwohl die Rügegerichte in bestimmter Hinsicht den Kirchenkonventen ähnlich waren, die das Herzogtum Württemberg 1642 etabliert hatte, um religiöse Normen und moralisches Verhalten sicherzustellen, betont Klinger einen grundlegenden Unterschied: Die Rügegerichte in Sachsen-Gotha hätten die Kirchen nicht mit einbezogen. Dieser Unterschied zeige, dass die Territorialkirche Ernsts des Frommen aufgrund ihrer lutherischen Ausrichtung keine Spuren presbyterialer oder semi-presbyterialer Kirchenzucht und somit keinerlei „‚calvinisierende‘ Tendenzen“ aufgewiesen habe.20 Gleichzeitig vermutet Klinger allerdings, dass die Rügegerichte ihren eigentlichen Zweck nicht erfüllt hätten: Pastoren hätten regelmäßig 16 17 18 19 20

Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 85–87. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 106 f. Mit welcher Häufigkeit die geistlichen Untergerichte tagten, ist unklar. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 224. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 274–277. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 224 f., hier: 225.

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Verfahren wegen religiösen Fehlverhaltens initiiert, aber die Bewohner der Dörfer und Städte hätten die Gerichte nur genutzt, um unerwünschte häusliche Streitigkeiten und Nachbarschaftskonflikte zu lösen.21 Trotz der grundlegenden Erkenntnisse Klingers bleibt sein Fazit bezüglich der Gerichte und der Kirchenzucht doch problematisch. Laut der Verordnung von 1646 waren die Rügegerichte vor allem das säkulare Pendant zu den Reformen der Kirche und des Schulsystems, die Herzog Ernst bereits angestoßen hatte.22 Obwohl religiöse und moralische Straftaten in den Zuständigkeitsbereich der Gerichte fielen, wurden weder die Bewahrung der religiösen Reinheit der Gemeinde noch andere kirchliche Aufgaben ausdrücklich erwähnt. Es ist daher irreführend, die Existenz der Gerichte mit der Ausübung von Kirchenzucht zu erklären, wenn die Quellen dazu schweigen. Viel eher lag der Hauptzweck der Rügegerichte in der Ahndung von weltlichen Delikten. Dies lässt sich bei einem genaueren Blick in die zwölfseitige Liste der strafbaren Verstöße, die in der Anordnung zu finden ist, kaum bestreiten. Die Liste zeigt klare biblische Bezüge, insofern die darin genannten 109 Verstöße den Zehn Geboten zugeordnet sind. Während zum Abschnitt zu den ersten drei Geboten aber nur 21 Prozent aller Übertretungen gehören, sind dem siebten Gebot und somit „Dieberey / Wucher / Schaden=Zufügung und dergleichen“ allein 42 Prozent der Verstöße zugeordnet. Die besonders detaillierte Zusammenstellung von Eigentumsdelikten, Verletzungen der Marktordnung und Ähnlichem unter diesem Gebot ist ein starkes Indiz dafür, dass die Bekämpfung dieser Vergehen der tatsächliche Hauptzweck der Rügegerichte sein sollte. Genannt werden hier z. B. Delikte wie das Ausgraben und Stehlen von Setzlingen und Weinstöcken des Nachbarn, das Fangen von Tauben und anderen Vögeln, der schädliche „Vorkauf“ (wucherischer Ankauf) von Früchten und anderen Nahrungsmitteln, aber auch von Vieh, Talg, Fell, Kalbs- und anderen Häuten, Holz, Pfählen, Holzkohle, Flachs, Wolle und Federn sowie schließlich das Trocknen von Flachs mit Hilfe von Öfen (was aufgrund des hohen Brandrisikos verboten war). Insgesamt enthält die Liste zwar auch religiöse Verstöße, aber die auffällig häufige Nennung von insgesamt 46 Delikten mit Bezug auf Eigentum und das wirtschaftliche Leben im örtlichen 21 22

Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 277–280. „Wie wir nun darzu durch GOttes Gnade in Kirchen= und Schul=Sachen einen Anfang gemacht / und zu gebührender manutenentz durch unsere Consistorial-Ordnung / auch die angerichtete Geistliche Unter=Gerichte / behuffige Versehung gethan: Also haben Wir für nothwendig befunden / auch darauff zu gedencken / wie über dem jenigen / was in Policey= und andern dergleichen Weltlichen=Sachen verordnet / bester Massen gehalten / die Vberfahrer derselben zur gebührenden Straff gezogen / und allenthalben / so viel jmmer müglich ist / in unserm Fürstenthumb gute disciplin und Zucht wieder auffgerichtet werden möge“ (Des Durchläuchtigen / Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn ERNSTEN / Hertzogen zu Sachsen / Jülich / Cleve und Bergk / Landgraven in Thüringen / Marggraven zu Meissen / Graven zu der Marck und Ravenspurg / Herrn zu Ravenstein / [et]c. Ordnung. Wornach die eine Zeitlang hero unterlassene / nunmehr aber auff S. Fürstl. Gn. Verfügung / in dero Fürstenthumb und Lande wieder bestellte Rüge=Gerichte reguliret und gehalten werden sollen. Gotha 1646, A4r). AlbrechtBirkner bespricht die Rügegerichte deutlich weniger detailliert als Klinger und erwähnt die Kirchendisziplin an dieser Stelle richtigerweise überhaupt nicht (Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 472 f.).

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Gemeinwesen deutet darauf hin, dass die Verordnung besonders großen Wert auf die Bekämpfung derartiger Straftaten legte und erwartet wurde, dass diese bei Gericht einen großen Raum einnehmen würden.23 Angesichts der Ausrichtung der Rügegerichte als Instrumente zur Beilegung von weltlichen Delikten und nicht in erster Linie zur Durchsetzung von Kirchenzuchtmaßnahmen ist der Vorwurf Klingers nicht zutreffend, wonach die Gerichte ihren Zweck verfehlt hätten. Ausgehend von der Annahme, dass die Kirchenzucht und die Durchsetzung spezifischer herzoglicher Anordnungen und Erlasse zu den Hauptfunktionen dieser Gerichte gehört hätten, bewertet er ihre Leistung als mangelhaft – mit der aus den Archivalien gewonnenen Erkenntnis, dass dort hauptsächlich Eigentums-, Streit- und Gewaltdelikte verhandelt worden seien, also Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass sich herzogliche Beamte ernstlich um die Eindämmung solcher Straftaten sorgten, weil diese ansonsten die friedlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinden beeinträchtigten – eine Annahme, die durch die Liste der Vergehen bestärkt wird –, offenbaren die Gerichte keine Anzeichen von Versagen. Auch als die herzogliche Regierung die Rügegerichte 1657 reorganisierte, geschah dies lediglich aus nüchternen administrativen Erwägungen heraus: um Kosten zu reduzieren, Unterlagen ordentlicher zu führen, die gerichtliche Kompetenz auf das Erheben geringer Bußgelder zu beschränken und um sowohl Verzögerungen im Prozessablauf als auch Unverhältnismäßigkeiten im Strafmaß zu verringern. Fortan sollten die Gerichte nur noch zweimal jährlich tagen. In den Anordnungen deutet nichts darauf hin, dass ihr ursprünglicher Zweck verfehlt worden wäre.24 4. DAS „WERCK DER CHRISTLICHEN DISCIPLIN“ UND DIE EINFÜHRUNG VON INSPEKTOREN Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu den Rügegerichten sollen bislang nicht berücksichtigte Quellen zur Kirchenzucht in Sachsen-Gotha aus den 1660er Jahren in den Blick genommen werden. Herzog Ernst begann 1664, ein ambitio23

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Wieder bestellte Rüge=Gerichte [s. Anm. 22], C4r–E1v, hier: D2v (Setzlinge und Weinstöcke), D3v (Tauben), D4r (schädliche Vorkäufe), D4v (Ofen). Obwohl Klinger kurz auf die Eigentumsdelikte eingeht, berücksichtigt er ihre quantitative Bedeutung in der Verordnung nicht in ausreichendem Maße. Vgl. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 274, 280. PUNCTA und Gebrechen / welche bey bißherigen Rüge=Gerichten vorgelauffen. Wie selbige hinkünfftig zu vermeiden / und in dergleichen zu verhalten sey. o. O. o. J. Der handschriftliche Kommentar „NB sind im Augusto 1657 ausgefertiget worden“ erscheint auf der ersten Seite des Exemplars im ThStAG Geheimes Archiv KK Nr. 7 vol. 1 Nr. 91; Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 280 f. Klinger argumentiert, dass Dorf- und Stadtbewohner die Gerichte nicht auf die von der Regierung vorgesehene Weise nutzten, denn sie brachten Fälle vor, die keiner geheimen Informanten bedurften. Wie bereits dargestellt, waren die Untertanen des Herzogs jedoch verpflichtet, das Gericht über jegliches Fehlverhalten zu informieren. Die Beteiligung von Informanten war m. E. nicht notwendig, um der Verordnung gerecht zu werden. 1660 kam es aber zu einer Erneuerung des Strafgebots bei mangelnder Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung (vgl. Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 473, Anm. 178).

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niertes Programm zur Stärkung der Kirchenzucht umzusetzen – das sogenannte „Werck der christlichen Disciplin“. Obwohl hierzu umfangreiches Archivmaterial überliefert ist, thematisieren Klinger und Albrecht-Birkner dies in ihren jeweiligen Studien nicht.25 Das „Werck der christlichen Disciplin“ verdient jedoch eine genauere Analyse, denn es macht den Umfang der Ambitionen Ernsts des Frommen bezüglich der Überwachung von Moral und Religiosität in seinem Territorium deutlich. Es zeigt sich, dass nunmehr Pastoren, Superintendenten und Adjunkten diese Überwachung kontrollieren sollten. Damit legte – so meine These – das „Werck“ den Grundstein für manche Formen pietistischer Kirchenzucht im Mitteldeutschland der 1690er Jahre. Am 9. Dezember 1664 ordnete die herzogliche Regierung an, dass in jeder Gemeinde mit einem Pastor und einem Diakon einige Inspektoren bestimmt werden sollten: jeweils vier in dicht besiedelten Dörfern und zwei in kleineren Gemeinden.26 Spezielle Vorschriften legten die Anzahl der Inspektoren in Städten und den größten Dörfern fest. Aufgabe der Inspektoren war es nicht allein, die Pastoren und Diakone an ihre Mahnpflichten gegenüber den Gemeindegliedern zu erinnern. Vielmehr erlaubte die Anordnung von 1664 den Inspektoren auch, diesen Mahngesprächen beizuwohnen. Eine separate Regelung ermächtigte sie zudem, bei geringen moralischen oder religiösen Verfehlungen selbst dem Übertreter eine freundliche und wohlgemeinte Ermahnung zu geben. Bei Nichtbeachtung war der Inspektor dazu angehalten, den Pastor zu informieren. Letzterer musste detailliert über die Aktivitäten des Inspektors Buch führen und seine Aufzeichnungen dem Superintendenten oder dessen Amtsgehilfen im Rahmen von Visitationen zur Überprüfung vorlegen. Die Kompensation für die Inspektoren bestand in der Freistellung von 25

26

Die folgenden Ausführungen berücksichtigen allerdings nicht die Berichte über die Tätigkeit der Disziplininspektoren, auf die Albrecht-Birkner verweist (vgl. Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 502, Anm. 48). Die ältere Forschungsliteratur zu Sachsen-Gotha beschäftigt sich mit einigen Elementen des „Werck[s] der christlichen Disciplin“; es fehlt jedoch die analytische Tiefe, die die gegenwärtige Forschung zu frühneuzeitlicher religiöser und sozialpolitischer Geschichte charakterisiert. Vgl. z. B. Beck, Ernst der Fromme [s. Anm. 1], 393 f., 545 f. Wilhelm Flitner: Wissenschaft und Schulwesen in Thüringen von 1550 bis 1933. In: Geschichte Thüringens. Bd. 4: Kirche und Kultur in der Neuzeit. Hg. v. Hans Patze u. Walter Schlesinger. Köln, Wien 1972 (Mitteldeutsche Forschungen, 48/IV), 53–206, hier: 77, erwähnt kurz das Amt des Inspektors (Inspectores disciplinae), ohne jedoch auf die größeren Zusammenhänge hinzuweisen. Vgl. auch Albrecht-Birkner, Reformation, 22, Anm. 25. Klinger erwähnt die Inspektoren (Disziplininspektoren) kurz. Vgl. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 255. Vgl., auch zum Folgenden, „Verordnung. Welcher gestalt, was zu erhaltung guter Disciplin und Christlicher Erbarkeit dienen, in diesem Löblichen Fürstenthum und Landen, so wohl auf Dörffern, alß in den Städten genauer beobachtet werden soll. Erster Aufsatz undt Verordnung die genawere aufsicht auf gute Disciplin betreffend“ (ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 2r, 3r, 6r, 6v, 7r–v, 8v, 9r–v). Dieses in eleganter Schrift verfasste Dokument enthält kein Datum, scheint aber „die wegen der Christ. Disciplin den 9. Dece[mber] 1664 publicirte […] Verordnung“ zu sein, die auf Bl. 158r erwähnt ist. Kein anderes Dokument in der Sammlung entspricht auch nur im Entferntesten solch einer Verordnung. Eine frühere Fassung findet sich auf Bl. 52r–56r. Ob die Verordnung je im Druck erschien, ist unklar; aber die anschließenden Dokumente der Sammlung lassen keinen Zweifel daran, dass die Direktive in Kraft trat.

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kommunalen Verpflichtungen und in den Städten sogar in einer Befreiung von der Brausteuer. Spätestens seit April 1663 war eine entsprechende Direktive für die Residenzstadt Gotha im Gespräch.27 Die Umsetzung des Disziplinierungsprojekts schritt schnell voran. Die herzogliche Regierung druckte separate Instruktionen für Pastoren und Inspektoren.28 Sie publizierte zudem eine Ermahnung sowie eine Anweisung zur christlichen Disziplin, die die Pastoren ihren Kirchengemeinden vorlasen, und zwar am vierten bzw. fünften Sonntag nach Ostern sowie erneut sechs Monate später. Die Ermahnung weist explizit darauf hin, dass die Inspektoren als außerordentliche Deputierte der geistlichen Untergerichte fungierten.29 Im Januar und frühen Februar des Jahres 1665 gingen bei der herzoglichen Regierung Berichte von Ortsgeistlichen ein, die die Bekanntmachung der Direktive vom 9. Dezember 1664 von der Kanzel und in einigen Fällen auch eine Berufung von Inspektoren sowie die Verteilung der Anweisung bestätigten. Manche Pastoren erwähnten Widerstände bei den Nominie-

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ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 90r–94r (Bl. 93r–v vertauscht mit dem darauffolgenden Dokument). Instruction, Auff Fürstlichen Befehl / Für die jenige Personen / so zu genauer Auffsicht auff die Christliche Disciplin verordnet / und in gewissen Fällen zum Geistlichen Vnter=Gericht zu ziehen sind / umb sich darnach zu achten (1664). In: Fürstliche Sächsische abermals verbesserte Landes=Ordnung / Des Durchläuchtigsten / Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn ERNSTEN / Hertzogen zu Sachsen / Jülich / Cleve und Bergk / Landgraffen in Thüringen / Marggraffen zu Meissen / Gefürsteten Graffen zu Hennebergk / Graffen zu der Marck und Ravensberg / Herrn zu Ravenstein / [et]c. Mit Beyfügung unterschiedlicher nach und nach außgegangener und darzu gehörigen Ordnungen / Zu Nutz und Wolfahrt S. Fürstl. Durchl. Unterthanen in dero Fürstenthumb publicirt und außgelassen. Dritter Theil. Gotha 1667, 88–96; Special-Instruction, Vor die Pfarrer und Seelsorger / Darinnen ihnen kurtz und summarisch an die Hand gegeben wird / was ihnen bey dem Werck der Christlichen Disciplin / und heilsamer Erbauung des Nechsten / vor andern zu thun obliege. Im Jahr 1664. In: Fürstl. Sächsische Ernestinische Verordnungen / Das Kirchen= und Schulwesen Wie auch Christliche Disciplin betreffende zusammen getragen / Mit Fleiß übersehen und mit Beyfügung nöthiger Erinnerungs= Puncten / zu männiglichs / insonderheit aber der Prediger und Schul=Diener Nachricht und Beobachtung anderweit durch den Druck publiciret. Gotha 1698, 145–152. Zu Informationen über die Anzahl der gedruckten Exemplare und die Verbreitung dieser und anderer damit verbundener Texte vgl. ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 122r, 123r–133r; eine frühe Fassung der Instruktionen für die Inspektoren, Bl. 25r–v, 27r. Am 1.11.1664 sandte die herzogliche Regierung eine Fassung der Special-Instruction an die theologische Fakultät der Universität Jena, welche die Druckerlaubnis erteilte (Bl. 97r–v, 98r). Ein wohlgemeinte Zu Christlicher Erbauung / und heilsamen Aufnehmen guter Disciplin, Zucht und Erbarkeit zielende Vermahnung / Auf sonderbahre gnädigste Fürstl. Verordnung aufgesetzet Im Jahr 1664. Zu verlesen Dom. Cantate und Dom. 22. post Trin. Nachmittags. In: Fürstl. Sächsische Ernestinische Verordnungen [s. Anm. 28], 117–133, hier: 132 f. („Extraordinar-Deputirte“); Gemeine An= und Unterweisung / Wie / und auf welcherley Art Was dem Nechsten zur Erbauung dienet / vorgenommen und verrichtet werden solle; Auf sonderbahre gnädigste Fürstl. Verordnung aufgesetzet Im Jahr 1664. Zu verlesen Dom. Rogate und Dom. 23. post Trin. Nachmittags. In: Fürstl. Sächsische Ernestinische Verordnungen, 134–144. Zu früheren Fassungen dieses Textes vgl. ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 17r–24v, 102r–113v, 114r–121v.

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rungen; andere drückten beachtlichen Enthusiasmus für das Projekt aus.30 Um die Effektivität der neuen Maßnahmen zur Überwachung moralischen und religiösen Verhaltens zu überprüfen, erhielten die geistlichen Untergerichte im Februar 1665 eine Reihe von Fragen, welche die Pastoren und Inspektoren im Rahmen künftiger Visitationen zu beantworten hatten.31 Die herzogliche Regierung hatte faktisch ein neues, kirchenbasiertes System zur Durchsetzung moralischer und religiöser Verhaltensnormen eingeführt. Im Unterschied zu den säkularen Rügegerichten übertrug dieses System, das bedeutende presbyteriale bzw. semi-presbyteriale Elemente aufwies, der Geistlichkeit große Verantwortung. Auch wenn die Kompetenz der Pastoren und Inspektoren nicht vergleichbar war mit dem Verhängen von Bußgeldern oder Haftstrafen, oblag ihnen doch die direkte, unmittelbare Überwachung und verbale Sanktionierung moralischer oder religiöser Verfehlungen innerhalb der Nachbarschaften. Pastoren wählten die Disziplininspektoren in den Dörfern und Städten aus und führten darüber Buch; mittels Visitationen wurden sie dabei durch Superintendenten und deren Gehilfen überwacht. Wenn bei Herzog Ernst denn überhaupt von einem Widerwillen gegenüber calvinistischen Formen der Kirchenzucht gesprochen werden kann, so mangelte es ihm ganz offensichtlich an der Bestimmtheit, die Klinger andeutet, denn die Funktion der Disziplininspektoren ähnelte der von Kirchenältesten in reformierten Gemeinden.32 Dabei ist anzumerken, dass sich Ernsts „Werck der christlichen Disciplin“ nicht auf die Reformen der Kirchenzucht berief, welche Johann Valentin Andreae (1586–1654) 1642 im Herzogtum Württemberg durchgeführt hatte, sondern eher an Theophil Großgebauers (1627–1661) Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion orientierte, die 1661 erschienen war und die Einführung von Kirchenältesten gefordert hatte.33 Um die Einführung von Inspektoren zu rechtfertigen, verwies ein gothaischer Beamter zusätzlich darauf, dass die Rügegerichte seit 1657 nur noch zweimal im Jahr tagten und daher die üblichen Formen von Fehlverhalten nicht länger zu überprüfen vermochten. Sie seien, so heißt es, „de-

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Vgl. ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 160r–227v (Berichte); 169r–v, 178r, 204r–v, 213r, 222v, (Vorbehalte); 187r–190v, 192r–v (Begeisterung). In der Residenzstadt Gotha fand die Auswahl von acht Inspektoren (zwei für jedes Viertel) am 15.11.1664 statt (Bl. 148r–v, 150r–v, 151r). ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 135r–136r. Auf die offensichtlichen Affinitäten der Maßnahmen Ernsts des Frommen zur reformierten Tradition hat auch Albrecht-Birkner hingewiesen (vgl. Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 514 u. 527). Zu den Reformen Andreaes vgl. Helga Schnabel-Schüle: Calvinistische Kirchenzucht in Württemberg? Zur Theorie und Praxis der württembergischen Kirchenkonvente. In: Der Kirchenkonvent in Württemberg. Hg. v. Hermann Ehmer u. Sabine Holtz. Epfendorf 2009 (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, 21), 17–79, hier: 35–52; Hermann Ehmer: Johann Valentin Andreae und die Ursprünge des Kirchenkonvents in Württemberg. In: Der Kirchenkonvent in Württemberg. Hg. v. Hermann Ehmer u. Sabine Holtz. Epfendorf 2009 (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, 21), 81–110, hier: 88– 103. Zu Großgebauer siehe Jonathan Strom: Orthodoxy and Reform: The Clergy in Seventeenth Century Rostock. Tübingen 1999 (BHTh, 111), 201–203.

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nen täglich Vorgehenden überfahrungen [Vorkommnissen, d. Vf.] abzuhelffen nicht Zulänglich“.34 In den Jahren 1667 und 1668 erhielt das Konsistorium Berichte der geistlichen Untergerichte über die Tätigkeit der Inspektoren und damit zusammenhängende Angelegenheiten. Obwohl spezifische und ernste Probleme nicht erwähnt sind, deuten einige Berichte jedoch klar auf einen Mangel an Begeisterung seitens der Inspektoren hin.35 Dies führte bei der herzoglichen Regierung zu einer gewissen Besorgnis, woraufhin die Instruktionen für die Inspektoren 1669 überarbeitet wurden. Die neue, gegenüber der ursprünglichen doppelt so ausführliche Fassung der Instruction zielte darauf ab, Missbrauch und Verwirrungen vorzubeugen. Ihr vierter und umfangreichster Abschnitt erklärt detailliert, wie ein Inspektor seine Nachbarn behutsam auf ihre moralischen und religiösen Versäumnisse hinweisen sollte, wobei – je nach Natur und Schwere des Falles – gegebenenfalls der Pastor, der Superintendent, der Adjunkt oder das geistliche Untergericht hinzuzuziehen sei.36 Von 1671 bis 1674 erhielt das Konsistorium von den Superintendenten und den Adjunkten im Herzogtum vierteljährlich Berichte mit gebündelten Informationen über jede erfolgte Ermahnung.37 Angesichts der erheblichen Unterschiede in Qualität und Regelmäßigkeit der Berichte würde eine statistische Auswertung nicht zu aussagekräftigen Resultaten führen. Einige Berichte bestätigen jedoch, dass Pastoren und Disziplininspektoren – zumindest mancherorts – offenbar eng kooperiert haben. So stellte der Superintendent von Kranichfeld im Rahmen der Vorbereitung eines Berichts 1671 jedem Pastor acht spezifische Fragen. Drei davon betrafen den konkreten Umfang der Kooperation zwischen Inspektoren und Pastoren.38 Die Berichte bieten zugleich einen Einblick in das Spektrum religiöser und moralischer Verfehlungen, die zu Ermahnungen führten. Genannt werden Trunkenheit, Ehestreit, Zwist unter Nachbarn, Fluchen, Tanzen, Kegeln am Sonntag, Abwesenheit vom Katechismusunterricht, das Nichteinhalten der Sonntagsheiligung durch Arbeit, das ‚Schwätzen‘ in der Kirche etc.

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ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 39r. ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 242r, 274r–v, 279r–v. INSTRUCTION, Oder Kurtze und richtige Anweisung / wie die Inspection und Aufsicht über die Christliche Disciplin und Zucht zu ihrem gesuchten Zweck gebührlich und nützlich geführet werden solle. Publ. 10. August 1669. In: Fürstl. Sächsische Ernestinische Verordnungen [s. Anm. 28], 153 f. (Missbrauch und Verwirrung vorbeugend), 163, 164, 167 f. Stellungnahmen von Superintendenten und Amtsverwaltern zu einem Entwurf der revidierten Instruktion im ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 381r –401r. Direktiven vom 8.2.1670 und vom 2.6.1670 betreffend die Aktivitäten der Disziplininspektoren forderten die regelmäßige Übersendung eines Berichtes und das Aufbewahren der zugehörigen Unterlagen von den Superintendenten und deren Adjunkten (ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 33, Bl. 1r–v; Beck, Ernst der Fromme [s. Anm. 1], 394). Eine Übersicht (höchstwahrscheinlich aus dem Jahr 1669) verzeichnet 14 Superintendenten und Adjunkten und zusätzlich wohl alle Geistlichen und Disziplininspektoren im Herzogtum (ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 356v–358r). ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 31, Bl. 35v, 36v.

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Die Anzahl der tatsächlich eingesandten vierteljährlichen Berichte ging 1673 und 1674 stark zurück.39 Ob der kritische Gesundheitszustand Herzog Ernsts zum rapiden Einbruch dieses anspruchsvollen und beispiellosen Berichtssystems beitrug, ist unklar. Festzuhalten ist jedoch zweierlei: Erstens gibt der anvisierte Umfang der angeforderten Dokumente einen Hinweis auf die enorme Bedeutung, die der Herzog und das Konsistorium den Aufgaben der Inspektoren beimaßen. Deren Ermahnungen sollten das System der Kirchenzucht, das bereits durch effektivere Visitationen, Katechismusunterricht für Erwachsene und Jugendliche u. a. gestärkt worden war, zusätzlich festigen. Zweitens verschwanden nach 1674 zwar die Berichte, nicht aber die Inspektoren. Verordnungen aus den Jahren 1698, 1700, 1708 und 1716 verweisen entweder direkt oder indirekt darauf, dass sie weiterhin tätig waren. Obwohl sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, ob sie auch weiterhin so häufig wie ihre Vorgänger Ermahnungen erteilten, so ist doch nicht zu leugnen, dass die Bemühungen Ernsts des Frommen um die Förderung der christlichen Disziplin ihn auf die eine oder andere Weise offensichtlich überlebten.40 5. FOLGEN UND REZEPTIONEN DER KIRCHENZUCHTMASSNAHMEN HERZOG ERNSTS Die Folgen der Reformen Ernsts des Frommen zeigten sich in gewissem Maße auch jenseits der Grenzen Sachsen-Gothas in anderen Teilen Mitteldeutschlands. Ursächlich dafür waren zumindest partiell die Teilungsverträge von 1640 und 1641, die das Herzogtum begründet hatten. Ernst hatte beabsichtigt, im Verbund mit seinen beiden Brüdern in Sachsen-Weimar und Sachsen-Eisenach längerfristig eine gemeinsame Landesordnung aller drei Herzogtümer zur Regulierung kirchlicher, schulischer, gerichtlicher und politischer Angelegenheiten einzuführen und daran auch den Regenten Sachsen-Altenburgs zu beteiligen.41 Obwohl eine solche Verordnung nie realisiert wurde, verfolgte Ernst dieses Ziel doch bei verschiedenen Gelegenheiten während seiner Regentschaft. 1653 erließ er nach mehreren Jahren ergebnislosen Verhandelns mit Sachsen-Weimar und Sachsen-Altenburg eine Landesordnung allein für Sachsen-Gotha, was hinsichtlich des zuvor angestrebten Ziels 39 40

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Die Berichte aus den Jahren 1671 und 1672 umfassen jeweils 230 und 272 Folioseiten. Aus den Jahren 1673 und 1674 sind nur noch 57 bzw. 4 Blätter überliefert (ThStAG Oberkonsistorium Generalia Loc. 29b Nr. 32 und Nr. 33). Fernere Beyfügung unterschiedlicher, nach und nach ausgegangener, und zur Fürstlichen Gothaischen Landes=Ordnung gehöriger Gesetzen, Ordnungen und Rescripten, auf gnädigsten Befehl DES Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, HERRN Friederichs, des Dritten, Hertzogens zu Sachsen=Gotha, [et]c. [et]c. zusammen gebracht und herausgegeben. Gotha 1738, 57 (Direktive vom 11.8.1698), 66 (Anordnung vom 20.3.1708), 595 (Direktive, ohne Datum, aber nicht vor November 1716). Johann Heinrich Gelbke: Kirchen- und Schulen-Verfassung des Herzogthums Gotha. Bd. 1. Gotha 1790, 253, 255, rekurriert auf eine Direktive vom 18.3.1700. Es ist möglich, dass das Amt der Disziplininspektoren in Sachsen-Gotha nach einer Weile außer Gebrauch kam, aber als Reaktion auf die Verbreitung des Pietismus in den 1690er Jahren eine Wiederbelebung erfuhr. Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 27, 48, 81, 256 f.

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eine Niederlage bedeutete.42 Allerdings berieten er und seine Theologen in den frühen 1660er Jahren, als Sachsen-Weimar sich anschickte, seine Kirchenordnung zu überarbeiten, bei mindestens zwei Anlässen mit Theologen in Weimar über die Differenzen zwischen den beiden Territorien.43 Das diesbezügliche Treffen am 7. Juni 1664 in Gotha, unter dessen Teilnehmern sich mit Johann Christian Gotter (1607–1677) und Nicolaus Zapf (1600–1672) die jeweiligen Generalsuperintendenten Sachsen-Gothas und Sachsen-Weimars befanden, verdient besondere Aufmerksamkeit. Ein Bericht zeigt, dass Gotter gemäß den Anweisungen seines Herzogs bereits sowohl die Druckfahnen der revidierten Kirchenordnung Sachsen-Weimars mit der Casimiriana abgeglichen als auch vermerkt hatte, inwieweit die Paragraphen der beiden Ordnungen mit der tatsächlichen Praxis in Sachsen-Gotha übereinstimmten, wo man eine eigene, neue Kirchenordnung noch nicht fertiggestellt hatte. Er und Zapf verglichen bei ihrem Treffen die beiden Ordnungen nochmals sorgfältig.44 Zapf, der offensichtliche Verfasser des überlieferten Berichtes von diesem Treffen, stellte fest, dass einige Elemente in der Kirchenordnung Sachsen-Gothas von der Casimiriana abwichen. Seine anschließende Zusammenfassung benennt jedoch keine Unterschiede hinsichtlich eines Abendmahlsausschlusses von Gemeindegliedern. Dieser Befund würde die in diesem Aufsatz ausgearbeiteten Thesen bezüglich des Bericht[es] Von Dem Straff=Ampt beträchtlich unterminieren, hätte nicht Zapf am Schluss seiner Zusammenfassung angemerkt, dass die Druckfahnen der Weimarer Kirchenverfassung, die ihm zur Verfügung standen, mit Band II, Kapitel 12 endeten, weshalb ein Vergleich der beiden Kirchenordnungen über diesen Punkt nicht hinausgekommen sein kann.45 Da die veröffentlichte Fassung der Weimarer Kirchenordnung vom 6. November 1664 den Abendmahlsausschluss erst in Band II, Kapitel 27 detailliert behandelt, haben Zapf und Gotter während ihres Treffens in Gotha dieses Thema vermutlich gar nicht diskutiert. Falls doch, so hätten sie vermutlich nur wenige Gemeinsamkeiten gefunden, da die neue Fassung für Weimar ebenso wie die Casimiriana den Pastoren einen Ausschluss Einzelner vom Abendmahl explizit verbot. Allein den Konsistorien war diese Maßnahme vorbehalten.46 Die Betonung dieses Verbotes 42 43 44

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Klinger, Fürstenstaat [s. Anm. 2], 257. Mentz, Staats- und Regentengeschichte [s. Anm. 4], 248. „Der Herr Superintennt, M. Gottert bringet die Coburg[ische] Kirchen Ordnung, vnd die gedruckten bogen der Neuen Weimarischen Zur Stell, mit bericht, wie von Illustr[issimo] Ihme gnädigt befohlen worden, beede Zu Collationiren, vnd darneben anZuZeigen, wie man es Zeithero im Gothaischen Fürstenthumb, weil noch keine neue Kirchen Ordnung Verfertiget, gehalten habe; diesem nach giengen wir beede Von Capit[eln] Zu Capiteln durch die Cob[urgische] vnd hiesige getruckte bogen, vnd wurde befunden, daß Zwischen denselben eine gar schlechte discrepanz vnd vngleicheit sey“ (ThHStAW Konsistorialsachen B 2900, Bl. 2v). Obwohl die Passage sich ausschließlich auf einen kapitelweisen Vergleich der Kirchenordnung SachsenCoburgs (d. h. der Casimiriana) und Sachsen-Weimars bezieht, ist es schwer vorstellbar, dass die Theologen nicht auch die Praktiken in Sachsen-Gotha im Blick hatten. Mentz weist zudem darauf hin, dass die Unterschiede zwischen den beiden Ordnungen nicht wesentlich waren. Mentz, Staats- und Regentengeschichte [s. Anm. 4], 248 f. ThHStAW Konsistorialsachen B 2900, Bl. 3v. Derer Durchleuchtigsten / Hochgebornen Fürsten und Herren / Herrn Johann Ernsts / Herrn Adolph Wilhelms / Herrn Johann Georgens und Herrn Bernhards Gebrüderer / Hertzogen zu

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macht einen Kompromiss zwischen den beiden Herzogtümern mit dem Ziel größerer Einheitlichkeit schwer vorstellbar. Somit etablierten sich in den ernestinischen Territorien zwei verschiedene Systeme von Kirchenzucht, die sich im Hinblick auf die Vollmacht der Geistlichen, Gemeindeglieder vom Abendmahl auszuschließen, erheblich voneinander unterscheiden. Das während des Treffens in Gotha im Juni 1664 am Rande erwähnte „Werck der christlichen Disciplin“47 spielte anscheinend nur in Herzog Ernsts letzten Bemühungen um die Harmonisierung kirchlicher Praktiken in den beiden Herzogtümern eine Rolle. Ende August 1669, kurz nach Erhalt des Sachsen-Gothaer Vorschlags zur Vereinheitlichung von vier Aspekten – Schulbildung, Katechismusunterricht für Kinder und Erwachsene, „gute Disciplin in Christenthumb“ und Inspektionen zur Umsetzung der Maßnahmen – berief der Herzog von Sachsen-Weimar, Johann Ernst II. (1627–1683), eine viertägige Beratung von Pastoren, Theologen und Beamten ein. Die Teilnehmer dieses Treffens drückten jedoch keinerlei Enthusiasmus für das Vorhaben aus – teils allerdings einfach deshalb, weil sie die erst fünf Jahre zuvor fertiggestellte Kirchenordnung nicht erneut verändern wollten.48 Obwohl der Bericht von diesem Treffen diese vier Punkte nicht konkretisiert, ging es offensichtlich um die fundamentalen Reformen Herzog Ernsts seit 1640, und man kann davon ausgehen, dass „gute Disciplin in Christenthumb“ mit dem „Werck der christlichen Disciplin“ gleichzusetzen ist. Ernst der Fromme ließ sich von der zurückhaltenden Antwort Sachsen-Weimars nicht abschrecken und wandte sich anlässlich einer fürstlichen Hochzeit an den albertinischen Zweig der Wettiner. Am 14. November 1669 wurde sein ältester Sohn Friedrich (1646–1691) mit Magdalena Sibylla (1648–1681), der Tochter Herzog Augusts von Sachsen-Weißenfels (1614–1680), in Halle getraut. Unter den Gästen waren die drei Brüder Augusts, Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen (1613–1680), Herzog Christian I. von Sachsen-Merseburg (1615–1691) und Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz (1619–1681) – die Söhne des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen (1585–1656).49 Im Vorfeld der Hochzeit hatte Herzog Ernst ein Sieben-Punkte-Programm zur Regelung kirchlicher, schulischer und policey-

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Sachsen / Jülich / Cleve und Bergen / Land=Grafen in Thüringen / Marck=Grafen zu Meissen / gefürsteter Grafen zu Henneberg / Grafen zu der Mark und Ravens=Berg / Herren zu Ravenstein / Verbesserte Kirchen=Ordnung / Vff Ihrer Fürstl. Durchleuchtigkeiten gesambte Fürstenthume und Lande gerichtet. Weimar 1664, 485 f. Die Kirchenordnung erwähnt in Bd. II, Kap. 13 flüchtig, dass es einem Pastor an der Kompetenz mangelte, ein Kirchenglied zeitweilig auszuschließen (aaO, 366). War es bloß ein Versehen, dass die Druckfahnen, die für die Sitzung zur Verfügung gestellt wurden, mit Bd. II, Kap. 12 endeten? „Das Project wegen der Ältesten wird erwartet“ (ThHStAW Konsistorialsachen B 2900, Bl. 2v). ThHStAW Behörden B 1568, Bl. 2r–3r; Mentz, Staats- und Regentengeschichte [s. Anm. 4], 250. Mentz datiert die Tagung, die vom 31.8. bis 3.9.1669 stattfand, falsch. Zu Details der Hochzeit und den damit verbundenen Ereignissen in Halle vgl. Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg: Die Tagebücher 1667–1686. Bd. 1: Tagebücher 1667–1677. Hg. v. Roswitha Jacobsen. Weimar 1998 (Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven, 4/1), 24, 113–116. Zur Verlobung und den politischen und kulturellen Dimensionen der Hochzeit vgl. Roswitha Jacobsen: Das Jahr 1669 in den Tagebüchern Herzog Friedrichs I. von SachsenGotha und Altenburg. In: Gothaer Museumsheft. Beiträge zur Regionalgeschichte, 1996, 55– 70, hier: 60–70.

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licher Angelegenheiten vorbereitet, das er am 17. November, einen Tag vor seiner Abreise aus Halle, mit seinen fürstlichen Cousins erörterte. Die ersten vier Punkte betrafen den Erhalt der Lehreinheit, den Bedarf an Katechismusunterricht, die Verbesserung christlicher Disziplin und die Regulierung des Policeywesens, während die letzten drei Aspekte politische Angelegenheiten in den sächsischen Fürstentümern umfassten. In Bezug auf die christliche Disziplin wurde implizit weiterer Verhandlungsbedarf deutlich, basierend auf den bereits erlassenen kurfürstlichen und herzoglichen Verordnungen, aber man kann davon ausgehen, dass Ernsts „Werck der christlichen Disciplin“ als Leitbild dienen sollte.50 In den folgenden Wochen korrespondierte Ernst in dieser Angelegenheit sowohl mit dem Kurfürsten von Sachsen als auch mit Carl von Friesen (1619–1686), dem Präsidenten des kurfürstlichen Oberkonsistoriums.51 Anfang August 1670 informierte der Gothaer den Herzog von Sachsen-Weimar über das Treffen in Halle und den Vorschlag Augusts, ein weiteres Treffen in Leipzig unter Einbeziehung Kursachsens und des Burggrafen von Magdeburg abzuhalten. Ernst fügte diesem Brief eine Kopie des Sieben-Punkte-Programms bei und drängte den Herzog von Sachsen-Weimar zu einer Kooperation.52 Dies erübrigte sich freilich rasch, da die Vorbesprechungen sich nunmehr wegen aus den Archivalien nicht zu ermittelnder Gründe auf eine 21-Punkte-Agenda Sachsen-Gothas konzentrierten, in der die Kirchenangelegenheiten keine prominente Rolle mehr spielten. Einzig im vierten Punkt bezüglich „eine[r] einmütige[n] Conformität“ scheinen noch die ursprünglichen Anliegen Ernsts auf.53 In nachfolgenden Briefen und Berichten erwähnten die Herzöge von Sachsen-Weimar, Sachsen-Gotha und Sachsen-Eisenach sowie ihre Beamten die Konformität zwar noch, die Angelegenheit hatte jedoch ihre ursprüngliche Dringlichkeit verloren.54

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ThStAG Geheimes Archiv XX. III. 16 (fünf verschiedene, unpaginierte Entwürfe der „Ohnmassgebliche[n] Puncten, So bey Kirchen, Schuelen, Policey-Wesen zu dero guten aufnemen in reiffe deliberation zu ziehen seyn möchte“). Unter den Dokumenten findet sich auch ein Brief vom 1.11.1669 von Martin Geir (wahrscheinlich Martin Geier [1614–1680], Oberhofprediger und Kirchenrat in Kursachsen) an Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha, in welchem er sich auf die Pläne des Herzogs für Halle bezieht. Es ist denkbar, dass Herzog Ernsts früherer Versuch aus dem Jahr 1669, die Gespräche mit Sachsen-Weimar über die Einheit fortzuführen, mit der zunehmenden Wahrscheinlichkeit einer Verlobung und Hochzeit Friedrichs mit Magdalena Sibylla als einer Gelegenheit für informelle Gespräche mit den Prinzen des albertinischen Sachsens in Verbindung stand. ThStAG Geheimes Archiv XX. III. 16 (Kopie des Briefs vom 20./30.11.1669 von Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen an Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha; Kopie des Briefs vom 25.11.1669 von Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha an Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen; Entwurf eines Nachtrags vom 5.1.1670 von Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha an Carl von Friesen; Brief von Carl von Friesen an Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha, Dresden, 8.2.1670). ThHStAW Auswärtige Angelegenheiten DS 383, Bl. 2r–5r (Brief vom 5.8.1670 von Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha an Herzog Johann Ernst II. von Sachsen-Weimar). ThHStAW Auswärtige Angelegenheiten DS 383, Bl. 7r–9v, hier: 7v. ThHStAW Auswärtige Angelegenheiten DS 383, Bl. 15r (undatierter Bericht aus Sachsen-Weimar), 19v–20r (undatierter Bericht aus Sachsen-Gotha), 31v (undatierter Text eines Briefes von Bernhard von Sachsen-Weimar [1638–1678] an Herzog Johann Ernst II. von Sachsen-Weimar

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War es Ernst dem Frommen auch nicht gelungen, benachbarte Territorien von der Vorbildlichkeit der Sachsen-Gothaer Kirchenzucht zu überzeugen, so hat er vielleicht doch grundlegende Veränderungen angestoßen, die Mitteldeutschland nachhaltiger beeinflussen sollten. So kann man zum Beispiel auf den Pietisten August Hermann Francke (1663–1727) verweisen, der als Junge in den 1660er und 1670er Jahren in Gotha lebte. In dieser prägenden Lebensphase entwickelte er zweifelsohne ein Bewusstsein für das strenge System der Kirchenzucht Ernsts des Frommen. Als Francke in den 1690er Jahren bekanntlich dutzende Gemeindeglieder in der Stadt Glaucha durch den Ausschluss vom Abendmahl maßregelte, importierte er wohl Elemente dieses Systems in einen Teil Brandenburg-Preußens, der bald ein Zentrum religiös-intellektuellen Lebens und pädagogischer Innovation im protestantischen Deutschland werden sollte.55 Bezeichnenderweise besprach Francke 1713 in seinem Collegium pastorale den Bericht Von Dem Straff=Ampt von 1645 zweimal und pries ihn dafür, dass er Pastoren instruiert habe, die ‚Unwürdigen‘ auszuschließen: Es sind auch sonst gar feine monita darin enthalten, z[um] E[xempel] wie ein Lehrer, wenn er die gradus gebraucht hat, mit dem heiligen Abendmahl verfahren soll, daß er die indignos sodann davon solle abhalten bis auf weitern Bescheid. Darin es denn ein Lehrer auch gar wohl gebrauchen kan. Denn heutiges Tages will es an manchen Orten dahin kommen, daß man schlechterdings nicht will, daß ein Lehrer auch nur eine suspensionem a communione vornehmen solle, sondern er soll die Leute sine discrimine annehmen, wie sie auch beschaffen seyn.56

An einer späteren Stelle in seiner Vorlesung bezeichnete Francke den Bericht als ein „recht specimen disciplinae ecclesiasticae“.57 In seiner 1697 erschienenen Pub-

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[Bernhard wurde 1672 Herzog von Sachsen-Jena.]). Die Regierung Sachsen-Weimars erfuhr anscheinend im April 1670 von der Existenz dieser Agenda (27r). Zu Franckes Kirchenzuchtmaßnahmen in Glaucha vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees (1692–1704). Tübingen 2004 (HaFo, 15). Zu strukturellen Parallelen zwischen Halle und Gotha vgl. schon Albrecht-Birkner, Reformation [s. Anm. 2], 443–445 u. 527; dies.: August Hermann Francke und der hallische Pietismus. In: Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jakob Spener (1635–1705) und die Geschichte des Pietismus. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom 29. Mai bis zum 23. Oktober 2005. Halle 2005 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 15), 51–70, hier: 53; Claudia Drese: Auf dem Weg ins Universelle. August Hermann Franckes Erfahrungshorizont und die Formung eines Ideals. In: Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe. Hg. v. Holger Zaunstöck. Halle 2010 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 25), 67–77. August Hermann Francke: Collegivm Pastorale über D. Ioh. Ludouici Hartmanni Pastorale Euangelicum. Erster Theil; Nebst Johann Eberlins, ersten Predigers des Evangelii zu Ulm, Send=Schreiben an Johann Jacob, Pfarrern zu Leipheim im Ulmer=Gebiet, Wie sich ein Diener GOttes Worts in all seinem Thun halten soll, und sonderlich gegen denen, welchen das Evangelium zuvor nicht geprediget ist, daß sie sich nicht ärgern; Mit einer Vorrede. Hg. v. Gotthilf August Francke. Halle 1741, 622. August Hermann Francke: Collegivm Pastorale über D. Io. Lvdov. Hartmanni Pastorale Evangelicvm. Anderer Theil; Nebst desselben Aus der Epistel an den Titum gezogenen und mit mehrerm erläuterten Aphorismis Pastoralibvs. Hg. v. Gotthilf August Francke. Halle 1743, 440. Die beiden Bände des Collegium Pastorale bestehen hauptsächlich aus einer posthumen Edition von Franckes Notizen und Schriften für ein Seminar im Jahr 1713. Zu einer umfassenderen

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likation über die Missbräuche des Beichtstuhls hatte Francke implizit schon auf das Gothaer „Werck der christlichen Disciplin“ verwiesen.58 Inwieweit Francke bei seiner Kirchenzuchtpraxis in Glaucha auch auf eigene Erfahrungen in Sachsen-Gotha rekurrierte, lässt sich freilich nicht sagen. Insgesamt kann vermutlich davon ausgegangen werden, dass Ernst der Fromme eine verstärkte Fokussierung auf die Kirchenzucht auch durch andere Maßnahmen, wie z. B. seine Verordnungen für einen effektiveren Katechismusunterricht seit den 1640er Jahren gefördert hat. Seine Reformen führten zwangsläufig dazu, dass Theologen, Pastoren und Beamte die Effektivität der Instrumente einer Kirchenzucht, wie sie von den Kirchenordungen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts vorgeschrieben worden waren, kritisch evaluierten. Die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges machte den Bedarf an einer solchen kritischen Neubewertung evident. Sie setzte sich bis in die frühen 1670er Jahre in Gestalt des herzoglichen Engagements zur Vereinheitlichung der Kirchenverhältnisse in den geteilten sächsischen Territorien und insofern mit einer gewissen Breitenwirkung fort. Davon zeugen der Bericht Von Dem Straff=Ampt von 1645, die Verhandlungen, die der Veröffentlichung der Landesordnung Sachsen-Gothas von 1653 und der Kirchenordnung Sachsen-Weimars von 1664 vorausgingen, der Beginn des „Werck[s] der christlichen Disciplin“ sowie die Gespräche von 1669 in Halle. Zu wenig ist über klerikale Netzwerke in Thüringen und über Thüringen hinausgehend in der Mitte und am Ende des 17. Jahrhunderts bekannt. Aber auf lange Sicht ist von einer Etablierung von Netzwerken auszugehen, in denen ein positiver Bezug auf die Kirchenzuchtmaßnahmen Ernsts des Frommen tradiert wurde.59 Dabei spielte August Hermann Francke als Multiplikator offensichtlich eine zentrale Rolle.60 Aus dem Englischen übersetzt von Annegret Oehme

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Auseinandersetzung mit der Kirchendisziplin in diesem Werk vgl. Terence McIntosh: August Hermann Franckes Behandlung des Themas Kirchenzucht in seinem Collegium Pastorale. In: Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle 2017 (HaFo, 48), 125–136. Als mögliches Mittel gegen den Missbrauch des Beichtstuhls hatte Francke hier vorgeschlagen: „Soll man entweder gewisse darzu verordnete Inspectores haben, (wie in den Gothaischen Landen) oder sonst fromme Leute darzu gebrauchen, daß sie auff anderer Thun acht haben, und solches dem Prediger berichten.“ (August Hermann Francke: Kurtzer und einfältiger Entwurff / Von den Mißbräuchen Des Beichtstuhls. In: ders., Werke in Auswahl. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, 92–107, hier: 105). Der Herausgeber merkt fälschlicherweise an, dass bereits die Ordnung für die Rügegerichte aus dem Jahr 1646 die Einführung von „Inspektoren“ gefordert habe, obwohl diese darin nicht einmal erwähnt wurden. Bezüglich der Existenz solcher Netzwerke schon im frühen 17. Jahrhundert vgl. Berg, Military Occupation [s. Anm. 4], 140. Siehe auch den Beitrag von Alexander Schunka im vorliegenden Band. Ein Einfluss Franckes hinsichtlich einer rigiden Kirchenzuchtpraxis ist bei mehreren von ihm in seiner Leipziger, Hamburger und Erfurter Zeit geprägten Anhängern nachweisbar (vgl. Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen 2010 [AGP, 55], 57–84, hier: 65–71 u. 81 f.).

ARDENTISSIMUM PIORUM DESIDERIUM Christoph Brunchorst and the Encouragement of Piety in Mid-Seventeenth-Century Thuringia Mary Noll Venables In March 1664, the court preacher Christoph Brunchorst (1604–1664) was buried in St. Augustine’s church in Gotha. Brunchorst was 59 years old when he died; for the last 24 years of his life, he had served as the court preacher for Duke Ernst the Pious (1601–1675). In his funeral sermon, Ardentissimum Piorum Desiderium oder Inbrünstiges und hertzliches Sehnen und Verlangen der Gnaden=Kinder Gottes, the court deacon Abraham Gispachius (1613–1681) praised Brunchorst as someone who had “Lust und Freude” in God’s word and often preached about God’s great love for humanity. According to Gispachius, Brunchorst had “ein rechtes Vater=Hertz […] was Kirchen= und Schulsachen anlanget.” Gispachius found Brunchorst to be a “treuer Lehrer und Prediger,” whose faith made itself known in the words of his sermons and his deeds of love and mercy.1 Funeral sermons are a genre of their own, and from our perspective, we would say that they sometimes overemphasize the merits of the deceased to spur the listeners on to good deeds and right belief. Gispachius’ depiction of Brunchorst as an honest and charitable Christian who desired to share his beliefs with others was clearly intended to encourage Gispachius’ listeners to learn from Brunchorst and emulate his way of life. Gispachius would have never expected that almost 400 years after his death, Brunchorst’s life can be instructive for us in the twenty-first century as well. Looking at Brunchorst’s activities and writings in Gotha and elsewhere can tell us much about piety and practice in Gotha, Thuringia, and further afield in the middle of the seventeenth century. Through the life and work of one court preacher, it is possible to observe the changing religious landscape of seventeenth-century Germany. For much of his life, Brunchorst worked as the court preacher in Gotha. Our understanding of the intricacies of a court preacher’s duties has been greatly advanced by Luise Schorn-Schütte, who developed a typology for thinking about the role of court preachers. She suggested that it is useful to think of court preaching in two phases: an early phase from the end of the sixteenth century to the beginning of the seventeenth century and a consolidating phase just before, during, and immediately after the Thirty Years’ War. In the early phase, court preachers served a dual religious and political role, and were involved in both political decision-making and re1

Abraham Gispachius: Ardentissimum Piorum Desiderium, oder Inbrünstiges und hertzliches Sehnen und Verlangen der Gnaden=Kinder-Gottes […] Bey Christlicher Sepultur und Begräbnis Des weiland […] Christophori Brunchorsten / Fürstl. Sächs. Hochverdienten Hoffpredigers und Beicht=Vaters […]. Gotha 1665, a3v, c1v, c2r, f1v, f2r.

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ligious life. During the second phase, court preachers lost their influence as political advisors and became admonishers who warned rulers about their short-comings and reminded them to be an example to their courtiers and subjects.2 In the transition from court preachers serving as advisors to court preachers acting as moral guardians, Schorn-Schütte sees the initial separations of political and religious spheres of authority.3 She describes Lutheran Pietists, who appeared in the late seventeenth century, as those who worked for a “Reformation des Lebens” without the involvement of secular authorities, further delineating distinct and independent systems of religion and state.4 Brunchorst’s career shows traces of the changes outlined by Schorn-Schütte. At least in the records that survive, Brunchorst encouraged piety differently in the 1660s than he had in the 1630s. In his written work, he increasingly emphasized personal and communal faith based on prayer and Bible-reading. This faith was also increasingly internalized. In the 1630s Brunchorst participated in disputes in Weimar over how best to renew Christian practice during the Thirty Years’ War, essentially acting as a controversial political advisor. In the 1640s he wrote funeral sermons that explained the current destruction as a sign of God’s anger and issued a call to spiritual renewal. Brunchorst’s work in Weimar and funeral sermons from Gotha interwove religious and political themes. Twenty years later he published his Christliche Vorstellung der hohen geistlichen Anfechtungen, a devotional on resisting temptation.5 In it, Brunchorst defined what spiritual trials and temptations were, why they occurred, and how Christians were to persevere through them. By the 1660s spiritual threats came from temptations and trials within, not from warfare and destruction without. In a gentle and pragmatic way, his book offered a model of private spirituality that was nurtured by the organized church, but also relied on personal initiative to read the Bible and pray. Brunchorst had spent many years actively integrating religious and political spheres, but in the Christliche Vorstellung, hints of an independent religious realm emerge: reading the Bible, praying diligently, receiving communion, remembering one’s baptism, and living a shared Christian life.

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Luise Schorn-Schütte: Prediger an protestantischen Höfen der Frühneuzeit. Zur politischen und sozialen Stellung einer neuen bürgerlichen Führungsgruppe in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel von Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt und Braunschweig-Wolfenbüttel. In: Bürgerliche Eliten in den Niederlanden und in Nordwestdeutschland. Studien zur Sozialgeschichte des europäischen Bürgertums im Mittelalter und in der Neuzeit. Ed. by Heinz Schilling and Herman Diederiks. Köln 1985 (Städteforschung A, 23), 275– 336, here: 301, 305, 308, 326. Her use of systems as an analytical tool is based on Niklas Luhmann’s study which emphasizes the process of creating autonomous yet co-existing systems of business, politics, religion, science, education, and even family. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Vol. 1. Frankfurt/Main 1980, 162. Schorn-Schütte, Prediger an protestantischen Höfen [s. note 2], 305. Christoph Brunchorst: Christliche Vorstellung der hohen geistlichen Anfechtungen / Wie nemblich der allein weise Gott hin und wieder etliche seiner gläubigen Gnaden=Kinder aus väterlicher Verhängnis darein gerathenlässet / jedoch aber ihnen […] gnädiglich beystehet / daß sie […] den Glaubens=Sieg erhalten […]. Gotha 1663.

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These shifts in Brunchorst’s emphasis correspond with Terence McIntosh’s research on the Werck der christlichen Disciplin in Gotha in the 1660s.6 With Brunchorst and this project to establish “Christian discipline,” we see hints of a system of religion and a system of state being disentangled from each other and flourishing independently. To help us tease these spheres apart, I first examine Brunchorst’s biography before considering his published work. 1. A COURT PREACHER’S LIFE Christoph Brunchorst was born in 1604 in Erfurt to Martha Fehmel Brunchorst and Rupert Brunchorst, a prominent councilman in the town.7 Christoph was educated in Erfurt, and ordained and appointed as a pastor in Hanstein in the Eichsfeld in the early 1630s. When the Eichsfeld was conquered by Swedish forces, Duke Ernst’s oldest brother Wilhelm (1598–1662) was named Generalleutnant and he, in turn, named Brunchorst his inspector for Lutheran churches and schools. In that role, Brunchorst worked to restore church discipline and godly life. In 1635 Wilhelm signed the Peace of Prague, ceased fighting the emperor, relinquished his claim to the Eichsfeld, and returned to Weimar, taking Brunchorst with him. It seems likely that Brunchorst first became well-acquainted with Duke Ernst in Weimar, where Ernst hired Brunchorst as an advisor on matters concerning churches and schools and as a contributor to the new edition of Luther’s Bible that he sponsored. These tasks did not constitute full-time employment however, because Brunchorst also served as a pastor in Hohlstedt and Kötschau, small adjacent villages between Weimar and Jena.8 In Weimar, Brunchorst carried out his work as Ernst’s advisor for churches and schools in conjunction with Sigismund Evenius (ca. 1587–1639). Their activities, particularly their advice on how to improve churches and schools, were highly controversial. Johannes Kromayer (1576–1643), the head of the consistory and the general superintendent in Weimar, fiercely criticized their analyses and plans and labelled them heretical. The quarrel between Kromayer and Evenius and Brunchorst was part of a larger conflict between Ernst and his brothers; for the purposes of this essay only Brunchorst’s involvement is of interest. Ernst and his advisors Brun6 7

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See the contribution by Terence McIntosh in the present volume. Rolf-Torsten Heinrich: Erfurter Wappenbuch. Teil 1. Norderstedt 2013, 44. Brunchorst’s social background corresponds with Luise Schorn-Schütte’s findings on the social origins of court preachers (Luise Schorn-Schütte: Die Rolle der Hofprediger zwischen Herrscherkritik und Seelsorge im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Religion Macht Politik. Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit. Ed. by Matthias Meinhardt [u. a.]. Wiesbaden 2014 (Wolfenbütteler Forschungen, 137), 27–48, here: 30). Gispachius, Ardentissimum Piorum Desiderium [s. note 1], e1v, e2r, e2v, e3r; August Beck: Brunchorst, Christoph. In: ADB 3, 1876, 440. URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn 120391600.html?anchor=adb [5/25/2018]; Laurentius Drach: Dodecas Anagrammatum Quam Iuvenibus […] Primam Philosophicam Lauream, in Academia Hierana […] publice acceptantibus […]. Erfurt 1624; Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 1: Herzogtum Gotha. Neustadt a. d. Aisch 1995 (Schriftenreihe der Stiftung Stoye, 26), 182.

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chorst and Evenius thought that current sufferings were a sign of God’s punishment and that repentance and renewal were needed to turn away God’s anger. Johannes Kromayer agreed that the current condition had spiritual causes, but he thought that the dangerous new emphasis on repentance was to blame. Kromayer was reported to have repeatedly referred to Brunchorst and Evenius as “Neue Geister,” at one point reportedly stating “die Scheinheiligen und Newen Geister wüsten von nichts zu sagen, als Buße, Buße, Buße, Buße, man sole Buße thun.” The controversy was resolved when Brunchorst and Evenius swore before the Weimar consistory to uphold true teaching and renounced “Enthusiasten, Weigelianer, Schwenkfelder, und dergleichen ketzer Lehre, fur Irrig [und, M. N. V.] Ketzerisch.”9 Kromayer, Brunchorst, and Evenius all saw spiritual short-comings around them, and all of them wanted their rulers to do something about it. While they had radically different views on how to react to circumstances, they shared the conviction that a ruler was capable of improving the spiritual condition of his territory. Kromayer’s dispute with Brunchorst and Evenius revolved around the question of how to oversee the church best, not whether political rulers should govern the church. Political and religious spheres were closely intertwined. There is some suggestion that Ernst’s continued disputes with his brothers led to the decision to split Saxe-Weimar into three territories in 1640.10 Whatever the case, Ernst inherited the territory of Saxe-Gotha in 1640 and almost immediately asked his older brother Wilhelm to release Brunchorst from his pastorate in Hohlstedt and Kötschau so that he could become the preacher in Ernst’s new court. At the same time, he asked that Salomon Glass (1593–1656) be released from his position at the university of Jena to become the general superintendent in Gotha.11 In Gotha, Ernst set about creating a new state. For considering Brunchorst’s role, Ernst’s efforts to improve churches and schools are of particular interest. Very soon after he took office, he issued orders for a general visitation that would assess the spiritual health of his subjects. In anticipation of and response to what he saw as dismal findings, he set up a system of catechism classes for adults, primary schools for children, continuing visitations, and a stream of ordinances that regulated all areas of life, from how to celebrate weddings to how to prevent fires.12 And that work continued throughout his reign, in various permutations at various times. Brunchorst made a critical contribution to these efforts, both religiously in working for renewal and politically in organizing the church. This overlapping of political and religious responsibility is illustrated in a sermon Brunchorst delivered on the morning of Ernst’s coronation. He preached on the oath of allegiance, which 9

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Acta über Verbesserungen bei Kirchen= und Schulen 1636/1638 (ThStAG Geheimes Archiv XX V 1, 34v–36r, 39r, 51r, 51v). See Andreas Klinger: Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen. Husum 2004 (Historische Studien, 469), 216. Klinger, Der Gothaer Fürstenstaat [s. note 9], 216. ThStAG Oberkonsistorium Loc. 48a, no. 3 [1r]. As documented in Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002 (LStRLO, 1).

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the estates, officials, and church and school workers had sworn on that day, but to which, according to Brunchorst, God also gave his support.13 Preaching made up a large part of Brunchorst’s new position. He was to formulate his sermons according to Biblical creeds, Martin Luther’s books, the Augsburg Confession invariata, and the Formula of Concord. He would deliver these sermons at the weekly Sunday services, week-day sermons, prayer services, and special services on holidays, making sure that each service included hymns, prayers, and all other necessary parts. He was to celebrate communion regularly for the ducal family and court employees. Brunchorst had special responsibilities towards court employees. He was to watch to make sure there was no “fluchen, schweren, Gottes Lastern, argerliches Leben”; when he saw such behavior he was “sie darumb geburlich zu rede setzen, Vnd zu einen beßern anweisen.” When improvement did not occur, he was to report the matter to Ernst without hesitation.14 Brunchorst was also responsible for examining court employees in preparation for the confession service before the celebration of communion. When the ducal court travelled, it was expected that Brunchorst would accompany them. Over the more than twenty years that Brunchorst worked as a court preacher, his responsibilities expanded to include educating Ernst’s children, working on primary schooling in the territory, arranging catechism instruction for adults, and being Ernst’s confessor.15 For the first sixteen years of his service in Gotha, Brunchorst worked together with Salomon Glass, the general superintendent. Of the two, Glass is definitely better known. He wrote many more books and his salary was significantly larger than Brunchorst’s.16 Nevertheless, it seems that Brunchorst was closely tied to Ernst in the public mind. Veronika Albrecht-Birkner’s research into opposition to Ernst’s reform uncovered the case of Elias Johannes Heßling (ca. 1605-after 1665), who objected to a sermon that Brunchorst preached in 1641 defending Ernst’s ecclesiastical visitations. In Heßling’s view, Brunchorst’s argument that Christians could be united with Christ was a direct and suspicious adoption of Johann Arndt’s (1555– 1621) doctrine. The following year Heßling complained that Brunchorst and Glass wanted “nach ihrer newen arth die leüte […] bekehren, und dieselbe from […] Machen, durch Herrn Johann Arndts wahres Christenthumb die gottseligkeit wider auff […]richten.” For his views, Heßling was exiled from the territory.17 Besides the sermons that Heßling complained about, no records remain of Brunchorst’s regular preaching. He did, however, preach funeral sermons for

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Klinger, Der Gothaer Fürstenstaat [s. note 9], 34. Bestallung Christoph Brunchorst (ThStAG Oberkonsistorium Loc. 48a, no. 3 [4r–5r]). Gispachius, Ardentissimum Piorum Desiderium [s. note 1], e4v, f1r. Hans-Jörg Ruge: Übersicht über die Besoldung ausgewählter Beamter des Herzogtums Gotha in den Rechnungsjahren Michaelis 1645/46 bis Michaelis 1664/65. In: Ernst der Fromme. Staatsmann und Reformer, 1601–1675. Ed. by Roswitha Jacobsen and Hans-Jörg Ruge. Bucha 2002 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 39), 121–126, here: 122–126. Quoted in Veronika Albrecht-Birkner: Die Reformen Ernsts des Frommen im Spiegel von Quellen zur Situation der ländlichen Bevölkerung. In: Ernst der Fromme [s. note 16], 59–68, here: 65.

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notable members of the ducal household and these were occasionally printed.18 Two sermons, one for Anne-Margarethe Glass (1610–1647), who was married to Balthasar Glass (1596–1666), the court doctor and brother of Salomon Glass, and Anna-Sophie Glass (1611–1649), who married Balthasar Glass after Anne-Margarethe’s death, provide an opportunity to hear Brunchorst’s voice, especially his assessment of the current situation and his recommendations for Christian living. In both sermons, Brunchorst pointed out the sinful state of his listeners and the world in general, and used the women as models for how to trust in Christ and be freed from evil. In contrast to Brunchorst’s later Christliche Vorstellung, many of the tribulations portrayed in the funeral sermons came from external forces. Anne-Margarethe Glass died in 1647 after the premature birth of a son. In her funeral sermon, Brunchorst used the image of the wise and foolish virgins to lament “Ach, wie thöricht, blind, und sicher gehet der gröste Theil der Menschen einher, die geistliche Wachsemkeit achten sie nicht, sie […] schlaffen gar in Sünden.” He described people who spent their time in spiritually-dangerous behavior: “packetiren, Fressen, Sauffen, Prangen und Pralen [und, M. N. V.] Geld und Gut zusammen bringen.” The observant listener could figure out that this type of behavior would not go unpunished, they would observe that: der gerecht Gott in seinem Eyfer, mit dem langwierigen Kriegen das Land hart heimsuchet, Städte und Dörffer, ja gantze Länder, durch Plünderung, Raub und Brandt, durch schwere unerträgliche Einquartierungen und Contribution, auch Durchzüge und Belagerungen, lässet verwüsten und veröden.

They had experienced God’s great anger in the “grawsame langwirige Kriegeslast, neben andern grossen Plagen.” All of this came about because many sought their joy and security in the ephemeral pleasures of the world, which would only lead to “Unruhe, Jammer und Elend, und endlich die ewige Verdamnis.” But there was a solution: to repent, to ask God for grace, and to be sincere about it. Brunchorst advised: Nemblich in solcher Krieges=Noth, wie auch in allen andern Anligen und Elend, solt du das liebe Gebet unverzüglich ergreiffen, dich damit auffmachen und zu Gott nahen, an seine Gnaden=Thör anklopffen, und sagen: Wir, wir haben gesündiget, ach Gott sey gnädig, schaffe uns Hülffe in der Noth, denn Menschen Hülffe ist kein nütze.

Acting in this manner “were das recht Mittel den zornigen Gott wieder zu versöhnen [denn, M. N. V.] auff diese Weise würde uns Gott Friede schaffen.”19 Unsurprisingly for a funeral sermon, Anne-Margarethe’s life stood in contrast to the behavior of many around her. During times of temptation and suffering, especially during her last days, she held fast to God and his promise of the forgiveness 18

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In addition to the two funeral sermons discussed here, Brunchorst also preached funeral sermons for Salomon Glass, Johann Christoph Lobhartzberger (1611–1655), a member of the consistory, and Elisabeth von Sachsen-Altenburg (1593–1650), who was Ernst’s wife Elisabeth-Sophie’s (1619–1680) mother. Christoph Brunchorst: Solum ac solidum piorum gaudium, Das ist Einfältiger Unterricht […] bey Christlicher Leich=bestattung […] Fr. Annen=Margarethen […]. Gotha 1648, a2v, c4v, f4v, g1r, g1v, h4r, j1r.

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of sin. Brunchorst praised her “Stillen, sanftten und demüthigen Fried geneigten Gemüthe” that led her to help the poor and run her household well. She had experienced many years of struggle and temptation, and was tormented when she saw others leading an easier life than hers. But still she continued to pray and study God’s word (Brunchorst named her “eine gute Streiterin”) and she finally came to the point where she could state with confidence that, despite outward appearances, things did not go well for the godless in the end. Her comfort was in God, not in the rewards of the world. Anne-Margarethe used and loved God’s word, which she regarded as a great treasure, and communion, which she took at the proper time with penitence.20 She was a model of someone who knew her own short-comings, observed the errors of the world around her, and turned to God in repentance and hope. After Anne-Margarethe’s death, Balthasar Glass married Anna-Sophie. When she too died of complications in childbirth, Christoph Brunchost used the occasion of her funeral sermon to offer similar commentary on the effects of the war, but also to bemoan the human condition in general. He began with the sufferings of Balthasar Glass, who within less than two years had lost two wives in childbirth. Brunchorst cried “O Schmertz über alle Schmertzen!” and commented, “Weinen ist unser aller erste Stimme.” All too often the mother’s body became the child’s deathbed and then the mother followed the child in death. But it was not just in childbirth that people encountered grief and trouble. If children survived the hour of birth, they needed to be trained to avoid evil. Young adults were easily led astray, some to fornication, others to feasting, drinking, playing cards and dice, or stealing, some to haughty behavior, and still others to swearing, blasphemy, cultic practices, or heresy. Nor did things improve when young people married. Brunchorst, who by all accounts was happily married, asked: “Ist nicht der Ehestand guttes theils ein Wehestand und eine stets währende Creutz und Jammer=Schule?” And then there was the war, which brought “Land=Plagen und schwere Straffen Gottes” to everyone. Wenn sie in Kriegsnoth außgejaget, geplundert, durch Contribution außgesogen und grewlich gepresset werden, ja mussen auch wol gar mit eigenen Augen anschawen, daß ihre Wohnung im Fewer auffgehen, und in die Aschen geleget werden […] und gerathen darüber in eusserste Armuth, Hungersnoth und Verachtung: Uber diß schläget auch noch wol Pestilentz, oder andere beschwerliche Kranckheit und Elend mit zu.21

In both funeral sermons, Brunchorst saw the effects of the war as proof of spiritual illness. Perhaps more strongly than in his sermon for Anne-Margarethe Glass, Brunchost emphasized that all of this suffering sprang from sin. “Der leidige und schändliche Sünden Fall unser ersten Eltern ist die gifftige Brunnquell, daraus solch Ubel und Unfall herfürquillet, und uns gleichsam überschwemmet.” There were very few who trusted in the Lord, but those like Anna-Sophie who did, were rescued 20 21

Ibid., a4v, b1r, g2v, k1v, k2r. Christoph Brunchorst: Beatitudo in Christo Morientium […] Anna=Sophien, Des Ehrnvesten […] Herrn Balthasar Glassens […] seligen Haußfrawen […] in schweren Kindes=Nöthen, im HERRN gestorben […]. Gotha 1651, a3r, b1r, b1v, b2r, b2v. In contrast to the funeral sermon for Anne-Margarethe Glass, which was printed shortly after her death, Brunchorst’s funeral sermon for Anna-Sophie was printed two years after she died.

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from this evil world. On the day of their death, their suffering was over. Again like Anne-Margarethe, Anna-Sophie provided a model for the listeners. Brunchorst recorded that she read her Bible morning and evening, as well as books by Johann Arndt and other “geistreiche Männer,” and prayed often. On the Sunday before she died, she confessed her sins, received absolution, and took communion.22 In these two sermons, both preached at the funerals of relatively young women, Brunchorst emphasized the frailty of human life – that people are subject to sin, human relations are difficult, wars break out – and the hope that Christian faith offered in the midst of these sufferings. And in both these sermons the difficulties of the world – caused by war, childbirth, and sinful living – are almost overwhelming. 2. BRUNCHORST’S CHRISTLICHE VORSTELLUNG Besides these two funeral sermons and three others that were published, Brunchorst’s thought is also preserved in a much larger book on Christian temptations, which was published in 1663, just a year before his death. The book hints at some significant changes in Brunchorst’s thinking. Troubles were no longer caused by war and physical conditions, but by doubting whether one’s sins were truly forgiven. The title reads Christliche Vorstellung Der hohen geistlichen Anfechtungen / Wie nemblich Der allein weise Gott hin und wieder etliche seiner gläubigen Gnadenkinder aus väterlicher Verhängnis darein gerathenlässet / jedoch aber ihnen in solchem schweren Kampff und Streit So gnädiglich beystehet / daß sie nicht verzagen / sondern durch seine Göttliche Hülffe wunderbahrlich daraus errettet werden / und den Glaubens=Sieg erhalten.23

As the title suggests, the book explains what spiritual temptations were, why God sent temptations to his beloved children, what those experiencing temptation should do, and how pastors and friends should counsel those experiencing temptations. It also lists typical complaints of those experiencing spiritual temptations, includes many prayers and hymns, and gives advice on how to behave once temptations were past. After spending a life writing funeral sermons that were rarely printed and delivering weekly sermons that were never published, why write a 500-page book on spiritual temptation?24 The book may have been the work of a lifetime. In addition, spiritual temptations were common topics. Brunchorst had experienced temptations himself, recording in his book that he had suffered severe temptation for three years. His afflictions were common-enough knowledge that Gispachius mentioned them in his funeral sermon for Brunchorst. According to Gispachius, Brunchorst 22 23 24

Ibid., c2r, e4r, g2r, g3r. Brunchorst, Christliche Vorstellung [s. note 5]. According to Beck, Brunchorst [s. note 8], Brunchorst also wrote: Suscitabulum oder Christliche Aufmunterung, Gott und seine Wohlthaten recht zu erkennen. Gotha 1664 (VD17: 23:326951L), but since his name is not on the title page and Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts does not credit him with being the author, I have not included the work in my study.

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thought “als dienete ich meinem Gott nicht rechtschaffen / und were daher alleine ursach / daß ich nicht könte seligwerden / sondern müste ewig verlohren und verdampt seyn.”25 His own experiences made him a great help to others experiencing temptations. In his funeral sermon for Anne-Margarethe Glass, Brunchorst mentioned that she experienced “Kampff und Anfechtung.”26 When he preached the funeral sermon for Salomon Glass in 1656, Brunchorst mentioned that Glass experienced “geistliche Anfechtungen” after he gave his first sermon because he thought he had not spoken eloquently.27 Beyond personal experience, Anfechtungen were a common topic in German Lutheranism. Martin Luther gave Anfechtungen, prayer, and meditation central place in his theology, arguing that Anfechtungen are troubles inflicted on the soul by God to draw the soul closer to God.28 The great Thuringian theologian Johann Gerhard (1582–1637) wrote a book on temptations, especially those experienced at the time of death, arguing that Anfechtungen gave Christians the experience that God was with them.29 Salomon Glass, who was Gerhard’s student and Brunchorst’s colleague, published his own book on temptations ten years before Brunchorst.30 Glass’ and Brunchorst’s books had many similarities. Both authors were careful to define what temptations were and were not. Brunchorst wrote: Die rechte geistlich hoch Angefochtene sind einig und allein dieselben bußfertige / gläubige / Gottselige fromme Menschen / welche Gott der Herr aus grosser feuriger Liebe / und Himmelsväterlicher Wolmeynung / ihren Glauben auff die höchste weise zu prüfen / zu bewähren / und außerwehlt zu machen / seinen schweren unerträglichen Göttlichen Zorn und Ungnade […] in ihrem Hertzen und Gewissen hart fühlen und erfahren […] lässet.31

Since temptations came from God to these penitent, believing, godly, and pious people, there were several things that temptations were not. Brunchorst explained 25 26 27 28 29

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Brunchorst, Christliche Vorstellung [s. note 5], 132; Gispachius, Ardentissimum Piorum Desiderium [s. note 1], a4r, c2v. Brunchorst, Solum ac solidum piorum gaudium [s. note 19], a4v. Christoph Brunchorst: Epulum Vere=credentium […] Salomonis Glassii […]. Nürnberg 1657, 34. Roland Bainton: Here I Stand. The Classic Biography of Martin Luther. Nashville 1987, 41 f., 361; Gérard Vallée: Luther and Monastic Theology. Notes on ‘Anfechtung’ and ‘compunctio’. In: ARG 75, 1984, 290–297, here: 290, 295. Gerhard first wrote his book in Latin and then translated it into German. Johann Gerhard: Enchiridion Consolatorium Morti Ac Tentationibus in Agone mortis opponendum […]. Jena 1611; id.: Handbüchlein Krefftigen Trostes / welches man dem Tode und den Anfechtungen in der Todesnoth kan entgegen setzen. Jena 1626; Volker Keding: Theologia experimentalis. Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold. Münster 2001 (Theologie, 37), 157. Glass’ book was printed by Endter in Nürnberg, a much better-known publisher than Schall in Gotha, where Brunchorst’s book was published. On the reputation of Endter, see Klinger, Der Gothaer Fürstenstaat [s. note 9], 215. Brunchorst’s book, however, was reprinted. Christoph Brunchorst: Christliche Vorstellung Der hohen geistlichen Anfechtungen: Wie nemlich Der allein weise Gott hin und wieder etliche seiner gläubigen Gnaden=Kinder […] durch seine Göttliche Hülffe wunderbarlich daraus errettet werden […] mit underschiedlichen denckwürdigen Exemplen erläutert […] Worbey auch etliche […] Gebet und Gesänge / in bekanten Melodeyen / mit eingebracht […]. Leipzig 1691. All citations in this essay are to the 1663 version. Brunchorst, Christliche Vorstellung [s. note 5], 17.

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that sometimes when people sinned and God punished them, they thought they were experiencing temptation; this was not so, rather, it was God’s deserved punishment. People who were ill should consult a doctor, not worry about temptations.32 He echoed Glass, who stated that temptations were not medical problems or melancholy, nor were they part of an “innerlichen Antrieb der bösen Lüste, oder von den Versuchungen deß verderbten sündlichen Fleisches” or “Hertzens=Angst und Traurigkeit.”33 In addition, both Glass and Brunchorst gave the general impression that they were talking about interior difficulties, not troubles caused by exterior suffering. Both authors were careful to point out that despite appearances, experiencing temptations was a sign of God’s care. Glass explained that temptations came from God and through temptations Christians could strengthen their faith and resist the devil.34 Brunchorst listed eighteen reasons why God placed his followers in temptation, which can be broadly summarized as that God wanted to test their faith, increase their reliance on God, and help them recognize sin and the devil, as well as to bring about God’s praise and glory.35 In addition to theological reflections, both books were also practical and offered helpful advice, like to avoid being alone.36 Despite these similarities, the books were also quite different. Brunchorst addressed his book to a community. He advised the tempted person not to hide their condition, but to confide in a Christian friend or pastor to receive their advice and consolation. He included a chapter of instructions on how friends should help the tempted person. Just as you would tend someone who was physically ill, so good friends would care for someone who was spiritually ill by spending time with them, singing hymns in their presence, bringing them to church and, most emphatically, not advising them to wear healing herbs or drink special drinks. Even though this is a very brief mention, it indicates the changing religious landscape in which individuals disciplined themselves.37 Brunchorst also wrote to pastors, reminding them that “keine wichtigere, schwerere, mühesamere und nachdencklichere Fälle vorkommen können, als so er mit solchen angefochtenen Personen Ampts halben zu schaffen haben muß.” If a tempted person came to confession, the pastor should attempt to explain God’s grace to them, rather than bothering with the usual catechism exam. If the tempted person did not come to confession or church services, the pastor should consider visiting them at home and expounding on God’s mercy to them. Brunchorst’s advice for pastors also touched on the role that pastors held in the wider community. He sharply cautioned pastors not to make fun of people experiencing temptation 32 33 34 35 36 37

Ibid., 4, 7, 11. Salomon Glass: Christliche Anfechtungs=Schul […] in welcher Von der Natur und Eygenschafft / wie auch mancherley Arten der geistlichen Anfechtungen / aus Gottes Wort / und andern Gottseeligen Lehrern gehandelt wird. Nürnberg 1654, 1–6. Ibid., 86, 88, 94. Brunchorst, Christliche Vorstellung [s. note 5], 29–58. Glass, Christliche Anfechtungs=Schul [s. note 33], 77; Brunchorst, Christliche Vorstellung [s. note 5], 83. Ibid., 84 f., 97–103.

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and to preach about spiritual temptations so that their congregants would be familiar with them.38 The second part of the Christliche Vorstellung, which made up more than a third of the book, contained a series of 30 complaints and responses that read almost like a dialogue between a person experiencing temptation and a friend or counsellor. For example, when the tempted person felt that it was impossible to sense their faith or to believe that God was gracious and merciful towards their condition, Brunchorst replied that one shouldn’t judge by feelings alone. Sometimes faith was buried so deeply in the heart that it was almost imperceptible and people thought that they were filled with unbelief, while in reality their faith was hidden deeply away. To the complaint that their suffering was God’s just punishment for their sin and not a test of faith or patience, Brunchorst responded that once someone confessed their sins, it was forgiven; therefore if a person had confessed their guilt, what that person was now enduring was God’s “väterliche Heimsuchung und Züchtigung.”39 When it came to countering temptations, Brunchorst encouraged regular participation in “die von Gott verordnete heilsame Mittel / durch welche Er uns geistliche Stärcke mittheilet, und uns zur Seligkeit bewahret und befördert,” namely hearing God’s word and receiving communion.40 Brunchorst likened the condition of someone experiencing spiritual temptations with someone who was physically ill. Just as the ill person may not have wanted to eat, but in fact needed to eat, so the spiritually-ill person may not have wanted to partake in communion or Bible-reading at church or at home, but needed to do so. In one of the prayers, he proclaimed: “O wie ein theurer und werther Schatz ist dein heiliges Wort und das hochwürdige Nachtmahl des Herrn!” Through both God’s word and communion, “wird der seligmachende Glaube gewircket / erhalten und gestärcket […] die Hoffnung befestiget / süsser Trost mitgetheilet / ja Heil und ewiges Leben geschencket.”41 Brunchorst hoped that God’s word would bear fruit and that the person experiencing temptation would attend church services regularly to hear it. Along with these means of salvation, Brunchorst mentioned baptism less frequently, but did recommend that in their prayers, the tempted person remind themselves and God that “du hast mich ja in der H[eiligen] Tauffe zu deinem lieben Kinde umb Christi willen angenommen.”42 Brunchorst was certainly not the first court preacher or court employee to write devotional literature, but it is still striking that very little of his day-to-day activities are present throughout the book. He made little mention of the catechism classes, church visitations, or any of the other formal ecclesiastical structures that Duke Ernst had put in place to encourage piety and that he worked to uphold. In these recommendations, Brunchorst painted a picture of religious life that was self-motivated and self-sufficient. He made no mention of laws ordering people to go to church

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Ibid., 106, 122, 136, 138, 142. Ibid., 169–176, 194. Ibid., 314–316, quote 316. Ibid., 410. Ibid., 374.

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or to take communion.43 Indeed, the only extended reference to political authority was in the context of warning the tempted person not to commit a crime that would compel the authority to have the offender executed. Brunchorst exhorted the reader that God did not intend for rulers to kill innocent people; rather he wanted them to have compassion and pray that the tempted person’s faith would be strengthened, in other words that the ruler would be a fellow Christian.44 There was no discussion of the ruler as head of the church or spiritual parent of the territory, or anything else that suggested the ruler had responsibility for faith. Throughout the Christliche Vorstellung, the overwhelming message was that Christians ought to be patient when they are tempted. Brunchorst counselled those experiencing temptation to wait for God’s deliverance, even if it took a very long time. He reminded the reader that the Israelites wandered in the desert for 40 years before God allowed them to enter the Promised Land. The patience that Brunchorst advised was to be practiced in community. He urged his readers not to disguise the sadness that had overcome them, but to disclose it to a Christian friend or their pastor. To help his readers endure the waiting, Brunchorst included a prayer for those who felt that God’s help was a very long time in coming.45 Brunchorst’s prayer for patience was part of the practical aids in the book. He drew together a large collection of prayers and hymns; the prayers seemed to be mostly his own creations, the hymns were a mix of Lutheran classics and his own compositions. He also included a list of suggested Bible verses, which were overwhelmingly from the Psalms, with a few drawn from Genesis, 1 Samuel, Isaiah, Jeremiah, Mark, and Luke. Brunchorst’s book ended on an encouraging note, with a section on advice for what to do once spiritual temptations had passed. He included a prayer that stated: “Also wird das brennende Füncklein des Glaubens im Hertzen / wenn aus Gottes Wort eines und das andere tröstliche und erbauliche in den Christlichen Gesprächen vorbracht wird / je mehr und mehr brennend und entzündet / und die Seele getröstet.”46 The whole book brought a message of comfort, emphasizing that temptations showed God’s love. By his own admission, there were periods in Brunchorst’s life when he felt like his heart was not aflame with love for God. Nevertheless, at the end of his life he was confident that his salvation was found in Christ. According to Gispachius, Brunchorst was known for his personal piety, the fervor with which he read the Bible, the earnestness with which he repented, and the enthusiasm with which he prayed. Brunchorst represented the Ardentissimum Piorum Desiderium of the title of Gispachius’ funeral sermon. From a modern perspective, it seems that throughout his life, Brunchorst combined two strands of piety – the prayer, Bible-reading, and Christian conversation 43

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In some ways these recommendations intensify the tradition of self-care found in Lutheranism. See Ronald K. Rittgers: Grief and Consolation in Early Modern Lutheran Devotion. The Case of Johannes Christoph Oelhafen’s Pious Meditations on the Most Sorrowful Bereavement (1619). In: Church History 81, 2012, 601–630, here: 603, 605. Brunchorst, Christliche Vorstellung [s. note 5], 262. Ibid., 84 f., 193, 407. Ibid., 363–373, 413–445, 474 (quote), 488.

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recommended in the Christliche Vorstellung – and the ‘official’ piety he advocated in Weimar in the 1630s and worked to create by administering churches and schools as a court preacher for 25 years in Gotha.47 Or perhaps it is helpful to think of the piety he encouraged as exterior and interior. In his role as a court preacher, he worked to create an exoskeleton of religious practice – regular sermons, communion exams, catechism classes, and primary schooling. As a devotional writer, he encouraged an interior piety of prayer, Bible-reading, Christian community, and patience. And while the internal piety that Brunchorst recommended was by no means radical, it was remarkable for being independent of formal religious structures. In Duke Ernst we have a ruler who was intensely interested in both exterior and interior piety, who legislated the exterior in the hopes that it would spark the interior.48 Perhaps it was Ernst’s own personal piety and support that helped Brunchorst hold these two strands of piety together.49 3. CONCLUSION Over the seventeenth and eighteenth centuries autonomous systems of religion and state emerged; Luise Schorn-Schütte sees this distinction particularly clearly in the Pietist movement, which recognized that a system of religion and a system of state could coexist. It may be a stretch to say that this recognition occurred to Brunchorst, but his life helps track that change. A reader of the Christliche Vorstellung could see that a ‘reformation of life’ or at least the perseverance to withstand trials and temptations was possible without supervision from secular authorities. In his own person, Brunchorst kept these systems of religion and state firmly together, but he

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This matches Douglas Shantz’s analysis of two paradigms at work in Pietism: the desire for renewal coupled with employment in traditional church settings. Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia. The Life and World of Pietist Court Preacher Conrad Bröske. Leiden 2008 (Studies in Medieval and Reformation Traditions, 133), 254. To name just one example, the Christlicher Unterricht Von etlichen Göttlichen Wolthaten, first published in 1659 and expanded in 1664, urged parents to teach the faith to their children through catechism (Christlicher Unterricht Von etlichen Göttlichen Wolthaten / und andern nützlichen Puncten. Auff sonderbahre gnädige Fürstliche Verordnung Für die Christliche Hauß=Väter / zu ihrer und der ihren Gottseligen Ubung […]. Gotha 1664, 18 f.). In discussing Johann Balthasar Schupp, who was the court preacher for Johann von HessenBraubach during the 1640s, Joachim Whaley commented: “in territorial units that were often so small that they can scarcely be dignified with the name of state the idea of a reformation of life under the direction of a God-fearing Christian prince was surely less utopian than it might have been in a larger and more complex state.” It is unclear whether Whaley had Duke Ernst in mind, but it does seem a fitting description (Joachim Whaley: Obedient Servants? Lutheran Attitudes to Authority and Society in the First Half of the Seventeenth Century. The Case of Johann Balthasar Schupp. In: Historical Journal 35, 1992, 27–42, here: 42). When later court preachers, like Philipp Jakob Spener (1635–1705), were discontent with the piety of their political leadership, then differing calls for reform emerged (Tanya Kevorkian: Piety Confronts Politics. Philipp Jakob Spener in Dresden, 1686–1691. In: German History 16, 1998, 145–164, here: 145).

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made it possible for others to see them as distinct entities and perhaps even separate them entirely. In the 1630s, Johannes Kromayer accused Brunchorst of being a heretic and bringing “neue Geister” to Saxony. Brunchorst maintained his orthodoxy throughout his life, but it seems that by the 1660s, something had changed. We see the change in the Werck der christlichen Disciplin described elsewhere in this volume and it is visible in the Christliche Vorstellung as well. Perhaps there were “neue Geister” in Gotha in the 1660s.

JOHANN HIERONYMUS WIEGLEB AND THE EXPERIENCE OF CONVERSION Jonathan Strom During much of the 1690s, Thuringia was at the center of conversionist ideas within German Pietism, and one of its leading advocates was Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1730). Wiegleb studied in Jena and then worked in Gotha at the Gymnasium for much of the 1690s as assistant rector. Moving to Halle in 1701, he became Diakon in the Glaucha parish just outside the city, rector of its school, and an intimate coworker of August Herman Francke (1663–1727).1 He brought with him a distinctive variety of conversionist theology from Gotha. Indeed, one of the bestknown tracts of Halle Pietism on conversion, Wiegleb’s Obstacles of Conversion (Hindernisse der Bekehrung), was first published in 1701 when Wiegleb was just leaving Gotha, and he dedicated the tract to his students there.2 In Gotha, Wiegleb had inculcated a particular conversionist ideology, one that at times could be controversial but also signaled some new directions for interpreting conversion experiences in early Pietism. This essay will focus on the question of Wiegleb and the experience of conversion in two senses. First, what was Wiegleb’s understanding of his own experience of conversion, an event or series of events on which he still reflected nearly forty years later?3 And second, what role did the actual experience of a conversion itself play in Wiegleb’s understanding of the process of salvation? All too often, questions of conversion within Halle Pietism have been fixated on the role of the Bußkampf and the exemplarity of August Hermann Francke’s own narrative. The Bußkampf or repentance struggle was hardly a fiction, but in the 1690s it was an occasional term, and its significance has been overplayed in the interpretation of Pietist conversion – especially in the period before August Hermann Francke’s death.4 Aland’s quip, that 1

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Wiegleb became a trusted associate of Francke in Halle, but he has found little attention in historical scholarship on Francke and Halle. A biographical sketch is found in Gustav Knuth: A. H. Franckes Mitarbeiter an seinen Stiftungen. Ein Beitrag zur Jubelfeier des zweihundertjährigen Bestehens der Anstalten A. H. Franckes. Halle/Saale 1898, 54–60. Still helpful is the autobiographical account published after his death (Johann Hieronymus Wiegleb: Des sel. Pastor. Wieglebs Christlicher Lebens= und Amts=Lauff, von ihm selbst kurtz vor seinem Ende entworffen. In: Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes [hereafter SAMR] 7, 1732, 821–831). Johann Hieronymus Wiegleb: Die Hindernisse der Bekehrung und des Christenthums […]. Halle 1701. Subsequent editions appeared again in 1709, 1710, and 1727, all in Halle. His conversion narrative dominated the autobiographical account that he composed at the end of his life. See Wiegleb, Lebens= und Amts=Lauf [s. note 1]. Bußkampf has no exact equivalent in English. In literature on Puritanism and English Protestantism, the notion of “travail” in conversion is an approximate correlate (see, e. g., D. Bruce

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the Bußkampf (repentance struggle) became the Bußkrampf (repentance cramp), is witty but also fundamentally misleading.5 It projects later criticisms on earlier times, but it also elides particularly important emphases on sanctification and perfectionism that were quite apparent in early Pietism and especially Wiegleb’s case. What is more, Francke’s own autobiographical narrative was never well-known, either before his death or for much of the eighteenth century.6 Wiegleb, and especially his time in Erfurt and Gotha, affords us the opportunity to reassess this. 1. WIEGLEB’S CONVERSION Wiegleb was born in Pferdingsleben in Thuringia in 1664, just a year later than August Hermann Francke. His father was a schoolteacher, but though the family was of modest means, he had an elite, academic education. Wiegleb attended the Gymnasium in Gotha and embarked on his university studies in Jena. There he studied under Caspar Sagittarius (1643–1694) and came into contact with the nascent Pietist movement.7 Wiegleb dated the beginning of his conversion to Jena, in which he came to recognize the depths of his sinful nature. He described how his heart and mind were humbled and how he wrestled in prayer with the hope that God would save him, but it wasn’t until he went to Erfurt in 1691 to visit Francke, whom he had encountered earlier, that his conversion occurred. Wiegleb described Francke as “das gesegnete Instrument” that God employed. After revealing his spiritual state to Francke, his mentor instructed him that the only way out of his “sündlichen Verderben“ was belief in Christ Jesus.8 Wiegleb reported a dramatic shift as he grasped that he could do nothing for his sinful condition, only Christ could. He wrote: Mein Hertz war voll Friede und Freude im Heiligen Geist, und nicht nur versichert der Vergebung aller meiner Sünden, sondern auch von der Herrschaft derselben befreyet, und dergestalt

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Hindmarsh: The Evangelical Conversion Narrative. Spiritual Autobiography in Early Modern England. Oxford 2005, 52), but it lacks the reference to Buße or repentance that was central to the Lutheran tradition. In English it is often translated as “repentance struggle” or “penitential struggle.” For a fuller discussion of the Bußkampf in German Pietism, see Jonathan Strom: Pietist Experiences and Narratives of Conversion. In: A Companion to German Pietism. Ed. by Douglas H. Shantz. Leiden and Boston 2015 (BCCT, 55), 293–318, here: 301–305, 313 f., and Jonathan Strom: Pietism and Conversion in Dargun. In: PuN 39, 2013, 150–192, here: 155–170. “Dadurch, daß das, was bei ihm echt war, zum Gesetz erhoben wurde, kamen Zwang und Künstlichkeit hinein und wurde der Bußkampf zum ‘Bußkrampf.’” Kurt Aland: Bemerkungen zu August Hermann Francke und seinem Bekehrungserlebnis. In: Id.: Kirchengeschichtliche Entwürfe. Alte Kirche, Reformation und Luthertum, Pietismus und Erweckungsbewegung. Gütersloh 1960, 546–567, here: 563. Lebensläufe August Hermann Franckes. Autobiographie und Biographie. Ed. by Markus Matthias. Leipzig 22016 (EPT, 9), 144–147. For a brief summary, see also Strom, Pietist Experiences [s. note 4], 300–305, and Id.: German Pietism and the Problem of Conversion. University Park 2018 (Pietist, Moravian, and Anabaptist Studies). Regarding Wiegleb’s complicated relationship with his teacher Sagittarius and the early Pietist movement, see Johannes Wallmann: Der Pietismus an der Universität Jena. In: PuN 37, 2011, 36–85, here: 53–55, 58, 67, 80 f., 85. Wiegleb, Lebens= und Amts=Lauf [s. note 1], 826.

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geändert, daß ich den HErnn Jesum hertzlichen lieb gewonnen, und mich sofort ernstlich entschlossen, alles ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste zu verleugnen und züchtig, recht und gottselig zu leben in dieser Welt, und also zu warten, auf die Offenbarung des HErrn Jesu vom Himmel.9

This experience marked the narrative turning point of Wiegleb’s autobiographical account. The encounter set him on a new path of immersing himself in the Scriptures and the Lutheran confessions in the weeks afterwards, in which he recognized, citing Tobit 2 from the Apocrypha of the Luther Bible: “Wir sind Kinder der Heiligen.”10 Wiegleb described his move to study in Halle in the fall of 1691 and then his appointment in the spring of the next year as Subkonrektor, assistant rector, of the Gymnasium in Gotha as an almost direct consequence of his conversion. He saw his vocation there in light of this profound change in his life, in which, alongside his academic instruction, he sought to inculcate the fundament of divine blessedness (Gottseligkeit) in his students, just as he had himself experienced through God’s grace.11 He saw it as his task not just to explain the theory of Gottseligkeit, but to show how repentance and faith must be expressed in the denial of all ungodly ways and worldly lusts and in the practice of Christianity.12 While Wiegleb spent considerable time describing his call to Gotha as Subkonrektor as an outcome that followed upon his conversion, the rest of his nearly forty years of professional life receives remarkably scant attention in his autobiographical account. For instance, he mentions his call to Halle in 1701 as Diakon and Rector and subsequent call as senior pastor in just a few sentences, all of which again reinforces the narrative turning point of the autobiographical account as the conversion in Erfurt.13 There are some methodological issues in assessing Wiegleb’s conversion account. The version we have dates from the end of his life. Its title in the Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes states that it was written shortly before his death in 1730, though internal evidence would suggest that the conversion narrative portion of it relies on an earlier, written account composed around 1692. It fits a pattern of many Pietist conversion narratives in which an advocate – in this case August Hermann Francke, “das gesegnete Instrument” – played a critical

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Ibid., 827. Tob 2,17.18. Most editions of English language Bibles omit these later verses of Tob 2. However, in editions of Luther’s translation from the sixteenth and seventeenth centuries, the passage appears as: “Denn wir sind kinder der Heiligen / vnd warten auff ein Leben / welchs Gott geben wird / denen so im glauben starck vnd feste bleiben fur jm.” Contemporary versions of the Luther Bible continue to include these verses, but the passage does not have an equivalent in English translations of the Apocrypha among Protestants, including the King James Version, which ends Tob 2 with verse 14. Contemporary English Bibles for Catholics such as the New American Bible do not include it, but an equivalent translation is found in the older Douay Rheims Bible, Tob 2,17 “For we are the children of the saints, and look for that life which God will give to those that never change their faith from him.” Wiegleb, Lebens= und Amts=Lauf [s. note 1], 829. Ibid., 829. Ibid., 829–831.

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role in guiding and facilitating the conversion process.14 It is also typical in that the narrative seeks to anchor the conversion experience in the Lutheran confessional tradition and is written in the first person, which was characteristic in Lutheran Pietism only for those who had theological training.15 It also comports with much of what Wiegleb said about conversion in his tracts, which may suggest that Wiegleb modified it to fit his later conception of conversion or that Wiegleb based his understanding of conversion on his own experience. Of course, no matter when it was drafted or conceived, this account is in fact a record of what Wiegleb wanted others to know about his conversion; it is not a record of the experience itself. Wiegleb dated his conversion to a period in the early 1690s when a number in the circle around Francke and Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) in Erfurt experienced conversion or a conversion-like event and composed written accounts of them. It is, of course, at this same time that Francke composed his own now-famous narrative of his 1687 experience in Lüneburg.16 Explicit conversion accounts were exceedingly rare in Lutheranism prior to the early 1690s, and even among the older generation of Pietists, accounts of conversion were hardly required, as the cases of Philipp Jacob Spener (1635–1705), Joachim Justus Breithaupt, or Paul Anton (1661–1730), all prominent leaders in the early Pietist movement, illustrate.17 Moreover, the idea of a powerful period of repentance followed by conversion is not exclusively Pietist. What was unusual and reflective of Wiegleb’s early conversion was the sense of sanctification and even perfectionism that was implicit in a true or, as Wiegleb later put it, “eine rechtschaffene Bekehrung.”18

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Ibid., 826. On this point, see Strom, Pietist Experiences [s. note 4], 312. On the dating of Francke’s narrative to Erfurt in late 1690 or early 1691, see Matthias, Lebensläufe [s. note 6], 137 f. In addition to Francke’s narrative, extant manuscript accounts are found from around this time among Francke’s circle for Georg Heinrich Brückner (1652–1700), Nikolaus Fratzscher, and Hans Ludwig Nehrlich (1653–1730) (ibid., 140; see also Strom, Pietist Experiences [s. note 4], 301). There is no manuscript for Johann Anastasius Freylinghausen’s (1670–1739) conversion from this period. However, like the later published account of Wiegleb, Freylinghausen dated his transformation to Erfurt in the early 1690s and likely relied on an earlier account composed then. Freylinghausen described this transformation in the Lebenslauf, published on the occasion of his death (Wohlverdientes Ehren=Gedächtniß Des Um die Kirche Christi treuverdienten Theologi. Deß weyland Hoch=Ehrwürdigen, in Gott Andächtigen und Hochgelahrten Herrn, Herrn Johann Anastasii Freylinghausens. Halle 1740, 34 f.; cf. Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Halle/ Saale 2014 (HaFo, 36), 55–61). See Spener’s autobiographical account in Conrad Gottfried Blanckenberg: Das Leben der Glaubigen [sic] […]. Frankfurt/Main 1705, 28–43; Breithaupt’s autobiography appears in a modern edition in Joachim Justus Breithaupt (1658–1732). Aspekte von Leben, Wirken und Werk im Kontext. Ed. by Reimar Lindauer-Huber and Andreas Lindner. Stuttgart 2011 (Friedenstein-Forschungen, 8), 23–54. Paul Anton’s biographical sketch by Breithaupt is found in SAMR 8, 1733, 915–925. See below, note 43.

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2. WIEGLEB AND CONVERSIONS IN GOTHA Shortly after his encounter with Francke and Breithaupt in Erfurt, Wiegleb was briefly in Halle as a student and then in the spring of 1692 was appointed Subkonrektor in Gotha at the Gymnasium, where he himself had been a pupil. Pietists there already had an advocate in Generalsuperintendent Heinrich Fergen (1643–1708).19 Shortly after Wiegleb arrived, Gottfried Vockerodt (1665–1727), a friend to the Pietist movement, became Konrektor. Gotha was the city where Francke grew up, his mother and sister still lived there, and Francke retained strong ties to the city. It also became a dynamic center of early Pietism. As assistant rector of the town’s Gymnasium, Wiegleb appears to have brought a strongly conversionist bent with him to Gotha. Not long afterward, stories began circulating about Wiegleb and conversion. The widely-read if infamous 1693 exposé of Pietist practices, the Außführliche Beschreibung Des Unfugs, combined reports of Pietist excesses with many exaggerations and unfounded rumors. It described emotional scenes and unconventional conversion practices in Gotha. The author of the exposé described how, during a conventicle led by Wiegleb, a young man from Erfurt fainted amid his “fervor for conversion,” and had to be carried out, and how Wiegleb praised this. The exposé further asserted that Wiegleb and others made slips of paper, some with “harsh” phrases, some with “good” phrases, and finally some with the “best” phrases, and had the participants draw lots for them. They supposedly judged those receiving the “harsh” slips of paper as unconverted, considered those with the “good” slips half-converted, and those with the “best” slips were determined truly “illumined” and fully-converted.20 There is much to be skeptical of here, and defenders of Wiegleb from Gotha, including Fergen, disputed the account’s veracity, arguing that an inquiry had disproved these allegations.21 It is perhaps worth noting that, in the eyes of opponents, the objections to Pietist conversion were not about a sober turn to repentance or fundamental change in morality, something non-Pietists could endorse,22 but a kind of enthusiastic fervor and supernatural intervention in the drawing of lots, which sorted these Pietists almost magically into their spiritual categories. 19

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Ernst Koch: Generalsuperintendent Heinrich Fergen und die Anfänge des Pietismus in Gotha. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Ed. by Wolfgang Breul-Kunkel and Lothar Vogel. Darmstadt and Kassel 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 5), 189–211. [Johann Benedict Carpzov]: Außführliche Beschreibung Des Unfugs / Welchen Die Pietisten zu Halberstadt im Monat Decembri 1692. ümb die heilige Weyhnachts-Zeit gestifftet. S. l. 1693, 79. Heinrich Fergen: Waarhafftiger Bericht / an statt einer gründlichen Beantwortung / auff die unverdiente Beschuldigungen / damit Er und unterschiedliche andere mehr in Gotha in einer Lästerschrifft genannt Ausführliche Beschreibung des Unfugs / welchen die Pietisten zu Halberstadt gestifftet [e]tc. Des so genannten Pietismi halber beleget worden […]. Jena 1694, 131 f. See for instance, on Johann Olearius, Eberhard Winkler: Christen als Minderheit – bei August Hermann Francke und heute. In: Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle. Ed. by Udo Schnelle. Berlin 1994, 399–420, here: 405.

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Like many caricatures, though, there was perhaps some element of truth, if distorted, to this portrayal. Wiegleb did care about conversion. In a confession of faith, which he and three others composed in 1693 but did not publish, Confessio Oder Glaubens=Bekäntniß derer Pietisten in Gotha, Wiegleb and his fellow Gotha Pietists spoke of a powerful experience of rebirth, in which the individual was reborn “durch das Wort als einen lebendigen Saamen” and in which through prayer, the individual could “sein ganzes Leben in der Wiedergeburth durch Beystand des Heiligen Geistes also führen.”23 What disturbed the anonymous critic of Wiegleb and the other authors of the response to the Confessio was less the idea of a conversion or that one could fall out of the baptismal covenant, but more the incipient perfectionism through which the converted or newly-reborn could avoid sin.24 Later, Wiegleb was at the center of several controversies about conversion at the Gotha Gymnasium, where it appears he deliberately fostered a conversionist atmosphere. I have found no authentic conversion narratives from this period, but there is ample evidence that there was a drive towards conversion experiences among the Gymnasium’s students and that Wiegleb played a key role in fostering this atmosphere. The closest thing to a conversion narrative from this period is a document in the dossier that was assembled against Wiegleb and Vockerodt on the issue of conversion. The account ostensibly describes the conversion of Johann Christian Graetzler.25 Yet on closer inspection, though it has the outward appearance of a conversion narrative, it is in fact mocking conversion practices in the Gymnasium. The student, who had recently returned to Gotha, reported how the teachers (presumably Wiegleb) had sent another student, Poppo Sebastian Wöllner, to convert him and reintegrate him into the community. Wöllner supposedly promised Graetzler that if he were to follow his directions, within eight days, he could receive a completely different heart and be converted. Graetzler described how the older student sought to prevent him from going home until he had converted and wanted him to return the next day to continue their prayer and beseeching of God. Graetzler did return, and he explained how the next morning Wöllner prayed for nearly an hour in front of the stove with his face turned up toward the ceiling, gesticulating wildly and uttering deep sighs. Finally, he allowed Graetzler to return home, admonishing 23

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The Confessio was published without their consent by their opponents (Confessio Oder Glaubens=Bekäntniß derer Pietisten in Gotha. Sampt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken. S. l. 1693, 7). Briefly to the Confessio, see also Paul, Freylinghausen [s. note 16], 174–178. Confessio [s. note 23], 37 f. A further response to the critic of the Confessio indicates that perfectionism was largely the controversial issue at stake, not conversion per se (Bescheidentliche Beantwortung Der Neulicher Zeit an Tag gekommenen Schrifft / Welche Ein Liechtscheuender unter den Nahmen Confessio Oder Glaubens-Bekäntnüß derer Pietisten in Gotha / Samt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken / herausgegeben. S. l. 1693, 9–13). In a document entitled: “Descriptio convertendi Joh. Chri. Graezlerum” and dated 12/8/1694, Johann Christian Graetzler ostensibly described in two “acts” the attempt to convert him. Though his report has the character of a conversion account, it nonetheless appears to criticize, if not outright satirize, the conversionist attempts in Gotha, especially the intensive practices of prayer and the peer pressure of other students (ThStAG Oberkonsistorium Loc 17, Nr. 20, 119r–120r).

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him to convert himself for, as he told Graetzler, he did not know the joy that awaited him until he converted.26 The account ends abruptly, with the assurance that a fellow student could vouch for the accuracy of the first “act.” This account provides an outsider’s skeptical view of Pietist practices of conversion in Gotha. Here the suggestion is that conversion is something that could be manufactured within a set number of days, provided that one followed specific practices, the clear implication being that Pietists believed conversion was something an individual could effect, if he or she only wanted it enough and followed the proper regimen of prayer and other practices. Whether accurate or not, this mock conversion account underscores that there was an intense conversionist atmosphere among the students at the Gymnasium in Gotha. There were several stories of strong pressure to convert at this time.27 Probably the most damaging story to come out of Gotha was a failed conversion in the summer of 1695 in which a young student, Johann Wendelin Meidinger (* 1680), sought to hang himself out of despair over his unconverted state. The circumstances of the young man’s suicide attempt remain controversial. His father, Georg Meidinger (1647–1718), himself a village pastor, clearly pointed a finger at the conversionist tactics Wiegleb fostered at the school and the Pietist literature circulating in the Gotha Gymnasium.28 In July 1695, the father appeared before the consistory to complain about Wiegleb and his son’s experience. He told the consistory how fellow students from the Gymnasium sought to pressure his son to “join the brotherhood,” as they put it, and to convert himself. When the young Meidinger rebuffed them, calling them hypocrites (“Heuchler”), the others reported this to Wiegleb, who summoned the young man and sought to move him to conversion. According to the father’s testimony, Wiegleb remonstrated with the boy, saying that if he wanted to remain in his current condition and would not convert, all would be lost for him and that he would be damned. Wiegleb supposedly went so far as to call him a child of the devil (“Teufelskind”), and say that he could even see the devil peering out at him from his eyes. The despondent boy thereupon sought to hang himself with his garter straps, but only was prevented from doing so at the last minute by a vision of a blackboard with Hebrew letters written on it. When he told his classmates of this, they notified Wiegleb, who then summoned young Meidinger. According to the father, Wiegleb and Vockerodt compelled the young man to compose a deposition that absolved Wiegleb and the Pietist party of the Gymnasium from any responsibility in the suicide attempt, blaming instead his poor upbringing and bad company for his melancholy.29 On the basis of the documents available to us, we may never be able to resolve questions of what precisely occurred and who carried responsibility. There is good 26 27

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Ibid., 120r. One inquiry conducted by Pietist opponents describes a student who fell into melancholy (“Schwermut”) about his lack of conversion and feared that he had committed a sin against the Holy Spirit, writing he was suffering “in der Helle” (ThStAG Oberkonsistorium Loc 17, Nr. 20, 171r). Ibid., 172r–173v. Ibid., 187r.

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reason to grant the account by Meidinger’s father more credibility, as Miriam Rieger suggests, but what is apparent, regardless of which account one chooses to believe, is that conversionist ideas and practices seem to have been wide-spread in Gotha, especially at the Gymnasium.30 Insiders and outsiders gave different perspectives on this, but both seem to have underscored the centrality of conversion and the possibility of some unintended consequences. This was perhaps a period of experimentation for conversion practices – and at roughly the same time in Berlin there were a number of ardent conversionists around Johann Caspar Schade (1666–1698), like Johann Porst (1668–1728), who later regretted his obsession with converting others, labeling it “Bekehrsucht.”31 One of the charges outsiders leveled against the Gotha Pietists was not conversion per se, but the idea that it was possible to bring oneself to conversion through one’s own powers, assuming one pursued certain practices of prayer and devotion and sought to terrify the individual sufficiently.32 Another charge that dogged Wiegleb and other Pietists in Gotha in the mid1690s was the idea that the converted, the truly regenerate, could avoid sin. This had been an issue raised against Wiegleb’s view of conversion since the early 1690s, and their opponents continued to press their case on this point. One individual complained to the consistory that when Francke had visited Gotha in 1695, he had propounded this view in his interpretation of Rom. 7,22.33 This may be a tortured reading of Francke’s comments, but in a number of tracts and treatises following these controversies, Wiegleb responded to these concerns in a way that is revealing about his understanding of conversion and conversion experiences. 3. WIEGLEB’S UNDERSTANDING OF CONVERSION In his Haupt=Summa der Christlichen Lehre, a 1697 short tract that he intended as an adjunct to Luther’s small catechism, Wiegleb incorporated conversion into his understanding of the Christian life, making it a central part of coming to faith. But although Wiegleb emphasized the necessity of repentance before coming to Christ, there is no schematic presentation of conversion here and no mention of a Bußkampf. To counter the allegation that it was through one’s own power that one

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Rieger is especially skeptical of the response of Wiegleb and Vockerodt (Miriam Rieger: Eine pietistische Ausbildungsstätte? Der Streit um das Gymnasium Illustre um 1700. In: Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Ed. by Sascha Salatowsky. Gotha 2013 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 49), 89–95). Prior to his own, “true” conversion in 1698, Porst denigrated his earlier efforts to effect conversion in others during the 1690s as a “heftige Bekehrsucht,” a heavy obsession to convert, that nearly led him into all manner of “disorder” (Johann Porst: Des sel. Probst Porstens zu Berlin [göttliche Führung, J. S.]. In: SAMR 9, 1733, 71–87, here: 82). One of the Gotha critics of the Pietists noted: “Das die Bekehrung diese ihren eigenen Krafften zuschreiben, ist aus ihren Wortten und praxi zu erkennen, in dem sie rathen und rühmen auf gewiße Zeit sich zu ängstigen.” (ThStAG Oberkonsistorium Loc 17, Nr. 20, 101r). The anonymous individual portrayed Francke’s understanding of Rom 7,22 as contrary to Paul but akin to the views of Photinians, Arminians, and Quakers (ibid., 101r–v).

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could be converted, Wiegleb emphasized that conversion is solely God’s work.34 He did not stress here the need to account for conversion experiences in narrative form or the precise dating of conversion experiences. What remained was a strong emphasis on sanctification and opposition to sin that marked the life of the truly converted and regenerate Christian, whose ongoing renewal, Wiegleb explicitly argued, ultimately tended to perfection in this life.35 Wiegleb’s Hindernisse der Bekehrung was first published in 1701 in Halle, and was reprinted again in 1709, 1710, and 1727, making it one of the most popular tracts on conversion in Halle Pietism.36 Wiegleb was not an especially subtle writer here. The bulk of the tract consists of long lists of reasons that individuals failed to recognize the need for conversion, mistakenly believing that regular participation in worship and the sacraments sufficed for salvation, misreading particular Bible passages such as Rom. 7, 19 to conclude that avoidance of sin is impossible, even after conversion,37 that divine grace and mercy is so bountiful that no special conversion is required, or that one could take comfort from death-bed conversions or the story of the thief on the cross.38 Wiegleb was at times repetitive, and often his answers consisted of Biblical proof texts and citations from the Lutheran confessions, but his goal was to create a catalogue of almost every possible objection to individual conversion and then refute it on the basis of Scripture, the confessions, and his ascetic interpretation of Lutheran theology. There is no question that Wiegleb saw conversion as an imperative for any Christian who would be assured of his or her salvation. But on several points, Wiegleb moved in some intriguing directions with regard to conversion. In this tract, Wiegleb downplayed the experience of conversion. There is almost no reflection on the conversion experience itself, no drive to formulate conversion narratives or detail the moment or date of conversion. On the one hand there is a return to the older Lutheran formulation of Buße und Bekehrung, repentance and conversion, which did not identify conversion with a temporal moment or binary change from one state to another. At times, for instance, Wiegleb almost identified the two, Buße und Bekehrung, as synonymous expressions of the New Testament term metanoia.39 But on the other hand, Wiegleb also emphasized throughout the 34 35 36

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Johann Hieronymus Wiegleb: Die Haupt=Summa der Christlichen Lehre zu einem kurtzen, iedoch deutlichen, gründlichen und ordentlichen Begriff aller Glaubens Artickel in Frage und Antwort verfasset. Halle 1697, 32–36. Ibid., 55–60, especially 60. See note 2 above. Citations are here to the 1709 edition in which two tracts appeared together: Johann Hieronymus Wiegleb: Vorstellung I. der Hindernissen Der Bekehrung und des Christenthums, samt den gewöhnlichen Ausflüchten der Leute; II. der überschwenglichen Herlichkeit des Evangelii, und der mancherley List des Satans, dieselbe den Menschen zu verdecken. Halle 1709. Rom 7,19: “For I do not do the good I want, but the evil I do not want is what I do.” (NRSV). Wiegleb, Hindernisse [s. note 36], 40, 45, 151, 190 f. Ibid., 1, 69. This is an older sense of conversion that Althaus identified with sixteenth-century Lutheranism. “Die Bekehrung oder tägliche Buße ist nichts anderes als im Leben fortgehend realisiertes Taufgeschehen” (Paul Althaus: Die Bekehrung in reformatorischer und pietistischer Sicht. In: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 1, 1959, 3–25, here: 13).

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treatise the notion of a rechtschaffene Bekehrung, of an upright or righteous conversion, as if there were the possibility of an unrighteous conversion.40 This may seem like a minor point, yet it alludes to the problem of a conversion experience itself in Pietism, in which a conversion could appear to be a true turn toward God and yet in some respects that very experience itself could be deceiving. Indeed, the problem of self-deception with regard to conversion is something that Francke discussed in his preface to Wiegleb’s tract Erbaulicher Unterricht vom rechten Grund und Gebrauch des Catechismi Lutheri that appeared in 1697, a year before the first edition of Wiegleb’s Hindernisse der Bekehrung.41 This concern regarding a false perception of one’s conversion led Wiegleb to emphasize the subsequent Christian life as the true warrant of a real conversion. Over and over, Wiegleb stressed that a true or righteous conversion is demonstrated by a holy life and the practice of true Christianity. If individuals lack this, Wiegleb noted, “verrathen sie sich selbst, daß sie den lebendigen Glauben an Jesum nicht haben, und keine wahre Christen, sondern noch unbekehrt und fleischlich gesinnet seyn.”42 The emphasis on the sanctification of the truly converted is one of the dominant themes that runs through Wiegleb’s Hindernisse der Bekehrung. Wiegleb maintained that one of the surest ways to conclude that one is not converted is that sin continues to rule one’s life and that the evidence of a holy life is lacking. He spent a great deal of time dismantling misunderstandings whether from Scripture, that seven times a day a righteous man falls (Prov 24,16) or from the idea that Christ’s merit is so powerfully efficacious that our actions are irrelevant. As he summarized, “Denn ohne rechtschaffene Bekehrung und ohne sorgfältige Ubung eines wahren Christenthums ist es unmöglich ein wahrer Christ zu seyn.”43 Wiegleb’s discussion of perfection is more muted, perhaps, than in the Haupt= Summa just a few years earlier. But he argued against the misconception that perfection, Vollkommenheit, was an impossible goal that Christians should not pursue. Those who argued in this fashion, Wiegleb asserted, were patently not serious about their Christianity and their sanctification. Those who receive the grace of Christ, Wiegleb argued, should pursue perfection and strive with that very grace to become a perfect man (“ein vollkommen Mann”).44 Indeed, Wiegleb saw it as one of the stumbling blocks to conversion, that “Schalks-Knechte, die das Werck der Buße und Bekehrung gar nicht angreiffen, sondern lieber in ihrem unbekehrten Zustande und ohne alle rechtschaffene Ubung des Christentums bleiben wollen” cite the impossibility of perfection as a reason to remain in their current state.45 Wiegleb saw 40 41

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Wiegleb, Hindernisse [s. note 36], see e. g., 11, 31, 74, 81, 88. Francke here repeatedly emphasized the different ways that individuals might imagine that they were indeed truly converted and yet be fundamentally mistaken (August Hermann Francke: Preface to Johann Hieronymus Wiegleb: Erbaulicher Unterricht vom rechten Grund und Gebrauch des Catechismi Lutheri / Aus der Heil. Schrifft / Luthero selbst und den Symbolischen Büchern gezeiget. Halle 1697, ar–[b5v]). Wiegleb, Hindernisse [s. note 36], 18. Ibid., 61. Ibid., 50. Ibid., 179.

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conversion as beginning with sincere repentance but not remaining stuck there; rather it progressed so that one could mortify the flesh, lusts, and desires, and, with grace, lay aside sin and continue with one’s sanctification.46 Wiegleb considered the idea that for the converted it is impossible to live a fully Christian life and be sanctified a misguided delusion. “Wendet ihr nun hier in diesem Leben keinen rechten Ernst im Christenthum an und jaget der Heiligung nicht fleißig nach, so verleugnet ihr die Kraft Christi und seines Evangelii.”47 For Wiegleb, a “rechtschaffene Bekehrung” is demonstrable through its fruits and much less so through the quality of the experience itself. We can see a certain de-emphasis of the conversion experience itself in the spiritual biographies that Wiegleb composed for his son Johann Andreas (1695– 1716) and his wife Anna Catharina (1659–1719) upon their deaths. These Lebensläufe, which appeared with the funeral sermons, were later reworked by Erdmann Heinrich Henckel von Donnersmarck (1681–1752) into the genre of the so-called Last Hours, Letzte Stunden.48 In both of these works, although they gave accounts of the individuals’ spiritual biographies, the narrative focus was not on an earlier conversion experience – neither account included even the mention of one – but rather on the struggle of the final days and weeks of their lives. Both were depicted as belonging to the regenerate. His son, who died at 21, is described as being godly from an early age, and as he grew older, the working of God’s spirit in him became ever more apparent. His early death from a consumptive disease is characterized as a testimony to the strength of his faith and humility. His was an exemplary case but one without an explicit conversion.49 The same is true of Wiegleb’s description of his wife, Anna Catharina, whose faith and struggle during the process of dying form the narrative highpoint of her spiritual biography as well. Here, long-standing physical infirmity tracks a corresponding rise in her piety, and again, the narrative turning point of the account is the struggle of faith that she faced on her deathbed, which, of course, she overcame.50 Wiegleb still had some recourse to describe conversion experiences. In 1700, he wrote at length about a noblewoman’s near-conversion experience, in which he used the phrase to go into her Christianity (“in das Christenthum ein[gehen]”) as a synonym for the experience of the conversion breakthrough, though he did not employ the word conversion, Bekehrung.51 And in the late 1720s he revised and prepared his own conversion account.

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Ibid., 205 f. Ibid., 207. Erdmann Heinrich Henckel von Donnersmarck: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen und in diesem und nechst verflossenen Jahren selig in dem Herrn Verstorbenen Persohnen […]. 4 vols. Halle 1720–1733. Ibid., vol. 2, 224 f. Ibid., vol. 1, 285–300. Letter of Johann Hieronymus Wiegleb to August Hermann Francke, 3/3/1700 (AFSt/H C 243: 66).

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4. CONCLUSION Wiegleb’s changing understanding of the conversion experience underscores that there was no set or hard schematic pattern for conversions in early Pietism of the 1690s and early 1700s. This was even the case among those closely allied to Francke and Halle Pietism such as Wiegleb, whose conversion occurred under Francke’s direct influence and who was his ally from the early 1690s, later becoming a coworker in Halle. There is no mention at all of a repentance struggle or Bußkampf in Wiegleb’s own writings on conversion, nor does it appear in the controversies about Wiegleb and conversion in the 1690s. Certainly there are some analogues, such as the language of godly grief (“göttliche Traurigkeit”) and repentance from 1 Cor 7 as well as, of course, frequent reference to contrition (“Zerknirschung”), but these are biblical references that are part and parcel of the older Lutheran tradition of repentance theology.52 For this reason, reductive characterizations of conversion in the Halle tradition as a rigid or schematic Bußkampf model not only miss the nuance but risk distorting the range of understandings of conversion and conversion experiences in early Pietism. The theological controversies with regard to Wiegleb and conversion in the 1690s had instead much more to do with the idea that an individual had the power to convert him- or herself as well as with the issue of perfectionism among the converted and regenerate. It is questionable whether Wiegleb ever espoused the idea that one had the power to convert oneself, but the undue pressure to convert and the statements of some of his followers in Gotha did seem to imply to outsiders that this was the case, as when Wöllner allegedly suggested to Graetzler that if he were to follow his instructions he would be converted and have a new heart within eight days. In his tracts, including the Haupt-Summa and the Hindernisse der Bekehrung, Wiegleb explicitly addressed this. But on the issue of perfectionism, Wiegleb was, perhaps, more susceptible to criticism from outsiders. Many of the earliest complaints against Wiegleb on conversion focused on the implication that the truly converted und regenerate were unable to commit mortal sins. Wiegleb’s perfectionism was not that of some radicals that led in an antinomian direction and for whom the commandments no longer applied, but rather his form of perfectionism suggested that there would be an obvious congruence of observing God’s law and commandments and the condition of true conversion. Wiegleb appeared to modify or, at the very least, clarify his position in his tracts of the later 1690s and early 1700s. Perfection remained the goal in this lifetime, and it was conversion that launched one onto the path of sanctification and the practice of true Christianity, aspects that remained decisive indicators of a true conversion. Rather than being preoccupied with the quality and depth of one’s repentance as some Pietists were in the 1730s and 1740s when the debates regarding the Bußkampf flared,53 Wiegleb concentrated much more on the Christian life after conversion. On this, Francke re-

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For example, see Wiegleb, Hindernisse [s. note 36], 4, 128. See on these debates, Strom, Pietism and Conversion in Dargun [s. note 4], 165–171.

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mained somewhat more circumspect than Wiegleb and particularly warned against the problem of self-deception.54 This points in turn to a larger concern among Pietists in this era about what constitutes a true conversion. Wiegleb’s language of “rechtschaffene Bekehrung” suggests some uneasiness around this. Having an experience of conversion, even a powerful experience, was no guarantee that one was truly converted or would remain among the regenerate. This accounts in part for why Pietists like Wiegleb and for that matter August Hermann Francke were so hesitant to publish narratives of conversion, especially of living individuals. Wiegleb and Francke would have encountered more than one individual who had had apparent conversions but turned heterodox or even relapsed. A drive for conversion remained, but this stood in some tension with the skepticism about conversion experiences as such during this period of Pietism. Finally, this suggests that Pietist circles in Gotha under Wiegleb’s influence functioned as a kind of proving ground for certain practices of conversion in early Pietism that did not always succeed, and from which many Pietists, including Wiegleb himself, later distanced themselves. We know Francke was certainly well-informed about events in Gotha, and he could be critical of overzealous attempts at conversion, especially with children.55 Energetic conversionist practices in Berlin at roughly the same time, which Porst, no opponent of conversion, later regretted as “Bekehrsucht,” may have reinforced some of these attitudes as well, which led to a certain reticence with regard to conversion experiences within Halle Pietism. Ironically, perhaps, it was the publication of conversion narratives like Wiegleb’s and Porst’s in the Pietist periodicals of the 1730s such as the Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes that sparked new interest in narrating the experience of conversion in the 1730s, leading to new debates about the role and place of conversion experiences among Pietists.

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Francke especially stressed this in one of his manuscript sermons (Die Scharfe[n] Augen Christi in Beurtheilung einer wahren und falschen herzensbekehrung, 1722 [AFSt/H M 15b: 261]). Francke called this an “unzeitige Bekehrungssucht” (August Hermann Francke: Idea studiosi theologiæ oder Abbildung eines der Theologie beflissenen, wie derselbe sich zum Gebrauch und Dienst des HErrn zu allem guten Werck gehöriger Maassen bereitet […]. Halle 1712, reprinted in Gustav Kramer: A. H. Francke’s pädagogische Schriften. Nebst der Darstellung seines Lebens und seiner Stiftungen. Langensalza 1885, 437–502, here: 470).

II ETABLIERUNG UND KONSOLIDIERUNG: PIETISMUS IN DER THÜRINGISCHEN FRÖMMIGKEITSLANDSCHAFT

AHASVER FRITSCH’S CONCEPTION OF CHRISTIAN RENEWAL COMPARED WITH SPENER’S Douglas H. Shantz 1. INTRODUCTION Ahasver Fritsch’s Importance Along with Gräfin Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1637–1707), Ahasver Fritsch (1629–1701) played a key role in shaping the piety of the Rudolstadt court over the second half of the seventeenth century. In addition to his leadership in the Church and civic life of the county of Schwarzburg-Rudolstadt in Thüringen, Fritsch was on intimate terms with Philipp Jakob Spener (1635–1705) from 1673 on. On April 5, 1675, Spener sent Fritsch a copy of his foreword to Arndt’s Postills, later published as Pia Desideria, making Fritsch among the first to read Spener’s manifesto.1 Recognized as “one of the most prolific authors of his day,”2 Fritsch published over 300 German and Latin writings in the fields of history, law, and religion.3 Of these, some 177 titles are devoted to theological and devotional subjects.4 He also composed hymns, including “Gott ist und bleibt getreu” (1695). In contrast to Spener, who sought to reform the Church from within by encouraging the godly, Ahasver Fritsch sought to promote a broad-based renewal within Christendom as a whole. He lamented the lack of love of neighbor, which pointed

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Johann Arndt: Postilla, Das ist: Geistreiche Erklärung Der Evangelischen Texte / durchs gantze Jahr […] Nebens einer neuen Vorrede an den Leser von gegenwertiger Edition, Hn. Philipp Jacob Speners […]. 2 vols. Franckfurt am Mayn 1675 [Jehna 1616]; Philipp Jakob Spener: Pia Desideria: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der Evangelischen Kirchen. Franckfurt am Mayn 1676 [1675]. Detlef Ignasiak: Das Politik- und Religionsverständnis Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha-Altenburg (1640–1675) im Spiegel kulturkritischer Schriften von Veit Ludwig von Seckendorff und Ahasverus Fritsch. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Ed. by Dieter Breuer. Vol. 1. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 25), 153–161, here: 153. “Seine Schriften, an Zahl gegen 300, sind historischen (auch zur Erläuterung der Geschichte Schwarzburgs und der vaterländischen Rechte dienend), antiquarischen, juristischen, besonders auch publicistischen und germanistischen Inhalts, zu denen auch sehr viel geistliche, ascetische und paränetische hinzukommen” (Ernst Anemüller: Fritsch Ahasver. In: ADB 8, 1878, 108 f. URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119285452.html#adbcontent [5/20/2018]). Carl Friedrich Moser: Biographie. In: Kleine Schriften des […] Ahasverus Fritsch […]. Coburg 1792, 5–40, here: 29.

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to a lack of true Christianity.5 Fritsch was convinced that prominent members of society with great responsibility, such as princes, nobles, and those in high office, would have to face stricter judgment from God.6 2. SCHOLARLY NEGLECT OF AHASVER FRITSCH AND PIETISM IN THÜRINGEN As far back as 1928, Theodor Wotschke lamented the neglect of Thüringen among Pietism scholars. He noted that vast regions of German Protestantism go unmentioned in Albrecht Ritschl’s three-volume history of Pietism, with Thüringen receiving only the slightest attention. The same is true for Heinrich Schmid’s Die Geschichte des Pietismus and Eugen Sachsse’s Ursprung und Wesen des Pietismus.7 The treatment of Thüringen is not much better in the more recent four-volume Geschichte des Pietismus.8 Given the extent of Fritsch’s literary output on religious themes, it is surprising that this Christian statesman has been so neglected by scholars. In his 1971 dissertation, Dietrich Blaufuß points to the serious lack of research on Fritsch. In 2006, Susanne Schuster suggested that little has changed: “Right up to the present day, there is need for an appreciation of Fritsch from a theological and church-historical perspective.”9 Fritsch is largely ignored in the first two volumes of Geschichte des Pietismus. Scholars such as Martin Jung and Erich Wagner view Fritsch and Countess Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt as Pietists, and consider Rudolstadt to be an early center of Pietism.10 In her 2014 book on the Rudolstadt Countess, Judith P. Aikin agrees, but notes that “Recent historians […] following the lead of 5 6 7

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Ignasiak, Kulturkritische Schriften [s. note 2], 155. Ibid., 161. Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, 1928, 1–55, here: 1. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. 3 vols. Bonn 1880–1886; Heinrich Schmid: Die Geschichte des Pietismus. Nördlingen 1863; Eugen Sachsse: Ursprung und Wesen des Pietismus. Festschrift zum 300jährigen Gedächtnis der Gründung der Hohen Schule zu Herborn im Juli 1584. Wiesbaden and Philadelphia 1884. Geschichte des Pietismus. Ed. by Martin Brecht et al. 4 vols. Göttingen 1993–2004. Susanne Schuster: Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt und Ahasver Fritsch: Eine Untersuchung zur Jesusfrömmigkeit im späten 17. Jahrhundert. Leipzig, 2006 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 18), 13 f. Blaufuß’s thesis was published as Dietrich Blaufuß: Reichsstadt und Pietismus. Philipp Jakob Spener und Gottlieb Spizel aus Augsburg. Neustadt 1977 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 53). Martin H. Jung: Frauen des Pietismus. Zehn Porträts. Von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf. Gütersloh 1998 (Gütersloher Taschenbücher, 1445), 11–26; Erich Wagner: Rudolstadt. Geschichtsbilder aus 10 Jahrhunderten. Hrsg. von Fritz Wagner. Weimar 2003. On piety in Schwarzburg-Rudolstadt as a background to Fritsch’s Christentumsgesellschaft see the recent article by Ernst Koch: In der Liebe Christi Christus gleichförmig werden. Frömmigkeit in der Grafschaft Schwarzburg-Rudolstadt im 17. Jahrhundert. In: Im Kampf um die Seelen. Glauben im Thüringen der Frühen Neuzeit. Ed. by Sascha Salatowsky. Gotha 2017 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 54), 113–127.

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Johannes Wallmann […] no longer include Aemilie Juliana and other Rudolstadt figures [such as Ahasver Fritsch, D. S.] among the Pietists.”11 Susanne Schuster, following Wallmann, has recently argued that their piety was strongly influenced by Johann Arndt, but was quite distinct from the piety of Spener: In their theology and piety, Aemilie Juliane and Ahasver Fritsch supersede the alternatives of Orthodoxy and Pietism […] uniting elements from both in their devotional and theological concepts […] This piety aims at the unio mystica with Jesus Christ. They have great appreciation for the medieval mystics, especially the bridal mysticism of Bernard of Clairvaux and the mysticism of Johannes Tauler. For them, mystical union is attained through meditating upon the blood and wounds of Jesus Christ, especially during celebration of the Lord’s Supper.12

Fritsch rejected Spener’s new eschatology of “hopes for better times.” He took the corrupted condition of the Church and society of his day as evidence of the soon-coming last day and final judgment. Fritsch’s Jesus-Gesellschaft represented a very different kind of gathering than Spener’s ecclesiola in ecclesia. Fritsch sought improvement of Christendom through measures enacted by Church and civic authorities, such as the catechizing of children and adults, and strengthened church discipline.13 With his Christological and ethical emphases, writes Schuster, Fritsch remained fundamentally Lutheran rather than Pietist.14 Schuster suggests that Rudolstadt in the second half of the seventeenth century is best described as the center of an intense “Jesus piety.” Fritsch’s Jesus piety attracted a large following in Rudolstadt and beyond, thanks in part to the circulation of his books.15 3. THE EARLY LIFE OF AHASVER FRITSCH (1629–1701) Ahasver Fritsch was born on December 16, 1629 in Mücheln, Saxony, where his father served as Bürgermeister. The father was known for his honesty and piety. The first twenty years of Fritsch’s life were marked by the horrors of the Thirty Years’ War. He and his family endured the constant threats of hunger, destruction, and death, and were constantly on the run. In the summer of 1639, at the age of nine, he witnessed the destruction and plundering of the town of Mücheln by the Emperor’s troops. At one point, Fritsch and some others made their way to a cemetery and hid themselves in an open grave. His father died in 1643 as a result of hunger and disease, leaving behind Fritsch, his mother, and seven siblings.16

11

12 13 14 15 16

Judith P. Aikin: A Ruler’s Consort in Early Modern Germany: Aemilia Juliana of SchwarzburgRudolstadt. Farnham 2014 (Women and Gender in the Early Modern World), 16 n. 13: “I believe the evidence would show a strong connection to early Pietist Philipp Jakob Spener and his foundational proposals.” Schuster, Aemilie Juliane [s. note 9], 175, 180. Ibid., 169 f. Ibid., 77. Ibid., 180. Ibid., 21.

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Fritsch’s mother was able to send him to Halle to attend the Protestant Gymnasium. In 1650, he went to the University of Jena and completed a doctorate in jurisprudence. In September 1657, Fritsch was called to Rudolstadt to serve as tutor to the young Graf Albert Anton von Schwarzburg-Rudolstadt (1641–1710). In 1661, at the age of 31, Fritsch began his service at the court in Rudolstadt, serving in a variety of capacities until his death in August 1701.17 In 1677, he inherited an estate in Mellingen, near Weimar, and would often retire to Mellingen, interrupting his service in Rudolstadt, to pursue reading and writing in the quiet of his estate.18 The Leichenpredigt for Fritsch and a Latin Lebenslauf provide some idea of his daily practice of piety. After every meal the family would sing a hymn, followed by a reading from the Bible. On Sundays, the children were asked to recite the gospel and epistle for that day. At evening devotions for Monday to Wednesday, the children recited the Psalms, on Thursdays they cited Romans 8 from memory, while on Fridays the story of Jesus’ passion was read from the gospel of Matthew. On Saturdays, they read prayers from the devotional book, The Cooing Turtledove.19

Fritsch was an avid reader of the Bible and of biblical commentaries. He once mentioned that he had read the entire Bible some 27 times. 4. THE FOUNDING OF THE JESUS-GESELLSCHAFT IN 1676 Ernst Koch has discussed the beginnings and membership of Fritsch’s JesusGesellschaft, and examined the influences which moved Fritsch to found the Society. These influences included sermons by Court Preacher Justus Söffing (1624– 1695) in March and April 1672, Söffing’s 1675 Jesus Gebetbuch, and Spener’s Pia Desideria from 1675. Koch shows that the Society had eleven founding members, all of them men. In addition to Fritsch, five were Schwarzburg-Rudolstadt clergy or school teachers; the rest included three clergy and a teacher from outside Rudolstadt, and a Jena law professor. Five of the members were poet laureates. They all joined the Gesellschaft within six and a half months, between November 11, 1676 and May 31, 1677. All had Bürger background; none came from the nobility or the court, except for Fritsch himself and Michael Hörnlein (1643–1703).20 The “Rules of the New Spiritually Productive Jesus Society” include the following emphases:

17 18 19 20

Ibid., 23. Ibid., 29. Ibid., 27. Ernst Koch: Die “Neue geistlich-fruchtbringende Jesus-Gesellschaft” in Rudolstadt. In: PuN 31, 2005, 21–59, here: 40–43. Relying on an April 1703 sermon by Rudolstadt pastor Johann Michael Andreae (1657–1711), Koch lists the following founding members: Ahasverus Fritsch, Johann Christoph Treuner (1630–1681), Magister Johann Hoffmann (1644–1718), Magister Christoph Sommer (1646–1685), Johann Funck (1643–1705), Johann Marci (1627–1678), Magister Daniel Klesch (1624–1697), Johannes Molwitz (1614–1692), Dr. Petrus Müller (1640–1696), Heinrich Fritsch (1621–1693), and Dr Michael Hörnlein (1643–1703).

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1. Members belonging to the Society in a particular place should meet together from time to time to engage in godly, Christian conversation with each other. There is a great deal of attention in the Rules to nurturing a conversation culture. 2. Those who attend from outside Rudolstadt should seek to establish a similarly pious gathering (pia colloquia) in their own community, and so help to propagate the Society. 3. Members should keep the crucified and resurrected Jesus constantly in mind and continually extol, laud, and praise his love and faithfulness.21 4. The Society understands its task to include the mutual assistance of its members in the intensification of Christian experience so that the honor of God is increased. Since the Christianity of the day is found to be in a state of decay and decline, the Society aims at assisting in its restoration. 5. The members are obligated to offer one another mutual support. 6. The Rules do not address the religious duties of members but help them in fulfilling everyday needs and opportunities. E. g. If someone should have a concern about a material or spiritual matter and seek comfort, advice, and assistance from the others, a helping hand should willingly be supplied as members are able. 7. A subsidiary concern is educational assistance for orphans. The implementation of this endeavor is left to the ruling authorities. 8. The structure of the Jesus Gesellschaft corresponds to that of the Fruchtbringende Gesellschaft founded in 1617/1622, whose decline came about in 1670.22 Spener may have assumed that in sending him the Society’s Rules, Fritsch was inviting him to join the Society. Spener replied that he did not feel he could join at that time. Spener expressed to Fritsch his doubts that the institution of a new society, outside the Church, was the best strategy for attaining the goals the Society had set for itself.23 This response suggests that, despite their continuing close association and correspondence, there remained a significant difference in the piety and reforming vision of the two men. In what follows, I examine Fritsch’s understanding of the spiritual problems of his day, and his suggestions towards a solution. The study looks at four tracts that Fritsch composed in the 1670s, and then compares Fritsch’s program for Christian renewal with Spener’s. I argue that although Fritsch never identified with the Pietist movement, his writings suggest that Spener had a remarkable influence upon him, and the two men shared a common mindset in many respects.

21 22 23

Schuster, Aemilie Juliane [s. note 9], 212, 213. Koch, Jesus-Gesellschaft [s. note 20], 23 f. Ibid., 49, 50.

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5. FRITSCH’S ANALYSIS OF THE PROBLEM OF “UNCHRISTIAN CHRISTENDOM,” AND HIS SUGGESTIONS TOWARDS A SOLUTION 5.1 Das Un=Christliche Christenthumb (1678) Fritsch begins Das Un=Christliche Christenthumb24 by affirming that true Christianity is not primarily about ethics25 or morals; even the heathens mastered good morals by the light of reason, and they were not Christians. Nor does true Christianity consist in being born and baptized in the church. Christ demands a piety that surpasses that of the Pharisees and scholars (Schrifftgelehrten). Christianity was founded not on the outward but on the inward. It demands that we have a new heart, mind, sense, and will.26 For Fritsch, this is only possible through faith. Faith grasps Christ with all his merits; it purifies and renews the heart. Faith makes a person patient, merciful, gentle, conciliatory, sympathetic, peaceable, and hungry for justice. Without this heart of faith and its fruits, there is no true Christianity.27 Such “true Christianity,” he observes, was hard to find in his time. In these barbarous times, true Christianity has gone missing, so that its trace can only be found among a few. Today the whole life of so-called Christians is nothing other than glitter, concern for consumption, lusts of the flesh, lust of the eyes, and the corrupt life of the court. These failings can be found among the pastors and the worldly, among great and small, poor and rich, young and old […] Such are the fruits of the present day, falsely named Christendom, more appropriately called unbelieving, barbarous heathendom. This frightful lack of faith can be found in the midst of the Church.28

Fritsch observes that church attendance, and the outward hearing of scripture and the liturgy, do not make Christians. The outward worship is only a form, and operates according to appearance. It becomes an opus operatum, and reflects the opinion of man more than the command of God. It is performed for the most part out of hypocrisy rather than from a pure heart; from custom rather than from inward devotion; with satisfaction rather than with earnestness and zeal; so that one may be seen before the world and be thought pious. “Take away custom and habit and there is little left in such worship.” There are also very few who understand that holy baptism consists not only of outward sprinkling with water, but above all in the purification of the heart through new birth in our spirit. “Our prayer and devotion are more on the tongue than in the heart.”29

24 25 26 27 28 29

Ahasver Fritsch: Das Un=Christliche Christenthumb wie solches heutiges Tages leider! in hohen und niedern Ständen, fast durchgehends in der Christenheit, sich sehen und spüren lässet. Jena 1678. “Dann die christliche Religion ist nicht eine Ethica […]” (ibid., 12). Ibid., 12, 13. Ibid., 16. Ibid., 17, 18. Ibid., 24, 25.

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True Christianity consists in genuine, heart-felt love of the neighbor. If one considers the three main classes of people, one will find that brotherly Christian love is truly rare among them all. Fritsch examines the lack of Christian life and behavior among the ruling classes, the judges, the schools and academies, the households, and private citizens and subjects.30 5.2 Gebuhr und Schuldigkeit eines Christlichen Regenten / Raths / Hofmanns / Richters (1666/1678) In this small book of 75 pages,31 Fritsch considers the proper duties and obligations of various social groups and classes of Christians, including Christian rulers, counselors, members of princely courts, judges, lawyers, preachers, teachers, students, doctors, fathers, businessmen, citizens and subjects, soldiers, and servants. For purposes of comparison with Spener, it is useful to focus on what Fritsch says about “Der Christliche Prediger,”32 “Der Christliche Schul=Lehrer,”33 and “Der Christliche Student.”34 In the Pia Desideria, Spener also addresses his expectations for these same groups of people. The Christian pastor “goes about as a watchful shepherd for his sheep, and seeks to guide them as much by his example as by his teaching.” “He preaches not for himself, but for Christ, and seeks not to please people by his gifts, but to make souls holy.” “His devotion consists not in outward appearance and great status and respect, but in the innermost ground of his heart.” His mere presence brings order to the house of God, just as God’s presence brings order and peace to his own heart. In sum, the pastor’s greatest concern is how he may carry out his office with dedication, seriousness, and diligence, and do everything according to the word and will of the Lord. In this way he seeks to increase the glory of God, and the salvation and blessedness of those committed to his care.35 The Christian school-teacher’s main goal is to educate his pupils to be good Christians, in heart and deed. A secondary goal is to make of them skilled people who can serve the churches, schools, and regiments. The teacher seeks to plant in the hearts of his pupils a true desire and love for heavenly wisdom. He inculcates the apostolic maxim, to love Christ is better than all knowledge and learning. He studies God’s word with fear and respect. He is satisfied with the decreed salary that he receives, small though it is.36

30 31 32 33 34 35 36

Ibid., 34, 46. Ahasver Fritsch: Gebuhr und Schuldigkeit eines Christlichen Regenten / Raths / Hofmanns / Richters […] [1st ed. Rudolstadt 1666]. Appendix to Fritsch, Das Un=Christliche Christenthumb [s. note 24], 429–503. Ibid., 465–468. Ibid., 469–474. Ibid., 474–479. Ibid., 465–468. Ibid., 469–474.

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The Christian student learns from God’s revealed word to discern properly both his creator and himself. He values such understanding as something far more valuable, necessary, and useful than all the arts and sciences. His motto is, “The fear of the Lord is the beginning of wisdom.” He seeks to avoid fleshly knowledge, unedifying speculation, and curious investigation of useless matters. He ascribes the attainment of wisdom, skill, and experience solely to the blessing and grace of God. Because knowledge puffs up, he guards himself from the poison of ambition, through constant remembrance of human imperfection. He humbles himself, and considers himself completely unworthy of God’s gracious gifts. He conducts himself before his teachers as a devoted son would his father. He loves and honors them just as he does his dear parents. He does not envy those who are more learned than himself. Nor does he despise those who have less understanding, learning, and gifts than he does.37 5.3 Hohe=Schule / Geist- und Sinnreicher Lehr=Trost= und Vermahnungs=Sprüche (1678) In this book of 176 pages, Fritsch discusses Christian faith, life, and growth. His definition of faith comes straight from Martin Luther: “Der Glaube ist ein lebendig und gewaltig ding, ist nicht ein schläfferiger und fauler Gedanke […]”38 Faith creates in us a new heart, mind, and disposition, making us new people. Faith brings with it a great crowd of beautiful and glorious virtues. It is like a mother who gives birth to these virtues. It is necessary that the godly endure the testing of their faith; otherwise, their faith would become soft and cold. When they are tested by temptation, they learn what faith is; and when they are tempted, they grow in their knowledge of God’s Son. God is dealing with us as a father when he allows pestilence, illness, sorrow of heart, and other kinds of misery to come upon us in this life. One should take all these trials and sorrows and use them to grow in the knowledge of God.39 Concerning Hope: One must learn to hope for what one cannot see, directing one’s eyes above, to the kingdom of God. God’s goodness to us is set forth in his word and by the office of preaching; the only lack is in us, for not holding fast to God’s word and promises.40 Prayer is no small thing; the saints have said that nothing can be compared to it in importance. Earnest, unceasing prayer that waits on God will in the end break through heaven and earth, and be heard by God. 37 38

39 40

Ibid., 474–479. Ahasver Fritsch: Hohe=Schule / Geist- und Sinnreicher Lehr=Trost= und Vermahnungs=Sprüche: vom christlichen Glauben / Leben und Wandel / wie solcher in allen Ständen recht zu führen sey. Aus deß seel. Hrn. Lutheri unvergleichlichen und güldenen Commentario, über das erste Buch Mosis [1st ed. Rudolstadt 1665]. Appendix to Fritsch, Das Un=Christliche Christenthumb [s. note 24], 621–798, here: 645. Ibid., 687, 689. Ibid., 696, 699.

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If someone asks, Where is the Church?, one must not look upon the outer form, but upon the word, baptism, and the holy sacraments: the Church is where the sacraments are rightly observed, and where listeners and teachers confess the word of God. God hides the Church and our own salvation under a dark and fearful covering.41 5.4 Tractätlein von Christ=schuldiger Erbauung deß Nächsten durch gottselige Gespräche (1676/1690) In this 70 page tract, Fritsch laments the fact that few Christians in his day had a heartfelt concern for the edification of their neighbor through spiritual conversation. Christians would rather discuss what is in the latest newspapers than consider what is in God’s word and pertains to their soul’s salvation. In this tract, Fritsch argues that “The edification of our neighbor through spiritual conversation is our duty on account of the spiritual priesthood.”42 Concerning the subject matter for godly conversations, one must consider not only what is good and edifying, but introduce each topic at its proper time, place, and opportunity. One should keep in mind that not all can understand and grasp heavenly things. Special care must be taken not to raise “useless and unnecessary questions which lead to conflicts and arguments rather than to edification in godliness.” Proper topics of conversation include God’s word and ways; his glorious works of creation and preservation of his creatures; the wisdom, providence, and omnipotence of God; his work of redemption; his grace and mercy in Christ; the suffering, death, and resurrection of Christ; love for God and neighbor; the Christian virtues; the vanity of men due to their flesh, and their glory in Christ because of the new birth; the cross and temptation which Christians must suffer in this world; and the coming glory of believers in eternal life, things found in Scripture and the catechism. In accordance with the needs of the individual and the occasion, one should offer brotherly admonition, friendly, loving discipline, and warning, comfort, and strengthening.43 Fritsch appeals to several passages of Scripture in support of his argument. In Eph 2,4.5, the apostle writes to the believers in Ephesus and presents the following subjects for their consideration: First, our outward need and misery, in which we as children of wrath are dead in sin and condemned to eternal damnation. Second, God’s rich and abundant grace and mercy, the great love and goodness with which he has mercy upon us, gave to us his beloved, only-begotten son Jesus Christ, delivered us from death and hell, and gave us life and eternal blessedness without any merit on our part. Third, the power of faith in the Son of God, by which we are justified and sanctified before God. Fourth, our debt of gratitude toward God, which 41 42 43

Ibid., 724–750. Ahasver Fritsch: Tractätlein von Christ=schuldiger Erbauung deß Nächsten durch gottselige Gespräche. Leipzig 1690 [1st ed. Leipzig 1676], 4–6. See also id.: Discursus de Novellarum, quas vocant Neue Zeitunge, hodierno usu & abusu. Jena 1676. Ibid., 37 f.

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we should manifest through a godly way of life and the practice of good works.44 Fritsch also appeals to 2Petr 1,3.4 for guidelines for Christian conversation. He observes that Scripture is full of similar passages, especially the New Testament. “It is like a beautiful garden of paradise (Paradißgarten), in which pious Christians may walk each day in their devotions.”45 Fritsch next discusses what form Christian gatherings for godly conversation should assume. He observes that there are different opinions on this. 1. Some God-loving Christians come together once or twice a week, without neglecting their work, or meet on Sundays in their homes for an hour or two. 2. A Christian conversation can be held either after the sermon or after the catechism. 3. Or, discussion can be based on a passage from a spiritually-edifying book, for example Arndt’s Wahres Christenthum, or Cramer’s Wahrer Christen eigentliche Kennzeichen, or Gerhard’s Schola Pietatis, or Lütkemann’s Der Vorschmack göttlicher Güte, or Müller’s Himmlischer Liebes=Kuß.46 Someone could read a passage from such a book, followed by a Christian discussion of it. 4. Such conversations should be useful and productive, and be pursued in unity of spirit and the bond of peace. 5. If the gathering encounters something difficult or dark in the holy Scripture or in some Christian book, they should gladly admit to their uncertainty and call upon God who gives enlightened eyes of understanding and the spirit of wisdom and revelation, and at the next opportunity consult with an appointed teacher or preacher, or some other knowledgeable Christian.47 One must always keep in mind that the subject matter must be edifying for the strengthening of faith, and especially for the encouragement of active godliness. Such gatherings should not be content with conversation; conversation should be a seed that brings forth the fruit of faith and life. Knowledge does no good if we do not align our lives according to it.48 Fritsch offers four concluding considerations regarding pia colloquia. First, we should consider that as children of God and spiritual members of his body, we are obligated to serve one another; we are not free to choose whether we will or not. Second, we should consider the wonderful benefits of Christian conversation and godly company. We are encouraged to practice true Christianity, we are refreshed, our hearts are strengthened in good works, and we have an opportunity for good words and works. A holy flame of love is kindled in our hearts for God and our Christian neighbor. Third, we should consider how short the time of our life on earth is, and that we must give an accounting before God for every moment of it. We must give an account to God if we have not served others with the gifts he has given us. 44 45 46

47 48

Ibid., 40, 41. Ibid., 42 f. Johann Arndt: Vier Bücher Von wahrem Christenthumb […]. 4 vols. Magdeburg 1610; Johannes Cosmas Cramer: Wahrer Christen eigentliche Kennzeichen / Das ist Einfältige und Christliche Leichenpredigt […] Balthasar Laurmanns […]. Jena 1665; Johann Gerhard: Schola Pietatis […]. Jena 1622/23; Joachim Lütkemann: Der Vorschmack göttlicher güte […]. Wolfenbüttel 1653; Heinrich Müller: Himmlischer Liebes=Kuß / Oder Ubung des wahren Christenthumbs […]. Franckfurt 1659. Fritsch, Tractätlein [s. note 42], 47, 48. Ibid., 48–51.

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We should not waste this precious time in vain conversations and in telling annoying stories. Finally, we should consider that when we are lying on our deathbeds, we will be joyful and full of praise to God that we fulfilled this Christian duty.49 6. COMPARING FRITSCH’S PROGRAM FOR CHRISTIAN RENEWAL WITH SPENER’S A comparison of Fritsch’s reform program, described above, with Spener’s, as found in the Pia Desideria, yields at least eight areas of close similarity. First, there is in both men a deep concern for the state of the German Lutheran Church and society. Both men analyzed the failings of the three main social classes, combining this analysis with a commitment to the Lutheran Church and respect for its clergy and sacraments. In Pia Desideria, Spener asks, “Wo ist ein Stand den wir rühmen könnten also zu stehen wie die christliche Regeln erfordern?” He was careful, however, to show respect towards his fellow clergy.50 Second, there is in both Fritsch and Spener a focus on inner renewal of the heart as the key to reform; there is need for a new heart, mind, sense, and will. Spener concludes the Pia Desideria by emphasizing, “Ja, unser gantzes Christenthum bestehet in dem innern oder neuen menschen, dessen Seele der Glaube und seine würckungen die früchten deß lebens sind.”51 Third, both men emphasize love of neighbor as the hallmark of true Christianity. Spener notes, “Unser lieber Heiland hat zum öfftern uns die Liebe als das rechte kennzeichen seiner Jünger anbefohlen.”52 Fourth, both Fritsch and Spener emphasize that the main duty of pastors in their preaching is to edify Christian people, to encourage faith and its fruits, not to serve themselves and their reputation as scholars. Spener famously complained that many Christian people found much to complain about in the preaching of the day: “Solche Prediger sich vor gelehrte leut darstellen, obs wol die Zuhörer nicht verstehen: da müssen offt viele frembde Sprachen herbey, da etwa nicht ein einiger in der Kirchen ein wort davon weiß.”53 Fifth, the two men agree that Christian teachers and professors should be more concerned to nurture piety than knowledge. “Dazu wäre sonderlich diensam, daß Herrn Professores auff der ihnen anvertrauten Studiosorum leben so wol als uff die studia acht geben.”54 Sixth, both men promote gatherings of earnest Christians, outside of church services, for mutual edification. Both provide strict rules for these meetings, including a focus on edification, suiting the material to the understanding and Christian maturity of those present, and avoidance of controversy. In Pia Desideria, Spener writes, 49 50 51 52 53 54

Ibid., 69–72. Philipp Jakob Spener: Pia Desideria. Deutsch-Lateinische Studienausgabe. Ed. by Beate Köster. Gießen 2005, 26. Ibid., 162. Ibid., 124. Ibid., 160. Ibid., 146.

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Douglas H. Shantz Es müste aber alles in rechter absicht auff Gottes Ehr und den geistlichen wachsthum […] eingerichtet, und hingegen, wo sich fürwitz, zancksucht, gesuch eigener ehre und was dergleichen ist, einschleichen wolte, verhütet […] werden. […] Es lerneten die Prediger selbs ihre Zuhörer und deroselben schwachheit oder zunahm in der Lehr der Gottseligkeit kennen.55

Fritsch and Spener even recommended the same books for discussion in these gatherings, including Lütkemann’s Der Vorschmack göttlicher Güte. Seventh, both men emphasize that the colloquia should aim at praxis, and not remain at the level of knowledge and discussion. Spener observes, “daß es mit dem wissen in dem Christenthum durchauß nicht gnug seye, sondern es viel mehr in der praxi bestehe.”56 Finally, both men were marked by a love of Regeln, rules.57 Fritsch, for example, composed several works which featured Regeln: Regeln der neuen geistlich frucht=bringenden Jesus=Gesellschaft, Zur Ehre Gottes auffgerichtet (1676); Sieben=zehen Anleitungs-Regeln zur Ubung der wahren Gottseligkeit (1680); and Das alte Wahre / Evangelische / Apostolische; Und heutige Falsche / Unchristliche Christenthum / Vermittelst Christi und seiner Aposteln Lebens-Regeln (1690). Spener makes frequent reference to the “Lebensregeln, die wir von unserm liebsten Heyland und von seinen Aposteln aufgezeichnet haben.” The purpose of teaching and instruction should be, “diese oder jene Regel in die übung zu bringen.”58 7. CONCLUSION Susanne Schuster has made a convincing argument for not including Fritsch among the Pietists. Nevertheless, the above discussion points to a common mindset held by Fritsch and Spener, and suggests that the influence of Spener on Fritsch’s writing and thought was significant. They were reading some of the same authors, notably Johann Arndt, and were addressing many of the same problems. It is not surprising that Fritsch was not a Pietist (i. e. a disciple of Spener). Fritsch was six years older than Spener, and so one should not expect the same kind of mentor relationship in this case that Spener had with the young theology students in Leipzig. Furthermore, in Rudolstadt Fritsch was the center of his own movement for an intense Jesus piety. Fritsch illustrates that when a new movement arises, there will always be those on the fringes who are sympathetic, but who for various reasons commit themselves to a different path.

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Ibid., 114. Ibid., 124. They may have learned this love of rules from Johannes Tauler: Pietas Tauleriana; oder, Geistreiche, gottselige und erbauliche Tugend=Sprüche und Lebens=Regeln. Ausz[ugsweise] zum Druck befördert von Ahasvero Fritschio. Franckfurt am Mayn 1676, 90. Spener, Pia Desideria [s. note 50], 156, 158.

„[…] DASS MAN SICH BEYM HOCHF. CONSISTORIO IN DER SAALFELD UND PÖSSNECKISCHEN PIETISTISCHEN SACHE ÜBERAUS WOL VORZUSEHEN HABE“ Die sogenannten Pößneckschen Händel Mathias Müller Der Titel dieses Abschnitts im vorliegenden Band, „Pietismus in der Thüringischen Frömmigkeitslandschaft“, lässt für den Zeitraum um 1690 unmittelbar an Erfurt und Gotha als Knotenpunkte im Netzwerk der pietistischen Bewegung denken.1 Dabei spielen die enge Verbindung mit dem Lebensweg und der Familie August Hermann Franckes (1663–1727) in Gotha und dessen Tätigkeit in Erfurt von 1690 bis 1692 eine wichtige Rolle. Nach Leipzig kann Erfurt als das zweite pietistische Zentrum verstanden werden, von dem sich die Bewegung ab Ostern 1690, dem Eintreffen Franckes in der Stadt, weiter verzweigte.2 Es darf aber nicht übersehen werden, dass die pietistische Bewegung in Thüringen schon vor Franckes Ankunft in Erfurt an einigen Orten hatte Fuß fassen können. In Jena gab es, dem Vorbild Leipzigs folgend, ebenfalls Zusammenkünfte in der Studentenschaft; es kam zudem auch zu Übersiedlungen nach Leipzig.3 Die Bewegung erfuhr Unterstützung durch Caspar Sagittarius (1643–1694), Professor für Geschichte an der Jenaer Universität. Er hatte Francke bereits 1688 kennengelernt und setzte sich später für dessen Berufung nach Erfurt ein. Beide standen seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft in Kontakt. Am Anfang des Postskriptums in einem Brief von Sagittarius an Francke findet sich eine für die Verbreitung der pietistischen Bewegung in Thüringen am Beginn der 1690er Jahre interessante Information: Sagittarius teilte mit, „daß man

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Vgl. hierzu Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst-und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004 (HaFo, 14). Theodor Wotschke hat in seinen beiden Arbeiten zum Pietismus in Thüringen und Ostthüringen dargelegt, dass die pietistische Bewegung an zahlreichen Orten Unterstützer fand (vgl. Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, 1929, 1–55; ders.: Vom Pietismus in Ostthüringen. In: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde 31, 1935, 285–334). Vgl. zu Erfurt: Mori, Begeisterung [s. Anm. 1], 37; insbesondere auch die Karten zu Wohnortwechseln innerhalb der pietistischen Bewegung, 292. Vgl. aaO, 34 f., sowie zur Bedeutung von Caspar Sagittarius Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 439–539, hier: 448; Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 285 f.

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sich beym Hochf. Consistorio in der Saalfeld und Pößneckischen Pietistischen Sache überaus wol vorzusehen habe, damit es nicht wie zu Leipzig gehe, u. Gott ein Mißfallen, u. die Welt ein Lachen habe.“4 Der dazugehörige Brief ist, wie auch der weitere Teil des Postskriptums, nicht überliefert, so dass keine genaue Datierung möglich ist. Der Inhalt der Bemerkung deutet aber auf die Mitte des Jahres 1692 hin. Dass Francke nach Saalfeld und Pößneck5 Kontakt hatte, zeigt sein Brief an Philipp Jakob Spener (1635–1705) vom 18. Dezember 1690, in dem er über einen Aufenthalt an diesen Orten berichtet und Personen nennt, die er dort getroffen habe – von Auseinandersetzungen ist hingegen nicht die Rede.6 Die beiden Quellen lassen zunächst allgemein vermuten, dass sich in Saalfeld und Pößneck Gruppen von Sympathisanten Franckes gebildet hatten und dass es um diese zu Auseinandersetzungen gekommen war. Genaueren Aufschluss über Entstehung und Vernetzung, tragende Akteure sowie Konflikte der pietistischen Bewegung an diesen Orten gibt umfangreiches Aktenmaterial, das sich in der Forschungsbibliothek Gotha befindet und in der Forschung bislang kaum berücksichtigt wurde.7 Dem Beitrag liegt dieses Material zugrunde.

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C. Sagittarius an A. H. Francke, Postskriptum, o. J. (FB Gotha Chart. A 307, 89r). Beide Orte gehörten seit der Erbteilung von 1680 unter den Söhnen Herzog Ernsts I., des Frommen (1601–1675), zum Herzogtum Sachsen-Saalfeld, das von Johann Ernst, dem jüngsten Sohn, regiert wurde. Das Herzogtum besaß keine vollständige Landeshoheit, sondern war abhängig von den Oberbehörden in Gotha. Dies sollte auch bei den später beschriebenen Streitigkeiten eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Vgl. hierzu Thomas Nicklas: Von der Regionalität zum europäischen Konnubium. Sachsen-Coburgs Heiratspolitik zwischen Früher Neuzeit und 19. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 8, 2007, 103–120, hier: 104; zu Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld vgl. Geschichte Thüringens. Hg. v. Hans Patze u. Walter Schlesinger. Bd. 5: Politische Geschichte in der Neuzeit. 1. Teilband. Köln 1982 (Mitteldeutsche Forschungen, 48), 526–535, sowie Siegrid Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648–1806. Köln 2002 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 43), 148–154. Vgl. A. H. Francke an Ph. J. Spener, 18.12.1690. In: Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tübingen 2006, 34–39. Auszüge des Briefes sind auch abgedruckt bei Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 307. Wotschke erklärt, dass es in Pößneck zu Streitigkeiten gekommen sei, nachdem Francke den Ort besucht hatte. Er geht aber nicht näher auf diese ein, sondern stellt nur fest, dass sie sich über mehrere Jahre hingezogen hätten. Zudem nennt er die zentralen Akteure und weist auch auf die eingereichte Apologie [s. Anm. 11] hin (vgl. Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 307–309). Bei Mori findet sich lediglich ein Hinweis auf Franckes Kontakte zum Saalfelder Superintendenten Paul Sternbeck (vgl. Mori, Begeisterung [s. Anm. 1], 44). Vgl. auch Karl Gottfried Goebel: Johann Christian Lange (1669–1756). Seine Stellung zwischen Pietismus und Aufklärung. Darmstadt 2004 (Quellen und Studien zur Hessischen Kirchengeschichte, 9), 79.

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1. DIE ANFÄNGE DER PIETISTISCHEN BEWEGUNG IN PÖSSNECK UND SAALFELD UND DIE ROLLE VON FRANCKES BESUCH IM DEZEMBER 1690 Im Zentrum der pietistischen Bewegung in Pößneck stand vor allem Hans Nikolaus Schilling, ein Bortenwirker, in dessen Haus sich mehrere Personen trafen. Schilling kam früh mit den Gedanken Franckes in Kontakt.8 Als Multiplikator diente dabei sein Sohn Johann Andreas Schilling (1665–1750), der seit 1687 Theologie in Leipzig studierte und dort zu einem Anhänger Franckes wurde.9 An den später ausbrechenden Auseinandersetzungen in Leipzig war er aktiv beteiligt. In den Protokollen des Rates findet sich sein Name unter den vorgeladenen Studenten.10 Wie eng seine Verbindung zu Francke in dieser Zeit war, zeigt auch die Tatsache, dass er diesen im Frühjahr 1690 auf dessen Reise nach Lübeck begleitete.11 Infolge der Streitigkeiten in Leipzig ging Johann Andreas Schilling mit Francke nach Erfurt und folgte diesem später auch nach Halle, wo er sich allerdings nicht länger aufhielt. Um 1695 ist ein Aufenthalt Schillings bei dem Ehepaar Petersen belegt.12 1697 zog er zusammen mit Gottfried Arnold (1666–1714) und Johann Christian Lange (1669–1756) nach Gießen, wo er ab 1699 als Burgprediger tätig war und

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Die Bedeutung Hans Nikolaus Schillings zeigt sich auch in Wotschkes Urteil, der ihn als „Veteranen des Pietismus in Thüringen“ bezeichnet (Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 305). Vgl. Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen 22011 (AGP, 55), 57–84, hier: 82. Vgl. dazu das Leipziger Protokoll des Verhörs von sieben Studenten, in dem Schilling an erster Stelle genannt wird (Gerichtliches Leipziger Protocoll, 1692. In: August Hermann Francke: Schriften und Predigten. Bd. 1: Streitschriften. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1981 (Texte zur Geschichte des Pietismus, 2/1), 1–112, hier: 26). Vgl. auch Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zu Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus. In: ders.: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Hg. v. Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975 (AGP, 13), 153–267, hier: 236, sowie Goebel, Johann Christian Lange [s. Anm. 7], 79, und Christian Peters: „Daraus der Lärm des Pietismi entstanden“. Die Leipziger Unruhen von 1689/1690 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In: PuN 23, 1997, 103–130. J. A. Schilling berichtet darüber in seiner Apologie (Abgenöthigte Christliche Apologie, welche dem durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Johann Ernsten Herzog zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg, […] alß seinem gnädigsten Herrn und Landesfürsten, vor sich und vor die nun etliche Jahre her unschuldig bedruckten seinigen […] überreichet Johann Andreas Schilling S. S. Theol. Studiosus [1695] [FB Gotha Chart. A 309, 92 f.]). Der Kontakt zu den Petersens bestand schon früher, wie aus einem Brief von deren Hauslehrer Johann Christian Lange an J. A. Schilling vom 29.6.1692 hervorgeht, in dem dieser auch von der Übersiedelung der Petersens nach Niederndodeleben berichtet. Der Brief wurde abgefangen und ist abgedruckt bei [Johann Benedict Carpzov]: Ausführliche Beschreibung Des Unfugs / Welchen Die Pietisten in Halberstadt im Monat Decembri 1692. ümb die heilige Weyhnachts=Zeit gestifftet. Dabei zugleich von dem Pietistischen Wesen in gemein etwas gründlicher gehandelt wird. S. l. 1693, 61–66. S. zu diesem Brief auch Goebel, Johann Christian Lange [s. Anm. 7], 71 f.

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von 1701 bis zu seinem Tod das Amt des ersten Stadtpredigers innehatte.13 Der Lebenslauf Schillings macht deutlich, dass er zeitweise, vor allem zwischen 1695 und 1697, offenbar separatistische Tendenzen hatte. Auch danach blieb er wohl eine schillernde Persönlichkeit: Dies zeigt sich zuletzt darin, dass er noch 1743 unter Separatismusverdacht geriet.14 Zum Auslöser der pietistischen Bewegung in Pößneck wurde der Besuch Johann Andreas Schillings in seinem Elternhaus zu Weihnachten 1689.15 Er brachte die in Leipzig kursierenden Gedanken mit nach Thüringen. Dadurch kam sein Vater mit diesen in Kontakt und avancierte letztlich zur treibenden Kraft der Pößnecker Bewegung. Johann Andreas Schilling berichtet, dass er bei diesem Besuch schon mit den beiden späteren Kontrahenten, Wolfgang Friedrich von Roda (1630–1699) und Friedrich Biedermann (1634–1700), gesprochen und ihnen über die Ereignisse in Leipzig berichtet habe.16 Durch den Besuch des Sohnes stand der Fortgang der Geschehnisse in deutlicher Verbindung zu den Leipziger Ereignissen, was auch die Reise Hans Nikolaus Schillings zur dortigen Ostermesse 1690 belegt. Schilling senior nutzte die Gelegenheit, die Collegia Johann Caspar Schades (1666–1698) zu besuchen. Dieser Besuch habe, so der jüngere Schilling in seiner Apologie, „zum Wachsthum und Fortgang der in ihm schon zu Pößneck angefangenen göttlichen Gnade“ geführt.17 Nach Johann Andreas Schillings Übersiedlung nach Erfurt intensivierten sich die Kontakte zum Vater. Die lokale Nähe erlaubte mehrere Reisen Hans Nikolaus Schillings nach Erfurt zu seinem Sohn, wobei er diese zum Anlass nahm, auch die Gottesdienste und Collegia Joachim Justus Breithaupts (1658– 1732) und Franckes zu besuchen.18 Im Dezember 1690 kam es schließlich zum Gegenbesuch Franckes. Im erwähnten Brief an Spener berichtet er von seinem Aufenthalt in Pößneck im Hause Schillings und schreibt über diesen: „Nunc vitam vivit Patriarchalem.“19 Aus dem Brief geht auch hervor, dass sich um Schilling bereits eine Gruppe Gleichgesinn-

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Vgl. Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in HessenDarmstadt. Darmstadt 1984, 70; Goebel, Johann Christian Lange [s. Anm. 7], 104 f. Zu den Verbindungen Schillings zu Lange und Arnold vgl. Goebel, Johann Christian Lange [s. Anm. 7], 5, 83. Diese drei Personen spielten für die Bekehrung Johann Konrad Dippels eine bedeutende Rolle, vgl. Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung. Göttingen 2001 (AGP, 39), 187 f.; Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin 1966 (ND d. Ausgabe Bonn 1884), 323. „So musste solches [die pietistischen Lehren, d. Vf.] bey meiner ersten heimkunfft von Leipzig am ende dieses Jahres zur gelegenheit dienen, daß auch mein lieber alter Vater Johann Nicol Schilling, mit den seinigen […] durch göttliche Gnade hierfür mit rechtschaffenem Ernst zu Gott sich zu wenden erweket worden“ (Schilling, Apologie [s. Anm. 11], 89 f.). Vgl. aaO, 91 f. AaO, 95 f. Vgl. zur ersten Reise im Jahr 1690 aaO, 99 f. Das Beispiel der Schillings aus Pößneck belegt die von Mori betonte herausgehobene Rolle Leipzigs und Erfurts für die Ausbreitung der pietistischen Bewegung (vgl. Mori, Begeisterung [s. Anm. 1], 25–36). A. H. Francke an Ph. J. Spener, 18.12.1690 [s. Anm. 6], 37; s. auch Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 307.

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ter gebildet hatte: „Wir sind mit großer Liebe aufgenommen und haben uns mit anderen Frommen, insonderheit dem frommen Kastenvorsteher Müntzer in dem Herrn gestärket.“20 Es wird also nur eine weitere Person namentlich erwähnt. Aus den Berichten über die Streitigkeiten können daneben als Beteiligte Hans Nikolaus Schillings zweiter Sohn Hans Georg sowie sein Lehrjunge Christoph Haucke identifiziert werden.21 Ist es für Pößneck somit möglich, über Johann Andreas Schilling unmittelbare Verbindungen zur pietistischen Bewegung in Leipzig und Erfurt aufzuzeigen, kann dies für Saalfeld nicht konstatiert werden. Denkbar, aber nicht belegbar, ist, dass von Pößneck Impulse nach Saalfeld ausgegangen sind. Der erste Beleg für einen pietistischen Kreis in Saalfeld findet sich wiederum in Franckes Brief vom Dezember 1690 an Spener. Hier berichtet er, dass er sich am Tag vor seinem Besuch in Pößneck in Saalfeld aufgehalten habe. Grund hierfür sei ein Schreiben der Saalfelderin Anna Ursula Stockmann gewesen, die ihn um einen Besuch gebeten habe. Diese sei ihm aber nicht persönlich bekannt gewesen. Wie für Pößneck gibt Francke auch für Saalfeld Auskunft über den besuchten Personenkreis. Neben Stockmann werden genannt: ein Kammerregistrator (Arnold), der Kantor (Kegel) sowie Superintendent Paul Sternbeck (1642–1717), bei dem er übernachtet und die anderen Personen getroffen habe.22 In den Gothaer Akten werden noch weitere Personen für Saalfeld genannt: der Hofschneider Biedermann sowie die beiden Studenten Frömmichen und Johann David Sternbeck, der Sohn des Superintendenten.23 Francke urteilte über die Situation in Saalfeld: „Es scheinet, daß an dem Orte viel Gutes aufgehen werde.“24 Anhand von Franckes brieflichem Reisebericht an Spener vom Dezember 1690 und den Gothaer Akten ist es somit möglich, die pietistischen Gruppen in Saalfeld und Pößneck näher zu identifizieren. Zwischen den beiden Kreisen bestand ein reger Austausch, wobei Hans Nikolaus Schilling eine Leitfigur und sein Haus Ort der Zusammenkünfte war. In den im Folgenden darzustellenden Auseinandersetzungen richteten sich gegen ihn die meisten Klagen und Anschuldigungen. Mehrfach ist von „Schilling und seinen Consorten“ die Rede.25 Dabei spielte der durch Johann Andreas Schilling etablierte enge Kontakt zunächst nach Leipzig, dann nach Erfurt und schließlich nach Halle eine wichtige Rolle. Neben Schilling war Paul Sternbeck von besonderer Bedeutung. Als zuständiger Superintendent hatte er die Mög-

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A. H. Francke an Ph. J. Spener, 18.12.1690 [s. Anm. 6], 37. Vermutlich handelte es sich um den in den Gothaer Akten erwähnten Nikolaus Müntzer [s. Anm. 41]. Vgl. hierzu die Erwähnungen in: Kurzer Actenmäßiger Bericht sampt pflichtmäßigem guthachten der zum fürstl. gesambten Consistorio zu Altenburg verordneten Praesidenten, Räthe und Assessoren, Was in sachen des also genanndten Pietismi zu Saalfeld undt Pößneck seithero ergangen und zuverordnen, Altenburg [1693] (FB Gotha Chart. A 308, 64r–96v). Vgl. A. H. Francke an Ph. J. Spener, 18.12.1690 [s. Anm. 6], 36 f. S. Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 74r–75r und passim. A. H. Francke an Ph. J. Spener, 18.12.1690 [s. Anm. 6], 37. So u. a. im Schreiben des Altenburger Konsistoriums an Herzog Johann Ernst von SachsenSaalfeld, Altenburg, 17.1.1693 (FB Gotha Chart. A 308, 29r).

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lichkeit, die Sympathisanten Franckes vor allem im Konflikt mit den Pößnecker Ortspfarrern zu unterstützen, indem er etwa beim Herzog intervenierte.26 Anhand von Franckes Brief vom Dezember 1690 können auch bereits die potenziellen Gegner der pietistischen Bewegung in Pößneck und Saalfeld identifiziert werden. In Saalfeld waren es der Archidiakon Anton Maser und der Diakon Samuel Heumann (1646–1703), in Pößneck der Adjunkt von Roda und der Diakon Biedermann, wobei die Pößnecker Geistlichen in den folgenden Konflikten eine größere Rolle spielten. Sie brachten die Anschuldigungen gegenüber Schilling vor und trieben die Auseinandersetzungen voran, die anfangs zwar auch die Zusammenkünfte bei Stockmann in Saalfeld betrafen, im Kern aber auf den Kreis um Hans Nikolaus Schilling in Pößneck fokussiert waren. Ab Januar 1693 waren zudem das Altenburger Oberkonsistorium und Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld (1658–1729) in den Konflikt einbezogen.27 Der Besuch Franckes in Saalfeld und Pößneck im Dezember 1690 war für die weiteren Ereignisse von großer Bedeutung. Auf beiden Seiten wurde er als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzungen angesehen, wobei Johann Andreas Schilling in seiner Apologie darauf hinwies, dass die Verbindungen zu Francke schon vorher bestanden hätten. Auch hätte Schilling die Prediger bei seinen Besuchen in Pößneck über die Fortgänge in Leipzig immer in Kenntnis gesetzt. Dabei hätten sie zunächst nichts Verdächtiges an dem, was er von Francke berichtet habe, und an den Besuchen des Vaters in Leipzig und später in Erfurt gefunden. Franckes Brief an Spener zeigt, dass es vor und auch während seines Besuches und des Treffens mit den ortsansässigen Predigern noch zu keinen Auseinandersetzungen gekommen war. Dem Besuch Franckes kann für die aufkommenden Konflikte daher eine katalytische Funktion zugeschrieben werden. In diesem Sinne urteilte auch das Altenburger Konsistorium in seinem Kurze[n] Actenmäßige[n] Bericht, in dem es die Geschehnisse der Jahre 1690 bis 1693 folgendermaßen beschrieb: Denn bald nachher [nach dem Besuch Franckes, d. Vf.] haben einige von M. Francken, und denen die es mit ihm halten, große aestim gemacht, sind ihm nachgezogen, haben ihre Predigten und Zusammenkünfte besucht, haben sich hochgerühmet, und auf eine neue ungewöhnliche art sich in der Gottseligkeit zu üben angefangen, indem sie zusammengekommen und auf der arth, welche bisher M. Francke und die es mit ihm halten, gerne eingeführet wissen wollen, sich in der Gottseligkeit geübet.28

Franckes Besuch wurde also als Auslöser einer deutlichen Intensivierung des Selbstbewusstseins seiner Sympathisanten angesehen: Dies betraf unter anderem die Einrichtung außergottesdienstlicher Zusammenkünfte zur ‚Übung in der Gottseligkeit‘ nach Franckeschem Vorbild, die sogar als „Predigten“ bezeichnet wurden. Im Zuge der daraus entstehenden Konflikte kam es in den Jahren 1691 bis 1693 zu einem regen Briefverkehr zwischen Saalfeld, Pößneck und Altenburg.29 26 27 28 29

Vgl. z. B. P. Sternbeck an Herzog Ernst von Sachsen-Saalfeld, Saalfeld, 24.1.1693 (FB Gotha Chart. A 308, 35r–40v). Vgl. Abschnitt 3.2. Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 65r. Vgl. FB Gotha Chart. A 308, 1–63.

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2. DAS VORWURFSPROFIL GEGENÜBER DEN SYMPATHISANTEN FRANCKES 2.1 Besuche bei Francke in Erfurt und Halle Laut Johann Andreas Schillings Apologie waren die Besuche seines Vaters in Erfurt von den Predigern zunächst als unproblematisch beurteilt worden, wobei zu berücksichtigen ist, dass diese Argumentation in den späteren Auseinandersetzungen dazu dienen sollte, das Verhalten des Vaters als rechtens und von den Predigern gebilligt darzustellen.30 Im Januar 1691, also kurz nach Franckes Besuch, richtete von Roda eine Anfrage an das Konsistorium in Altenburg, wie damit zu verfahren sei. Im Hintergrund könnte dabei auch gestanden haben, dass Schilling senior zu Weihnachten 1690 erneut in Erfurt gewesen war. Als er sich am 10. März wegen seiner Besuche in Erfurt vor dem Altenburger Konsistorium verantworten musste, verwies er auf die Aussage der Prediger, dass diese an Francke nichts Verdächtiges hätten finden können. Aufgrund dieses Urteils sei er nach Erfurt gefahren. Das Konsistorium verbot Hans Nikolaus Schilling weitere Reisen zu Francke und jeglichen Umgang mit ihm. Hans Nikolaus Schilling hielt sich allerdings nicht an diese Weisung und begab sich zu Pfingsten 1691 wiederum nach Erfurt.31 Die Berichte zeigen, dass dadurch eine weitere Stufe der Eskalation erreicht wurde. Von Roda griff Schilling öffentlich auf der Kanzel scharf an und verurteilte dessen Verhalten. Diakon Biedermann beteiligte sich hingegen erst nach dem Weggang Franckes aus Erfurt an der Auseinandersetzung – mit der Folge, dass diese weiter eskalierte.32 Hierzu trug Schilling senior selbst bei, indem er seine Besuche bei Francke und Breithaupt fortsetzte. So hielt er sich zu Pfingsten 1692 in Halle auf.33 Die Reisen legitimierte er durch die Erklärung, dass es sich dabei nicht primär um Besuche bei Francke handeln würde – sie dienten vielmehr dazu, den eigenen Sohn zu treffen. Aber, so räumte Johann Andreas Schilling in seiner Apologie ein, wenn sein Vater in Halle sei, besuche er auch die Gottesdienste Franckes und Breithaupts, weil deren Predigten erbaulich seien. Dies könne er von den Predigten, die er in Pößneck höre, nicht behaupten.34 Dieses Argument leitet über zum nächsten Kritikpunkt.

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Vgl. hierzu z. B. die Passage in Schilling, Apologie [s. Anm. 11], 97 f. Für die Historizität sprechen die eigenen Aussagen Biedermanns in seinem Brief an Francke vom 19.7.1693 (vgl. Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 308 f.). Vgl. Schilling, Apologie [s. Anm. 11], 120 f. Im Bericht des Altenburger Konsistoriums heißt es: „Als nun die Prediger sowohl privatim als publice darwieder geredet, von solchen Neuerungen sie abgemahnet, und für irrthümern gewarnet, haben einige grossen haß, feindschafft und mißtrauen gegen die Prediger stürmen laßen, sie aufs ärgeste gelästert und geschmähet […]“ (Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 65v). Vgl. Schilling, Apologie [s. Anm. 11], 141 f. Vgl. aaO, 143 f.

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2.2 Verhalten gegenüber den Predigern Hans Nikolaus Schilling ging argumentativ zum Angriff über, indem er vor dem Rat der Stadt zu Protokoll gab, dass er den Vorwurf, ein „Pietist“ zu sein, zurückweise.35 Er wisse nicht, was ein Pietist sei. Trotzdem hätten ihn die Prediger auf der Kanzel als einen solchen bezeichnet. Die Predigten in Pößneck seien nicht erbaulich und würden nicht zur Seligkeit führen. Der Grund liege darin, dass die Prediger die Schrift nicht recht verstünden und sie daher auch falsch auslegten. Der Adjunkt von Roda sei ein „Widerchrist“, der gegen Gott streiten würde, weshalb Schilling ihn nicht länger als seinen Pfarrer anerkennen könne. Die Prediger hätten ihn zudem auf den „breiten Weg“ der Sünde führen wollen.36 In der Zeit, als er ein Zänker, Säufer und Spieler gewesen sei, hätten sie ihn nicht getadelt. Jetzt aber, da er bekehrt worden sei und auf dem schmalen Weg der Christusnachfolge wandle, würden sie hart gegen ihn vorgehen.37 Durch ihren falschen, unchristlichen Lebenswandel und ihr Verhalten sei für ihn erwiesen, dass sie seiner Seele zuwiderhandelten und falsche Propheten seien.38 Hans Nikolaus Schilling machte seine Sicht auf den Konflikt auch durch sein Verhalten im Gottesdienst deutlich. Es heißt, dass er mehrfach während der Predigt laut gelacht oder ausgerufen habe, die Aussagen der Prediger seien nicht wahr.39 Predigtstörungen werden auch von weiteren Akteuren aus dem Umkreis Schillings berichtet. So habe Schillings Lehrjunge Haucke während des Gottesdienstes ebenfalls laut gelacht und beim späteren Verhör durch den Adjunkten die Predigten als „Geplapper“ bezeichnet.40 Ähnliche Kritik an den Predigern und ihren Predigten hätten auch Hans Nikolaus Schillings Sohn Hans Georg und Nikolaus Müntzer vorgebracht.41 Infolge dieser Konflikte sei Schilling senior des Öfteren dem Gottesdienst ferngeblieben. 2.3 Durchführung von Konventikeln unter Teilnahme fremder Personen Die Bildung von Konventikeln, vor allem im Haus Hans Nikolaus Schillings, war ein weiterer Anschuldigungspunkt, der die Gruppe bei den Gegnern verdächtig machte.42 Aus dem Bericht des Altenburger Konsistoriums geht hervor, dass die Teilnehmer dieser Treffen „nach der neuen Art in der Gottseligkeit sich üben, zu35 36 37 38 39 40 41

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Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 80r. Hier auch das Folgende. Vgl. aaO, 79v. Vgl. aaO, 80r–80v. Vgl. dazu auch die im Bericht wiedergegebenen Aussagen von Hans Georg Schilling (aaO, 82v). Vgl. aaO, 81. Vgl. aaO, 81r. Vgl. aaO, 83v. Zu Hans Georg Schilling führt der Bericht z. B. aus: „Insonderheit hat er für der Comission grosse feindschafft undt verbitterung wieder die Prediger blicken lassen, undt […] ihnen ins angesicht gesaget, sie wehren solche böse geister, wie sie Ezech. c. 34 beschrieben würden“ (aaO, 83r). Zu Nikolaus Müntzer vgl. aaO, 85v. Vgl. aaO, 66r–66v.

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sammenkommen, von Gottes Wort reden, singen und bethen.“43 Die Versammlungen führten demnach dazu, dass sich die Gruppe von den anderen Bürgern absondere und sich für besser erachte. Da man sich privat treffe, wüssten die Prediger nicht, was genau in diesen Zusammenkünften vorgehe. Gerüchte besagten, dass dort verächtlich vom Gottesdienst der ansässigen Prediger gesprochen werde. Besonders bei Hans Nikolaus Schilling fänden viele Zusammenkünfte statt, wo sich auch Personen von außerhalb, so beispielsweise die Söhne Sternbecks aus Saalfeld und der Student Frömmichen, einfänden.44 Gemäß der Apologie Johann Andreas Schillings habe sein Vater nicht bestritten, dass bei ihm Treffen stattfänden, bei denen auch gebetet werde. Den Konventikelvorwurf jedoch habe er entschieden zurückgewiesen. Dass man sich des Abends bei ihm privat treffe, so Schilling senior laut Apologie, sei vor allem eine Folge der verrohten Sitten in Pößneck, die sich unter anderem in Trinken, Tanzen, Spielen und Zanken äußerten. Hiervon enthielte man sich in den Konventikeln, um stattdessen zusammen zu beten und zu singen. Die Aufenthalte ortsfremder Personen seien demnach als Besuche ihm bekannter Personen zu charakterisieren. Diese kämen demnach nicht primär zu den Betstunden, doch könne ihnen auch nicht verboten werden, in solchen schweren Zeiten, „Gott Tag und Nacht zur Abwendung der Strafe“ anzurufen.45 Dem Bericht des Altenburger Konsistoriums zufolge hätten sich im Nachgang von Franckes Besuch auch Personen in Pößneck und Saalfeld aufgehalten, „welche mit dem Weigelii und anderen gefährlichen irrthümern behafftet, dieselben anderen beyzubringen“ aufgetreten seien.46 Als ein solcher Anhänger der Lehren Valentin Weigels (1533–1588) wird namentlich der Laborant Johann Triplier erwähnt. Im Herbst 1692 sei dieser nach Saalfeld gekommen, habe sich als Philosoph ausgegeben, in einigen Häusern gesprochen und die Schrift nach seinen Prinzipien ausgelegt. Triplier habe die Werke der Theologen gering geschätzt, aber viel auf Weigels und Jakob Böhmes (1575–1624) Schriften gegeben. Es sei ihm auf das innerliche, nicht auf das gepredigte Wort angekommen. Seiner Ansicht nach waren die Predigten der Geistlichen nur „Plapperwerk“, und die Taufe machte niemanden selig. Jedoch hielte er viel von unmittelbaren Offenbarungen.47 Leider kann nicht genau nachvollzogen werden, wer diese Person war. Aus den Gothaer Akten geht hervor, dass Triplier viermal in verschiedenen Häusern sprach und während seines Aufenthaltes sogar bei Paul Sternbeck wohnte. Vor allem dessen Sohn wird als Unterstützer genannt – er sei von Triplier unterwiesen worden. Superintendent Sternbeck geriet dadurch selbst ins Visier der Angriffe der Prediger und musste sich verteidigen.48 43 44 45 46 47

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AaO, 86r–86v. Vgl. aaO, 74r–75r; Schilling, Apologie [s. Anm. 11], 135 f. Vgl. aaO, 163 f. Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 66r. Vgl. Schreiben des Altenburger Konsistoriums an Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld, Altenburg, 17.1.1693 (FB Gotha Chart. A 308, 29–34). Im Bericht des Konsistoriums heißt es auch, dass Triplier „allerley irrige und verdächtige Reden geführet“ habe (Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 67r). Zu den Anschuldigungen insgesamt vgl. aaO, 67r–69v. Ebd.

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2.4 Verbreitung verbotener Schriften Eng mit dem Vorwurf der Rezeption weigelianischer und böhmistischer Lehren war die Anschuldigung verbunden, unter den Konventikelteilnehmern in Pößneck und Saalfeld würden verdächtige Schriften kursieren. Dabei spielten noch weitere Autoren eine Rolle. In einem im Actenmäßigen Bericht überlieferten Verhör des Kammerregistrators Arnold und des Hofschneiders Biedermann hatten diese zunächst verneint, Böhmes Schriften zu kennen. Als man sie dann aber damit konfrontierte, dass sie sich einige dieser Werke (bei einem nicht näher identifizierbaren Dr. Schneider) ausgeliehen hätten, gaben sie ihre Kenntnis der Schriften zu.49 Im weiteren Verlauf des Verhörberichts fällt im Zusammenhang mit verdächtigen Schriften auch der Name Christian Hoburg (1607–1675).50 Auf welchen Wegen das Schriftgut nach Pößneck gelangt ist, kann nicht ermittelt werden. Dass der genannte Triplier zumindest für die Werke Böhmes eine Rolle gespielt hat, liegt nahe. Ansonsten wäre an Johann Andreas Schilling zu denken, der in Leipzig in Besitz von mindestens einer Schrift Hoburgs war.51 Das Konsistorium resümierte in seinem Bericht zu den Konventikeln in Pößneck und Saalfeld: „Daraus erscheinet, daß diesen Leuthen verdächtige Bücher müssen recommendieret seyn und sie mit verdächtigen umgehen, welches sie auch verdächtig machet.“52 Der Streit hatte sich nach Franckes Besuch also vor allem an der Entstehung von Konventikeln entfacht – das sich entwickelnde Vorwurfsprofil schloss aber den Umgang mit ‚verdächtigen‘ Personen und Schriften ein. 3. DIE ENTWICKLUNG DER AUSEINANDERSETZUNGEN VON 1693 BIS 1697 3.1 Das Urteil des Altenburger Konsistoriums vom Herbst 1693 Da der zuständige Superintendent Paul Sternbeck die Anhänger und nicht die Gegner Franckes unterstützte, versuchten die beiden Prediger von Roda und Biedermann eine Lösung des Konfliktes in ihrem Sinne zu erwirken, indem sie jenen vor das Konsistorium in Altenburg brachten. Es kam zur Bildung einer Kommission und zu Verhören der beteiligten Akteure, in deren Ergebnis das Konsistorium 1693 seinen Kurze[n] actenmäßige[n] Bericht über die Vorgänge in Saalfeld und Pößneck vorlegte. Hier hieß es: Hierüber scheinet, als wenn einige dieser Leuthe sich selbst vermessen, daß sie from seyn, und große einbildung von ihrer Erleuchtung und Gottseligkeit haben, in dem sie von ihrer Bekehrung, Erleuchtung und Herrlichkeit viel rühmen, auch wohl andere neben sich verachten. […] 49 50 51 52

Sie hätten demnach die Frage so verstanden, als ob ihnen alle Schriften Böhmes bekannt seien. Dies hätten sie verneinen müssen. Vgl. aaO, 75v–76r. Vgl. aaO, 76v. Vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Brecht (Hg.): Geschichte des Pietismus [s. Anm. 3], 391–437, hier: 401 u. 426, Anm. 80. Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 76v–77r.

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Wenn nun alles, was angeführet worden, erwogen wird, ist nicht anders zu befinden, als daß diese Leuthe sich theils verdächtig, theils irre gemacht sind und selzsame impressiones haben, theils auch grossen haß wider ihre Prediger gefaßet […].53

Die beschriebenen Geschehnisse werden in eine Reihe gestellt mit Ereignissen um sogenannte Pietisten in Lüneburg, Wolfenbüttel, Halberstadt und Quedlinburg. Wie dort sei man hier dem „Enthusiasmo, Chiliasmo und anderer Schwermerey zugetan“.54 Das Vorgehen der Prediger gegen diese Personen und gegen den Pietismus im Allgemeinen wird deshalb als richtig beurteilt. Die Geistlichen hätten dadurch ihre Gemeinde vor größerem Schaden geschützt.55 Anders als Hans Nikolaus Schilling behaupte, sei ihr Handeln nicht von Hass gegenüber einer oder mehreren Personen, sondern von Sorge um den Frieden in der Gemeinde geleitet gewesen.56 Demgegenüber wurde das Verhalten Hans Nikolaus Schillings und seines Kreises ebenso scharf verurteilt wie die Rolle des Superintendenten Sternbeck, der sich auf die Seite der Pietisten gestellt, Triplier beherbergt, die Schriften Böhmes verteidigt und gegen die Prediger gehandelt habe.57 Das Konsistorium forderte, die Streitigkeiten beizulegen und stattdessen „eine gute Harmonie und Einigkeit zwischen dem H. Superintendenten und anderen Christlichen zustifften“.58 Allfällige Klagen seien dem Konsistorium vorzutragen. Beiden Parteien wurde befohlen, sich in „brüderlicher Liebe“ zu begegnen und die gegenseitigen Anschuldigungen zu „vergessen und [zu] vergeben.“59 Hans Nikolaus Schilling, Müntzer, Haucke und dem Hofschneider Biedermann wurde auferlegt, Abbitte und eine Ehrenerklärung zu leisten. Sie sollten sich zudem in Zukunft jeglicher diesbezüglicher Äußerungen enthalten und niemandem eine falsche Meinung beibringen.60 Das Urteil des Konsistoriums zielte auf eine Klärung der Streitigkeiten zu Gunsten der beiden Prediger. Deren Position wurde vor allem auch gegenüber derjenigen Sternbecks deutlich gestärkt.

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AaO, 86r–86v. Vgl. aaO, 87v. „So haben die Prediger zu Saalfeld und Pößneck nicht unrecht gethan, daß sie ihre Gemeine davon unterrichtet, was den Pietisten beygemessen würde, […] dafür gewarnet, sonderlich da sie gemerket, daß einige von ihren zuhörern denen so genannten Pietisten affectionieret, ihnen nachgezogen und ihre neue arth der Gottseligkeit zuüben beliebet […] daß sie wieder die Enthusiasten, Quäker, und anderer irrthümer geprediget und ihre zuhörer gewarnet […]“ (aaO, 87r–87v). Vgl. aaO, 87v–88r. „Hingegen können wir keinesweges billichen, daß der Superintendent Herr Paul Sternbeck, da er doch sonsten gänzlich dafürgehalten […] denen Predigern nicht beygestanden, sondern vielmehr die Pietisten ohn unterscheid, insonderheit was in Pößneck und Saalfeld fürgegangen, in seinen Actis und auch sonsten defendiret und ihnen das Wort geredet“ (Kurzer Actenmäßiger Bericht [s. Anm. 21], 88v). „Billichen können wir nicht, daß der Herr Superintendent wünschet, daß wir viel solcher Schismaticorum, wie Schilling […] hatten […] da doch Schilling ein grosser feind und halsstarriger verächter und lästerer seiner Prediger ist“ (aaO, 89v–90v, Zitat 89v). AaO, 90v. Vgl. aaO, 91r. Vgl. ebd.

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3.2 Die Ereignisse zwischen Oktober 1693 und 1696 Wie aus Briefen des Adjunkten von Roda von Ende 1693 und Anfang 1694 an das Konsistorium hervorgeht, führte das Urteil des Altenburger Konsistoriums allerdings nicht zur intendierten Beruhigung der Lage.61 Seine größte Sorge sei es, so von Roda im November 1693, dass Johann Andreas Schilling zurückkehren und zu einer Art Anführer und Prediger avancieren könnte. Darin sehe er die Gefahr einer weiteren Eskalation, da sich Schilling seit 1690 mehrfach als Pietist verdächtig gemacht habe. Schilling stehe in engem Kontakt zu Francke, was sich vor allem daran zeige, dass er sowohl in Leipzig als auch in Erfurt und Halle dessen Nähe gesucht habe. Zudem erscheine er namentlich in mehreren pietistischen Schriften.62 Aus dem Schreiben von Rodas vom Januar 1694 geht hervor, dass Johann Andreas Schilling zwischenzeitlich tatsächlich zu seinem Vater gereist war. Zudem heißt es, dass sich die Collegia noch verstärkt hätten und dass weiterhin fremde Personen bei Schillings Vater gastierten.63 Dieser besuche Beichte und Abendmahl nun nicht mehr in Pößneck, sondern an „fremden Orthen nicht ohne ärgernüß hiesiger Gemeinde“.64 Von Roda wusste auch zu berichten, dass Schilling senior an den Gottesdiensten Johann Heinrich Hassels (1640–1706) in Coburg teilnehme.65 Am 5. November 1694 griff Herzog Johann Ernst in die weiter eskalierenden Auseinandersetzungen ein und zwar mit einem Schreiben an den Superintendenten Sternbeck. Er forderte, dass Hans Nikolaus Schilling und die anderen Verdächtigen wegen der erneuten Beschwerden die vom Konsistorium geforderte Abbitte unverzüglich, spätestens aber bis zum Buß- und Bettag, vor dem geistlichen Ministerium zu leisten hätten.66 Dem waren vier Schreiben an den Herzog vorausgegangen, in denen das Konsistorium die Anschuldigungen von Rodas gegen Schilling näher dargelegt hatte.67 Sternbeck erwirkte aber offenbar das Zugeständnis, dass Schilling sich schriftlich zu den Anschuldigungen äußern konnte.68 Dem Rat der Stadt Pößneck meldete man am 3. Januar 1695, die Angelegenheit werde gründlich untersucht, damit „alle Blame von der Landesportion abgewendet wird“.69 Schilling solle bis auf weiteres dazu angehalten werden, das geistliche Ministerium zu respektieren. Über Sternbeck war es also gelungen, die geforderte Abbitte wenn nicht

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Vgl. W. F. v. Roda an das Altenburger Konsistorium, Pößneck, 21.11.1693 u. 25.1.1694 (FB Gotha Chart. A 308, 97r–98r [21.11.1693] u. 100r–101r [25.1.1694]). Vgl. aaO, 100. Vgl. aaO, 97r u. 100r. AaO, 97v. Dies geht aus dem Postskriptum des Schreibens von Rodas vom 21.11.1693 hervor (vgl. aaO, 101r). Vgl. Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld an P. Sternbeck, Saalfeld, 5.11.1694 (FB Gotha Chart. A 308, 113r). Die vier Schreiben des Konsistoriums datieren vom 12. u. 29.1., 14.8. u. 30.10.1694 (vgl. aaO, 102r–110v). Vgl. hierzu Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld an P. Sternbeck, Saalfeld, 9.12.1694 (FB Gotha Chart. A 308, 114r). AaO, 115r.

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abzuwenden, so doch hinauszuzögern und zudem die Möglichkeit zu erhalten, die eigene Sicht der Dinge in einer Verteidigungsschrift darzulegen. Johann Andreas Schilling, der sich zu dieser Zeit in Niederndodeleben bei dem Ehepaar Petersen aufhielt, verfasste daraufhin im Februar 1695 die geforderte Apologie.70 Ausführlich legte er darin die Geschehnisse zwischen 1689 und 1695 dar und wies den Predigern von Roda und Biedermann die Hauptschuld an der Eskalation der Ereignisse zu. Diese hätten einen Argwohn gegen seinen Vater und auch gegen Francke entwickelt und infolgedessen beide angegriffen. Die Attacken hätten schließlich eine solche Heftigkeit angenommen, dass die ganze Familie durch die Einwohner Pößnecks angefeindet worden sei. Aufgrund dieser Anfeindungen habe sich sein Vater, so Johann Andreas Schilling, letztlich dazu entschlossen, den dortigen Gottesdienst nicht mehr zu besuchen. Um seiner Verteidigungsschrift mehr Gewicht zu verleihen, legte Schilling ihr ein Rechtsgutachten von Christian Thomasius (1655–1728) bei, in dem dieser auf unterschiedliche Verfahrensfragen einging.71 Zusätzlich fügte er einen zeitgleich abgefassten Brief Franckes an Herzog Johann Ernst an.72 Francke ging darin auf seinen Besuch 1690 in Saalfeld und Pößneck ein und betonte, dass er dabei auch die Prediger beider Orte gesprochen habe. Er ergriff nicht nur Partei für Schilling, sondern es ging ihm vor allem auch um seine eigene Situation. So setzte er die Geschehnisse in Pößneck mit den Auseinandersetzungen um seine Person in Halle gleich und betonte, dass die Untersuchungskommission in Halle ihn für unschuldig befunden habe. Auf diese Weise brachte er zum Ausdruck, dass er die Anschuldigungen der Prediger in Saalfeld und Pößneck sowie des Altenburger Konsistoriums gegen ihn für ungerechtfertigt hielt. Über diese Argumentation gelangte er zum Schluss, dass auch die Anschuldigungen gegen Schilling und dessen Kreis nicht aufrechtzuerhalten seien. Die Prediger seien vielmehr getrieben von einem starken „Pietistenhaß“, den er auch aus Halle kenne. Francke hatte schon zwei Jahre zuvor vergeblich versucht, auf den Diakon Biedermann einzuwirken.73

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Vgl. J. A. Schilling an Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld, Magdeburg, 20.2.1695, wo es heißt: „Weil mich aber Gott eine geraume zeit dem gel[iebten] Petersen-hause zugeordnet […]“ (FB Gotha Chart. A 308, Bl. 119r). Schillings Name findet sich zusammen mit denen der Petersens auch in einem Stammbucheintrag bei Daniel Falkner, vgl. Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus. Göttingen 2005 (AGP, 45), 105, Anm. 434. Vgl. das Rechtsgutachten von Christian Thomasius für J. A. Schilling, Halle, 4.6.1695 (AFSt/H A 190: 187–190 sowie FB Gotha Chart. A 309, 35–51). Vgl. A. H. Francke an Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld, Halle, 4.6.1695 (AFSt/H A 190: 191–193r sowie FB Gotha Chart. A 309, 53–65). Vgl. den Abdruck der Antwort Biedermanns an Francke vom 19.7.1693 bei Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 308 f. Darin berichtet Biedermann, dass er anfangs an Schillings Haltung keinen Anstoß genommen, seine Meinung jedoch wegen der Zusammenkünfte in dessen Haus und Schillings Verhalten ihm gegenüber geändert habe.

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3.3 Die Gutachten der theologischen Fakultät Jena (1696) und der Altenburger Kommission (1697) Wie ein Gutachten der Theologischen Fakultät Jena aus dem Jahr 1696 zeigt, hatte Johann Andreas Schillings Apologie trotz der begleitenden Schreiben von Thomasius und Francke nicht den intendierten rechtlich und theologisch entlastenden Effekt für ihn und seinen Vater.74 In diesem Gutachten wurden zunächst nochmals die Geschehnisse ab 1690 dargelegt. Darauf folgte eine ausführliche Beurteilung der Apologie Schillings, die mehrere Irrtümer des Kreises um dessen Vater in Lehre und Praxis aufführte. Dabei wurde herausgestellt, dass die Konventikel auf keinen Fall zu dulden seien, sondern unterbunden werden müssten.75 Der Hauptkritikpunkt der Theologischen Fakultät betraf das „innere Licht“, das Johann Andreas Schilling und die anderen Personen als Legitimation anführten, um die Rechtmäßigkeit der Lehre der Prediger beurteilen und gegen die Pößnecker Pfarrer vorgehen zu können.76 In diesem Kontext würden sie auch ekstatischen Erscheinungen und Träumen Offenbarungscharakter beimessen.77 Vom Abendmahl lehrten sie, dass die Wiedergeborenen sich davon enthalten könnten.78 Zudem sähen Hans Nikolaus Schilling und dessen Lehrjunge die Lehren von Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) als orthodox an.79 So lautete das Fazit des Gutachtens: „Solche und in Wahrheit viel mehrere errores und höchstgefährliche ärgerliche Meinungen seynd in dieser weitläuffigen Apologia enthalten.“80 Sie sei keineswegs zu billigen, weil man die Angelegenheit „nur als eine große auf sich habende und große SeelenLand- und Leute Gefahr nach sich ziehende Sache halten“ könne.81 Vor diesem Hintergrund riet die Theologische Fakultät Jena zu handeln. Sie schlug vor, den Beschuldigten zunächst aufzuzeigen, gegen wen sie gesündigt hätten – nämlich gegen das Predigerministerium, die Kommissare, das Konsistorium und schließlich auch gegen den Fürsten selbst. Damit sie zur Einsicht kämen, sollten sie zur Satisfaktion angehalten werden und öffentlich Kirchenbuße ablegen.82 Falls sie aber bei ihrer „Herzenshartnäckigkeit“ blieben, dann könne man, so das

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Vgl. Gutachten der Theologischen Fakultät Jena, Jena, 5.2.1696 (FB Gotha Chart. A 308, 121r– 151v). Vgl. aaO, 130. „Schrecklich ist zu lesen, dass die Leuthe durch ihr innerliches Licht wollen wissen, welche Priester, welche Consistorialen, sie mögen äußerlich lehren und ihr Ampt verrichten, wie sie wollen, darnach unchristen seyn, die man weder hören noch ehren solle“ (aaO, 134). Vgl. aaO, 138v–139r. Vgl. aaO, 135v. „Ja die Leuthe […] entblöden sich nicht zum exempel D. Petersen […] der in öffentl. Schrifften seiner errorum solide überführet worden, vor orthodox auszugeben und anderen reinen Lehren vorzuziehen“ (aaO, 137v). AaO, 143r. AaO, 132r. Im Gutachten wurden dabei die Stellen in der Apologie aufgelistet, die gegen die genannten Personen gerichtet seien (vgl. aaO, 145r–149v).

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Gutachten, „mit gutem Gewissen nicht ersehen wie sie in Stadt und Land länger ohne große Ärgerniß und erschreckliche Gefahr zu dulden sind“.83 Die Auseinandersetzung zog sich jedoch noch weiter hin. Im Mai 1697 kam das Altenburger Konsistorium zum gleichen Ergebnis wie zuvor schon das Jenaer Gutachten: Wollten die Betreffenden weiterhin bei ihrer Lehre bleiben, so bliebe zur Befriedung der Situation nur die Option des Landesverweises.84 Im Jahr 1697 brechen die Quellen ab. Eine Landesverweisung, wie sie 1697 im Raum stand, ist offenbar nicht erfolgt. Dies legt jedenfalls ein Brief Johann Andreas Schillings an Francke vom 25. August 1721 nahe, der um den Lebenslauf von dessen Vater gebeten hatte. Schilling berichtete darin, dass die Anschuldigungen im Sand verlaufen wären, nachdem man die Angelegenheit auf Anraten Hassels Herzog Albrecht von Sachsen-Coburg (1648–1699) als Direktor des ernestinischen Hauses vorgestellt hätte.85 Bis in die zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts stand Schilling also mit Francke in Kontakt – und Francke interessierte sich für den Lebenslauf von dessen Vater, den er vermutlich für ein vorbildliches Beispiel christlicher Lebensführung hielt. Noch 1717 hatte der ältere Schilling 84-jährig Francke in Begleitung seines Sohnes Johann Andreas und seiner Enkel in Halle besucht.86 4. FAZIT Überblickt man die Geschehnisse der Jahre ab 1690/91 in Pößneck und Saalfeld, so ist festzuhalten, dass die pietistische Bewegung hier früh Fuß fassen konnte. Von herausgehobener Bedeutung waren dabei die Verbindungen nach Leipzig und Erfurt. Es war der aus Pößneck stammende Student Johann Andreas Schilling, der pietistisches Gedankengut in seine Heimat brachte, und es war dessen Vater Hans Nikolaus Schilling, der sie dort am intensivsten und aktivsten rezipierte. Der Vater reiste ab 1690 selbst nach Leipzig, Erfurt und Halle, insbesondere, um Francke zu sehen. Katalytische Wirkung für die Entwicklungen in Saalfeld und Pößneck hatte der Besuch Franckes in diesen Orten. Danach intensivierten sich die außergottesdienstlichen Zusammenkünfte deutlich. Hans Nikolaus Schilling spielte dabei eine Schlüsselrolle; sein Haus bildete das Zentrum der Versammlungsaktivitäten. In den Kreisen um Hans Nikolaus Schilling las man auch verbotene Schriften, z. B. von Böhme und Weigel. Diese wurden möglicherweise durch andere, in der Zeit nach Franckes Besuch von außerhalb hinzukommende Personen eingebracht, unter denen dem Anschein nach der Laborant Triplier besonderen Einfluss gewann. Die Geschehnisse führten dazu, dass die örtlichen Prediger vor allem gegen Hans Nikolaus Schilling beim Oberkonsistorium in Altenburg vorgingen, weshalb es zu mehreren Verhören kam. Die pietistische Bewegung hatte im saalfeldischen Superintendenten und Hofprediger Sternbeck aber einen Unterstützer und Verteidi83 84 85 86

Ebd. Vgl. Schreiben des Altenburger Konsistoriums an Herzog Johann Ernst von Sachsen-Saalfeld, Altenburg, 18.5.1697 (FB Gotha Chart. A 308, 196r). Die Passage ist abgedruckt bei Wotschke, Pietismus in Ostthüringen [s. Anm. 1], 307. Vgl. ebd.

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ger. Erst als die Prediger sich beim Konsistorium über Sternbeck beklagten, geriet dieser selbst in Bedrängnis. Auch Francke versuchte, den Konflikt zugunsten der pietistischen Bewegung zu beeinflussen, indem er 1693 direkten Kontakt zu Diakon Biedermann aufnahm und der Apologie Johann Andreas Schillings 1695 ein verteidigendes Schreiben an den Herzog beifügte. Somit sind schon früh Sympathisanten Franckes in Saalfeld und Pößneck und damit auch ein Einfluss der Leipziger Bewegung an diesen Orten zu lokalisieren. Offensichtlich haben die Geschehnisse aber keine Breiten- und Langzeitwirkung gehabt.

OTTO HEINRICH BECKER (1667–1723) ZWISCHEN WALDECK UND REUSS Wolfgang Breul 1. OTTO HEINRICH BECKERS WERDEGANG ZWISCHEN WALDECK UND REUSS Otto Heinrich Becker zählt nicht zu den bekanntesten Figuren des Pietismus, obwohl er mit der umfassenden Reform in der Grafschaft Waldeck (1701–1711) und der Konzipierung des sogenannten Büdinger Toleranzpatents (1712) in dessen Geschichte durchaus wichtige Spuren hinterlassen hat. Die letzte Station seines Wirkens bildete die Grafschaft Reuß-Obergreiz, wo er bis zu seinem Tod als Direktor von Kanzlei und Konsistorium tätig war (1714–1723). Dieser Beitrag fragt nach Kontinuitäten und Entwicklungen in der Konzeption von Beckers Kirchenreformansatz, der vom Halleschen Pietismus geprägt war. Otto Heinrich Becker entstammte einer angesehenen Familie im waldeckischen Mengeringhausen, das von 1689 bis 1728 die Kanzlei der Grafschaft beheimatete. Nach einem Jurastudium an der kleinen lutherischen Universität Rinteln, das er 1690 mit dem Lizenziat abschloss,1 fand er offensichtlich zunächst keine feste Anstellung und hielt sich zumindest zeitweise in seiner Heimat auf.2 Spätestens 1695 fand er Anstellung bei Clamor von dem Bussche (1640–1723), der um 1700 zu den wichtigsten Personen des westfälischen Pietismus gehörte und nicht nur mit Spener und Francke in Kontakt stand, sondern offensichtlich zum mystischen Spiritualismus tendierte.3 Becker arbeitete zunächst als Hofmeister und Informator, später als 1

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Der Studienbeginn lässt sich nicht genau feststellen, da die Rintelner Matrikel nicht erhalten ist. Becker disputierte am 28. Februar 1690 unter dem Vorsitz von Heinrich Bode pro licentia (IUS MUNDI SEU VINDICIÆ JURIS NATURÆ Publica DISPUTATIONE JURIDICA, DEO Clementer Assistente, PRÆSIDE VIRO NOBILISSIMO, AMPLISSIMO atque EXCELLENTISSIMO Dn. Henrico Bodino, J. U. D. & in hac inclyta Hasso-Schaumburgica Adademia J. Can. Prof. Ord. celeberrimo, DOMINO […] Ab OTTONE HENRICO Becker / Mengeringhusio-Waldeccense […] Die 28. Februarii, Anno 1690, Rinteln: Gottfried Caspar Wächter, 1690). Die Disputation wurde 1698 und 1711 bei Christian Henckel in Halle nachgedruckt. Darauf verweist eine in den Zeitraum 1693 bis 1695 zu datierende Bittschrift an den regierenden Grafen Christian Ludwig, in der er sich um Anstellung bewarb (vgl. Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 123 Nr. 2229; Wolfgang Breul: Generalreform. August Hermann Franckes Universalprojekt und die pietistische Neuordnung in der Grafschaft Waldeck. [erscheint Göttingen 2019], Kap. 3.4. Eine ausführliche Darstellung zu von dem Bussche fehlt. Die Leichenpredigt des pietistischen Inspektors der Grafschaft Ravensberg und Pfarrers in Bielefeld Bernhard Georg Dreckmann (1686–1730) gibt recht detailliert Auskunft über von dem Bussches Vita (vgl. B. G. Dreckmann: Eines Erfahrnen und Christlichen Ministers sehnliches Verlangen nach der völligen De-

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Sekretär und Amtmann, auch für die Herren von Hahn in der Herrschaft Seeburg.4 Während dieser Tätigkeit erwarb er 1699 in Halle unter Samuel Stryk den Lizenziatengrad5 und knüpfte bei einem Aufenthalt in Halle im Herbst 1698 Kontakt zu August Hermann Francke (1663–1727). Vermutlich fällt in die Zeit der Anstellung bei Clamor von dem Bussche Beckers Hinwendung zur pietistischen Frömmigkeit Hallescher Prägung. Sein erster in Halle verfasster Brief an Francke lässt diese Orientierung bereits erkennen: Ich empfehle mich dehro andächtigen vorbitte, die ich auch mit gantzem ernst begehre, daß Gott auch mir wolle geben, starck zu werden an dem inwendigen menschen, der noch so gar schwach in mir ist, darumb ich täglich seuftze, daß mich Gott wolle stärcker machen und mehr kräffte geben, die affecten zubezwingen, aber, ach, es wil ja nicht fort, Gott helffe doch endlich.6

Otto Heinrich Becker trat wahrscheinlich im Frühjahr 1701 den Dienst als Regierungs- und Konsistorialrat in seiner Heimatgrafschaft an.7 Es ist nicht auszuschließen, dass die Berufung auf eine Empfehlung August Hermann Franckes an Graf Christian Ludwig (1635–1706) zurückging, der im Sommer 1700 mit seiner Frau Halle besucht hatte.8 Obwohl Becker nach dem in der waldeckischen Kanzlei

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mission […] Clamor von dem Bussche […]. Bielefeld: Diederich Bädeker Nachf. [1723]). Nach den Aussagen der Leichenpredigt ist von dem Bussche schon während seines Studiums in Rostock durch Theophil Großgebauer (1627–1661) mit dem „wahren Christenthum und rechtschaffenem Wesen, das in Christo Jesu ist, in Berührung gekommen und hat mit dem sehl. Herrn Spenerum und andere[n] treue[n] Knechte[n] Gottes […] zum Theil in guter Bekantschaft und Correspondence gestanden“ (Dreckmann, aaO, 57). Vgl. Christian Peters: Israel Clauder (1670–1721). Hallischer Pietismus in Minden-Ravensberg. In: Zwischen Spener und Volkening. Pietismus in Minden-Ravensberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. v. dems. [u. a.]. Bielefeld 2002 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 23), 9–127, hier: 68–70. Vgl. Otto Heinrich Becker: Abgenöthigte Apologie und Schutz-Schrifft Wieder Eine unter der Rubric HISTORIA PIETISTICA WALDECCENSIS heraus gekommene Schmäh-Schrifft / Worinnen Die in jetzt gedachter Historia enthaltene grobe Unwahrheiten und boßhaffte Verleumbdungen ex ipsis Actis und Original-Uhrkunden / so beym Kayserl. Cammer=Gericht producirt seyn / refutiret worden. Nebst vielen Beylagen / Darunter verschiedene herrliche / Christlichen Obrigkeiten und CONSISTORIIS sehr nützliche RESPONSA, CONSILIA und VOTA zu finden. Bey dem Hochpreisl. Kayserl. Reichs Cammer=Gericht übergeben. O. O. 1712, 44. DISPUTATIO INAUGURALIS DE JURE MILITIÆ CIRCULARIS, […] PRÆSIDE DN. SAMUELE STRYKIO, JCto, […] pro summis in utroque Jure honoribus ac privilegiis Doctoralibus legitime impetrandis, | […] d. Septembr. MDCIC […] OTTO HENRICH Becker / Mengeringhusio Waldeccensis. Halle: Christian Henckel 1699. In seinen nachfolgenden Publikationen führte Becker den Doktortitel nicht, vermutlich hat er das Doktordiplom nicht gelöst. Diese Disputation unter Samuel Stryk ist Beckers letzte juristische Publikation. AFSt/H Nr. F 11, 24.9./4.10.1698, 687 f. Vgl. dazu Breul, Generalreform [s. Anm. 2], Kap. 3.4. Terminus ad quem ist die früheste datierte Erwähnung Beckers in der Synodalinstruktion des waldeckischen Konsistoriums vom 21.5.1701 (vgl. LKAK der EKKW Waldeckisches Konsistorium, Nr. 345, Synodalprotokolle 1701–1710, Instruktion Graf Christian Ludwigs, Arolsen, Bl. 4v). Ein bislang unbeachteter Brief von Johann Friedrich Botterweck (1669–1726) an seinen Lehrer Johann Henrich May (1653–1719) in Gießen vom 16.11.1700 berichtet über die Berufung Beckers aus seiner Wiener Tätigkeit nach Waldeck und Versuche seiner künftigen Ratskollegen, „durch listige praktiquen es […] so zu karten, daß demselbigen sein dienst möchte auffgesagt

Otto Heinrich Becker (1667–1723) zwischen Waldeck und Reuß

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geltenden Anciennitätsprinzip sich „als penultimus, hernach als ultimus Collega“9 eigentlich zurückhaltend in die Regierungsarbeit hätte einfügen müssen, hat er binnen weniger Jahre eine ebenso durchdachte wie umfassende pietistische Reform Hallescher Provenienz mit großer Beharrlichkeit auf den Weg gebracht.10 Das war möglich, weil und solange Otto Heinrich Becker den Rückhalt des regierenden Fürsten Christian Ludwig und dessen zweiter Frau Johannette (1657–1733) hatte. Als der regierende Fürst jedoch Ende 1704 schwer erkrankte und schließlich 1706 starb, erlahmte das Tempo der Reformen.11 Nachdem die Erbschaftsfragen 1710 zwischen dem Primogenitus aus erster Ehe und der Witwe mit ihren Kindern vertraglich geregelt waren, beendete der Nachfolger, Graf Friedrich Anton Ulrich (1676–1728), schließlich die pietistische Reform in Waldeck. Ihre Protagonisten verließen Waldeck, Otto Heinrich Becker wechselte im September 1711 in die Grafschaft Isenburg-Büdingen. Bei diesem Wechsel spielten die Beziehungen Beckers und anderer Vertreter des waldeckischen Pietismus nach Frankfurt eine Schlüsselrolle.12 Als Vorsitzender der Regierungskanzlei konzipierte Becker in Büdingen das oben genannte Mandat, das reichsweit für Aufsehen sorgte.13 Am 29. März 1712

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werden, unter allerhand praetexten, welches ihnen aber, Gott sey danck, nicht gelungen. Vielmehr sei der Herrschafft die augen zum theil auffgethan, daß sie sehen, was diese leute im schilde führen.“ (SUB Hamburg, Carl von Ossietzky, Supellex epistolica Uffenbachii et Wolfiorum [4o] 13, 101v). So die antipietistische Historia Pietistica Waldeccensis […]. Auff Special gnädigstem Befehl einer Regierenden Landes=Obrigkeit entworffen / vnd gedruckt. Korbach: Johann Flertmann 1712, 46. Sie wirft Becker vor, er habe die ranghöheren Kollegiumsmitglieder „mit der grösten Ungestüm“ übergangen und sich so eifrig engagiert, „als wann er Praeses absolutissimus wäre“ (ebd.). S. u. Abschnitt 2. Vgl. Breul, Generalreform [s. Anm. 2], Kap. 3.6. In den überlieferten Akten zur Anstellung Beckers in Obergreiz sind Abschriften dreier Schreiben zur Anbahnung der Anstellung in Isenburg-Büdingen erhalten: 1. ein Schreiben Graf Ernst Casimirs von Isenburg-Büdingen (1687–1749) an seinen Onkel und ehemaligen Vormund Carl August von Isenburg-Büdingen-Marienborn (1667–1725), in dem er die Absicht erklärt, auf dessen Vorschlag hin nun Otto Heinrich Becker anzustellen (Büdingen, 6.6.1711); 2. ein Schreiben des Oberamtmanns und Rats Johann Jacob Metting (vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht [u. a.]. Göttingen 1993, 391–437, hier: 420) an [Christian] Fende (1651–1746) in Frankfurt über ihre Bemühungen, Becker in eine Isenburger Anstellung zu bringen (Marienborn, 11.6.1711); 3. eine kurze Antwort Fendes (Frankfurt, 13.6.1711) (vgl. ThStA Greiz PK Nr. B 111, Bl. 1 f.). Die Verbindung Beckers zu Fende und Metting könnte über den Kaufmann und Rat Konrad Valentin Reineck (1657–1721) zustande gekommen sein. Sein Bruder, der pensionierte Kammerrat Henrich Christoph Reineck (1649– 1734), war eine wichtige Figur des waldeckischen Pietismus. In Greiz stand Otto Heinrich Becker mit dem Frankfurter Reineck in Kontakt (vgl. Otto Heinrich Becker an Graf Heinrich II., Greiz, 1.4. u. 20.5.1715, ThStA Greiz PK Nr. B 111, Bl. 29r u. 33r). Zu Christian Fende und dem Frankfurter Reineck vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 107–197, hier: 156–159. Vgl. Hans Schneider: Pietismus, Ökonomie und Toleranz. Das Büdinger Toleranzedikt von 1712. In: [Pietismus und Ökonomie]. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. [erscheint Göttingen 2019];

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proklamierte der regierende Graf Ernst Casimir (1687–1749) in seinem Territorium in Religionssachen „vollkommene Gewissens-Freyheit jedermann“14, einschließlich religionsloser Positionen. So weit war bisher keine fürstliche Ordnung im Reich gegangen, auch nicht die Edikte für die französischen Glaubensflüchtlinge eine Generation zuvor. Dem Isenburger Grafen trug dies ein Verfahren vor dem Reichskammergericht ein, was dafür sorgte, dass dem Konzipienten bald der Boden zu heiß wurde – nicht zuletzt auch wegen juristischer Nachstellungen aus Waldeck. Otto Heinrich Becker wechselte nach Reuß-Obergreiz, wo er bis zu seinem Tod 1723 als Direktor der Kanzlei wirkte. Den Wechsel hatte Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz (1681–1748) als Vormund schon im Spätsommer 1713 angebahnt, vollzogen wurde er jedoch erst im Sommer 1714,15 obwohl sich Becker bereits seit Herbst 1713 im südlichen Thüringen aufhielt16 und Anfang Januar 1714 seinen Dienst antrat.17 Becker war als Kanzleidirektor verantwortlich für Justiz, Kanzlei, Ämter und Konsistorium.18 Das Haus Reuß ging aus dem Ministerialengeschlecht von Weida hervor, das seit etwa 1180 Reichsgüter an der Elster besaß. Die Teilung war schon im Spätmittelalter ein wesentliches Merkmal dieses Geschlechts und blieb es auch in der Frühen Neuzeit. Im 16. Jahrhundert entstanden drei Reußische Linien, von denen zwei überdauerten. Während aus der jüngeren Linie nach dem Ende der mittleren (1616) die Linien Reuß-Gera, Reuß-Schleiz, Reuß-Lobenstein und Reuß-Saalburg (bis 1666) entstanden, ging aus der älteren Linie die Herrschaft Reuß-Greiz hervor,

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Hans Schneider: Konfessionalität und Toleranz im protestantischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Konfessionalisierung vom 16.–19. Jahrhundert. Kirche und Traditionspflege. Referate des 5. Internationalen Kirchenarchivtags Budapest 1987. Hg. v. Helmut Baier. Neustadt a. d. Aisch 1989 (Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der evangelischen Kirche, 15), 87–106. Zitiert nach Schneider, Ökonomie [s. Anm. 13], Anm. 77. Vgl. Bestallung Otto Heinrich Beckers vom 12.7.1714, ausgestellt Schloss Greiz, von Graf Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz und Gräfin Henriette Amalia von Reuß-Obergreiz (ThStA Greiz Landesregierung Greiz [im Folgenden LG], a.Rep.A. Kap. 5, Nr. 28b, Bd. 2, Bl. 1r–6r). Vgl. auch ThStA Greiz, Amt Greiz Nr. 47 (zur Bezahlung der Zinsen und Fuhrgelder Beckers, 1714–1716). Entgegen dem Vokationsschreiben hatten die beiden vormundschaftlichen Regenten von ReußObergreiz, Heinrich XXIV. und Henriette Amalie (s. u.), ihren künftigen Kanzleidirektor am 22.9.1713 gebeten, wegen ihrer Reise nach Schlesien nicht im Herbst des Jahres, sondern erst im darauffolgenden Frühjahr den Dienst anzutreten. Becker hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits seine „Mobilien“ nach Saalfeld geschickt sowie Vieh und unbeweglichen Hausrat verkauft (vgl. Otto Heinrich Becker an Gräfin Henriette Amalie, Büdingen, 6.10.1713, ThStA Greiz PK B 111, Bl. 3r–v). Ohne Unterstützung musste die Familie die Zeit vermutlich bei Beckers Schwiegermutter in Saalfeld überbrücken. Am 30.10.1713 informierten die beiden Vormünder Räte, Befehlshaber und Konsistorium in Obergreiz vom Stellenantritt Beckers (vgl. aaO, Bl. 8v). Am 9.1. wurden für den 12.1.1714 Dorfrichter, Amtsleute, Verwalter und der Stadtrat von Zeulenroda zum Dienstantritt Beckers nach Greiz gerufen (vgl. ThStA Greiz LG, a.Rep.A. Kap. 5, Nr. 28b, Bd. 1, Bll. 1 f.; ThStA Greiz PK B 111, Bl. 10). Becker wurde am 12.1.1714 im Beisein Heinrichs XXIV. auf die vormundschaftliche Regierung für die Grafen Heinrich I. und Heinrich II. vereidigt (vgl. ThStA Greiz LG, a.Rep.A. Kap. 5, Nr. 28b, Bd. 1, Bl. 3). Vgl. Bestallung Otto Heinrich Beckers vom 12.7.1714 [s. Anm. 15], Bl. 2r–3r.

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aus der sich wiederum Reuß-Obergreiz und Reuß-Untergreiz bildeten. Weitere Teilungen dieser Linien waren nicht von Dauer, ein Nebenrezess zum Familienpakt von 1668 legte die Primogenitur fest, die 1690 kaiserlich bestätigt und danach weitgehend eingehalten wurde. Das Haus Reuß-Greiz wurde 1673 in den Grafenstand (wetterauische Reichsgrafen) erhoben und 1778 gefürstet.19 Um 1700 und im frühen 18. Jahrhundert war das Haus Greiz durch eine Reihe von Personen mit dem Pietismus verbunden. Zu den bekanntesten zählt Erdmuthe Dorothea (1700–1756)20 aus der Linie Reuß-Ebersdorf21, die spätere Frau Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700–1760). Die Blut- und Wundenfrömmigkeit der Hofgemeinde Reuß-Ebersdorf hat den Reichsgrafen nicht unwesentlich beeinflusst.22 Für den Halleschen Pietismus ist Graf Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz eine wichtige Figur, er stand in engerem Kontakt mit August Hermann Francke.23 Das Haus Köstritz war ein apanagierter Seitenarm der jüngeren Reußischen Linie (Paragium),24 die eigentliche Landeshoheit lag bei seinem Bruder. Heinrich XXIV. übte nach dem Tod Graf Heinrichs VI. (1649–1697)25 ab 1703 gemeinsam mit dessen Witwe Henriette Amalie (1668–1732, geborene Freiin zu Friesen) die vormundschaftliche Regentschaft für die beiden minderjährigen Grafen Heinrich I. und Heinrich II. aus. Obergreiz war zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Kleinstterritorium, das aus der halben Residenzstadt Greiz (um 1700 ca. 1600 Einwohner26) einschließlich des oberen Schlosses und der Stadt Zeulenroda sowie etwas über zwanzig kleineren 19

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Vgl. Anke Brunner: Aristokratische Lebensform und Reich Gottes. Ein Lebensbild des pietistischen Grafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz (1681–1748). Herrnhut 2005 (Beiheft der UF, 13), 16–18; Willy Flach: Die staatliche Entwicklung Thüringens in der Neuzeit. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde N. F. 35, 1941, 6–48; Hans Patze u. Walter Schlesinger: Geschichte Thüringens. Bd. 3: Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Köln, Wien 1967, 277 f.; Gerhard Köbler: Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 61999, 519 f. Vgl. Erika Geiger: Erdmuth Dorothea Gräfin von Zinzendorf. Holzgerlingen 32009. Das Haus Reuß-Ebersdorf aus der jüngeren Linie bestand bis 1848. Vgl. Hans Schneider: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf als Gestalt der Kirchengeschichte. In: Graf ohne Grenzen. Ausstellung im Völkerkundemuseum Herrnhut. Hg. v. Unitätsarchiv Herrnhut (Red. Dietrich Meyer). Herrnhut 2000, 10–29, hier 15 f.; Dietrich Meyer: Zinzendorf und Herrnhut. In: Geschichte des Pietismus 2 [s. Anm. 12], 1–106, hier: 17–20. Heinrich XXIX. (1699–1747), der Bruder Erdmuthe Dorotheas, nahm seit 1732 Emigranten auf, woraus sich eine Niederlassung der Brüdergemeine entwickelte. Vgl. A. H. Franckes Briefe an den Grafen Heinrich XXIV. j. L. Reuß zu Köstritz und seine Gemahlin Eleonore aus den Jahren 1704 bis 1727 als Beitrag zur Geschichte des Pietismus. Hg. v. Berthold Schmidt u. Otto Meusel. Leipzig 1905. Die von Heinrich XXIV. begründete apanagierte Linie Reuß-Köstritz ist seit 1927 die einzige noch bestehende Linie des Hauses. Alle männlichen Mitglieder des Hauses Reuß trugen seit dem Hochmittelalter den Namen Heinrich. Das Hausgesetz von 1668 hielt dies fest und bestimmte, dass die römische Nummerierung nach bestimmten Regeln neu beginnen könne, um allzu hohe Ordinalzahlen zu vermeiden. So erhielten die Söhne Graf Heinrichs VI. von Obergreiz (1649–1697), der im Türkenkrieg 1697 (Zenta) als königlicher Generalfeldmarschall tödlich verwundet wurde, die Namen Heinrich I. (1693–1714) und Heinrich II. (1696–1722). Brunner, Aristokratische Lebensform [s. Anm. 19], 102.

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Dörfern und Pfarreien bestand. Alles in allem umfasste der Herrschaftsbereich, dem Otto Heinrich Becker in seinem letzten Lebensjahrzehnt als Kanzleidirektor vorstand, kaum mehr als 10.000 Einwohner.27 2. DIE PIETISTISCHE REFORM IN DEN GRAFSCHAFTEN WALDECK UND REUSS-OBERGREIZ Beckers Reform in der Grafschaft Waldeck setzte vor allem in drei Bereichen an: a. Im Schulwesen suchte er die ganzjährige Schulpflicht für alle Kinder ab fünf Jahren und eine verlässliche Bezahlung der oft nur sehr unzureichend befähigten, geschweige denn ausgebildeten, Lehrer durchzusetzen. Das große Engagement Beckers sowie von Teilen des Konsistoriums und der lokalen Beamten traf jenseits der wenigen waldeckischen Städte auf massiven Widerstand der häufig in ärmsten Verhältnissen lebenden Eltern, welche die Arbeitskraft der Kinder in den Sommermonaten uneingeschränkt für die landwirtschaftlichen Arbeiten nutzen wollten. Das neu geschaffene Amt eines Inspektors nach Halleschem Vorbild und mit Halleschem Hintergrund28 sollte mit ausgedehnten Visitationsreisen und regelmäßigen Konferenzen der Lehrer für eine qualitative Verbesserung des Unterrichts sorgen. Wie sich Otto Heinrich Becker guten Unterricht vorstellte, ist der 1704 veröffentlichten und von der Forschung bisher kaum beachteten Schulordnung zu entnehmen, die neben Regelungen für die äußeren Rahmenbedingungen des Unterrichts vor allem den Lehrern detaillierte Anweisungen gibt, wie sie im Sinne der Halleschen Pädagogik Vorbild sein und die Schüler durch den Bußkampf zu wahrem Glauben führen können.29 Das große Interesse Beckers an einer guten Pädagogik dokumentieren die der Ordnung beigegebenen pädagogisch-theologischen Anleitungen und Materialien in Form von exemplarischen Unterrichtsgesprächen, Unterrichtsfragen und Tabellen.30 In den deutlich kleineren Verhältnissen von Reuß-Obergreiz hat Becker bald nach dem Antritt seiner Stelle als Kanzleidirektor die Frage der Schulreform wieder aufgenommen, „weil ohne gute Erziehung der Jugend nicht viel Gutes in einem Lande auszurichten noch eine grundl[iche] Besserung in der Kirche zu hoffen“31 sei. Im Sommer 1714, noch unter der vormundschaftlichen Regentschaft Heinrichs XXIV., wurde zu einer Konferenz der Pfarrerschaft 27 28 29 30 31

Vgl. Karl Friedrich Collmann: Die kirchlichen Reformbestrebungen Graf Heinrichs II. v. Obergreiz (1715–1722). In: Reußische Forschungen. Hg. v. Vogtländischen Altertumsforschenden Verein zu Hohenleuben [u. a.]. Weida [1910], 23–56, hier: 26. Zu Hieronymus Brückner vgl. Breul, Generalreform [s. Anm. 2], Kap. 4.1. Schul=Ordnung Vor Die Schulen in der Graf=schafft Waldeck / Auff gnädigsten Befehl gedruckt Von Johann Flertmann. [Korbach] 1704. Mit diesem Argument beginnen die von Becker vorgelegten Beratungspunkte für die Zusammenkunft der Pfarrer von Reuß-Obergreiz am 2.8.1714 (vgl. Deliberanda, Greiz, 2.8.1714, ThStA Greiz LG, a. Rep. C. Ib Nr. 7, Bl. 5r [Konventsakten Greiz 1717 ]). Vgl. ebd.

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eingeladen, bei der dieses Thema ganz oben unter den „Deliberanda“ stand. Ein detailliertes Protokoll dieser ersten Pfarrkonferenz zeigt die Priorität der Schulfrage, aber auch die Hindernisse, die nach Auffassung der Pfarrer einer ganzjährigen Schulpflicht entgegenstünden. Auch hier betraf dies wie in Waldeck vor allem die Mitarbeit der Kinder in der häuslichen Landwirtschaft. Gleichwohl stimmten die Pfarrer einer moderaten Einführung der Sommerschule und der Verdopplung des Schulgelds für die Verweigerung der erweiterten Schulpflicht zu.32 Die in Waldeck durch den Inspektor wahrgenommene Schulaufsicht wurde im kleinen Obergreiz den örtlichen Pfarrern übertragen.33 Monatlich einzusendende Tabellen sollten die Wahrnehmung der Schulpflicht durch die Eltern absichern.34 Eine Verordnung zum Schulbesuch vom 25. September 1714 goss das Ergebnis der Beratungen in der Führung der Grafschaft und mit der Pfarrerschaft in administrative und rechtliche Formen.35 Auch wenn Becker die Schulreform in Obergreiz mit größerem Entgegenkommen durchzusetzen suchte, blieb sie weiterhin ein Thema.36 b. Im Bereich der Armenfürsorge führte Otto Heinrich Becker mehrere über die Grafschaft verteilte kleinere Hospitäler zur Versorgung von Alten, Kranken und Armen in einem größeren Hospital im ehemaligen Benediktinerkloster Flechtdorf zusammen (1702). Die Zentralisierung erlaubte es ihm, die dabei frei gewordenen Mittel für die Gründung einer Einrichtung einzusetzen, die eine bemerkenswerte Innovation darstellte. Im Februar 1704 wurde in einem eigens errichteten Neubau auf dem Gelände des Klosters Flechtdorf ein Semi32

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Vgl. Protokoll der Pfarrkonferenz, Greiz, 2.8.1714 (ThStA Greiz LG, a. Rep. C. Ib Nr. 7 [Konventsakten Greiz 1717 ], Bl. 10v). Die Verordnung vom 25.9.1714 legte fest, dass die Pfarrer vierwöchentlich die Eltern an das Konsistorium melden sollten, welche die Schulpflicht nicht beachteten, und ihnen das doppelte Schulgeld auferlegt werden sollte (vgl. Vol. I: Konsistorialverordnungen, Reskripte und Synodalakten 1714–1720, ThStA Greiz LG, a. Rep. C, Ia Nr. 10, Bl. 1v). Wie in Waldeck dürfte die Durchsetzung dieser Forderung angesichts der Armut vieler Familien gleichwohl eine große Herausforderung gewesen sein. Dafür spricht, dass diese Punkte am 11.5.1716 mit einem Rundschreiben erneut eingeschärft wurden (vgl. aaO, Bl. 34r– 35v [=14r–15v]). Sie sollten die Schulen regelmäßig besuchen; die Konferenz der Pfarrer hielt eine 14tägige Visitation für ausreichend (vgl. Protokoll der Pfarrkonferenz, Greiz, 2.8.1714 [s. Anm. 32], Bl. 10v). Becker und das Konsistorium wünschten eine dichtere Aufsicht. Die Verordnung zum Schulbesuch vom 25.9.1714 forderte einen zweimaligen Besuch pro Woche, ebenso die Rundschreiben vom 11.5. u. 6.8.1716 (vgl. Vol. I: Konsistorialverordnungen, Reskripte und Synodalakten 1714–1720, ThStA Greiz LG, a. Rep. C, Ia Nr. 10, Bl. 34v–35r [=14v–15r], 43v [=23v]). Tabellen wurden explizit erst mit dem Rundschreiben des Konsistoriums an die Pfarrer vom 6.8.1716 gefordert. Weil die monatlichen Verzeichnisse unterrichtssäumiger Schüler „von theils Schuhl meistern gar nicht eingeschickt, von theils aber nicht gebührend eingerichtet worden, So wird hiermit verordnet, daß ieder pfarrer seines Orths davor sorg[en] und stehen soll, daß alle Monath von iedem Schuhl Meister eine Tabelle über seine Schuhle Kinder nach beyliegenden Modell ans Consistorium eingeschickt werden“ (vgl. aaO, Bl. 44r [=24r]). Vgl. aaO, Bl. 21r–v [=1r–v]. Mit einem Rundschreiben wurde Pfarrern und anderen Verantwortlichen die Verkündigung der Schulverordnung aufgetragen (vgl. aaO, Bl. 22r–v [=2r–v] [mit weiteren Abschriften des Rundschreibens]). So insbesondere in der Greizer Predigerverordnung von 1720 [s. Anm. 60]. Vgl. hierzu Abschnitt 3.

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nar für Kandidaten der Theologie eingerichtet, die ihr akademisches Studium abgeschlossen hatten. Neu war nicht die Einrichtung solcher Seminare für angehende Prediger,37 sondern dass dort neben der Wiederholung und Vertiefung der theologischen Studien als habitus practicus38 vor allem „zur wahren practique des Lebens und ambts“39 angeleitet werden sollte. Dem diente neben Erbauungslektüre und -praxis auch Seelsorge und Gottesdienst durch die Kandidaten im benachbarten Hospital. Im Flechtdorfer Seminar sollte unter pietistischen Vorzeichen eine praxisorientierte, postuniversitäre Ausbildung die Kandidaten für eine exemplarische Existenz im Pfarramt ertüchtigen. Obwohl August Hermann Francke 1714 den Entwurf für ein das Theologiestudium begleitendes Seminarium Ministerii Ecclesiastici40 nach Obergreiz übersandte, findet sich in der dortigen Überlieferung kein Hinweis auf entsprechende Pläne. Ansatzweise Überlegungen zur Verbesserung der Ausbildung beziehen sich lediglich auf die Lehrer der Grafschaft.41 Vermutlich waren die Verhältnisse in Obergreiz zu klein, um über eine institutionelle Reform der Prediger- und Lehrerausbildung nachzudenken. Auch im Bereich der Armenfürsorge blieben die Ansätze bescheiden.42 c. Neben der Gründung des Flechtdorfer Seminars hat Otto Heinrich Becker in Waldeck ab Mai 1701 die Erneuerung der waldeckischen Kirchenordnung vorangetrieben. Becker war gemeinsam mit einem Ratskollegen vom regierenden Grafen Christian Ludwig damit beauftragt worden, „mit dem sämbtl. Ministerio zu überlegen […], wie ins gemein und insonderheitt wegen des Christlichen banns und kirchen bueß die disciplina ecclesiastica zuverbeßern und so viel möglich, auf den fueß der ersten kirchen zu setzen“ sei.43 In die 37 38 39 40

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Sie gab es beispielsweise auch im Kloster Berge bei Magdeburg und in Riddagshausen bei Hannover. HStAM 133 g, Flechtdorf Nr. 699, [12]. Ursachen, welche in bestellung der vorseyenden inspection zu Flechdorff uns bewogen vor allen andern auff den H. Staphorst zu reflectiren, undatiertes Konzept (HStAM 123, Nr. 2293 [undatiertes Konzept]). Vgl. Franckes Briefe an den Grafen Heinrich [s. Anm. 23], 153–155; August Hermann Niemeyer: Allgemeine chonologische Übersicht des Lebens und der Stiftungen August Hermann Frankens. Teil II. In: Franckens Stiftungen. Eine Zeitschrift zum Besten vaterloser Kinder. Hg. v. Johann Ludwig Schulze [u. a.]. Bd. 2. Halle 1793, 129–160, hier: 133–140; Peter Menck: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Die Pädagogik August Hermann Franckes. Tübingen 2001 (HaFo, 7), 89. Francke übersandte den Entwurf am 15.3.1714, wenige Wochen nach Beckers Dienstantritt in Obergreiz. 1714 wurde verabredet, dass der Superintendent eine Anleitung für die ‚Schulmeister‘ formulieren und sie jährlich prüfen sollte; die Unterrichtung der Lehrer sollte aber entgegen Beckers Vorschlag nicht durch den Superintendenten, sondern durch die örtlichen Pfarrer erfolgen (vgl. Protokoll der Pfarrkonferenz, Greiz, 2.8.1714 [s. Anm. 32], Bl. 11r). Die Konferenz der Pfarrer am 2.8.1714 beschäftigte sich auch mit einer besseren Versorgung der Bettler (vgl. aaO, Bl. 13r). Instruktion für die Räte Otto Heinrich Becker und Tilemann Waldeck, Arolsen, 21.5.1701 (LKAK der EKKW Waldeckisches Konsistorium, Nr. 345 [Instruktionen zur Synode 1691– 1718], Bl. 4r). Der Bezug auf die Urchristenheit deutet auf pietistischen Einfluss: Nach Spener (vgl. Philipp Jakob Spener: Pia Desideria. Hg. v. Kurt Aland [Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, 170], Berlin 31964, 49,6–52,2) hat insbesondere Gottfried Arnold den vorbildlichen

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Revision der Kirchenordnung wurden die waldeckischen Pfarrer in bemerkenswertem Umfang einbezogen. Becker hatte der waldeckischen Synode im Mai 1701 seine Überlegungen vorgestellt und wurde daraufhin mit der Erstellung eines Entwurfs beauftragt. Er holte die Voten der Visitatoren und Pfarrer der Grafschaft ein und überarbeitete die Ordnung; das Konsistorium legte sie Graf Christian Ludwig und dessen inzwischen mitregierendem Sohn Friedrich Anton Ulrich zur Approbation vor. Schließlich ging sie am 27. August 1703 mit dem Einverständnis der Grafen in den Druck. In Reuß-Obergreiz sondierte Becker zunächst das Terrain und ließ eine Reihe kleinerer Maßnahmen folgen. Die bereits erwähnte Zusammenkunft der Pfarrer vom 2. August 1714 widmete sich neben der Verbesserung von Schulbesuch und -unterricht und Fragen der „Polizey“44 auch einer Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse: 1. die Verbesserung der häuslichen Andacht („Haußkirchen“) durch die Bereitstellung einer Anleitung, 2. die Anschaffung von Hausbibeln, 3. „Hauß Visitationes“ zumindest im Winter und unangeforderte Krankenbesuche durch die Pfarrer und 4. Zulassung und Vorbereitung auf das Abendmahl.45 Die Vorschläge wurden von den versammelten Pfarrern positiv aufgenommen, der Superintendent erklärte sich bereit, eine Anleitung für die Hausandacht zu verfassen.46 Einen zweiten wichtigen Schritt in den Reformbemühungen Otto Heinrich Beckers bildete die im Frühjahr 1716 ausgestellte Konsistorialordnung, die nur in zwei kurzen Eingangsartikeln Regularien zu den Geschäftsgängen des Konsistoriums enthielt. Weitaus umfangreicher und detaillierter war der Appell an die gräfliche Kirchenbehörde, dafür zu sorgen, dass „haubtsächlich über den Zustandt der

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Lebenswandel der frühen Christen in seinen historischen Darstellungen betont (vgl. u. a. Gottfried Arnold: Die Erste Liebe Der Gemeinen JESU Christi Das ist / Wahre Abbildung | Der Ersten Christen / Nach Jhren Lebendigen Glauben Und Heiligen Leben. Aus der ältesten und bewährtesten Kirchen=Scribenten eigenen Zeugnissen / Exempeln und Reden / Nach der Wahrheit der Ersten Einigen Christ=lichen Religion / allen Liebhabern der Historischen Wahr=heit / und sonderlich der Antiquität, als in einer nützlichen Kirchen=Historie / Treulich und unpartheyisch entworffen / Worinnen zugleich des Herrn WILLIAM CAVE Erstes Christenthum Nach Nothdurfft erläutert wird / […]. Frankfurt/Main: Gottlieb Friedeburg 1696, 69– 85 [–89], 392–405; vgl. Hans Schneider: Gottfried Arnold. Die Erste Liebe. Leipzig 2002 [KTP, 5], 76–83 [Auswahledition]). Eine zweite Liste mit Beratungspunkten der Greizer Konferenz vom 2.8.1714 befasst sich mit dem Umgang mit einheimischen und auswärtigen Bettlern, Kindsvormundschaften, Hochzeitsund Kindertauffesten und weiteren Fragen der öffentlichen Ordnung. Dazu gehören auch Fragen nach öffentlichem Tanz, Spiel und den Öffnungszeiten von Gasthäusern. Das Protokoll mit den Antworten zu diesen Themen ist jedoch sehr knapp und unvollständig (vgl. Protokoll der Pfarrkonferenz, Greiz, 2.8.1714 [s. Anm. 32], Bl. 13r–14r [Beratungspunkte] u. Bl. 15r–15v [Protokoll der Beratung]). Zitate nach der thematischen Liste der Deliberanda von 1717 (ThStA Greiz LG, a. Rep. C, Kap. Ia Nr. 12, Bl. 1v, 2r). Vgl. Protokoll der Pfarrkonferenz, Greiz, 2.8.1714 [s. Anm. 32], Bl. 11v–12r. Nach der Greizer Konsistorialordnung vom 4.4.1716 war die „1714 […] resolvirete Anleitung, wie ein Haus=Vater mit seinen Kindern und Gesinde sich in Gottes Wort üben, und täglich erbauen solle“, bereits „aufgesetzt und zum Druck befordert“ worden (ThStA Greiz LG, a. Rep. C, Ib Nr. 7, Bl. 1v–2r).

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Kirchen und Schuhlen, über verbeßer- und bestellung derselben mit tüchtigen Subjectis und guter Disciplin deliberiret, und absonderlich dahin gesorget“ werde, „daß die Jugend Som[m]ers und Winters, der ergangenen Verordnung nach, fleißig zur Schuhle geschickt“ wird.47 Dem Konsistorium wurde die Aufsicht über den ganzjährigen Schulbesuch und -unterricht, die Einhaltung der ‚Hauskirche‘, der Besuch von Kranken und Angefochtenen und der regelmäßige Bericht über Mängel in den Gemeinden durch die Ortspfarrer auferlegt. Es hatte demnach die zentrale Verantwortung für die pietistisch geprägte Reform der Kirche in Obergreiz. Vor allem aber wurde detailliert geregelt, wie man „tüchtige Subjecta zu Kirchen und SchuhlÄmtern bestellet“.48 Neben den üblichen Zeugnissen über einen christlichen Lebenswandel und reine Lehre forderte die Konsistorialordnung insbesondere eine gründliche Kenntnis des „allgemeine[n] tieffe[n] verderben[s] und wie man aus solchen tieffen verderb[en] heraus kommen könne“.49 Mit Stichworten, die an Johann Arndts (1555–1621) Vier Bücher von wahrem Christentum erinnern, wird dieser Aspekt detaillierter als alle anderen entfaltet und von den Kandidaten für eine Pfarrstelle gefordert, dass sie mit den Pflichten und dem Amt eines „Seelen Hirthen“ nicht nur vertraut sind, sondern auch derart vorbildlich leben, dass sie zu den ihnen anvertrauten Menschen „mit Wahrheit sagen könne[n]: Seyd meine Nachfolger, gleichwie JHs Christi“.50 Ein Mandat Heinrichs II. „zur gründlichen Besserung des wahren Christenthums und Abstellung der Hindernüssen desselben“ vom 17. September 1717 vertiefte diese Ansätze.51 Es schärfte Predigern und Untertanen ganz im Sinne Johann Arndts52 ein, sich nicht „mit dem Opere operato des äusserlichen Gottes=Dienstes zu begnügen und zu trösten / sondern sich […] zu der inwendigen Hertzens=Busse / und wahren thätigen Christenthum bringen zu lassen“.53 Dies erfordere insbesondere, die Sonn- und Feiertage für die Predigtrepetition und die Lektüre von Bibel und Erbauungsbüchern zu nutzen. Alkohol, Spiel und ‚Üppigkeit‘ seien damit nicht vereinbar. Insbesondere aber die Gefahren des Tanzens sollten die Prediger ihren Gemeinden vor Augen stellen, weil ein wahrer Christ jede Gelegenheit zur Sünde 47 48 49 50 51

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AaO, Bl. 1v. AaO, Bl. 2v. AaO, Bl. 3r. Beide Zitate ebd. Christliches und nachdrückliches Ausschreiben des Hochgebornen Grafen und Herrn / HERRN Heinrich des Andern, Aeltern Reusen / Grafen von Plauen / Herrn zu Graitz / Cranichfeld / Gera / Schleitz und Lobenstein etc. Darinnen Dero Christlöbliche Intention angedeutet wird, Wie und welcher Gestalt zur gründlichen Besserung des wahren Christenthums und Abstellung der Hindernüssen desselben In Dero Landen Durch GOttes Gnade ein Anfang soll gemachet werden. O. O. 1717 (Nachdruck). Dass dieses Mandat einen Nachdruck erhalten hat, spricht dafür, dass es auch auf Außenwirkung zielte. Der Originaldruck befindet sich im ThStA Greiz Nr. 616 (Mandate, Gesetze und Verordnungen), Bd. 7, Bl. 72 f. Das Mandat empfiehlt explizit die Lektüre von „Johann Arndts vom wahren Christenthum (welches zu solchem Zweck auff Unsere Kosten hiegedruckt und eine Einleitung praemittiret worden)“ (aaO, Bl. 72v–73r). Ein Reußischer Druck von Arndts Wahrem Christentum konnte unter den vielen Ausgaben des frühen 18. Jahrhunderts bislang nicht ermittelt werden. AaO, Bl. 72v.

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meide.54 Gegenüber diesen punktuellen Maßnahmen in Waldeck stellte die Obergreizer Ordnung von 1720 eine umfassende Anweisung dar. In ihr bündelte Becker sein Reformprogramm. Sie soll daher mit der bereits erwähnten waldeckischen Ordnung vom September 1703 verglichen werden. 3. DIE WALDECKER UND DIE GREIZER ORDNUNGEN IM VERGLEICH Die waldeckische Verordnung / Von der Prediger und Seelsorger Ampt und Pflicht / Sowol ins gemein als insonderheit Von der Auffsicht über die Christliche KirchenDisciplin von 170355 gibt sich formal als Ausführungsbestimmung zur waldeckischen Kirchenordnung von 1556 in ihrer 1640 leicht geänderten Fassung.56 Weil deren Bestimmungen zu einem „heiligen Leben“ nicht genug beachtet worden seien, so argumentiert die Verordnung von 1703, solle die Ordnung „umb mehrer Verständnüß und besserer übung willen mit ein- und andern Umbständen“ erläutert werden.57 Zwar bekräftigt und erläutert die Verordnung Von der Prediger und Seelsorger Ampt und Pflicht in ihrem Schlussabschnitt tatsächlich die älteren Bestimmungen zur Kirchenzucht. Der weitaus größere Teil widmet sich aber „Beschaffenheit und Ampt der Prediger“.58 Dieser Hauptteil ist eine in sich vollständige und abgeschlossene Ordnung, die nicht nur in der Überschrift, sondern auch in den Inhalten viele Parallelen zum entsprechenden Abschnitt der Greizer Verordnung von 172059 erkennen lässt. Die Waldecker Kirchendisziplinverordnung von 1703 beschreibt zunächst den Zugang zum Pfarramt (§ 1–5). Die eigentliche Mitte bilden aber die Ausführungen zur Vorbildfunktion des Pfarrers (§ 6–13) und zur Predigtaufgabe (§ 14–18). Abschließend widmet sie sich den übrigen Aufgaben des Pfarrers (§ 19–25) und dessen Kooperation mit Kollegen und Kirchenleitung (§ 26–30). Die Greizer „Ver54

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Vgl. aaO, Bl. 73r. Vgl. [Johann Conrad Kesler u. Johann Hieronymus Wiegleb]: Gründ- und ausführliche Erklärung Der Frage: was von dem weltüblichen Tantzen zu halten sey? In zwey Tractätlein verfasset: Deren das erste einer von dieser Sache zu Langensaltza 1696 heraus gegebenen Schrifft entgegen gesetzet. Mit einer Vorrede M. August Herrmann Franckens. Halle: Wetterkampf 1697. Im Folgenden „Kirchendisziplinverordnung“ (LKAK der EKKW Waldeckisches Konsistorium, Nr. 446 [zwei vollständige Exemplare; weitere Druckbögen]; HStAM Best. 123, Nr. 6226 [unvollständig]). Zur waldeckischen Kirchenordnung von 1556 (publiziert 1557) vgl. Victor Schultze: Waldeckische Reformationsgeschichte. Leipzig 1903, 198–208 sowie 208–291, partim. Eine kritische Edition dieser wichtigen 1637/1640 leicht revidierten und 1715 erneut aufgelegten Ordnung fehlt. Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 7. AaO, 7 (7–29). Vgl. zum entsprechenden pastoralreformerischen Ansatz bei Spener Martin Brecht: Pfarrer und Theologen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. In Zusammenarbeit mit Ruth Albrecht hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 211– 226, hier: 214–217. Verordnung von Beschaffenheit / wie auch Amt und Pflicht / derer Prediger / Schul=Die=ner und Haus=Väter. [Greiz] [1720] (im Folgenden „Predigerverordnung“).

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ordnung“ ist den im Titel genannten Adressatengruppen folgend in drei Teile von ganz unterschiedlicher Länge gegliedert.60 Der bei weitem umfangreichste erste Teil widmet sich den Predigern,61 zunächst den Mängeln (§ 1–12), dann der Zulassung zum Predigtamt (§ 14–18). In vier größeren Abschnitten werden anschließend die Aufgaben des Predigtamts beschrieben: Anleitung der Gemeindeglieder zur Einsicht in das eigene Verderben und zur Buße (§ 19–23) sowie zu Hausversammlungen und Katechese (§ 24–26), Anweisungen zur Herzensbekehrung (§ 35–38) und zur Erbauung in der Gemeindearbeit (§ 42–47). Zwischen diesen Regelungen stehen eine ganze Reihe von Bestimmungen darüber, wie der Prediger ein gutes Vorbild seiner Gemeinde werden solle (§ 27–33), weil „nichts so kräfftig ist, die Zuhörer zu einem heiligen Leben zu persuadiren, als wenn sie sehen, daß ihre Lehrer und Prediger selbst thun, was sie lehren“.62 Ihrem inhaltlichen Schwerpunkt nach sind sowohl die waldeckische Kirchendisziplinverordnung als auch die Obergreizer Verordnung als Prediger- oder Pastoralordnungen zu bezeichnen. Im Folgenden werden einzelne Aspekte genauer verglichen. I. Procedere und Kriterien der Zulassung zum Predigtamt Der Eingang der waldeckischen Verordnung stimmt den Grundton an: Wer das äußerst wichtige Predigtamt anstrebe, solle „ein Fürbild seiner Heerde, die Ihm anvertrauet wird, seyn“.63 Daher legt die Ordnung zunächst Wert auf ein detailliert geregeltes Verfahren des Zugangs zum Pfarramt. Niemand solle zugelassen werden aufgrund bloßer Empfehlung, der Verdienste des Vaters im Amt oder wegen Drängens oder Zahlungen des Patrons. Die Patronage von Landeskindern wird zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, sie müsse aber mit einem untadeligen Lebenswandel des Kandidaten einhergehen.64 Detailliert wird das Anstellungsverfahren geregelt: Waldecker Studenten sollen sich nach ihrem Studium beim Konsistorium melden, das ihren Namen und ihren profectus, d. h. nach Otto Heinrich Becker ihren Stand in Glaube und Lebenswandel, in einer Matrikel verzeichnen und sie zur Behebung etwaiger Mängel auffordern soll. Der Anstellung eines Kandidaten sollen, wie allgemein üblich, Probepredigt und die Einholung von Erkundigungen über

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Die Verordnung wird in einem Anhang durch eine Sammlung von Luthertexten ergänzt, die u. a. die Möglichkeit, Gottes Gebote zu halten, die Zulassung zum Abendmahl und die „gesetzliche Art zu predigen“ thematisieren (aaO, Bl. H2r). Das Vorwort des regierenden Grafen Heinrich II. richtet sich nahezu ausschließlich an die Pfarrer und fordert sie zu einer Predigt, die auf Herzensveränderung zielt, und einem vorbildlichen Lebenswandel auf. Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. D1r. Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 8 (im Original teilweise hervorgehoben). Die Ordnung beruft sich auf die einschlägigen Stellen (1Tim 3,2 f.7.9; 6,11.14; 2Tim 2,15.22.24; Tit 1,7.9; 2,7 f.) und entwickelt daraus einen Tugendkatalog für Prediger: „Nüchterkeit, Mässigkeit, Gelindigkeit, Freundlichkeit, Gedult, Sanfftmuth, Demuth, Verträglichkeit, Enthaltung von fleischlichen Lüsten, […] Selbstverleugnung“ (ebd.). Vgl. aaO, 8 f. (§ 1).

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den Lebenswandel und ein „Examen“, eine Befragung, welche die theologischen Kenntnisse und das konfessionelle Profil erhebt, vorausgehen. Das übliche Prozedere der Vokation wird um eine Probekatechese ergänzt: Mit den Kandidaten solle beim Examen auch „von der Wiedergebuhrt, Restauration des Ebenbilds GOttes, von der Erleuchtung und Bekehrung, von den Eigenschafften und Kennzeichen wahrer Busse und Glaubens“65 und damit über zentrale Themen der Franckeschen Theologie gesprochen werden. Das Examen forderte zudem die Fähigkeit zur Disposition, Analyse und Anwendung biblischer Kapitel und explizite Kompetenz im Bereich der Pastoral- und Seelsorge. In Reuß-Obergreiz war die Zulassung zum Predigtamt seit der Konsistorialordnung ein Thema, dem Becker besondere Aufmerksamkeit widmete. Die Greizer Verordnung von 1720 regelt die Zulassung zum Pfarramt ebenfalls in fünf Paragraphen (§ 14–18), die analog gegliedert sind und bis in viele Details und einzelne Formulierungen hinein der waldeckischen gleicht. Niemand solle „auf blosse recommendation“ oder als Nachfolger seines Vaters oder weil „er dem Patrono Geld gegeben, oder anderer unziemlicher Mittel sich bedienet“ hat, Zugang zum Predigtamt erhalten.66 Theologiestudenten, „so unsere Unterthanen sind“, sollen nach ihrem Studium vom Konsistorium examiniert und mit Namen und profectus in einer Matrikel verzeichnet werden. Wer dem „Worte der Wahrheit nicht gemäß lebet“, solle nicht zugelassen werden, ebenso auswärtige Studierende, die sich nicht beim Konsistorium „sistiret“ haben. Alle examinierten Studenten sollen „bißweilen“ vor dem Superintendenten eine Predigt und eine Katechese halten.67 Beim Vorschlag auf eine Stelle soll der Examinand detailliert Auskunft über Lebenslauf, akademische Studien und Buchbesitz geben und darüber, was „er vornemlich gelesen und meditiret habe“.68 Danach solle der Vorgeschlagene über die wichtigsten Glaubensartikel examiniert werden, wozu auch „Wiedergeburth, Restauration des Ebenbildes Gottes […] Erleuchtung und Bekehrung“ gezählt werden.69 Besonderen Wert aber legt die Greizer Predigerverordnung auf die seelsorgerliche Kompetenz und die „Erfahrung des thätigen Christenthums“.70 Wie in Waldeck gehört auch eine Probekatechese zur Prüfung des Stellenkandidaten. Der Vergleich dieser Abschnitte macht trotz kleinerer Abweichungen71 deutlich, dass die Greizer Predigerverordnung offensichtlich die waldeckische Kirchendisziplinverordnung zur Vorlage hatte.

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AaO, 10 f. (§ 5). Die Probekatechese wird zweimal erwähnt (vgl. aaO, 9 [§ 3] u. 12 [§ 5]). Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. C1r (§ 14). Alle Zitate aaO, § 15 f. Alle Zitate aaO, Bl. C1v (§ 17). Ergänzend sollen Informationen über den Lebenswandel eingeholt werden. AaO, § 18. AaO, Bl. C2r (§ 18). Die waldeckische Bevorzugung von qualifizierten Landeskindern und insbesondere Pfarrerskindern (§ 1) fehlt in der Greizer Ordnung. Dies ist vermutlich den geringen und daher besonders kontingenten Zahlen von Landeskindern geschuldet, die Theologie studierten.

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II. Die Aufgabe der Prediger Die waldeckische Kirchendisziplinverordnung stellt im anschließenden Abschnitt (§ 6) den Predigern ihre doppelte Berufung vor Augen, die eines jeden Christen und die besondere in das Amt des Wortes, die sie verpflichte, „ihren Zuhörern in der Nachfolge Christ, als VORBILDER, vorzugehen“.72 Dies entsprach dem Halleschen Reformansatz, der den Pfarrern und Lehrern und deren Ausbildung eine besondere Bedeutung zusprach. Um für die Gemeinde vorbildlich zu sein, sollten die Prediger nicht nur praktizieren, was sie lehrten, sie sollten auch nicht den geringsten Anschein des Gegenteils an sich erkennen lassen. Dies implizierte zunächst eine ganze Reihe von Ver- und Geboten: Mäßigung in Essen und Trinken, Verzicht auf Wirtshausbesuche und Alkoholika und Meidung von Klagen über Besoldung und Äußerung von Subsistenzsorgen und anderes mehr. Vor allem aber zielt die Verordnung auf einen erbaulichen Habitus des Pfarrers. Er sollte bei Zusammenkünften die Anwesenden durch Gespräche über geistliche Themen sowie durch ein sanftmütiges, geduldiges, demütiges und liebevolles Auftreten als Exempel wahren Christentums wirken und alles vermeiden, was diesem Ziel hinderlich sei.73 Seine ganze Erscheinung sollte so sein, „daß die Zuhörer persuadiret werden, daß nichts auß affecten, sondern alles auß Liebe zu ihrer Besserung mit ihnen vorgenommen werde“.74 Im Zentrum der Regelungen stand nicht mehr die Predigt, sondern der Prediger. In seinem Habitus und seinem Auftreten sollte er dem Verkündigten nicht widersprechen und ein Exempel der Nachfolge Christi sein. Damit nahm die waldeckische Ordnung einen zentralen Gedanken von August Hermann Franckes Pädagogik und Pastoraltheologie auf.75 Auch hier zeigt die Greizer Ordnung von 1720 in Aufbau und Inhalt deutliche Parallelen (§ 27–33). Zwar fallen ihre diesbezüglichen Paragraphen knapper aus, bis in die Formulierungen hinein ist aber die Übereinstimmung mit der waldeckischen Kirchendisziplinverordnung greifbar: Die Prediger sollten sich „allezeit ihres doppelten göttlichen Beruffs erinnern“76 und „Typi und Vorbilder ihrer Heerde seyn“. Sie sollten leben, was sie predigen, und „nicht den geringsten Schein des Gegentheils von sich spühren lassen“.77 Dies implizierte den Verzicht auf den Besuch von „Bier=Wein und Brandewein=Häuser[n]“ (§ 30),78 Mäßigung im Essen und Trinken (§ 31) und den Verzicht auf Klagen über zu geringe Besoldung (§ 29). 72 73 74 75

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Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 13 (Hervorhebung im Original). Vgl. aaO, 15 (§ 12). Ebd. Vgl. Franckes analoge Vorstellungen zur Lehrerpersönlichkeit: „Die wahre Gottseligkeit wird der zarten Jugend am besten eingeflößet durch das gottselige Exempel des Praeceptoris selbsten, wie auch der Eltern, Groß-Eltern, und anderer, die an Eltern statt seynd, wie nicht minder durch das Exempel aller derer, mit welchen sie umbgehen“ (August Hermann Francke: Kurtzer und Einfältiger Unterricht / Wie Die Kinder zur wahren Gottseligkeit / und Christlichen Klugheit anzuführen sind / ehemals Zu Behuf Christlicher Informatorum entworffen / und nun auff Begehren zum Druck gegeben. Halle: Waisenhaus 1702, 116). Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. D1r (§ 27). AaO, Bl. D1v (§ 28). AaO, Bl. D2r (§ 30).

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Auch wenn die allgemeinen Ausführungen der Greizer Ordnung knapper sind, wird deutlich, dass der Prediger in seinem Auftreten seiner Verkündigung entsprechen und sich daher demütig, geduldig und liebevoll verhalten sollte (§ 33). Sie ist von den gleichen Leitgedanken wie die waldeckische Ordnung geprägt. III. Die Predigt und ihre Vertiefung in der Gemeinde Erst an zweiter Stelle widmet sich die waldeckische Kirchendisziplinverordnung der Predigt. Der Pfarrer wird ermahnt, unter seinen Zuhörern drei Gruppen zu unterscheiden: „der gröste Teil“ lebe „in einer fleischlichen Sicherheit, oder doch in einem heuchlerischen Wahn-Christenthum und opere operato […], die wenigste aber das rechtschaffene Wesen JESU Christi an sich haben“.79 Insbesondere den nur in einem äußeren Christentum lebenden Gemeindegliedern sollte der Prediger ihre Defizite gegenüber einem vollkommenen Christentum vor Augen führen, das „in wahrem Glauben und heiligem Leben und Wandel oder in Wieder-Auffrichtung des Ebenbilds GOttes in dem Angesicht JEsu Christi oder in dem inneren und neuen Menschen bestehet“.80 Dazu sollte er sie nicht nur auf der Kanzel und im Beichtstuhl, sondern auch privat zur wahren Herzensänderung auffordern, welche erst zu einer wahren Bekehrung und zu einem rechten Gottesdienst führe. Die Greizer Predigerverordnung unterschied ebenfalls diese drei Gruppen pastoraler Predigt und Ermahnung und richtete ähnliche, manchmal gleichlautende, Empfehlungen an die Prediger.81 Nach der waldeckischen Ordnung sollte in den Predigten nach einer kurzen Paraphrase des Predigttextes vor allem die Lehre von Buße, Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit und Erneuerung des Menschen traktiert werden: 1. das tiefe Verderben des Menschen, 2. die Notwendigkeit der Wiedergeburt, 3. die Gnade Gottes, 4. die Beschaffenheit des wahren Glaubens und 5. die Früchte von Glauben und Wiedergeburt. Dieses nicht in jeder Hinsicht klar lutherisch klingende Predigtsummarium findet sich in fast gleichlautender Formulierung in der Greizer Ordnung.82 Die waldeckische Ordnung begnügte sich jedoch nicht mit Regelungen zum Verhalten des Predigers und zur Predigt. „Demnach auch die Erfahrung bezeuget / daß die offentliche Predigten nicht hinlänglich / die Leuthe zum wahren Erkäntnüß ihrer selbst und GOttes zubringen / ja viele / wann sie auß der Kirchen kommen / nicht einmahl wissen / wovon geprediget worden“,83 wurden drei Maßnahmen getroffen: 1. Es wurde eine „Repetition und Examen der Predigt“84 eingeführt, das 79 80 81 82

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Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 16. AaO, 18. Vgl. Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. D3r-E1v (§ 34–37). Vgl. Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], (18) 19 (§ 17). Die Greizer Verordnung fordert, dass die Prediger nach einer kurzen Paraphrase des Textes Folgendes behandeln: „(1) das tieffe Verderben des Menschen, (2) die Nothwendigkeit der Wiedergeburt, (3) die Gnade und Wohlthaten GOttes in Christo JEsu, (4) die Beschaffenheit des wahren Glaubens, so Christum zur Vergebung der Sünden ergreifft und uns wiedergebiehret, und (5) die Früchte des Glaubens und der Wiedergeburt“ (Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. D4v [§ 37]). Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 21 (§ 19). Ebd. (im Original hervorgehoben).

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der Pfarrer unmittelbar im Anschluss an die Predigt oder spätestens am Folgetag durchführen sollte.85 Dabei sollte der Predigtinhalt vorgetragen und erklärt und auch Gelegenheit gegeben werden, etwaige Zweifel vorzubringen. 2. An den Wochentagen sollte eine Betstunde stattfinden, bei der ein Kapitel aus der Bibel gelesen und daraus „eine und andere Lehr und Lebens-Regul gezogen“ werden sollte.86 Schließlich sollte der Prediger 3. die Gemeinde zum Kauf einer Bibel oder zumindest des Neuen Testaments und zu erbaulicher Lektüre bei Hausandachten anhalten. Diese Regelungen knüpften an Reformforderungen an, die bereits Philipp Jakob Spener in den Pia Desideria geäußert hatte: Auch er war davon ausgegangen, dass die Kanzelpredigt „nicht […] gnug sey“.87 Er hatte daher vorgeschlagen, dass die Hausväter vermehrt zur Lesung der Schrift aufgefordert werden sollten, dass es auch in der Gemeinde öffentliche Lesungen der Schrift (ohne Auslegung) geben sollte, und schließlich, dass es in den Gemeinden regelmäßige Zusammenkünfte unter Aufsicht des Pfarrers stattfinden sollten, bei denen über biblische Texte gesprochen wird – die bekannten Collegia pietatis. Auch die Greizer Predigerverordnung von 1720 sah wöchentliche Betstunden vor, bei denen ein Kapitel aus der Bibel verlesen und vom Pfarrer oder – in den Filialgemeinden – vom Lehrer Glaubensregeln daraus gezogen werden sollten, damit „das Wort Gottes desto reichlicher unter und in [!] die Leute gebracht werde“.88 Speners bekannte Formulierung89 wurde also mit einer auf die Verinnerlichung zielenden Zuspitzung variiert. Die Greizer Ordnung beschränkte sich wie die waldeckische nicht auf das Hören des äußeren Wortes, sie sollte auch für das Wirken des inneren Wortes – in der lutherischen Tradition als Aufgabe des Heiligen Geistes verstanden – sorgen. IV. Weitere Aufgaben des Pfarrers Die waldeckische Kirchendisziplinverordnung legte darüber hinaus Wert auf drei weitere Aufgaben des Pfarrers: a. Zweimal wöchentlich sollte in den Hauptgemeinden eine Katechese gehalten werden, in den Filialgemeinden nach der Predigt – nicht nur für Jugendliche, sondern auch für die erwachsenen Gemeindeglieder.90 b. Trotz der im Pietismus geübten Kritik am Beichtstuhl91 legte die Verordnung von 1703 den Pfarrern die Beichte als günstige Gelegenheit nahe, „den Leuten

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Die Predigtrepetition war auch Teil der Waldecker Schulordnung von 1704 (vgl. Schulordnung Waldeck [s. Anm. 29], Kap. IV: Von Schuldigkeit und Pflicht der Schüler, 26). Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 21 (§ 20). Spener, Pia desideria [s. Anm. 43], 54,10. Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. E2r (§ 40). Vgl. Spener, Pia Desideria [s. Anm. 43], 53,31 f. Vgl. Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 24 (§ 23). Vgl. Helmut Obst: Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Kritik des Pietismus an der Beichtpraxis der lutherischen Orthodoxie. Witten 1972 (AGP, 11); Claudia Drese: Der Berliner Beichtstuhlstreit oder Philipp Jakob Spener zwischen allen Stühlen? In: PuN 31, 2005, 60–97.

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ins Hertz zu reden“.92 In einem sprichwörtlich eindringlichen Gespräch sollte es nicht nur um „äusserliche Laster, sondern auch die innerliche Lust und Bewegung des Hertzens“ gehen. Mit gelernten Formeln und allgemeinen Sündenbekenntnissen sollte sich der Prediger nicht zufriedengeben. Bezüglich der mit der Beichte verbundenen Abendmahlszulassung forderte die Ordnung zwar auf, die Absolution und damit die Zulassung zum Abendmahl „nicht so facil“93 zu erteilen, vermied aber Anweisungen im Sinne der rigiden Absolutionspraxis August Hermann Franckes in seiner Glauchaer Gemeinde.94 c. Mit Nachdruck forderte die waldeckische Ordnung von den Pfarrern Hausbesuche. Dabei sollten sie sich „ihrer Hauß- und Kinder-Zucht, privat-Gottesdienst, und führenden Lebens und Wandels fleissig erkundigen, ein Gottseelig Gespräch mit ihnen zu halten, versuchen, die Ungezogene zu wahrer HertzensBekehrung, die Bekehrte aber zu täglicher Erneuerung vermahnen“, Verzagte trösten, Schwache tragen, Widerspenstigen sanftmütig begegnen etc.95 Auch die Greizer Predigerverordnung formuliert diese drei Aufgaben teilweise ähnlich, mit nur kleinen Abweichungen: a. Die Katechese sollte wenigstens zweimal wöchentlich für „Alte und Junge“96 und in aller Einfachheit gehalten werden. Auch in Obergreiz war offensichtlich neu, dass auch ältere Gemeindeglieder zur Teilnahme an der Katechese gehalten waren. Versäumten sie beharrlich den Unterricht, sollten sie dem Konsistorium gemeldet werden.97 b. Auch die Predigerordnung hielt fest, dass der Beichtstuhl durch die Schrift zwar nicht geboten, aber hilfreich sei, wenn er nicht Opere operato, also ohne Verhaltensänderung im Sinne eines Ablassens von öffentlichen Sünden genutzt werde.98 c. Neben Krankenbesuchen ermahnte die Predigerverordnung insbesondere zu „Haus=Visitationes“99, bei denen es vor allem um die Unterweisung zu erbaulicher Lektüre der Schrift und von Arndts Wahrem Christentum und zur Abhaltung der Hauskirche mit Familie und Gesinde gehen sollte. Gegenüber der waldeckischen Verordnung trat die Überwachung des rechtmäßigen christlichen Lebenswandels zugunsten der Belehrung und Anleitung zurück.

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Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 22 (§ 22). AaO, 23. Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. Kehrseite eines Klischees (1692–1704). Tübingen 2004 (HaFo, 15). Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 25 (§ 24). Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. D1r (§ 26). Vgl. ebd. AaO, Bl. C3v (§ 23). Wer in öffentlichen Sünden lebt, soll nicht zum Abendmahl zugelassen werden. Hartnäckige Sünder sollen dem Konsistorium gemeldet werden und notfalls zum Ausschluss aus der Kirchengemeinde führen; vgl. aaO, Bl. C3v–C4r (§ 23). Vgl. aaO, Bl. C4v (§ 25).

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V. Kontrolle und Tabellen Übereinstimmungen gibt es auch in einer bemerkenswerten Anweisung, die sich jeweils am Schluss der Ordnungen findet: In der waldeckischen Kirchendisziplinverordnung wird dort Respekt gegenüber Visitatoren, Superintendenten und Konsistorium gefordert; die Greizer Predigerverordnung tut dies in gleicher Weise.100 Zudem hieß es in Waldeck, dass die Pfarrer dem Konsistorium halbjährlich vor Pfingsten und Weihnachten „von dem Zustand ihrer Gemeine“, über die Predigttexte und -themen und die Anwendungen und Applikationen (Usus) berichten sollten.101 Dabei ging es nicht nur um die Anzahl der Gemeindeglieder, sondern für jede Person der Gemeinde sollte in Gestalt einer Tabelle Auskunft darüber gegeben werden, „wie ein jeder im Christenthum sich anlasse, ob er in herrschenden Sünden lebe, ob er sich bessere, ob er Vermahnung gern annehme, etc.“.102 Eine beigefügte Mustertabelle für dieses „Seelen-Register“ nennt als Rubriken neben biographischen Angaben eine Einschätzung der Entwicklung (profectus), des Kenntnisstandes im Katechismus (Catechetici) und ein Urteil über den Lebenswandel (Vita & Mores).103 Dieser Vorschlag kann durch die Praxis der Führung von Schultabellen in den Glauchaer Anstalten beeinflusst worden sein. Eine Parallele in Aufbau und Terminologie besteht auch zu den in Sachsen-Gotha durch Ernst den Frommen 1640 eingeführten „Seelenregistern“.104 Eine Realisierung in Waldeck hätte sicherlich das Potential für eine weitgehende religiöse Disziplinierung der dortigen

Tabelle, Predigerverordnung Greiz 1720, Bl. E4v 100 101 102 103

Vgl. Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 29 (§ 29 f.). AaO, 26 (§ 28). AaO, 26. Alle Zitate aaO, 27. Ähnlich sollte nach der waldeckischen Schulordnung von 1704 halbjährlich über Entwicklung und Stand der Schüler berichtet werden (vgl. Schulordnung Waldeck [s. Anm. 29]). 104 Vgl. zu den Gothaer Seelenregistern und deren historischem Ort Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002 (LStRLO, 1), v. a. 100–112, 344–352 u. 540–554.

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Bevölkerung geboten, sie hätte den kleinen Regierungsapparat aber auch erheblich belastet. Eine ganz ähnliche Forderung stellte auch die Greizer Verordnung an die Pfarrer: Allerdings nur noch einmal jährlich im Advent sollten sie über ihre Gemeindeglieder in tabellarischer Form berichten. Ähnlich wie in Waldeck wurde in Greiz mit einer im Druck beigefügten Mustertabelle neben der Angabe von Namen, Geburtsjahren und Berufen Auskunft zum „Profectus catechet[ici] in Verbis“ und „Profectus catechet[ici] in sensu“ sowie zu „Vita & Mores“ gefordert.105 4. SCHLUSS Die Greizer Predigerverordnung von 1720 enthält auch Passagen, die in der waldeckischen Kirchendisziplinverordnung fehlen. So beginnt sie mit einer zwölf Paragraphen umfassenden Mängelliste, welche die Reform des Obergreizer Kirchenwesens begründen sollte.106 Insgesamt aber zeigen die Waldecker Ordnung von 1703 und die Greizer Ordnung von 1720 große Ähnlichkeiten in Anliegen, Aufbau, Maßnahmen und Begründung, die bis in Details und zum Teil sogar in die Formulierungen hinein Übereinstimmungen erkennen lassen. Offensichtlich hat man in Greiz 1720 auf den 17 Jahre zurückliegenden Entwurf Otto Heinrich Beckers zurückgegriffen und die Vorlage an die Erfordernisse in Obergreiz angepasst. Versucht man, die Intention dieser beiden Ordnungen zu erfassen, dann gibt schon die Einleitung der waldeckischen Ordnung einen Hinweis, wenn über Kirchenzucht und Kirchenbuße gesagt wird, dass die Buße nur noch in wenigen Gemeinden praktiziert würde und „auch / wie sie gemeiniglich geschiehet / vor nichts weniger als eine Busse / sondern nur vor eine Straffe anzusehen“ sei.107 Diese Differenzierung zwischen (kirchenzuchtlicher) Strafe und Buße ist der Schlüssel, um den Ansatz der Ordnung bei der Kirchenzucht und zugleich die Ausrichtung als Predigerordnung zu verstehen; ihr Ziel ist nicht eine bloß äußerliche Befolgung der christlichen Gebote, sondern eine innere Veränderung des Menschen im Sinne eines wahren Christentums. Daher werden neben den weltlich lebenden ‚Fleischlichen‘ auch die äußerlich rechtschaffen christlich lebenden Gemeindeglieder deutlich kritisiert, wenn sie keine Anzeichen einer inneren Herzensänderung erkennen lassen. Mit einer Fülle von zusätzlichen Maßnahmen wollten die Waldecker und die Greizer Ordnung zum Inneren der Gläubigen vordringen. Dass dabei den Predigern eine Schlüsselrolle zukommen sollte, weist auf die Hallesche Prägung des Ansatzes. Detaillierte Vorgaben für ihre Zulassung zum Pfarramt und für ihr Auftreten sollten diese zu Exempeln des Glaubens werden lassen. In Waldeck entwickelte Becker ergänzend die Idee eines auf die Universitätsausbildung aufsetzenden Seminars, das die Kandidaten zur Praxis in Frömmigkeit, Seelsorge, diakonischem Dienst und Pfarramt anleiten sollte – das wohl erste Predigerseminar moderner Prägung unter pietistischen Vorzeichen. 105 Vgl. Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. E4v (§ 47) und die beigefügte Abbildung. 106 Vgl. aaO, Bl. A4r–B4v. 107 Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55], 5.

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Darüber hinaus sollten die Pfarrer ihren Zugriff auf die Gemeindeglieder pädagogisch, seelsorgerlich und visitatorisch deutlich intensivieren. Hierzu dienten Predigtrepetition, Katechese auch für die Erwachsenen, individuelle und gemeinschaftliche bzw. öffentliche Bibellektüre, Intensivierung der Beichtpraxis und der Hausbesuche und schließlich eine regelmäßige Berichtspflicht in Gestalt von Tabellen, die detaillierte Auskunft nicht nur über äußerlich Erkennbares, sondern auch über den Seelenzustand jedes einzelnen Gläubigen zu geben hatten. Das Wort Gottes sollte nicht nur reichlicher unter die Leute, sondern – wie es ausdrücklich heißt – auch in die Leute gebracht werden.108 Hinter solchen Anliegen sind mystisch-spiritualistische Tendenzen zu vermuten, wie sie auch dem von der Greizer Ordnung geschätzten Johann Arndt zu eigen waren. Dass es in Waldeck und Greiz auch Raum für radikale Tendenzen gab, ist offenkundig – darauf weisen schon die Besuche und längeren Aufenthalte von Anführern des radikalen Pietismus wie Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) und Hochmann von Hochenau (1670–1721) sowie die Anstellung Georg Klein-Nicolais (1671–1734), eines engen Vertrauten Petersens, als Pfarrer in Zeulenroda, hin.109 Die waldeckische Ordnung trat nicht in Kraft. Dem lutherisch-orthodoxen Superintendenten Johannes Kleinschmidt (1641–1715) gelang es nach zunächst hinhaltendem Widerstand durch Intervention beim jungen mitregierenden Grafen Friedrich Anton Ulrich, die Kassation der bereits gedruckten Ordnung zu erreichen.110 Die Ordnung für Reuß-Obergreiz wurde gedruckt und veröffentlicht. Darüber, inwieweit sie in den drei Jahren bis zum Ende der Tätigkeit Otto Heinrich Beckers in Greiz in der kleinen Grafschaft implementiert werden konnte, lässt sich nach derzeitigem Stand keine sichere Aussage machen.111 Gleichwohl lohnt der Blick auf beide Reformansätze auch über Prediger- und Kirchenwesen hinaus. Denn die pietistischen Erneuerungsprojekte in Waldeck und Obergreiz waren Versuche, die in einen universitär-städtischen Kontext eingebettete Hallesche Reform auf territoriale Verhältnisse zu übertragen – ein Vorhaben, das gerade wegen mancher radikaler Ansätze und wegen starker obrigkeitlicher Tendenzen interessant ist.

108 Vgl. Predigerverordnung [s. Anm. 59], Bl. E2r. S. o. S. 144 mit Anm. 88. 109 Vgl. Heinz Renkewitz: Hochmann von Hochenau (1670–1721). [Breslau 1934] Witten 1969 (AGP, 5), 391, 393 f.; Collmann, Reformbestrebungen [s. Anm. 27], 52 f., 53 f.; Schneider, Der radikale Pietismus [s. Anm. 12], 115. 110 Kleinschmidt erwirkte die Rücknahme, obwohl die Kirchendisziplinverordnung [s. Anm. 55] bereits mit gräflicher Approbation gedruckt worden war (vgl. Breul, Generalreform [s. Anm. 2], Kap. 4.1). 111 Die Protokolle der Predigerkonferenz sind für die Jahre zwischen 1720 und Beckers Tod nicht erhalten (vgl. Brunner, Aristokratische Lebensform [s. Anm. 19], 90 f.). Die in der Predigerverordnung [s. Anm. 59] jährlich von den Pfarrern geforderten Tabellen zum profectus der Gemeindeglieder waren bisher nicht auffindbar. Eine gründliche Sichtung der Obergreizer Konsistorialakten steht aber noch aus.

VON JENA NACH WEIMAR Johann Ernst Stolte (1672–1719) und seine Bedeutung für den Pietismus in Thüringen Ernst Koch In Jena hat ein Pietistischer Bürger gegen dem schwarzen Bret wohnend / sein Kind lange Zeit nicht wollen tauffen lassen / endlich da er muß / bittet er M. Stoltens Frau / der die Collegia Pietatis da hält zu Gefatter. O wenn die alten Theologi daselbst aus der Erden gucken / und das Unheil sehen sollten!

So berichtet ein unter einem Pseudonym ohne Angabe des Druckorts 1712 erschienenes Büchlein, das weitere beunruhigende Nachrichten aus Thüringen bietet.1 Mit dem Fettdruck des Namens Stolte wird dem Leser gleichzeitig kommuniziert, dass es sich bei ihm um eine zentrale Gestalt der pietistischen Bewegung am Anfang des 18. Jahrhundert handelt. Johann Ernst Stoltes Rolle ist jedoch bisher nie im Zusammenhang untersucht worden. Erdmann Heinrich Graf Henckel (1681–1752) hatte Stoltes Sterbebericht in seine Sammlung exemplarischer „letzter Stunden“ aufgenommen.2 Johann Christoph Wilhelm Augusti (1771–1841) veröffentlichte 1837 einen Aufsatz über den Jenaer Pietismus des 18. Jahrhunderts, in dem Stolte nicht genannt wurde.3 In neueren Forschungsarbeiten zum Pietismus in Thüringen taucht sein Name sporadisch bzw. beiläufig auf.4 In der mehrbändigen Geschichte des Pietismus fehlt er – wie

1

2 3 4

[Albinus Silesius:] Zwey Königliche Preußische RESCRIPTA Wider die Pietisten zu Halle […]. Nebst einem Vorbericht Darinnen viele curieuse Novitaeten von den Pietisten zu Leipzig / Gotha / Northausen / Eisenach / Jena / Magdeburg / Halle etc. dem Leser getreulich communiciret werden, o. O. 1712, Bl. A 8v. Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen und in nechstverflossenen Jahren selig in dem Herrn verstorbenen Personen […]. Bd. 3. Halle 21726, 1–55. Johann Christoph Wilhelm Augusti: Beyträge zur Geschichte und Statistik der evangelischen Kirche. Erstes Heft. Leipzig 1837, 164–231. Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, 1929, 1–55, hier: 25 f. u. 28 f.; ders.: Vom Pietismus in Thüringen. Beiträge zur thüringischen Kirchengeschichte 1, 1929/1931, 294–311, 356–397, hier: 377 f.; ders.: Vom Pietismus in Ostthüringen. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 39, 1935, 285–334, hier: 387; ders.: Gottlob Wernsdorf wider Johann Franz Buddeus. In: ZKG 54, 1935, 587–601, hier: 590 f.; Rudolf Herrmann: Thüringische Kirchengeschichte. Bd. 2. Mit einem Geleitwort von Ernst Koch und einem Nachwort über den Autor von Dietmar Wiegand. Waltrop 2000, 261, 266, 269 (hier eine knappe Skizze seiner Tätigkeit in Jena), 265–267 eine Skizze von Stoltes Rolle in Weimar.

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überhaupt der Pietismus in Thüringen – völlig.5 Die letzterschienene Arbeit zum Pietismus an der Universität Jena von Johannes Wallmann mit viel versprechendem Titel, die sich allerdings ausschließlich mit Caspar Sagittarius (1643–1694) befasst, schließt nach dem Resümee, der Pietismus von Sagittarius habe nur auf dem Papier seiner Flugschriften existiert, mit der lapidaren Feststellung: „Ein Pietist ist er nie gewesen“.6 Stolte wurde am 29. September 1672 in Veltheim im Herzogtum Minden geboren. Er entstammte einer Pfarrersfamilie, war aber bereits mit seinem 13. Lebensjahr Vollwaise, wuchs bei seinem älteren Bruder Johann, Bürgermeister von Walsrode, auf und wurde nach Schulbesuch in Verden zum Wintersemester 1694 in Jena immatrikuliert.7 Dass er Jena als Studienort wählte, ging vielleicht auf eine Anregung des Jenaer Hebraisten Johann Andreas Danz (1654–1727) zurück, der zu seiner weitläufigen Verwandtschaft gehörte. Nach eigener Aussage habe der Student, weil er arm war, bald neben seinem Studium mit der Unterweisung von Kommilitonen in orientalischen Sprachen begonnen und hätte nach Jahresfrist dies täglich acht Stunden tun können, wenn dies sein Interesse am eigenen Studieren erlaubt hätte.8 Er wollte sich den Inhalt der Bibel nach ihrem Urtext aneignen. Seine orientalistischen Kenntnisse rührten wohl von seinem Studium bei Johann Andreas Danz her. Stolte sträubte sich nach Aussage der Druckfassung seines Lebenslaufs lange gegen eine Magisterpromotion, wohl weil er in einem solchen Akt eine Gefährdung durch geistlichen Hochmut befürchtete. Nach eigener Aussage wollte er gern bald in seine Heimat zurückkehren, um dort Pfarrer zu werden. Dekan und Senior der Fakultät bestellten ihn jedoch ein und schlugen ihm vor, sich innerhalb von 8 Tagen zum Magister promovieren zu lassen. Da es ihm an Geld mangelte, wurde ihm die Hälfte der Kosten als Zuschuss angeboten. So fand die Magisterpromotion am 27. Mai 1700 statt.9 1. EIN FAMULUS ALS CHRONIST 1.1 Stoltes akademische Anfänge Die im Folgenden berichteten Zusammenhänge und Einzelheiten beruhen auf den Aufzeichnungen, die Stoltes Famulus Brand zusammengestellt hat – es handelt sich um den 1706 immatrikulierten Christian Brand (1682–1754) aus Karsdorf in Thü5

6 7 8 9

Vgl. Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Johannes van den Berg [u. a.] hg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993; Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Friedhelm Ackva [u. a.] hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995; Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Gustav Adolf Benrath [u. a.] hg. v. Ulrich Gäbler. Göttingen 2000; Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. In Zusammenarbeit mit Ruth Albrecht hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004. Johannes Wallmann: Der Pietismus an der Universität Jena. In: PuN 37, 2011, 36–85, hier: 85. Die Matrikel der Universität Jena. Bearb. von Reinhold Jauernig. Bd. 2. Weimar 1977, 791. Vgl. den eigenhändigen Bericht über sein Wirken AFSt/H D 42: 1082. Vgl. aaO, 1084.

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ringen.10 Diese Aufzeichnungen, die verständlicherweise ihren Schwerpunkt im Bereich seiner akademischen Tätigkeit haben, lassen sich durch Stoltes eigenen autographen Bericht ergänzen.11 Brand berichtete, dass der Magister seit 1702 regelmäßig ein bibelwissenschaftliches Collegium Paraeneticum angeboten habe. Ihm sei dabei zustattengekommen, dass vor der Berufung der Professoren Michael Foertsch (1654–1724) und Johann Franz Buddeus (1667–1729) im Jahre 1705 die Theologische Fakultät nicht besetzt war. Hatte doch sogar das Dekanat der Theologischen Fakultät im Jahre 1704 der Professor für Metaphysik an der Philosophischen Fakultät Johann Philipp Treuner (1666–1722) inne. Stolte war also eine Zeit lang der Einzige, der ein theologisches Kolleg anbot. Seine exegetischen und homiletischen Kollegs fanden mit mehr als 100 Teilnehmern großen Zuspruch – mit dem Ergebnis, „daß die meisten ihr unordentliches Studenten-Leben mit einem Christl. Wandel verwechselten“.12 Die neu berufenen Professoren seien nach Aussage von Stolte selbst hoch erfreut darüber gewesen und hätten ihn ermutigt, mit seinen Angeboten fortzufahren. Ähnlich sei es ihm mit den Collegia thetica privatissima ergangen. Stoltes spätere Skizze des von ihm praktizierten exegetischen Curriculums verrät eine deutliche Methodik. Ihm lag daran, eine nur kritische oder oberflächliche Beschäftigung mit biblischen Texten zu überwinden, indem er mit der lectio historica der Texte einsetzte, danach die Einteilung eines Textes (lectio logica) und schwierige Ausdrücke erläutern (lectio exegetica), den Ort des Textes in der Glaubenslehre (lectio dogmatica) einüben und in den beiden letzten Schritten zu den hauptsächlichen Lehren des jeweiligen Textes (lectio porismatica) und zur lectio applicativa hinführen wollte.13 Stolte bot wöchentlich mehrere Stunden Collegia über biblische Bücher gratis an. Auf Bitten von Studenten, jedoch auch „aus damaliger noch anklebender Unerfahrenheit und Einfalt“ willigte er ein, dass die Vorlesungen mit Gesang begonnen und beendet wurden. Dies rief bei Studenten Tränen hervor, „daß man“, wie Stolte sich rückblickend ausdrückte, „ohne Thränen kaum daran gedencken kann“.14 Ein Collegium Paraeneticum über den 1. Petrusbrief fand 1706 jeweils sonnabends von vier bis sechs Uhr nachmittags statt.15 Christian Brand war vor der Teilnahme gewarnt worden, folgte dann aber doch dem Rat seines Stubengenossen Trebus.16 Wie sich dazu die Aussage Stoltes verhält, er habe den Auftrag zur Lectio applicativa der Bibel erhalten, muss offen bleiben. Gott habe es, wie Stolte selbst berichtete, so gelenkt, dass er dies, „obgleich sparsam“, bei seinen Schülern praktizieren konnte.17 Nach Verlauf von sechs Wochen jedoch habe die Stadtgeistlichkeit von Jena ein Verbot erwirkt, das durch Professor 10 11 12 13 14 15 16 17

Matrikel Jena [s. Anm. 7], 80. Der Text im AFSt/H D 42: 1026–1076. AaO, 1082–1122. AaO, 1085. Vgl. aaO, 1095 f. AaO, 1086. Vgl. aaO, 1026. Vgl. aaO, 1028. Immatrikuliert im Mai 1705 als Christoph Trebß aus Freyburg/Unstrut (Matrikel Jena [s. Anm. 7], 826). AFSt/H D 42: 1083.

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Foertsch vor Ostern ausgeführt worden sei. Eine Denkschrift an die Fakultät habe zu einer Untersuchung durch Oberkonsistorialassessor und Regierungspräsident Johann Heinrich Leonhardi (1646–1714) aus Eisenach geführt. Das Ergebnis sei Pfingsten 1706 das Verbot des Gesangs als species cultus publici, jedoch die Erlaubnis zur Fortsetzung der Vorlesung gewesen.18 1.2 Elemente gemeinsamen Lebens Stolte erwog nach eigener Aussage bereits im Dezember 1704 Maßnahmen gegen die Missstände bei den studentischen Tischgesellschaften und begann einen eigenen Freitisch mit anfänglich zehn Studenten. Während der Mahlzeit sprach man über biblische Texte im Nachgang zu den Kollegs Stoltes. Nach einem Jahr wurden bereits 20 Teilnehmer gezählt.19 Stoltes Famulus wusste zu berichten, dass sich „im Tinzischen Hause“ 50 bis 70 Teilnehmer zu den Veranstaltungen Stoltes versammelt hätten.20 Bei dieser Gelegenheit wurde Gottfried Arnolds (1666–1714) Leben der Gläubigen21 gelesen und nach Tisch wurden Psalmen und die gottesdienstlichen Perikopen aus den Evangelien und den apostolischen Briefen „mit beygefügten Christlichen Gesängen“ betrachtet.22 Stolte selbst berichtete auch von der Lektüre „ordentlicher Zeitungen“ und betonte: So verstummte „alles unnützes Geschwätz und übelstehendes Geräusche und Gemurmel“.23 Brand konnte auch die Namen von sieben Teilnehmern nennen. Schmähungen hatten sie durch die Friesische Tischkompanie zu erleiden, vor allem des Singens wegen. Zwei Studenten leisteten tätige Buße, Hofmann aus Dinkelsbühl wäre auf Grund seines Fastens „bey nahe gar gestorben“.24 Landsleute dieser Studenten lästerten über Stolte und sagten ihm nach, er habe sie verführt, wandten sich an Johann Franz Buddeus, „der auch die Wahrheit der Sache in patriam berichtete“.25 Hofmann und Schäfer aus Franken, Vieth aus Holstein stießen im Jahre 1707 zum Kreis um Stolte. Im März dieses Jahres wurde der Medizinstudent Klein durch seinen Kommilitonen Leineweber dieser Gruppe zugeführt. Klein nahm an den Biblischen Konferenzen teil, die die Studenten untereinander unter Leitung von Straus veranstalteten. Er trennte sich von seiner „bösen“ Tischgesellschaft, ging nach Halle und starb dort im Mai 1708 „selig“.26 Einige unter den hinzugekommenen Studenten fielen wieder ab, „weil sie […] ihre Hertzen Gott nicht aufrichtig übergaben“. Stolte konnte Ostern 1707 nach der Berufung Johann Philipp Treuners als Senior in Augsburg mehrere Stuben in dessen Haus mieten, was Platz für ein grö18 19 20 21 22 23 24 25 26

Vgl. aaO, 1087. Vgl. aaO, 1087 f. AaO, 1028. Gottfried Arnold: Leben Der Gläubigen Oder Beschreibung solcher Gottseligen Personen / welche in den letzten 200. Jahren sonderlich bekannt wurden. Halle/Saale 1701. AFSt/H D 42: 1028 f. AaO, 1089. AaO, 1030. Ebd. AaO, 1031. Hier auch das folgende Zitat.

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ßeres Auditorium und an den Sonnabenden für ein Collegium Paraeneticum über den Brief an die Hebräer bot. Es wurde statt biblischer Betrachtungen nach Tisch für drei Jahre auf die Zeit von elf bis zwölf Uhr verlegt, verbunden mit Übungen in (homiletischer) Proposition bzw. Meditation über den Propheten Jesaja und die ersten 29 Kapitel des Jeremiabuchs, die kleinen Propheten und die Bußpsalmen und kursorischer Lektüre der Psalmen. Brand konnte die Namen von zehn Kommilitonen nennen, die die Propositionen vorlegten. Unter ihnen waren auffallend viele Studenten aus Nord- und Nordwestdeutschland und dem Baltikum.27 Bald nach dieser institutionellen Konsolidierung der Angebote wurden Betstunden abends nach Tisch eingeführt, die aus einem Lied und Gebet, einer Bibelerklärung, Gesang und Abschlussgebet bestanden. Jeweils 14 Tage bevor Stolte zur Beichte gehen wollte, bot er eine Selbstprüfungsübung als Vorbereitung an, erklärte in der Fastenzeit die Passionsgeschichte Jesu und gab eine Anleitung zum Verständnis der biblischen Sonntagsperikopen sowie zur Sonntagsfeier. Dazu fanden sich außer den Tischgenossen und dem Hausgesinde auch auswärtige Teilnehmer ein. Allerdings regte sich auch in der Stadt viel Widerspruch gegen das Unternehmen.28 1.3 Konflikt mit der Stadtgeistlichkeit Anfang 1708 legten Foertsch, aber auch die Jenaer Stadtgeistlichkeit Protest gegen die Vorgänge ein. Am Sonntag Estomihi (19. Februar) predigte Stolte und nahm Stellung gegen fleischliche Lüste und exzessives Schlittenfahren. Der Student Zandt, im Hause von Foertsch wohnend, schrieb die Predigt mit und reichte sie weiter. Aus dem Vorgang entwickelte sich ein Schriftwechsel in scharfem Ton, woraufhin das sächsisch-eisenachische Konsistorium in Jena sich an den Eisenacher Hof wandte mit der Behauptung, dass Betstunden als öffentlicher Gottesdienst zu werten seien. Stolte erkrankte für eine Woche und wurde zum 6. März vor das Konsistorium zitiert. Dies führte zum Verbot des sonnabendlichen Collegium Paraeneticum ab 28. April. Nun schlief auch die Abendbetstunde in Stoltes Haus ein, wurde aber mit den Hausangestellten weiterhin gefeiert.29 Ein neuer Bericht von Foertsch, der im Oktober nach Eisenach gesandt wurde, enthielt die Behauptung, die Betstunde sei doch ein öffentlicher Gottesdienst, und einige, die auf dem Heimweg von der Betstunde gewesen seien, hätten Unzucht getrieben, vielleicht seien sie im ‚Schluck ein‘ (einer Kneipe) eingekehrt.30 Zu den Widersprechenden gehörte auch der Verleger Johann Bielcke (1643– 1706). Er verbot dem Buchführergesellen Kißner die Teilnahme an den Betstunden. Daraufhin kündigte Kißner seine Stellung und begann mit dem Studium der Theologie.31 Aber auch von einem seiner Hausbediensteten wurde Stolte angegriffen – er arbeite gegen die Obrigkeit. 27 28 29 30 31

Vgl. aaO, 1032. Vgl. aaO, 1033. Vgl. aaO, 1036. Vgl. aaO, 1038. Vgl. aaO, 1036.

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1.4 Das Eingreifen des Hofes und die Verschärfung der Konflikte Nun wandte sich der Eisenacher Hof auch an die Universität und forderte einen Bericht. Er wurde durch Johann Franz Buddeus als Prorektor erstattet, der sich auf die Aussagen zweier Zeugen berief. Im Hause des einen Zeugen, Physik-Professor Georg Albert Hamberger (1662–1716), hätten ebenfalls Betstunden stattgefunden. Von Interesse war u. a. die Frage, ob bei den Betstunden ein Hallesches Gesangbuch gebraucht werde. Der Bericht wurde Anfang 1709 nach Eisenach geschickt, kam aber bei Hofe nicht an. Christian Brand vermutete, er sei unterschlagen worden, „wie es in solchen Fällen offt zu geschehen pflegt“.32 In Studentenkreisen sprach man von den Anhängern Stoltes als von „Stoltianern“, unter denen sich auch Feiglinge aufhielten, die ihre Anhängerschaft verbergen wollten, indem sie in den Kellern herumtanzten und damit zeigen wollten, sie seien keine Pietisten.33 Inzwischen erhielt Stolte neuen Zulauf, sodass in seinen Kollegs viele auf den Treppen sitzen mussten. Auch der in der Nachbarschaft wohnende Bürgermeister Freudenreich öffnete seine Wohnung für Studenten, die durch die geöffneten Fenster dem dozierenden Magister zuhören wollten – Brand konnte viele von ihnen mit Namen nennen. Einer unter ihnen „stund einen schweren Kampf und harte Versuchungen aus“. Andere wurden von zwanghaften Ängsten gejagt. In dieser Zeit trafen sich Freunde am Sonnabend zwischen sechs und acht Uhr morgens und am Sonntag zwischen fünf und sechs Uhr in Stoltes Wohnung zu gemeinsamem Gebet. Dramatisch wurde es Ende 1709 mit einem Vorfall, dessen Ursache und deren Begleiterscheinungen man Stolte zuschob: Ein aus Naumburg stammender junger Mann, der zur Gruppe der am Freitisch bei Stolte Teilnehmenden gehörte und Epileptiker war, fiel während der Vorlesungen bei Buddeus oft um, wollte aber unbedingt studieren, wofür er viele Texte abschrieb. Man bewachte ihn schließlich unter dem Verdacht, dass er von Sinnen sei. Am 24. Dezember konnte er sich der Bewachung entziehen, lief in die benachbarte Apotheke, entkleidete sich, lief durch die Johannisgasse in das Haus von Dr. Schmidt, bei dem er wohnte, sprang aus dem Fenster in den Hof und verletzte sich schwer. Auf dem Bett liegend schrie er ununterbrochen: „O Ewigkeit, du Donnerwort!“34 1.5 Ausweitung der Konflikte Um diese Zeit konnte sich Stolte nach wie vor auf die Deckung seiner Person durch Buddeus verlassen. In das Jahr 1709 fiel ein von ihm gehaltenes Collegium de Institutione Scholastica. Gern hätte er auch ein Seminarium Praeceptorum angeboten, gegen das sich jedoch Widerstand erhob. Die Abendbetstunden sonnabends und sonntags, verbunden mit der Auslegung des Paulusbriefs an die Philipper und der gottesdienstlichen Sonntagsperikopen, wurden zum Missbehagen der Stadtgeistlichkeit fortgesetzt, bis Superintendent Michael Zülich (1653–1721) Stolte am 32 33 34

AaO, 1039. Vgl. aaO, 1040. Vgl. aaO, 1042–1044.

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1. März 1710 im Beichtstuhl schwere Vorhaltungen machte und ihm die Auflage gab, die Andachten zu beenden. Stolte schrieb ihm einen langen Brief, der aber unbeantwortet blieb. Während der Vorbereitung auf die nächste Beichte vor dem Pfingstfest bat er den Superintendenten um ein Gespräch, „damit er im Beichtstuhl verschont bleibe“.35 Zu diesem Gespräch kam es am 6. Juni, bei dem Zülich Stolte riet, die Betstunden freiwillig aufzugeben, da sonst Schlimmes drohe, wenn er wegen Stoltes Hartnäckigkeit sich werde an den Hof wenden müssen. Da griff Stolte zu einer vorausgreifenden Strategie: Er ließ sich unter Umgehung der Universität zusammen mit dem Oberaufseher Münch als Konsistorialkommissar einsetzen. Ein fürstliches Reskript vom 18. Juni befahl jedoch Stolte die Einstellung der Betstunden mit der Ankündigung, bei Widersetzlichkeit werde er „nechstens Verdriesliche Post erwarten“.36 Daraufhin verwies der Beschuldigte auf seinen vom Hof nicht beantworteten Brief. Stolte wurde von Prorektor Johann Caspar Posner (1671–1718) vorgeladen mit der Anweisung, er solle ein schriftliches Zeugnis des Superintendenten vorlegen. Dieser weigerte sich, da der letzte eingesandte Bericht bei Hofe nicht angekommen, vielleicht auch vorsätzlich wegen inhaltlicher Mängel vernichtet worden sei. Auch sei bereits ein neues Reskript des Hofes unterwegs, das Stolte am folgenden Tag überreicht werden solle. Da entschloss sich Stolte nach Rücksprache mit Buddeus, selbst bei Hofe vorzusprechen. Das bedeutete allerdings während seiner Abwesenheit in Jena die Betstunde mit dem 25. Juni auszusetzen. Sein Famulus Brand kommentierte diesen Vorgang so: „Das war gewiß eine harte Prüfung, die doch Gott wol nicht ungefähr ergehen lies, und mochte wol seyn, daß viele träge worden, nicht fleissig im Gebeth und Dancksagung angehalten, das gute Futter wegen Uberflusses nicht recht hoch geachtet“.37 Stolte brach am 26. Juni 1710 nach Eisenach auf zusammen mit seinem Freund Joachim Uthesius (1680–1740) aus Anklam, Student in Jena seit 1707. Sie trafen auf der Durchreise in Erfurt und Gotha viele Freunde und übergaben dem Landesherrn eine dringende Bittschrift. Bei der Verhandlung im Oberkonsistorium war dieser selbst zugegen und ließ Stolte ein für ihn freundliches Reskript überreichen. Dieses Reskript ging Stolte auf der Rückreise nach Jena zusammen mit anderen Dingen verloren. Nach der Rückkehr nach Jena bat er in Eisenach um eine Neuausfertigung des Textes, die er am 8. Juli erhielt und dem Superintendenten zuleitete. Dieser gab es erst am 14. Juli an die am Konflikt beteiligten Institutionen weiter, bestand aber seinerseits auf der Einstellung der Betstunden, auch denen, die nur zusammen mit den Hausbewohnern stattfanden. Dagegen regte sich nunmehr wenig Widerstand.38 Das Ergebnis war, dass einige Sympathisanten stutzig wurden, andere reagierten gleichgültig, wieder andere begannen Betstunden im kleinen Kreis. Eine ansehnliche Zahl erwog eine eigene Bittschrift an den Landesherrn – hatte doch nur ein einziger unter den ernestinischen Erhalterstaaten der Universität Einspruch gegen die Betstunden erhoben. Der aus Kurland stammende Georg Jakob Schmit – die35 36 37 38

AaO, 1046. AaO, 1047. AaO, 1049. Vgl. aaO, 1052.

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ser 1705 Immatrikulierte dürfte der von Brand erwähnte „Schmidt“ sein – entwarf den Text, der von 106 Studenten aus allen Fakultäten unterzeichnet wurde.39 Am 21. Juli brachen zwei Studenten mit der Bittschrift nach Eisenach auf. Ihr Aufenthalt dort gestaltete sich viel länger als erwartet. Denn am 23. Juli wurde Professor Foertsch zum Landesherrn zitiert, am gleichen Tag, an dem die beiden Studenten eine Audienz gewährt bekamen. Der Herzog zeigte sich verwundert über die große Zahl der Unterschriften und kommentierte sie mit der Bemerkung, es müsse großes Aufsehen erregen, wenn so viele Menschen sich in einem Haus versammelten. Das Oberkonsistorium Eisenach verhandelte am 25. Juli über die Angelegenheit. Zwei Tage später berichtete einer der beiden Studenten nach Jena, es stehe schlecht um ihr Anliegen, weil der Superintendent erst die Akten der Untersuchungskommission nach Eisenach einsenden müsse, „denn die Betstunde wäre allzusehr blamiret“.40 Superintendent Zülich aber hielt die Akten zurück und musste nach Rückkehr von Foertsch nach Jena am 31. Juli am folgenden Tag nochmals um Übersendung der Akten angegangen werden. Die Studenten kehrten am 11. August nach Jena zurück. Danach ging keine Reaktion des Hofes bei Stolte ein. Nochmals wurde dem Landesherrn eine studentische Bittschrift mit dem Vorschlag zugeleitet, er möge dafür sorgen, dass die Betstunde, falls ihr zugestimmt würde, in die Kollegienkirche verlegt werde. Im September ging dann eine entsprechende Bitte auch an den Gothaer Hof, „da der Herzog nicht ungeneigt“.41 Stolte zeigte sich wenig beeindruckt durch die nun entstandene Situation. Am 8. Sonntag nach Trinitatis (10. August) hielt er in der Kollegienkirche eine Predigt über das Evangelium dieses Sonntags (Mt 7,15–21), in der er darlegte, dass sich die falschen Propheten in 15 Klassen einteilen lassen, unter denen sich natürlich auch seine Gegner befanden. Famulus Brand hatte die Predigt Professor Foertsch zu übergeben. Dieser leitete sie an den Eisenacher Hof weiter und beteuerte, „er sey kein solcher Feind vom H[err]n M. Stolten, als [er] an sich wol einbildet“.42 Der Hof reagierte nach wie vor nicht. Brand wurde das Predigtmanuskript durch den Generalsuperintendenten Johann Christoph Zerbst (1643–1719) zurückgegeben. So nahm Stolte am 4. September die Abendbetstunden in seinem Hause wieder auf, verzichtete jedoch auf den Gesang. Die Teilnehmer wollten am folgenden Sonntag kommunizieren. Stolte legte zur Vorbereitung darauf Ps 65,1 aus. Es erhob sich Verwunderung darüber, dass dabei nicht gesungen werden sollte, „unerachtet doch täglich Abends in Jena immer viel gesungen wird“. In der Vorbereitung auf die Kommunion stand die Selbstprüfung der Kommunikanten seit der vorausgehenden Kommunion (am 25. Juni) an. Der Zulauf war so groß, dass sogar Buddeus zur Einstellung der Betstunden riet. Dies erfolgte dann auch vom 15. September an, nachdem nun doch ein neues Hofreskript eingegangen war. In ihm wurde betont, man sei in Eisenach „nicht eben gesonnen, die Betstunden zu hindern“; jedoch sollten die Professoren Vorschläge für einen Ort der Betstunden vorlegen. Im Oktober 39 40 41 42

Vgl. aaO, 1053 f. AaO, 1054. AaO, 1055. AaO, 1056. Hier auch die folgenden Zitate.

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erging auch ein Reskript an Professor Foertsch als Prorektor, der die gewünschten Voten der Professoren schließlich am 4. Dezember vorlegen konnte. Der Hof bestätigte im Januar 1711 den Eingang der Stellungnahmen aus dem Lehrkörper der Universität. Sie enthielten drei Stimmen gegen Stoltes Aktivitäten. Der Historiker Burkhard Gotthelf Struve (1671–1738) kommentierte seine Unterschrift mit dem Zusatz: „[W]enn die Pfaffen fromm wären, dürfte kein M[agister] S[tolte] kommen“.43 1.6 Auswirkungen in der Stadt Mehrfach berichtete Brand, dass die Aktivitäten Stoltes und seines Kreises auch in der Stadt wahrgenommen worden seien. Am 27. November 1710 schloss Stolte die Ehe mit Catharina Elisabeth, Tochter des Pfarrers und Potsdamer Inspektors Joachim Christian Berchelmann (1647–1702), eines langjährigen Briefpartners von August Hermann Francke.44 Diese Veränderung in seinem Leben und seinem Lebensstil führte auch dazu, dass sich nunmehr weitere persönliche Beziehungen in seiner Jenaer Umgebung ergaben. So erfuhr er im Dezember 1710, dass der Schuster Bäron und seine Ehefrau ein Kind erwarteten. Stolte stand mit ihnen in Kontakt. Der Schuster war fromm und las in der Bibel, ärgerte sich auch an der Lebensführung von Pfarrern und hatte darum Skrupel, sein Kind von „Gottlosen Predigern“ taufen zu lassen.45 Lieber habe er die Taufe des Kindes selbst vollziehen wollen oder das Kind im Erwachsenenalter taufen lassen. Stolte, der davon gehört hatte, warnte ihn, da er fürchtete, dass die Haltung des Schusters Ärgernis erregen würde. Hier sprang Stoltes Ehefrau ein. Sie brachte das Anfang Februar 1711 geborene Kind als Patin zusammen mit Pfarrer Vendt zur Taufe. Da die Zusammenhänge dieser Taufe bekannt wurden, wurde der Vater des Kindes zwei Tage nach dessen Taufe vor das Konsistorium zitiert. Ihm wurde vorgehalten, er solle das private Bibelstudium unterlassen. Ein Bericht über die Anhörung des Schusters ging an den Eisenacher Hof. Dort wurde auch der Kontakt des Schusters zu Stolte bekannt. Superintendent Zülich brachte die Angelegenheit auf die Kanzel und sprach von den „neue[n] heilige[n] weise[n] Teufe[n]“ und wiederholte die Anklagen am folgenden Mittwoch in der Wochenpredigt. Brand wusste zu berichten, die anderen Jenaer Pfarrer hätten „nicht so grob“ gepredigt.46 Da erging ein neues Reskript des Hofes an Stolte. Die von ihm geleiteten Versammlungen wurden verboten, der Schuster wurde am 27. März aus der Stadt ausgewiesen. Eine vornehme Frau nahm ihn vorübergehend auf. Schließ43 44

45 46

AaO, 1058. Ulrike Witt hat Heinrich Graf Henckel zu viel Glauben geschenkt, wenn sie mitteilt: „Johann Ernst Stolte (1672–1719) heiratete nicht“ (Ulrike Witt: Eine pietistische Biographiensammlung: Erdmann Heinrich Graf Henckels „Letzte Stunden“ [1720–1733]. In: PuN 21, 1995, 184–255, hier: 211). Stolte überlebten seine Töchter Christiane Hedwig und Sophie Friederike sowie sein Sohn Johann Ernst August. AaO, 1060. AaO, 1064.

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lich verkaufte er sein Haus und zog im folgenden Jahr aus Jena weg. Stolte nahm die Ortsverweisung des Schusters zum Anlass, sich erneut an den Landesherrn zu wenden und um Erlaubnis zu bitten, Betstunden in seinem Haus durchzuführen. Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit den Betstunden am 29. März, allerdings unter Ausschluss hausfremder Teilnehmer. Am 18. April begann er sein Collegium Paraeneticum über den 1. Johannesbrief. 1.7 Berichte von Freunden Da Stoltes Famulus Brand Anfang Mai 1711 Jena verließ, stützte sich sein Bericht über die folgende Zeit auf briefliche Nachrichten seiner Freunde; er müsse also, wie er zufügte, Zweifel offen lassen, ob er wirklich alles, was ihm berichtet wurde, recht verstanden habe.47 Nach den brieflichen Berichten der Freunde Brands kam es im Hochsommer 1711 zu tumultartigen Unruhen unter den Jenaer Studenten, die offensichtlich durch die landesherrlichen Verbote bedingt waren. Daraufhin wandte sich Stolte unter dem Prorektorat des Juristen Wilhelm Hieronymus Brückner (1656–1736) an die Regierungen aller Erhalterstaaten der Universität und beantragte die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Betstunden. Der Eisenacher Hof verlangte einen neuen Sachstandsbericht. Nun regte sich neuer Widerstand innerhalb der Theologischen Fakultät. Foertsch zeigte sich als Gegner dieses Antrags, Buddeus schickte einen ausführlichen Bericht nach Eisenach.48 Buddeus setzte mit der Erinnerung ein, dass Stolte sein Studium unter Friedemann Bechmann (1628–1703) als Lehrer begonnen habe, und kam darauf zu sprechen, dass Stolte bei seinem eigenen Dienstantritt als Jenaer Professor „mit einigen Studiosis des Abend einige Biblische übungen gehabt, die hauptsächlich zu Beförderung des wahren Christenthums dieneten“.49 Daraus sei großer Segen erwachsen, der ihm Neid und Missgunst eingebracht habe. Der Teilnehmerkreis habe sich „ziemlich vergrößert“, man habe Stolte aber nichts Unrechtes nachweisen können. Dennoch habe er diese Art seiner Aktivitäten unterlassen müssen – den Statuten der Universität nach seien Magistern solche Kollegien nicht erlaubt. Nachdem Stolte in Treuners Haus gezogen sei, hätten sich „viele fromme und Gottesfürchtige Studiosi“ an seinen Tisch begeben und nach der Mahlzeit eine Betstunde gefeiert.50 Damit habe Stolte noch größeren Zulauf gewonnen. Beschwerden durch die Pfarrgeistlichkeit der Stadt hätten nichts gefruchtet, weil Stolte nichts nachzuweisen gewesen sei. Ein Verbot sei unter dem Prorektorat des Poetik-Professors Johann Georg Müller (um 1660–1721) ergangen, worauf eine Eingabe an den akademischen Senat wiederum zur Freigabe der Betstunden geführt habe. Eine neue Intervention des Stadtministeriums habe 1709 unter seinem – Buddeus’ – Prorektorat zum landesherrlichen Auftrag an die gesamte Universität geführt, gründlich Be47 48 49 50

Vgl. aaO, 1071. Der Text ist im Universitätsarchiv Jena erhalten geblieben. Vgl. die folgenden Anmerkungen. Universitätsarchiv Jena 442c, 252v. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 252v–253r.

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richt zu erstatten. Eine Kommission unter dem Vorsitz des Jura-Professors Johann Christian Schröter (1659–1731) und des Physik-Professors Hamberger habe nichts Anstößiges an den Betstunden finden können, ihr Bericht sei jedoch dem Herzog nicht ausgehändigt worden, „und läst man dahin gestellet seyn, ob er nicht mit fleiß supprimiret“.51 Dennoch hätten Kritiker keine Ruhe gegeben und seien bei Hofe vorstellig geworden, um zu erfahren, „welcher gestalt diese Bethstunden eine speciem cultus publici machten“ und damit einen Eingriff in höchstbischöfliches Recht bedeuteten.52 So sei ein obrigkeitlicher Auftrag an den Jenaer Superintendenten ergangen, Stolte vorzuladen. Dem sei der Superintendent nachgekommen und habe die Betstunden untersagt. Dieser Vorgang sei vielen Universitätsangehörigen aus etlichen Gründen „bedauchtlich“ erschienen, und so habe Stolte sich erneut an die Universität gewandt, woraufhin Eisenach mit einem neuen, inhaltlich aber mit einer mit dem letzten Befehl übereinstimmenden Weisung reagiert habe. Stolte habe sich nun „eines theils von aller Menschlichen Hülffe […] entblöset“53 gesehen, habe aber angesichts des göttlichen Segens, der auf seinen Aktivitäten gelegen habe, diese nicht unterlassen können, darum um eine Audienz in Eisenach gebeten und sich dort akzeptiert gesehen.54 Die Stadtgeistlichkeit von Jena habe dennoch die Betstunden generell untersagt. Nun seien die Studenten aktiv geworden, hätten sich nach Eisenach gewandt und seien dort vertröstet worden. So sei es über Jahr und Tag geblieben. Es seien die Studentenunruhen des Jahres 1711 gekommen mit der Hoffnung, der Eisenacher Landesherr werde gestatten, was verboten worden war. Eine neue Bittschrift hätten die Studenten an die Erhalterstaaten der Universität adressiert. Dies sei der gegenwärtige Stand der Dinge. Buddeus fügte seinem Bericht eine Skizze seines eigenen Standpunktes zur Sache bei. Er könne nichts anderes mitteilen, als dass die Betstunden „nützlich vnnd heilsam und zu großem Segen der gantzen universität, folglich auch der gantzen Kirchen, gereichen“.55 Denn 1. sei bisher nicht das Geringste zu bemerken, was auch in der Lehre anstößig erscheinen könne. Buddeus verwies auf die Gestaltung der Betstunden. 2. Die Wahl der Abendstunden sei nötig angesichts der über den Tag hin stattfindenden Vorlesungen, „da im Gegentheil durch diese Bethstunden mancher von Besuchung der Sauffhäuser und andern unordentlichen Dingen ist abgehalten worden“.56 3. Gott habe Stolte besondere Gaben gegeben, die Herzen der Studenten „durch deutlichen und Beweglichen Vortrag zu erwecken“ 4. Viele Studenten auch aus der juristischen und medizinischen Fakultät seien erweckt worden, was sich zum Segen der Universität und der ganzen Kirche ausgewirkt habe. Auch auf Einwände ging Buddeus in seinem Schreiben ein: 1. Die Betstunden gehörten zum cultus publicus und seien nicht als Privatveranstaltungen anzuse-

51 52 53 54 55 56

AaO, 253v. AaO, 254r. AaO, 254v. Vgl. aaO, 255r. AaO, 255v. AaO, 256r. Hier auch das folgende Zitat.

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hen.57 2. Sie könnten Studenten von der Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten abhalten. 3. Es gebe genug Predigten, an denen sie sich erbauen können. 4. Die Wochenpredigten würden von Studenten schlecht besucht. 5. Studenten der Theologie würden von den Vorlesungen abgehalten. 6. Die Betstunden seien ordnungswidrig. 7. Die Universität fühle sich in der Öffentlichkeit durch die Konventikel bloßgestellt. 8. Einige der Studenten, die zum Kreis um Stolte gehörten, führten sich anders auf, als es unter Studenten üblich sei. Buddeus führte demgegenüber aus, die Studenten seien die fleißigsten Teilnehmer an Gottesdiensten, Beichte und Abendmahl, es gäbe auch keinen Beweis, dass dies nur pro forma geschehe. Es fehle in der Tat in Jena nicht an guten Predigten, „das gute aber kann nicht zuviel geschehen“.58 Was Stoltes Gaben betreffe, sei zu fragen: „Will man sich wieder Gott setzen, oder durchaus nicht annehmen, Was Er uns giebet?“ Die Betstunden seien weder Collegia theologica noch Konventikel. Die Studenten um Stolte seien anders, weil sie anders lebten. Das Gute könne man nicht „wegen einer übelgegründeten furcht“ unterlassen.59 Schließlich seien auch die Universitäten, die verlästert würden, die allerberühmtesten. Der Bericht von Johann Franz Buddeus stellte also ein einziges Plädoyer für Stolte und seine Schüler dar, das der Verfasser auch als Würdigung für die Universität Jena verstand. Was Brand betraf, berichtete er auch von Nachrichten, die ihn erreicht hätten und die von der Fortsetzung der Kontroversen im Jahre 1712 erzählten. Demnach setzten die Jenaer Geistlichen im März wiederum ein Verbot der Betstunden durch. Einige unter den Regierungen der Erhalterstaaten unterstützten ihre Verlegung in die Kollegienkirche. Neu war der Ausschluss Stoltes von der Beichte und der Teilnahme am Abendmahl durch den Superintendenten. Hinter der im April 1712 ausgesprochenen Bitte Stoltes um ein Zeugnis der Universität könnten Überlegungen um einen Weggang von der Universität gestanden haben. Prorektor Burkhard Gotthelf Struve stellte ihm am 29. April im Namen der ganzen Universität ein positives Zeugnis aus.60 Dann aber verbot Superintendent Zülich im Mai alle Versammlungen, die als Konventikel verstanden werden konnten. Wiederum brachte der Hochsommer Studentenunruhen, bei denen jetzt aber auch Tote zu beklagen waren. Stolte wurde aufgefordert, Stellung zu 34 Fragen der christlichen Lehre zu nehmen. Dennoch hielt er auch 1713 noch an den Betstunden in seinem Hause fest. Brand selbst war noch einmal in Jena und nahm am 10. Februar 1713 am sonnabendlichen Collegium Paraeneticum Stoltes teil, bei dem Luthertexte gelesen wurden. Stolte wurde im März wieder zur Beichte und zum Kommunionempfang zugelassen.

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Vgl. aaO, 256v. Hier auch das Folgende. AaO, 257v. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 258v–259r. L. F. B. Theologi Jenensis pflichtmäßiger Bericht an Herrn Friedrich Herzog zu Sachsen-Gotha, die von M. Johann Ernst Stolten […] angestellten Betstunden nebst der Jenaischen Universität ihrem darüber erteilten Attestate. CONSTANTINOPEL gedruckt auf kosten etlicher in Teutschland verfolgten und sehr geplagten freunde. Im Jahr MDCC XIII, (4v) (Anna Amalia Bibliothek Weimar, Q 188 [Beilage]). Der Bericht datiert allerdings vom 19.10.1711.

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2. DER ÜBERGANG NACH WEIMAR 2.1 Die Untersuchung durch die Erhalterstaaten im Oktober 1714 Was sich in den letzten Jahren in Jena zugetragen hatte, war längst in die Öffentlichkeit gelangt und setzte darum auch die für die Universität und ihre Erhaltung zuständigen Regierungen der ernestinischen Herzogtümer in Thüringen unter Druck. Daran waren anonym erschienene, flugschriftenartige Drucke beteiligt, die die pietistischen Aktionen verteidigten.61 Es war speziell auch die Rolle, die Buddeus in den letzten neun Jahren gespielt hatte, die trotz immerwährender, den Nutritoren gelegentlich beschwichtigend erscheinender Erklärungen des Professors nach Klärung verlangte. War es doch auch an den Höfen in Eisenach und Gotha zu Komplikationen gekommen, die mit einem Generationenwechsel in der Elitenschicht und pietistisch erscheinenden Vorgängen zusammenhingen. Ein Signal für eine Wende in der angespannten Lage war die Berufung des im Umgang mit pietistischen Aktionen geübten Direktors des Gymnasium Casimirianum in Coburg Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) als Kirchenrat und Assessor des Oberkonsistoriums in Gotha im Jahre 1713. Ebenso setzte ein Edikt vom 26. Juli 1714, vom Herzog von Sachsen-Eisenach (1666–1729) erlassen, ein unüberhörbares Signal, was die Aktivitäten Stoltes betraf. Es nahm Bezug auf die Kanzelabkündigung vom ersten Pfingsttag 1712, galt ausschließlich für die Stadt Jena und verbot ausdrücklich Konventikel und Betstunden, [w]obey aber einem jeden in seinem Hause frey gelassen bleybet / nebst eifriger Besuchung des Gottesdiensts / und dabey angeordneten Beth-Stunden / vor sich mit seinem eignen und seine Familie constituirenden Haußgenossen / jedoch ohne Zuziehung fremder zu seiner Familie nicht gehörigen Personen (solches geschehe auch unter wasserley Praetexte es wolle) seine privat-Andacht zu haben / wobey aber verdächtige Gesäng- und andre Bücher wegzulassen.62

Auch mit „andächtigen Informiren der Kinder“ dürften solche Andachten verbunden sein. Nach Vorverhandlungen entschlossen sich die Nutritoren der Universität Jena, für den Oktober 1714 eine Untersuchung anzuordnen, die sich vornehmlich der Rolle von Johann Franz Buddeus widmen sollte.63 Herzog Wilhelm Ernst 61

62 63

Vgl. Das unter GOttes Seegen und Schutz Wider mancherley listige Anläuffe des Satans annoch florirende Saal-Athen. 1714 (ThHStAW Sachsen-Weimar A 6609, Bl. 36–38) mit folgenden Einzeldokumenten: Anonymer Brief an einen Freund; Schreiben von Buddeus in Sachen Stolte, 19.10.1711; Stolte an den Prorektor, 17.4.1712; Prorektor Struve für die gesamte Universität, 29.4.1712. EDICT wider die heimliche Conventicula und verdächtige Beth-Stunden in der Stadt Jena publiciret. Anno 1714, 3v–4r. Hier auch das folgende Zitat. Die Untersuchung ist immer wieder einmal in Buddeus betreffenden biographischen Zusammenhängen erwähnt worden (vgl. die Skizze bei Herrmann, Kirchengeschichte [s. Anm. 4], 271). Wotschke, Pietismus in Thüringen [s. Anm. 4], 25 f., kennt das Protokoll, macht es aber nicht zum Thema. Es ist – zusammen mit Akten zu den vorlaufenden Verhandlungen seit September 1714 und zwischenzeitlichen Kontakten zwischen den Erhalterstaaten – überliefert in ThStAG Oberkonsistorium Generalia, Loc. 89c, Nr. 21, Bl. 190v–191r (mit Randbemer-

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(1662–1728) hatte seinen Oberhofprediger und Oberkonsistorialrat Johann Klessen (1669–1720) beauftragt, die Jenaer und Weimarer Vorgänge zu sichten. Dies tat dieser am 29. August 1714 in Gestalt eines Gutachtens,64 dessen Ergebnis er als Untersuchungsvorlagen gegen Buddeus65 und Stolte66 sowie 34 Punkte, die Stolte vorgehalten werden sollten,67 zusammenfasste. In die Kommission wurden aus dem Fürstentum Sachsen-Eisenach Oberkonsistorialpräsident Andreas Rosa († 1723) sowie Oberhofprediger und Oberkonsistorialassessor Johann Siegmund Mönch (1661–1732), aus dem Fürstentum Sachsen-Gotha der altenburgische Konsistorialpräsident Georg von Forstern (1667–1726) und Kirchenrat Cyprian, aus dem Fürstentum Sachsen-Weimar der Vizekanzler Johann Ludwig Heidenreich (1660–1724) und Oberhofprediger Klessen berufen. Sachsen-Meiningen entsandte den Oberhofprediger Johann Adam Krebs († 1726) und den Sekretär Georg Albrecht Trier († 1726). Sie sollten im Kontext der Rolle von Buddeus an der Universität Lehre und Leben des in Zwielicht geratenen Jenaer Professors untersuchen. Für den vorliegenden Zusammenhang ist es hinreichend, den Stolte betreffenden Bereich der Untersuchung ins Auge zu fassen. Bereits bei der ersten Sitzung der Kommission, in der es um die Gesamtplanung ging, wurde überhaupt erst beschlossen, auch Stolte zu vernehmen. Allerdings kam es bereits hier zu Kontroversen. Es stellte sich heraus, dass die Eisenacher Delegierten keine Instruktion für eine Anhörung Stoltes mit auf den Weg bekommen hatten. Ihre Auskunft lautete: Der Umgang mit ihm und seiner Rolle sei Fakultätssache. Außerdem sei der Rangunterschied zwischen ihm und Buddeus zu beachten, und so solle man an ihm keine Zeit verschwenden. Gotha widersprach diesen Ausführungen und wünschte die nachträgliche Einholung einer Instruktion aus Eisenach. Sei doch Stolte immerhin ein „wahrhafftes Membrum Academiae“.68 Wohl aber solle die Frage der Betstunden ausgeklammert werden. Wie für Buddeus solle auch für Stolte gelten, ihn lediglich in Sachen Irrlehre und „gebrauchter Ungebühr“ zu befragen. Die Gothaer appellierten auch an die Verantwortung für die Studenten, die bei Stolte gehört hatten. Die übrige Fakultät müsse neben ihm angehört werden. Die Eisenacher sagten schließlich zu, Kontakt mit ihrem Landesherrn aufzunehmen. So wurde beschlossen: Die Fakultät sei in jedem Falle über das Vorhaben der Kommission zu benachrichtigen, das diene der Beruhigung der Lage (1). Die Professoren seien zu befragen, was sie zur Frage der Reinheit der Lehre und der Lebensweise Stolte beizubringen hätten (2), was ihrer Meinung nach Stolte zu raten sei (3) und warum sie Stoltes Aktivitäten so lange geduldet und am 29. Juni nach

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kungen und Ergänzungen von Ernst Salomons Cyprian sowie amtlicher Beglaubigung durch Siegel und Unterschriften der Kommissionsmitglieder), ferner im ThHStAW Sachsen-Weimar A 6609, Bl. 4r–148r, sowie Sachsen-Weimar A 6630 (189 gezählte Bl.) (mit Originalsiegeln der Kommissionmitglieder). Nach der letztgenannten Überlieferung wird, wo nicht anders angegeben, im Folgenden zitiert. ThStAG Oberkonsistorium Generalia, Loc. 89c, Nr. 21 (28 Blätter am Anfang des Bandes mit eigener Foliierung). Vgl. aaO, Bl. 1v–19r. Vgl. aaO, Bl. 20r–21r. Vgl. aaO, Bl. 21v–24r. ThHStAW Sachsen-Weimar A 6630, 5r. Hier auch das folgende Zitat.

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Eisenach geschrieben hätten, ihm sei nicht Ungebührliches nachzuweisen (4). Professor Foertsch sei zu fragen, ob er dem Ende 1711 erstatteten Bericht über die Betstunden etwas zuzufügen habe, nachdem einige Zeit vergangen sei (1), wie Stolte auf die 34 Punkte reagiert habe, die ihm gestellt worden seien (2), ob geplante Veröffentlichungen der Professoren dem Dekan vorzulegen seien (3), wie er zu der Beobachtung stehe, dass aus der Disputation Stoltes De prudentia iustorum die Frage offen geblieben sei, inwiefern sie dem Chiliasmus nahe stünde und darum die gegenwärtige Auseinandersetzung wirklich nicht das fundamentum fidei betreffe (4), warum Stolte gelehrt habe, am Jüngsten Tage würden kraft der Auferstehung Jesu Christi die Gottlosen auferstehen (5). Die Kommission begann ihre eigentliche Arbeit am 9. Oktober 1714. Zunächst verhandelte man mit Buddeus. Der Bericht darüber, den Ernst Salomon Cyprian dem Gothaer Geheimen Regierungsrat Johann Friedrich Bachoff von Echt (1643– 1726) zustellte, klingt außerordentlich positiv. Der Professor habe „die gute intention goutiert, und sich in allen puncten gar milde erkläret“.69 Er habe versprochen, anstößig klingende Passagen in seinen Veröffentlichungen bei eventuell folgenden Auflagen durch eingefügte Noten zu interpretieren. An der ersten Runde der Befragung weiterer Professoren am Nachmittag des 10. Oktober konnte Foertsch wegen Erkrankung nicht teilnehmen. Wohl aber war Johann Andreas Danz erschienen. Er erklärte, er könne zur Sache selbst nichts sagen, „er sey Rector, und habe den Kopff voll anderer Gedancken“.70 Seitens der Kommission stand auch der Umgang mit dem Studenten Struve71 zur Debatte. Danz gab die Auskunft, Struve sei inhaftiert worden, Weißenborn sei aufgetragen worden, sich um ihn zu bemühen. Sein Bemühen habe „bis auf den Tauff-Punct“ gefruchtet.72 Zu Stolte befragt, gab er zu Protokoll, er sei sein „Beschwägerter“ und habe mit ihm oft über die Betstunden gesprochen, und so habe er Gehorsam gegenüber dem Landesherrn zugesagt. Auch zu Stoltes Lehre hatte Danz nichts substanziell Belastendes beizutragen. Auf Stoltes Lebensführung angesprochen, äußerte er, viele Jenaer Wirtshäuser seien in der Tat Hurenhäuser. Es gebe Studenten, die selbst sechs bis acht Jahre hindurch keinen Beichtvater gehabt hätten. In Kamsdorf, Burgau und Schöps gehe es übel zu. Im Jägerhaus über Zwätzen wohnten Studenten, die seit Monaten nicht in der Stadt gesehen worden seien. Mit diesen Auskünften gab Danz Stolte in dessen Beurteilung der Situation Recht und entlastete ihn gleichzeitig. Zwischen den Theologieprofessoren gebe es keine Disharmonie. Buddeus erklärte der Kommission seine Sicht der Nachfrage nach der Lehrtätigkeit von Adjunkten und Magistern an der Universität. Sie sei, begleitet durch die zuständigen Professoren, immer relativ locker gehandhabt worden – sie lernten sonst ja auch nicht, was Lehren heiße. Auf die Frage, wie es mit der Einstellung zur kirchlichen Lehre bestellt sei, verwies Buddeus zunächst auf den Umgang mit 69 70 71 72

Cyprian an Bachoff von Echt, (9.)10.1714 (AFSt/H D 42: 1278 [Abschrift]; eine weitere Abschrift in AFSt/H D 85: 1293 f.). ThHStAW Sachsen-Weimar A 6609, Bl. 6v. Christian Gottlob Struve aus Lobeda, immatrikuliert am 23. August 1707 (vgl. Matrikel Jena [s. Anm. 7], 798). ThHStAW Sachsen-Weimar A 6630, 9v. Hier auch das folgende Zitat.

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Struve, mit dem er lange und hart über die Tauffrage verhandelt habe, bis er sich nicht wieder bei ihm gemeldet habe. Von Stolte könne er auch nach Aussage anderer Studenten nur Gutes sagen. Da er hart über die Jenaer Stadtgeistlichkeit geredet haben solle, habe er ihn ermahnt, ihn, der „ein Mann von großen Gaben“ sei, „bei Studiosos sehr beliebt, und durch seine Vermahnungen bey sehr vielen Kräfftig gewesen“.73 Ihm solle „zum wenigsten nur ein Collegium Biblicum“ erlaubt werden, sonst bestehe die Gefahr, dass Studenten von Jena weggingen. In puncto Lebensführung von Studenten sei „viel zu erinnern“. Die meisten Studenten lebten unchristlich. Daran seien auch die Professoren nicht ganz unschuldig. Sie sollten ein gutes Beispiel geben, und in den Vorlesungen müsse mehr über die Notwendigkeit christlicher Lebenseinstellung zur Sprache kommen.74 Stolte jedenfalls habe „viel hundert Studiosos von asotischem Leben abgeführet“.75 Am Vormittag des 17. Oktober konnte der inzwischen genesene Professor Michael Foertsch angehört werden. Er gab entgegen der Behauptung, man habe Stoltes Wirken in Jena zu lange nachgesehen, zu Protokoll, „daß freylich hier eine excessive Boßheit und Petulantz unter der studirenden Jugend sey“, selbst im Vergleich zu Halle, „wo man sich doch ziemlich schmeißet und balget“.76 Allerdings seien mit Stolte in Jena „zweyerley partheyen entstanden“, so z. B. in der Schweinfurter Nation – „die eine nennet sich die lustige, die andere die stille parthey“. Unter den Studenten sei die Bezeichnung „Stoltianer“ in Gebrauch gekommen.77 Was die kirchliche Lehre betraf, machte Foertsch darauf aufmerksam, dass die bekannten Spannungen über Jena hinaus publik geworden seien. Johann Fecht (1636– 1716), sein Rostocker Kollege, habe ihm mehrfach geklagt, man fürchte, dass man in Jena „allerley Lehre“ aufkommen lasse, und man solle „dem Pietismo nicht favorisiren“.78 So sei einer seiner Studenten nach acht Jahren nach Jena gewechselt, sei dann zurückgekehrt und habe die Lehre der Rostocker „pro impia declariret, und öffentlich bekannt […], daß er nun erst zu Jena gelernt habe, was Gottseligkeit sey, und hätte von keinem Professor nichts mehr wißen noch hören wollen“.79 Foertsch fügte hinzu, auch Valentin Ernst Löscher (1673–1749) habe mehrfach in großer Sorge an ihn geschrieben, und so möchte er nicht zugeben, „daß unsere Jenaische Universität mit der Hällischen möchte überein kommen, sonst wäre es umb die Evangelisch-Lutherische Kirche geschehen“.80 Löscher habe ihn auch gebeten, er möge eine Petition an die evangelischen Stände beim Reichstag und den Königen von Polen und Preußen in dieser Sache unterzeichnen, was er jedoch habe auf sich beruhen lassen.81 Auf Stolte angesprochen gab Foertsch die Auskunft, er habe Stolte erlaubt, nach seinem Vorschlag die Vorlesungen von Buddeus zu repetieren, 73 74 75 76 77 78 79 80 81

AaO, 12v. Hier auch die folgenden Zitate. Vgl. aaO, 13r. AaO, 13v. AaO, 124r. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 124r–v. AaO, 125r. AaO, 125v. AaO, 126r. Vgl. aaO, 126v.

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woran er sich jedoch nicht gehalten habe. Als Foertsch fortfuhr, er habe sich in der Sache an die Regierungen in Eisenach und Gotha gewandt, stellten die Weimarer Delegierten die Zwischenfrage, warum er sich nicht auch an Weimar gewandt habe. Foertsch antwortete, nach seiner Erinnerung habe er das auch getan. Nun aber schlug er vor, Stolte an einen anderen Ort zum Predigtamt zu befördern.82 Auch der Nachmittag des 17. Oktober war den Auskünften gewidmet, die Foertsch geben konnte. Er wurde gefragt, was es mit dem Bericht über die Betstunden auf sich habe, den er zusammen mit Buddeus gegen Ende des Jahres 1711 an die Nutritoren geschickt habe. Der Gefragte äußerte, er und sein Kollege hätten, um den Frieden zu bewahren, abwiegelnd berichtet. Inzwischen jedoch wären alle Jenaer Professoren dem Pietismus ergeben, und die Studenten seien „mit der Buddeischen Lehr-Art, dem Fanaticismo und Pietismo recht bezaubert“.83 Auf die von Klessen formulierten 34 Fragen angesprochen, schalteten sich die Eisenacher Delegierten mit dem Hinweis ein, diese gehörten nicht hierher, sie seien im Oberkonsistorium „abgethan worden“.84 Die übrigen Delegierten bestanden jedoch auf einer Antwort von Foertsch. Dieser antwortete, Stolte habe sich auf Johann Wilhelm Baier (1647–1695) berufen, habe die Differenzpunkte in der Lehre mit Johann Musäus (1613–1681) als für den Glauben notwendig erklärt, die Confessio Augustana und die Bekenntnisschriften „angezäpfft“ und herabgewürdigt, orthodoxe Theologen wie Samuel Schelwig (1643–1715) angegriffen, habe niemals von den Betstunden und den Collegia Biblica abgelassen und jede Mahnung zurückgewiesen.85 Zur Rückfrage der Weimarer Delegierten, weshalb Foertsch darüber nicht berichtet habe, heißt es im Protokoll, Foertsch sei der Meinung gewesen, „[e]s wäre nicht verlanget worden, über dem wäre er gar schüchtern worden, weilen die Leute alles läugneten“.86 Konkrete Lehrabweichungen wisse er nicht zu benennen, jedoch gälten die Betstunden für Stolte als Mittel zur Reformation, „welches nervus Pietismi ist, die die Kirche kräncket“.87 Auf die Anfrage, die beanstandeten Punkte in Stoltes Promotionsthesen betreffend, reagierte Foertsch voll Unwillen – man möge ihn verschonen, das sei Sache des Respondenten gewesen. Die Hauptsache sehe er in den Betstunden als Mittel zu einer Reformation der Kirche in Lehre und Leben. Die Delegierten nahmen die Schroffheit in den Reaktionen des Professors wahr und erklärten ihm, sie wollten „seine unanständige Aufführung selbst ad Serenissimos bringen, und ein darauf sich gebührendes Ressentiment zu veranlassen“.88 Am folgenden Vormittag berichtete Johann Andreas Danz der Kommission, Foertsch habe am Vorabend während eines privaten Besuchs bei ihm seine Ausfälligkeit bedauert und bitte um Nachsicht.89

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Vgl. aaO, 131r. AaO, 133v. AaO, 134r. Vgl. aaO, 135r–v. AaO, 135v. AaO, 136r. AaO, 143v. Vgl. aaO, 144r.

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Am 23. Oktober nachmittags kamen die Eisenacher Delegierten auf den anfänglichen Beschluss der Kommission zurück und erinnerten daran, dass Stolte selbst gehört werden müsse. Sie schlugen vor, ihm drei Fragen vorzulegen, die von Klessen formuliert waren und die Dauer, den Inhalt und die Erlaubnis für seine Lehrangebote betrafen. Stolte wies darauf hin, dass er, da er Geld gebraucht habe, zunächst sechs Jahre lang privatim Unterricht in den orientalischen Sprachen erteilt habe, dann auch Kollegs in der Philosophischen Fakultät, schließlich auch Kollegs in der Theologischen Fakultät angeboten habe, die zunächst die Repetition theologischer Vorlesungen anderer Professoren zum Inhalt gehabt hätten, dann aber auf Wunsch von Studenten, die zu ihm in seine Wohnung gekommen seien, auch öffentlich stattgefunden hätten, weil die Studenten danach verlangt hätten. So habe er mit Vorlesungen über die vier Evangelien nach der „Anleitung, die Geschichte unsers Herrn Jesu Christi und seiner heiligen Apostel zu betrachten“ von Caspar Herrmann Sandhagen (1639–1697) begonnen, die seit 1684 in mehreren Auflagen erschienen war.90 Auf die Frage nach dem Grund dafür, seine Kollegs in Beststunden zu verwandeln, gab Stolte die Auskunft: Wenn man unter Betstunden „einen kurtzen Seuffzer zu Gott umb Beystand zu der Arbeit thue“, dann seien Kollegs Betstunden, wenn aber nicht, könnten Kollegs nicht in Beststunden verwandelt werden. Der Eisenacher Landesherr habe ihm alle theologischen Kollegs, „sie möchten Nahmen haben wie sie wollen, nebst den Betstunden schlechter dings verbothen“.91 Von Donatismus und Pietismus, Irrlehren, die man ihm vorgeworfen habe, wisse er nichts. Unter dem Prorektorat von Professor Struve während des Sommers 1713 sei ihm ein diesbezügliches Attest ausgestellt worden, er habe es aber dem Herzog nicht vorlegen müssen, weil Struve versichert habe, „[s]ie setzten kein Mißtrauen in ihn“.92 Schließlich, befragt auf den Wahrheitsgehalt eines Gerüchts, nach dem es Leute gegeben habe, die ihn auf eine fünfte Pfarrstelle in Jena hätten setzen wollen, antwortete der befragte Stolte, er habe nie jemanden darauf angesprochen. Der Urheber des Gerüchts sei der Jenaer Barbier Beyer, der könne es bezeugen.93 Auf diese Aussage hin erfolgte ein Eclat. Die Eisenacher Delegierten legten laut offenen Protest ein und verließen zusammen mit ihrem Sekretär die Sitzung mit der Begründung, bei dieser Wendung der Verhandlungen handele sich um einen Eingriff in hoheitliche Rechte, da sie für diesen Gegenstand kein Mandat hätten. Die Weimarer legten, gefolgt von den Meiningern, Gegenprotest ein: Die Verhandlung folge der herzoglichen Intention.94 Nunmehr hatte die Kommission jedoch ohne die Vertreter Eisenachs zu verhandeln. Hier wie auch später zeigte es sich, wie groß die Unklarheiten und die damit verbundenen Spannungen mit Jurisdiktionsproblemen im Blick auf den Umgang mit den Jenaer Ereignissen zwischen den Erhalterstaaten waren. Dennoch fuhr man am Nachmittag des gleichen Tags und am Vormittag des folgenden Tages mit einer weiteren Anhörung Stolte fort. Stolte legte ein Eisenacher Reskript vom 24. Sep90 91 92 93 94

AaO, 169v. AaO, 172r. AaO, 172v–173r. Vgl. aaO, 173v. Vgl. aaO, 173v–174r.

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tember vor, in dem nichts von Nachfragen über seinen Lebenswandel stand, und nannte als seinen Beichtvater den Jenaer Superintendenten Michael Zülich.95 Er teilte mit, dass er auf seine Vorstellungen in Eisenach hin nie eine Antwort erhalten habe. 2.2 Der Abschlussbericht Ernst Salomon Cyprians Äußerst kritisch klingt der Abschlussbericht, der sich ausschließlich auf die Ergebnisse der Kommissionsverhandlungen mit Stolte bezieht und den Ernst Salomon Cyprian dem Gothaer Hof am 28. Oktober 1714 vorlegte. Der Kirchenrat stellte als Ergebnis fest, dass er hinsichtlich der Zielsetzung, die Missverständnisse unter Professoren und Studenten zu klären und den Ruf der Universität Jena wiederherzustellen, dem Herzog nichts anderes empfehlen könne als Magister Stolte alle Kollegien zu untersagen, was übrigens auch Buddeus zur Beruhigung diene. Die Eisenacher Kommissionsmitglieder allerdings bestünden darauf, ihm die Abhaltung von Betstunden in seinem Hause nicht zu verbieten, solange sie „qvalificiert bleiben“, freilich unter Ausschluss der in seinem Hause Eingemieteten. Es liege jedoch nicht im Sinne des Auftrags der Kommission, wenn Stolte „seine Zahlbahrn inqvilinos“ an der Betstunde teilnehmen lasse.96 Stehe es doch den im Hause wohnenden Studenten frei, „sich in der Gottseeligkeit auf denen stuben zu üben“, nicht jedoch die Betstunden ihres Gastgebers zu besuchen. Die Abhaltung von Betstunden könne auf Widerruf ex gratiosa concessione erlaubt werden. Damit könne Stolte zufrieden sein. Könne er doch seinen mit dem Magistereid auf die Symbolischen Bücher geleisteten Eid nicht als Vocatio verstehen; sonst müssten alle weltlichen Bedienten, die den Eid auf die Bekenntnisschriften geleistet hätten, das Lehramt zugestanden bekommen. Den Einwand durch die Frage, wovon Stolte sich dann ernähren solle, wehrte Cyprian ab, indem er betonte, bei Hofe brauche man sich darum nicht zu bemühen, denn Stolte sei Privatperson und habe nie im Dienste des Hofes gestanden.97 Er könne von Haus- und Tischburschen sowie aus Griechisch-, Latein-, Hebräischund Philosophielektionen genügend Einkünfte haben, „zumahlen die Ordinarii oft bey geringem Sold durch eine einzige Disciplin ihre subsistentz gewinnen müssen“. Auch könne Stolte bei der großen Zahl seiner Patronen mit einer Beförderung nicht rechnen. Einwände im Blick auf die Gleichbehandlung mit Adjunkten der Philosophie, denen Vorlesungen in der Theologischen Fakultät gestattet werden könnten, wollte Cyprian nicht gelten lassen.98 Befänden sich doch die vier Theologieprofessoren in Jena bei guten Gemüts- und Leibeskräften, seien also dazu fähig und schuldig, ihre Aufgabe zu verrichten, ohne auf Hilfskräfte zu spekulieren. Die Magister der Philosophischen Fakultät hätten also genügend Gelegenheit, „das donum pro95 96 97 98

Vgl. aaO, 190r. Cyprian an den Gothaer Hof, Jena, 28.10.1714 (AFSt/H D 85: 1281–1290, hier: 281 [Kopie]). Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 1282. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 1283. Hier auch die folgenden Zitate.

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ponendi zu acqvierieren, oder zu exercieren“. Sei doch in Jena die Privattätigkeit von Magistern der Theologie erst während der langen Vakanz nach Friedemann Bechmanns Tod eingerissen. Der „Ruhe-stand der Academie“ erfordere es, Stolte keine Leseerlaubnis mehr zu geben. Habe er auch – so schreibt Cyprian – die vom Eisenacher Hof der Kommission zu Einsichtnahme verweigerten Akten nicht einsehen können, so sprächen doch die sechs Jahre währende Beanspruchung der Erhalterstaaten der Universität Jena durch die „Stoltisten“ und weitere Erwägungen dafür, den guten Ruf Jenas wiederherzustellen und die Höfe zu beruhigen, indem man die Tätigkeit Stoltes, „unter dessen Adhaerenten unläugbar auch böse leute sind“, unterbinde. Dem Gemeinwohl sei mehr nachzusinnen als dem Vorteil eines Privatmannes. Es sei auch unerhört, einem Magister, der den Ruf erworben hätte, an ihm sei alles gelegen „und sonst kein Wort Gottes mehr im Lande“, solch unerhörte Möglichkeiten zu gewähren. Stolte werde auch, dem Naturgesetz folgend, einen auswärtigen Ruf annehmen, es sei denn, seine Unschuld stelle sich heraus.99 Unter Stolte Anhängern gebe es unzweifelhaft auch „phantastische lästerer“, die schändliche Streitschriften herausgeben und „mit solchen Waffen, die von sanftmüthigen Geist Christi nullo modo herrühren könen, vor die hochgerühmten Gottseligen Bettstunden fechten“. Cyprian zitierte zum Beweis aus den bereits oben erwähnten anonymen Flugschriften und fügte hinzu: „Es meyne es nun M. Stolte so gut als er wolle, so sind doch bey den vindicierenden phantasten, die all ihren Grimm und aus dem Magen aufsteigende Dünste vor göttlich[en] Trieb zu halten pflegen, solche Conseqventien unvermeidlich“. Stolte habe zugeben müssen, dass er in seinen Lehrveranstaltungen das Jenaer Geistliche Ministerium „grob“ behandele.100 So sehr das „dem wahren Christenthum entgegen ist“, so werde es sich doch nicht ändern, „daß nehml[ich] sein Temperament zu sceptischen Expressiones geneigt“. Cyprian gab hier Berichte von Stolte über einen Vorfall an seinem Tisch wieder, der für depressives Verhalten eines Studenten spreche, das anderthalb Jahre angehalten habe, und wies auf Kontakte nach Halle sowie verdächtige Beziehungen Stoltes in der Stadt Jena hin.101 So habe er Anlass dazu gegeben, dass man die Hauptsache am Christentum „auf Frömmigkeit des Lebens ankommen lasse“.102 Bereits jetzt gebe es Nachrichten, die davon zeugten, dass sich Einflüsse des Wirkens Stoltes in Niedersachsen bemerkbar machten. So werde Jena als Studienort anderswo abgeschrieben. Stolte habe in den Verhandlungen mit ihm zugegeben, den Studenten, die mit ihm Kontakt gehabt hatten, gesagt zu haben, sie dürften, wenn sie predigten, nach göttlichem Recht auch taufen und das Abendmahl verwalten, wenn es nach menschlichem Recht, das heißt dem geltenden Kirchenrecht verboten wäre. Cyprian hielt diese Lehre, besonders „bey jetziger einreißender Absonderung“ für sehr schädlich.103 Studenten seien Laien wie Schneider und Schuster, wie Cyprian bei Erinnerung an seine Coburger Erfahrungen hinzufügte, und beobachtete „ein 99 100 101 102 103

AaO, 1284. Hier auch die folgenden Zitate. AaO, 1285. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 1286. AaO, 1287. AaO, 1288.

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Babelische verfall“ in Kirche und Gesellschaft – ein weiterer Grund dafür, dass Stolte angesichts dieser seiner Position keine weiteren Lektionen an der Universität zu gestatten seien.104 In die gleiche Richtung weise auch seine Aussage, die Symbolischen Bücher enthielten in einzelnen Beweisgängen, Explikationen und Illustrationen Irrtümer. Diesbezüglich appellierte der Gothaer Kirchenrat an den Religionsfrieden und betonte, der Beifall derer, die den Bekenntnissen folgten, sei gewiss – habe doch Stolte keine Bauern vor sich, sondern künftige Kirchen- und Schullehrer. Angesichts von Stoltes fragwürdiger Deutung einzelner biblischer Texte vor Studenten, die bisher noch keinen Kurs in der dogmatischen Theologie absolviert hätten, aber auch seiner schwankenden Stellungnahme zum Problem des Chiliasmus sei sein Verbleiben an der Universität nicht vertretbar.105 Wer Buddeus folge, werde mit Prorektor Danz, dem Cyprian sich anschloss, dazu raten, Stolte nach Wiederholung des Religionseides eine Stellung außerhalb der Universität zu verschaffen. „Medicina, qvae morbi fontem non tollit, venenum est“. Cyprian schloss seinen Bericht mit dem Akzent: Andere mögen glauben, was sie wollen – er selbst bitte, sein Votum, „nach mein besten wißen und gewißen abgefaßet“, zu berücksichtigen. Es sei „aus hertzlicher Liebe vor die Tranquillität unserer Kirche, auch danckbarkeit und pietate erga matrem meorum studiorum bewogen“. So fügte er den Hinweis auf eine Warnung Claudians und die Versicherung hinzu, auch der Eisenacher Herzog werde der Meinung sein, „daß das thätige Christenthumb je länger je mehr zu kräfften kom(m)en, und die studiosi, bevorab solche, so einst ins Predig-Ampt wollen, an denen H[errn] Ministerialib[us] eine lebendige Sittenlehre haben möchten, nach dem Sprüchwort der alten Kirche: In bono pastore omnia sunt vocalia“.106 2.3 Zwischen den Stühlen? Stolte nahm den Bericht Cyprians vom 28. Oktober 1714 zur Kenntnis. Er war ihm, vermittelt durch einen „guten Freund“, aus Halle zugestellt worden.107 Für ihn bedeutete das, dass auch August Hermann Francke den Text kannte. Dieser hatte noch im März 1714 im Plan der Zusammenführung eines Seminars große Hoffnungen für Stolte geregt, der dank seiner Stellung Franckes Kontaktmann in Jena werden sollte.108 Nun aber berichtete Stolte am 21. Januar 1715 Francke von seiner wenig 104 105 106 107 108

AaO, 1289. Vgl. aaO, 1290. Hier auch die folgenden Zitate. AaO, 1291. Vgl. Stolte an August Hermann Francke, 21.1.1715 (AFSt/H A 168: Nr. 6). Vgl. August Hermann Francke an Graf Heinrich XXIV. j. L. zu Reuß, 8. März 1714. In: A. H. Franckes Briefe an den Grafen Heinrich XXIV. j. L. Reuß zu Köstritz und seine Gemahlin Eleonore aus den Jahren 1705 bis 1727. Hg. v. Berthold Schmidt u. Otto Meusel. Leipzig 1905, 54–55. Der Graf, so Francke, solle mit Stolte eine Korrespondenz beginnen. „Herr Stolte müßte aber gar nichts wißen, daß uns alles hierher commandirt würdt. Man dürfte ihm auch im Anfang nicht schreiben von allem, worinn künftig mehr Bericht verlangen möchte: sondern man müßte ihn nach und nach in der Correspondence selbst dazu engagiren. Er ist offenhertzig und freimüthig, und was gutes und rechtschaffenes in Jena ist, wird ihm bekannt“ (55). Francke nannte

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aussichtsreichen Lage und zeigte sich niedergeschlagen angesichts der enttäuschten Hoffnung, dass sich eine Tür für ihn öffnen könnte. Der Weimarer Geheime Rat Friedrich Gotthilf von Marschall genannt Greif (1675–1740) sei in Gotha und Eisenach gewesen, um etwas zum Guten zu bewegen, und habe Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1732) „fast härter befunden“ als den Eisenacher Landesherrn.109 Der Grund dafür sei die Haltung Ernst Salomon Cyprians, „dessen primaria ratio ist tranquillitas“, wo doch das offizielle Protokoll alle seine Vorwürfe widerlegt habe. Greif habe gesagt, Cyprian habe sich bloßgestellt. Er halte nichts mehr von ihm, weil er dem Herzog anders berichtet habe, als das Protokoll ausweise. So scheine es wohl bei der Entscheidung zu bleiben, die Cyprian nahegelegt habe. In Weimar sei man darauf bedacht, ihn zu berufen. Am 19. Januar habe Buddeus auf Wunsch von Greif bei ihm – Stolte – vorgefühlt, ob er bereit sei, sich nach Weimar berufen zu lassen und eine Probepredigt zu halten. So habe er Buddeus einige Bedenken vorgetragen, die er habe: 1. Die Harmonie zwischen den Herzögen als Nutritoren zu erreichen, sei wohl nicht möglich. 2. Er müsse sich darum wohl weiterhin mit seiner Tätigkeit auf dem Feld der Philologie und der Philosophie beschäftigen und werde (3.) dabei vermutlich behindert werden, indem ihm die öffentliche Ausschreibung seiner Lehrveranstaltungen verweigert werden würde, wie es ihm bereits mit seinem Antrag auf eine Adjunktur ergangen sei. 4. Studenten mit Speis und Trank zu versorgen, ohne dazu Erlaubnis und Freiheit zu haben, sei „weit schwerer und verdrießlicher als unter Soldaten leben“, zumal er damit schon Erfahrungen gesammelt habe, weil die, „die vormahls Gott fürchteten, in so kurzer Zeit zurück gegangen sind“. 5. Dann aber müsse er sich wohl von Nutritoren berufen lassen, die ihn „bey seiner Unschuld nicht schützen können noch wollen“ und er sich so werde einschränken müssen, dass er entweder seinem Gewissen untreu werden oder „in die Falle gerathen müste, welche längst also gestellet worden ist“. 6. Jedoch in Jena zu bleiben, werde ihm umso weniger erlaubt werden. „Ist also eine so intricate Sache, das einem schwer scheinet, was dann vorzunehmen“. Auf diese skeptischen Bedenken hin habe Buddeus ihm geraten, er solle sich Rat bei verständigen Leuten holen. So erbitte er nun von Francke baldigen Rat, wie Gottes Wille sein mag und ob es anderweitige Vorschläge gebe, wie er Gott und dem Nächsten dienen könne. Noch während Stolte mit schweren Gedanken an seinem Brief an Francke saß, erreichte ihn die Nachricht von Greif aus Weimar, er solle am übernächsten Sonntag in Weimar in Gegenwart des Herzogs eine Gastpredigt halten. So wolle er in der kommenden Woche in dieser Sache nach Köstritz schreiben. Er bat Francke um die Rücksendung der Akten, da er sich bald an die Widerlegung des Votums von Cyprian machen wolle.

als weitere Kontaktperson in Jena „Herrn Ribbeck […] der bei dem jungen Münchhausen im Haus von Buddeus wohnt“ (ebd.). 109 Stolte an Francke, 21.1.1715 [s. Anm. 107]. Hier auch die folgenden Zitate.

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2.4 Anfänge in Weimar Stolte folgte der Einladung nach Weimar. Er hielt am 3. Februar 1715 – vermutlich am Nachmittag – die Gastpredigt in der St. Jakobskirche, für die Herzog Wilhelm Ernst zwei Jahre zuvor eine Predigerstelle gestiftet hatte. Der biblische Text seiner Predigt über Röm 13,8–10 – Epistellesung des an diesem Tag gefeierten 4. Sonntag nach Epiphanias – war dem Prediger also vorgegeben.110 Er versah sie mit dem Thema „Die Liebe des Nächsten“. In der Auslegung nahm Stolte Bezug auf die „Uneinigkeit und Unruhen allenthalben unter denen, so Christi Nahmen nennen“111 und stellte u. a. die Taufe als Sachgrund für die Nächstenliebe dar.112 Am 26. Februar wurde er auf die Predigerstelle berufen, wie Stolte August Hermann Francke mitteilte.113 Die Probepredigt folgte am 17. März in Gegenwart des Herzogs „und vielen hohen und niederen Bediensteten“, einer „sehr großen Menge volcks“, auch aus Jena Angereisten, „theils Studiosi, theils Bürger“, wie Stolte an August Hermann Francke schrieb. Sie legte unter dem Thema „Der gute Kampf des Glaubens“ das Evangelium des Sonntags Reminiscere Mt 15,21–28 aus,114 spielte (wiederum) auf die Taufe und ihre Bedeutung für den Kampf des Glaubens, den Trost in Anfechtung, aber auch auf Gottesdienst, Predigt, Abendmahl und Gebet an115 und gab sich so als in der biblischen Tradition und der Wittenberger Reformation stehend zu erkennen. Mit der Polemik gegen „Etnicismus oder Carnalismus“, „Pharisäismus, Papismus, Visionismus und Deismus“116 empfahl sich der Prediger durch seine kritische Orientierung in der aktuellen theologischen Situation. Seine Predigt fand nach Stoltes Eindruck, den er Francke mitteilte, „mehr […] ingreß Bey jedermann […] als die erste“.117 Die Antrittspredigt als Prediger an St. Jakob hielt Stolte nach seiner Ordination am 12. April am Palmsonntag (14. April). Hier legte er die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem nach den vier Evangelien aus, indem er den Akzent auf „zum wahren Frieden dienlichste Friedensgedanken“ legte.118 Friedenswünsche, die er aussprach, galten den herzoglichen Regenten,119 dem „Weimarischen Zion“, also der Kirche der Stadt und den Angehörigen der

110 Der Wortlaut der ersten von Stolte gehaltenen Predigten wurde nach seinem Tode durch seine Witwe im März 1721 in einem Sammelband veröffentlicht (Johann Ernst Stolte: Weimarische Gott-geheiligte Erstlinge […]. Weimar 1721). Die Witwe widmete die Veröffentlichung Herzog Wilhelm Ernst – habe dieser doch Stoltes „auf der Universität Jena gekränckte Unschuld Fürstrühmlichst gerettet“ ()(2r). 111 Die Predigt aaO, 1–38, hier: 35. 112 Vgl. aaO, 16. 113 Stolte an August Hermann Francke, 25.3.1715 (AFSt/H A 168: Nr. 22, 1). Hier auch das folgende Zitat. 114 Vgl. Stolte, Erstlinge [s. Anm. 110], 39–70. 115 Vgl. aaO, 41 u. 63–68. 116 Vgl. aaO, 46–54. 117 Stolte an August Hermann Francke, 21.1.1715 [s. Anm. 107], 1. 118 Vgl. Stolte, Erstlinge [s. Anm. 110], 71–124. 119 Vgl. aaO, 74–77.

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Regierung,120 dem Hof- und Stadtklerus,121 dem Rat der Stadt122 und dem Lehrerkollegium123 und schlossen somit das weite Feld von Beziehungen ein, mit dem es Stolte in Weimar zu tun bekommen würde. Mochten solche Wünsche noch den formellen Erwartungen an eine Antrittspredigt vor prominenter Öffentlichkeit entsprechen, so berührte Stolte im weiteren Verlauf der Predigt ein heikles Thema, das in der theologischen Polemik um 1700 immer wieder zur Sprache kam. Es handelte sich um die Identifizierung und Aktualisierung des Phänomens des Pharisäismus in der Gegenwart.124 Hier schoben sich die Gegner das Negativetikett ‚Pharisäer‘ jeweils gegenseitig zu. Stolte griff den Streit in seiner Predigt auf und berührte die „unzeitige Polemic, oder unverständigen Eifer wider die vermeinten Ketzer, in der Wahrheit aber reineste Lehrer“125 und stellte sich damit offen auf die Seite der des Pietismus Verdächtigten.126 In eine ähnliche Richtung wies in der Auslegung der Erzählung vom Eifer Jesu über die Entheiligung des Tempels der Appell an den Landesherrn: „Ob nun gleich Christi Friedens-Boten in so hohem Grad des Eifers nicht folgen dürffen, Hand an die Übelthäter zu legen; so ist doch ihrer Pflicht gemäß dahin zu sehen, daß solches vor dem Ober Bischoff, oder weltlichen Obrigkeit geschehe, und sodann solche Entheiligung gehemmet werde“.127 Stolte empfahl sich der Weimarer Öffentlichkeit durch den Hinweis, er sei nicht freiwillig nach Weimar gelaufen, „sondern vielmehr ausgestossen worden“, um nun „allhier zu säen und zu erndten“.128 Er diene nun schon über acht Jahre Christus im Leiden und wolle „in der einmal angefangenen Verleugnung [s]einer Eigenheit und der Welt beharren“ und dies „einstimmig mit göttlicher Wahrheit der heiligen Schrifft und unserer Kirchen büchern, einstimmig mit [s]einen Herren Collegen, so lange Sie mit göttlicher Wahrheit einstimmig sind“. Damit markierte Stolte aber auch eine Grenze und fuhr fort: „Gedencke ich mich auch für Euch unter GOttes Beystand auszubreiten wider alle falsche Propheten, die in Schaafs-Kleidern zu Euch kommen wollen, um mich zu verführen, damit jhr von der Einfältigkeit in Christo nicht verrücket werden möget“.129 Auch wolle er „bedacht seyn [s]ich nach dem Exempel [s]eines Heylandes wider alles gottlose und Heuchel-Wesens zu setzen, und die den falschen Frieden erwehlen und also widerspenstig, ernstlich zu straffen, unter Androhung des zeitlichen und ewigen Untergangs nach dem Exempel des zerstörten Jerusalems“.130 Stoltes Antrittspre120 121 122 123 124

125 126 127 128 129 130

AaO, 77 f. Vgl. aaO, 78. Vgl. aaO, 78 f. Vgl. aaO, 79 f. Vgl. Ernst Koch: Wo sitzen die Pharisäer? Zur Auslegungsgeschichte des Matthäusevangeliums um die Wende zum 18. Jahrhundert. In: Evangelium Ecclesiasticum. Matthäus und die Gestalt der Kirche. FS für Christoph Kähler zum 65. Geburtstag. Hg. v. Christoph Böttrich [u. a.]. Frankfurt/Main 2009, 241–268. Stolte, Erstlinge [s. Anm. 110], 107 f. Vgl. aaO, 121. AaO, 110. AaO, 121. Hier auch das folgende Zitat. AaO, 121 f. AaO, 122 f.

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digt konnte für aufmerksame Zuhörer mit ihren Akzenten als Programm für seine Arbeit in Weimar verstanden werden. 2.5 Das neue Arbeitsfeld Die kirchliche Situation in der Residenzstadt Weimar war um die Mitte des zweiten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts durch unterschiedliche Spannungszentren bestimmt. Über das Herzogtum hinaus sorgte die Öffnung für den Zuzug französischhugenottischer Flüchtlinge, unter denen sich Fachkräfte aus der Textilbranche befanden, für Unruhe.131 In ihr vermischten sich kulturelle, wirtschaftliche und theologische Themen. Religionspolitisch stand die Frage zur Debatte, ob der Landesherr mit dieser Maßnahme und ihren kirchlichen Begleiterscheinungen nicht den ernestinischen Grundsatz verlassen habe, nur Anhängern der Wittenberger Reformation Recht zu öffentlich-kirchlicher Wirksamkeit zu gewähren. Herzog Wilhelm Ernst jedoch erlaubte den eingewanderten Hugenotten die Feier eigener Gottesdienste. Es war der Gothaer Herzog Friedrich II., der dem Weimarer Vetter ins Gewissen redete. Friedrich II. hatte von dem Plan gehört, Wilhelm Ernst wolle den Hugenotten sogar erlauben, eine eigene Kirche zu bauen. Er erinnerte ihn an das Vermächtnis der gemeinsamen ernestinischen Vorfahren, das auch reichs- bzw. staatsrechtliche Gestalt gewonnen hatte, und wies darauf hin, dass bei einer Änderung dieser Grundsätze „allerhand übele und zum Nachtheil nur erwehnter Evangelischen Religion gereichende Consequentien“ drohten.132 Unsicherheiten im religionspolitischen Kontext verrieten auch die Begleitumstände der anstehenden Berufung eines neuen Oberhofpredigers nach dem Tode des langjährigen hohen Geistlichen Johann Georg Lairiz (1647–1716) im April 1716. Die Stelle wurde endgültig erst im Februar 1717 mit einem Theologen besetzt, mit dem Stolte bereits in seiner Jenaer Zeit Kontakt gehabt hatte: Johann Philipp Treuner. Er wurde aus Augsburg nach Weimar berufen und hatte aus eher dienstlichen Gründen, aber auch im Vorfeld zu seiner Berufung brieflichen Kontakt mit August Hermann Francke gehabt. Treuner war mit der Wittenberger Theologischen Fakultät und mit Valentin Ernst Löscher als dem Wächter orthodoxer Theologie in Konflikt geraten und stand der pietistischen Bewegung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Ein Zeitgenosse wusste nach seinem Tode zu berichten, dass man sich mit ihm einen Mann erhofft hatte, „der es weder mit den Pietisten noch Antipietisten hielte“.133 Mit seinem neuen Weimarer Landesherrn baute sich alsbald ein lang 131 Zum Zusammenhang vgl. Ernst Koch: Die reformierte Diaspora im ernestinischen Thüringen im 18. und 19. Jahrhundert. In: Die Schüler Calvins in der Diaspora. Beiträge des 3. Kongresses für Calvinforschung in Mittel- und Osteuropa. Hg. v. Kurt Lüthi. Wien 1989, 100–126, hier: 102–111; Katharina Middell: Hugenotten in Kursachsen. Einwanderung und Integration. In: Hugenotten und deutsche Territorialstaaten. Immigrationspolitik und Integrationsprozesse. Hg. v. Guido Braun u. Susanne Lachenicht. München 2007, 51–70, v. a. 60–64. 132 ThStAG Oberkonsistorium Generalia, Loc. 61a, Nr. 4 (Abschrift). 133 AFSt/H A 116: 150. Der Verfasser des Rückblicks auf Stoltes Tätigkeit scheint dem Weimarer Hof nahegestanden zu haben.

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anhaltender Konflikt auf, der seinen Grund in der Kritik an Herzog Wilhelm Ernsts Übergriffen in Angelegenheiten der Kirche hatte. Bei dem nach ihm ranghöchsten Hofprediger Johann Klessen konnte Stolte in dieser Haltung einen Gesinnungsgenossen finden.134 Die religionspolitischen Optionen und Parteiungen innerhalb des Hofes bedurften einer eingehenden Untersuchung. Was Johann Ernst Stolte betraf, musste er sich erst langsam im Verhältnis zu dieser jedenfalls undurchsichtigen Situation Orientierung verschaffen. Ähnlich schien es bezüglich der Stellung innerhalb der Stadtgeistlichkeit gestanden zu haben. Von Anfang an verspürte er jedoch Widerstand gegen sich und seine Haltung. Francke berichtete er, dass er zwei Sonntage nach seiner Gastpredigt heftige öffentliche Kritik durch den Hofdiakon Johann Wilhelm Hecker (1668–1743) erfahren und den Herzog gebeten habe, „das er keine Pietisterey noch einigen Schein derselben im Lande und Stadt dulden noch admittiren möchte“.135 Landesherr und Geistlichkeit aber seien darüber sehr verärgert gewesen. In der Folge habe Hecker sich entschuldigt. Der Landesherr habe ein Edikt mit einem Verbot der Pietistenschelte erlassen. Stolte kommentierte: Gott scheine eine Tür auftun zu wollen. „Aber alhier will gleichsam als [!] verschloßen werden, Eisenach und Gotha sind noch Ausen“, wie sich an ihrem Verhältnis zu Buddeus zeige.136 Im Sommer 1715 konnte der Prediger an St. Jakob allerdings berichten, es fänden sich täglich Leute bei ihm ein, „ob sie gleich meine Beicht-Kinder nicht sind, die ihren Seelen Zustand entdecken, in dem Vorsatz, ihr Leben zu ändern, nebst Bekäntniß, daß es ihnen bisher an dem Erkentniß gefehlet“, und das unter dem „adplausus majorum, in dem Serenissimus mit einem guten Exempel vorgehet, und nach möglichkeit meine Predigten besuchet, welchem die übrigen aulici meistens nachfolgen“.137 Auch an der Predigtrepetition mit den Kindern am Sonntagnachmittag nahmen sie teil – ein gutes Argument gegenüber üblen Nachreden des gemeinen Mannes.138 Ein weiterer Vertrauensbeweis war für Stolte, dass man ihm die Verantwortung für das Waisenhaus übertrug, das bisher leer gestanden hatte. In diesem Zusammenhang bat er Francke, seinen Brief an Joachim Uthesius, seinen Freund bereits in der Jenaer Zeit, weiterzuleiten, der zwar krank war, um dessen Berufung nach Weimar Stolte sich jedoch bemühen wollte.139 Dieser Plan schien im Herbst 1715 auf guten Weg gekommen zu sein. Wiederum bat Stolte Francke, seinen Brief an Uthesius weiterzuleiten, da die Absicht bestand, diesem die Inspektion über das 1710 gestiftete Waisenhaus und über den fürstlichen Freitisch für Gymnasiasten zu übertragen. Stolte begründete diesen Plan damit, dass es einem „quasimodogeni134 Zu den genannten Persönlichkeiten vgl. Ernst Koch: „Jakobs Kirche“ – Erkundungen im gottesdienstlichen Arbeitsfeld Johann Sebastian Bachs in Weimar. In: Bach-Jahrbuch 92, 2006, 49–55. 135 Stolte an Francke, 25.3.1715 [s. Anm. 113], 2. 136 AaO, 3. 137 Stolte an August Hermann Francke, 30.7.1715 (AFSt/H A 168: Nr. 71, 1). 138 Vgl. aaO, 2. 139 Vgl. Stolte an August Hermann Francke, 24.10.1715 (AFSt/H A 168: Nr. 100, 1).

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tus“, als den er Uthesius bezeichnete, dienlich sei, bei der Ausbreitung des Reiches Christi in Weimar behilflich zu sein.140 Seien doch bereits am 29. September im Zusammenhang des Eröffnungsaktes in Gegenwart des Landesherrn zwölf Waisenkinder in das Waisenhaus aufgenommen worden. Den Akt selbst schilderte Stolte als eindrucksvolles Ereignis, bei dem er jedes einzelne Kind in die Hand habe geloben lassen, dass sie ihre Pflicht beobachten wollten, wonach er mit ihnen zusammen niedergekniet sei, „aus dem Hertzen“ gebetet und sie gesegnet habe. Selbst dem Herzog hätten die Tränen in den Augen gestanden.141 Uthesius wurde schließlich mit der für ihn vorgesehenen Aufgabe betraut. 2.6 Konflikte bis zum Ende Die Berichte über Stoltes Wirken in Weimar geben zu erkennen, dass er seinem von pietistischen Überzeugungen geprägten Eigenbild treu geblieben war. Das musste in einer Umgebung, die teils verdeckt, teils offen von Spannungen geprägt war, zu Konflikten führen. Bald nach Stoltes Amtsantritt in Weimar verbot der Landesherr allen Pfarrern den Missbrauch der Bezeichnungen „Pietist“ und „Separatist“. Am 17. Februar 1718 erschien ein neues Edikt des Landesherrn, das die Kanzelpolemik gegen die Pietisten wie auch die Einsprüche gegen die reformierten Einwanderer verbot.142 Die Weimarer Hof- und Stadtgeistlichkeit wurde aufgefordert, ihre persönliche Stellungnahme zu diesem Edikt abzugeben. Stolte äußerte sich auf dem Umlauf vom 26. Februar, der die Stellungnahmen enthielt, in besonderem Maße zurückhaltend: Er wolle sein Votum „nach Erforderung satsamer Uberlegung und der dahin gehörigen Zeit, forderligst wie begehret, einlieffern“.143 Dies geschah am 2. März 1718.144 Stolte wies darauf hin, dass der Landesherr als Mittel der Friedfertigkeit unter Beachtung der reichsrechtlich geordneten Toleranz der reformierten Religion gegenüber die Erlaubnis der Ansiedlung der Hugenotten zurückgenommen habe. Demgegenüber sei festzustellen, dass man in Weimar von denen, die den Gottesdienst in St. Jakob besuchten, als von „JacobBöhmisten oder Jacobiten“, Scheinheiligen, Pharisäern, Pietisten oder Sonderlingen spreche, die daran zu erkennen seien, dass sie Gesangbücher und Bibeln mit in den Gottesdienst nähmen. „Conventiculisten“ nenne man „die warhafften Glieder JESV, so sich von der Bösen Welt abgesondert“ hätten.145 Der Schaden, der damit angerichtet werde, sei größer als der, den der Zuzug der Hugenotten angerichtet habe. So regte Stolte dem Herzog gegenüber den Erlass eines neuen Mandats an, das die Geltung des ersten Mandats einschärfte. Damit verhielt sich der Prediger an St. Jakob insofern sehr geschickt, als er sich die religionspolitische Verknüpfung des Edikts zwischen sich anbahnender Kritik an der Ansiedlung der Hugenotten in 140 141 142 143 144 145

AaO, 2. Hier auch das folgende Zitat. AaO, 3. ThHStAW Sachsen-Weimar, B 4764, 70r–71r. AaO, 75r. Vgl. aaO, 83r–86r. AaO, 85v–86r.

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Weimar und der Kanzelpolemik gegen die ‚Pietisten‘ zu eigen machte, jedoch nun das energische Verbot der Kritik an seiner Arbeit anmahnte. Gegen Ende des Jahres 1718 kam es zu einer neuen Maßnahme des Herzogs gegen Stolte, hinter der wohl nicht nur Kräfte am Hof standen, sondern auch die Weimarer Stadtgeistlichkeit sowie Bürgergruppen, die Misstrauen gegenüber Stoltes Wirken hegten. Stolte hatte im März 1718 dem Herzog und dem Oberkonsistorium auf Anfrage die Praxis der Wiederholung seiner Predigten am Sonntagnachmittag im Pfarrhaus schriftlich erläutert und erklärt, dies habe sich als notwendig herausgestellt, wenn die Witterung Glieder der Gemeinde daran hindere, am Vormittagsgottesdienst teilzunehmen. Grund für seine Erklärung war, dass der Oberhofprediger und Generalsuperintendent Treuner diese Praxis verboten hatte mit der Begründung, dass es sich dabei um nichtöffentliche Konventikel und eine Durchbrechung des Prinzips der Öffentlichkeit des Gottesdienstes handele. Am 9. Dezember wurde dem Prediger an St. Jakob ein Schreiben des Landesherrn überbracht, in dem Stolte auferlegt wurde, er solle „sogleich nach Verlesung dieses [Befehls] mit vorgedachten Sonntags Zusam(m)enkünfften in euren (!) Hauße gäntzlich innehalten, und die Leute davor mit anzeigung dieses Unsers Befehliges zurücke weisen“.146 Nun wandte sich Stolte an das Oberkonsistorium. In seinem Brief vom 21. Dezember widersprach Stolte der Darstellung insofern, als er betonte, Treuner habe ihm zumindest die Wiederholung der Predigt nicht verboten, und auf sein Schreiben vom 14. März sei keine Antwort erfolgt, obwohl er angefragt habe, ob daran etwas zu verbessern sei, und so habe er angenommen, dass seine Erklärung gebilligt worden sei, „und was von unzuläßigen Conventiculis geredet würde, gehe andre außer dem Ministerio, laut der bewußten Declaration“ an, „wenn er in seinem Hause debito tempore modo mit denen unterricht verlangenden solche Privatübung wolle anstellen“.147 Darüber habe er mit Hofrat Christian Wilhelm Löscher (1675–1746) und dem Oberkonsistorialrat Heinrich Leonhard Schurzfleisch (1664–1722) gesprochen, „aus deren vornehmen discoursen Sey meyner Auffwartung angemercket“.148 Darum habe ihn das unvermutete Verbot des Herzogs überrascht, das ihm wohl Ungehorsam gegen eine obrigkeitliche Anordnung zu unterstellen scheine. Die vom Verbot Betroffenen hätten ihre „weinende und seuffzende Stimme zu Gott erhoben, beklagende das traurige Verhengniß daß die Beste Milchsbrust und Seelennahrung durch ihre eigene Sävgamme ganz entzogen worden“. Eine Bürgersfrau, die Ehefrau des Strumpfwirkers Neumann, habe ihm geklagt, sie habe von einem anderen Weimarer Prediger erfahren, nur Stolte sei die Abhaltung von Privatandachten verboten worden, anderen seien sie erlaubt 146 Herzog Wilhelm Ernst an Stolte, 9.12.1718 (AFSt/H A 111: 342–345 [Ausfertigung mit Unterschrift und Siegelspur]; vgl. auch AFSt/H D 90: 770 f. [Abschrift]). Die Akte enthält zudem: Stoltes mit vielen Korrekturen versehenes Konzept seines Briefes an das Oberkonsistorium vom 21.12.1718 (346–348); die Ausfertigung mit Unterschrift und Siegelspur des endgültigen Absageschreibens des Landesherrn an Stolte vom 23.12.1718 (354–356) sowie das stark korrigierte Konzept von Stolzes Brief an den Herzog vom 22.12.1718 (360–362). Diese nach Stoltes Tod nach Halle gelangten Schreiben sind Zeugen für die intensiven Beziehungen zwischen Weimar und Halle im Kontext der Auseinandersetzungen in der Residenzstadt. 147 AFSt/H A 111: 346 f. 148 AaO, 347. Hier auch das folgende Zitat.

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worden. So schloss Stolte sein Schreiben mit der Bitte, „[e]s wolle ferner ein Kräfftiges und gesegnetes Werckzeug seyn, zu Rettung meiner gekränckten Unschuld und Fahigkeit der ferneren Erbauung“, womit er an die Hilfe der Konsistorialen appellierte.149 Ein Schreiben an den Herzog in der gleichen Sache ist vom folgenden Tag datiert. Es verweist auf die Verbindung seiner privaten Arbeit mit der öffentlichen, wobei er die privaten Aktivitäten so eingerichtet habe, „wie es die Lehrsetze unserer rechtlutherischen Theologor[um], sonderl[ich] der Churfürstl[lichen] und fürstl[ich] Sachs[ischen] Universitäten erfordern“.150 Er habe darum gebeten, ihm für die Versammlungen einen Ort außerhalb der Kirche und seiner Wohnung anzuweisen und die Beteiligten vor Verdächtigungen zu schützen. Er habe die Vorträge allein unter Trennung der Geschlechter bei Tage gehalten und sich dabei auf die Fassungskraft der Einfältigen mehr eingestellt, als es bei den öffentlichen Predigten möglich sei. Niemand werde an ihm etwas zu tadeln finden. Auf seine Bitte, ihn persönlich anzuhören, habe er nie ein Echo erhalten. Hinzu komme, dass die am Sonntag stattfindenden Bestattungen eine öffentliche Wiederholung der Predigt unmöglich gemacht haben. Mit Löscher und Schurzfleisch habe er darüber gesprochen, dass man einem ordentlichen Prediger nicht verbieten könne, mit seinen Zuhörern Privatandachten zu halten, und dass, so fügte er mit einem Seitenblick auf das Alltagsleben in der Residenzstadt hinzu, „zu diesen Zeiten, um desto weniger ja mehr andere sündl[iche] Versammlungen sonsten geschehen“. Nun verwies Stolte auf die Position des Herzogs in den Konflikten in Jena. Damals wäre gegen ihn der Vorwurf des Ungehorsams gegenüber der Obrigkeit erhoben worden, „sintemahl ich in Bereitschafft gestanden, auff ersten Winck solche Hausübung gerne auszusetzen“.151 Jetzt hätte er eher ein Lob für seine Bereitschaft erwartet. Nun aber habe er doch drei Vierteljahre keine Vergütung erhalten und fast drei Jahre lang keinen Hauszins. Er hielt dem Herzog vor, dass er das Verbot der Privatzusammenkünfte acht Tage nach dem Landesbußtag, dem Tag, an dem der Herzog die Kommunion empfangen hätte und zehn Tage vor dem Weihnachtsheiligabend, erhalten habe. An dieser Stelle des Briefes ist der ursprüngliche Text gestrichen und durch einen anderen Text ersetzt worden. Der ursprüngliche Text hielt dem Herzog vor, mit dem Verbot schade er seinem Ruf als Helfer verfolgter Christen. Er solle erwägen, „ob nicht einige Verantwortung vor Gottes Richterstuhl zu befürchten“ sei. Es entstehe der Verdacht, dass er missgünstigen Ratgebern gefolgt sei, die ihm nun die Verantwortung zugeschoben hätten. Sofort aber bat der Briefschreiber um Verzeihung für seine Offenherzigkeit – er schütte ihm nur sein Herz aus und bitte, persönlich angehört zu werden.152 Am Schluss des Briefes erinnerte Stolte den Landesherrn an seinen guten Ruf als Wahrer der Gerechtigkeit. In dieser Gesinnung habe er ihm sein Recht verschafft. Jetzt aber sei er offenbar falsch unterrichtet 149 150 151 152

AaO, 347 f. AaO, 350. Hier auch das folgende Zitat. AaO, 351. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 351 f.

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worden – man habe ihm eine falsche Vorstellung von der Arbeit des Predigers an St. Jakob vermittelt.153 Am 23. Dezember 1718 empfing Stolte die durch einen Boten vermittelte Nachricht, dass der Landesherr bei dem von ihm ausgesprochenen Verbot bleibe. Weiteres werde dem Prediger an St. Jakob mündlich eröffnet werden.154 Es muss offen bleiben, wie diese Zusage eingelöst worden ist. Der anonyme Verfasser des erwähnten biographischen Rückblicks auf Stoltes Wirken zeigt sich überzeugt davon, dass es der Gram über üble Verleumdungen bei Hofe und weitere widrige Umstände waren, die Stoltes Gesundheit gebrochen hätten.155 Habe doch auch „das fortwährende ungeziemende Betragen“ des Waisenhausinspektors Uthesius zu diesem Zusammenbruch beigetragen, gegen das Stolte sich nicht wehren konnte, weil er ihn nach Weimar geholt hatte. Auch die öffentliche Kritik an der Obrigkeit dürfte ihm keine Sympathie eingetragen haben, denn der Verfasser berichtet im gleichen Zusammenhang, dass der Prediger an St. Jakob am zweiten Weihnachtstag 1717 das Evangelium des Festtags (Mt 23,24–39) in Gegenwart des Herzogs, des Hofes und des Prinzen Heinrich von Schwarzburg-Sondershausen mit großer Schärfe – also vermutlich als schonungslose Obrigkeitskritik – erklärt habe.156 Aus dem Bericht über Stoltes Lebensende, den Christoph Friedrich Poppe verfasste, geht hervor, dass Stolte am 12. Januar 1719 von einer Lungenentzündung betroffen worden sei. Hätten die Ärzte nicht viel Hoffnung machen können, dass der Kranke genesen würde, so hätte Poppe ihn am folgenden Tag noch in Wohlbefinden, wenn auch geschwächt, angetroffen. Der Tod sei am 16. Februar relativ überraschend eingetreten. Unmittelbar vor Stoltes Lebensende habe der Seelsorger die Anwesenden – unter ihnen seien neben seinen Kindern u. a. der Kanzleisekretär Schmutzer, Joachim Uthesius und der Geheime Oberkirchen- und Oberkonsistorialrat Johann Friedrich Freiherr von Werthern (1665–1729), Prediger an der Schlosskirche, sowie dessen Ehefrau gewesen – ermahnt, bei dem zu bleiben, was sie von ihm gelernt hätten; die diese Gelegenheit nicht nutzten, hätten kein Teil an Christus.157 Dem herbeigerufenen Generalsuperintendenten Treuner habe er auf dessen Bemerkung, dem Kranken scheine es an der Seele wohl, am Leibe schwach zu gehen, geantwortet, es ginge ihm an Leiden wohl, an Leib und Seele stark. Seinen Gegnern solle Treuner ausrichten: „[S]ie haben das Maaß ihrer Sünden voll gemacht, meinen Glauben und Geduld aber geübet; Der Nahme des H[errn] sey gelobet, der gebe Ihnen Buße und erkäntniß!“158 Auf die Frage Treuners, ob er sich seines Heilands vollkommen getröste, habe Stolte entgegnet: „Ich vor mich habe nichts eigenes, als Sünde, aber alles, was ich haben soll, das habe ich an Christo.“159 Nach gemeinsamem Gebet zusammen mit den Kindern habe der Generalsuperin153 154 155 156 157 158 159

Vgl. aaO, 352. Vgl. aaO, 354–356. Vgl. AFSt/H A 116: 159. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. aaO, 157. AFSt/H A 173: Nr. 5, 1 f. AaO, 3. AaO, 4.

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tendent den Kranken gesegnet und habe die Krankenstube verlassen. Daraufhin habe Stolte die Anwesenden ermahnt, in Gottes Ordnung zu bleiben und Poppe beauftragt, die Studenten in Jena zu ermahnen und an das Reich Gottes zu erinnern.160 Am späten Vormittag ließ Stolte sich seinen Lehnsessel bringen und bat Poppe, den 136. Psalm zu lesen. Man sang gemeinsam das Lied „Meinen Jesus lass ich nicht“. Bald danach forderte der Kranke Uthesius auf, die Krankenstube zu verlassen und sich vor der Tür aufzuhalten, wo Platz für alle war.161 Der Kranke begann unruhig zu werden, ständig zu sprechen, zu lehren und zu beten. Dann betete er das Vaterunser und sprach den Segen mit dem Wortlaut von 1Thess 5,23, einem trinitarischen Abschluss und dem Zeichen des Kreuzes.162 Man brachte ihn auf sein Bett, währenddessen er beständig von der Herrlichkeit des Himmels redete. Seine Kinder zu segnen weigerte er sich, erteilte aber von Werthern seinen Segen. Gegen 12.30 Uhr trat der Tod ein.163 Die Leichenpredigt am 19. Januar hielt Johann Philipp Treuner, die Abdankung der Geheime Oberkirchenrat, Oberkonsistorialrat und Prediger an der Schlosskirche Johann Friedrich Freiherr von Werthern. Treuner legte die Worte des jüdischen Königs Josia am Grabe Rehabeams, eines seiner Vorgänger, nach 2Reg 23,17 aus unter dem Thema „Das Bild eines Knechtes Gottes“. Der Generalsuperintendent nutzte die Predigt zu brisanten Stellungnahmen zu den Spannungen in Weimar, indem er sein Thema in drei Unterthemen ausführte: Eine Seltenheit, ein frommer Regent, eine grössere Seltenheit, ein frommer Regent umgeben mit frommen Unterthanen, die grösseste Seltenheit, ein frommer Regent umgeben mit frommen Unterthanen, und sammt ihnen stehend bey dem Grab eines frommen und längst vermoderten Knechtes Gottes.164

Die Haltung Jerobeams (gemeint ist Herzog Wilhelm Ernst), des Gegners des frommen Königs Rehabeam (gemeint ist Treuner selbst), wird geschildert als finstere Abgötterei: „[…] eine Staats-Religion eingerichtet nach der falschberühmten Politiqve oder Staats-Lehre […] Die Kirche stecke in dem Welt-Staat / die Kirche müsse sich richten nach dem Welt-Staat / die Kirche müsse bald so / bald anders gedrechselt werden / nach Erforderniß des Welt-Staats“.165 Jerobeam, also Wilhelm Ernst, errichtete ein neues Gotteshaus (für die reformierten Einwanderer) in Bethel, „wo Jacob vor dem den Himmel offen, und die Engel GOttes auff einer Leiter auff und nieder steigen gesehen hatte“ – eine Anspielung auf St. Jakob im Weimar. „So war denn die Staats-Religion fertig“.166 Der Verstorbene erschien somit wie der Prophet als ein Mann, „und das war er wohl auch gewesen, ein Mann, der sich nicht fürchtete vor vielen hundert-tausenden, in deren Mitte er trate, und wider ihrem Staatistischen Götzendienst eyferte. Wo sind ietzo dergleichen Männer?“ fragte 160 161 162 163 164

Vgl. ebd. Vgl. aaO, 5 f. Vgl. aaO, 7. AaO, 8. Johann Philipp Treuner: Das Bild eines Knechtes Gottes […]. Greiz: Karl Friedrich Martini 1721, 7 f. 165 AaO, 9. Hier auch das folgende Zitat. 166 AaO, 10.

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Treuner in die Runde der Anwesenden.167 In diesem Ton fuhr der Prediger bis zum Schluss seiner Predigt fort. Er verstand es, seine eigene Kritik an Stolte unter der Kritik am Landesherrn zu verbergen und so zu einer öffentlichen Obrigkeitskritik zu gestalten. 3. ZUSAMMENFASSUNG UND RESÜMEE Die Kommission der Erhalterstaaten der Universität Jena in Sachen Buddeus und Stolte setzte ihre Verhandlungen auch nach dem offiziellen Abschluss im Herbst noch bis zum 23. November bzw. 4. Dezember 1714 fort, um in die Jurisdiktionskompetenzen Klarheit zu bringen.168 Ohne Zweifel hatten diese Probleme auch die Untersuchung der Rolle Stoltes in Jena beeinflusst. Auch die Situation in Weimar beruhigte sich nach Stoltes Tod keineswegs. Die Verschlingung der Probleme um die Berufung Stoltes in die Stadt durch den Herzog im Alleingang und um die Durchsetzung pietistischer Praktiken durch Stolte produzierten weiterhin wechselnde Frontstellungen. Das Dreieck der Spannungen zwischen obrigkeitskritischen Positionen, landesherrlichen Maßnahmen und Sympathien mit dem Pietismus führte dazu, dass sich in unterschiedlicher Zusammensetzung jeweils zwei Optionen gegen eine dritte verbünden konnten. Träger dieser Positionen fanden sich auch am Hof. In den beiden Weimarer Hofräten Johann Gottlieb Alberti († 1728) und Christian Wilhelm Löscher, einem Bruder von Valentin Ernst Löcher, waren zwei scharfsinnige Kritiker des Pietismus anzutreffen. Sie fanden Bundesgenossen im Hofprediger Johann Klessen und Unterhofprediger Johann Wilhelm Hecker, während Johann Philipp Treuner Tribut an seine in Personalunion verwalteten Ämter eines Oberhofpredigers, landesherrlichen Beichtvaters und Generalsuperintendenten zu zahlen hatte – fühlte er sich doch an seine Amtspflicht zur Kritik auch an obrigkeitlichen Eingriffen in die Kompetenzen der Kirche des Landes gebunden. Dem Landesherrn lag vor allem daran, den Streit nicht in die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Er versuchte, durch Anordnungen, Vernehmungen und Strafandrohungen Unruhe zu unterbinden. Bereits 1716 waren dem Unterhofprediger Hecker je einmal 20 bzw. 50 Taler Strafe angedroht worden, falls er seine öffentliche Polemik gegen einen Vertreter der Befürworter der pietistischen Option nicht einstellen werde.169 Auch die Stadtgeistlichkeit von Weimar war in dieses Spannungsfeld eingebunden.170 Das bedeutete, dass es – wie schon zu Lebzeiten Stoltes – auch in den Folgejahren bis zumindest 1721 zu obrigkeitlichen Maßnahmen kam, die jedoch die Spannungen nicht lösen konnten.171 Dass die Leichenpredigt für Johann Ernst

167 168 169 170 171

AaO, 13. Vgl. ThStAG Geheimes Archiv F [Mond] Nr. 18, Bl. 205r–255v. Vgl. ThHStAW Sachsen-Weimar O 84, 70r und 73r. Zu Einzelvorgängen in den Jahren 1717 und 1718 vgl. ThHStAW Sachsen-Weimar B 4764. Die Quellen für diese Vorgänge finden sich im ThHStAW Sachsen-Weimar O 84, 85, 86 und 86 m.

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Stolte erst 1721 – noch dazu nur in Greiz – gedruckt werden konnte, ist ein deutliches Signal. Im Blick auf die Geschichte des Pietismus in Thüringen ist für das Thema des Weges von Johann Ernst Stolte festzuhalten: 1. Den bisher nicht beachteten Wurzeln des Pietismus in den thüringischen Staaten sind die maßgeblich durch Johann Ernst Stolte getragenen Aktivitäten an der Universität Jena zuzurechnen. Sie haben insofern überregionale Bedeutung, als auf Grund der gemeinsamen Verantwortung aller wettinischen Teilstaaten Thüringens als Nutritoren der Universität auch die außerweimarischen Höfe in die Probleme einbezogen waren. Die Verhandlungen der Untersuchungskommission im Jahr 1714 sind dafür das deutlichste Zeugnis. 2. Für den Umgang der Erhalterstaaten mit dem Jenaer Pietismus scheint dem mitten in den Jenaer Ereignissen 1713 nach Gotha berufenen Kirchenrat Ernst Salomon Cyprian besondere Bedeutung zugekommen zu sein. Er hatte aus Coburg Erfahrungen mit dem Pietismus auch in seiner radikalen Ausprägung mitgebracht. Das Gothaer Pietismus-Edikt vom Februar 1715172 ist zwar nicht ausschließlich im Blick auf Jena, aber auch nicht ohne ihn zustande gekommen. 3. Zeugen für bzw. Teilhaber an den Bewegungen und an den Ereignissen in Jena waren Studenten aus anderen Regionen des Reiches. Noch zu erkunden wäre, ob und wie sich diese Teilhabe nach Rückkehr in die Herkunftsregionen – etwa Franken und Nordwestdeutschland – ausgewirkt hat. 4. Deutlich erkennbar sind Kontakte von Teilnehmern an den Vorgängen in Jena zu anderen Zentren der pietistischen Bewegung, vor allem zu Halle. Die Beobachtungen von Johann Fecht in Rostock sprechen dafür, dass die Jenaer Vorgänge auch dorthin Ausstrahlung gezeigt haben. 5. Nicht zu übersehen sind Spuren, die die Jenaer Vorgänge in der Stadt und ihrer Bürgerschaft hinterlassen haben. Diese Beobachtung aber wäre noch an den zeitlich nachfolgenden, mit dem Pietismus verbundenen Ereignissen zu verfolgen. 6. Intensiver, als in dieser Untersuchung möglich, wäre noch zu erforschen, ob und inwiefern die Spannungen unter den ernestinischen Teilstaaten den Weg von Stolte beeinflusst haben. Hier wäre speziell die Rolle des Eisenacher Hofes zu bedenken.

172 […] EDICT und Verordnung / Wegen verschiedener in Dero Landen bishero entstandenen RELIGIONS-Irrungen Nebst Anweisung wie sich die Lehrer in Kirchen und Schulen hinkünfftig zu verhalten. [Gotha 1715]. Das Edikt betont, dass die Anweisungen des Edikts vom Februar 1697 „den indendirten Zweck nicht gänzlich erreichet“ haben, „sondern Unsere Lande und Residentze, bey denen Benachbarten und Auswärtigen noch immer verrufen“ (A 2v), weshalb sie wiederholt und ergänzt wurden.

III INTERAKTIONEN: REFORMPROJEKTE ZWISCHEN THÜRINGEN UND DEM MITTELDEUTSCHEN RAUM

TANZKRITIK AUS DEM THÜRINGISCHEN Zu den Anfängen der pietistischen Kampagne gegen das „Weltübliche Tantzen“ Wolfgang Miersemann 1. FORSCHUNGSGESCHICHTLICHES Den Ausgangspunkt meiner Ausführungen bildet eine merkwürdige Feststellung: So häufig sich die Pietisten gerade über das Tanzen und seine Gefahren für das Seelenheil geäußert haben, so selten taucht das Thema in der Literatur über den Pietismus auf. Angesichts seines Stellenwertes innerhalb der von den Frommen geübten Kulturkritik muss es verwundern, dass zu diesem Gegenstand, soweit ich sehe, keine einzige Untersuchung vorliegt,1 während zu verwandten Themen wie denen der pietistischen Musik-, Opern- und Theaterkritik in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Studien entstanden ist.2 In Wolfgang Schmitts Kölner Dissertation von 1958 Die pietistische Kritik der ‚Künste‘ wird die Kritik am Tanzen im ersten Kapitel „Die Verneinung der weltlichen Kultur“ auf einer knappen Seite behandelt,3 und selbst im 2004 erschienenen breit angelegten Schlussband Glaubenswelt und Lebenswelten der vierbändigen Geschichte des Pietismus bleibt das Thema ausgespart. Allein die Tanzgeschichtsforschung selbst hat hier, wie gleich zu zeigen sein wird, ein wenig Licht in das Dunkel gebracht. Ein wesentlicher Grund, weshalb die Forschung bei diesem Gegenstand erst am Anfang steht, liegt wohl – abgesehen von dessen recht verschiedene Kompetenzen erfordernder Komplexität – in der ausnehmend schwierigen Quellensituation: Welche der irgendwo in der Literatur erwähnten einschlägigen Einzelschriften, einschließlich Gegenschriften oder den unmittelbaren Anlass bildenden literarischen Zeugnissen, sind überhaupt noch erhalten? In welchen umfangreicheren Druckschriften, das heißt Sammelwerken wie Predigtsammlungen oder Sammelbiographien, kirchenhistorischen Darstellungen, Lehrwerken oder Schriften zur Lebensführung, finden sich ganze Abschnitte oder einzelne besonders relevante Bemerkungen zu diesem Thema? 1 2 3

Zu verweisen ist hier allerdings auf einen erst nach diesem Tagungsreferat erschienenen Jahrbuchbeitrag von Daniel Eißner: „Heydnische Tantz-Greuel“ – Zur pietistischen Auseinandersetzung mit dem Tanz. In: PuN 42, 2016, 87–115. Vgl. z. B. Gudrun Busch: Die Beer-Vockerodt-Kontroverse im Kontext der frühen mitteldeutschen Oper oder: Pietistische Opern-Kritik als Zeitzeichen. In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. v. Rainer Lächele. Tübingen 2001, 131–170. Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der ‚Künste‘. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Diss. [masch.] Köln 1958, 30 f.

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So wie unsere Quellenkenntnis hier höchst unzureichend ist, wissen wir auch über die einzelnen Autoren, ihre jeweiligen Wirkungsumstände und konkreten Motive bisher nur wenig. Einen ersten, groben Überblick über Verfasser solcher Schriften samt Publikationsdaten vermittelt immerhin der Tanzhistoriker Kurt Petermann im Nachwort zu einem von ihm 1981 als Reprint herausgegebenen Tanztraktat, erschienen 1707 in Frankfurt/Main unter dem Titel Johann Paschens Beschreibung wahrer Tanz-Kunst, Nebst einigen Anmerckungen über Herrn J[ohann] C[hristian] L[anges] P[rofessoris] P[ublici] zu G[ießen] Bedencken gegen das Tantzen / und zwar wo es als eine Kunst erkennet wird. Worinnen er zu behaupten vermeynet / daß das Tantzen / wo es am besten ist / nicht natürlich / nicht vernünfftig / nicht nützlich; sondern verdammlich / und unzulässig sey / mit angeführtem Text des Herrn Gegners.4 Bei diesem über 500-seitigen Buch handelt es sich um eine Gegenschrift zu einem darin großteils „angeführten“ pietistischen „Tractätgen wider das Tantzen“, welches den damaligen Professor der Moral an der Universität Gießen Johann Christian Lange (1669–1759) zum Autor hatte. Es war drei Jahre zuvor ebenfalls in Frankfurt/Main erschienen unter dem Titel Vernunfft=mässiges Bescheidenes und Unparteyisches Bedencken Uber die Durch mancherley öffentliche Schrifften und anderweitig zum öfftern angeregte Streitigkeit vom Tantzen: Jn welchem hauptsächlich auff das bey der heutigen Galanten Welt höchst=beliebte manierliche und Kunst=mässige Tantzen reflectiret / und nach wohlgeprüfften Gründen gesunder Vernunfft untersuchet wird / was Weißheit= und Tugend=liebende Personen mit Grunde davon halten können? Bey gewisser Gelegenheit Auff gnädigstes Erfordern einer hohen Person vor etlichen Jahren zu erst verfasset; Anitzo aber mit einiger Aenderung und Zusatz zum öffentlichen Druck überlassen: Von J[ohann] C[hristian] L[ange] P[rofessore] P[ublico] z[u] G[ießen]. Zu Beginn seines Nachworts zu jener Reprintausgabe der Replik von Johann Pasch (1653–1710), dem „Vater der galanten Leipziger Tanzkunst“,5 bietet denn Petermann einen Katalog von Verfassern tanzkritischer Schriften, in deren Kontext Langes Bedencken zu sehen ist. In einer Fußnote, die sich auf die Feststellung bezieht, dass „[a]llein zwischen 1693 und 1720 […] 15 Streitschriften gegen das weltübliche Tanzen und den Kunsttanz in deutscher Sprache erschienen“6 seien, listet der Herausgeber hier in alphabetischer Folge elf „Autoren“ auf, die neben Johann Christian Lange „in dieser Zeitepoche den Kampf gegen die Tanzlust (führten)“, darunter neben heute unbekannten auch einige bekannte Namen: Acxtelmeier, Stanisl[aus] Reinhard (Augsburg 1707) Albrecht, Georg (Schwäb[isch] Hall 1705) Beerensprung, Siegmund (Leipzig 1700 und Büdingen 1720) Francke, August Hermann (Halle 1697) Ernst, Jac[ob] [Daniel] (Altenburg 1693) Eusebius, Alethophilus (Frankfurt/Main 1703) 4 5 6

Johann Pasch: Beschreibung wahrer Tanz-Kunst. Mit einem Nachwort und einem Register von Kurt Petermann. Leipzig 1981 [Reprint der Ausgabe Frankfurt/Main 1707] (Documenta Choreologica, 16). Arnold Schering: Musikgeschichte Leipzigs. Bd. 2. Leipzig 1926, 409. Pasch, Beschreibung [s. Anm. 4], Nachwort, III.

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Hellmund, Günther Aeg[idius] ([Büdingen] 1719) Herrnschmidt, Johann Daniel (Nürnberg 1709 [11703]) Hercker, J[ohann] C[hristian] (Leipzig 1701) Kellner von Zinnendorf, [Johann Wilhelm] (Augsburg 1716) Seidel, Christoph Matthäus (Halle 1698 und Berlin 1719)7

Dieser Autorenkatalog basierte auf einem 1966 begonnenen bibliographischen Projekt, auf das Petermann am Schluss jener Fußnote mit den Worten verweist: „Genaue Titelaufnahmen mit Annotationen und Standortangaben dieser Werke siehe Petermann, Kurt: Tanzbibliographie. – Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1966, S. 135–165.“ Verwiesen wird hier auf die dritte Untergruppe der Gruppe IV der Bibliographie „Der Tanz in gesellschaftlicher und naturwissenschaftlicher Sicht“. In dieser Untergruppe mit der Überschrift „Kult und Religion (kirchliche Tanzverbote und Polemik gegen den Tanz)“ sind die betreffenden Werke tatsächlich – allerdings mehr oder weniger bibliographisch exakt – erfasst. So ist gerade die in unserem Zusammenhang besonders interessierende Publikation nur ungenau verzeichnet, nämlich die in jenem Autorenkatalog mit „Francke, August Hermann (Halle 1697)“ angegebene Streitschrift Gründ= und ausführliche Erklärung Der Frage: Was von dem Weltüblichen Tantzen zu halten sey? Jn zwey Tractätlein verfasset; Deren das erste einer von dieser Sache zu Langensaltza 1696. heraus gegebenen Schrifft entgegen gesetzet. Denn nicht zu entnehmen ist dem Eintrag,8 wer die Verfasser jener hier den eigentlichen Inhalt bildenden „zwey Tractätlein“ sind, zu denen Francke lediglich eine – 1698 dann noch als Separatdruck ohne Autorenangabe publizierte9 – „Vorrede“10 beigesteuert hatte.11 Dabei gehörten diese beiden 7

8 9

10 11

AaO, IIIf (Fußnote 3). Stanislaus Reinhard Acxtelmeier (um 1649 – um 1715), Georg Albrecht (1601–1647), Siegmund Beerensprung (1660–1739), August Hermann Francke (1663–1727), Jacob Daniel Ernst (1640–1707), Eusebius Alethophilus (um 1658 – um 1723), Günther Aegidius Hellmund (1678–1749), Johann Daniel Herrnschmidt (1675–1723), Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf (1731–1782), Christoph Matthäus Seidel (1668–1723). Kurt Petermann: Tanzbibliographie. Leipzig 1966, 142, Nr. 907. [August Hermann Francke]: Gründliche Untersuchung / Was von den so genannten indifferenten Dingen / Und insonderheit Von dem heutigen Weltüblichen Tantzen nach Gottes Wort zu halten sey? o. O. 1698. – Ein dritter Druck des nun mit Marginalien versehenen Textes erfolgte 1703 unter dem Titel: Beantwortung der Frage: Was von dem weltüblichen Tantzen zu halten sey? vormals in einer Vorrede über einen Tractat von eben dieser materie abgefasset. In: August Hermann Francke: Oeffentliches Zeugniß Von dem Dienste GOttes / […] Jn verschiedenen vorhin edirten / nun aber durchgesehenen und vermehrten Schrifften abgeleget. Halle 1703, 298–313. Vgl. den kommentierten Neudruck des in der Fassung von 1698 wiedergegebenen Textes in: August Hermann Francke. Werke in Auswahl. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, 383–391 (Was von dem weltüblichen Tanzen zu halten sei, Vorrede, 1697). Wie viel bibliographische Unklarheit hier noch immer herrscht, beweist eine Anmerkung in einer sich auch dem Thema „Tanz“ widmenden Monographie von Wolfgang E. J. Weber: Luthers bleiche Erben. Kulturgeschichte der evangelischen Geistlichkeit des 17. Jahrhunderts. Berlin, Boston 2017, 197, Anm. 214: „Vgl. z. B. Vockerodt, Gottfried: Erklärung der Frage: Was von dem weltlichen Tantzen zu halten sey?. Halle: Wetterkampf 1696 [!] […]. Vgl. auch das unpaginierte Vorwort August Hermann Franckes zum 1697 bei Wetterkampf in Halle erschienenen, wahrscheinlich von dem pietistischen Gymnasialpädagogen Johann Conrad Kesler (1665–1716) verfassten Band Gründ- und ausführliche Erklärung Der Frage: Was von dem

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Titelblatt der von zwei Gothaer Pädagogen verfassten ersten pietistischen Streitschrift gegen das „Weltübliche Tantzen“ (Bibliothek der Franckeschen Stiftungen)

im Titel zwar nicht genannten, aber schon seit langem ermittelten Autoren in jener Zeit um 1700 mit zur vordersten Reihe der Tanzgegner. Und indem es sich bei beiden um Thüringer Pietisten handelt, komme ich zu dem, worum es mir im Weiteren zu tun ist: eben um die Anfänge der pietistischen Kampagne gegen das „Weltübliche Tantzen“ und die besondere Rolle, die thüringische Vertreter der Frommen bei diesen Anfängen spielten. 2. GOTHA ALS FRÜHER SCHAUPLATZ PIETISTISCHEN KAMPFES GEGEN DAS „WELTÜBLICHE TANTZEN“ Um sogleich möglichen falschen Erwartungen vorzubeugen: Eine auch nur annähernd erschöpfende Behandlung des Themas ist von mir in Anbetracht der skizzierten Forschungssituation nicht zu leisten. Bei dem Folgenden kann es im Sinne einer Pilotstudie nur darum gehen, Wege in ein bisher nahezu unbeackertes UnterWeltüblichen Tantzen zu halten sey?“. – Einigermaßen unklar sind auch die Angaben zur Gründ= und ausführlichen Erklärung bei Eißner, „Heydnische Tantz-Greuel“ [s. Anm. 1], 98, Anm. 51.

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suchungsfeld zu bahnen, was bedeutet, erst einmal in diesem Zusammenhang besonders wichtige gedruckte wie handschriftliche Quellen zu sichten sowie Hauptakteure und ihre Wirkungsorte zu ermitteln. Ohne den Verzweigungen des auch in der „Streitigkeit vom Tantzen“ außerordentlich weit gespannten Netzwerkes der Pietisten bis ins Einzelne nachgehen zu können, will ich im Folgenden auf regionalgeschichtliche Aspekte jener „Streitigkeit“ aufmerksam machen und so einen Beitrag zum Rahmenthema liefern. Bei meiner Beschäftigung mit dem gewählten Gegenstand habe ich mich von folgenden Fragen leiten lassen: Wie erklärt es sich überhaupt, dass die Pietisten deutlich mehr noch als gegen andere von gottgefälligem Tun abziehende Vergnügungen wie Theater und Oper gegen das Tanzen zu Felde zogen, sodass man hier im wahrsten Sinne von einer Kampagne sprechen kann? Worin besteht das Spezifische pietistischer gegenüber früherer oder zeitgleich von anderer Seite vorgetragener Tanzkritik? Wer waren hier die Vorkämpfer, und an welchen Orten entfaltete sich der Kampf in besonderem Maße? Dass Halle einer der maßgeblichen Orte war, an denen diese Kontroverse ausgetragen wurde, ist durchaus bekannt. Weniger bekannt ist dagegen, dass jener Kampf bereits davor in Gotha ein Zentrum hatte. Gotha als eine Hochburg des frühen Pietismus ist auch ein früher Schauplatz pietistischen Streitens wider das „Weltübliche Tantzen“ gewesen. Und die Institution, von der die kritischen Stimmen ausgingen, war wiederum das Gymnasium Ernestinum, dessen Schlüsselstellung in der Geschichte des Gothaer Pietismus unlängst Miriam Rieger in ihrem Beitrag zum Katalogband Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke aufgewiesen hat.12 Bezeugt wird eine solche Vorreiterrolle der durch ihren Rektor Gottfried Vockerodt (1665–1727) repräsentierten Lehranstalt bemerkenswerterweise von eben jenem Gießener Moral-Professor Johann Christian Lange, indem dieser in seinem erwähnten Bedencken dem Gothaer Schulmann bescheinigt, durch feste Einbindung der Frage des Tanzens in die neu angefachte Debatte über die „Mitteldinge“ endlich den Weg zu einer richtigen Beurteilung des strittigen Phänomens gewiesen zu haben. So findet sich bei Lange folgende Bemerkung zur Randglosse „Unbehutsames Urtheil derer jenigen / welche das Tantzen […] inter adiaphora, d. i. unter Mit[t]eldinge zusetzen pflegen“: […] man (solte) billich behutsamer fahren / und nicht […] so gar fertig seyn / das Tantzen […] unter die adiaphora und Mitteldinge / die gantz indifferenter geschehen und nicht geschehen können / zu rechnen. Denn zu geschweigen / welcher gestalt diejenigen / die durch den Nahmen der Mitteldinge sich in ihren Eitelkeiten schützen wollen / von Mitteldingen schlechten Verstand haben / und daher wohl bedürfften / aus denen Schrifften / welche der fromme und gelehrte Herr Gottfried Vockerodt zu Gotha ex professo von dieser Materie (mit Widerlegung der ungereimten Meynungen seiner Gegner) verschiedenlich heraus gegeben / sich vor erst eines bessern zubelehren / ehe sie auff Mitteldinge sich beruffen möchten: so will ich vor itzo nur dieses einige entgegen setzen / daß / ob zwar das heute übliche Kunst=Tantzen / in Absicht 12

Miriam Rieger: Eine pietistische Ausbildungsstätte? Der Streit um das Gymnasium Illustre um 1700. In: Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Katalog zur Ausstellung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha in Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha vom 28. April bis 4. August 2013. Hg. v. Sascha Salatowsky. Gotha 2013 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 49), 88–95.

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Wolfgang Miersemann auff bürgerliche Gesetze / unter Mitteldinge / die nicht geboten noch verboten / sondern zugelassen sind / mag gerechnet werden; dennoch in Absicht auff das allgemeine Gesetz gesunder Vernunfft dasselbe vor ein Mittelding umb deßwillen keines weges zu achten sey / weil es […] aus der gesunden Vernunfft nicht entsprungen / sondern vielmehr aus der Phantasie des eitlen Welt=Geistes / der seine Neigungen und Begierden zu vergnügen solche gesticulationes oder geformte gaucklerische Leibes=Gebärden und Bewegungen ausgedacht / und gegen die Richtschnur gesunder Vernunfft zu grossem Unheil in die Welt geführet.13

Mehr als Gottfried Vockerodt selbst waren es jedoch zwei seiner pädagogischen Mitstreiter, die sich als Tanzgegner hervortaten, nämlich Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1730), seit Ostern 1692 Subkonrektor des Gymnasiums, und Johann Conrad Kesler (1665–1716), seit Januar 1693 Inspektor am Coenobium der Schule, womit Namen und Ämter der Autoren jener beiden 1697 von Francke herausgegebenen „Tractätlein“ genannt sind. Modern ausgedrückt haben wir es hier mit einer Art von Arbeitsteilung zu tun, indem der konzeptionelle Kopf der Lehranstalt für sich in Anspruch nahm, die pädagogisch höchst relevante Adiaphora-Problematik im Ganzen in entsprechend umfangreichen Schriften abzuhandeln, und zwei seiner engsten Mitarbeiter die ausführlichere Behandlung eines für besonders wichtig erachteten Teilproblems überlassen blieb. 3. PÄDAGOGISCHER IMPETUS VERSUS BALLETT- UND OPERNBEGEISTERUNG AUF DEM FRIEDENSTEIN Einen ersten Hinweis darauf, dass Ablehnung des Tanzens zu den Kernpunkten der im Gothaer Pietistenkreis gehegten kulturkritischen Anschauungen zählte, bietet ein von Wiegleb und Kesler sowie drei weiteren Vertretern dieses Kreises unterzeichnetes – in der Literatur öfter schon erwähntes – Manifest vom 12. Juli 1692, welches auf Verlangen des fürstlichen Konsistoriums entstanden war und 1693 dann von gegnerischer Seite mitsamt einer angehängten Kritik im Druck herausgebracht worden ist unter dem Titel CONFESSIO, Oder Glaubens=Bekäntniß derer Pietisten in Gotha. Sampt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken.14 So kann es als bezeichnend gelten, dass im letzten, neunten Absatz der CONFESSIO, der ganz dem Thema der „Mitteldinge“ gewidmet ist, in der anfänglichen Aufzählung derjenigen Dinge, die entgegen der Meinung der „Welt“ nicht zu den Adiaphora zu zählen sind, das Tanzen an erster Stelle steht: 13 14

Johann Christian Lange: Vernunfft=mässiges Bescheidenes und Unparteyisches Bedencken Uber die Durch mancherley öffentliche Schrifften und anderweitig zum öfftern angeregte Streitigkeit vom Tantzen […]. Frankfurt/Main, Leipzig 1704, 62–64. Mit der CONFESSIO durch durchgehende Paginierung verbunden, weist das Bedencken allerdings ein eigenes Titelblatt auf: Kurtzes doch Schrifftmässiges Bedencken / über vorstehendes von denen Pietisten zu Gotha / ohne Noth auffgesetzte / und unter die Leute gebrachte / auch wegen irriger Lehre sehr verdächtige Glaubens=Bekäntnüß / Allen denen / welche durch dergleichen unnöthige Neuerungen / und scheinheiliges Fürgeben / biß anhero möchten irre gemacht worden seyn / zu bessern Unterricht auffgesetzet. o. O. [Leipzig] 1693. Vgl. den Kurzkommentar zu dieser zweiteiligen Schrift von insgesamt 63 Seiten in: Salatowsky, Gotha macht Schule [s. Anm. 12], 179 (Nr. 4.4.3. im Katalogteil).

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Weil unter andern Lästerungen / so man bißhero ausgesprenget / auch dieses uns beygemessen worden / als wären wir in denen freyen Mitteldingen gar zu scrupulos und singular; Als haben wir auch hierinnen / was unsere Meynung sey / entdecken wollen. Nehmlich / daß wir in solchen Dingen / was warhafftig Mittel=Dinge können genennet werden / durchaus nichts besonders suchen / indem wir ja ohne allem Anstoß des Gewissens gehen / stehen / sitzen / liegen / essen / trincken / schlaffen / wachen / und so weiter; Alleine dasjenige vor Mittel=Dinge zu erkennen / was die Welt insgemein davor hält / ist uns unmöglich / zum Exempel / Tantzen nach heut zu Tag üblicher Art / item / Kartenspielen / Comödien besuchen / Schertzen / allerhand zu lachen reitzende Schwäncke erzehlen / und dergleichen / können wir gar nicht vor indifferent und Mittel=Dinge halten / sondern sind dessen aus GOttes Wort versichert / daß es Sünde und Greuel für Gott sey.15

Die von Wiegleb und Kesler dann mit jenen beiden „Tractätlein“ in extenso bezeugte erbitterte Gegnerschaft gegen das Tanzen dürfte – und damit komme ich zu einem für das Verständnis „Gothaischer“ Tanzkritik besonders wichtigen Punkt – nicht zuletzt aus ihrer alltäglichen pädagogischen Arbeit erwachsen sein. Doch leider fehlt es uns gerade dazu an gründlichen Untersuchungen. Dabei harrt hierzu eine große Menge an Aktenmaterial der Auswertung, wie schon von Miriam Rieger in ihrem erwähnten Katalogbeitrag festgestellt worden ist, in dem sie übrigens per Zitat solchen Materials gleich einen handfesten Beleg in unserer Sache beigebracht hat. Zitiert nach Ernst Kochs Studie über Generalsuperintendent Henrich Fergen und die Anfänge des Pietismus in Gotha, führt sie zu Beginn einen Passus aus einer Untersuchungsakte an, in der eine Vernehmung Wieglebs vor dem Konsistorium protokolliert ist, bei welcher dem neuen Subkonrektor des Gymnasiums übergroße Strenge im Umgang mit den Schülern vorgeworfen wurde: „Wiegleb stritt ab und verteidigte sich damit, dass die Schuljugend ‚gar böse sey, dem Saufen v(nd) freßen obliege, des nachts auslaufe v(nd) schwärmte, auch wohl tänze hielte […]‘.“16 Einen in unserem Zusammenhang höchst wichtigen Quellenhinweis gibt die Autorin dann im kurzen vierten, „Capellenknaben“ überschriebenen Abschnitt: Eine der umfangreichsten Untersuchungsakten stammt aus den Jahren 1693/4 und galt den „Capellenknaben“. Einige Schüler, die sich als Musikanten bei Auftritten am Hof oder bei Festen ein Zubrot verdienten, beschwerten sich darüber, wie Kesler, Wiegleb und Vockerodt ihnen wiederholt zusetzten. Kesler nannte ihren Arbeitsplatz ein „wüste[s], wilde[s] wesen“. „Ihr sehet und höret nichts gutes […]. Fressen und Sauffen sehet ihr, so könnet ihr auch nichts als dergleichen […].“ Wiegleb habe einem Knaben, der auf dem Weg zum Schloss war, zugeraunt: er ginge nicht auf den Wegen Gottes, sondern auf den Wegen des Teufels.17

Wie ergiebig diese im Thüringischen Staatsarchiv Gotha aufbewahrte Akte18 für die Aufhellung des Hintergrunds für Wieglebs und Keslers tanzkritisches Auftreten tatsächlich ist, wird schon bei einer kursorischen Durchsicht des Konvoluts sehr deutlich. Klar abzulesen ist gerade an dieser Untersuchungsakte, wie sehr die zügige Umsetzung des Erziehungskonzepts jener drei neu bestallten Pietisten – Vockerodt war erst 1693 nach Gotha berufen worden – einen Bruch mit Hergebrachtem dar15 16 17 18

CONFESSIO, Oder Glaubens=Bekäntniß derer Pietisten in Gotha. Sampt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken. o. O. [Leipzig] 1693, 17. Rieger, Eine pietistische Ausbildungsstätte? [s. Anm. 12], 89. Heinrich Fergen (1643–1708). AaO, 91. ThStAG Oberkonsistorium, Loc 17, Nr. 20.

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stellte. Energisch vorgegangen wurde nunmehr gegen etwas auch andernorts, wie etwa am Weißenfelser Gymnasium, ganz Übliches wie die musikalische Mitwirkung von Schülern bei höfischen Lustbarkeiten, insbesondere Theateraufführungen, oder auch bei Festen in Bürgerhäusern – Disziplinierungsversuche, die umso mehr Gegenwehr hervorrufen mussten, als sie am Ende eine empfindliche Einbuße an Einkünften bedeuteten. In gewisser Weise kann man den Widerstand der Kapellknaben mit demjenigen vergleichen, den kurz darauf Vockerodts harsche Musik- und Opernkritik unter Gothaer Hofmusikern erregte, die so natürliche Bundesgenossen des gegen den pietistischen Kritiker mit satirischen Gegenschriften antretenden Weißenfelser Dichter-Musikers Johann Beer (1655–1700) waren.19 Außer „Fressen und Sauffen“ gewahrten die Kapellknaben bei ihren Auftritten bei Hofe oder in Bürgerhäusern eben auch noch einen anderen „Greuel“: das Tanzen, wie es in Form von Kunst- oder traditionellem Volkstanz allenthalben gepflegt wurde. Und obwohl zwischen kunstvollen höfischen und oft ziemlich derben populären Tänzen Welten lagen, waren solche so unterschiedlichen Erscheinungsformen in den Augen der neuen Schulleitung gleichermaßen kritikwürdig. Anders als Vertreter traditioneller Kritik am Tanzen, wie sie vor allem dessen „Auswüchsen“ galt, richteten Pädagogen wie Wiegleb und Kesler ihre Aufmerksamkeit jetzt auch und gerade auf dessen besonders kunstmäßige Formen. Dabei muss man bedenken, dass die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts die Hochzeit höfischer Tanzkultur war. Ausgehend vom Hof Ludwigs XIV. in Versailles verbreitete sich ein Tanzeifer sondergleichen, der selbst weite Teile des Bürgertums erfasste, indem sich nun – gemäß der neuen Leitvorstellung galanter Conduite – auch jeder etwas auf sich haltende Bürger in modischen Hoftänzen übte. Man denke hier etwa an Molières (1622–1673) Darstellung in der Ballettkomödie Le Bourgeois gentilhomme von 1670, deren Musik von keinem Geringeren stammt als dem Hofkomponisten des Sonnenkönigs, Jean-Baptiste Lully (1632–1687). Wie in Frankreich erlebte auch in deutschen Landen das Ballettwesen einen unerhörten Aufschwung, dadurch dass im Drang nach Repräsentation ein Fürstenhof den anderen zu überbieten suchte in der Inszenierung prunkvoller Opern, deren Schauwert großenteils, wenn nicht ganz und gar wie bei den eine neue Gattung darstellenden opéra-ballets, in theatralischem Tanz lag. In der Ära Ernsts des Frommen (1601–1675, reg. 1640–1674) stand der Gothaer Hof in der Pflege weltlicher Musik zwar anderen Fürstenhöfen wie etwa dem Hallenser oder dem Wolfenbütteler deutlich nach, doch Ballett-Darbietungen gab es auf Schloss Friedenstein selbst in jener Zeit schon20 – ganz abgesehen davon, dass von einem professionellen Tanzmeister erteilter Unterricht im Balletttanz seit jeher auch hier zum Kanon der Fächer gehörte, in denen die Kinder der herzoglichen Familie ausgebildet wurden. Aber schon der in der Regentschaft nachfolgende Sohn, Friedrich I. (1646–1691), wurde für seine „besondere Vorliebe für Theateraufführungen“21 bekannt. Während seiner Regierungszeit gelangte das Bal19 20 21

Vgl. dazu Busch, Beer-Vockerodt-Kontroverse [s. Anm. 2], 152–158. Vgl. Renate Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland. Emsdetten 1964 (Die Schaubühne. Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte, 62), 175. Ebd.

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lett- und Opernwesen auf Schloss Friedenstein zu einer weithin bestaunten Entfaltung. Zum großen Ereignis geriet die erste Aufführung einer veritablen Oper in Gotha im Jahre 1683. Anlässlich des Geburtstags des Herzogs wurde das neue Hoftheater eingeweiht mit dem „Singspiel“ Die geraubte Proserpina, welches Lullys Ballettoper Proserpine von 1680 zur Vorlage hatte und damit ganz auf der Höhe der Zeit war.22 „Es scheint“ – so der Kenner der frühdeutschen Oper in Thüringen Erdmann Werner Böhme – „in Gotha bald zu einer festen Norm geworden zu sein, daß man neben einer reinen Oper auch ein Singballett nach französischer Manier gab“.23 Und Friedrich II. (1676–1732), also jener Herzog, unter dem sich die hier thematisierten Händel ereigneten, führte eine solche Ballett- und Operntradition nicht nur schlechthin fort. Mit dem Sohn Friedrichs I. – so wiederum Böhme – kam [1693] ein Fürst zur Regierung, der noch mehr als sein Vater den Typ des Barockherrschers verkörpert. Er ist der Gothaer Nachahmer Ludwigs XIV. von Frankreich […]. Sein Verdienst ist es, daß die Hofkapelle weiter ausgebaut wird […]. Für die Hoffestlichkeiten bestellt er einen besonderen Hofmarschall […]. Auch die Hofordnung und damit die Einstufung der Musik in den höfischen Dienstgrad erfahren unter Friedrich II. grundlegende Neuerungen.24

Von den zahlreichen Musikaufführungen während seiner Regierungszeit verdient in unserem Zusammenhang besonders die einer Pastorelle Erwähnung, die im Jahre 1695, das heißt kurz vor Ausbruch des Tanzstreits, stattfand, handelte es sich doch bei jener Die mit Klugheit verbundene Liebe betitelten Oper um eine solche, die – wie in diesem Falle ausdrücklich vermerkt – „mit Balletten untermischt“25 war. 4. PUBLIZISTISCHE AUSWEITUNG „GOTHAISCHER“ TANZKRITIK IN DER GRÜND= UND AUSFÜHRLICHEN ERKLÄRUNG VON 1697 Aus dem sozialkritischen Moment der „Streitigkeit vom Tantzen“26 erklärt sich schließlich auch die Heftigkeit und Langwierigkeit der in den 1690er Jahren beginnenden und bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus geführten Kontroverse. Im Folgenden nun will ich versuchen, die Genesis jener den Auftakt des Streits bildenden Halleschen Publikation von 1697 zu rekonstruieren und damit zu zeigen, dass es „Pietisten zu Gotha in Thüringen“27 gewesen sind, die den Anstoß zu dieser Kontroverse gegeben und so eine kulturgeschichtlich interessante, in ihrer Dimension allerdings erst noch zu entdeckende Debatte im Übergang vom Barock zur Aufklärung initiiert haben. ‚Wie man eine publizistische Kampagne startet‘ – so ließe sich recht gut die hier nachzuzeichnende Entstehungsgeschichte jener Gründ= und ausführlichen Erklärung zum Problem des „Weltüblichen Tantzens“ überschreiben. Als ein solches 22 23 24 25 26 27

Vgl. Erdmann Werner Böhme: Die frühdeutsche Oper in Thüringen. Ein Jahrhundert mitteldeutscher Musik- und Theatergeschichte des Barock. Stadtroda 1931, 92–94. AaO, 97. AaO, 104 f. AaO, 106. Lange, Bedencken [s. Anm. 13], Titelblatt. Schrifftmässiges Bedencken [s. Anm. 14], Vorwort, 25.

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Lehrbeispiel erscheint diese Entstehungsgeschichte nämlich, wenn man die im Archiv der Franckeschen Stiftungen erhalten gebliebenen Briefe Keslers und Wieglebs an Francke in die Betrachtung einbezieht, ergänzt noch durch briefliche Zeugnisse von Philipp Jakob Spener (1635–1705), der den Gothaer Frommen schon in ihrem Manifest von 1692 nicht zuletzt in der Frage des Tanzens als Berufungsinstanz gedient hatte.28 Gestalt gewann das Publikationsprojekt diesen Dokumenten nach erst durch die enge Zusammenarbeit aller Beteiligten, zu denen außer den Autoren selbst nicht nur verschiedene Gutachter bzw. Mentoren gehörten, sondern auch Überbringer von Manuskripten sowie natürlich Verleger29 und Drucker30 des mit seinen insgesamt 188 Seiten ein ganzes Buch ausmachenden Werkes. Wie beim Start publizistischer Kampagnen allgemein hatte auch hier die Sache etwas ausgesprochen Dringliches, Eiliges. Als dringend erwies sich eine solche Gründ= und ausführliche Erklärung angesichts zunehmender orthodoxer Kritik an den Gothaer „Neulingen“, deren Gegenstand nicht nur jene CONFESSIO selbst, sondern mehr noch eine umfangreiche Entgegnung auf das ihr angehängte Bedencken bildete, welche im gleichen Jahr 1693 herausgekommen war unter dem Titel Bescheidentliche Beantwortung Der Neulicher Zeit an Tag gekommenen Schrifft / Welche Ein Liechtscheuender unter den Nahmen CONFESSIO Oder Glaubens=Bekäntnüß derer Pietisten in Gotha / Samt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken / herausgegeben / ausgefertiget von denen Auctoribus berührter also genandter CONFESSION in Gotha. Im Brennpunkt des sich verschärfenden Meinungskampfes stand eben jenes Problem der „Mitteldinge“,31 zu deren Sachwaltern sich die Gegner der Pietisten aufschwangen, Letztere dabei als die bestehende Ordnung gefährdende Querulanten hinstellend. Besonders brisant war hier nun die Frage des Tanzens, indem der von den Frommen bezogenen Haltung dazu tatsächlich ein gerüttelt Maß an Sozialkritik eignete, wie gleich genauer zu sehen sein wird. So war noch im selben Jahr 1693 durchaus Widerspruch gegen die pietistische Verurteilung des Tanzens laut geworden, nämlich in einem in Altenburg publizierten Werk, dessen Verfasser mit zu den Produzenten tanzkritischen Schrifttums um 1700 gehört, die in jenem eingangs zitierten Autorenkatalog aufgeführt sind, dort verzeichnet mit „Ernst, Jac[ob] [Daniel] (Altenburg 1693)“32. Dieser Jacob Daniel Ernst, ehemals Rektor des Gymnasiums in Altenburg und später „Prediger“ ebenda, hatte in einem Kapitel einer seiner vielen Erbauungs- und zeitkritischen Schriften zwar, wie üblich, 28 29

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CONFESSIO [s. Anm. 15], 18–20. Als Verleger, der in Keslers Brief an Francke vom 20.4.1696, allerdings nicht namentlich, erwähnt wird (vgl. den im Anhang wiedergegebenen Brief), ist im Impressum der Hallesche Buchhändler Christoph Wetterkampf(f) angegeben, der in dieser Funktion in Franckes früher Wirkungszeit mehrfach eine Rolle spielte. Im Impressum nicht vermerkt, erfahren wir über den Drucker auch bei seiner Erwähnung in dem genannten Brief Keslers vom 20.4.1696 nichts Näheres (vgl. wiederum den im Anhang wiedergegebenen Brief). In Frage kommt hier der Hallesche Universitätsbuchdrucker Johann Jacob Krebs (1658–1716), der schon Franckes von eben jenem Christoph Wetterkampf verlegten Anfang der Christlichen LEHRE von 1696 gedruckt hatte. Vgl. dazu Eißner, „Heydnische Tantz-Greuel“ [s. Anm. 1], 88–90 (2. Streit um die Mitteldinge). Pasch, Beschreibung [s. Anm. 4], III f. (Fußnote 3).

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auch „Entartungen“ des Tanzens gerügt, zugleich aber den „rechten“, kunstmäßigen Tanz gegen die „heutigen Neulinge und Schuster=Theolog[en]“33 ostentativ in Schutz genommen. Zu einer ihre grundsätzliche Ablehnung „Weltüblichen Tantzens“ ausführlich erklärenden Erwiderung sahen sich die solcherart Geschmähten schließlich durch eine 1696 im sachsen-weißenfelsischen Langensalza zum Vorschein gekommene anonyme34 Streitschrift herausgefordert, welche eine Gegenschrift darstellte zu der in Abschnitt IX jener Bescheidentlichen Beantwortung35 gelieferten Verteidigung der „Gothaischen“ „Meinung von denen Mitteldingen“36 – eine Gegenschrift, die das Augenmerk nun ganz auf den Streitpunkt „Tantzen“ lenkte und diesen Teil des Gesamtproblems damit in das Zentrum der aktuellen Auseinandersetzung um die Adiaphora rückte.37 Ob Tantzen nach heute zu Tag üblichem Brauch / Sünde und Greuel sey / und derowegen abzuschaffen? – so der bisher unbekannte38 Titel dieser erst kürzlich durch Nachweis im VD1739 ermittelten, offenbar nur noch in einem 33

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Des Unglücklich=verliebten Printzen Sichems / und Des unfürsichtigen Fräuleins Dina / Traurig abgelauffene Liebes=Geschichte / Wie dieselbe der Mann GOttes Moses / in seinem Ersten Buch am XXXIV. Capitel / beschrieben / Nach denen fürnehmsten Umständen wiederholet / mit vielen erbaulichen Erinnerungen und nachdencklichen Beyspielen beleuchtet / und Jn XXIII. Betrachtungen Männiglichen zu Nutz herausgegeben von M. Jacob Daniel Ernsten. Altenburg 21701, 49–65 (Die IV. Betrachtung. Wie gefährlich es sey / bey böser Gesellschafft und öffentlichen Täntzen zu erscheinen / und vom Kleider=Pracht der Jungfrauen), hier: 55. Als Verfasser ist der aus Bachs Biographie bekannte Thüringer orthodoxe Theologe Georg Christian Eilmar (1665–1715) anzunehmen, der bis August 1696 als Diakon an St. Bonifacius in Langensalza gewirkt und sich dann im Zuge seines Aufstiegs zum Oberpfarrer und Superintendenten in Mühlhausen mehr und mehr einen Namen als Autor antipietistischer Streitschriften gemacht hat. Für eine solche Annahme spricht nicht zuletzt ein den antipietistischen Kampfgeist schon des frühen Eilmar bezeugendes Werk, nämlich eine von ihm 1695 gehaltene und, um einige Zusätze vermehrt, noch im selben Jahr in Druck gegebene Predigt, erschienen in der gleichen Langensalzaer Offizin wie jene Streitschrift unter dem Titel: Die gäntzlich Zerscheiterte Hoffnung des Tausendjährigen Reichs / CHristus werde nicht für dem Ende der Welt / ein solches auf Erden anrichten / an dem XIV. Trinit. Sonntage / dieses 1695. Jahres […] Jn der Nachmittags=Predigt der Gemeine des HErrn / sie in der reinen Evangelischen Wahrheit zu befestigen / also fürgetragen / Und auf fleißiges Anhalten zum Druck wie wohl erweitert / übergeben von M. GEORG. CHRIST. Eilmar / Diener GOttes in LangenSaltza. Langensalza 1695. Vgl. zu Eilmar und den Mühlhäuser pietistischen Streitigkeiten Johannes Wallmann: Neues Licht auf die Zeit Johann Sebastian Bachs in Mühlhausen. In: ders., Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III. Tübingen 2010, 191–257. Bescheidentliche Beantwortung Der Neulicher Zeit an Tag gekommenen Schrifft / Welche Ein Liechtscheuender unter den Nahmen CONFESSIO Oder Glaubens=Bekäntnüß derer Pietisten in Gotha / Samt einem darüber gestellten kurtzen Bedencken / herausgegeben / ausgefertiget von denen Auctoribus berührter also genandter CONFESSION in Gotha. o. O. 1693, 34–67. AaO, 34. – Vgl. auch Erhard Peschkes kommentierende Bemerkung zu diesem Werk in: August Hermann Francke [s. Anm. 10], 385, Anm. 2: „Die Schrift erschien 1696 in Langensalza und nimmt auf die in den pietistischen Streitigkeiten in Gotha 1692 ff. von den dortigen Vertretern des Pietismus abgelegten Bekenntnisse Bezug. Der Verfasser und der genaue Titel der Schrift konnten nicht ermittelt werden.“ Vgl. dazu Eißner, „Heydnische Tantz-Greuel“ [s. Anm. 1], 90–94 (3. „Heydnische Tantz=Greuel“). Vgl. die in Anm. 36 zitierte Bemerkung von Erhard Peschke. VD17 547:738250L.

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Titelblatt der zum Auslöser der pietistischen Kampagne gegen das „Weltübliche Tantzen“ gewordenen orthodoxen Streitschrift (FB Gotha)

Exemplar erhaltenen40 29-seitigen Streitschrift, auf deren erster Textseite die den Titel bildende Frage schon im Vorhinein klar beantwortet wird, verbunden mit einer den Gegenstand genauer bestimmenden, in ihrer Zweiteilung sogleich auf den thematischen Schwerpunkt der Debatte verweisenden „Erklärung“ des „Langensaltzischen Autors“, wie Kesler den Verfasser dann bezeichnet: Tantzen nach heute zu Tage üblichen Brauch / ist an und vor sich selbst weder Sünde noch Greuel. […] Erklärung. I. NJcht ist die Rede von denen heimlichen unzüchtigen Winckel=Tänzen / welche geschehen um die sündliche unzüchtige Lüste zu vollbringen. II. Von denen ist die Rede / welche öffentlich in beysein ehrlicher Leute auff Ehren=Tagen / oder am frölichen Tage mit vorwissen und Einwilligung der weltlichen Obrigkeit in guter bestellter Auffsicht / zum Zeichen der friedsamen Frölichkeit angestellet werden: Hierauf wird mit Grunde der heiligen Schrifft geantwortet / daß solche vergönnet seyn.41

40 41

FB Gotha Theol 8° 00684c (07). [Anonymus]: Ob Tantzen nach heute zu Tag üblichem Brauch / Sünde und Greuel sey / und derowegen abzuschaffen? Langensalza 1696, 3.

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Die „Gothaische“ Replik nun stellt sich als eine gleich zweifache dar, eben indem sowohl Kesler als auch Wiegleb mit einem „Tractätlein“ antworteten, von denen das des Ersteren als Kernstück des Ganzen nicht weniger als 116 und das des Letzteren immerhin 52 Druckseiten umfasst. Im Druck sieht das Ganze so aus, dass auf Franckes 15 Seiten zählende „Vorrede“ vom 27. Juli 1697 ein vierseitiger „Vorbericht an den Warheit liebenden Leser“ von Kesler folgt, dem sich dessen Abhandlung als „Erster“ und die ebenfalls mit einem eigenen Titelblatt versehene Wieglebs als „Anderer TRACTAT“ anschließen. 5. ZU JOHANN CONRAD KESLERS TRAKTAT ALS KERNSTÜCK DER GRÜND= UND AUSFÜHRLICHEN ERKLÄRUNG Wie der Titel der ersten Abhandlung anzeigt, bildet diese eine direkte Entgegnung auf jene von den Gothaern als Kampfansage verstandene Schrift: Erster TRACTAT, Darinnen die Langensaltzische Schrifft ordentlich wiederleget wird. „Ordentlich wiederleget“ bedeutet dabei, wie im „Vorbericht an den Warheit liebenden Leser“ erklärt, „des Autoris Schrifft von Wort zu Wort durchzugehen / und alles / was nur derselbe fürbringt / ordentlich zu beantworten / […] derowegen die gantze Schrifft des Langensaltzischen Autoris in gegenwärtiger Refutation enthalten (ist)“,42 womit Kesler übrigens dem Vorgehen seines orhodoxen Gegners folgt, der den in jener Bescheidentlichen Beantwortung auftretenden „Gothaischen“ Tanzkritiker ebenfalls in großer Breite zitiert und damit den Typus eines im Streben nach möglichst transparenter Argumentation quasi verwissenschaftlichten Tanztraktats geschaffen hatte. Wie zu erwarten, macht der Gothaer Schulmann mit der gleichfalls in großen Lettern erscheinenden Gegenbehauptung zur Eingangsthese des „Langensaltzischen Autors“ auf: „Tantzen nach heute zu Tag üblichem Brauch ist an und vor sich selbst Sünde und Greuel“,43 um dann dem Leser der in der „Vorbereitung“ genannten gut fünfseitigen Einleitung eine entsprechend „andere Definition und Beschreibung“44 des Gegenstands als Voraussetzung für das Verständnis der zweiteiligen45 eigentlichen Abhandlung an die Hand zu geben. Größte Aufmerksamkeit gebührt allerdings schon dem die Hauptstoßrichtung der Kritik anzeigenden mottoartigen Zitat auf der Rückseite des Titelblattes. Als 42

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[Johann Conrad Kesler]: Vorbericht an den Warheit liebenden Leser. In: Gründ= und ausführliche Erklärung Der Frage: Was von dem Weltüblichen Tantzen zu halten sey? Jn zwey Tractätlein verfasset; Deren das erste einer von dieser Sache zu Langensaltza 1696. heraus gegebenen Schrifft entgegen gesetzet: Mit einer Vorrede M. August Herrmann Franckens / Gr. & OO. LL. P. P. & Past. zu Glauche an Halle. Halle o. J. [1697], c1v. [Ders.]: Erster TRACTAT, Darinnen die Langensaltzische Schrifft ordentlich wiederleget wird. In: Gründ= und ausführliche Erklärung [s. Anm. 42], [1]. Ebd. Vgl. aaO, 6–89: „Erster Theil. Jn welchem die Beweißgründe des Autoris vor das Weltübliche Tantzen / nebst der Antwort auff die Exceptiones oder einwenden seines Wiederparts wieder gedachte Gründe / untersuchet und wiederleget werden“, sowie 89–114: „Anderer Theil / Jn welchem die Beweißgründe wider das Weltübliche Tantzen vor den Exceptionibus und Einwürffen des Autoris gerettet werden“.

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Gewährsmann dient hier kein Geringerer als Gisbert Voetius (1589–1676), Repräsentant jener während des 17. Jahrhunderts innerhalb der niederländischen reformierten Kirche aufgekommenen Frömmigkeitsbewegung, die als Nadere Reformatie bezeichnet wird. Quelle des Zitats ist Voetius’ Hauptwerk Politica Ecclesiastica, genauer gesagt dessen dritter Teil von 1676,46wie von Kesler vor dem in deutscher Übersetzung gebotenen Ausschnitt präzise angegeben: Voetius part. III Polit. Ecclesiast. p. 711. entdecket die Haupt=Ursache / warumb viel Theologen daß Tantzen nicht gern improbiren wollen / wenn er also schreibet: Jch halte dafür / daß kaum etwas anders die antreibende Ursach und motiv sey / warum man das Tantzen defendire oder entschuldige / als weil Fürsten und Herren bey Hoffe tantzen / welche sie zu erinnern und zustraffen / sich fürchten. Und was ich / fähret er fort / von dem Tantzen / das habe ich auch von andern Fällen angemerckt / als von Comœdien=Spielen / von Würffel und Bretspiel / von der Schwelgerey und Eitelkeit in Kleidungen von den Schmuck des Leibes und von andern Höhen der Welt etc.47

Im Gegensatz zu jener „Langensaltzischen Schrifft“, die der „weltlichen Obrigkeit“ eine ausgesprochen positive Rolle in der verhandelten Sache attestiert,48 indem sie diese als eine auch in dem Punkt für Sittsamkeit sorgende Aufsichtsinstanz hinstellt, erscheinen hier gerade „Fürsten und Herren“ als Anhänger eines höchst sündhaften Tuns, das aber aus Furcht vor der Macht dieser ihrer Anhänger von Vertretern der Geistlichkeit oft nicht als solches getadelt, sondern durch Zurechnung zu den „so genannten indifferenten Dingen“ gerechtfertigt wird. Und genau damit nun bringt Kesler ein gewichtiges neues Moment von Kritik in die durch jene CONFESSIO von 1693 angestoßene und seitdem in aller Öffentlichkeit geführte Tanzdebatte ein, erklärtermaßen bezogen aus einem offenbar ob seiner Geistesverwandtschaft geschätzten Dokument reformierten kirchenpolitischen Denkens und jetzt in der sich zuspitzenden Fehde zu einem eigenen gemacht, das so durchaus als ein pietistisches gelten kann. Den konkreten Hintergrund bildet hierbei ein Aufsehen erregender Streit, den der seit Mai 1691 als Hofprediger in Coburg wirkende Gesinnungsfreund des Go46 47

48

GISBERTI VOETII Theologiæ in Academ. Vltrajectinâ Professoris, POLITICÆ ECCLESIASTICÆ Pars Tertia & Ultima. Quatuor Libris adornata. Amsterdam 1676. [Johann Conrad Kesler]: Erster TRACTAT, Darinnen die Langensaltzische Schrifft ordentlich wiederleget wird. In: Gründ= und ausführliche Erklärung [s. Anm. 42], [A1v]. – Vgl. die entsprechende Stelle bei Voetius, POLITICÆ ECCLESIASTICÆ Pars Tertia [s. Anm. 46], 711: „Et certé, vix aliud puto esse motivum aut compulsorium ad defensionem aut excusationem saltationum quam Principum aut Optimatum aulicorum saltationes; quos monere, corripere, multò minus censurâ aliquâ notare verentur; ne in indignationem eorum incurrant, qui sibi, suis, ecclesiis nocere aut prodesse possint. Quod in casu de saltationibus, idem in casu de actionibus comœdiarum, de lusu aleæ, de bonorum ecclesiasticorum absumedine sub assumtis & ementitis titulis Romano-ecclesiasticis, de mordentibus & crudelibus usuris, de luxu & vanitate in vestibus & corporis ornatu aliisque excelsis mundi, denique de sabbathi sanctificatione & profanatione, deque provocationibus ad encyclicas poculorum evacuationes evenisse observavi.“ Vgl. in diesem Zusammenhang die Zurückweisung pietistischer Obrigkeitskritik bei Eilmar, Zerscheiterte Hoffnung [s. Anm. 34], 56: „Der grosse Hauffe der tolle Pöbel wil nicht glauben / daß weltliche Obrigkeit / Kayserthum / Fürstenthum / von GOtt sey / Gottes Wort halte / drum siehet er das weltliche Regiment vor einen Zwang an / auf seinem Halse / ein Gottloser siehet nicht auff GOttes Ordnung / Gebot und Befehl; sondern dencket nur / daß er seinen Sack fülle / und die Welt geniesse […].“

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thaer Pietistenkreises Johann Heinrich Hassel (1640–1706) Anfang desselben Jahres in seinem vormaligen Amt als Hofprediger in Bayreuth, einem gleichfalls für seine musikalischen Lustbarkeiten bekannten Fürstensitz, vom Zaun gebrochen hatte.49 Gegenstand war dabei nicht das „Weltübliche Tantzen“ an sich gewesen, sondern dessen höfische Erscheinungsform, das offensichtlich auch in Bayreuth ausgiebig gepflegte Balletttanzen, das der pietistische Hofgeistliche als einen Stachel empfand und das ihn schließlich zu einer überaus kritischen Stellungnahme veranlasste, dokumentiert in einem auf den 20. Februar 1691 datierten Manuskript mit der Aufschrift „H[err]n Haßels Gutachten Von ballet Tantzen“.50 Indem sich nun das Konsistorium in einem vom Markgrafen in Auftrag gegebenen Gutachten über jene Stellungnahme gegen die von Hassel vertretene Auffassung aussprach, dieser aber seinen Standpunkt vehement verteidigte, war das Schicksal des widersetzlichen Hofpredigers besiegelt. Doch weniger als die bereits im März erfolgte Amtsenthebung selbst ist hier die Reaktion des Entlassenen von Belang: In einem Schreiben vom 26.3.1691 rechtfertigt sich Hassel gegenüber der Markgräfin: […] ihrer Bitte um Erklärung, im Eifer etwas zu weit gegangen zu sein, könne er leider nicht nachkommen. Es handele sich nämlich um eine Sache, welche nicht ihn, sondern die göttliche Majestät betreffe. Wenn er jetzt nachgebe, würde er Gott verleugnen. Es gäbe wenige, welche die Wahrheit sagen. Er müsse jetzt kämpfen – wie einst der Prophet Elia gegen 450 Baalspfaffen oder wie der Prophet Micha gegen Ahab und die 400 Lügenpropheten.51

Haben wir in Hassel demnach den Prototyp eines frommen Streiters „wider das Tantzen“ vor uns, der dieses besonders in seiner in der „Welt“ hochangesehenen höfischen Ausprägung angreift und Kritik an ihm damit in hohem Maße zu Sozialkritik werden lässt, so ist der bei seinem „Weggang […] aus Bayreuth“ zum „Märtyrer“52 gewordene Ballettfeind zugleich Zeuge dafür, dass eine derartige radikale Tanzkritik gerade bei solchen Vertretern der neuen Frömmigkeitsbewegung Gestalt annahm, die – wie eben auch Kesler und Wiegleb – im unmittelbaren Umkreis eines ausgemacht tanzfreudigen Hofes wirkten. Von daher kann man annehmen, dass Franckes außerordentliches Engagement in dieser Sache nicht zuletzt aus solcher Zeugenschaft nahestehender Mitstreiter erwachsen ist. Die Forderung, vom „Tanzgreuel“ abzulassen, als essentieller Teil der pietistischen Bemühungen um Wiederaufrichtung der „Kirchen=Zucht“, hatte schon vor Franckes Wortmeldung in dieser Angelegenheit starke Verfechter, von denen sich Gothaer Tanzgegner wie Kesler und Wiegleb auf weithin puritanisch-calvinistischen Leitbildern verpflichtete Reformen im eigenen Lande53 berufen konnten. Mehr noch: Wenn es in Franckes „Vorrede“ zur Gründ= und ausführlichen Erklärung heißt, dass es gelte, 49 50 51 52 53

Vgl. Volker Wappmann: Pietismus und Politik. Zur Biographie von Johann Heinrich Hassel (1640–1706). In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 67, 1998, 27–59, hier: 43–45 (4. Er wendet sich gegen das Tanzen und muß deshalb seinen Abschied nehmen). AFSt/H D 81: 43–49. Wappmann, Pietismus und Politik [s. Anm. 49], 45. Ebd. Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002 (LStRLO, 1).

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mit dem „weltlichen Sinn […] die Lust zum Tantzen“ abzulegen, und darauf zu bedenken gegeben wird: Aber das ist die Sache / daß die Menschen / und sonderlich die Fürnehmen und Reichen / so gern ein halbirtes Christenthum haben / da man zugleich GOtt und der Welt […] diene. Mit dem Maul schreyet sichs leicht: Gute Nacht o Wesen / das die Welt erlesen / mir gefälst du nicht; Aber es ist keine Warheit / und zeiget sich gar anders / wenn es auf die Probe kömmt,54

oder wenn am Schluss an Gott die Bitte ergeht: „Wecke die Obrigkeiten auff / daß sie nicht mehr mit bösem Exempel und mit aller Eitelkeit und Uppigkeit ihre Unterthanen ärgern“,55 so bleibt zu fragen, ob sich die Deutlichkeit dieser Worte nicht wesentlich dem von Kesler mit jenem Voetius-Zitat angeschlagenen scharfen Grundton der Erklärung verdankt.56 Und ganz der Hassel’schen Ballettkritik entspricht schließlich ein weiteres von Kesler ins Feld geführtes höchst bemerkenswertes Zitat, dessen Quelle allerdings nicht genauer angegeben und bisher auch nicht zu ermitteln gewesen ist – in diesem Falle eingebaut in einen Passus jener „Vorbereitung“ zu seiner Abhandlung, in dem Tänze der unteren sozialen Schichten und solche der „vornehmen“ Gesellschaft als ähnlich anstößig eingeschätzt werden: Sonderlich geschiehet bey Bauren und anderer gemeiner Leuthe Täntzen / daß das Weibes=Volck ärgerlich herumb geschwungen / und dadurch zur Entblößung Ursach gegeben wird. Und daß auch bey den Frantzösischen Täntzen offtmahls ärgerliche Stellungen vorgehen / zeiget der Autor des kurtzen lateinischen Gesprächs der Vernunfft mit den Affecten, so an einem gewissen Orth mit angefüget wird / wenn Er absonderlich eine gewisse Art des Frantzösischen Tantzes genant Menuet, beschreibet / daß in solchen das Frauen=Zimmer und Manns=Person ihre Augen beständig gegen einander richteten / da denn bey der Mannigfältigen Bewegung der Leiber / nothwendig auch die Augen mannigfaltig beweget würden / so daß ein Geschlecht dem andern die passionirte Bewegungen der Augen gleichsam zeigen müste; Ferner daß man mit den Leibern bald nah zusammen kähme / bald wieder voneinander wiche / da man durch unzehlige Minen der Person mit welcher man tantzte / gleich gegen über seine inclination zuverstehen geben könte.57 54 55 56

57

August Hermann Francke: Vorrede. In: Gründ= und ausführliche Erklärung [s. Anm. 42], b1r. AaO, [b4v]. In Franckes erster ausführlicher Stellungnahme zur Frage des Tanzens in einem vor Pfingsten 1691 verfassten Brief an Caspar Sagittarius (1643–1694), entstanden offenbar im Zusammenhang mit der Kunde von Johann Heinrich Hassels hohe Wellen schlagendem Auftreten als Ballettkritiker, sind derartig deutliche Worte jedenfalls noch nicht zu vernehmen (vgl. Vier Briefe August Hermann Francke’s. Hg. v. Gustav Kramer. Halle/Saale 1863, 6–8). Franckes anschließende Bemerkungen zum Fall Hassel selbst weisen allerdings schon stark in die Richtung der mit jenem Voetius-Zitat zum Ausdruck gebrachten Kritik: „Jüngst hat nach Bericht der Hofprediger zu Bareit seinen Hof in dieser Sachen gestrafet. Die Herrschaft holt ein responsum ein beym Consistorio, welche sprechen es sey recht, David habe auch getantzet. Darauf will man den Hofprediger absetzen. Sind das nicht geistliche Consistoriales?“ (aaO, 8). [Johann Conrad Kesler], Erster TRACTAT [s. Anm. 43], Vorbereitung, 2 f. – Als Entsprechung dazu vgl. [Johann Hieronymus Wiegleb]: Anderer TRACTAT, Darinn die gantze Sache vom Weltüblichen Tantzen als in einem kurtzen Begriff verfasset / und aus dem wahren Grunde des Christenthumbs recht eigentlich gezeiget wird / wie sündlich und Christen unanständig dasselbe sey. In: Gründ= und ausführliche Erklärung [s. Anm. 42], 131: „Ferner wird gehüpffet und gesprungen mit eiteler Verstellung der Leibes=Glieder / indem man die Beine so und so künstlich versetzen lernet / nur daß man dem Weibs=Volck desto besser gefallen / und daßelbe

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Dass hier mit dem „Frantzösischen Tantz genant Menuet“ ein wegen seiner „Künstlichkeit“ von „vornehmen Leuten“ besonders ästimierter aristokratischer Tanz geradezu zum Inbegriff unehrbaren Sichdarstellens wird,58 ist für den sozialkritischen Akzent der Gründ= und ausführlichen Erklärung nur allzu bezeichnend. Und zugleich bietet nicht zuletzt diese Stelle eine Handhabe für die Relativierung der von Kurt Petermann getroffenen Feststellung, nach der „zum ersten Male“ in jenem Bedencken Johann Christian Langes von 1704 „nicht nur der traditionelle Tanz und die Tanzanliegen der ländlichen Bevölkerung als sündhafte und moralisch gefährliche Betätigung“ aufs Korn genommen wurden, „sondern die galante Tanzkunst und das kunstmäßige Tanzen“59 mit in die Kritik gerieten. 6. DIE ENTSTEHUNG DER GRÜND= UND AUSFÜHRLICHEN ERKLÄRUNG IM LICHTE ZWEIER BRIEFE JOHANN CONRAD KESLERS Im Unterschied zu seinem als „Refutant“ auftretenden und dabei die Leitlinien der Argumentation vorgebenden Schulkollegen verfährt Wiegleb in seiner Abhandlung vor allem pädagogisch-lehrhaft, wie deren Titel ebenfalls leicht zu entnehmen: Anderer TRACTAT, Darinn die gantze Sache vom Weltüblichen Tantzen als in einem kurtzen Begriff verfasset / und aus dem wahren Grunde des Christenthumbs recht eigentlich gezeiget wird / wie sündlich und Christen unanständig dasselbe sey. Als Spiritus rector ist es denn auch Kesler, der in seinem „Vorbericht an den Warheit liebenden Leser“ die unterschiedliche Gewichtung der beiden Texte, eben in der Weise ‚hier mehr Polemik und da eher Didaxe‘, erklärt: Ob mir schon [der Langensaltzische] Autor Gelegenheit gegeben hat / das meiste beyzubringen / was von dem weltüblichen Tantzen zu wißen nöthig war / so habe ich dennoch unterschiedliches / indem ich mich einmahl an die Ordnung des Autoris gebunden / nicht so ausführen können / wie es außer solchem Fall hätte geschehen mögen. Aber da wird sich der geneigte Leser aus dem andern hier angefügten Tractat erholen können / in welchem der Christliche Autor aus dem wahren Grunde des Christenthumbs zeiget / wie tantzen nach heute zu Tage üblicher Arth Sünde und Christen unanständig sey. Und dieweil er es nicht eben mit einem gewißen Wiedersacher zu thun gehabt / so hat er sich seiner Freyheit bedienen und alles ordentlich und kurtz faßen können.60

Doch bei aller Plausibilität dieser Erklärung entsprach ein derartiges arbeitsteiliges Vorgehen der beiden Autoren wohl kaum einem ursprünglichen Plan. Durchaus möglich, dass man anfangs auch an eine getrennte Veröffentlichung beider Traktate gedacht hat. Erst indem sich Francke endgültig des Ganzen annahm, gewann es seine überzeugende Form und damit seine Stoßkraft.

58 59 60

reitzen möge […]. Man suchet durch solch künstliches Tantzen und nettes Verhalten Ehre bey vornehmen Leuten einzulegen / sich zu recommendiren / und groß in der Welt zu werden […].“ Vgl. das in Anm. 57 gebotene Zitat aus Wieglebs Traktat. Pasch, Beschreibung [s. Anm. 4], Nachwort, XVIII f. [Johann Conrad Kesler]: Vorbericht an den Warheit liebenden Leser. In: Gründ= und ausführliche Erklärung [s. Anm. 42], [c2r].

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Vorausgegangen war dem ein längeres Zirkulieren der beiden Manuskripte zum Zweck gründlicher Begutachtung, wohl aber auch zur Abstimmung darüber, wo diese am besten zu publizieren seien. Aus dem Postskriptum eines Briefes von Spener an Francke vom 31. November 1696 erfahren wir, dass der damalige Hauslehrer bei Spener, Israel Clauder (1670–1721), den Auftrag hatte, „M[agister] Wiegleben manuscriptum“ dem Hallenser zu übergeben und des Autors Bitte zu übermitteln, „es auch durch [zu] lesen und [zu] censiren“.61 Der in der Edition des Spener-Francke-Briefwechsels gebotene Kommentar teilt dazu mit: Die Korrektur des Manuskripts, das auch Breithaupt vorlag, verzögerte sich. Obwohl Wiegleb bereits am 1.12.1696 darum bat, daß der Druck in Halle umgehend beginnen solle, erschien die Schrift erst 1697 mit einer vom 27.7. dieses Jahres datierenden Vorrede Franckes […].62

Und nicht weniger bemerkenswert ist der folgende Teil des zitierten Postskriptums sowie der Kommentar dazu in ebenjener Edition: „[…] hie sende ich meine gedancken darüber sub volante: so nach belieben ihm mag zugefertigt werden. Der Herr richte auch solches werck zum besten.“63 Zur Stelle „hie sende ich meine gedancken darüber“ lesen wir in der betreffenden Anmerkung: „Wohl das nicht vollständig überlieferte, siebenseitige Manuskript, dessen Verfasser gegen das Tanzen plädiert, weil jetzt, wo das Gericht Gottes unmittelbar bevorstehe, nicht Zeit zu klagen sei (AFSt/H A 143: 153 [Speners Handschrift]).“64 Dies ist es, was man bisher über die Entstehungsgeschichte unseres Werkes wusste. Weiteren Aufschluss nun geben zwei bislang kaum beachtete Briefe Keslers an Francke vom April 1697, die im Anhang vollständig nachzulesen sind. Diesen fünf Monate nach jenem Spener-Brief verfassten Schreiben im Umfang von je einem Blatt lässt sich entnehmen, dass in der Zwischenzeit ein intensiver Austausch zwischen den beiden Autoren einerseits und Francke als „Zensor“ andererseits stattgefunden hatte, die Endfassung der Manuskripte also das Ergebnis einer gründlichen Überarbeitung gewesen ist. Das heißt, wenn Kesler im ersten Brief von Zusendung der beiden Traktate „in optima forma“ spricht,65 so dürfte der lateinische Ausdruck hier wohl im Sinne von ‚in verbesserter Form‘ zu verstehen sein. Dieser „nebst einem paquete“66 mit den druckfertigen Manuskripten versandte erste Brief ist datiert „Gotha den 20. April 1697“. Er beginnt mit einem Dank an den Adressaten für die Übersendung von Materialien, die zur Erweiterung der beiden Traktate gedient hatten. Dann aber geht es in medias res, indem sich Kesler unmittelbar anstehenden Fragen wie vertraglichen und personellen Problemen zuwendet, dabei wiederum auf das Eilige der Sache abhebend. In diesem Zusammenhang wird ein interessanter Hinweis darauf gegeben, wie man im Vorhinein selbst für eventuell erforderliche akademische Gutachter gesorgt hatte und wie die Erstellung eines 61 62 63 64 65 66

Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, 475. AaO, 475, Anm. 26. AaO, 475. AaO, 475, Anm. 27. AFSt/H C 210: 10. Vgl. den Vermerk am Ende der auf einem zweiten Blatt befindlichen Außenadresse.

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Gutachtens zu beschleunigen war. Verbunden mit dem Zensur-Gedanken ist der im Folgenden erklärte Verzicht auf Nennung der Autorennamen: Wir haben mit fleiß die Nahmen nicht drunter setzen wollen, und ist es gewißer Umbstände wegen nöthig, daß es nicht gar zu publiqu[e] werde, daß wir autores des Wercks sind. Ich habe im ersten Tractat mehr polemicè verfahren müßen der l[iebe] M[agister] aber in dem andern mehr theticè.67

Dies ist die Stelle, an der Kesler näher auf Inhaltliches zu sprechen kommt, um seinen Briefpartner schließlich bei einem besonders schwierigen Problem als Mentor in Anspruch zu nehmen. Den Bezugspunkt bildet hier eine vom „Langensaltzischen Autor“ als einen Autoritätsbeweis für die Zulässigkeit des Tanzens herangezogene Äußerung Luthers zur Frage der Hochzeitstänze, die sich in dessen Kirchenpostille, und zwar in der zweiten Predigt zum 2. Sonntag nach Epiphanias (Joh 2,1 ff.),68 findet und die Keslers „Wiedersacher“ in seiner Schrift unter „VI. Beweißgrund“ mitsamt einem Verweis auf Johann Gerhards (1582–1637) Schola Pietatis angeführt hatte: Dasjenige was die allerbesten und wegen ihrer hohen Gaben in Lutherischer Kirche berühmtesten Theologi […] approbiret […] / das können ja die / welche dem æstim [und] Authorität [nach] bey der gantzen Lutherischen Kirchen ihnen nicht gleich seyn / nicht für Greuel achten. Beweiß. […] Das Tantzen uff Hochzeiten nach heutigen üblichen Brauch / improbiren die besten nicht / darum etc. Beweiß. Lutherus in der Kirchen=Postill / Dom. 2. Epiph. untersuchet diß gar eigentlich / und prediget: weil es Landes Sitte ist / gleich wie Gäste laden / schmücken / essen und trincken und frölich seyn / weiß ichs nicht zu verdammen ohne das übermaß so es unzüchtig oder zu viel ist […]. Wo es aber züchtig zugehet / laß ich der Hochzeit ihr Recht und Brauch / und Tantze immer hin: der Glaube und die Liebe lassen sich nicht aus tantzen / so du züchtig und mäßig drinnen bist / […] der Tantz ist an ihm selbst nicht Sünde. D. Gerhardus. Schol. piet. præcept. 6. Lib. IV.69

Worin nun die Schwierigkeit einer „Antwort“ hierauf bestand, lässt sich gut mit Hilfe von Walter Salmens tanzgeschichtlichem Standardwerk Tanz im 17. und 18. Jahrhundert erklären: Die europaweit in allen Ständen gewichtigste, rechtlich und sozial bedeutendste Gelegenheit zum Tanzen boten die Feiern von Hochzeiten. Bei diesen Anlässen wurden alle Arten von Tänzen […] gebraucht, und zwar deshalb, weil das Fest der Eheschließung durch Bräuche und Konventionen, aber auch durch altüberlieferte Rechtspraktiken sowie soziale Zwänge bestimmt wurde. […] Hochzeitstänze schätzte man deswegen oft als rechtsverbindliche Pflichttänze ein, deren Unterlassung die Ungültigkeit der Zeremonie zur Folge haben mußte.70

Zu diesem von daher besonders heiklen Punkt der Auseinandersetzung schreibt Kesler, dabei vorab die gewählte Argumentationsstrategie anzeigend und schließlich seinem Briefpartner letzte Änderungen am vorliegenden Text anheimstellend: 67 68 69 70

Ebd. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 17/2. Weimar 1927, 64, Z. 16–29. [Anonymus], Tantzen [s. Anm. 41], 18 f. Walter Salmen: Tanz im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 1988 (Musikgeschichte in Bildern, IV/4), 13.

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Wolfgang Miersemann Daß ich auch aus den Patribus und anderen autoribus einiges vorgebracht, habe ich gethan, weil ich weiß, daß die Menschen am meisten vor der autoritæt erschrecken. Der Orth Lutheri, den der langensaltzische Autor anführet,71 hat mir am meisten zuthun gemacht, und weiß ich nicht, ob ich gut genug auff denselben geantwortet. Hätte der liebe Herr Prof[essor] soviel Zeit, daß er nur die antwort auff diesen orth durchlesen könnte, und Er noch was gründlichers darwieder einzuwenden wüste, so wäre mir es lieb, wenn er nur meines, was nicht den Stich halten will, ausstriche, und es anders hinsetzte.72

In der Tat lässt die entsprechend unter „VI. Beweißgrund des Autoris“73 gegebene zehnseitige „Antwort“74 die große Mühe erkennen, die in diesem Falle die „Wiederlegung“ bereitet hat. Wie in der zitierten Briefstelle angedeutet, setzt der Gothaer Pietist hier tanzkritische Äußerungen der Kirchenväter als in ihrer Gewichtigkeit Luthers „gelindes Urtheil vom Tantzen“75 gewissermaßen entkräftende Gegenstimmen ein, nicht ohne seinen Gegner auf „ihrer mehr“ gesammelte in Werken autoritativer Theologen zu verweisen, wie etwa Gottfried Arnolds (1666–1714) „Abbildung der ersten Christen / lib. 4. cap. 6“, Melchior Ambachs (1590–1559) „Confutat. Jac. Zazii de saltat.“ oder Voetius’ „Disput. select. part. 4. de Excelsis mundi p. 326. seqv.“.76 Da Keslers Manuskript (wie auch dasjenige Wieglebs) nicht überliefert ist, können wir leider nicht feststellen, ob Francke bei dieser schwierigen „Antwort“ tatsächlich letzte Hand angelegt hat. Der zweite Brief trägt das Datum „Gotha den 25. April 1697“.77 Aus diesem Brief erfahren wir, was zu Beginn des vorigen mit den „zugeschickten blättern“ gemeint war, aus denen Kesler seinen Traktat „vermehret“ hatte. Allem Anschein nach handelte es sich bei diesen „blättern“ um nichts anderes als um eine Vorform jenes dann zur „Vorrede“ des Ganzen umgestalteten Textes, den Francke offenbar zunächst zu eigener Verständigung verfasst und seinen ehemaligen Schülern als Hilfe für ihre Arbeit an der Endfassung der beiden Abhandlungen zugeschickt hatte. In diesem Brief geht Keslers Vorschlag freilich dahin, den Text den beiden Traktaten als eine Zusammenfassung anzuhängen, nicht ohne allerdings auch eine Voranstellung desselben zu erwägen. Diesem beiläufigen Gedanken einer auch möglichen Voranstellung seines „Auffsatzes“ hat Francke schließlich entsprochen und dem Ganzen so seine Schlagkraft verliehen. Als Zusammenfassung des Folgenden hat der Vorredentext denn auch den Status einer Grundschrift pietistischer Kulturkritik erlangt – doch vollends erschließt er sich eben erst in seiner Beziehung zu den bisher kaum berücksichtigten „zwey Tractätlein“, die ihm folgen. Damit kann die 1697 in einem sorgfältigen Druck herausgebrachte gemeinsame Erklärung von Kesler, Wiegleb und Francke als Zeugnis einer Verbindung von thüringischem und Halleschem Pietismus gelten, wie sie enger nicht hätte sein können. 71 72 73 74 75 76 77

Vgl. das in Anm. 69 nachgewiesene Zitat. AFSt/H C 210: 10r f. [Johann Conrad Kesler], Erster TRACTAT [s. Anm. 43], 78. AaO,79–89. AaO, 85. AaO, 80. AFSt/H C 210: 11.

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Tanzkritik aus dem Thüringischen

ANHANG: ZWEI BRIEFE JOHANN CONRAD KESLERS AN AUGUST HERMANN FRANCKE Johann Conrad Kesler an August Hermann Francke. Gotha, 20. April 169778 Immanuel!

Gotha den 20. April 1697

Theürer lieber H[err] Professor Der liebe br[uder] Wiegleb und ich sagen danck vor die überschickte blätter und Nachricht wegen des Anhangs in der Fr[au] D[octor] Petersen79 ihrem buch80, welches uns beydes noch dienen müßen. Maßen ich aus den Blättern und der liebe Wiegleb aus dem Anhange unsere Tractate vermehret haben.81 Und hier senden wir sie ihm in optima forma, wie sie nembl[ich] dem Drucker82 sollen übergeben werden. Wir verlangen nicht mehr als beyde zusammen 60 exemplaria, die andere sollen alle seinen lieben Waisen=Kindern geschencket seyn: nur etliche wenige werden noch lieben Freünden sonderlich Zu Halle können geschencket werden nembl[ich] 1 H[err]n D[octor] Breithaupten83, 1 H[errn] L[icentiat] Antoni84, u[nd] 1 seinem H[err]n bruder85, 1 H[err]n Frölichshausen86, 1 H[err]n Tribbechern87 und 1 Brücknern88 und denn auch 1 H[err]n D[octor] Spenern89 zu Berlin. Die weil aber was daran gelegen ist, das diese Tractate bald heraus kommen, zumahl weil sich unser lieber Rector90 darauff bezogen, als wird der liebe H[err] Professor ersuchet, dem Verleger91 es ja sehr zu inculciren92, daß er förderlichst93, seinem Versprechen nach, mit den Druck anfangen laße: it[em] auch dieses, daß er das Werck einem guten Menschen in die correctur gebe, damit er sich wegen des verkauffs darnach nicht selber in lichte stehe, wenn das werck durch viele druckfehler dehonestiret94 und obscur95 und undeutlich gemachet wird. Ich hoffe der liebe Herr Prof[essor] wird selbsten dafür sorgen helffen, daß der Drucker einen feinen Menschen bekomme. Wäre es nöthig, daß es cum censura alicujus Academiæ96 heraus kähme, so haben sich Giesenses97, welchen davon Nach78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97

AFSt/H C 210: 10. Vgl. auch die Beschreibung des Briefes in der Datenbank zu den Einzelhandschriften, die in den historischen Abteilungen des Archivs der Franckeschen Stiftungen aufbewahrt werden (http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl [22.4.2018]). Johanna Eleonora Petersen (1644–1724). Gemeint ist Johanna Eleonora Petersen: Erster Anhang: Von dem geistlichen Kampff […]. In: dies., Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi […]. Frankfurt/Main, Leipzig 1696, Dreyfacher Anhang […], 3–52. Vgl. [Johann Hieronymus Wiegleb], Anderer TRACTAT [s. Anm. 57], 154–157 mit Petersen, Erster Anhang, aaO, 10–12. Vgl. Anm. 30. Joachim Justus Breithaupt (1658–1732). Paul Anton (1661–1730). Augustin Anton (* 1668). Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739). Johannes Tribbechow (1677–1712). Georg Heinrich Brückner (1652–1700). Philipp Jakob Spener (1635–1705). Gottfried Vockerodt. Vgl. Anm. 29. Einzuprägen. Baldigst. Entwürdigt. Dunkel. Mit Zensur irgendeiner Hochschule. Die Gießener.

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Wolfgang Miersemann richt geben laßen, erbothen solche zuertheilen, und könnte der Verleger, wenn ihm was daran gelegen, wo die helfft fertig, solche schicken, daß selbe nach Gießen übersendet würde: und dann auch nachgehends die andere helffte. Doch wo nicht eben viel dran gelegen ist, so mögte es unsert halben auch wohl nachbleiben98. Wir haben mit fleiß die Nahmen nicht drunter setzen wollen, und ist es gewißer Umbstände wegen nöthig, daß es nicht gar zu publiqu[e] werde, daß wir autores des Wercks sind. Ich habe im ersten Tractat mehr polemicè99 verfahren müßen der l[iebe] M[agister] aber in dem andern mehr theticè100. Und hoffe ich, es soll das meiste, was von dieser Sache zuschreiben nöthig ist, in diesen unseren Tractaten vorkommen. Daß ich auch aus den Patribus101 und anderen autoribus [10v] einiges vorgebracht, habe ich gethan, weil ich weiß, daß die Menschen am meisten vor der autoritæt erschrecken. Der Orth Lutheri102, den der langensaltzische Autor103 anführet, hat mir am meisten zuthun gemacht, und weiß ich nicht, ob ich gut genug auff denselben geantwortet. Hätte der liebe Herr Prof[essor] soviel Zeit, daß er nur die antwort auff diesen orth durchlesen könnte, und Er noch was gründlichers darwieder einzuwenden wüste, so wäre mir es lieb, wenn er nur meines, was nicht den Stich halten104 will, ausstriche, und es anders hinsetzte. Wollen aber die Geschäffte solches nicht zulaßen, so mag geschrieben seyn, was geschrieben ist. Der liebe br[uder] Wiegleb ist zwar zufrieden, daß nun erst mit seinen andern tractätgen angefangen werden soll; jedoch bittet er nebst herzl[ichem] Gruß, gar sehr, daß man doch den Verleger bewege, daß er dieselbe schleünigst drucken und fertig machen laßen möge, die weil auch hier gar sehr darauff gewartet wird. Hiermit überlaße denselben der Treüe und liebe unsers himmlichen Vaters verharrend Meines hertzlich geliebten H[err]n Prof[essors] hertzlichergebener Joh[ann] Conr[ad] Kesler P. S. Der l[iebe] Wiegl[eb] grüßet nebst mir meiner Fr[au] u[nd] Schwester Jhn u[nd] seine Liebste hertzl[ich]. Ich bitte durch H[err]n Brücknern oder H[err]n Tribbechern unschwer wißen zulaßen, ob diese unsre Sachen zurecht kommen. Der orth Lutheri ist enthalten argum[ento] VI part[e] 1105 und thut mir sonderlich dieses keine satisfaction106, was ich zur Entschuldigung Lutheri fürbringe, welches ich fürnembl[ich] geändert haben mögte.

98 99 100 101 102 103

Unterbleiben. Streitbar. Lehrhaft. Kirchenvätern. Die Luther-Stelle (vgl. das in Anm. 69 nachgewiesene Zitat). Als Verteidiger des „Weltüblichen Tantzens“ auftretender Anonymus, auf den Kesler mit seinem Traktat antwortet (vgl. dazu oben unter Abschnitt 4). 104 Stichhaltig sein. 105 In Beweisgrund VI, Teil 1 (vgl. die Angabe in Anm. 73). 106 Befriedigung.

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Tanzkritik aus dem Thüringischen

Johann Conrad Kesler an August Hermann Francke. Gotha, 25. April 1697107 Immanuel!

Gotha den 25. April 1697

Teürer lieber H[err] Professor Ich hoffe der Tractat von dem tantzen wird zu recht überbracht worden seyn, welchen ich vorigen Mittwoch durch die Zerbster post überschicket habe. Jetzo schicke die blätter, die Er von dem Tantzen auffgesetzt, wieder mit bitte, sie als einen Anhang an unser Werck mit andrucken zulaßen, denn obschon die von Ihm angeführte arg[umen]ta mehrentheils in unserem Werck werden enthalten seyn, so sind sie doch in seinem Auffsatz so fein beysammen, und dienet die vis108 weite mehr ad convincendum109, als wenn die argumenta so hin und her zerstreüet werden, da es gleichsam scopæ dissolutæ110 sind. Hierzu kommet, daß nicht alle ein solch weitläufftig Werck als unsers ist lesen können, die sich doch nicht wayern111 werden, ein so weniges zulesen. Es schadet auch nicht, daß wir einige expressiones112 schon daraus genommen. Denn wenn man auch gleich alles noch in unserm tractat, welches doch nicht angehen wolte, noch hieringebracht hätte, so kente dieses noch als eine kurtze ανακεφαλαίωσις113 dennoch statt finden. Der H[err] Rector Vockerodt M[agister] Wiegleb und ich finden es vor gut, daß es mit angehanget werde, und hoffen demnach, daß uns der l[iebe] H[err] Prof[essor] damit gratificiren114 werde. Schickte sichs aber in solcher Ordnung in die Vorrede zubringen, so wäre es gleich viel. Wegen des jungen Franckens115 habe noch was aus dem discurs des H[err]n Rector[is] Vockerodt mit M[agister] Wiegeleben gedencken sollen, daß nembl[ich] gedachter H[err] Rector Ihm gar nicht an seiner fortun116 hindern wollen, finde es aber doch für viel rathsamer, daß er sein curriculum117 absolvire; ja er meinte er könne nicht wohl jetzo dimittiret118 werden, daß nicht unterschiedliches unserm Gymnasio nachtheiliges, daher zubefürchten sey: absonderlich würden sich die bösen buben, die sich gern der disciplin entziehen wolten, auff dieses exempel beruffen und dann [11v] auch cum pace dimittiret119 werden wollen; da sie denn leicht einen prætext120 fürwenden würden, als sey es so ein casus121 als wie mit dem jungen Francken; und meinet also gedachter Rector, es würden unsere leges122, vermöge welcher kein landeskind vor der Zeit hinweg ziehen darff, in etwas geschwächet werden. Er setzte hinzu, daß wo der junge Francke hier absolviren würde er des beneficii123 so dan fähiger seyn würde. Ja 107 AFSt/H C 210: 11. Vgl. auch die Beschreibung des Briefes in der Datenbank zu den Einzelhandschriften, die in den historischen Abteilungen des Archivs der Franckeschen Stiftungen aufbewahrt werden (http://192.124.243.55/cgi-bin/gkdb.pl [22.4.2018]). 108 Kraft. 109 Zur Überzeugung. 110 Herausgelöste Kerngedanken. 111 Weigern. 112 Ausdrücke. 113 Griech.: Zusammenfassung. 114 Eine Gefälligkeit erweisen. 115 Ernst Sigmund Francke: ein Neffe August Hermann Franckes, 1681 in Gotha geboren, Schüler am Gothaer Gymnasium, 1698 Aufnahme ins Pädagogium Regium der Glauchaschen Anstalten, wirkte später als Hof- und Kammergerichtsadvokat in Berlin. 116 Lebensglück. 117 Stundenpensum. 118 Entlassen. 119 Im Guten entlassen. 120 Vorwand. 121 Fall. 122 Schulgesetze. 123 Stipendiums.

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Wolfgang Miersemann es kente demselben hier nachdrücklicher geholffen werden, wenn er auch gleich nur ein gantz gering subsidium124 von dem H[er]rn Prof[essor] genöße, indem er in seinem angefangenen thun so leicht fortgehen, und sich beßer gründen würde, als wenn er in gantz andere Umbstände kähme, u[nd] so zureden von neuem anfangen müste. Doch wird ohn Zweiffel der l[iebe] Rector selbst deswegen an den l[ieben] H[err]n Prof[essor] schreiben. [Damit ?] schließe ich. Denselben der Treüe und Erbarmung Gottes anbefehlende. M[einem] l[ieben] H[err]n Prof[essor] Gebeth u[nd] dienstergebener J[ohann] C[onrad] K[esler] H[err] M[agister] Wiegleb u[nd] H[err] Meisel125, der gleich bey mir ist [,] laßen nebst meiner Fr[au] u[nd] Schwester den H[err]n Prof[essor] hertzlich grüßen.

124 Finanzielle Unterstützung. 125 Johann Andreas Meisel (?): 1662 in Sundhausen geboren, seit 1686 Konrektor des Gymnasiums in Waltershausen, 1703 wegen Heterodoxie seines Amtes enthoben.

THÜRINGEN – GLAUCHA UND ZURÜCK Gegenseitige Beeinflussung und Verbindungen im Bereich der Waisenfürsorge seit der Mitte des 17. Jahrhunderts Antje Schloms Bei der Gründung seines Waisenhauses im Jahre 1695 hat August Hermann Francke (1663–1727) nicht nur innovativ gehandelt, sondern bereits erprobte Varianten der Kinderfürsorge und Ausbildung rezipiert und gebündelt. Dabei machte er schon bei der Errichtung seiner Waisenanstalt in Glaucha bei Halle selbst deutlich, dass er sich insbesondere an den großen niederländischen Waisen- und Armenfürsorgeanstalten ein Vorbild nahm. Dies sind bekannte Tatsachen, die im Rahmen der umfangreichen Forschungen zu den Glauchaer Anstalten unter verschiedenen Aspekten untersucht wurden. Dass dieser Rückgriff auf bestehende Institutionen jedoch eine übliche Strategie war und Francke zudem entscheidende Impulse aus Thüringen erhielt, ist in der Forschung dagegen weniger bekannt und deshalb ein erster Untersuchungsgegenstand dieses Beitrags. Zudem hatte die Anstalt Franckes eine erstaunliche reichsweite Impulswirkung, die sich auch in Thüringen nachweisen lässt. Deshalb sollen im zweiten Teil des Beitrags Wirkungen von Franckes Anstalten im Bereich der Waisenfürsorge auf den heutigen thüringischen Raum untersucht werden. 1. VON THÜRINGEN NACH GLAUCHA Franckes familiäre Wurzeln im thüringischen Gotha, das er auch später immer wieder aufsuchte, haben ihm zweifellos Anregungen für sein späteres Werk gegeben.1 Seit 1666 lebte er mit seiner Familie in Gotha, nachdem sein Vater Johann Francke (1625–1670) durch das sachsen-gothaische Herzogshaus zum Hofrat berufen wor1

Vgl. Georg Witzmann: Zum 200. Todestage August Hermann Franckes (8. Juni 1727). In: Rund um den Friedenstein – Blätter für Thüringer Geschichte und Heimatgeschehen 4, 1927, 1. Francke hielt wohl auch in einem Dorf im Gothaer Umland um 1683 seine erste Predigt. Kurt Schmidt erkannte bereits die Wichtigkeit Gothas für Franckes Leben, wenngleich er diese im Stil des frühen 20. Jahrhunderts maßlos überhöhte: „Hier hat das Kind sein erstes großes religiöses Erlebnis gehabt, hier hat er die Schule besucht, hier hat der Student den Weg zu der ihm gemäßen Lebensrichtung wiedergefunden, hier hat der Mann in schweren Stunden mehrmals Zuflucht gefunden, hier den für sein Leben entscheidenden Entschluß gefaßt, hier die Berufung an die Stätte seiner größten Wirksamkeit erhalten.“ (Kurt Schmidt: August Hermann Franckes Beziehungen zu Gotha. In: Rund um den Friedenstein – Blätter für Thüringer Geschichte und Heimatgeschehen 4, 1927, 2–4, hier: 3 f.).

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den war.2 Es stellt sich deshalb zunächst die Frage, inwieweit Francke Impulse im Bereich der Pädagogik und der bürgerlichen und adligen Bildung im Sinne Andreas Reyhers (1601–1673)3 durch seine eigene Ausbildung am Gymnasium Ernestinum in Gotha erhalten hat. Er war hier von 1676 bis 1677 eingeschrieben und besuchte die Classis Selecta, die von Reyher bereits 1645 gegründet worden war und unmittelbar auf das Universitätsstudium vorbereitete.4 Reyher gilt als der Praktiker unter den Pädagogen seiner Zeit. Herzog Ernst I., der Fromme (1601–1675), hatte ihn in den 1640er Jahren aufgefordert, eine neue Schulordnung zu erarbeiten, die als Schulmethodus bekannt wurde. Sie gilt als das „erste moderne Schulpflichtgesetz“ und trug dem Schulwesen von Sachsen-Gotha einen herausragenden Ruf im deutschsprachigen Raum des 17. Jahrhunderts ein.5 Schüler Reyhers, darunter eben auch Francke, „haben das in Gotha erarbeitete Schulprogramm in die Welt getragen“.6 Es war ebenfalls Reyher, der 1662 erstmals versuchte, eine deutsche Schule in das lateinische Gymnasium zu integrieren, und der als Berater des Herzogs damit die Modernisierung des Volksschulwesens im Herzogtum Gotha vorantrieb.7 Reyher thematisierte auch den Lehrkörper. Die Lehrer sollten ein gottgefälliges und stilles Leben führen, der Jugend ein gutes Vorbild sein,8 auf ruhige und beson2

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Johann Francke wurde in Lübeck geboren, hatte das Danziger Gymnasium besucht und an der Universität Königsberg Jura studiert. Weitere Studienaufenthalte führten ihn nach Leiden, Paris, Basel und in zahlreiche Städte des Heiligen Römischen Reichs. Seine Frau, Anna Gloxin (1635–1709), gebar fünf Söhne und vier Töchter. J. Francke war nach Syndikatsstellen in Ratzeburg zunächst als Jurist für das hessen-homburgische Landgrafenhaus tätig, bis er 1666 in den Dienst Sachsen-Gothas trat und dort 1670 verstarb. (vgl. Johann Georg Brückner: Sammlung verschiedener Nachrichten zu einer Beschreibung des Kirchen= und Schulenstaats im Hertzogthum Gotha. III. Theil, Siebendes Stück. Handelnd [von …] VIII. Leben des F. S. Gothaischen Hof= und Justitz=Raths, Herrn Johann Franckens. Gotha 1761, 85–88). Reyher richtete unter dem Schutz seines Landesherrn, Herzog Ernst dem Frommen, zahlreiche Neuerungen im Bildungssektor ein (vgl. Magister Andreas Reyher [1601–1673]. Handschriften und Drucke. Bestandsverzeichnis. Hg. v. Annette Gerlach [u. a.]. Gotha 1992, 9 f., u. Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Hg. v. Sascha Salatowsky. Gotha 2013 [Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 49], passim). Vgl. Detlef Ignasiak: Andreas Reyhers Gothaer Schulmodell und die geistigen Bestrebungen seiner Zeit. In: Gerlach, Magister Andreas Reyher [s. Anm. 3], 9–32, hier: 24 f. Geleitet wurde die Klasse zu diesem Zeitpunkt von Johann Heinrich Rumpel (1650–1699), Magister für orientalische Sprachen und Philosophie, seit 1674 am Gymnasium Ernestinum tätig und von 1691 bis 1693 dessen Rektor (vgl. Schmidt, Franckes Beziehungen zu Gotha [s. Anm. 1], 3; Max Schneider: Die Lehrer des Gymnasium Illustre zu Gotha [1524–1859]. 1. Teil. In: Programm des herzoglichen Gymnasium Ernestinum zu Gotha, 1901, 1–24, hier: 16). Davor und danach erhielt Francke privaten Unterricht im Hause seiner Eltern (vgl. Max Schneider: Neues zu August Hermann Franckes Schulleben auf dem Gymnasium Illustre zu Gotha 1677. In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 14, 1904, 238–241). Ignasiak, Reyhers Gothaer Schulmodell [s. Anm. 4], 10. Ebd. Eine in demselben Verzeichnis abgedruckte Bibliographie zeigt die bedeutende Wirkungsgeschichte der Schriften Reyhers bis weit ins 18. Jahrhundert hinein (vgl. Gerlach, Magister Andreas Reyher [s. Anm. 3], 73). Vgl. Ignasiak, Reyhers Gothaer Schulmodell [s. Anm. 4], 25. Vgl. Andreas Reyher: I. Special- und sonderbahrer Bericht Wie nechst Göttlicher verleyhung die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften und in den Städten die unter dem untersten

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nene Art mit Kindern umgehen, auf Schläge und Prügel weitgehend verzichten und ihre Schützlinge stattdessen freundlich und väterlich behandeln.9 Diese Anordnungen aus dem Schulmethodus Reyhers rezipierte Francke in seiner Schulordnung in Glaucha.10 Francke kannte nachweislich die pädagogischen Reformbemühungen in Sachsen-Gotha, zitierte er doch bereits 1688 in einer Vorlesung die Gothaer Landesordnung11 und forderte eine frühzeitige religiöse Unterweisung von Kindern.12 Neben dem Unterricht in deutscher Sprache, der den Kindern das Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens erleichtern sollte, war für Reyher auch der Unterricht im Singen wichtig. Im Mittelpunkt des Unterrichts allerdings stand der Realienunterricht.13 In Gotha erlaubte der Herzog besagter Classis Selecta des Gymnasiums, die Francke besuchte, „den Zugang zu seiner Kunstkammer und die Benutzung von Globen, Landkarten, verschiedenen mathematischen und astronomischen Instrumenten für den Unterricht“14 – eine Praxis, die Francke in seiner eigenen Anstalt später ebenfalls einführte. Seit spätestens 1698 ließ er sich kuriose Gegenstände, Modelle und Instrumente für eine eigene Kunst- und Naturaliensammlung zusenden und besorgte gezielt Gegenstände für den anschaulichen Unterricht in seinen Anstalten.15 Ein weiterer Ort, an dem Francke Erkenntnisse im Umgang mit Waisenkindern sammelte, die er später in Glaucha einbrachte, war die kurmainzische Stadt Erfurt.16 Nach dem Verbot seiner privat veranstalteten Erbauungsversammlun-

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Hauffen der Schul-Jugend begriffene Kinder im Fürstenthumb Gotha Kurtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen: Auff gnädigen Fürstl. Befehl auffgesetzt. Gotha 1642, 4. Vgl. aaO, Cap. 1, §§ 44–48. Vgl. August Hermann Francke: Kurzer und einfältiger Unterricht. Mit einer Einleitung. Hg. v. Albert Richter. Leipzig 1892, 50–54. Vgl. Fürstliche Sächsische abermals verbesserte Landes-Ordnung / Des Durchläuchtigsten / Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Ernsten / Hertzogen zu Sachsen / Jülich / Cleve un[d] Bergk / Landgraffen in Thüringen / Marggraffen zu Meissen / Gefürsteten Graffen zu Hennebergk / Graffen zu der Marck und Ravensberg / Herrn zu Ravenstein / [et]c. Mit Beyfügung unterschiedlicher nach und nach außgegangener und darzu gehörigen Ordnungen. Zu Nutz und Wolfahrt S. Fürstl. Durchl. Unterthanen in dero Fürstenthumb publicirt und außgelassen. Gotha 1667. Vgl. Friedrich de Boor: A. H. Franckes Hamburger Aufenthalt im Jahre 1688 als Beginn seiner pädagogischen Wirksamkeit. In: August Hermann Francke 1663–1727. Hg. v. Rosemarie Ahrbeck u. Burchard Thaler. Halle/Saale 1977, 24–35, hier: 30. Vgl. Andreas Reyher: Kurtzer Unterricht: I. Von Natürlichen Dingen. II. Von etlichen nützlichen Wissenschafften. III. Von Geist- und Weltlichen Land-Sachen. IV. Von etlichen HaußRegeln. Auff gnädige Fürstl. Verordnung Für gemeine Teutsche Schulen im Fürstenthumb Gotha einfältig verfasset. Gotha 1657; vgl. auch Ignasiak, Reyhers Gothaer Schulmodell [s. Anm. 4], 27 f. Salatowsky, Gotha macht Schule [s. Anm. 3], 155. Vgl. Thomas J. Müller: Der Realienunterricht in den Schulen August Hermann Franckes. In: Schulen machen Geschichte. 300 Jahre Erziehung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Halle/Saale 1997, 43–65, hier: 55 f. Johannes Biereye hat bereits im frühen 20. Jahrhundert eine quellennahe Untersuchung zu Francke in Erfurt, in der er auf Archivalien aus Erfurt, Weimar, Magdeburg und Halle zurückgriff, vorgelegt. Wenn auch ‚sein Held‘ Francke viel zu sehr überhöht wird, ist die Darstellung genau und faktenreich (vgl. Johannes Biereye: August Hermann Francke und Erfurt. Teil I. In:

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gen17 und seiner Verweisung aus Leipzig traf Francke im Frühjahr 1690 in Erfurt ein.18 Die Augustinergemeinde19, in der er auf Empfehlung Joachim Justus Breithaupts (1658–1732)20 tätig wurde, war jene Gemeinde, in der seit 20 Jahren das lutherische Waisenhaus Erfurts ansässig war. Francke und Breithaupt waren seit Studientagen miteinander bekannt und durch frühere Predigten war auch Francke kein Unbekannter in Erfurt. Die beinahe anderthalb Jahre – von April 1690 bis September 1691 –, die Francke in Erfurt blieb, bildeten die pietistische Hochphase Erfurts.21 Sie war geprägt von Streitigkeiten mit der orthodoxen Pfarrerschaft und dem Rat der Stadt Erfurt22, in deren Folge Francke der Stadt verwiesen wurde und Breithaupt einen Ruf auf eine theologische Professur nach Halle umgehend annahm.23

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Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 21, 1925, 31–56, u. ders.: August Hermann Francke und Erfurt. Teil II. In: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 22, 1926, 26–51). Zu den sogenannten Collegia Pietatis und dem Vorwurf der ‚Pietisterei‘ vgl. Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 440–540, hier: 448. Francke hatte sich zu Studienzwecken bereits im Jahr 1679 in Erfurt aufgehalten (vgl. hierzu Biereye, Francke und Erfurt I [s. Anm. 16], 34–41). Vgl. Johannes Wallmann: Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte, Universitätsgeschichte. Hg. v. Ulman Weiß. Weimar 1992, 403–422, hier: 413; Walter Blaha: Kurmainzische absolutistische Herrschaft von 1664 bis 1789. In: Geschichte der Stadt Erfurt. Hg. v. Willibald Gutsche. Weimar 1986, 145–180, hier: 172. Breithaupt war der Nachfolger von Johann Balthasar Haberkorn (1646–1706) als Senior des Erfurter Predigerministeriums (vgl. Martin Bauer: Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens. Neustadt an der Aisch 1992, 172). In seiner Antrittspredigt vom 17.4.1687 betonte Breithaupt u. a. die Bedeutung der privaten Unterweisung, die er auch bald nach Amtsantritt einführte (vgl. Wallmann, Erfurt und der Pietismus [s. Anm. 19], 413). Vgl. Philipp Jacob Spener: Warhafftige Erzehlung Dessen was wegen des so genannten Pietismi in Teutschland von einiger Zeit vorgegangen. Frankfurt/Main 1697, 136–141; Wallmann, Erfurt und der Pietismus [s. Anm. 19], 405–408; zu den Erfurter Theologen Bartholomäus Elsner (1596–1662), Nicolaus Stenger (1609–1680) und dem späteren Gegner Franckes Zacharias Hogel (1637–1714) vgl. Holger Berg: Military Occupation under the Eyes of the Lord. Studies in Erfurt During the Thirty Years War. Göttingen 2011, 157–162. Auslöser waren die von Francke gehaltenen privaten Erbauungs- und Bibelstunden (vgl. Biereye, Francke und Erfurt II [s. Anm. 16], 33). Außerdem publizierte Francke in seiner Zeit in Erfurt einige Schriften, die den Konflikt um die sogenannten Pietisten in Leipzig nicht unbedingt vergessen ließen, wie beispielsweise: August Hermann Francke: Abgenöthigte Fürstellung Der ungegründeten und unerweißlichen Beschuldigungen und Unwarheiten Welche in dem jüngst zu Leipzig publicirten Pfingst-Patent enthalten sind. Leipzig 1691. Vgl. hierzu Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2014 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 13), 140–167. Laut Taatz-Jacobi erhielten ausgewiesene Pietisten aus Kursachsen und angrenzenden Regionen in Halle einen neuen Aufenthaltsort, um dort als ‚Neutralisator‘ zwischen orthodoxer Kirche und reformiertem Königshaus in Brandenburg-Preußen zu fungieren (vgl. hierzu auch Matthias Asche: Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbe-

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Aus Franckes Auseinandersetzungen in Erfurt und seiner letztlich erfolgten Ausweisung aus der Stadt ist nicht zwangsläufig zu schließen, dass er hier nicht auch einige Anregungen durch die Tätigkeit in unmittelbarer Nähe zum Waisenhaus erhalten und diese später umgesetzt hat. Als Prediger an der Augustinerkirche24 war er zugleich für die Inspektion des an dieser Kirche angesiedelten Waisenhauses zuständig. So schrieb er am 18. Juni 1690 aus Erfurt an seine Freundin und Bekannte Johanna Margarethe Lingke (1652–1730): „Wir haben auch die Inspektion über das Waisenhaus, und auch da Gelegenheit die Lämmer des Herrn zu weiden.“25 Aus einer Instruktion für den Waisenvater geht hervor, dass dieser die Kinder an Sonnund Festtagen in die Kirche zu führen hatte, in der Francke Pfarrer war.26 Die am lutherischen Waisenhaus in Erfurt ursprünglich vorgesehene Praxis, den Unterricht durch Schüler des benachbarten Gymnasiums durchführen zu lassen,27 setzte Francke in Glaucha später ebenfalls um: Die Unterweisung der Waisenkinder und Schüler wurde hier durch Theologiestudenten der benachbarten Universität übernommen. Dafür erhielten sie freie Kost und die Möglichkeit, sich im Unterrichten zu erproben.28 Schon Johann Amos Comenius (1592–1670) hatte erwogen, ältere und fortgeschrittene Schüler als Lehrer einzusetzen.29 Dieser wiederum besaß einen großen Einfluss auf die Pädagogik im Gothaer und Erfurter Raum,30 ebenso wie es die niederländischen Vorbilder auf das Fürsorgewesen dieser Region gehabt hatten. Auch die Orientierung an den Niederlanden stellte also eine Parallele zwischen der Erfurter und der späteren Glauchaer Waisenversorgung dar.31

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wältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts. Münster 2006, 138–141). Vgl. Biereye, Francke und Erfurt I [s. Anm. 16], 54. In Erfurt lernte Francke erstmals die Arbeit eines Gemeindepfarrers kennen, war er doch bis dato hauptsächlich als Dozent an der Universität tätig gewesen. AFSt/H D 88: 7 f., hier: 7v. „Auf die Sonn- und Festtage, soll Er so wohl vor als Nachmittage, wie auch des Mittwochs und Freytags früh mit den Kindern in die Kirche gehen.“ (AEvWE II.36, § 10). Im AEvWE finden sich auch Akten zu den Erfurter Streitigkeiten zwischen Francke und dem Rat der Stadt. Biereye erwähnt: „Ein altes Ölbild von ihm [Francke, d. Vf.n] wird jedenfalls dort aufbewahrt.“ (Biereye, Francke und Erfurt II [s. Anm. 16], 41–43, 51). Vgl. Bernhard Hartung: Die Häuser-Chronik der Stadt Erfurt. Theil II, Heft 1. Erfurt 1878, 314 f.; Antje Schloms: Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analyse und Fallbeispiele. Stuttgart 2017 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 129), Kapitel 4.2., 162–193. Vgl. Segensvolle Fußstapfen. Geschichte der Entstehung der Halleschen Anstalten von August Hermann Francke selbst erzählt. Hg. v. Michael Welte. Gießen 1994, 36 f. Vgl. Müller, Realienunterricht in den Schulen Franckes [s. Anm. 15], 45. Vgl. Christine Freytag: Der Schulmethodus. Einflüsse, Entwicklungen und Auswirkungen der Gothaer Verordnung von 1642 bis 1672. In: Gotha macht Schule [s. Anm. 3], 41–52, hier: 43. Vgl. etwa Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Claus Veltmann u. Jochen Birkenmeier (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 23). Halle/Saale 2009, 175; Fred A. van Lieburg: Niederländische Waisenhäuser und reformierter Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Udo Sträter u. Josef N. Neumann. Tübingen 2003 (HaFo, 10), 169–181, hier: 170, oder Brecht, Francke und der Hallische Pietismus [s. Anm. 17], 478.

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Francke plante ursprünglich – ebenfalls wie die Erfurter Waisenhausgründer –, ein Arbeitshaus an seine Anstalt mit anzugliedern, wodurch die Waisen ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren sollten.32 Dass es in Glaucha dazu letztendlich nicht kam, steht auf einem anderen Blatt der Geschichte. Dennoch stellte Francke einen Strick- und Spinnmeister ein, um Kinder an die Arbeit zu gewöhnen.33 Auch dass Francke nicht auf eine Anhäufung von Kapital wartete, sondern im Vertrauen auf Gott eine Einrichtung begann, die sich anfangs – quasi von der Hand in den Mund – von einkommenden Spenden finanzieren musste, entsprach dem diesbezüglich ebenfalls erfolgreichen Erfurter Vorbild.34 Ebenfalls sprachen die Erfurter von ihrem Waisenhaus als einer „Baumschule“35, die starke Pflanzen hervorbringen sollte, ähnlich wie Francke das Glauchasche Waisenhaus später einen „Pflanzgarten“ nannte36, wobei es sich hierbei um einen weit verbreiteten Begriff handelte.37 Zu den Anregungen aus Erfurt könnten auch der strikte Tagesablauf38 und die Rolle des Musikunterrichts einschließlich der Einführung eines Gesangbuches gehört haben.39 Ein bedeutender Impuls aus Erfurt bestand darin, dass ein Teilnehmer an den Erfurter Collegia pietatis der Alchemist Burgstaller war, von dem Francke auf 32 33 34

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Vgl. Otto Podczeck: August Hermann Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der grosse Aufsatz. Berlin 1962, 139. In der 1. Fortsetzung der Fußstapfen teilt Francke die ausführliche Instruktion für den Strickmeister mit (vgl. Francke, Segensvolle Fußstapfen [s. Anm. 28], 161 f.). Vgl. Udo Sträter: August Hermann Francke und seine „Stiftungen“. Einige Anmerkungen zu einer sehr bekannten Geschichte. In: Vier Thaler und sechzehn Groschen. August Hermann Francke, der Stifter und sein Werk. Hg. v. Paul Raabe [u. a.] (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 5). Halle/Saale 1998, 15–31; AEvWE Urkunden, Nr. 124, Bl. 6–13. AEvWE Urkunden, Nr. 124, unpag. AFSt/W II/-/10, Bl. 33r–42v. Vgl. u. a. Johann Doccemius: Der Güldenen auffgeschlossenen Thür J. A. Comenii Oder Des Pflantz-Garten aller Sprachen, Wissenschafften und Künsten […] Newe Außfertigunge. Hamburg 1633. Vgl. Instruktion für Meister Peter Weisebach vom 28. November 1708 (AEvWE II.36, unpag.). In Erfurt durch Nicolaus Stenger, Mitbegründer des Erfurter Waisenhauses (vgl. Ulman Weiß: Von der frühbürgerlichen Revolution bis zur völligen Unterwerfung durch Kurmainz vom Ende des 15. Jahrhunderts bis 1664. In: Geschichte der Stadt Erfurt. Hg. v. Willibald Gutsche. Weimar 1986, 103–144, hier: 142). Stenger gilt als wegweisend bei der Verwendung von Musik im schulischen Musikunterricht. Seine musikalischen Theorien und die Neuausgabe des Erfurtischen Gesangbuches waren von nicht zu unterschätzendem Einfluss (vgl. Michael Ludscheidt: „Sein Lebens=Wandel war from, ehrlich und aufrichtig“. Ein biographisch-werkgeschichtliches Porträt Nicolaus Stengers. In: Nicolaus Stenger [1609–1680]. Beiträge zu Leben, Werk und Wirken. Hg. v. dems. Erfurt 2011 [Schriften der Bibliothek des Evangelischen Ministeriums Erfurt, 2], 9–40, hier: 37; ders.: Prediger, Universitätslehrer, Senior Ministerii. Nicolaus Stenger zum 400. Geburtstag. In: Erfurter Blätter. Nachrichten aus dem Evangelischen Kirchenkreis 20, 2009, 26–28, hier: 28). In Glaucha entstand als bekanntestes pietistisches Liederbuch das von Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739) herausgegebene Geistreiche Gesangbuch (vgl. Johann Anastasius Freylinghausen: Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar. Hg. v. Dianne Marie McMullen u. Wolfgang Miersemann. Tübingen 2004–2010, sowie „Singt dem Herrn nah und fern“. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Hg. v. dens. Tübingen 2008 (HaFo, 20).

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dessen Sterbebett das Rezept für die Essentia dulcis erhielt,40 die später die wirtschaftlich bedeutendste Rezeptur aus der Apotheke der Glauchaschen Anstalten wurde.41 Erfurt dürfte demnach für die Entwicklung von Franckes Ausbildungsund Waisenfürsorgekonzept in Glaucha prägender gewesen sein, als dies allgemein angenommen wird.42 Schließlich darf nicht übersehen werden, dass es durch die Francke nach Halle folgenden Anhänger, v. a. Theologiestudenten, maßgebliche personelle Kontinuitäten zwischen Thüringen und Glaucha gab. So lebte z. B. Heinrich Julius Elers (1667–1728) zwischen 1690 und 1692 in Erfurt und war bereits seit Leipziger Tagen Franckes engster Vertrauter. Als er 1697 nach Halle übersiedelte, übertrug ihm Francke sofort die Druckerei und den Verlag.43 Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739) reiste 1691 nach Erfurt, um Francke persönlich kennenzulernen. Er wurde zunächst Hauslehrer bei Breithaupt und 1692 Franckes Adjunkt im Glauchaschen Pfarramt. Später wurde er Franckes Nachfolger im Direktorat der Anstalten in Glaucha.44 1691 reiste auch Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1730) nach Erfurt, der von 1692 bis 1702 im Gothaer Gymnasium Ernestinum tätig war und ab 1702 Franckes Nachfolger im Glauchaschen Pfarramt wurde.45 Der wichtigste Wegbegleiter jedoch war ohne Zweifel Georg Heinrich Neubauer (1666–1725), der als Mitbegründer und erster Aufseher zu den wesentlichen Mitgestaltern der Glauchaschen Anstalten zählte. Er lernte Francke schon in Leipzig kennen und folgte ihm 1690 nach Erfurt sowie 1691 nach Halle.46 Ihn sandte Francke 1697 nach Holland, um sich über die dortigen Armenfürsorgeeinrichtungen zu informieren. Diese Vorbildfunktion der Niederlande in Bezug auf die Glauchaschen Anstalten ist aufgrund ihrer bewussten Tradierung in den Franckeschen Anstalten wesentlich bekannter als die dargestellten Impulse aus Gotha und Erfurt.47

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Vgl. Julius Friedrich Sachse: The German Pietists of Provincial Pennsylvania. 1694–1708. New York [1895] ND 1979, 57. Vgl. Kinder, Krätze, Karitas [s. Anm. 31], 189. Biereye ging sogar so weit, zu behaupten, Francke hätte – wie Luther und Bonifatius – in Erfurt „die inneren Eigenschaften gewonnen oder befestigt, die sie zu den größten Vertretern der Aufgabe werden ließen, der sie ihr Leben geweiht hatten.“ (Biereye, Francke und Erfurt I [s. Anm. 16], 33). Vgl. Gustav Knuth: A. H. Franckes Mitarbeiter an seinen Stiftungen. Ein Beitrag zur Jubelfeier des zweihundertjährigen Bestehens der Anstalten A. H. Franckes. Halle/Saale 1898, 85–90; Udo Sträter: Artikel „Elers, Heinrich Julius“. In: RGG4 2, 1197. Vgl. Knuth, Franckes Mitarbeiter [s. Anm. 43], 19–26; Udo Sträter: Artikel „Freylinghausen, Johann Anastasius“. In: RGG4 3, 357 Vgl. Knuth, Franckes Mitarbeiter [s. Anm. 43], 54–58; Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 9: Biogramme Tr-Z. Leipzig 2009, 387 f. Vgl. Knuth, Franckes Mitarbeiter [s. Anm. 43], 65–69. Die maßgebliche Quellenbasis ist der im AFSt überlieferte Fragenkatalog Neubauers für diese Reise (vgl. Was bey Erbauung unsres Waysen-Hauses zu wissen nöthig sey. Der Fragenkatalog Georg Heinrich Neubauers für die Hollandreise 1697. Hg. v. Jürgen Gröschl. Halle/Saale 2003 [Kleine Texte der Franckeschen Stiftungen, 9]). Die Orientierung in der Waisenpflege an niederländischen Vorbildern war aber durchaus üblich und kein Spezifikum von Glaucha (vgl. Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge [s. Anm. 27], 138–152).

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2. VON GLAUCHA NACH THÜRINGEN Im zweiten Teil dieser Ausführungen soll im Gegenzug die Vorbildwirkung der Glauchaschen Anstalten Franckes auf andere, nach 1695 neugegründete Waisenanstalten im Thüringer Raum analysiert werden. Grundsätzlich sind im Alten Reich, wie die folgende Übersicht zeigt, Waisenhausgründungen, die sich auf die Glauchaer Anstalten als allgemeines Vorbild bezogen, von Gründungen zu unterscheiden, die einzelne Aspekte rezipierten oder mit Glaucha in kommunikativer und/ oder personeller Verbindung standen. Dabei stellt die Frage, ob diese Gründungen in der Literatur mit dem ‚Halleschen Pietismus‘ in Zusammenhang gebracht werden, einen eigenen Aspekt dar. Unter den Einrichtungen, die keinen Bezug zu Glaucha aufweisen, sind diejenigen, deren Gründung zeitlich vor der Entstehung der Glauchaer Anstalten liegt und die einen solchen Bezug deshalb gar nicht aufweisen können, abzugrenzen von Waisenhäusern, die nach der Glauchaer Gründung entstanden und einen solchen Bezug dennoch nicht erkennen lassen. 140

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Abbildung 1: Bezug zum Glauchaschen Waisenhaus nach Kategorien48

In Thüringen konnten z. B. die beiden Erfurter Anstalten von 1670 – die eine katholisch und die andere lutherisch – oder das Altenburger Waisenhaus von 1671 keinen Bezug zu Glaucha aufweisen. Trotz der Entstehung nach 1695 orientierte sich das im Jahre 1702 gegründete Waisen-, Zucht- und Irrenhaus Friedrichs II. von Sachsen-Gotha (1676–1732) in keiner Weise an den Glauchaschen Anstalten, sondern basierte auf einem früheren, gescheiterten Versuch der Errichtung eines Waisen- und Spinnhauses in Gotha. Es hatte sich dabei um eine Art Verlagsinstitut gehandelt, in dem Waisenkinder, die im Gothaer Hospital Maria Magdalena49 48 49

Grafik entnommen aus Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge [s. Anm. 27], 70. Das Hospital wurde 1221/1223 durch Landgraf Ludwig IV. von Thüringen (1200–1227) gestiftet und diente der Versorgung von Armen und Kranken; der erhaltene Neubau stammt aus dem

Thüringen – Glaucha und zurück

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untergebracht waren, auf Veranlassung einiger Tuchhändler Textilarbeiten zur eigenen Versorgung anfertigten. Das Unternehmen war 1643 von Herzog Ernst I. privilegiert, nach kurzer Zeit aber wieder aufgegeben worden.50 Wie viele Institute orientierte es sich an niederländischen Vorbildern und explizit am Amsterdamer Zuchthaus.51 Nach dem Scheitern hatte es bis zur Jahrhundertwende keine weiteren Versuche gegeben, in Sachsen-Gotha ein Waisenhaus zu errichten.52 Der zweite Versuch von 1702 war für die Versorgung von Kindern, Alten, Bettlern und anderen Unversorgten des Herzogtums gedacht. Bereits seit spätestens 1699 gab es in Gotha Bemühungen, „das höchst beschwerliche und recht sündliche betteln auf den gassen und vor den thüren gänzlich abzustellen“.53 Dabei orientierte man sich an Verordnungen in Frankfurt/Main54, Leipzig, Braunschweig, Würzburg und weiteren Orten Mitteleuropas, nicht aber an Glaucha.55 Diese Gothaer Anstalt von 1702/1703 war ein Witwen-, Waisen-, Irren-, Zucht- und Leihhaus.56 Schon die Zusammenführung erwachsener und jugendlicher Insassen stellte einen Unterschied zum Glauchaschen Institut dar, das hauptsächlich als Bildungsstätte für Waisen, Schüler und Studenten gedacht war, und auch die Kapazität war verschieden. So wurden in Gotha insgesamt lediglich zwischen 30 und 50 Waisenkinder bis zu ihrer

50

51 52 53

54 55

56

frühen 18. Jahrhundert (vgl. Johann Georg August Galletti: Geschichte und Beschreibung des Herzogthums Gotha. Gotha 1779, 204–211). Vgl. ThStAG Geheimes Archiv, KK, XVIII, Nr. 3, unpag.; Helga Raschke: Aus einer Abrechnung des Erfurter Waisenhauses für das Jahr 1684. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 64, 2003, 97–121, hier: 97–99. Das Institut war sogar auf Initiative des Fürsten eingerichtet worden, der dazu bei einem Spinnmeister, Andreas Gomprecht, hatte anfragen lassen. Dieser betrieb bereits 1642 ein Armenhaus (wohl in Erfurt oder Eisenach) mit mehr als 50 versorgten Personen. Es sollten „arme Weisen und ande[re] gesunde starke leute so dem Betteln nachgehen zu Arbeit angehalten und gewehnet werden.“ (ThStAG Geheimes Archiv, KK, XVIII, Nr. 3, unpag. [Mai 1643]). Gomprecht unterrichtete 25 arme Frauen in einigen Räumen des städtischen Spitals im Spinnen und sollte diese sukzessive durch Waisenkinder ersetzen, was letztendlich aber unterblieb (vgl. ThStAG Geheimes Archiv, KK, XXVIa, Nr. 57, unpag.). Ein Aktenkonvolut zu Amsterdamer Armenverordnungen, Zuchthaus- und Waisenhausverordnungen war in den Jahren 1638 bis 1641 für den Gebrauch im Gothaer Fürstenhaus zusammengestellt worden (vgl. ThStAG Geheimes Archiv, KK, XVIII, Nr. 2). Es gab um 1657 lediglich Pläne zur Errichtung eines Zuchthauses (vgl. ThStAG Geheimes Archiv, KK, XVIII, Nr. 1). ThStAG Generalsuperintendentur Gotha, Nr. 81, unpag. [Bl. 1r]. Um 1699 gab es in Gotha wohl zwischen 500 und 600 einheimische Bedürftige. Seit 1699 wurde eine Überprüfung derselben auf tatsächliche Armut durchgeführt („Untersuchung derer Armen welche sich in hiesiger Residenz-Stadt so wohl Bürger, Soldaten u. Frembden […] befinden“ [ThStAG Generalsuperintendentur Gotha, Nr. 81, unpag.]). Vgl. ThStAG Generalsuperintendentur Gotha, Nr. 81, unpag. [Bl. 3r]. Vgl. ThStAG Altes Rep. II, Waisen- und Zuchthaus Gotha, Loc. I, Nr. 4, unpag. [Bl. 1]. Die Inhaltsangabe listet auf: Waisen- und Zuchthaus Leipzig, Waisenhaus Braunschweig, Almosenhaus Eisleben, Stiftwaisenhaus Straßburg, Waisenhaus Eisenach, Würzburger Almosenordnung, Speiseordnung (vermutlich Halle), Zuchthaus Amsterdam, evangelisches Armenhaus Augsburg sowie Waisen- und Zuchthaus Waldheim. Vgl. Heinrich Balthasar Wagnitz: Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Nebst einem Anhange über die zweckmässigste Einrichtung der Gefängnisse und Irrenanstalten. Bd. 2.1. Halle/Saale 1794, 95.

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Vermittlung in Handwerk und Dienst versorgt57, während es in Glaucha wesentlich mehr waren. In Glaucha hingegen waren zum Zeitpunkt des Todes Franckes über 130 Waisenkinder untergebracht und stellten damit etwa zehn Prozent aller in den Anstalten versorgten und unterrichteten Kinder.58 Auch in Gotha betonte man im Blick auf die Armenversorgungsanstalt aber „Gottes sonderbahre Vorsehung“ und gestattete einzelnen begabten Kindern die Teilnahme am Unterricht im Gymnasium Ernestinum.59 Zugleich integrierte man aber ein Zuchthaus für „ungerathene Kinder, müßiggänger starcke Bettler und andere lasterhaffte Personen“, das allerdings lediglich aus „sieben Cojen oder Raspel- und Arbeits-Zellen“ bestand.60 Etwa 1775 schloss das Gothaer Waisenhaus seine Pforten; fortan wurden Waisenkinder in Pflegefamilien auf dem Lande versorgt. Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1676–1732) privilegierte zudem ein privat gestiftetes Institut in Friedrichswerth, das sich ebenso wenig an Francke orientierte. Das Friedrichswerther Witwen- und Waisenhaus wurde von Otto Christoph Schultze (1659–1728) und dessen Gemahlin Dorothea Margaretha (1669–1733) 1723 nach dem klassischen Stiftungsprinzip gegründet. Die Vorrede der Stifterurkunde stammte von Ernst Salomon Cyprian (1673–1745), einem der letzten bedeutenden Vertreter der lutherischen Orthodoxie.61 Nach dem Ableben der Stifter hatte Cyprian von 1733 bis 1745 das Direktorat dieses Waisenhauses inne. Cyprian war es auch, der eine enge Verschränkung zwischen dem Friedrichswerther und dem Gothaer Institut gewährleistete.62 Häufig sind es konfessionelle Misshelligkeiten oder eine bewusste Nicht-Imitation der Glauchaschen Anstalten, die in dieser Kategorie auffallen. Für die Waisenanstalten in Hildburghausen (1710), Weimar (1713), Sondershausen (1725) und Arnstadt (1731) gilt dies ebenso wie für das im katholischen Eichsfeld errichtete Heiligenstädter Waisenhaus (1706). Für manche Anstalten ist eine Imitation oder Nicht-Imitation aufgrund mangelnder Quellen nicht nachweisbar, so für das Waisenhaus in Schweina (1708) oder für das 1727 in Bad Langensalza errichtete Institut. Fast die Hälfte aller im Alten Reich zu Franckes Lebzeiten gegründeten Waisenhäuser ahmten die Glauchaer Anstalten konzeptionell nach.63 Übernahm ein 57 58 59 60 61 62

63

Vgl. ThStAG Neue Rep. II, Waisen- und Zuchthaus Gotha, Loc. II, Nr. 5, unpag. [Bl. 2] u. Alte Rep. II, Waisen- und Zuchthaus Gotha, Loc. I, Nr. 3, unpag. [Bl. 8]. Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge [s. Anm. 27], 237. Vgl. ThStAG Alte Rep. II, Waisen- und Zuchthaus Gotha, Loc. I, Nr. 3, unpag. [Bl. 8]. ThStAG Alte Rep. II, Waisen- und Zuchthaus Gotha, Loc. I, Nr. 3, unpag. [Bl. 9]. Vgl. Martin Schmidt: Artikel „Cyprian, Ernst Salomon“. In: Neue Deutsche Biographie 3, 1957, 454 f.; Wolf-Friedrich Schäufele: Artikel „Cyprian, Ernst Salomon“. In: RGG4 2, 507 f. Vgl. dazu Caput 9 der Stifterordnung des Friedrichswerther Waisenhauses (ThStAG Waisenhaus Friedrichswerth, Loc. I, Nr. 1, S. 21) sowie Tägliches Gebeth der Waysenkinder im Schultzischen Waysenhaus zu Friedrichswerth. Gotha 1744 (ThStAG Waisenhaus Friedrichswerth, Lag. X, Nr. 1, Bl. 57–59). Vgl. Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge [s. Anm. 27], 71. Zur Etablierung der ‚Marke Halle‘ durch Francke vgl. Holger Zaunstöck: Das „Werck“ und das „publico“. Franckes Imagepolitik und die Etablierung der Marke Waisenhaus. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke – ein Lebenswerk um 1700. Hg. v. dems. [u. a.]. Halle/Saale, Wiesbaden 2013 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 29), 259–271.

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Thüringen – Glaucha und zurück

Waisenhausgründer nicht das Gesamtkonzept, wurden dennoch z. B. pädagogische Aspekte von Franckes Institution, wie beispielsweise die Einrichtung verschiedener Schultypen, die Verringerung von körperlicher Gewalt oder ein streng durchorganisierter Tagesablauf, übernommen. Dies trifft z. B. für das fast zeitgleich mit Glaucha errichtete Waisen- und Spinnhaus in Eisenach zu. Insgesamt ergibt sich hinsichtlich des Grades der Imitation der Glauchaer Anstalten durch Thüringer Einrichtungen folgendes Bild:

1648–1694 1695–1750 1751–1806 ohne Datum

Abbildung 2: Verteilung der Waisenanstalten im thüringisch-mitteldeutschen Raum64

Auf dem Gebiet des heutigen Thüringen entstanden nur fünf Waisenanstalten vor der Gründung des Glauchaer Waisenhauses und nicht mehr als drei in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die große Gründungswelle lag zwischen 1695 und 1750, wo in den beiden Reichsstädten, den großen Residenzstädten und in jedem kleineren Territorium eine Waisenanstalt eingerichtet wurde. Zu den das Glauchaer Waisenhaus konzeptionell imitierenden Anstalten gehörten diejenigen der beiden Reichsstädte Mühlhausen65 und Nordhausen. Letztere stand in regelmäßiger Korrespondenz mit der Glauchaer Anstalt, verlegte ein ähnliches Gesangbuch und gab seit seiner Gründung 1716 parallel Nachrichten über das Waisenhaus heraus. Der Lehrer an dieser Einrichtung, Johann Lorenz Ostermann (* 1720), war 1733 in das Glauchaer Waisenhaus und 1734 in die dortige Lateinschule aufgenommen worden und hatte in Halle Theologie studiert, bevor er ab 1742 die Nordhäuser Waisenkinder unterrichtete.66 Auch das 1703 in Meiningen gegründete Institut orientierte sich an den Glauchaschen Anstalten und stand mit diesen in Korrespondenz. Bei der Einrichtung desselben wollte der Mitgründer Georg Paul Hönn (1662–1747) das 64 65 66

Grafik entnommen aus Schloms, Institutionelle Waisenfürsorge [s. Anm. 27], 26 (Ausschnitt). Vgl. Amalie Weißenborn: Geschichte der Wohlfahrtspflege in der Reichsstadt Mühlhausen. In: Mühlhäuser Geschichtsblätter 28, 1927/1928, 1–31, hier: 7, 11. Vgl. AFSt/S B I 93; Peter Kuhlbrodt: Friedrich Christian Lesser als Administrator des Nordhäuser Waisenhauses. In: Beiträge zur Heimatkunde aus Stadt und Kreis Nordhausen 17, 1992, 93–97, hier: 95.

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Antje Schloms

„Glauchische Waisenhaus […] vornehmblich pro norma et exemplo dienen laßen“ und bat deshalb um Ordnungen und Instruktionen von dort.67 Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass wesentliche Voraussetzungen für die Imitation der Glauchaer Anstalten ein gut funktionierendes Kommunikationsnetzwerk und eine hervorragende Öffentlichkeitsarbeit waren. Der Kommunikation dienten nicht nur Briefe, sondern insbesondere auch kleinere Schriften, Einblattdrucke68 sowie Zeitschriften und Nachrichten wie die berühmten Fußstapfen und somit Schriften, die man im damaligen Sinne als Massenmedium bezeichnen könnte.69 Bei den Erfolgen Franckes und der weiten Verbreitung seiner Publikationen70 verwundert es nicht, dass man bereits zu seinen Lebzeiten versuchte, gerade auch seine Kommunikationsstrategien zu imitieren. Die Nachrichten des Nordhäuser Waisenhauses sind bereits erwähnt worden,71 aber auch andere thüringische Anstalten gaben Publikationen heraus, wie etwa diejenige in Bad Frankenhausen72 oder das 1740 im reußischen Greiz errichtete Institut. In letzterem kursierte zudem eine ähnliche Erzählung über ein legendäres Gründungskapital wie in Glaucha, derzufolge sich dort anfänglich vier Taler gefunden hatten.73 Dies erinnert stark an Franckes Bericht über den Fund von vier Talern und 16 Groschen um Ostern 1695 in der Büchse vor seinem Haus, die ihn dazu veranlasst hätten, „etwas rechtes [zu] stiften“.74 Vergleichbare Legenden finden sich auch jenseits der Grenzen Thü-

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AFSt/H C 94: 1, Bl. 1. Vgl. u. a. Das Wäysen=Haus zu Glaucha vor Halle. Einblattdruck um 1705; Kurtzer Entwurff Derer unter dem Segen Gottes zu Glaucha an Halle seither Ann. 1695 Gemachten Anstalten, Und In welchem Zustande sich dieselben befunden haben im Monat Majo, Anno 1708. [S. l.] 1708; Kurtzer Entwurff der Einrichtung des Paedagogii Regii zu Glaucha an Halle. Halle/Saale 1705. Vgl. Paul Raabe u. Almut Pfeiffer: August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften. Tübingen 2001 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 5), 511–562. Vgl. hierzu Müller, Realienunterricht in den Schulen Franckes [s. Anm. 15], 43, sowie Jochen Birkenmeier: Die weltweite Ausstrahlung des Halleschen Waisenhauses. In: Kinder, Krätze, Karitas [s. Anm. 31], 100–111, hier: 101. Vgl. als frühestes Beispiel Johannes Henricus Kindervater: Die zärteste Vorsorge Gottes. Eigentliche Nachricht von der Gelegenheit und Anfange des in der kayserl. fr. Reichs-Stadt Nordhausen zu erbauenden Waisen-Hauses. Nordh[ausen] 1719. Vgl. Nachricht von dem Zustande des Fürstlich-Schwarzenburgischen Unterherrschaftlichen Waisenhauses zu Frankenhausen. Frankenhausen 1778–1788. Vgl. Johann Benjamin Osswald: Denckmahl der Guete GOttes an armen Kindern. Oder: kurze Nachricht von einigen Anstalten zur Unterhaltung, Verpflegung und Christlicher Erziehung armer Kinder und Waysen in Graitz. […] Nach welcher sie vom 1. May an biß den 11. Sept. des 1741. Jahres erhalten worden, und den 12. gedachten Sept. dieses Jahres in das Waysen-Haus einziehen, und daselbst wohnen werden […]. Graitz 1742, 9. Francke, Segensvolle Fußstapfen [s. Anm. 28], 29. Im März 1694 hatte der in Halle tätige Theologieprofessor Paul Anton (1661–1730) bereits in Eisleben ein Waisenhaus errichtet, angeblich mit einem Anfangskapital von 10 Reichstalern (vgl. ThStAG Altes Rep. II, Waisen- und Zuchthaus Gotha, Loc. I, Nr. 4, Bl. 11r–18r). Da es vor den Glauchaschen Anstalten gegründet wurde und keine weiteren Umstände dieser Gründung bekannt sind, muss offenbleiben, ob diese ‚10-Taler-Legende‘ von Francke beeinflusst wurde, oder ob sich andersherum die Glauchaer Gründungslegende vielleicht sogar daran orientierte. Vgl. zu Anton Friedrich Wilhelm

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ringens reichsweit bei Waisenhäusern, die die Glauchaer Einrichtung nachahmten. So standen dem Gründer des ostfriesischen Waisenhauses Esens, Wilhelm Christian Schneider (1677–1725), angeblich acht Taler und 18 Stüver zur Verfügung, um sein Werk anzufangen.75 Der Fuhrmann Christoph Buchen (1678–1729) habe sein Waisenhaus in Langendorf bei Weißenfels, so heißt es, mit „[z]wey Scherflein […] bald daraus 8. Thaler geworden“, begonnen76 und im heute polnischen Züllichau hätten sich eines Tages „zum Erstaunen 6 species-Ducaten in einem Papier, und über das noch so viel, daß wenige Groschen an 20 Reichsth[alern] fehlten“, um das Werk zu beginnen, gefunden.77 Die zweite Voraussetzung für Imitationen lag im Bereich personeller Bindungen, wie bereits die Beispiele Ostermann und Hönn in Nordhausen und Meiningen gezeigt haben. 1722 besuchte der Gründer des Geraer Zucht- und Waisenhauses, Heinrich XVIII. Graf von Reuß-Gera (1677–1735), Francke in Glaucha – offensichtlich, um sich für die zwei Jahre später erfolgende eigene Gründung inspirieren zu lassen.78 Allen Rezipienten des Glauchaer Modells war gemein, dass sie mit Francke sowie dessen Mitarbeitern bzw. Nachfolgern engen persönlichen Kontakt pflegten und/oder in Korrespondenz standen. Die sich im Umfeld der Glauchaer Anstalt vollziehende Netzwerkbildung war gekennzeichnet von Prozessen der Inklusion und Exklusion und ging in Glaucha mit einer Professionalisierung der „Correspondentz“ einher.79

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Hopf: Artikel „Anton, Paul“. In: Neue Deutsche Biographie 1, 1953, 319 f.; Udo Sträter: Artikel „Anton, Paul“. In: RGG4 1, 575. Vgl. Udo Sträter: Wilhelm Christian Schneider und das Waisenhaus in Esens. In: Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit [s. Anm. 31], 71–94, hier: 78. Nachricht Von der gütigen Vorsorge Gottes, Oder Kurtzer und aufrichtiger Bericht, Von der Auferbauung, bißheriger Unterhaltung und Zustand des bey Weissenfels zu Langendorf gelegenen Waysen-Hauses. Leipzig 1716, 11. Johann Christian Steinbart: Wahrhaftige und zuverlässige Nachricht von dem Zur Ehre GOttes und Erziehung armer Kinder errichteten Armen und Waysen=Hause zu Züllichau welche theils Die Siebentete Fortsetzung der anfänglichen Nachricht, von Wohlthaten und Vorfällen der Jahre 1737 bis 1744 enthält, Theils einen hinlänglichen Bericht von dem Ursprung, Anwachs., Einrichtung, Unterhaltung, Nutzen und andern Umständen des ganzen Werckes ertheilet, Nebst nöthigen Beylagen. Züllichau 1744, 65. Vgl. SBB PK Nachlass Francke, 3a/2a: 61. Vgl. Brigitte Klosterberg: August Hermann Francke und das hallische Kommunikationsnetzwerk. Bedeutung, Überlieferung, Erschließung. In: Die Welt verändern [s. Anm. 62], 157–165, hier: 157; Axel Oberschelp: Der „Pflantz-Garten eines gantzen Landes“. Lehrer und Lehrerausbildung im hallischen Waisenhaus im 18. Jahrhundert. In: Halle zwischen 806 und 2006. Neue Beiträge zur Geschichte der Stadt. Hg. v. Holger Zaunstöck. Halle/Saale 2001 (Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte, 1), 107–128, hier: 119. Zur Netzwerkbildung vgl. Erdmut Jost: Einführung. Das 18. Jahrhundert als Formierungsphase der Netzwerkgesellschaft. In: Briefwechsel. Zur Netzwerkbildung in der Aufklärung. Hg. v. Erdmut Jost u. Daniel Fulda. Halle/ Saale 2012 (Kleine Schriften des IZEA, 4), 7–14, hier: 7 f.

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3. FAZIT Es konnte gezeigt werden, dass das Konzept für Franckes Waisenhausgründung 1695 in Glaucha mit hoher Wahrscheinlichkeit substantiell aus dem Thüringer Raum beeinflusst war. Franckes Schulbildung am Gymnasium Ernestinum in Gotha als damals wohl fortschrittlichster Bildungseinrichtung Mitteldeutschlands hinterließ nachweislich Spuren in seiner später gegründeten Schulstadt, z. B. in Gestalt des Realienunterrichts, der Vorgaben für das Verhalten der Lehrer und der Einteilung in deutsche und lateinische Klassen. Die Eindrücke, die Francke durch seine erste Anstellung als Prediger an der Waisenhauskirche in Erfurt vom dortigen Waisenhaus sammelte, prägten die spätere Praxis am Glauchaer Waisenhaus. Das Zusammenspiel von Schulstunden, Arbeitsausbildung und Vermittlung religiöser Inhalte übernahm Francke in vielen Punkten vom Erfurter Vorbild. Die Art der Finanzierung und die Errichtung wirtschaftlicher Sektoren an einem Waisenhaus hatte er ebenfalls dort beobachten können. Zugleich teilte er diese Erfahrungen mit Menschen, die ihn später nach Glaucha begleiteten und sein Werk unterstützten, wie dem Herausgeber des Glauchaer Gesangbuchs, Freylinghausen, und dem Architekten der Glauchaer Anstalten, Neubauer. So wie einerseits Francke Einflüsse aus Thüringen mit nach Glaucha nahm, konnten andererseits in Thüringen auch Einflüsse aus Glaucha nachgewiesen werden. Obwohl es einige thüringische Waisenhäuser gab, die nicht durch die Glauchaer Anstalten beeinflusst waren – darunter Erfurt, Gotha und Friedrichswerth –, war der Umfang Franckescher Prägung bei der Neugründung thüringischer Waisenanstalten insgesamt nicht gering. Diese Prägung ist z. B. bei den Gründungen in den beiden Reichsstädten Mühlhausen und Nordhausen sowie in vielen der Residenzstädte nachweisbar. Maßgeblich für diesen Einfluss, auch weit über Thüringen hinaus, waren das dichte Kommunikationsnetzwerk aus Lehrern, Theologen und Förderern sowie ein herausragendes System frühneuzeitlicher Imagepolitik – gesteuert durch Francke selbst und seine Glauchaer Mitstreiter.

FROMME GRAFEN? Das höfische Leben in den reußischen Territorien in den Tagebüchern Heinrichs XXIII. von Reuß-Lobenstein (1715) und August Hermann Franckes (1718) Holger Trauzettel 1. EINLEITUNG Daß nicht allein insgemein in der Welt, sondern auch in der so genannten Christenheit und in der Evangelischen Kirchen selbst alles in einem verderbten Zustande und schrecklichen Verfall liege, mögen auch die jenigen, denen Gott die Augen nur ein wenig geöffnet, gar leicht erkennen,

konstatierte August Hermann Francke (1663–1727) im Jahre 1704 im Großen Aufsatz,1 einer handschriftlichen Werbeschrift für die von ihm in Halle begonnenen universellen Reformprojekte.2 Keinen der drei Stände – Francke unterschied in traditioneller Weise Regier-, Lehr- und Hausstand – wollte er von seiner Kritik ausnehmen und zitierte daher einen ungenannten Autor wie folgt: Im Weltlichen Stande [dem Regierstand, d. Vf.] hat der Teuffel sein Reich, Regiment und Regierung unter den Königen, Fürsten und Herrn und aller Obrigkeit, da bey ihnen nichts den eitel Greuel sind, Müßiggang Freßen, Sauffen, Spielen, jagen, Kriegen, Huren, Schinden und Schaben, Au[s]saugen und eitel Teuffeley […].3

Neben offenkundigen Lastern verurteilte Francke damit auch eingeübte Praktiken adeliger Distinktion,4 ohne aber den von Gott eingesetzten Regierstand gänzlich in Frage zu stellen. „[D]aß Gott […] auch in solchem Stande einen Samen übrig behalten, davon es aber heißen mag, eine Schwalbe macht keinen Sommer“5, sollte den adeligen Lesern dieser im engsten Förderkreis zirkulierenden Schrift Mahnung und Hoffnung zugleich sein. Wer waren diese Samen innerhalb des Regierstandes im Pflanzgarten?

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August Hermann Francke: Der Große Aufsatz. Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirchen des 18. Jahrhundert. Hg. v. Otto Podczeck. Berlin 1962, 70. Vgl. Udo Sträter: Der hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter. Bd. 1. Halle/Saale, Tübingen 2005 (HaFo, 17/1), 19–36. Francke, Der Große Aufsatz [s. Anm. 1], 71. Vgl. Michael Sikora: Der Adel in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2008, 87–90, 98–101. Francke, Der Große Aufsatz [s. Anm. 1], 71.

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Neben den adeligen Unterstützern in Berlin, allen voran Carl Hildebrand von Canstein (1667–1719)6, wusste Francke um die positive Resonanz Philipp Jakob Speners (1635–1705) während dessen Frankfurter Zeit bei einzelnen Grafenhäusern in der Wetterau oder bei Dorothea Charlotte von Brandenburg-Ansbach, Landgräfin von Hessen-Darmstadt (1661–1705).7 Aber auch in der Lausitz und in Schlesien unterstützten einige hochadelige Familien die hallischen Projekte mit finanziellen Mitteln oder durch ihren persönlichen Einsatz im hallisch-pietistischen Korrespondenznetzwerk.8 Oft übertrugen sie die theologisch fundierten Reformideen auch auf ihre Territorien, indem sie in Halle studierte Theologen einstellten, Reformen im Schul-, Kirchen- und Armenwesen einleiteten oder ein Waisenhaus nach dem Vorbild der Glauchaschen Anstalten einrichteten. Auch wenn ‚fromme Grafen‘, wie sie die ältere Forschung genannt hat,9 stets die Ausnahme innerhalb des Adels blieben, wuchs ihre Zahl im frühen 18. Jahrhundert doch spürbar. Einer der prominentesten Vertreter der ‚frommen Grafen‘ war Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz (1681–1748).10 Das Leben und Wirken dieses nachgeborenen Paragiatsherren beim Aufbau des Reichs Gottes hat Anke Brunner 2005 akribisch erforscht und Köstritz dabei als Musterbeispiel eines frommen Hofes charakterisiert. Sie beleuchtete in diesem Zusammenhang auch die Vorbildwirkung und Einflussnahme des Köstritzers auf weitere Grafen und Gräfinnen von Reuß, die in engem Kontakt mit Francke und anderen als pietistisch bezeichneten Persönlichkeiten, wie Gottfried Arnold (1666–1714) oder Johann Wilhelm (1649–1727) und

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Vgl. Peter Schicketanz: Carl Hildebrand Freiherr von Canstein. Leben und Denken in Quellendarstellungen. Tübingen 2002 (HaFo, 8); Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preussen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, 174–216. Vgl. Rüdiger Mack: Forschungsbericht. Pietismus in Hessen. In: PuN 13, 1987, 181–226; ders.: Christlich-toleranter Absolutismus. Veit Ludwig von Seckendorff und sein Schüler Graf Friedrich Ernst zu Solms-Laubach. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Giessen 82, 1997, 3–135; Jutta Taege-Bizer: Adeliges Selbstverständnis und pietistische Reform. Reichsgräfin Benigna von Solms-Laubach (1648–1702). In: Adel in Hessen. Herrschaft, Selbstverständnis und Lebensführung vom 15. bis ins 20. Jahrhundert. Hg. v. Eckart Conze [u. a.]. Marburg 2010, 293–314. Vgl. Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Halle/Saale 1996 (HaFo, 2), 101–166; Thomas Müller-Bahlke: „Weil Halle auch in dieser Gegend einigen gefährlich und verdächtig vorkommt“. Das Zusammenwirken von Adel und Pietismus bei der Gründung der Gnadenkirche in Teschen. In: „Mit göttlicher Güte geadelt“. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der fürstlichen Sammlungen StolbergWernigerode. Hg. v. Claus Veltmann [u. a.]. Wiesbaden 2014 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 31), 71–87. Vgl. Hans Walter Erbe: Zinzendorf und der fromme hohe Adel seiner Zeit. Leipzig 1928; Volker Press: Reichsgrafenstand und Reich. Zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des deutschen Hochadels in der Frühen Neuzeit. In: Adel im alten Reich. Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Hg. v. Franz Brendle [u. a.]. Tübingen 1998 (Frühneuzeit-Forschungen, 4), 113–138, hier: 131. Vgl. A. H. Franckes Briefe an den Grafen Heinrich XXIV j. L. Reuß zu Köstritz und seine Gemahlin Eleonore aus den Jahren 1704–1727 als Beitrag zur Geschichte des Pietismus. Hg. v. Berthold Schmid u. Otto Meusel. Leipzig 1905, 1–14; Erbe, Adel [s. Anm. 9], 13–25.

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Johanna Eleonora (1644–1724) Petersen, standen.11 Doch längst nicht alle Grafen von Reuß sympathisierten mit der Theologie Hallescher Provenienz. Während die finanziellen, politischen und kommunikativen Vorteile der Allianz mit einzelnen Adligen im Heiligen Römischen Reich für Francke seit dem 19. Jahrhundert immer wieder herausgestellt wurden,12 sind die Ursachen von dessen Anziehungskraft auf Teile des Adels bisher nur unzureichend geklärt. Die meist mono- bzw. bikausalen Begründungen der älteren Forschung – persönliche Frömmigkeit auf der einen, selbstwertdienliche Kompensation eines erlittenen Prestigeund Machtverlusts auf der anderen Seite – griffen zu kurz.13 Neuere Arbeiten untersuchen die innen- und außenpolitischen Potentiale, welche die Reformagenda Franckes im Bereich des Armen-, Schul- und Kirchwesens bzw. eine ‚pietistische‘ Gruppenidentität des evangelischen Adels zum Beispiel im Kollegium der Wetterauer Grafenbank bot. Voraussetzung für die Teilhabe an dieser Gruppe mit ihren spezifischen Potentialen war allerdings die glaubhafte Zurschaustellung aufrichtiger Buße, wahren Glaubens und eines frommen Lebenswandels. Wie sich höfische und pietistische Lebensführung aber in Einklang bringen ließen, wurde bisher vor allem auf der Grundlage von anlassbezogenen Briefen und normativen Quellen (Ordnungen, Predigten, Traktaten) beschrieben. Im vorliegenden Beitrag soll die Frage deshalb erneut aufgegriffen und anhand zweier Reisetagebücher für die Reichsgrafen des Hauses Reuß und deren Beziehungen zum Halleschen Pietismus untersucht werden. Im Rahmen der sogenannten Reise ins Reich besuchte Francke von Ende August 1717 bis Anfang April 1718 zahlreiche Orte in Hessen, Württemberg, Bayern und Thüringen und machte auch in mehreren reußischen Residenzen Station. Da menschliches Handeln stets intentionalen Charakter hat, spiegeln die im Tagebuch festgehaltenen Interaktionen die gegenseitigen Kommunikationsinteressen der Beteiligten aus Sicht der reisenden Hallenser wider. Im vorliegenden Beitrag wird gefragt: Wie unterschieden sich im Spiegel dieser Quelle die Besuche in Ebersdorf, Schleiz, Greiz, Köstritz und Gera im März 1718 voneinander? Der synchrone Vergleich mit Besuchen Franckes in anderen reichsgräflichen Residenzen – so in der Wetterau, dem Westerwald und dem Odenwald – ermöglicht zugleich Rückschlüsse auf die besondere Charakteristik der Beziehungen zwischen dem Hallenser und den Reußen.

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Vgl. Anke Brunner: Aristokratische Lebensform und Reich Gottes. Ein Lebensbild des pietistischen Grafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz (1681–1748). Herrnhut 2005 (UF. Beiheft, 13). Vgl. Thomas Müller-Bahlke: Die Bedeutung des Adels für das hallische Netzwerk. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke. Ein Lebenswerk um 1700. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle/Saale, Wiesbaden 2013 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 29), 181–193. Vgl. Press, Reichsgrafenstand und Reich [s. Anm. 9], 131. Press schreibt: „Unter dem Eindruck finanzieller Krisen und politischer Machtlosigkeit spielte bei den evangelischen Familien zunehmend eine Abkehr von Macht- und Einflußstreben eine Rolle.“ (ebd.) Dagegen resümiert Brunner: „Für Heinrich XXIV. war Francke nicht nur Berater in Glaubensfragen, sondern auch ein ihm persönlich besonders verbundener Mensch“ (Brunner, Aristokratische Lebensform [s. Anm. 11], 55).

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Im diachronen Vergleich wird zudem die Reise des Grafen Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein (1680–1723) im August und September 1715 in die verschiedenen reußischen Gebiete in den Blick genommen. Der „23te Herr“ hatte, ebenso wie der Köstritzer, als nachgeborener Sohn zunächst eine militärische Laufbahn eingeschlagen, ehe er 1712 seinen Dienst quittierte und begann, intensiven Kontakt mit Francke zu pflegen. Finanzielle Schwierigkeiten und die Weigerung, in den Fürstendienst einzutreten, verhinderten Zeit seines Lebens eine seinem Stand angemessene Hofhaltung. So zog er 1714 nach Halle und avancierte zum engen Vertrauten Franckes.14 Auf seiner Reise 1715 besuchte er nicht nur Gleichgesinnte, sondern auch jene Verwandten, die Francke und dessen theologischen Positionen ablehnend gegenüberstanden. Der Vergleich der adeligen Akteure in verschiedenen kommunikativen Kontexten – also in Anwesenheit Franckes, in Gemeinschaft mit anderen erweckten Adligen sowie in Konfrontation mit jener höfischen Lebenswelt, die dem Anspruch einer ‚Heiligung des Lebens‘ offenbar diametral gegenüberstand, – erlaubt es, die individuelle Selbstdarstellung pietistischer Frömmigkeit zu analysieren. Besondere Berücksichtigung finden dabei die situativ eingesetzten Inszenierungsstrategien der beteiligten Akteure.15 Dabei sind die eventuellen Diskrepanzen zwischen verschiedenen dargebotenen Rollen nicht als Ausdruck von ‚Heuchelei‘ oder ‚Scheinfrömmigkeit‘, wie es kritische Zeitgenossen insinuierten, zu interpretieren.16 Ebenso wenig kann aus einem scheinbar widerspruchsfreien, pietistisch geprägten Handeln auf eine ‚aufrichtige Frömmigkeit‘ geschlossen werden. In Anlehnung an kommunikationswissenschaftliche und soziologische Deutungen, die die Alltäglichkeit menschlicher Selbstdarstellung betonen, wird jenseits solcher wertenden Etikettierungen davon ausgegangen, dass auch pietistische Frömmigkeit eine ständige Inszenierung vor Publikum war: vor Gott, sich selbst, anderen Frommen und den Kritikern. Ein gewissermaßen ‚unverstellter Blick‘ hinter diese Fassade ist auch im Fall der hier untersuchten Quellen nicht zu erzielen.17 14

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Vgl. Brunner, Aristokratische Lebensform [s. Anm. 11], 53. So klagte Heinrich XXIII. 1714 gegenüber Francke, dass ein Prozess seine Einkünfte für mehrere Jahre bedrohe (vgl. Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein an A. H. Francke, Sorau, 20.2.1714 [SBB PK Nachlass Francke 3a/2a: 5]). Wahrscheinlich löste diese akute finanzielle Not den Umzug nach Halle im selben Jahr aus, wo Heinrich XXIII. bis 1720 zur Miete im Haus des Herrn von Ende wohnte. 1719 bat sein Schwager Francke um Vermittlung einer zivilen oder militärischen Anstellung für Heinrich XXIII. (vgl. Eberhard Christian von Söhlenthal an A. H. Francke, Halberstadt, 23.09.1719 [SBB PK Nachlass Francke 4c/20, 15]). Heinrich XXIII. aber ersuchte Francke stattdessen um „ein klein ämtgen beym Waisenhaus“ und ein bescheideneres Haus aus dem Besitz des Waisenhauses (vgl. Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein an A. H. Francke, Halle, 3.7.1720 [SBB PK Nachlass Francke 3a/2a: 30]). Ein ähnliches Vorgehen schlagen auch Andreas Pečar und Jürgen Luh zur Analyse der Selbstinszenierung Friedrichs II. von Preußen vor (vgl. dies.: Repräsentation und Selbstinszenierung Friedrichs II. von Preußen 2014. URL: http://www.perspectivia.net/content/publikationen/ friedrich300-colloquien/friedrich_repraesentation/pecar_repraesentation [7.8.2017]). Vgl. z. B. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein=Rocke, Oder die Doctormäßige Frau. In einem Lust=Spiele vorgestellt. Rostock 1736. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München [u. a.] 72009 (Serie Piper, 3891). Zu Inszenierungsstrategien im Pietismus vgl. Christian So-

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2. DIE TAGEBÜCHER ALS QUELLEN ZUR ERFORSCHUNG DIREKTER INTERAKTIONEN Beide hier untersuchten Tagebücher18 weisen große äußerliche und konzeptionelle Ähnlichkeiten auf. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass ihnen weitgehend die diesbezüglichen Empfehlungen Franckes an seine Studenten zugrunde lagen. „Ich pflege zwar allemal den Rath zu geben“, so Francke am 29. Dezember 1718 im Rahmen seiner paränetischen Vorlesung, man solle es nicht zu weitläuftig anfangen, damit es nicht ins stecken komme, sondern man soll es in der Kürtze fassen […]. Man darf dazu nicht grosse Künste gebrauchen. Es kan sich einer ein Büchlein dazu machen, oder er kan nur Papier zusammenlegen, und kan etwa des Abends nach der Mahlzeit darein schreiben: Num[mer] 1. 2. 3. nach einander, was an dem Tage vorgegangen ist.19

Entsprechend wurde das tägliche Pensum beider Protagonisten an Treffen, Gesprächen, Gebeten, gehaltenen und besuchten Predigten, Büchergeschenken und sonstigem Geschehen im Stile eines Protokolls niedergeschrieben und dem Tageslauf entsprechend durchnummeriert. Dem Kanzleischriftgut des 18. Jahrhunderts ähnelnd, wurden die Bögen im Folioformat halbbrüchig, meist auf der rechten Seite, beschrieben, während die andere Hälfte Platz für Anmerkungen, Korrekturen und Ergänzungen bot.20 Unterschiedlich fielen lediglich die Länge der Einträge und deren inhaltliche Dichte aus. Die Einträge in Franckes Tagebuch waren zwar zahlreicher, dafür aber oft deutlich knapper als die Eintragungen des Lobensteiners. Formulierungen von Wertungen oder Hoffnungen, die Heinrich XXIII. immer wieder äußerte, sucht man in Franckes Diarium nahezu vergeblich. Dazu mag auch die Autorenschaft beigetragen haben: Während der Lobensteiner entweder selbst zur Feder griff oder dem Ebersdorfer Hofmeister Ulrich Bogislaus von Bonin (1682– 1752) diktierte,21 hat Francke sein Tagebuch während der Reise ins Reich nicht selbst geführt und in den meisten Fällen ganz offensichtlich auch nicht diktiert.22 Am Beginn des hier maßgeblichen Zeitraums (16. bis 30. März 1718) führte der eigentliche Protokollant der Reise Johann Ulrich Christian Köppen (1694–1763) das Tagebuch (16. September 1717 bis 17. März 1718), wurde in Ebersdorf von

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both: „Das Haar laß recht verwirrt um Kopf und Stirne fliegen“. Hallischer Pietismus, frisiert und unfrisiert. In: Die Welt verändern [s. Anm. 12], 273–287. Vgl. Tagebuch A. H. Francke, Halle bis Ulm, 1.1.–31.12.1717 (AFSt/H A 170: 1); Tagebuch A. H. Francke, Ulm bis Halle, 1.1.–30.6.1718 (AFSt/H A 171: 1); Tagebuch Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein über seine Reise ins Vogtland 1715, Halle bis Pölzig, 30.7.–21.9.1715 (AFSt/H A 168: 114). August Hermann Francke: Die erste Lectio Paraenetica Bey dem Beschluß des Jahres 1718. (Gehalten am 29. Dec.). In: LECTIONES PARAENETICAE, Oder Oeffentliche Ansprachen, An die Studiosos Theologiæ auf der Vniversität zu Halle […]. Hg. v. Gotthilf August Francke. Bd. 3. Halle 1729, 1–23, hier: 19. Vgl. Michael Hochedlinger: Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. München 2009 (Historische Hilfswissenschaften), 122 f. Vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein 1715 [s. Anm. 18], 12.8. Nr. 6 u. 30.8. Nr. 1. Vgl. H. J. Elers an A. H. Francke, Halle, 25.9.1717 (AFSt/H A 127a: 61).

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Gotthilf August Francke (1696–1769) abgelöst (18. bis 23. März 1718), ehe in Köstritz Heinrich Julius Elers (1667–1728), der auch in Halle üblicherweise dafür verantwortlich war, die Niederschrift wieder übernahm (bis 16. September 1717 und ab 24. März 1718). Statt in der Ich-Form, wie beim Lobensteiner, schildern die Autoren des Franckeschen Diariums das Tagwerk des „Herrn Professors“ bzw. – wenn G. A. Francke schrieb – des „Papa“. Francke verstand das Diarium aber nicht nur als buchhalterische Dokumentation des Tagesablaufs zur Entlastung des Gedächtnisses. Er empfahl es als Rechenschaftsbericht über den „rechten Gebrauch der Zeit“, der ein gottgefälliges Leben dokumentiere,23 denn Zeit sei ein Geschenk des Herrn und die Kinder Gottes zeichneten sich gegenüber den Weltkindern dadurch aus, so Francke in einer am 4. Januar 1713 im Waisenhaus gehaltenen Predigt, „daß sie nemlich keine Gelegenheit und Zeit / gutes zu thun / versäumen sollten“24. Das Medium Tagebuch diente also der Selbstdarstellung eines frommen Lebenswandels und der persönlichen Tatkraft beim Bau des Reichs Gottes. Ihr tägliches Handeln verstanden sowohl Francke als auch der Lobensteiner zugleich als Ausdruck göttlicher Gnade. Diesem Verständnis entsprechend findet man am Ende zahlreicher Tagebucheintragungen des Lobensteiners Dankgebete: „Darauf giengen wir zu Tisch u[nd] herauf zu Bett. Der Name des Herrn sey gelobet, für alle Gnade u. Güte so Er uns diesen Tag erzeuget.“25 Der Lobensteiner als Tagebuchschreiber hatte aber keinesfalls nur Gott oder sich selbst als Adressaten vor Augen, sondern auch moralisch-religiöse Autoritäten oder enge Vertraute, denen er das Diarium in der Regel übersandte. So wie viele andere Personen im Hallesch-pietistischen Netzwerk schickte Heinrich XXIII. sein Reisetagebuch noch während seiner Tour, am 13. August 1715, auch an Francke, denn mir [Heinrich XXIII., d. Vf.] [war] besonders bey meinem Abschied anbefohlen worde[n], von meiner Reise Red und Antwort geben zukonnen, dieweil mein liebwehrter Herr Prof[essor] ein Examen rigerosum derhalben mit mir anstellen würden. Es ist zwar etwas weitläuffig worden, weil aber die göttliche Güte meine Reise mit vielen guten bisher geseegnet, so habe zum Preis des Mannes Jesu, und vielleicht auch zu ihrem Vergnügen dieses mit wenigen und so kurtz als es hat seyn können communiciren wollen […].26

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Ähnliche Motive wurden auch für andere Tagebücher der Frühen Neuzeit herausgearbeitet (vgl. Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert. Göttingen 2005 [Bürgertum, NF 2], 127 f.; Kaspar von Greyerz: Vorsehungsglaube und Kosmologie. Studien zu englischen Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1990, 18–21). August Hermann Francke: Der Rechte Gebrauch der Zeit, So fern dieselbe gut, und so fern sie böse ist. Aus 2. Cor. 6/2. und Eph. 5/16. vorgestellet, Und Auf die Beschaffenheit der jetzigen Zeiten appliciret, Den 4. Jan. als zum Anfang des 1713ten Jahrs, Im Waysenhause zu Glaucha vor Halle. Halle/Saale 21715, 27). Vgl. hierzu Veronika Albrecht-Birkner: Einleitung. In: August Hermann Francke: Tagebuch 1714. Hg. v. ders. [u. a.]. Wiesbaden 2014 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 13), XI–XXIX, hier: XV–XVIII. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 14.8. Nr. 4. Vgl. Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein an A. H. Francke, Ebersdorf, 13.8.1715 (SBB PK Nachlass Francke 3a/2a: 14).

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Francke hat Auszüge aus seinem Reisetagebuch nach Halle, Berlin und Kopenhagen gesandt, womit er allerdings nicht die Examinierung seines Lebenswandels, sondern die Breitenwirkung seiner Reise intendierte.27 3. VERLAUF UND CHARAKTERISTIK DER REISEN 3.1 Franckes Aufenthalte im Vogtland im Rahmen seiner Reise ins Reich (März 1718) Als Francke und seine drei Begleiter – sein Sohn Gotthilf August, der Ökonom des Waisenhauses Georg Heinrich Neubauer (1666–1725) sowie der Student Köppen – Mitte März in den reußischen Territorien ankamen, hatten sie die ursprünglich auf sechs Wochen angesetzte Dauer ihrer Reise bereits um vier Monate überschritten. Die Rückreise durch das Vogtland war allerdings von Anfang an vorgesehen gewesen,28 so dass man in Schleiz und Obergreiz bereits ab Mitte Oktober 1717 nachweislich täglich Franckes Ankunft erwartet hatte.29 Die enorme zeitliche Ausdehnung der Rundfahrt hinderte Francke aber nicht daran, im Vogtland weitere zwei Wochen an verschiedenen Höfen zu verweilen, denn derlei Modifikationen des Reiseverlaufs stilisierte er stets als Führungen Gottes.30 Am 16. März erreichte die Reisegesellschaft Ebersdorf, wo Francke dem Begehren der Gräfin Erdmuthe Benigna von Reuß-Ebersdorf, geborene von Solms-Laubach (1670–1732), entsprach, am nächsten Tag in der Pfarrkirche eine Predigt zu halten.31 Mit der alten Gräfin, die in ihrer Jugend mit Spener eng verbunden gewesen war, führte er mehrfach 27

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Vgl. die Auszüge aus dem Tagebuch Franckes [Abschrift], Ulm, 7.–13.1. u. 13.–16.1.1718 (AFSt/H A 170a: 48 f.) sowie die Erwähnungen von Tagebuchabschriften und deren Versand in verschiedenen Briefen (u. a. Christian Wendt an A. H. Francke, Kopenhagen, 5.4.1718 [SBB PK Nachlass Francke 33/14: 6] u. G. A. Francke an A. M. Francke, Ulm, 6.1.1718 [AFSt/H A 170a: 26]). Neubauer teilte Anton Wilhelm Böhme in London vor der Abreise die Planungen mit: „Der Cours gehet auf Gießen und Franckfurt, von wannen er nachher per Halam Sveviae, Anspach, Altorff, Nürnberg und das Vogtland die Rückreise anzustellen intendiret.“ (G. H. Neubauer an A. W. Böhme, Halle, 19.8.1717 [AFSt/H A 185: 109]). So berichtet Maria Catharina Sophia von Hohenlohe-Ingelfingen, „daß sie Brieffe von der Frau Gräfin Reuß aus Schleitz bekommen, in welchen dieselbe schreibe, daß sie daselbst den Herrn Prof[essor] stündlich vermuthen wären, und sie nur wünsche, daß er vor morgen nicht kommen möchte, weil ihr Herr nicht zu Hause sey“ (Tagebuch Francke 1717 [s. Anm. 18], 1.11. Nr. 8). Außerdem teilte Elers per Brief mit, dass Heinrich II. von Reuß-Obergreiz die Ankunft Franckes erwarte, und machte die Dringlichkeit deutlich: „Nur ist eine Wunde, die ihnen [dem Grafenpaar von Reuß-Obergreiz, d. Vf.] d[er] Herr v[on] Syburg mit seinen principiis gemachet, welche, wo sie nicht zeitig currirt wird, ihnen einen merckl[iche]n Schand bringen wird. Ich hoffe aber ihre Gegenwart wird alles gut machen.“ (H. J. Elers an A. H. Francke, Halle, 23.10.1717 [AFSt/H A 127a: 64]). Vgl. exemplarisch die Briefe Franckes an seine Frau Anna Magdalena, in denen er u. a. schreibt: „Mein allerliebstes Kind, du kanst nicht glauben, wie die Hand des Herrn so sonderbar u[nd] so gnädig mit mir ist, u[nd] wie seine Rührung so offenbar […]“ (A. H. Francke an A. M. Francke, Tübingen, 30.11.1717 [AFSt/H A 130c: 3]). Vgl. Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18], 17.3. Nr. 1.

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stundenlange Einzelgespräche. Ferner traf er auch die vier unverheirateten Komtessen zu Ebersdorf, etwa bei der gräflichen Tafel oder während der Versammlungen im Kreise „eine[r] kleine[n] Haus-Gemeine“, in deren Rahmen Francke zwei Erbauungsreden hielt.32 Im Mittelpunkt der gemeinsamen Gespräche stand vor allem der fromme Lebenswandel, zu dem Francke insbesondere die elfjährige Komtesse Ernestine Eleonore (1706–1766) ermahnte. Vom 19. bis 21. März 1718 machte die Gruppe Station in Schleiz am Hof Heinrichs XI. von Reuß-Schleiz (1669–1726), der in den Augen seines Untergreizer Verwandten Heinrich XIII. (1672–1733) zusammen mit dem Geraer Heinrich XVIII. (1677–1735) zu den „ansehnlichsten und vermögensten“ im Haus Reuß zählte, da beide „solche propre Hofhaltungen führen, daß Sie darinn manchen mediocren Fürsten von alten Fürstl. Familien zuvor thun“.33 Obwohl der Graf zuvor bekannt hatte, „daß es ihm lieb seyn solle, wenn Papa [A. H. Francke, d. Vf.] dahin käme“34, interagierten die beiden kaum miteinander. Das kommunikative Interesse des Schleizer Herrn gegenüber Francke beschränkte sich, wie das einzige Vier-AugenGespräch zwischen beiden zeigt, auf die evangelische Reichspolitik. Man tauschte die neuesten Nachrichten zum kursächsischen Direktorium im Corpus Evangelicorum aus.35 Demgegenüber fällt die Initiative der Gräfin Auguste Dorothea von Reuß-Schleiz (1678–1740) auf, die ihren Gatten im Vorfeld überzeugen konnte, Francke um eine Predigt in Schleiz zu bitten. Er hielt diese am 20. März 1718.36 Der Gräfin, deren Sohn und den beiden anwesenden Komtessen von Tattenbach schenkte er zudem gedruckte Predigten. Ansonsten nutzte er seinen Aufenthalt vor allem zum Austausch mit anderen Theologen und Regierungsbeamten vor Ort.37 Von dort ging es weiter nach Greiz. Vom 21. bis 23. März bezog man Quartier im Oberschloss bei Heinrich II. von Reuß-Obergreiz (1696–1722), der während seiner Minderjährigkeit unter der Vormundschaft Heinrichs XXIV. von Reuß-Köstritz gestanden und 1715 eine Erweckung erlebt hatte. Während seiner Regierungszeit bemühte sich Heinrich II. nicht nur um pietistisch gesinntes Personal, sondern 32 33 34 35

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Vgl. aaO, 16.3. Nr. 4 u. 18.3. Nr. 14, Zitat 16.3. Nr. 4. Ohmaaßgebliche Gedanken, wegen Erhebung in den Fürsten Stand, entworfen A. 1712, zitiert nach Vinzenz Czech: Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der Frühen Neuzeit. Berlin 2003 (Schriften zur Residenzkultur, 2), 396. Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18], 18.3. Nr. 15. Siehe dazu die Einträge im Reisetagebuch über ein in Augsburg erhaltenes Konvolut mit „Nova von Regenspurg, wegen des Evangl. Directorii“ (vgl. aaO, 30.1. Nr. 13). Dieses Konvolut ist erhalten (vgl. AFSt/H C 841: 283a-k). Es enthält unter anderem eine Abschrift des Reichstagsprotokolls vom 18.12.1717. Vgl. Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18],17.3. Nr. 3 u. 20.3. Nr. 2 f. Die Predigt erschien nicht im Druck. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt auch der Brief von Auguste Dorothea von Reuß-Schleiz an Maria Eleonore Ämilie von Reuß-Köstritz, Schleiz, 21.3.1718 (AFSt/H A 171: 136). Die Schleizer Gräfin, so hieß es hier, „danke Gott, daß Er diessen theuren mann auch zu uns gesendet, und [!] durch seine erbauliche Predig und Discoursen zu erwecken. Der liebe Gott versiegle sein Wort in unser aller Hertzen. Meine Freude kann ich dir nicht beschreiben, daß mein lieber Herr Sohn, auch Herr Superindent [!] Ja allen unsern Leut so vergnügt von dem Herr Proffessre [!] und bey underschiedlichen wohl die vorgefasten Meinungen werden gefallen sein.“ (ebd.).

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drang auch auf eine christliche Bildung und eine wahre Herzensänderung seiner Untertanen, wozu er beispielsweise ausdrücklich Arndts Wahres Christentum als Lektüre empfahl.38 Anders als in Schleiz besprach sich Francke mehrfach mit dem Grafen und dessen Gattin, Sophie Charlotte, geborene von Bothmer (1697–1748), und betete mit ihr.39 Ferner unterhielten er und Neubauer sich ausgiebig mit dem Kanzleidirektor Otto Heinrich Becker (1667–1723).40 Die Inhalte dieser Gespräche sind allerdings nur zum Teil überliefert. Eine Unterhaltung an der herrschaftlichen Tafel zeigt, dass Francke in Greiz bei Stellenbesetzungen zu Rate gezogen wurde. Im konkreten Fall empfahl er eine Frau Beer als Hofmeisterin der gräflichen Kinder.41 Ferner predigte er in Greiz am 22. März 1718.42 Während Francke im Oberschloss zu Greiz herzlich empfangen wurde, sah er Heinrich XIII. von ReußUntergreiz, der ihm ablehnend gegenüberstand, lediglich im Vorbeifahren.43 Den letzten und mit Abstand längsten Aufenthalt im Vogtland – vom 23. bis 30. März – hatte die Reisegesellschaft in Köstritz. Hier traf Francke nicht nur seine Frau Anna Magdalena (1670–1734), die den Reisenden gemeinsam mit Elers von Halle aus entgegengekommen war, sondern auch den Grafen Erdmann Heinrich Henckel von Donnersmarck (1681–1752) sowie Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein. Noch stärker als in Ebersdorf und Obergreiz stand am Köstritzer Hof die gemeinsame Erbauung mit Francke im Zentrum des Besuchs. Er betete mehrfach mit dem Grafenpaar im Gemach Heinrichs XXIV. Die regelmäßigen abendlichen Gebete hatten aber keinen solch exklusiven Charakter wie in Obergreiz. Es dürfte sich vielmehr um jene Betstunden gehandelt haben, die Heinrich XXIV. jeden Tag im Beisein des gesamten Hofes samt der Bediensteten und des Hofgesindes zu halten pflegte.44 Darauf deutet auch der Eintrag im Tagebuch Franckes vom 29. März hin: „Der H[er]r Prof[essor] betete darauf [nach der abendlichen Tafel, d.Vf.] in des Herrn Grafens Gemach, segnete das gantze Hauß“45. Andere Formen praktizierter frommer Vergemeinschaftung in Köstritz waren ein „Collegium Biblicum […] darinn die Gräfl[ichen] Personen ihre observationes 38 39 40 41 42 43 44

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Vgl. Martin Prell: Landesherrlicher Pietismus unter Graf Heinrich II. (1696–1722) in ReußObergreiz. Bachelor-Arbeit. Jena 2011, 5–17; Brunner, Aristokratische Lebensform [s. Anm. 11], 105–107. Im Tagebuch heißt es: „Er [A. H. Francke, d. Vf.] blieb lange bey ihr, betete mit ihr, sie betete auch, u[nd] wurde hernach ermahnet.“ (Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18], 21.3. Nr. 5). Vgl. aaO, 21.3. Nr. 3, 22.3. Nr. 5 u. 23.5. Nr. 1. Vgl. aaO, 22.3. Nr. 4. Vgl. aaO, 22.3. Nr. 2. Vgl. aaO, 21.3. Nr. 4. „Das Gemüth zu recreiren dur[ch] Betstund“ im Umfang einer Zeitstunde war fest im Tagesplan Heinrichs XXIV. vorgesehen (vgl. Idealisierte Tageseinteilung Heinrichs XXIV. von Reuß-Köstritz, um 1720 [ThStA Greiz Paragiatsherrschaft Köstritz II, Nr. 1204]). Ferner verordnete er 1719 für seinen gesamten Hof: „Und damit es […] niemand an nöthigem Unterricht und guter Handleitung fehlen möge; so hat sich ein jeglicher nicht nur in offentlichen Kirchen=Versamlungen fleißig einzufinden, sondern auch die Hoff=Predigten und Beth= Stunden niemals zu verabsäumen“. (Köstritzer Hofordnung von 1719 [ThStA Greiz Paragiatsherrschaft Köstritz I, B 88–1, Nr. 15, fol. 4r–12v], abgedruckt in Brunner, Aristokratische Lebensform [s. Anm. 11], 173–176, hier: 173). Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18], 29.3. Nr. 9.

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beytrugen“,46 und eine Ermahnungsrede, die Francke am 28. März wieder im Gemach des Grafen in Anwesenheit zahlreicher Geistlicher aus der Region und der adligen Gäste hielt.47 Er ermahnte die Teilnehmenden vor allem zur Nachfolge Jesu, worauf der ebenfalls anwesende Herr von Ramsdorf hinterher einwandte, „es wäre wol gut, was erwehnet worden, wenn man nur es also machen könnte“48. Darauf demonstrierte Francke anhand eines biographischen Exempels die Machbarkeit der von ihm geforderten Versöhnung mit Gott – auch für den Adel. Auf großes Interesse stieß die von Francke gehaltene Predigt im nahegelegen Gera, zu welcher sich auch die Grafen von Reuß-Gera einfanden.49 Obwohl der regierende Geraer Graf Heinrich XVIII. den religiösen Verhältnissen in Köstritz ablehnend gegenüberstand, nahm Heinrich XXIV. Francke mit an dessen Tafel, „über welcher von Geistern u[nd] anderen Materien geredet ward, dabey viel gute Moralien konten inspergiret werden“.50 Der Kurzbesuch in Gera hat wohl dennoch keine erkennbaren Spuren hinterlassen. So wie der Schleizer Graf blieb auch Heinrich XVIII. von Reuß-Gera gegenüber Francke und dessen Forderung nach einer intensivierten Frömmigkeit, die auf wahren Glauben, Buße und Nachfolge Jesu zielte, skeptisch. Seine vom Untergreizer gewürdigte Hofhaltung stand in offensichtlichem Gegensatz zu den Vorstellungen Franckes von einem frommen Lebenswandel. Der Besuch am Hof des Geraer Grafen resultierte nicht aus dessen eigenem Interesse, sondern aus den Initiativen der Schleizer Gräfin und Heinrichs XXIV. von Reuß-Köstritz. Die Anwesenheit Franckes war wohl eher erduldet als erwünscht, denn einen Eklat, wie ihn der Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg (1676–1733) durch die Verweigerung einer Franckepredigt in Stuttgart wenige Monate zuvor verursacht hatte,51 galt es zu vermeiden. Demgegenüber fällt der vertraute Umgang zwischen Francke und den Grafen und Gräfinnen in Ebersdorf, Obergreiz und besonders Köstritz auf, der in dieser Form für keine andere Residenz, die Francke während der Reise ins Reich besuchte, belegt ist. Während die Anwesenheit Franckes in Wiesbaden, Laubach, Hachenburg, Erbach oder Ingelfingen, wo ebenfalls Adelige mit starken Sympathien für die pietistische Reform- und Frömmigkeitsbewegung regierten, jeweils ein exzeptionelles Ereignis darstellte, waren Reisen Franckes ins Vogtland allerdings auch

46 47 48 49

50 51

AaO, 26.3. Nr. 16. AaO, 28.3. Nr. 10. Ebd. Die Predigt erschien 1724 im Druck. Vgl. August Hermann Francke: Am Tage der Verkündigung Mariä. (Gehalten in Gera, Anno 1718). In: Sonn= und Fest=Tags=Predigten / Welche Theils in Halle / theils an verschiedenen auswärtigen Oertern von wichtigen und auserlesenen Materien gehalten worden. Halle/Saale 1724, 568–590. Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18], 25.3. Nr. 5. Vgl. Dieter Ising: August Hermann Franckes Reise nach Süddeutschland 1717/1718. In: Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert. Hg. v. Anne Schröder-Kahnt u. Claus Veltmann. Halle/Saale 2018 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle, 35), 37–43.

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keine Seltenheit.52 Es bestand für die Reußen deshalb keine akute Notwendigkeit, Francke im März 1718 um eine persönliche Visitation des Armen-, Schul- und Kirchenwesens zu bitten, wie es in der Wetterau, dem Odenwald und dem Westerwald die Regel war. Neben den verschiedenen, regelmäßig praktizierten Formen pietistischer Vergemeinschaftung mit den Adligen und anderen Hofangehörigen hatte Francke hier sogar die Möglichkeit, in Ebersdorf zurückgezogen an der Drucklegung seiner in Ulm gehaltenen Predigt zu arbeiten.53 Die Stellung einzelner reußischer Grafen im Hallesch-pietistischen Netzwerk war im Vergleich zu anderen außerpreußischen Adligen durch die räumliche Nähe zu Halle und die regelmäßigen Interaktionen von Angesicht zu Angesicht eine herausgehobene. 3.2 Die Reise Heinrichs XXIII. von Reuß-Lobenstein ins Vogtland (Spätsommer 1715) Im Gegensatz zu Francke und seinen Begleitern, die trotz der mehrtägigen Aufenthalte im Vogtland konsequent dem Ziel der Rückkehr nach Halle folgten, lässt sich für die Reise Heinrichs XXIII. von Reuß-Lobenstein kein geplantes Vorgehen erkennen. Am 30. Juli 1715 brach er in Halle auf, kam am Abend in Pölzig bei Erdmann Heinrich Henckel von Donnersmark an und reiste erst am zweiten August über Gera und Schleiz nach Ebersdorf weiter. Im weiteren Verlauf der bis zum 21. September dokumentierten Reise hielt er sich wiederholt für mehrere Nächte bei seinem regierenden Bruder Heinrich XV. von Reuß-Lobenstein (1674–1739) in Hohenpreis und bei seinen sechs unverheirateten Schwestern in Lobenstein auf. Er machte auch einen mehrtägigen Ausflug zu Heinrich II. von Reuß-Obergreiz, der Anfang August die Huldigung seiner Untertanen entgegengenommen hatte und sich nun anschickte, am Dresdner Hof Sophie Charlotte von Bothmer zu heiraten.54 Doch am häufigsten und längsten verweilte er, wie die folgende statistische Übersicht zeigt, in Ebersdorf. Aufenthalte Heinrichs XXIII. von Reuß-Lobenstein während seiner Reise ins Vogtland (30.7.–21.9.1715) Ort Ebersdorf Hohenpreis Pölzig Lobenstein Greiz-Obergreiz Zeulenroda Schleiz Greiz-Untergreiz Gera

52 53 54

Übernachtungen 25 10 8 4 3 1 1 0 0

Besuche 5 3 2 4 1 1 1 2 1

Eine Auflistung der gegenseitigen Besuche Heinrichs XXIV. von Reuß-Köstritz und Franckes hat Brunner erstellt (vgl. Brunner, Aristokratische Lebensform [s. Anm. 11], 45). Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18], 18.3. Nr. 1. Vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 25.8. Nr. 5.

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Der Lobensteiner reiste dabei nicht allein: Wahrscheinlich begleitete ihn während der gesamten Reise sein Kammerdiener Heinrich Tobias Vogel (*1685). Von Halle nach Ebersdorf und während des Ausflugs nach Greiz reisten außerdem sein Vetter Heinrich XXIX. von Reuß-Ebersdorf (1699–1747) sowie dessen Hofmeister Ulrich Bogislaus von Bonin und der Erzieher der gräflichen Kinder und spätere Ebersdorfer Hofprediger Georg Klein-Nicolai (1671–1734) mit ihm. Die Reiseroute war vor allem durch die engsten verwandtschaftlichen Beziehungen des Lobensteiners geprägt,55 doch auch die religiöse Übereinstimmung mit den Reußen in Ebersdorf und Obergreiz und dem Grafen Henckel von Donnersmarck spielte offenkundig eine Rolle bei der Auswahl der Stationen. Während im Reisetagebuch Franckes vor allem die alltäglichen Ereignisse an diesen Höfen nur kurz benannt werden, beschrieb Heinrich XXIII. die Abläufe seiner Besuche mitunter sehr viel detaillierter, so dass man einen intensiven Eindruck vom Alltag der Grafen und Gräfinnen an den frommen Höfen in Ebersdorf, Obergreiz und Pölzig erhält. An allen drei Höfen stellte die beinahe täglich im Tagebuch erwähnte „ordentliche“ oder auch „gewöhnliche Betstunde“ eine wichtige und regelmäßige Form der frommen Vergemeinschaftung dar. In der Regel fand diese in den Abendstunden statt, begann mit gemeinsamem Singen von Liedern und setzte sich entweder mit der Lesung einer Predigt oder einer Erbauungsschrift oder der Erklärung eines Bibelverses fort, ehe man schließlich gemeinsam betete. In Ebersdorf oblag die Leitung der Schlossgemeinde offenkundig dem Zeulenrodaer Pfarrer und gräflichen Beichtvater Christoph Martini (1661–1732), der in Abwesenheit durch Klein-Nicolai vertreten wurde.56 In Pölzig verlas dagegen der Graf Henckel von Donnersmarck selbst eine Predigt Franckes.57 Welchen Charakter „des 2ten H[er]r[n] Vetters ordentl[iche] Abend Betstunde“58 in Obergreiz hatte, lässt sich trotz dokumentierten Ablaufs auf der Grundlage des Tagebuchs allerdings nicht beantworten. Die Besucherzahl ist nur in Ausnahmefällen, wie z. B. bei der Verabschiedung des bisherigen Hofpredigers Martini am 28. August 1715, vermerkt:

55 56

57 58

Vgl. Detlev Schwennicke: Europäische Stammtafeln. Neue Folge. Bd. I.3: Die Häuser Oldenburg, Mecklenburg, Schwarzburg Waldeck, Lippe und Reuß. Frankfurt/Main 2000, T. 369. Während des zweiten Aufenthalts Heinrichs XXIII. von Reuß-Lobenstein auf seiner Reise in Ebersdorf (10.–22.8.) wird Martini nicht, Klein-Nicolai aber mehrfach als Leiter der ordentlichen Betstunde erwähnt (vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 11.8. Nr. 4, 12.8. Nr. 6 u. 15.8. Nr. 3). Im Rahmen des dritten Aufenthalts in Ebersdorf (26.–29.8.) wird Martini dagegen durchgehend als Leiter der Betstunde im Schloss genannt (vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 26.8. Nr. 5, 27.8. Nr. 4 u. 28.8. Nr. 3 f.). Martinis Rolle bestätigt die Beschreibung der Ebersdorfer Schlossgemeinde unter Gräfin Benigna von Reuß-Ebersdorf in: Wilhelm Jannasch: Erdmuthe Dorothea Gräfin von Zinzendorf geborene Gräfin Reuß zu Plauen. Ihr Leben als Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der Brüdergemeine dargestellt. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte 8, 1914, 1–488, hier: 9 f. Vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 18.9. Nr. 3. AaO, 22.8. Nr. 5; vgl. auch aaO, 23.8. Nr. 6.

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Nachmittag um 3 Uhr hat H[er]r Martini wieder eine Betstunde gehalten, und aus Phil. 4, v. 1,2 erkläret. Zuletzt hat er denn sein bisheriges Beichtvater Amt niedergeleget, und es dem H[er]r[n] Mag[ister] KleinNicolai, als zukünftigen würcklichen Hof-Prediger aufgetragen, auch die gantze Hofstadt, so meist zugegen gewesen, an Ihn gewiesen.59

Die gewöhnliche Betstunde war offenkundig der tägliche Mittelpunkt des religiösen Lebens am Obergreizer Hof und richtete sich an alle Hofangehörigen – von der gräflichen Familie über die höheren Beamten bis zum Gesinde. In dieser Form hatte es auch der Köstritzer Herr für seinen Hof verordnet: Unter der Voraussetzung „der wahren Gottesfurcht, Erbarkeit und aller Christl[ichen] Tugenden“60, die er von seinen Hofangehörigen einforderte, diente die Betstunde der christlichen Erziehung und der Sammlung der Frommen am Hof. Die Ähnlichkeiten zu den öffentlichen Betstunden, die Francke in seiner Glauchaer Gemeinde institutionalisiert hatte, sind offensichtlich: Unter der verbindlichen Leitung eines Theologen versammelten sich etliche Freiwillige unterschiedlichen Standes und Geschlechts aus Glaucha und wahrscheinlich auch aus Halle täglich in der Gemeindekirche zum Singen, Erbauen und Beten.61 Ähnlichen Charakter hatten bereits die öffentlichen Collegia pietatis Speners in Frankfurt/Main ab 1675 gehabt, die im Zuge deutlicher Kritik aus den zunächst exklusiveren Versammlungen entstanden waren.62 Es ist anzunehmen, dass die Rechtfertigung Speners, man habe eine Form der frommen Vergemeinschaftung etablieren wollen, die sich von den üblichen gesellschaftlichen Zusammenkünften mit ihren „narrentheidungen / unziemlichen schertz / und anderen dergleichen“63 weltlichen Dingen unterscheide, auch die frommen Nachahmer in Glaucha und den reußischen Territorien motivierte. Die öffentlichen Betstunden stellten insofern das Ergebnis einer Transformation barocker Geselligkeit und nicht den Verzicht auf diese dar. Zugleich stilisierten die Herrscher und die Initiatoren der Betstunden damit sich und die jeweilige Residenz als Hort der Frömmigkeit, machten dies nach außen sichtbar und verpflichteten die Teilnehmenden auf ein gottgefälliges Leben. Gerade in Ebersdorf nahmen an diesen Zusammenkünften aber auch Personen teil, die aus der Sicht Franckes und in der Wahrnehmung des Lobensteiners heterodoxe und somit separatistische Lehren vertraten. Zu diesen gehörte Johann Conrad Zembsch (1683–1754), der 1714 aufgrund seiner Teilnahme an den Gottesdiensten der Inspirierten in Halle von Francke persönlich aus den Glauchaschen Anstalten verwiesen worden war und nun als Informator am Ebersdorfer Hof tätig war.64 Während Francke 1718 Distanz zu Zembsch wahrte und mit ihm nur ein klären59 60 61 62 63 64

AaO, 28.8. Nr. 3. Köstritzer Hofordnung [s. Anm. 44], 173. Vgl. A. H. Francke an [Samuel Stryck], Glaucha, 1700 (AFSt/H D 66: 407–458, [30 f.] [gesonderte Seitenzählung im Schreiben]). Vgl. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002 (BHTh, 119), 98–107. Vgl. Philipp Jakob Spener: Sendschreiben An Einen Christeyffrigen außländischen Theologum, betreffende die falsche außgesprengte aufflagen / wegen seiner Lehre / und so genanter Collegiorum pietatis. Frankfurt/Main 1677, 45. Vgl. Francke, Tagebuch 1714 [s. Anm. 18], 43.

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des Gespräch „von den inspirierten“ führte,65 nahm Heinrich XXIII. sogar an einer erbaulichen Versammlung in der Stube der Gräfin teil, die Zembsch leitete.66 Der bereits erwähnte Klein-Nicolai, der unter dem Pseudonym Georg Paul Siegvolk publizierte und ein Anhänger der Apokatastasislehre der Petersens war,67 avancierte 1715 sogar zum Hofprediger in Ebersdorf. Ferner beschrieb Heinrich XXIII., wie während einer Betstunde der „Becker Saltzmann von Laubach in der Stube niederknied mit großer Heftigkeit zu beten angefangen, darüber ich erschrack, welches auch wol vielen wunderlich geschienen, und anstößig mag gewesen seyn“.68 Doch für den Lobensteiner und die Ebersdorfer Reußen stellte dies gleichermaßen offenbar kein Problem dar: „Gott kann aber auch von diesem Gebet weil es in der Einfalt von ihm geschehen auch einen Seegen kommen laßen“, urteilte Heinrich XXIII.69 Daneben existierten weitere Betstunden, die von Einzelpersonen initiiert wurden und für einen exklusiveren Kreis vorgesehen waren: Beispielsweise ging Heinrich XXIII. am Morgen des 12. August in Ebersdorf „zu H[er]r[n] Amtmann Zeller in seine Betstunde“70 und notierte am 17. August: „Nach dem Abendeßen hielten wir zusamen aufs 29ten H[errn] Vetters Stube Betstunde, und betete d. H[er]r v[on] Bonin.“71 In ihrem Ablauf scheinen diese Versammlungen der gewöhnlichen Betstunde entsprochen zu haben. Allerdings hatten sie unregelmäßigen, teilweise spontanen Charakter, wurden beispielsweise auf Reisen durchgeführt und dienten noch deutlicher als die institutionalisierte Variante der gegenseitigen Versicherung geistlicher Verwandtschaft unter den wenigen Teilnehmern. Heinrich XXIII. kannte ähnliche Zusammenkünfte auch aus Halle und Glaucha, wo einerseits Francke sogenannte „extraordinaire Ermahnungen“ für einen handverlesenen Kreis von Gleichgesinnten hielt und andererseits mehrere Bürger eigene, von Francke scheinbar approbierte Collegia hielten.72 In der Gemeinschaft derjenigen, „von denen man sich versichern kan, daß Gott sein Werck allbereit in ihnen habe oder daß sie doch in einem aufrichtigen Verlangen stehen, nach einer rechtschaffenen Beßerung, und Bekehrung“ dominierte, so Francke, noch deutlicher die gegenseitige Paränese und Erweckung.73 Zwischen den Mahlzeiten an der herrschaftlichen Tafel in Ebersdorf, bei denen erbauliche Diskurse und Neuigkeiten aus dem Reich Gottes im Mittelpunkt der Kommunikation standen, nutzte man die Zeit, sofern man nicht Geschäften nachging, zum Singen, zur gemeinsamen Lektüre der Bibel oder von Erbauungsliteratur, trank Kaffee oder ging spazieren, um die Diskurse fortzuführen. Immer wieder kam Heinrich XXIII. auch im kleinen Kreis, teilweise auch zum Vier-Augen-Gespräch, in einer Kammer mit anderen zusammen, um diese ganz im Sinne des geistlichen 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Tagebuch Francke 1718 [s. Anm. 18], 18.3. Nr. 5. Vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 15.9. Nr. 2. Zu Klein-Nicolai vgl. Francke, Tagebuch 1714 [s. Anm. 18], 131. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 15.9. Nr. 3. Ebd. AaO, 12.8., Nr. 1. AaO, 17.8., Nr. 4. Vgl. A. H. Francke an S. Stryck [s. Anm. 61], 43–46. AaO, 44.

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Priestertums aller Gläubigen zu ermahnen oder in ihren Nöten zu ermuntern, wie im Falle der alten Gräfin Erdmuthe Benigna von Reuß-Ebersdorf, die gegenüber dem Lobensteiner und von Bonin bekannte: „Sie hätte freylich vieles verlohren und die erste Liebe verlaßen, vermeinte auch Sie wäre so weit zurückgegangen, daß sie unmöglich nun wieder in die erste Kraft und den vorigen Ernst eindringen könnte“, von den beiden Männern aber ermuntert und „zum hertzlich und unabläßigen Gebeth“ ermahnt wurde, „worauf wir denn auch zusamen die Knie beugeten“.74 Solche gemeinschaftlichen Gebete folgten zwar ebenfalls der Logik von Inklusion (Sammlung der Frommen) und Exklusion (Absonderung von der Welt),75 darüber hinaus dienten sie aber auch der Anerkennung individueller Glaubensfortschritte anderer oder deren Stärkung. Das Diarium bietet zahlreiche Beispiele, dass neben den häufigeren Interaktionen mit Standesgenossen diese Form der gegenseitigen Ehrerweisung auch standesübergreifenden Charakter hatte: „Als ich auf meine Stube kam,“ schrieb Heinrich XXIII. am 24. August in Greiz, „fand ich meines Vogels [Heinrichs Kammerdiener, d. Vf.] seine Schwester und Schwager da, Nahmens Johann Martin, ein frommer Schneider in Grätz, mit welchem ich noch betete“.76 Hartmut Lehmanns Widerspruch gegen die etwas romantische Vorstellung von einer weitverbreiteten, realen, ständeübergreifenden Gemeinschaft der ‚Kinder Gottes‘77 ist grundsätzlich zwar zuzustimmen, doch zeigt das Reisetagebuch Heinrichs XXIII. deutlich, dass ‚der Pietismus‘ durchaus eine Bewegung war, die Menschen aller Schichten zur gemeinsamen Erbauung zusammenbrachte. An den frommen Höfen beeinflussten Verwandtschaft und Standesbewusstsein ebenso die Ausprägung der Geselligkeit im Glauben wie der leitende Gedanke eines Allgemeinen Priestertums, welches nicht nur Auswirkungen auf das Verhältnis von Laien und Theologen, sondern auch auf die Ordnung der Stände und die Rollen von Mann und Frau haben konnte.78 Wie aber unterschied sich der Hof in Ebersdorf, an dem sich Heinrich XXIII. nach eigenem Bekunden wie zu Hause fühlte („denn man sich [hier, d. Vf.] wieder in allen und besonders im Gebeth mit ihnen als Kindern Gottes erwecken kann“79), vom alltäglichen Geschehen in Hohenpreis, Untergreiz oder Lobenstein? Bälle, Jagden, Theaterveranstaltungen, barocke Schlossbauten, deren aufwändige Ausstattung und andere auf Distinktion zielende Praktiken des hohen Adels lassen sich auch für diese Orte im Reisetagebuch Heinrichs XXIII. nicht nachweisen. Der Literatur ist zwar zu entnehmen, dass immerhin in Schleiz und Gera ein dem gräflichen 74

75 76 77 78 79

Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 12.8. Nr. 3. Auch der Lobensteiner Kämmerer Reinhard stellte bei der Lektüre von Bibel und Erbauungsschriften seinen mangelnden „Zustand der Bekehrung“ fest. Heinrich XXIII. ermahnte ihn zum steten Gebet, denn Gott „würde ihn nicht verlaßen“ (aaO, 14.9. Nr. 2). Vgl. Hartmut Lehmann: Absonderung und neue Gemeinschaft. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. dems. u. Ruth Albrecht. Göttingen 2004, 487–497. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 24.8. Nr. 6. Vgl. Lehmann, Absonderung [s. Anm. 75], 493. Vgl. Philipp Jakob Spener: Das Geistliche Priesterthum. Auß Göttlichem kürtzlich beschrieben / und mit einstimmenden Zeugnissen Gottseliger Lehrer bekräfftiget. Frankfurt/Main 1677. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 10.8. Nr. 4.

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Stande entsprechender repräsentativer Aufwand betrieben wurde – man mietete beispielsweise Theatergruppen an80 – doch die übrigen Verwandten waren zu solchen Aktivitäten schon aus finanziellen Gründen gar nicht in der Lage. Die Geschwister des Lobensteiners mussten angesichts eines Brandes, der 1714 das Schloss in Lobenstein zerstörte, für mehrere Jahre behelfsmäßig sogar in andere Räumlichkeiten ausweichen:81 Die sechs Schwestern lebten vom übrigen Hof weitgehend getrennt im Herrenhaus Christian-Zell in Lobenstein, der regierende Bruder Heinrich XV. zog mit dem übrigen Hof auf das nahegelegene Landgut Hohenpreis um.82 Die Unterschiede zu den frommen Höfen, die Heinrich XXIII. sehr wohl wahrnahm, waren deshalb eher subtil und weniger in der sozialen Situation oder dem politischen Handeln der Akteure als vielmehr in der direkten Interaktion erkennbar. Ein Anfang August aufflammender Konflikt mit seinen Schwestern über die von Heinrich XXIII. der Geistlichkeit unterstellten Mängel verdeutlicht dies eindrücklich: Obwohl seine Schwestern in schlichten Verhältnissen lebten und sogar regelmäßig ‚ihre‘ Betstunden abhielten, wobei sie Arndts Wahres Christentum lasen und das Hallesche Gesangbuch gebrauchten, ermahnte er sie, „daß ein jeder sich dahin bemühen müste, daß man sein Christenthum nicht in ein bloß äußerlich erbaren Wandel setzen müste“.83 Es wäre gut, so Heinrich XXIII., „wenn die Prediger diese lehre recht einschärfften, und auch selbst die Ordnung des Heils an sich erfahren hätten mögten, und andern damit vorleuchteten“.84 Besonders die beiden ältesten Schwestern reagierten verbittert und widersprachen ihrem Bruder entschieden.85 Heinrich konstatierte bei späteren Besuchen: „Sie haben in Lobenstein […] die reine Leere, denn ich vor dismal niemand daselbst zu erdencken gewust, mit dem ich hätte beten oder mich sonst erwecken können.“86 In Hohenpreis beobachtete er seine Verwandten und deren Gäste wiederholt beim Schwatzen, Scherzen und Kartenspielen. Trotz der konsequenten Weigerung Heinrichs XXIII., an derlei „unnütze[m] Zeitverderben mit eitelen Dingen“ zu partizipieren,87 fühlte er sich in seinem Gewissen stark bedrängt. „Mein hertz war gantz beängstet,“ schrieb er am 7. August, daß ich keine einige Gelegenheit fand, ihnen ihr unrecht vorzustellen, ob ich gleich bey Ihnen saß, so kunte ich nichts thun, als nur zu Gott seuftzen, vor Sie beten, u. mich in acht nehmen, daß ich auch mit meinen Geberden, und in meinen wenigen Worten, mich nicht an meinem Gott versündigte, noch mich ihrer Sünden theilhafftig machte.88 80 81 82 83 84 85

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Vgl. Czech, Legitimation und Repräsentation [s. Anm. 33], 237. Anja Löffler: Reußische Residenzen in Thüringen. Weimar 2000, 305. Löffler geht davon aus, dass der gesamte Hof nach dem Brand nach Christian-Zell umgezogen sei, wofür sie allerdings keine Belege anführt (vgl. aaO, 308). Vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 5.8. Nr. 3. Vgl. aaO, 5.8. Nr. 5. Vgl. aaO, 15.8. Nr. 1; Sophie Marie von Reuß-Lobenstein an Heinrich XXIII. von Reuß-Lobenstein, [Lobenstein], [August 1715] (AFSt/H A 168: 114c) und Heinrich XXIII. von ReußLobenstein an Sophia Maria von Reuß-Lobenstein [Abschrift], [August/September 1715] (AFSt/H A 168: 114d). Vgl. Tagebuch Heinrich XXIII. 1715 [s. Anm. 18], 20.8. Nr. 1. Vgl. aaO, 9.8. Nr. 3. Vgl. aaO, 7.8. Nr. 2.

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Daraus resultierten immer wieder große Spannungen und intensiv geführte Streitgespräche, beispielsweise über die Frage der Mitteldinge. Zu diesen neutralen, weder guten noch sündhaften Handlungen zählte Heinrich XXIII. bezeichnenderweise nur Essen, Trinken und Schlafen, wogegen Tanzen und Spielen für ihn als eindeutig sündig galten. Während ihm die anwesende Gräfin von Schönburg-Waldenburg daraufhin vorwarf, „daß dergleichen die Separatisten im Reich auch vorgeben, [die] schlimmer u[nd] verdammter [wären] als Gottlose“,89 gingen ihm andere zunehmend aus dem Weg: [S]o unterließen Sie das [Karten, d. Vf.] spielen, ließen den Spieltisch hernach weg tragen. […] Ihren Spiel Sinn auszuführen giengen Sie alle von mir über den Hof, daselbst war eine Stube, die ist recht zum spielen zugerichtet, weil ich alleine war, laß ich in der Bibel und in Thomae Goodwin.90

Gelegenheiten zu erbaulichen Diskursen, um die sich Heinrich XXIII. stets bemühte, waren dementsprechend rar und nur wenige sah er für würdig an, mit ihm gemeinsam zu beten. 4. FAZIT Die große Wertschätzung gegenüber den Höfen in Ebersdorf, Obergreiz, Köstritz und Pölzig in den untersuchten Reisetagebüchern bestätigen deren Vorbildwirkung für andere Standesgenossen und die herausragende Stellung innerhalb des Halleschpietistischen Netzwerks. Unter anderem lobte Francke an der herrschaftlichen Tafel in Hachenburg die Frömmigkeit einzelner reußischer Grafen: „Bey der Tafel hat es herliche Gelegenheit gegeben der Hochgräffl[ich] Reuß[ischen] familie zu gedencken, wie Gott aus derselben unterschiedner Herren gantz sonderbahr ergriffen, insonderheit vom 2ten und 23ten Herrn Grafen.“91 Deren Bedeutung für Halle wird durch die besondere Charakteristik des Aufenthalts Franckes in Köstritz, Ebersdorf und Obergreiz im Frühjahr 1718 bestätigt. Am Beispiel der reußischen Territorien konnte gezeigt werden, dass die äußerlichen Unterschiede zwischen einer reichsgräflichen Hofhaltung mit pietistischem Einfluss (Ebersdorf, Obergreiz, Köstritz und Pölzig) und einer ohne diesen (Hohenpreis, Untergreiz Lobenstein, Gera und Schleiz) allerdings weniger groß waren, als die eingangs zitierte Kritik Franckes am Regierstand und die teils dichotome Gegenüberstellung dieser Höfe in der bisherigen Forschung vermuten ließen. In ihren finanziellen Mitteln beschränkt, verzichteten die Adligen an ihren Höfen in Hohenpreis und Untergreiz ebenso wie in Ebersdorf, Obergreiz, Köstritz und Pölzig auf die distinkten Praktiken adliger Muße, wie das Jagen, das Feiern von Bällen 89 90 91

Vgl. aaO, 9.8. Nr. 3. Es handelt sich wohl um Friederike Auguste von Schönburg-Waldenburg (1694–1746), seit April 1715 verheiratet mit Christian Heinrich von Schönburg-Waldenburg (1682–1753). Vgl. aaO, 7.8. Nr. 4 f. Der Engländer Thomas Goodwin (1600–1680) war ein puritanischer Theologe, dessen erbauliche Schriften sich großer Beliebtheit in pietistischen Kreisen erfreuten. Tagebuch Francke 1717 [s. Anm. 18], 25.9. Nr. 10; s. auch 23.9. Nr. 7.

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und Festen. Lediglich in Gera und Schleiz betrieben die reußischen Grafen einen etwas größeren finanziellen Aufwand für ihr Hofleben. Geprägt von einem veränderten Selbstverständnis, unterschieden sich allerdings die Formen der Geselligkeit deutlich voneinander, wie die Kritik Heinrichs XXIII. am Beisammensein seiner Verwandten in Hohenpreis zeigt: Wo sonst Schwatzen, Spielen und Scherzen dominierten, prägten unter der Prämisse einer Praxis pietatis Beten, Singen und erbauliche Diskurse die Zeit der ‚adligen Muße‘, die sich nun an der Vorgabe des rechten Gebrauchs der von Gott gegebenen Zeit orientierte. Diese frommen Praktiken der Sphäre ‚adliger Muße‘ zuzuordnen, dürfte zwar nicht der bewussten Intention der Protagonisten entsprochen haben, verdeutlicht aber deren äquivalente Funktion: Auch hier ging es um die Ausbildung von Netzwerken innerhalb des Adels und um Selbstdarstellung in diesen Netzwerken. Zur situationsbezogenen, demonstrativen Überwindung von Standesgrenzen im Rahmen der Sammlung der Frommen, die Heinrich XXIII. praktizierte und beschrieb, existierte an den übrigen Höfen jedoch kein Äquivalent. Der Vergleich der beiden Reisetagebücher bietet keinerlei Anhaltspunkte für die angenommene Diskrepanz in der Selbstdarstellung der Protagonisten in verschiedenen kommunikativen Kontexten. Weder das Agieren Heinrichs XXIII. an den verschiedenen Höfen noch die Interaktionen der Adligen mit Francke auf der einen und dem Lobensteiner auf der anderen Seite zeigten Unterschiede in der Art der ‚Aufführung‘ der pietistischen Rolle. Das ist nicht verwunderlich, wenn man berücksichtigt, dass die Reisetagebücher zwar die Interaktionen mit verschiedenen Partnern beschreiben, der Kreis der Adressaten, die das Tagebuch zu lesen bekamen, und die Topoi der Selbstdarstellung aber gleich blieben. Wünschenswert wäre deshalb die Gegenüberstellung der Befunde mit dem Schreibkalender Heinrichs XIII. von Reuß-Untergreiz gewesen. Doch dessen Beschreibungen fallen deutlich knapper als die hier untersuchten aus und eignen sich daher nicht für einen Vergleich.92

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Vgl. Schreibkalender Heinrich XIII. von Reuß-Untergreiz aus dem Jahr 1715 (ThStA Greiz Hausarchiv Obergreiz und Untergreiz, Nr. 1227).

IV KONTAKTAUFNAHMEN: THÜRINGISCHER PIETISMUS IN GRENZÜBERSCHREITENDER PERSPEKTIVE

PFLANZGARTEN Thüringische Akteure in der europäischen Reich-Gottes-Arbeit des Halleschen Pietismus seit 17001 Alexander Schunka Vom „grünen Herz Deutschlands“2 zum „Pflanzgarten“ scheint es nur ein kleiner Schritt zu sein. Trotz der unterschiedlichen historischen Ursprünge und zeitgenössischen Aufladungen beider Begriffe lassen sich die thüringischen Territorien für den Halleschen Pietismus Franckescher Prägung als Ursprungsgebiet und Konvergenzpunkt von Ideen und Personen verstehen, die in der europäischen und weltweiten Reich-Gottes-Arbeit der Glauchaer Anstalten im 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielen sollten. August Hermann Franckes (1663–1727) Metaphorik des Pflanzgartens, wie man zeitgenössisch den Begriff Seminarium übersetzt hat, ist in der Rückschau eine konstitutive Bedeutung für die Expansion des Halleschen Pietismus eingeräumt worden. Der Rolle von Thüringern in der Frühzeit der Bewegung gehen die folgenden Ausführungen nach. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht die berühmteren thüringischen Zeitgenossen, die in der Konstitutionsphase des Halleschen Pietismus unmittelbar für die pietistische Reformbewegung und die Glauchaer Anstalten aktiv waren.3 Es geht jedoch auch nicht um eine prosopographische Zusammenschau von Thüringern im Personal der Anstalten, sondern vielmehr um europäische Zusammenhänge: Das Augenmerk gilt thüringischen Einflüssen, Personen und Kontakten im Hinblick auf die Etablierung pietistischer Gemeinden in London und Moskau, ergänzt um einen kurzen Blick auf den Mittelmeerraum. Der Fokus richtet sich auf die Karrieren thüringischer Akteure, auf Mittelsleute und Mechanismen der Personalgewinnung, die zunächst beispielhaft und abschließend in systematischer Perspektive behandelt werden. Angesichts der lückenhaften Forschungslage kann es nicht um ein nur annähernd vollständiges Bild gehen, und auch nicht darum, Netzwerkstrukturen in methodisch zufriedenstellender Weise darzustellen. Gleichwohl lässt sich davon sprechen, dass 1

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Der Entstehungskontext dieses Aufsatzes ist das vom Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur geförderte Forschungsprojekt Bildungslandschaft und Wissenskultur (Forschungsbibliothek und Forschungszentrum Gotha, 2014–2017), mit dem auch die durchgeführte Konferenz in Verbindung stand. Ich danke Lennart Gard für Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags. Zu Geschichte und Kontext dieser Begrifflichkeit vgl. Jürgen John u. Bernhard Post: Von der Landesgründung zum NS-„Trutzgau“. Thüringen-Diskurse 1918 bis 1945. In: Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. 150 Jahre Landesgeschichtsforschung in Thüringen. Hg. v. Matthias Werner. Köln [u. a.] 2005 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe, 13), 67–120. Vgl. die Bemerkungen in der Einleitung dieses Bandes.

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durch personelle Kontakte bestimmte Knotenpunkte entstanden, die wiederum für Informationsflüsse konstitutiv waren, und dass vor diesem Hintergrund Faktoren wie Status, Prestige, Patronage- und Einflussmöglichkeiten einzelner Akteure in charakteristischen Positionen wirksam wurden. Nur in Ansätzen kann bislang in umgekehrter Perspektive ein Rückfluss von Ideen und Personal aus der europäischen und weltweiten Reich-Gottes-Arbeit in den thüringischen Raum festgestellt werden. Der folgende Abschnitt (1) dient der Kontextualisierung von Franckes Pflanzgarten-Konzept, das eine planvolle, systematische und zielgerichtete Ausbreitung des Glauchaer Pietismus über Europa und die Welt nahezulegen scheint. In den anschließenden Kapiteln, die sich mit der Etablierung von Thüringer Pietisten in London (2) und Moskau (3) sowie den Kontaktaufnahmen mit dem mediterranen Europa (4) befassen, geht es in sozialgeschichtlicher und kommunikationshistorischer Perspektive um Strukturen der Ausbreitung des Halleschen Pietismus und um die Bedeutung der Verbindungen von und nach Thüringen. Ein Fazit (5) führt die Ergebnisse in allgemeinerer Absicht zusammen. 1. FRANCKES PFLANZGARTEN IM KONTEXT August Hermann Franckes berühmte Programm- und Reformschrift Project zu einem Seminario universali4 aus dem Jahr 1701 fordert umfangreiche Anstrengungen, um die Ausbildung von Geistlichen und Lehrern zu verbessern, damit sich diese weltweit für das Reich Gottes einsetzen mögen.5 Rückblickend lässt sich der Text sowohl als Grundlagenschrift für die pietistische Missionsarbeit lesen wie auch als Aufbauanleitung und Anstoß zur systematischen Spendenwerbung für Franckes Anstalten. Das Pflanzgarten-Traktat ist allerdings nicht so sehr der große Wurf des Genius von Glaucha als vielmehr ein Produkt vielfältiger Einflüsse, Rezeptionsstränge und Ideentransfers. So ordnet sich das Project in eine Reihe unterschiedlicher protestantischer Reformentwürfe um 1700 ein, in denen die Ausbreitung des wahren Christentums über die Welt gefordert wird und die sich als mehr oder weniger konkrete Anleitungen zur Evangelisierung lesen lassen – unter Einschluss politischer und wirtschaftlicher Erwägungen und mit dem Ziel einer universalen Harmonie und Einheit von Glauben und Wissen.6 4

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In Auszügen jetzt leicht greifbar in: Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. Veronika Albrecht-Birkner [u. a.]. Leipzig 2017, 483–485. S. auch: August Hermann Francke: Project zu einem Seminario Universali [1701]. In: ders.: Werke in Auswahl. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, 108–115. Zu diesem Text und dem Kontext vgl. Wolfgang Breul: August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. dems. u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013 (AGP, 59), 69–83; Udo Sträter: Der hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. dems. Bd. 1. Tübingen 2005 (HaFo, 17), 19–36. S. z. B. Gottfried Wilhelm Leibniz: Das Neueste von China (1697). Novissima Sinica. Hg. v. Heinz Günther Nesselrath u. Hermann Reinbothe. Köln 1979, VII–X; Conrad Mel: Die Schau-

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Dass sich in Franckes Pflanzgarten-Konzeption Einflüsse aus intellektuellen Zusammenhängen finden, die nach Thüringen verweisen, mag angesichts der dort verbrachten prägenden Lebensabschnitte des Glauchaers nicht weiter überraschen. Als Sohn eines Gothaer Beamten hatte der spätere Gründer der Anstalten einige Jahre am Gymnasium Ernestinum verbracht, das sich unter Herzog Ernst I., dem ‚Frommen‘ (1601–1675), zur landesfürstlichen „Kaderschmiede“7 entwickelt hatte und von den Gothaer Bildungsreformbemühungen unter maßgeblichem Einfluss des Pädagogen Andreas Reyher (1601–1673) durchdrungen war. Franckes Gothaer und seine spätere Erfurter Zeit trugen dazu bei, dass er über enge personelle und intellektuelle Verbindungen in die thüringischen Territorien verfügte.8 Das Bild vom Seminarium bzw. Pflanzgarten war in den intellektuellen Zusammenhängen rund um den Sachsen-Gothaer Hof des 17. Jahrhunderts populär. Es besaß allerdings eine kirchlich-religiöse Dimension, die über Thomas von Aquin (um 1225–1274) bis zu Augustinus (354–430) zurückreichte. In Franckes Reformplan finden sich kirchenreformerische Anklänge an das Seminardekret des Konzils von Trient, wo im Jahr 1563 eine professionalisierte Priesterausbildung an den jeweiligen Bischofssitzen geregelt wurde.9 Gleichzeitig verweist die Metapher jedoch auf eine antike Staats- und Agrarmetaphorik, konkret bei Cicero (106–43 v. Chr.), den der Glauchaer in seiner Projektschrift zitiert. Vermutlich handelt es sich bei diesem Zitat um eine Übernahme aus den posthumen Additiones des Teutschen Fürsten=Staats, verfasst vom Sachsen-Gothaer Politiker Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692), dessen dort formulierte Reformideen etwa im Hinblick auf die Armenversorgung sowohl von Philipp Jakob Spener (1635–1705) als auch von den Halleschen Pietisten geschätzt wurden.10

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burg der evangelischen Gesandtschaft [Auszüge]. In: Albrecht-Birkner [u. a.], Pietismus [s. Anm. 4], 479–483. Andreas Klinger: Der Gothaer Fürstenstaat. Herrschaft, Konfession und Dynastie unter Herzog Ernst dem Frommen. Husum 2002 (Historische Studien, 469), 232. Gustav Kramer: August Hermann Francke. Ein Lebensbild. Teil 1. Halle/Saale 1880, 8–11; Johannes Wallmann: Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Erfurt 742–1992. Stadtgeschichte – Universitätsgeschichte. Hg. v. Ulman Weiß. Weimar 1992, 403–422; Miriam Rieger: Eine pietistische Ausbildungsstätte? Der Streit um das Gymnasium Illustre um 1700. In: Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Ausstellungskatalog. Hg. v. Sascha Salatowsky. Gotha 2013 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 49), 89–95. Johannes Bilstein: Cultura – Zum Bedeutungshof einer Metapher. In: Der Alltag der Kultivierung. Studien zu Schule, Kunst und Bildung. Hg. v. Leopold Klepacki [u. a.]. Münster [u. a.] 2009 (Erlanger Beiträge zur Pädagogik, 8), 101–119, hier: 108–110. Zum Seminardekret und seinen Auswirkungen vgl. Arno Seifert: Das höhere Schulwesen. Universitäten und Gymnasien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: 15.–17. Jahrhundert. Von der Renaissance und der Reformation bis zum Ende der Glaubenskämpfe. Hg. v. Notker Hammerstein. München 1996, 197–346, hier: 315–320. Für Franckes Cicero-Zitat „Seminarium rei publicae“ s. Francke, Project [s. Anm. 4], 110. Zur Herkunft s. Veit Ludwig von Seckendorff: Additiones Oder Zugaben und Erinnerungen Zu dem Tractat des Teutschen Fürsten=Staats Durch den Avtorem selbst dieser neuen Edition aus Liebe gemeinen Bestens / abgefasset. Frankfurt/Main 1695, 182. Vgl. Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005 (Historia profana et ecclesiastica, 11), 43 f., sowie Hans Maier: Halle und die

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Nicht zu übersehen ist daneben ein Rezeptionsstrang im Verständnis von Pflanzgarten oder Seminarium, der mit dem Gelehrten Johann Amos Comenius (1592–1670) in Verbindung steht. Comenius schuf 1631 mit der Janua linguarum reserata, Sive seminarium linguarum et scientiarum omnium (zeitgenössisch ins Deutsche übertragen als Pflantz=Garten aller Sprachen und Wissenschaften) eines der populärsten und am häufigsten übersetzten Bücher im Europa des 17. Jahrhunderts. Auch in verschiedenen anderen Werken pflegt Comenius eine spezifische Garten-, Anbau- und Pflanzenmetaphorik, insbesondere im Hinblick auf die Kindererziehung.11 Franckes Nähe zu den Erziehungs- und Reformplänen des Theologen Comenius ist bekannt.12 Comenianische Einflüsse auf Bildung und Pädagogik lassen sich allerdings bereits beim Pädagogen Andreas Reyher nachweisen, der hinter den Sachsen-Gothaer Bildungsanstrengungen zur Zeit Ernsts des Frommen stand. Auch am Gymnasium Ernestinum und speziell durch seinen Rektor, den Francke-Vertrauten Gottfried Vockerodt (1665–1727), wurde das Bild des Pflanzgartens immer wieder aufgegriffen.13 Franckes Zeitgenosse Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) rezipierte Comenius, genau wie er bereits in seiner Jugend das Werk Philosophiae primae seminarium des Comenius-Vertrauten Johann Heinrich Bisterfeld (1605–1655) kommentiert hatte.14 Dass in diesem intellektuellen Zusammenhang der Begriff des Pflanzgartens in das Reformprogramm des Halleschen Pietismus einging, ist wenig überraschend. Darüber hinaus sind allerdings zeitgenössische Werke zum Gartenbau von Interesse, die ihrerseits häufig Ratschläge zur Kultivierung der Natur mit allgemeineren Reformvorschlägen verbanden. Dies gilt bereits für die sogenannte Hausväterli-

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deutsche Staatswissenschaft. In: Universitätsjubiläum und Erneuerungsprozeß. Die MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg im dreihundertsten Jahr ihres Bestehens 1994. Hg. v. Hans-Hermann Hartwich. Wiesbaden 1995, 65–84, hier: 71. Vgl. Daniel Neval: Die Macht Gottes zum Heil. Das Bibelverständnis von Johann Amos Comenius in einer Zeit der Krise und des Umbruchs. Zürich 2006 (Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte, 23), 258: Johann Amos Comenius: Janua linguarum reserata, Sive seminarium linguarum et scientiarum omnium […]. O. O. 1631; ders.: Auffgeschlossene Güldene Sprachen=Thür: Oder Ein Pflantz=Garten aller Sprachen und Wissenschaften […]. Leipzig 1633. Vgl. u. a. Erhard Peschke: Die Reformideen des Comenius und ihr Verhältnis zu A. H. Franckes Plan einer realen Verbesserung der ganzen Welt. In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag. Hg. v. Heinrich Bornkamm. Bielefeld 1975 (AGP, 14), 368–382. Zum Kontext s. Dietrich Blaufuß: Comenius Antepietista? Streiflichter zur Rezeption von Comenius im Pietismus. In: Comenius und die Genese des modernen Europa. Internationales Comenius-Kolloquium. Hg. v. Norbert Kotowski u. Jan Blahoslav Lášek. Fürth 1992, 70–85. S. Christoph Köhler: Andreas Wilke und Gottfried Vockerodt. Zwei namhafte Rektoren des Gothaer Gymnasiums. Ihre schulreformerischen Bestrebungen im Spiegel deklamatorischer Reden. In: Gotha macht Schule [s. Anm. 8], 20–30, hier: 30, Anm. 44; s. auch Andreas Lindner: Bildungsfrüchte. Valediktionen als Spiegel des Selbstverständnisses schulischer Bildung. AaO, 32–39: hier: 38 sowie 39, Anm. 31. Vgl. Donald Rutherford: Leibniz and the Rational Order of Nature. Cambridge 1998, 36–40. Vgl. auch Konrad Moll: Leibniz, Comenius, Bisterfeld. Die Ambivalenz des Menschen zwischen Weltordnung und Chaos. In: Comenius-Jahrbuch 9–10, 2001–2002, 44–61.

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teratur des 16. und 17. Jahrhunderts.15 Der Zusammenhang zwischen Gartenbau, Naturbeobachtung, Kultivierung und Reform findet sich noch in Schriften wie Der Orientalisch-Indianische Kunst= und Lust=Gärtner des Thüringers Georg Meister (1653–1713) aus dem Jahr 1692. Meister hatte sich wie viele seiner mitteldeutschen Zeitgenossen bei der niederländischen Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) verdingt, bereiste die Welt und legte später dem sächsischen Kurfürsten in Dresden einen groß angelegten Staatsreformentwurf in Gestalt eines Reise- und Gartenbuchs vor.16 Der letzte hier aufzuzeigende Einflussstrang für Franckes Pflanzgarten-Schrift deutet auf eine konkrete Verbindung zwischen Thüringen und dem britischen Raum hin. So hatte der anglikanische Geistliche Thomas Bray (1658–1730), ein engagierter Kolonialaktivist und späterer Gründer der Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK), in seiner Predigt Apostolick Charity bereits vier Jahre vor Francke ähnliche Reformvorschläge geäußert, wie der Glauchaer sie in seinem Seminario universali formulieren sollte. Konkret hatte Bray gefordert, man müsse Helfer und Spenden zur geistlichen Versorgung der Einwohnerschaft in den nordamerikanischen Kolonien gewinnen.17 Brays Ziel war es, im Sinne christlicher Reform die dortige Bildung zu heben, unter anderem durch die Einrichtung von Bibliotheken. Seine Mangel- und Bedarfsanalyse scheint Francke zumindest indirekt aufgenommen zu haben, denn die Predigt lag ihm seit Ende 1699 in mehreren Ausgaben vor. Übersandt hatte sie ihm ein Sömmerdaer namens Johann Christoph Mehder.18 Mehder hielt sich seit 1699 im Umkreis Brays in London auf und wurde früh Mitglied der SPCK. Bei dieser Gesellschaft handelte es sich um eine Londoner religiös-philanthropische Vereinigung, die sich auf den britischen Inseln, dem Kontinent und zunehmend auch außerhalb Europas für Volksbildung und Mission engagierte.19 Sie verstand sich zeitweilig als protestantisches Pendant der katholischen Congregatio de Propaganda Fide und wies im Bereich der praktischen Reich-Gottes-Arbeit mancherlei Schnittmengen mit den Glauchaer Anstalten auf.20 Dass Bray und die SPCK mit Francke und seinen Mitstreitern in Halle eine enge Kooperation begannen, die 15 16 17 18

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Vgl. z. B. Bilstein, Cultura [s. Anm. 9], 109. Zu ihm s. Veit Hammer: Georg Meister (1653–1713). Ein biographischer Versuch. München 2010. Zu Georg Meisters Werk plane ich eine kleine Publikation. Thomas Bray: Apostolick Charity, its Nature and Excellence Consider’d in a Discourse Upon Dan. 12.3. Preached at St. Pauls, Decemb. 19. 1697 at the Ordination of some Protestant Missionaries to be sent into the Plantations. […]. London 1698. Die Predigt wurde von diesem im September 1699 übersandt (vgl. J. C. Mehder an A. H. Francke, London, 4.9.1699 [SBB PK Nachlass Francke, 30/32/1]). Abermals nach Halle geschickt wurde sie durch John Chamberlayne im Dezember 1699 (vgl. J. Chamberlayne an A. H. Francke, Westminster, 12.12.1699 [SBB PK Nachlass Francke, 30/11/1]). Vgl. Brent S. Sirota: The Christian Monitors. The Church of England and the Age of Benevolence, 1680–1730. New Haven 2014. Vgl. Sugiko Nishikawa: The SPCK in Defence of Protestant Minorities in Early EighteenthCentury Europe. In: JEcclH 56, 2005, 730–748 sowie Alexander Schunka: Zwischen Kontingenz und Providenz. Frühe Englandkontakte der halleschen Pietisten und protestantische Irenik um 1700. In: PuN 34, 2008, 82–114, mit weiterer Literatur.

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letztlich zur Halleschen Ostindienmission und zum breiten Engagement der Anstalten im Britischen Empire führen sollte, war in nicht unwesentlichem Maß Thüringern wie dem Sömmerdaer Mehder zu verdanken, dessen Landsmann Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712) dabei über Jahre im Hintergrund die Fäden zog.21 2. THÜRINGER IN LONDON Auf längere Sicht sollte das Wirken Hallescher Pietisten in der englischen Metropole London konstitutiv für die weltweite Reich-Gottes-Arbeit Franckes und seiner Mitarbeiter werden.22 Gleichwohl lässt sich für die Anfangsjahre dieser Kontakte und konkret in Bezug auf den erwähnten Johann Christoph Mehder die Frage stellen, wie und warum es einen Sömmerdaer im Jahr 1699 zunächst an die Glauchaer Anstalten und schließlich nach London verschlug. Mehders erster Kontakt nach Halle ging offenbar auf einen alten Bekannten Franckes aus Erfurter Zeiten zurück: den späteren Sömmerdaer Pfarrer Heinrich Süsse (1653–1699), der mehrere Personen an die Saale weiterempfahl.23 Der junge Thüringer Mehder nahm an der Halleschen Universität ein Studium auf und wirkte nebenbei in den Anstalten als Waiseninformator, bevor er 1699 zusammen mit Jakob Bruno Wigers auf eine Kollektenreise über die Niederlande nach England geschickt wurde. Dieser Plan stand im Zusammenhang mit einer breiteren Strategie der Glauchaer Anstalten in den Jahren um 1700 zur Geldakquise durch europaweite Spendensammlungen.24 Nach Besuchen beim Spiritualisten Friedrich Breckling (1629–1711) sowie dem Quäker Benjamin Furly (1636–1714) und dessen langjährigem thüringischen Buchhalter Johann Hieronymus Liebenroth in Rotterdam erreichten Mehder und Wigers London. Dort kamen sie zunächst mit Wilhelm Mecke in Kontakt, dem deutschen Hofprediger von Königin Annas (1665–1714) lutherischem Gemahl Prinz Georg von Dänemark (1653–1708). Der anglikanische Geistliche Thomas Bray beabsichtigte ursprünglich, Mehder in die nordamerikanischen Kolonien mitzunehmen.25 Dazu kam es nicht: Stattdessen wurden Mehder und Wigers Teil des Charity SchoolProgramms der SPCK. Sie gründeten eine Lateinschule und blieben als Lehrer in London. Um sie herum entwickelte sich eine wichtige Schnittstelle zwischen der 21

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Vgl. Alexander Schunka: An England ist uns viel gelegen. Heinrich Wilhelm Ludolf als Wanderer zwischen den Welten um 1700. In: London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Wiesbaden 2014 (HaFo, 39), 43–64. Vgl. die Beiträge in: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Anm. 21]. Vgl. Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst, 18, 1929, 1–55, hier: 5. Schunka, Kontingenz [s. Anm. 20], 94–96. Vgl. in Kürze Alexander Schunka: Kollektenreisen im Halleschen Pietismus. In: Pietismus und Ökonomie. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.] (Druckvorbereitung). Zu Kollektenreisen unter frühneuzeitlichen Protestanten ansonsten ders.: Collecting Money, Connecting Beliefs. Fundraising and Networking in the Unity of Brethren of the Early Eighteenth Century. In: Journal of Moravian History 14, 2014, 73–92. J. C. Mehder an A. H. Francke, London, 4.9.1699 (SBB PK Nachlass Francke, 30/32/1); s. auch J. B. Wigers an A. H. Francke, Windsor, 13.8.1699 (aaO, 30/57/11).

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anglikanischen SPCK und der deutschen Kapelle am Hof Prinz Georgs, die in den Folgejahren zum Zentrum des Halleschen Pietismus in London werden sollte. So richtungweisend Franckes Entsendung Mehders nach London scheint, so wäre doch die künftige Kooperation zwischen SPCK und Halleschem Pietismus kaum zustande gekommen ohne das Wirken von Heinrich Wilhelm Ludolf, der Grauen Eminenz Hallescher Außenbeziehungen. Ludolf entstammte einer bedeutenden Erfurter Bürgerfamilie mit Kontakten zum Sachsen-Gothaer Hof. Er war der Neffe des Sprachgelehrten und Äthiopisten Hiob Ludolf (1624–1704). In London hielt er sich seit Mitte der 1680er Jahre auf und gehörte dem Hofstaat Georgs von Dänemark an. Ludolfs Weltbild war spiritualistisch und endzeitlich geprägt; er stand zunehmend den Halleschen Pietisten nahe. Ihm ist es zu verdanken, dass Mehder, Wigers und schließlich auch Francke Beziehungen zur SPCK um Bray und den Philanthropen John Chamberlayne (1666–1723) aufbauen konnten, aus denen sich unter anderem die spätere Unterstützung Halles und speziell der pietistischen Evangelisierungsarbeit in Ostindien durch Londoner Kreise ergeben sollte, außerdem die Entsendung englischer Schüler in die Glauchaer Anstalten.26 Zugleich stellte Ludolf wertvolle Verbindungen zur dänischen Diplomatie und speziell zum Hofstaat Prinz Georgs her, wo sich mit Anton Wilhelm Böhme (1673–1722) ein pietistischer Prediger etablieren konnte.27 Bei genauerem Hinsehen drängt sich die Vermutung auf, dass Kontakte in Ludolfs Thüringer Heimat für seine Londoner Personalpolitik eine wichtige Rolle spielten – auch wenn nicht alle Rekrutierungsversuche zum Erfolg führten. So versuchte er vergeblich, einen Angehörigen der Erfurt-Gothaer Familie Brückner als Informator nach London zu holen.28 Ebenso scheiterte er daran, an Böhmes Stelle Benjamin Furlys langjährigen Rotterdamer Buchhalter Liebenroth, gebürtig aus Ellrich bei Nordhausen, in der britischen Metropole zu installieren, den er für bedeutend fähiger hielt als den späteren Hofprediger.29 Erfolgreicher war Ludolf demgegenüber bei der Rekrutierung des Theologiestudenten Friedrich Wilhelm Berchelmann (1679–1754), der nach seiner Zeit als Informator in Gotha und Halle 26

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Vgl. Renate Wilson: Continental Protestant Refugees and their Protectors in Germany and London. Commercial and Charitable Networks. In: PuN 20, 1994, 107–124; zur Schülerentsendung s. Alexander Schunka: England als Erfahrungsraum im Halleschen Pietismus. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus. Bd. 2. Hg. v. Christian Soboth u. Udo Sträter. Halle/Saale, Wiesbaden 2012 (HaFo, 32), 823–836; ders.: In usum Angliae: Engländer, englische Sprache und Englischunterricht an den Franckeschen Anstalten im frühen 18. Jahrhundert. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit im langen 18. Jahrhundert. Hg. v. Mark Häberlein u. Holger Zaunstöck. Wiesbaden 2017 (HaFo, 47), 139–155 sowie ders., Ludolf [s. Anm. 21]. Zu Böhmes Wirken s. Arno Sames: Anton Wilhelm Böhme (1673–1722). Studien zum ökumenischen Denken und Handeln eines halleschen Pietisten. Göttingen 1989 (AGP, 26); Daniel L. Brunner: Halle Pietists in England. Anthony William Boehm and the Society for Promoting Christian Knowledge. Göttingen 1993 (AGP, 29). Wohl Hieronymus Brückner aus Gotha, ein Freund Johann Tribbechows (s. H. W. Ludolf an A. H. Francke, London, 1.2.1701 [AFSt/H D 71: 69r–70v]; vgl. auch Theodor Wotschke: Vom Pietismus in Thüringen. In: Beiträge zur Thüringischen Kirchengeschichte 1/2, 1930, 295–311; 1/3, 1931, 356–397, hier: 395). H. W. Ludolf an A. H. Francke, London, 27.12.1701 (AFSt/H D 71: 93v).

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mehrere Jahre für die Londoner Gemeinde wirkte, wo er unter anderem Franckes Nicodemus ins Englische übersetzte.30 Eine Thüringer Personalie, die Ludolf und die Halleschen Pietisten in London für einige Zeit beschäftigen sollte, war die Anstellung Johann Tribbechows (1677– 1712), eines Sohnes des Gothaer Theologen und Kirchenrats Adam Tribbechow (1641–1687). Johann Tribbechow, der sich im Jenaer Umfeld Johann Ernst Stoltes (1672–1719) in der Studentenerweckung engagiert hatte und eigentlich in Halle eine Universitätskarriere einschlagen wollte,31 ging 1707 auf Initiative Ludolfs als Prediger an die Londoner Hofkapelle, nachdem er sich in den Niederlanden noch rasch hatte ordinieren lassen. In London war er zuständig für die Ausspendung der Sakramente, die Anton Wilhelm Böhme mangels eigener Ordination nicht versehen durfte.32 Zwischenzeitlich war Tribbechow im Gespräch für den Posten des Gothaer Superintendenten.33 Während seiner Londoner Zeit machte er sich im Jahr 1709 einen Namen als Organisator bei der Aufnahme und Versorgung der sogenannten Poor Palatines, rund 10.000 deutschsprachiger Emigranten aus dem Oberrheingebiet.34 Auf ihn geht zudem mit gewisser Wahrscheinlichkeit eines der frühesten Englischlehrbücher in deutscher Sprache zurück, das für die Pfälzer verfasst wurde.35 Sein jüngerer Bruder Friedrich (1684–1716) folgte den Palatines nach Nordamerika und starb schließlich in Philadelphia.36 Johann Tribbechows Londoner Zeit wirft ein Schlaglicht auf das politischgesellschaftliche Engagement rund um den Hof Prinz Georgs, aber auch auf die Binnenstrukturen der pietistischen Gemeinde in der britischen Hauptstadt, die von Spiritualisten wie Ludolf, kirchenkritischen Indifferentisten wie Böhme und Pietisten aus dem frömmigkeitlichen Umfeld des Gothaer Gymnasii Ernestini geprägt 30 31 32

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H. W. Ludolf an A. H. Francke, Haag, 16.7.1706 (AFSt/H A 112: 71–74). Zu Johann Tribbechow s. Andreas Mielke u. Sandra Yelton: Tribbechow, Johann. In: BBKL 30, 2009, 1499–1505, sowie Wotschke, Vom Pietismus [s. Anm. 28], 394–397. Zu Johann Ernst Stolte s. den Beitrag von Ernst Koch in diesem Band. Tribbechows Tätigkeit war nötig geworden, da der Prediger an der Savoy-Gemeinde, Irenaeus Crusius (1668–1707), verstorben war. Dass Tribbechow durch Ludolf und Francke ausgewählt wurde, geht hervor aus: H. W. Ludolf an A. H. Francke, Haag, 2.2.1707 (AFSt/H A 112: 111). Die Ordinationsfrage wird diskutiert in: H. W. Ludolf an A. H. Francke, Eisenach, 15.7.1707 (aaO, 117 f.). Zum Problem der fehlenden Ordination Böhmes s. Schunka, Kontingenz [s. Anm. 20], 103. Vgl. Wotschke, Vom Pietismus [s. Anm. 28], 395, Anm. 1. Zum Hintergrund s. Philip Otterness: Becoming German. The 1709 Palatine Migration to New York. Ithaca, London 2004; Mark Häberlein: ‚Pfälzer‘ in Europa seit dem 17. Jahrhundert. In: Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Klaus J. Bade [u. a.]. Paderborn [u. a.] 2007, 846–850. A Short and Easy Way for the Palatines to learn English. Oder Eine kurtze Anleitung zur Englischen Sprach / Zum Nutz Der armen Pfältzer. London 1710. Zum Publikationskontext vgl. Graham Jefcoate: Deutsche Drucker und Buchhändler in London 1680–1811. Strukturen und Bedeutung des deutschen Anteils am englischen Buchhandel. Berlin [u. a.] 2015 (AGB Studien, 12), 131–133. A. W. Böhme an A. H. Francke, London, 2.11.1711 (AFSt/H C 229: 42a). Zu den Erbstreitigkeiten bei Friedrich Tribbechows Tod in Philadelphia s. G. H. Neubauer an A. W. Böhme, Halle, 18.11.1716 (AFSt/H A 185: 103).

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war. Seinem Weggang aus London im Jahr 1710 und der schließlichen Rückkehr nach Thüringen ging ein Zerwürfnis voraus, das von Zeitgenossen mit persönlicher Ruhmsucht und Eitelkeit („Selbst-Liebe“),37 geistiger Verwirrung und „WeiberLiebe“ in Verbindung gebracht wurde. Der letzte Punkt legt nahe, dass der Thüringer Geistliche eine ungeschriebene Regel in der Londoner Gemeinde brach, indem er eine Liebesaffäre mit einer Engländerin begann.38 Damit brachte er sich in Opposition zu den Protagonisten der Gemeinde, die – von Ludolf über Böhme39 bis zu Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776) und anderen – allesamt absichtsvoll ein Leben in Ehelosigkeit praktizierten, wie dies beispielsweise vom frühen Gottfried Arnold (1666–1714) vertreten wurde.40 Jenseits der theologischen Dimension eines zölibatären Lebensentwurfs von Pietisten als Weg zur individuellen Heiligung deutet zudem manches darauf hin, dass Amt und Auslandstätigkeit Hallescher Abgesandter mit einer Familiengründung nicht leicht vereinbar gewesen wären. Nach außen hin wurden denn in der Londoner Gemeinde praktische Gründe für eine Ehelosigkeit geltend gemacht und das Problem ansonsten wenig thematisiert.41 Tribbechow scheint jedenfalls durch die Beziehung zu einer einheimischen Frau, die ihn nach Meinung Anton Wilhelm Böhmes sogar mit einem Schadenszauber belegt und dadurch seine zunehmende geistige Zerrüttung verursacht habe, zu seinem unfriedlichen Abgang aus London beigetragen zu haben.42 Nach außen hin wurde seine Ablösung als Folge einer möglichen Vernachlässigung von Dienstpflichten dargestellt.43 Er verstarb schließlich im thüringischen Tennstedt 1712, fast auf den Tag genau mit seinem ehemaligen Mentor Heinrich Wilhelm Ludolf in London. Diese Koinzidenz ist bereits den Zeitgenossen aufgefallen und als höhere 37 38 39

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A. W. Böhme an A. H. Francke, London, 19.9.1710 (AFSt/H C 229: 55b). S. z. B. F. Tribbechow an A. H. Francke, London, 29.8.1710 (SBB PK Nachlass Francke, 21/1/5, 19). Zur unerfüllten Liebe der Schwester des Arztes Frederick Slare (1647–1727) zum Junggesellen Böhme und den Auswirkungen vgl. Alexander Schunka: Libri, formaggio e vino. Oggetti in viaggio nell’Europa protestante del primi Settecento. In: Archivio italiano per la storia della pietà 30, 2017, 91–118, hier: 91–95. S. grundsätzlich Wolfgang Breul: Ehe und Sexualität im radikalen Pietismus. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. dems. [u. a.]. Göttingen 2011 (AGP, 55), 403– 418. Systematisch erforscht sind die Auswirkungen solcher Auffassungen für London und darüber hinaus bislang nicht. Für Ziegenhagen s. Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Hallescher Pietist und Londoner Hofprediger. Halle/Saale 2013 (HaFo, 34), 187–198; vgl. auch Anthony Gregg Roeber: Hopes for Better Spouses. Protestant Marriage and Church Renewal in Early Modern America. Grand Rapids, Cambridge 2013 (Emory University Studies in Law and Religion), 155 f.; Eberhard Fritz: Sexuelle Askese und Gütergemeinschaft – Reich Gottes auf Erden? Anthropologische Konzepte und Lebenspraxis radikaler Pietisten aus Württemberg. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hg. v. Udo Sträter. Tübingen 2009 (HaFo, 28), 381–392. Vgl. dazu Roeber, Hopes [s. Anm. 40], 95; Jetter-Staib, Halle [s. Anm. 40], 197. A. W. Böhme an A. H. Francke, London, 19.9.1710 (AFSt/H C 229: 55b). Ernst Salomon Cyprian: Hilaria evangelica, Oder Theologisch=Historischer Bericht Vom Andern Evangelischen Jubel=Fest, Nebst III. Büchern darzu gehöriger Acten und Materien […]. Gotha 1719, 898.

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Fügung gedeutet worden.44 Tribbechows Leben und Sterben wurden in Thüringen genau beobachtet; sein Werdegang diente dem Gothaer Gymnasialrektor Gottfried Vockerodt als abschreckendes Beispiel für die Verlockungen, denen sich Pietisten im Ausland ausgesetzt sähen.45 3. THÜRINGER IN MOSKAU Der Einfluss von Thüringern auf die erste Generation der Pietisten in London ist zweifellos eng mit den Kontakten Heinrich Wilhelm Ludolfs und seinen Fähigkeiten als Netzwerker verknüpft. Mancherlei strukturelle Ähnlichkeiten finden sich bei der pietistischen Präsenz in Moskau und dem Russischen Reich. Hier hatte zeitweilig ebenfalls Ludolf seine Hände im Spiel, der nicht nur als Englandexperte, sondern auch als Russlandkenner galt. Die Moskauer Deutsche Vorstadt (Немецкая слобода) war das Ergebnis von Deportationen und Immigrationen mehrheitlich deutschsprachiger Lutheraner seit dem 16. Jahrhundert, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts nordöstlich des Moskauer Zentrums in einem ghettoähnlichen Viertel angesiedelt wurden und dort über eigene Kirchenstrukturen verfügten.46 Gegen Ende des Jahrhunderts gab es hier mehrere lutherische Gemeinden. Dazu gehörten die „Alte Gemeinde“ an der sogenannten Offizierskirche, wo seit 1657 der Mühlhausener Johann Dietrich Vockerodt (vor 1628–1688) als Geistlicher wirkte, ein Onkel des späteren pietistischen Gothaer Gymnasialrektors Gottfried Vockerodt.47 Daneben existierte eine „Neue Gemeinde“, die von Johann Gottfried Gregorius/Gregorii (1631–1675)48 betreut wurde und später mit Blick auf den Pietismus bedeutsam werden sollte.49 Gregorius, ein gebürtiger Merseburger, hatte nach einem ersten Russlandaufenthalt in Jena Theologie studiert und sich in Dresden ordinieren lassen, um als Pastor die Moskauer Gemeinde übernehmen zu können, wo er bereits zuvor als Schulmeister gewirkt hatte.50 Er gilt als Begründer des säkularen Theaters im Zarenreich und verfasste selbst ein Drama über den populären Esther-Stoff aus dem 44 45 46 47 48

49 50

A. H. Francke an A. W. Böhme, Halle, 1.5.1712 (AFSt/H A 185: 28); A. W. Böhme an A. H. Francke, London, 6.5.1712 (aaO C 229: 37). Mielke u. Yelton, Tribbechow [s. Anm. 31]. Samuel Baron: The Origins of Seventeenth-Century Moscow’s Nemeckaja Sloboda. In: California Slavic Studies 5, 1970, 1–18. Theodor Wotschke: Gottfried Vockerodt in seinen Briefen an A. H. Francke. In: Mühlhäuser Geschichtsblätter. Zeitschrift des Altertumsvereins für Mühlhausen in Thüringen u. Umgegend 28, 1929, 46–82. Mehrere westliche Immigranten im Zarenreich des 17. Jahrhunderts änderten offenbar ihren Nachnamen in ein Patronym: Aus Greger wurde Gregersen (= Sohn Gregers), aus Gregorius entsprechend Gregorii (vgl. Ernst Koch: Die Sachsenkirche in Moskau und das erste Theater in Rußland. In: NASG 32, 1911, 270–316, hier: 276, Anm. 1). Zur Moskauer Gemeinde s. insbesondere Sabine Dumschat: Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland. Stuttgart 2006 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 67); Erik Amburger: Geschichte des Protestantismus in Russland. Stuttgart 1961, 33–35. Koch, Sachsenkirche [s. Anm. 48], 277.

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Alten Testament, das aus dem Deutschen ins Kirchenslawische übersetzt und vor Zar Alexej (1629–1676) aufgeführt wurde – in einer zehnstündigen Darbietung.51 In Deutschland rekrutierte Gregorius im Zuge einer Kollektenreise im Jahr 1667 unter Rückgriff auf seine politischen, verwandtschaftlichen und regionalen Kontakte sowohl Personal als auch materielle Unterstützung für seine Moskauer Gemeinde. Ausgestattet mit einem kursächsischen Unterstützungsschreiben führte er in Süd- und Mitteldeutschland eine Geldsammlung zugunsten der Moskauer Protestanten durch und gelangte auch nach Sachsen-Gotha.52 In diesem Zusammenhang gelang es ihm, seinen Stiefvater, den Mühlhausener Mediziner Laurentius Blumentrost den Älteren (1619–1705), für eine Position als Leibarzt Zar Alexejs zu gewinnen.53 Blumentrost, der bislang in den Diensten Ernsts des Frommen gestanden hatte, sollte seinerseits zu einem bedeutsamen deutsch-russischen Vermittler werden. Gregorius und Blumentrost warben auf ihrer gemeinsamen Reise offenbar gezielt Thüringer für die Arbeit in Moskau an – so den Studenten und Abenteurer Laurentius Rinhuber, der seine Gymnasialzeit in Altenburg verbracht hatte, und den Schulmeister Justus Mertz aus Mühlhausen.54 Nach Gregorius’ Rückkunft entbrannte in Moskau ein heftiger Streit mit seinem dortigen geistlichen Kollegen Vockerodt um die Verwendung der eingesammelten Kollektengelder, der sich in Schmähungen äußerte und auf die Gemeinden ebenso zurückwirkte wie auf deren Verhältnis zum Zarenhof. Ob dieses Zerwürfnis der beiden Mühlhausener Gregorius und Vockerodt bereits eine Thüringer Vorgeschichte hatte, ist spekulativ. Einen wichtigen Hintergrund für die Fühlungnahmen mitteldeutscher Protestanten mit dem Zarenreich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bildeten wirtschaftsund konfessionspolitische Interessen der thüringisch-sächsischen Territorialregierungen. Sowohl Kursachsen als auch das Herzogtum Sachsen-Gotha erhofften sich gute Beziehungen nach Russland, die sie über Vermittler wie Gregorius anzukurbeln versuchten. In den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg standen dahinter die wirtschaftlich motivierte Hoffnung auf eine Partizipation an globalen Märkten und ein Repräsentationsbedürfnis der heimischen Höfe.55 Umgekehrt bemühte sich 51

52 53 54 55

Johann Gottfried Gregorius: La comédie d’Artaxerxès présentée en 1672 au Tsar Alexis. Hg. v. André Mazon u. Frédéric Cocron. Paris 1954. Zum Kontext s. John Stone: The Pastor and the Tzar. A Comment on The Comedy of Artaxerxes. In: Bulletin of the New York Public Library 72, 1968, 215–251. Zur zehnstündigen Aufführungsdauer s. Laurent Rinhuber: Relation du voyage en Russie, fait en 1684 par Laurent Rinhuber. Publiée pour la première fois d’après les manuscrits originaux qui se conservent à la bibliothèque ducale publique de Gotha. Berlin 1883, 29. Koch, Sachsenkirche [s. Anm. 48], 284–287. Vgl. Dumschat, Mediziner [s. Anm. 49], 122–124; Koch, Sachsenkirche [s. Anm. 48], 287–292. AaO, 289–291. Zu Mertz, der in Stettin zur Gruppe hinzustieß, aaO, 302 f. Vgl. Dominik Collet: Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit. Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 232); Klaus Helbig: Sächsische Kolonialbestrebungen in Afrika als Teil der europäischen Expansion. Eine landesgeschichtlich orientierte Untersuchung zur Neubewertung der Kolonialpolitik von den Entdeckungsreisen im 16. Jahrhundert bis zur Kolonialherrschaft im deutschen Kaiserreich. Bd. 1. Unveröffentlichte Habilitationsschrift. TU Dresden 1993, 4–20;

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der Zar mit Hilfe des Einsatzes von Gregorius nicht allein um die Rekrutierung eines Leibarztes (den er in Blumentrost erhalten sollte), sondern unter anderem auch darum, sächsisch-thüringische Bergbauexperten anzuwerben, die weltweit begehrt waren.56 In religiöser Hinsicht waren für das Herzogtum Sachsen-Gotha protestantische Einheitswünsche und konfessionspolitische Bündnishoffnungen handlungsleitend, die unterschiedliche Ostkirchen einbezogen: von Russland über Konstantinopel bis in die Levante. Zeitlich und inhaltlich korrespondierten die thüringischen Kontakte nach Russland mit Plänen am Hof Ernsts des Frommen, eine weltumspannende christliche Einheitsfront unter lutherischer Führung gegen die katholische Kirche und die muslimischen Osmanen aufzubauen. Damit hängt auch der Versuch zusammen, ein internationales Missionsseminar zu begründen, wie es der Orientgelehrte Christian Ravius (1613–1677) beabsichtigte. Aus diesem Umfeld entsprangen zudem die Gothaer Interessen an Äthiopien, die mit dem Besuch des Abba Gregorius (Gorgoryos, um 1600–1658) auf Schloss Friedenstein begannen und sich in verschiedenen gelehrten Aktivitäten und Reisen von Hiob Ludolf und Johann Michael Wansleben (1635–1679) äußerten. Auch das Wirken von Johann Gottfried Gregorius und Laurentius Rinhuber ordnet sich in diesen Zusammenhang ein.57 Rinhuber propagierte zeitweise außerdem – gleichsam Leibniz vorwegnehmend – Kontaktaufnahmen von Gotha über Russland nach China. Er selbst plante eine Reise nach Persien, die er jedoch wohl nicht antrat.58 Sachsen-Gotha verstand sich in den Folgejahren zunehmend als auswärtige Schutzmacht der „Neuen Kirche“ Moskaus, ähnlich wie der Gothaer Herzog im frühen 18. Jahrhundert eine Schutzfunktion über die Kirche der Lutheraner in Genf beanspruchen sollte.59

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58 59

Cordula Bischoff: Chinoiserie am sächsischen Hof. Mainstream oder Avantgarde? In: Bücherwelten – Raumwelten. Zirkulation von Wissen und Macht im Zeitalter des Barock. Hg. v. Elisabeth Tiller. Köln [u. a.] 2015, 307–334. Koch, Sachsenkirche [s. Anm. 48], 281. Ein Beispiel für sächsisch-mitteldeutsche Bergleute im Zarenreich etwa bei Georg Adam Schleusing: Neu=entdecktes Sibyrien, Oder Siewerien, Wie es anitzo mit allen Städten und Flecken angebauet ist […]. Jena 1690, 53 f. Zur gleichzeitigen Aktivität sächsisch-thüringischer Bergbauexperten auf Sumatra im Rahmen der VOC s. Peter Kirsch: Goldbergbau der niederländischen ostindischen Kompanie auf Sumatra 1670 bis 1737. Die Berichte der deutschen Bergleute Elias Hesse und Johann Wilhelm Vogel. Bamberg 1995 (Kleine Beiträge zur europäischen Überseegeschichte, 27). Vgl. Alexander Schunka: Orientinteressen und protestantische Einheit in der Frühen Neuzeit. In: Şehrâyîn. Die Welt der Osmanen, die Osmanen in der Welt. Wahrnehmungen, Begegnungen und Abgrenzungen. Hg. v. Yavuz Köse. Wiesbaden 2012, 319–336, hier: 332–334 mit weiterer Literatur. Zur Bedeutung Äthiopiens für Gregorius und Rinhuber s. Rinhuber, Relation [s. Anm. 51], 19–21, 81 f., 93, 95. Ludwig Stieda: Rinhuber, Laurentius. In: ADB 53, 1907, 399–403; Paul Pierling: Saxe et Moscou. Un médecin diplomate. Paris 1893; Rinhuber, Relation [s. Anm. 51]. Vgl. Ernst Koch: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Genf und der Gothaer Hof. In: Kommunikationsstrukturen im europäischen Luthertum der Frühen Neuzeit. Hg. v. Wolfgang Sommer. Gütersloh 2005 (Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten, 23), 51–69.

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Analog zu den vielfältigen Verbindungen zwischen den Sachsen-Gothaer protestantischen Reforminitiativen und dem späteren Halleschen Pietismus60 legten auch im Kontext der Moskauer Gemeinde eine Reihe von Thüringer Protestanten die Basis für deren spätere Orientierung nach Halle.61 Auf eine Initiative des Englandkenners und Russlandreisenden Heinrich Wilhelm Ludolf, der – wie weiter oben dargestellt – auch als Drahtzieher bei der Etablierung der Pietisten in London in Erscheinung getreten ist, ging unter anderem die Anstellung des Quedlinburgers Justus Samuel Scharschmid[t] (1664–1724) in Moskau zurück. Scharschmid nahm ausgangs des 17. Jahrhunderts eine Position als Hauslehrer in der Familie Blumentrost an und wirkte später als Nachmittagsprediger an der „Neuen Kirche“.62 Zuvor hatte er sich um das Jahr 1690 herum gemeinsam mit Francke in Erfurt aufgehalten und von dort aus Kontakte zu erweckten Kreisen in Arnstadt, Sülzenbrücken und Saalfeld gepflegt.63 Für rund zwanzig Jahre wurde Scharschmid zu einem bedeutenden Propagator des Halleschen Pietismus im Zarenreich. Dazu trugen seine Reisen bei, die ihn bis nach Astrachan an die Wolgamündung führten. Dort bemühte er sich um die Etablierung einer pietistischen Gemeinde.64 Sein Mitstreiter und Vertrauter Ernst Glück (1654–1705), der einst in Altenburg ausgebildet worden war, gründete in Moskau eine deutsche Schule. Mit Wohlwollen aus der Ferne begleitete deren Fortschritt Heinrich Wilhelm Ludolf, der selbst kurz zuvor in London an der Schulgründung von Mehder und Wigers mitgewirkt hatte.65 Wie Scharschmid begann auch Johann Gotthilf Vockerodt (1693–1756) seine Tätigkeit im Zarenreich als Hauslehrer. Der Sohn des Gothaer Gymnasialrektors war gegen den väterlichen Willen nach Moskau aufgebrochen. Nach einer Anstellung in der Familie des Fürsten der Moldau, Dimitrie Cantemir (1673–1723), wirkte er als Gesandtschaftssekretär und verfügte über gute Kontakte sowohl in diplomatische Kreise als auch an die Glauchaer Anstalten. Später sollte er am Hof 60 61 62

63 64 65

S. insbesondere die Beiträge von Terence McIntosh und Veronika Albrecht-Birkner in diesem Band. Übersichten zum Personal liefern Eduard Winter: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1953, 72–98, sowie Theodor Wotschke: Der Pietismus in Moskau. In: Deutsche wissenschaftliche Zeitschrift für Polen 18, 1930, 53–95. S. Günter Rosenfeld: August Hermann Franckes erster Sendbote in Rußland – Justus Samuel Scharschmid. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günther Mühlpfordt. Hg. v. Erich Donnert. Bd. 3. Weimar 1997, 1–25. Zur Erfurter Zeit s. Kramer, Francke [s. Anm. 8], 87. Zur Rekrutierung durch Ludolf s. auch Joachim Tetzner: H. W. Ludolf und Russland. Berlin 1955, 64 f. Vgl. Wotschke, Vom Pietismus [s. Anm. 28], 373 und Anm. 1. J. S. Scharschmid an A. H. Francke, Astrachan, 2.8.1701. In: Pietismus [s. Anm. 4], 485–489. Vgl. Otto Teigeler: Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Göttingen 2006 (AGP, 51), 227–229. In London hatte Ludolf direkt aus Moskau gehört, dass „Herrn Glucks seine schuhle daselbst ziemlich zu floriren anfange“, und empfahl Francke, „das eißen“ zu schmieden, „weil es warm ist“ (s. Veronika Albrecht-Birkner: Glücks Verhältnis zu Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke, oder: War Glück Pietist? In: „Mach dich auf und werde licht – Celies nu, topi gaišs“. Zu Leben und Werk Ernst Glücks [1654–1705]. Akten der Tagung anlässlich seines 300. Todestages vom 10. bis 13. Mai 2005 in Halle [Saale]. Hg. v. Christiane Schiller u. Māra Grudule. Wiesbaden 2010 [Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart, 4], 57–78, hier: 64).

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Friedrichs des Großen (1712–1786) Karriere machen, wohin es unterdessen auch Samuel Scha[a]rschmid[t] (1709–1747), den Sohn des pietistischen Missionsreisenden, als königlichen Leibarzt verschlagen hatte.66 Die hier aufgeführten Personen stellen möglicherweise nur einen kleinen Teil der Thüringer dar, die zeitweilig das Umfeld der „Neuen Kirche“ in der Moskauer deutschen Vorstadt im Sinne pietistischer Frömmigkeit prägten und mit Franckes Glauchaer Anstalten in Verbindung standen.67 Ungeachtet weiterer nötiger Forschungen liegt die Vermutung nahe, dass ein entsprechender, auf familiären, freundschaftlichen und regionalen Netzwerken basierender Auslandsaufenthalt dieser meist jungen, männlichen Thüringer einer späteren Karriere durchaus förderlich sein konnte. 4. DER MITTELMEERRAUM Die Situation für Pietisten im osmanischen Mittelmeerraum unterschied sich deutlich von der in den bisher diskutierten Gebieten, denn hier fehlte seit jeher eine belastbare kirchliche Infrastruktur von Protestanten, auf die man hätte aufbauen können. Anders als in den Niederlassungen katholischer Orden – nicht nur im Heiligen Land68 – und in den verschiedenen Ostkirchen, für die das Osmanische Reich dank seiner Expansion in die Levante seit langer Zeit die erste große territorialpolitische Einheit bildete,69 konnte die geistliche Versorgung protestantischer Kaufleute, Sklaven, Reisender und Diplomaten jenseits des osmanischen Ostmittel- und Südosteuropas oft nur ad hoc oder mit Hilfe von Kaufmanns- oder Gesandtschaftspredigern gewährleistet werden.70 Seit dem 16. Jahrhundert interessierten sich Protestanten für Kontakte und Kollaborationen mit den christlichen Ostkirchen – dem griechischen Patriarchat von Konstantinopel, den Kopten, den Maroniten oder den Armeniern. Dahinter standen aus Sicht der Reformationskirchen die Suche nach rechtgläubigen Christen in der Diaspora, die Hoffnung auf Informationen über urkirchliche Praktiken und schließ66

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Winter, Russlandkunde [s. Anm. 61], 84–87; Svetlana Korzun: Heinrich von Huyssen (1666– 1739). Prinzenerzieher, Diplomat und Publizist in den Diensten Zar Peters I., des Großen. Wiesbaden 2013 (Jabloniana, 3), 194 f.; Wilhelm Auener: Johann Gottfried Vockerodt. Geheimer Kabinettsrat Friedrichs des Großen. In: Mühlhäuser Geschichtsblätter 38/39, 1940, 148– 156. Zu Samuel Scha[a]rschmid[t] s. Paul Diepgen u. Edith Heischkel: Die Medizin an der Berliner Charité bis zur Gründung der Universität. Ein Beitrag zur Medizingeschichte des 18. Jahrhunderts. Berlin 1935, 14–21. Weitere Personen mit Thüringer Hintergrund (Haumann, Reichmuth, Eberhardt, Vierorth usw.) sind aufgeführt bei Wotschke, Pietismus in Moskau [s. Anm. 61] sowie Winter, Russlandkunde [s. Anm. 61], 72–98. Charles A. Frazee: Catholics and Sultans. The Church and the Ottoman Empire 1453–1923. Cambridge 1983; F. Thomas Noonan: The Road to Jerusalem. Pilgrimage and Travel in the Age of Discovery. Philadelphia 2007. Vgl. Constantin A. Panchenko: Arab Orthodox Christians under the Ottomans, 1516–1831. Jordanville, New York 2016. Vgl. z. B. Alexander Schunka: Die Konfessionalisierung der Osmanen. Protestantische Orientreiseberichte des 16. Jahrhunderts. In: Zeitsprünge 16, 2012, 8–46, hier: 40–42.

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lich das Streben nach Bündnissen zur Absicherung der Reformation sowie zur Herstellung einer protestantischen Abwehrfront gegen die römische Papstkirche und die Muslime.71 Auf solchen Überlegungen basierten auch die Fühlungnahmen des Herzogtums Sachsen-Gotha nach Äthiopien im 17. Jahrhundert, die gleichwohl im Sande verliefen.72 Im Umfeld der Glauchaer Anstalten setzten sich Reisende wie Heinrich Wilhelm Ludolf für eine weltweite Reich-Gottes-Arbeit im Sinne der Sammlung aller Frommen ein – auch jenseits des reformatorischen Spektrums. Daraus gingen persönliche und briefliche Kontakte Hallescher Pietisten zu geistlichen Würdenträgern der Ostkirchen hervor, aber auch zu westlichen Händlern und Gesandten in der Levante, in deren Umfeld man sich um Unterstützer bemühte oder Angehörige der eigenen Gruppe unterzubringen versuchte. Die verschiedenen Ausbildungsstätten an den Glauchaer Anstalten waren zugleich gerade für spätere Kaufleute im Mittelmeerraum von großem Interesse, weil in der Saalestadt neben praktischen Informationen und religiösen Inhalten auch orientalische Sprachen vermittelt wurden. Ludolfs enger Kontakt zur Londoner bzw. Smyrnaer Kaufmannsfamilie Turner begründete in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts die Entsendung englischer Schüler nach Halle, auf deren spätere Mitwirkung am Glauchaer Programm der Weltverbesserung man hoffte.73 Auch für das Ausgreifen Halles in die Levante bereitete Ludolfs Engagement den Boden. So hatte dieser kurz vor der Jahrhundertwende die Region bereist, dabei unter anderem in Jerusalem das Heilige Grab besucht und Gespräche mit dem Jerusalemer Patriarchen Dositheos (1641–1707) geführt. Über seine Kontakte zu Angehörigen der Ostkirchen führte er ebenso akribisch Buch, wie er sich der behutsamen Beobachtung regionaler Glaubenspraktiken und dem Lernen indigener Sprachen verschrieben hatte.74 Zudem öffnete Ludolf den Halleschen Pietisten auch personell die Tür zum Orient und griff dabei abermals auf Landsleute zurück: Von Ludolf instruiert reiste etwa der junge Thüringer Anhard Adelung († 1745) aus Grabsleben bei Gotha im Jahr 1701 ins Osmanische Reich. Bis dahin hatte Adelung sich gemeinsam mit Johann Tribbechow in Kreisen erweckter Studenten der Universität 71

72 73

74

Aus der mittlerweile recht umfangreichen Literatur hier nur: Asaph Ben-Tov: Lutheran Humanists and Greek Antiquity. Melanchthonian Scholarship between Universal History and Pedagogy. Leiden 2009 (Brill’s Studies in Intellectual History, 183); Dorothea Wendebourg: Reformation und Orthodoxie. Der theologische Briefwechsel zwischen der Leitung der württembergischen Kirche und dem Ökumenischen Patriarchen Jeremias II. in den Jahren 1574–1581. Göttingen 1986 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 37); Alastair Hamilton: The Copts and the West 1439–1822. The European Discovery of the Egyptian Church. Oxford 2006. In Kürze: Oriental Studies and Politics between Gotha and Africa 1650–1700. Hg. v. Asaph Ben-Tov [u. a.]. Leiden [Druckvorbereitung]. Vgl. Renate Wilson: Early Modern Diasporas and their Encounters in the Ottoman Empire. Greeks, German Pietists, and the Society for Promoting Christian Knowledge. In: Alexander Helladius the Larissaean. International Conference, Larissa, 4–5 September 1999. Proceedings. Hg. v. Vasilios N. Makrides. Larissa 2003, 181–194; Schunka, Ludolf [s. Anm. 21]; ders., England als Erfahrungsraum [s. Anm. 26]. Schunka, Ludolf [s. Anm. 21], mit Nachweisen.

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Jena bewegt.75 Zu seinen Aufgaben im Orient gehörte nun die Suche nach Griechen, die für das Collegium Orientale in Halle benötigt wurden. Adelung hielt sich in Konstantinopel und Smyrna/Izmir auf und hatte zeitweilig in Adrianopel/Edirne eine Informatorenstelle beim Bruder des niederländischen Gesandtschaftspredigers Isaak Rombout (1656–1702) inne, der seinerseits mit Ludolf gut bekannt war. Nachdem Adelung all seine pietistischen Mitreisenden nach und nach durch die Pest verloren hatte, kehrte er 1705 nach Mitteleuropa zurück, ohne dass er seinen ursprünglichen Plan zum Besuch des Heiligen Grabes hatte in die Tat umsetzen können.76 Die Levantereisen von Adelung, Ludolf und anderen verliefen über bestimmte Relaisstationen, zu denen insbesondere Venedig und Livorno77 gehörten. Analog zu den Niederlanden, wo die Pietisten auf der Fahrt nach England in Rotterdam beim Quäker Benjamin Furly und seinem Thüringer Sekretär Liebenroth Halt machten, oder den Anlaufstellen in den baltischen Territorien auf dem Weg nach Moskau verfügte Halle in Venedig über einen Rückhalt in der deutsch-lutherischen Gemeinde. Zu nennen sind insbesondere Franckes Bruder Heinrich Friedrich (1661–1728), der dort als Kaufmann tätig war, ferner die Kaufmannsfamilie Pommer, die den Thüringer Wilhelm Christian Schneider (1678–1725) aus Herbsleben bei Gotha als Hauslehrer beschäftigte. Mit Hilfe von Schneider, Heinrich Friedrich Francke und Johann Konrad Pommer (1658–1737) wurden Briefe und Bücher befördert und manchmal auch Personen wie griechische Studenten oder ehemalige osmanische Sklaven.78 Zu einer dauerhaften, mit London oder Moskau vergleichbaren pietistischen Gemeindestruktur kam es im Mittelmeerraum jedoch wohl nicht. 5. FAZIT Der Beitrag von Thüringern zur Ausbreitung des Halleschen Pietismus über Europa illustriert, wie sich die frühneuzeitliche Anwesenheitsgesellschaft im Rahmen ihrer kommunikativen Möglichkeiten gleichsam transregional ausdehnte. Doch welche 75 76 77

78

S. Wotschke, Vom Pietismus [s. Anm. 28], 396. Martin Kriebel: Das pietistische Halle und das orthodoxe Patriarchat von Konstantinopel. 1700–1730. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. NF 3, 1955, 50–70. Für Rinhuber, Wansleben, Heinrich Wilhelm Ludolf und andere stellte Livorno ein wichtiger Anlaufpunkt dar, nicht zuletzt aufgrund ihrer Kontakte zur dortigen anglikanischen Geistlichkeit. Zu Livorno s. u. a. Stefano Villani: Religious Pluralism and the Danger of Tolerance. The English Nation in Livorno in the Seventeenth Century. In: Late Medieval and Early Modern Religious Dissents. Conflicts and Plurality in Renaissance Europe. Hg. v. Federico Barbierato u. Alessandra Veronese. Pisa 2012, 97–124. Heinrich Wilhelm Ludolf ließ Briefe und Bücher nach Halle über Franckes Bruder befördern (s. H. F. Francke an A. H. Francke, Venedig, 14.11.1698 [AFSt/H C 10, b 10 u. 14]); vgl. Wilson, Continental Protestant Refugees [s. Anm. 26], 116; vgl. in Kürze die Habilitationsschrift von Magnus Ressel zur ‚Nazione Alemana‘ in Venedig. Zur Familie Pommer knapp ders., Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken in der Frühen Neuzeit. Berlin, New York 2012 (Pluralisierung & Autorität, 31), 334. S. auch Erika Pabst: „Man muss dergleichen Handschriften wenigstens sehen …“. Orientalia aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen. Halle/Saale 2007 (Keine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen, 8), 19. Zu den Sklaven ferner Kriebel, Das pietistische Halle [s. Anm. 76], 57.

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weiterführenden Erkenntnisse und Perspektiven hängen mit einem solchen Befund zusammen oder lassen sich in systematisierender Absicht aus den hier präsentierten Informationen gewinnen? Einiges deutet darauf hin, dass Auslandsaufenthalte im Umfeld des Halleschen Pietismus bzw. im Dienst der Glauchaer Anstalten für junge Thüringer im Alter von zwanzig bis dreißig Jahren als attraktive Qualifikationsphasen und Karrieresprungbretter dienen konnten. Die Tätigkeiten Thüringer Pietisten in der Fremde folgten idealtypisch auf eine Gothaer oder Altenburger Gymnasial- bzw. Lateinschulausbildung und ein Studium in Jena oder Halle, nicht selten in Verbindung mit Informatorentätigkeiten in den Glauchaer Anstalten. Die Zeit im Ausland beschränkte sich typischerweise auf wenige Jahre – es sei denn, dass sich innerhalb der dortigen Gemeinden eine Karriereperspektive bot. Eine Familiengründung erfolgte meist erst nach der Rückkehr, seltener dagegen vor Ort – wie im Fall der Moskauer Pietisten Vockerodt und Scharschmid.79 Nur wenigen war es vergönnt, Leitungsfunktionen in einer lutherischen Diasporagemeinde zu übernehmen: Fehlte hierzu ein Studienabschluss oder die Ordination, so konnte beides gegebenenfalls bei einem Zwischenaufenthalt in Deutschland nachgeholt werden. Dies gilt für Gregorius und Scharschmid in Moskau,80 analog aber auch für Johann Tribbechow in London, der sich noch rasch vor Dienstantritt ordinieren ließ, weil er in der lutherischen Kapelle von St. James pastorale Aufgaben von Anton Wilhelm Böhme zu übernehmen hatte.81 Insgesamt bestand der hier behandelte Personenkreis ausschließlich aus Männern, die sich – wie im Fall von Johann Gotthilf Vockerodt – bisweilen sogar entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern in fremde Länder aufmachten. Dies unterstreicht den zeitgenössischen Reiz einer Anstellung außerhalb Deutschlands. Dass Auslandsaufenthalte im Erfolgsfall sowohl den eigenen Berufsweg als auch die Arbeit am Reich Gottes befördern konnten, war den Zeitgenossen klar: So schwärmte der Gothaer Gymnasialabsolvent Wilhelm Reichardt John 1707 in einem Brief an Friedrich Breckling von einer Karriere in Konstantinopel, Smyrna oder Aleppo und den damit verbundenen Möglichkeiten, das Christentum zu befördern.82 Angesichts der Altersstruktur und der Qualifikationsstufen pietistischer Auslandsreisender bot sich für viele eine zeitweilige Tätigkeit in eher niederrangigen Positionen als Schulmeister oder Informator bzw. Privatlehrer in den Haushalten von Kaufleuten, Politikern, Diplomaten und anderen Gönnern an. Damit sicherte man nicht nur das eigene Auskommen, sondern befand sich an bedeutsamen Schnittstellen, die man zur Weitergabe von Informationen von und nach Deutschland nutzen konnte. Die innerhalb pietistischer Briefnetzwerke zirkulierenden Informationen

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Vgl. Erik Amburger: Die Pastoren der evangelischen Kirchen Rußlands. Vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. Lüneburg, Halle/Saale 1998, 63. Für Scharschmid s. Wotschke, Pietismus in Moskau [s. Anm. 61], 56 f. Zum Problem von Böhmes fehlender Ordination und zu Ludolfs und Franckes Haltung dazu s. die Angaben oben in Anm. 30. W. R. John an F. Breckling, Amsterdam, 20.8.1707 (FB Gotha Chart. B 198, 240r–243v).

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sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.83 Dass Angehörige pietistischer Auslandsgemeinden auch im Rahmen der europäischen Druckpublizistik aktiv waren, ist für London bekannt und liegt für andere Gemeinden auf der Hand.84 Die schwedischen respektive dänischen Gesandtschaftsprediger Johann Christian Lerche (1691–1768) und Christian Kortholt (1709–1751) versorgten von Wien aus nicht nur Halle mit Informationen, sondern auch die Herausgeber von Thüringer Periodika wie der Weimarer religiösen Zeitschrift Acta Historico-Ecclesiastica.85 Insgesamt war die kirchenpolitisch und theologisch interessierte Öffentlichkeit im Reich über die Zustände in den protestantischen Auslandsgemeinden relativ gut informiert; und dies gilt nicht allein für das Umfeld des Pietismus.86 Die späteren Positionen der Pietisten mit Thüringer Hintergrund kombinierten häufig das persönliche Fortkommen des Einzelnen mit der Ausbreitung und Festigung des Halleschen Pietismus in Mitteleuropa. In der Tat scheint eine Auslandstätigkeit in jungen Jahren manchen Protagonisten nach ihrer Rückkehr zu recht eindrucksvollen Karrieren verholfen zu haben: Der Hauslehrer Schneider ging nach seiner Zeit in Venedig als Waisenhausgründer nach Ostfriesland, der Orientreisende Adelung machte eine Karriere in Schlesien, und der zeitweilig in London aktive Berchelmann wurde Oberhofprediger in Hessen-Darmstadt.87 Die Lebenswege von 83 84

85

86 87

Vgl. stellvertretend hier nur C. H. v. Canstein an A. H. Francke, Berlin, 18.8.1708. In: Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. v. Peter Schicketanz. Berlin, New York 1972, 381 f. (zu Venedig). Zu den Londoner Redaktionsarbeiten für die Halleschen Berichte s. z. B. Heike Liebau: Controlled Transparency. The „Hallesche Berichte“ and „Neue Hallesche Berichte“ between 1710 and 1848. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century. Communication, Culture of Knowledge and Regular Publication in a Cross-Confessional Perspective. Hg. v. Markus Friedrich u. Alexander Schunka. Wiesbaden 2017 (Jabloniana, 8), 133–147. Zu den Acta Historico-Ecclesiastica um die Theologen Johann Christoph Coler (1691–1736) und Johann Christian Bartholomäi (1708–1776) s. Peter Brachwitz: Die Autorität des Sichtbaren. Religionsgravamina im Reich des 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 2011 (Pluralisierung & Autorität, 23), 35–59; zum Informationsfluss zwischen Wien, Halle und Weimar beispielhaft Zoltán Csepregi: Der Pietismus in Ungarn und das Luthertum in der Tolnau. Evangelische Kolonistenprediger in Transdanubien (1718–1775). In: Die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn. Beiträge zum Neuaufbau des Königreiches nach der Türkenzeit. Hg. v. Gerhard Sewann [u. a.]. München 2010 (Buchreihe der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa, 40), 173–194, hier: 186 f.; Joachim Bahlcke: Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). Stuttgart 2005 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 23), 212 f.; Alexander Schunka: Normsetzung und Normverletzung in Einwanderungsgesellschaften der Frühen Neuzeit. In: Normsetzung und Normverletzung. Alltägliche Lebenswelten im Königreich Ungarn des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Karl Peter Krauss. Stuttgart 2014, 29–55, hier: 54 f. Unklar ist mir bisher in dieser Hinsicht das Wirken des aus Meiningen stammenden, am Gymnasium in Gotha ausgebildeten zeitweiligen Regensburger Legationsrats Justus Christoph Zinck (1686–1758) (s. zu diesem Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges UniversalLexicon […], 62, 1749, 856–858). Vgl. beispielsweise die Informationen und Kommunikationswege, die sich niederschlagen in Cyprian, Hilaria [s. Anm. 43]. Zu Schneider in Esens: Theodor Wotschke: Pietistisches aus Ostfriesland und Niedersachsen. Auf Grund handschriftlichen Materials in der Staatsbibliothek Berlin, in der Bibliothek des Waisenhauses Halle und in dem Universitätsarchiv zu Herrnhut. In: Zeitschrift der Gesellschaft

Pflanzgarten

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Angehörigen der Familien Scharschmid und Vockerodt zwischen Russland und dem Alten Reich legen ebenfalls nahe, dass der Aufenthalt im europäischen Ausland einer späteren Laufbahn zuträglich war.88 Misserfolge sind demgegenüber in der Regel weniger gut überliefert: Hierzu wären – wie zu verschiedenen anderen Aspekten, die in diesem Aufsatz nur angerissen werden konnten – weitere Detailforschungen nötig. Die Verbindung von geographischer Mobilität mit sozialen Aufstiegsmöglichkeiten findet sich freilich nicht allein im Umfeld des Pietismus, sondern auch in anderen religiösen Zusammenhängen der Frühen Neuzeit. Ungefähr zur selben Zeit dienten jungen Geistlichen der Church of England Auslandsaufenthalte als karrierefördernde Aufstiegskanäle: Dies lässt sich anhand der Biographien anglikanischer Botschaftskapläne im Europa der Jahrzehnte um 1700 nachweisen.89 Ähnliches gilt für katholische Orden wie die Jesuiten, wo sich sozialer Aufstieg in Verbindung mit geographischer Mobilität in eindrucksvollen globalen Lebensläufen niederschlagen konnte.90 Setzt man die analysierten Biographien von Thüringer Pietisten in einen mitteldeutschen Kontext, so ist festzustellen, dass ein Streben in die Ferne mit dem Ziel des persönlichen Aufstiegs bei jüngeren Thüringern des 17. und 18. Jahrhunderts keineswegs auf ein pietistisches Umfeld beschränkt war. Für auffallend viele Zeitgenossen scheinen auswärtige Anstellungen attraktiv gewesen zu sein. Die Karrieren junger Männer aus dem thüringisch-mitteldeutschen Raum in der niederländischen VOC im selben Zeitraum sind bereits in Umrissen bekannt.91 Zahlreiche Thüringer und Sachsen verbanden damit die Hoffnung auf Reichtum und sozialen Aufstieg.92 Insofern ist zu vermuten, dass die lutherischen bzw. pietistischen Auslandsgemeinden in Europa eine ähnliche Anziehungskraft besaßen wie die weite Welt der Ostindienkompanie. Aufstiegswünsche verbanden sich mit frömmigkeitlichen Überzeugungen der Protagonisten, mit jugendlicher Abenteuerlust und familiär-landsmannschaftlichen Bindungen, die ein gewisses Maß an Sicherheit und

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für Niedersächsische Kirchengeschichte 36, 1931, 72–178, hier: 99; zu Berchelmanns Wirken in Darmstadt s. knapp Ulrike Gleixner: Millenarian Practices and the Pietist Empire. In: Radicalism and Dissent in the World of Protestant Reform. Hg. v. Bridget Heal u. Anorthe Kremers. Göttingen 2017, 245–256, hier 251. Zu Adelung in Breslau s. Kriebel, Das pietistische Halle [s. Anm. 76], 66 f. S. oben Abschnitt 3. Alexander Schunka: Von der Irenik zur Anglophilie. Großbritannien in der Kultur deutscher Protestanten, 1688–1740. Wiesbaden [Druckvorbereitung], Kapitel B 4.2. Vgl. Markus Friedrich: Die Jesuiten. Aufstieg – Niedergang – Neubeginn. München, Berlin 2016, 45–66. Vgl. Roelof van Gelder: Das ostindische Abenteuer. Deutsche in Diensten der Vereinigten Ostindischen Kompanie der Niederlande (VOC), 1600–1800. Hamburg 2004 (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums, 61). So lässt sich ein Bericht wie der des Thüringer VOC-Reisenden Johann Wilhelm Vogel in Teilen als Reiseanleitung bzw. Reiseführer verstehen: Johann Wilhelm Vogel: Johann Wilhelm Vogels Gewesenen Fendrichs / [e]tc. in Dienst der Niederländischen Ost=Indianischen Compagnie Diarium Oder Journal Seiner gethanen Reise aus Teutschland nach Holland u. Ost=Indien / Worbey angefüget Eine kurtze und warhaffte Beschreibung Der vornemsten Ost=Indianischen Königreiche u. Oerter […]. Franckfurth, Leipzig 1690.

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Vertrauen schufen. Die Etablierung der pietistischen Stützpunkte in London und Moskau und ihr thüringisches Personal deuten damit auf ein größeres strukturelles Phänomen hin, bei dem sich religiöse und generationelle Dispositionen mit sozialen und ökonomischen Faktoren in der Ausgangsregion vermischten. Inwieweit hinter dieser Wanderlust junger Männer aus Thüringen etwa konkrete sozioökonomische Nachwirkungen des Dreißigjährigen Krieges stehen oder ob möglicherweise eher bestimmte Informationslagen – neben den wirtschaftlichen, demographischen oder erbrechtlichen Entwicklungen – in Anschlag zu bringen sind, wäre genauer zu untersuchen. Es liegt allerdings auf der Hand, dass die Karrieren Thüringer Pietisten sich in größere frühneuzeitliche Mobilitätsphänomene des mitteldeutschen Raums einfügen, deren Auswirkungen noch längst nicht hinreichend erforscht sind. Verwandtschaftliche Beziehungen und regionalkulturelle Prägungen waren jedoch nicht die einzigen Elemente, die europäische und außereuropäische Wirkungsfelder mit der alten Heimat verbanden. Häufig fanden die Protagonisten in der Diaspora charakteristische konfessionelle Konfliktlagen vor, die ihnen aus ihren Herkunftsgebieten bekannt vorkommen mussten. Wenn Veronika AlbrechtBirkner die eher „schwache Position“93 Hallescher Pietisten im Moskauer Umfeld hervorhebt, die sich dort nicht allein neben den Reformierten und der russischorthodoxen Kirche behaupten mussten, sondern vor allem gegenüber anderen mitteleuropäischen Lutheranern in der deutschen Vorstadt, dann spiegelt sich darin gleichsam die Londoner Situation wider – wo sich die pietistische Hofgemeinde von St. James von mehreren deutschen lutherischen und reformierten Gemeinden abgrenzen musste und manche Arrangements mit der Church of England zu treffen hatte.94 Heimatliche, verwandtschaftliche und generationelle Verbindungen dienten dabei, so scheint es, als implizite oder explizite Strategien gemeindlicher Kohärenzerzeugung in einem anderskonfessionellen Umfeld. In den Auslandsgemeinden ließen sich exportierte innerprotestantische Konfliktlagen allenfalls einhegen, nicht jedoch völlig unterbinden. Für den Pietismus Hallescher Prägung trugen persönliche Beziehungen in die Heimat oder zu Landsleuten entscheidend zur Etablierung und Stabilisierung von Auslandskontakten und Auslandsgemeinden bei. Einflussreiche Mittelsleute wie Heinrich Wilhelm Ludolf waren dafür ebenso ausschlaggebend wie lokale Anlaufstellen wie in Rotterdam oder Venedig und schließlich bestimmte Kommunikationstechniken, die von persönlichen Treffen über Briefwechsel bis zu Kollektenreisen reichten. Ohne entsprechende Geldtransfers, materielle Versorgung und wirtschaftlichen Rückhalt durch potente Unterstützerkreise daheim und vor Ort wäre die Aufrechterhaltung dieser Verbindungen nicht möglich gewesen. Es ist deutlich geworden, dass August Hermann Francke und seine Mitstreiter an den Glauchaer Anstalten von solchen Kommunikationsstrukturen in hohem Maß profitierten, wenngleich sie meist nicht ihre Initiatoren waren. Strukturell bauten die Außenbeziehungen der Glauchaer Anstalten häufig auf älteren politischen Kontakten des Herzogtums Sachsen-Gotha auf. Sie speisten sich durch Personal 93 94

Albrecht-Birkner, Glücks Verhältnis zu Spener [s. Anm. 65], 75. S. Michael Schaich: Kontaktzonen. Die religiöse Topographie Londons als Handlungsraum hallischer Pietisten. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Anm. 21], 67–90.

Pflanzgarten

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aus Thüringen, wo sich pietistische oder pietismusaffine Frömmigkeitsformen gerade angesichts der territorialen Kleinräumigkeit des ernestinisch-mitteldeutschen Raums früh etablieren konnten. Die Vermutung liegt daher nahe, dass sich in den Glauchaer Außenposten London und Moskau bisweilen eigene Spielarten eines Thüringer Pietismus verwirklichen konnten, die nicht immer völlig deckungsgleich mit Franckes Auffassungen von Theologie und Frömmigkeit waren. Die Fremdengemeinden wären dann als Refugien anzusehen, die aufgrund ihrer Entfernung einem direkten Zugriff Halles entzogen waren und zum Erhalt pietistischer Pluralität beitrugen. Über entsprechende Rückwirkungen nach Halle oder nach Thüringen ist allerdings bislang viel zu wenig bekannt. Wenngleich es August Hermann Francke gelang, einige Söhne Erfurter und Gothaer Bekannter in seine Absichten zum Bau eines weltweiten Reiches Gottes einzubinden, so ist doch abschließend zu betonen, dass es sich bei der Ausbreitung pietistischer Kontaktnetze über Europa nur bedingt um ein so planvolles Vorgehen handelte, wie dies etwa Franckes Pflanzgarten-Schrift insinuiert. Eine Reihe biographischer, infrastruktureller, politischer, wirtschaftlicher Bedingungen und Zufälle haben dafür gesorgt, dass die grenzüberschreitenden Glauchaer Verbindungen in recht auffälligem Maß Thüringer Verbindungen gewesen sind – ebenso wie Franckes Konzept eines Seminarium entsprechende Einflüsse aufweist. Die zentrale Bedeutung der thüringischen Gebiete als Rekrutierungsraum für Francke und seine Unternehmungen ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Thüringen bildete einen Ausgangspunkt religiöser Beziehungsnetze, die in die Peripherie Europas reichten – und der thüringische Pflanzgarten brachte mancherlei Gewächse hervor, die eine genauere Untersuchung verdienten.

DER FREUNDESKREIS DES INSTITUTUM JUDAICUM UND DER HALLENSER JUDENMISSION IN THÜRINGEN (1728–1742) Christoph Rymatzki Das Institutum Judaicum in Halle/Saale und die Hallenser Judenmission, tätig von 1728 bis 1792, hätte es ohne den Pietismus in Thüringen nicht gegeben, denn die ausschlaggebenden Anstöße und die tragenden und prägenden Gründerfiguren kamen aus dem Gebiet des heutigen Thüringens. Auf sie wird zunächst einleitend einzugehen sein, bevor der Hauptgegenstand der Untersuchung dann der spätere Unterstützerkreis im Thüringer Raum sein wird. Aufgrund der detailliert geführten und erhaltenen Freundeskreisverzeichnisse des Institutum Judaicum lässt sich die regionale Verbreitung und quantitative Ausprägung des Halleschen Pietismus in Gestalt seiner judenmissionarischen Aktivitäten im Thüringer Raum aufschlussreich nachzeichnen. 1. JOHANN HEINRICH CALLENBERG UND DER GOTHAER URSPRUNG DES INSTITUTUM JUDAICUM In der ausführlichen Dokumentation der Beisetzung eines Gothaer Archidiakons im Sterberegister von St. Margarethen heißt es im Jahre 1727: Der wohlseelige M[agister] Johann Müller [verstorben am 10. Oktober 1727], […] ward vermittelst ordentl. Procession in die St. Augustiner Kirchen […] getragen, allwo vom Herrn General. Superintend. [Georg] Nitschen eine Gedächtnis Predigt […] gehalten, nach deren Beendigung die Leiche in procession auf den Gottes Acker […] begleitet wurde; […], allwo noch etl. lieder u. die collecte vom Hn. Diac[on] Erdmann gesungen […] wurde.1

Knapp eine Stunde später fand auf demselben Gottesacker wiederum eine Beisetzung statt, die im Gegensatz zu der von Johann Müller nur lapidar dokumentiert wurde: „Herr Gottfried Vockerodt, wohlverdienter Rector des hochfürstl. Gymnasii allhier […] ward […] christgewöhnl. maßen zur Erde bestattet.“2 Der spätere Gothaer Archidiakon Johann Müller (1649–1727), der im Gegensatz zu Gottfried Vockerodt (1665–1727) heute kaum bekannt ist, war 1694 nach Gotha an die Augustinerkirche gekommen, wo im dazugehörigen Kloster das Gymnasium Ernestinum untergebracht war, das von Vockerodt und Johann Hieronymus Wiegleb

1 2

Superintendenturarchiv Gotha, Sterberegister St. Margarethen Gotha 1727, Nr. 63, 442–444. AaO, Nr. 65, 444.

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(1664–1729) geleitet wurde. Deren pietistischer Einfluss hatte Unterstützung durch den Generalsuperintendenten Heinrich Fergen (1643–1708) gefunden.3 Müller unterhielt Kontakte zu führenden Vertretern des Pietismus, so z. B. zu Philipp Jakob Spener (1635–1705)4, Johann Heinrich May d. Ä. (1653–1719)5 und besonders zu August Hermann Francke (1663–1727),6 den er regelmäßig besuchte.7 Als Pietist trat Müller erstmals bereits 1695 in Erscheinung, als er sich gemeinsam mit Vockerodt und anderen Gothaer Pietisten vor einer Kommission verantworten musste und auf die Fürsprache Fergens zählen konnte.8 Später fiel Müller durch eine rigorose Ablehnung der Adiaphora auf. 1710 musste er sich schriftlich vor Herzog Friedrich II. (1676–1732, Regentschaft 1691–1732) wegen seiner öffentlichen Stellungnahmen gegen das Spielen, Tanzen und vor allem das Vogelschießen verantworten, dem der Herzog mit Leidenschaft frönte.9 1725 ging das Oberkonsistorium gegen Müller vor, weil er eine Schrift gegen das (Karten- und Würfel-) Spielen unter Umgehung der Gothaer Zensurbestimmungen in Halle drucken ließ.10 Über die Frage der Beicht- und Abendmahlspraxis geriet Müller 1725 ebenfalls in einen Konflikt mit dem Oberkonsistorium, weil er – dem Beispiel Franckes folgend – die konventionelle Beichte abschaffte. Daraufhin erhielt er eine Strafandrohung vom Gothaer Oberkonsistorium, da man das von Müller aus der Kirche in die Diakonatswohnung verlegte Beichtgespräch als Geringschätzung der Beichte 3

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Zum Gothaer Pietismus vgl. Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Halle 2014 (HaFo, 36), 174; zum Gothaer Pietismus der frühen 1690er Jahre, Fergen und dessen vermittelnde und zugleich parteiliche Position für Wiegleb u. a. Gothaer Pietisten s. Ernst Koch: Generalsuperintendent Heinrich Fergen und die Anfänge des Pietismus in Gotha. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Breul-Kunkel u. Lothar Vogel. Darmstadt, Kassel 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, 5), 189–211, insbes. 207–210. J. Müller an Ph. J. Spener, Gotha, 29.11.1702 (AFSt/H A 193: 66r). Vgl. hierzu Anm. 14. Vgl. J. Müllers Briefe von 1699, 1721 und 1722 an A. H. Francke, den er als seinen „inniglich vereinigte[n] Herzens Freund“ bezeichnete. Vgl. auch die Tagebucheinträge A. H. Franckes vom 14.6.1721 unter 5) und vom 19.7.1722 unter 1) (AFSt/H A 193: 65r sowie A 175 u. A 176). Vielfach vermittelte er Personen an die Glauchaer Anstalten zur Anstellung und Ausbildung, so einen Ohrdrufer arbeitslosen Theologen, die Studenten Wilhelm Edzard Haase und Samuel Christoph Fuchs sowie einen als Koch tätigen ehemaligen Mainzer Mönch (vgl. J. Müller an A. H. Francke, Gotha, 11.7.1699, 22.12.1711 u. 16.3.1727 [AFSt/H A 193: 64 f. u. 67; A 133b: 21], sowie Tagebuch A. H. Franckes, Eintrag vom 25.5.1722 unter 2] [AFSt/H A 176]). Vgl. Theodor Wotschke: Gottfried Vockerodt in seinen Briefen an August Hermann Francke. In: Mühlhäuser Geschichtsblätter 28, 1928, 46–82, hier: 55. Vgl. J. Müller an Herzog Friedrich II., Gotha, 8.8.1710 (ThStAG Geheimes Archiv, XXIII, 34, 1r). Das Vogelschießen lehnte er ab, da hier Waffen und Pulver in der Sabbatruhe „zu irdischer lust, weltlichem zeitvertreib, oder zu erlangung menschlicher Ehre“ angewendet würden (aaO, 2r). Die Ablehnung der Adiaphora spielt nicht nur im Gothaer Pietismus eine Rolle, sondern war bereits in der Regierungspolitik von Herzog Ernst dem Frommen von SachsenGotha verankert gewesen (vgl. Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht. Göttingen 1993 [Geschichte des Pietismus, 1], 183). Vgl. Johann Müller: Gottfried Olearii, […] Belehrung, Wie man sich gegen die Spieler zu verhalten habe. Halle 1725, 10.

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ansah.11 Auf diese Strafandrohung hin stellte Müller die Beichte vollständig ein und bat die Gemeindeglieder, sich diesbezüglich an seinen Kollegen zu wenden.12 In eschatologischen Fragen war er von Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) beeinflusst, blieb mit seinen Anschauungen aber dem (kirchlichen) lutherischen Pietismus verpflichtet und zeigte sich auch andernorts bemüht, radikale Überspitzungen wieder in kirchliche Bahnen zu lenken. So war er z. B. daran beteiligt, Vockerodt dem Einflussbereich der Separatisten Johann Tennhardt (1661–1720) und Christoph Seebach (1675–1745) zu entziehen.13 Müller verfasste – inspiriert durch den Kontakt mit jüdischen Taufanwärtern sowie durchreisenden und auswärtigen Juden – jiddische Missionstraktate, von denen einer 1702 in Frankfurt/Oder und ein weiterer 1716 in deutscher Bearbeitung durch Johann Heinrich May d. Ä.14 in Gießen erschienen. Müllers umfassendsten Missionstraktat mit dem Titel Licht am Abend ließ Johann Heinrich Callenberg (1694–1760) mit Unterstützung Franckes und anderer Hallenser 1728 im Selbstverlag in Halle drucken.15 Callenberg stammte selbst aus Thüringen, und zwar aus Molschleben bei Gotha, wo er das Gymnasium Ernestinum besucht hatte. 1715 war er zum Theologiestudium nach Halle gegangen und hatte bei einem Damaszener in den Franckeschen Anstalten Arabische Sprachstudien betrieben, für die sich auch der Gothaer Konsistorialassessor Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) interessierte. Er stellte Callenberg Arabica aus der Gothaer Herzoglichen Bibliothek zur Verfügung. Von 1721 bis zum Tod Franckes war Callenberg Privatsekretär im Hause Franckes, 1727 wurde er zunächst außerordentlicher und 1735 ordentlicher Professor der Philosophie und 1739 nach der theologischen Promotion Professor der Theologie. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich Callenberg aber zeitlebens als erster Bibliothekar und Archivar der 1728 eröffneten Bibliothek der Glauchaer Anstalten. Als Francke judenmissionarische Ambitionen bei Johann Heinrich Loder (1687–1775) und Callenberg zu fördern begann, ließ sich dieser von seinem Gothaer Seelsorger Johann Müller dessen jiddische Manuskripte (Licht am Abend, Großes und Kleines Sendschreiben, Einleitung in das Neue Testament) zusenden. Gemeinsam mit dem seit 11 12

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Vgl. Mitteilung des Oberkonsistoriums an J. Müller, Gotha, 27.11.1725 (AFSt/H K 78: 33r). Vgl. die Abschriften seiner Antwort an das Oberkonsistorium im AFSt/H B 8: 78c u. 249 bzw. K 78 u. 70 f. Aufgrund seiner Vorbehalte gegen die kirchliche Beicht- und Abendmahlspraxis, ging Müller teils auch selbst nicht zum Abendmahl und musste sich deshalb vor dem Oberkonsistorium verantworten. Er tat dies, indem er offen seine Gewissensskrupel mitteilte und die Beichtpraxis kritisierte, da sie Christus zum „Sündendiener“ mache (vgl. Brief Müllers an das Oberkonsistorium, Gotha, o. J. [AFSt/H K 78: 70 f.] [Abschrift]). Vgl. G. Vockerodt an Geheimrat Johann Friedrich Bachoff von Echt, Gotha, 31.1.1715 (AFSt/H D 42: 1355). Zu Seebach, der im Umfeld der Inspirierten in Berleburg wirkte, vgl. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 2. Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. 1. Abt. Bonn 1884, 352, 378 u. 380. Vgl. J. Müller an J. H. May, Gotha, 14.5.1714 (SUB Hamburg, 4°, 49, 157 f.). Zu Müllers judenmissionarischen Aktivitäten vor der Hallenser Institutsgründung vgl. Christoph Rymatzki: Hallischer Pietismus und Judenmission. Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum und dessen Freundeskreis (1728–1736). Tübingen 2004 (HaFo, 11), 95–99. Hierzu vgl. aaO, 105–122, zum Folgenden aaO, 35–49, 70–74 u. 82–86.

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Christoph Rymatzki

1723 am Gothaer Gymnasium auf die Taufe vorbereiteten Juden Heinrich Christian Immanuel Frommann († 1735) und ermöglicht durch eine Spendensammlung unter Pietisten in Halle, Berlin und Thüringen gründete Callenberg einen Selbstverlag und später eine Druckerei für Traktate zur Mission von Juden und Muslimen. Aus diesen Anfängen erwuchs das Institutum Judaicum, das 1732 vom preußischen König legitimiert wurde und – bis 1760 unter Callenbergs Leitung – bis 1791 als Institut zur Juden- und Islammission fungierte. Im Interesse der Islammission ließ Callenberg arabische, syrische, persische und türkische Bibeltexte und Traktate drucken und versenden. Bedeutsame philologische Leistungen Callenbergs lagen außer im Arabischen im Jiddischen. Sein ab 1729 durchgeführter jiddischer Sprachunterricht war an einer christlichen Universität erstmalig und wurde von seinem Nachfolger Stephan Schultz (1714–1776) in Halle und seinem Schüler Wilhelm Christian Just Chrysander (1718–1778) in Helmstedt fortgesetzt. Mit seiner 1736 veröffentlichten jiddischen Sprachlehre beschrieb Callenberg das Jiddische – wenngleich unbewusst – als eigenständige Sprache. Callenbergs Wörterbuch stellte eine der ersten nennenswerten Wortsammlungen des Westjiddischen aus christlicher Feder dar. Als Missionsdirektor koordinierte Callenberg die vier Zweige der Institutsarbeit: die Verlagstätigkeit, den Reisedienst von einem bis drei Mitarbeitern zur Traktatverteilung, die Fürsorge für jüdische Katechumenen und Konvertiten sowie die Betreuung des Freundeskreises. Dem Aufbau des Freundeskreises für das rein spendengetragene Institutum Judaicum widmete er besondere Aufmerksamkeit. Als wichtigstes Organ zur Werbung dienten dabei die regelmäßig publizierten Institutsnachrichten mit dem Titel Bericht an einige christliche Freunde von einem Versuch, das arme jüdische Volk zur Erkenntnis und Annehmung der christlichen Wahrheit anzuleiten und deren Fortsetzungen.16 Sie wurden in den ersten Jahren an über 1200 Personen verteilt, so dass der Spenderkreis von 44 Erstspendern im Jahre 1728 bis 1746 auf einen Kreis von 859 Unterstützern an 413 Orten anwuchs, die jährlich ca. 2.000 Reichstaler spendeten. Der Freundeskreis erstreckte sich auf nahezu alle Gebiete des brandenburgisch-preußischen Königreiches und auf die angrenzenden Territorien – so auch das Gebiet des heutigen Thüringens. Im europäischen Umfeld bildeten sich die umfangreichsten Unterstützerkreise im lutherischen Baltikum.17 Der Freundeskreis in Thüringen setzte sich zwischen 1730 und 1740 aus mindestens 172 namentlich erfassten Personen zusammen, doch dürfte die Zahl höher gewesen sein, da in den Quellen oft nur die Verteilpersonen für die Institutsberichte vor Ort benannt werden, nicht aber alle Leser und Unterstützer vor Ort. Bei der Werbung um Unterstützer in Thüringen konnte sich Callenberg als Gothaer Absolvent zunächst auf einen Bekanntenkreis stützen, der aus pietistischchiliastischen Beweggründen heraus bereit war, für die Mission, für „Werke des Herrn“ oder das „Reich Gottes“ zu spenden.18 Dabei spielte das Gymnasium Ernestinum in Gotha, das unter der Leitung von Vockerodt, Wiegleb und Johann Conrad 16 17 18

Vgl. aaO, 124–132. Vgl. aaO, 307 f. Zu den theologischen Motiven der Unterstützung von Mission und Judenbekehrung vgl. aaO, 401–422.

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Kesler (1665–1716) zahlreiche Multiplikatoren der pietistischen Reformbewegung hervorgebracht hatte, eine zentrale Rolle. Neben dem schon erwähnten Konvertiten Frommann, der in das Gymnasium aufgenommen, vom Herzog versorgt und als Rabbinischlehrer angestellt worden war,19 sind dabei Unterstützer der Callenbergschen Judenmission inner- und außerhalb Thüringens zu erwähnen, die einstmals mit Callenberg das Gothaer Gymnasium besucht hatten.20 Neben seinem persönlichen Bekanntenkreis nutzte Callenberg zum Aufbau seines Thüringer Freundes- und Spenderkreises aber auch bestehende Netzwerke, v. a. die des Glauchaer Waisenhauses. Als Privatsekretär Franckes und Biograf des Halleschen Pietismus kannte er die Kommunikationsstrukturen der Anstalten nicht nur gut, sondern nutzte sie auch gezielt. So wurde die Institutsgründung durch eine gut vorbereitete Spendenaktion ermöglicht, zu der Johann Müller noch einen Spendenaufruf verfasste. Dieser ging u. a. nach Erfurt, wo am 8. Mai 1727 das evangelische Ministerium, der Stadtrat und einige Geistliche Spenden beisteuerten.21 Unter ihnen waren der Rektor der Erfurter Thomasschule Johann Christoph Silber (1686–1765), der Diakon an der Erfurter Predigerkirche Johann Michael Langguth (1682–1739) sowie der 1721–1728 als Oberpfarrer an der Erfurter Thomaskirche tätige Johann Jacob Witschel (1687–1736).22 Auch ein Handwerker, der Färber Peter Caspar Carthaus (*1677), dessen Bruder in Halle dem Waisenhaus verbunden war, beteiligte sich an der Sammlung.23 Von Erfurt aus wurde der Aufruf nach Jena weitergereicht, wo Johann Ulrich Hildebrandt (1696–1756)24 als Kollektor tätig wurde und die Spenden 19 20

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Zu H. C. I. Frommanns Werdegang in Gotha und Halle vgl. aaO, 99–104. So z. B. Christian Haumann, Johann Melchior Möller, Albert Anton Vierorth, Johann Ernst Vockerodt, Johann Heinrich Silber und Johann Wilhelm Bockelem (vgl. die Schülerverzeichnisse von 1712 u. 1714/15 im ThStAG Gymnasium Ernestinum, Locat 76 [1711–1715], Selecta 1712 Nr. 43 [Haumann] und 51 [Möller]; Selecta 1715 Nr. 15 [Vierorth]; Selecta 1714 Nr. 7 [Vockerodt], 9 [Silber] u. 74 [Bockelem]). Zur Unterstützung der Mission durch Möller von Thüringen aus s. Abschnitt 2. Bockelem unterstützte die Mission als Hofprediger bei der Äbtissin von Gandersheim (vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 360). Vierorth, späterer Bischof der Herrnhuter in Estland, unterstützte vor allem als Hauslehrer in Russland und im Baltikum die Mission (vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 126–128, 267 f. u. 385 f.). Vgl. Spendenaufruf mit Unterschriftenliste (AFSt/H K 1: 25v). Während letzterer seinen Namen auf der Unterzeichnerliste hinterließ, basiert die Verifikation der beiden ersteren lediglich auf den Initialen und deren Unterstützertätigkeit für das Institutum Judaicum (im Folgenden IJ) unmittelbar nach dessen Gründung (vgl. J. H. Callenbergs Freundeskreisverzeichnis des IJ [im Folgenden FKVerz] bis 1736 [AFSt/H K 36: 118 u. 190]). Zu Silber, Langguth und Witschel vgl. Martin Bauer: Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens. Neustadt a. d. Aisch 1992 (Schriftenreihe der Stiftung Stoye der Arbeitsgemeinschaft für mitteldeutsche Familienforschung e. V., 22), 150 u. 335. Witschel wechselte im Oktober 1728 von St. Thomas zu Erfurt als Diakon nach Sömmerda (vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 10: Series Pastorum. Wim-Wl. Leipzig 2009, 48. Silber war bis 1738 Rektor und Nachmittagsprediger an der Erfurter Thomasschule, dann wechselte er ins Pfarramt nach Wiehe und Garnbach (vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 8: Schr-To. Leipzig 2008, 257). Vgl. P. C. Carthaus an J. H. Callenberg, Erfurt, 8.7.1728 (AFSt/H K 2: 72–73r). Zu Hildebrandt vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 115, 338 u. 378; DBA 537, 105–113.

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unter Beifügung einer eigenen Gabe25 an Heinrich Milde nach Halle weiterleitete. Hildebrandt bemühte sich vor allem bei den Theologieprofessoren um Spenden. Es beteiligten sich Johann Franz Buddeus (1667–1729), der Edzardschüler Johann Andreas Danz (1654–1727) und Johann Georg Walch (1693–1775). Andere lehnten eine Spende ab, so z. B. auch der Juraprofessor Wilhelm Hieronymus Brückner (1656–1736), „welcher zwar seine Gedancken gegen das Werck gantz gütig eröfnet, aber ohnerachtet aller angewandten mühe, nicht konnte auf die gedanken gebracht werden, dass er nach dem Exempel derer andern auch etwas contribuirte“, so das nüchterne Urteil von Hildebrandt.26 Außerdem spendeten die Magister (Johann) Friedrich Christ (1692–1739)27 und Johann Liborius Zimmermann (1702–1734).28 Viele dieser Spender der ersten Stunde blieben dem Institut auch weiterhin verbunden. Weitere Spenderkreise in Thüringen konnte sich Callenberg über den Leipziger Verleger Samuel Benjamin Walther (* 1678)29 und den Juristen Anton Heinrich Walbaum (1696–1753) erschließen.30 Walbaum war 1720 als Hofmeister beim ostfriesischen Generalsuperintendenten Lewin Coldewey (1669–1729) und anschließend beim Berliner Generalfeldmarschall Dubislav Gneomar von Natzmer (1654–1739), dessen Sohn Carl Dubislav (1705–1737) er betreute. 1729 wurde er Sekretär am Hofe des Saalfelder Herzogs Christian Ernst (1683–1745) und nach dessen Tod 1745 Sekretär am Hof des Grafen Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1691–1771). Walbaum hatte Anfang der 1720er Jahre in Halle bereits Kollekten für Pfälzer Emigranten gesammelt und für die Verbreitung der Berichte über die dänisch-Hallesche Mission gesorgt.31 1729/30 organisierte er in Thüringen eine groß angelegte Kollektensammlung für das Institutum Judaicum und ließ sich 25 26

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Vgl. J. U. Hildebrandt an H. Milde, Jena, 9.6.1727 (AFSt/H K 1: 69r [Kopie Callenbergs]). Vgl. Aufruf und Unterzeichnerliste (AFSt/H K 1: 25v) und J. U. Hildebrandt an H. Milde, Jena, 9.6.1727 (AFSt/H K 1: 68–69r [Kopie Callenbergs]). Zu Brückner (Abiturient in Gotha und ab 1690 Juraprofessor in Jena) vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 115 u. 345 sowie Johannes Günther: Lebensskizzen der Professoren der Universität Jena 1558–1958. Jena 1958, 64. Christ war von 1720 bis 1727 Prediger in Jena, ab 1727 Pfarrer in Drackendorf und ab 1739 Diakon in Pößneck (vgl. Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 6: Das Herzogtum Sachsen-Altenburg. Leipzig 2013, 118). Alle Jenaer Unterstützer zählten zum Freundeskreis des Halleschen Pietismus (vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 119, Anm. 83). Zimmermann studierte seit 1722 in Jena, wurde dort 1725 Magister, 1728 Hofprediger in Wernigerode und schließlich 1731 Theologieprofessor in Halle (vgl. ADB 45, 1912, 283). Zu S. B. Walther als Verleger pietistischer und radikal-pietistischer Literatur vgl. Rainer Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus. Tübingen 2006 (HaFo, 18), 63–71. Zu Walbaum vgl. Christoph Bochinger: Aus Anton Heinrich Walbaums Tagebuch – Beobachtungen zur Religionskultur und weltweiten Kommunikation des Hallenser Pietismus in der zweiten Generation. In: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift Günther Mühlpfordt. Hg. v. Erich Donnert. Köln 1996, 427–443. Vgl. Tagebuch A. H. Franckes, Eintrag vom 23.1.1722 unter 2) (AFSt/H A 176). Walbaum verteilte die Halleschen Berichte in Preußen, Thüringen und Niedersachsen (vgl. AFSt/M Indien III L 1: 1–3r).

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von Callenberg einen kurzen Aufsatz über die Proselytenversorgung des Instituts zusenden.32 Diesen ließ er drucken, wobei er Callenbergs Summarische Nachricht33 hinzufügte. Voran setzte Walbaum eine Einleitung mit einem Zitat Cyprians über den Segen des Almosengebens und mit einem Kurzbericht über die bisherige Verteilung der Institutstraktate.34 Walbaum gelang es auf diese Weise, 89 Gelegenheitsspender zu gewinnnen, von denen einige dem Institut dauerhaft verbunden blieben. Die Sammlung wurde vor allem in Jena und Altenberga bei Jena, aber auch in Saalfeld, Köthen und Halle durchgeführt. Zu den Spendern zählten u. a. Christian Ernst von Sachsen-Saalfeld und in Jena die Magister August Gottlieb Spangenberg (1704–1792), Johann Sebastian Brumhard (1706–1743)35, Johann Peter Siegmund Winckler (1702–1780)36 und Walch, auch Brückner beteiligte sich nun. Am 18. November 1730 konnte Walbaum Callenberg 50 Reichstaler übersenden.37 Im Folgenden werden die von Callenberg in Thüringen für das Institutum Judaicum gewonnenen Spenderkreise mit einem Fokus auf dem Zeitraum von 1728 bis 1742 nach lokalen Schwerpunkten vorgestellt. Die zeitliche Eingrenzung ergibt sich aus dem Umstand, dass die Institutskorrespondenz von der Gründung 1728 bis 1742 lückenlos überliefert ist, dann aber abrupt abbricht und Nachforschungen über den Verbleib der weitergehenden Korrespondenz bislang erfolglos geblieben sind.

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Vgl. J. H. Callenberg an [A. H. Walbaum], Halle, 8.8.1729 (LHA Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Stolberg-Wernigerode, Nachlass Graf Henrich Ernst, I, B, Nr. 17, 2r–3r). Callenberg fasste darin seine Grundsätze und Praxis der Proselytenpflege zusammen, die er auch öffentlich gemacht hatte, in: Johann Heinrich Callenberg: Fortsetzung seines Berichts Von einem Versuch Das arme Jüdische Volck zur Erkäntniß der Christlichen Wahrheit anzuleiten Nebst einer Nachricht Von Einer Bemühung auch den Muhammedanern mit einem heilsamen Unterricht zu dienen. Halle 1729 (Publikationen des Institutum Judaicum [im Folgenden: PIJ] 1729, 8), 60, 64 u. 74 f. Johann Heinrich Callenberg: Auf Verlangen eines gewissen Herrn vom Adel aufgesetzte summarische Nachricht von dem Instituto betreffend einen Versuch, das Heil der Juden und Muhammedaner zu befördern. Halle 1730 (PIJ 1730, 5). Vgl. den Spendenaufruf im LHA Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep. H Stolberg-Wernigerode, Nachlass Graf Henrich Ernst, IX (Miscellanea), Nr. 31, 1r–5v (hier 1r [Zitat Cyprians], 1v [Einleitung A. H. Walbaums zum IJ], 2 [Callenbergs Aufsatz], 3 [Summarische Nachricht], 4r–5v [Liste der Subskribenten]). Brumhard besuchte das Gymnasium in seiner Heimatstadt Coburg und studierte in Jena Theologie, wo er ab 1729 als Prediger und ab 1732 als Magister legens wirkte (vgl. Johann Christoph Adelung u. Heinrich Wilhelm Rotermund: Fortsetzung und Ergänzungen zu Christian Gottlieb Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexicon, worin die Schriftsteller aller Stände nach ihren vornehmsten Lebensumständen und Schriften beschrieben werden. Bd. 1. Leipzig 1784, 2323). Aus Ansbach gebürtig, studierte Winckler in Halle und Jena Theologie, war ab 1729 als Magister legens in Jena tätig, wurde 1732 Hofprediger in Ebersdorf und 1734 in Wernigerode und 1736 Oberpfarrer und Superintendent in Stolberg (vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen 10 [s. Anm. 22], 17 f.). Vgl. A. H. Walbaum an J. H. Callenberg, Saalfeld, 18.11.1730 (AFSt/H K 5: 95).

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2. DER ERFURTER SPENDERKREIS Unter den 34 Namen auf der ersten Seite des Spenderverzeichnisses von 1736, das mit Erfurt beginnt, finden sich verzeichnet: der Evangelische Senat38 unter besonderer Erwähnung der Frau von Rathen39, Syndicus Reinhard40, Rat von Ziegler41 und Oberstadtvogt Andreae42. Auf kirchlicher Seite werden das evangelische Ministerium43, Oberkonsistorialrat Georg Friedrich von Helmershausen (1684–1757)44, Diakon Langguth45, Pastor Witschel46 sowie Rektor Silber und dessen Frau genannt.47 Pastor Johann Gottlieb Wilhelm Rößler (1682–1734) machte noch kurz vor seinem Tod 1734 die Bemühungen Callenbergs auf der Kanzel bekannt.48 Unter den Erfurter Institutsfreunden nahm der Diakon an St. Andreas Johann Melchior Möller (1694–1761)49 eine herausragende Position ein. Als ehemaliger Mitschüler Callenbergs am Gothaer Gymnasium50 und seit 1726 Erfurter Verbindungsmann zum Waisenhaus in Glaucha51 wurde er 1729 von Callenberg selbst über das Institut informiert und übernahm sogleich die Verbindungsfunktion für die Erfurter Institutsfreunde.52

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Vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 115, 233 u. K 33: 1). Vgl. AFSt/H K 36: 77 u. K 33: 1. Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 85). Vgl. aaO, 75. Vgl. aaO, 38. Vgl. aaO, 116, 232 und Verzeichnis ab 1736 (AFSt/H K 33: 1). Vgl. ebd. und FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 77, 116). Von Helmershausen war nach seinem Theologiestudium in Halle von 1717 bis 1729 Pfarrer in Weimar und ab 1729 Oberkonsistorialrat in Erfurt (vgl. Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1 [1690 bis 1730]. Bearb. von Fritz Juntke unter Mitwirkung von Franz Zimmermann. Halle 1960 [Arbeiten aus der Universitäts- und Landesbibliothek Halle an der Saale, 2], 214). Vgl. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 1). Vgl. ebd. Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 78). Vgl. J. M. Möller an J. H. Callenberg, Erfurt, 19.8.1734 (AFSt/H K 18: 191r). Zu Rößler vgl. Bauer, Theologen [s. Anm. 22], 265 f. Vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 26 u. K 33: 1). Vgl. Eintrag Möllers (Nr. 19) und Callenbergs (Nr. 62) in: Tabvla Censoria Class. Selectae, Anno (I) I) CCXIII, des Gymnasium Illustre Gotha (ThStAG Gymnasium Ernestinum 76, 95v, 97v). Vgl. die Briefwechsel aus den Jahren 1726–1728 zwischen Möller und dem Hallenser Schulinspektor August Hoffmann sowie anderen Hallensern im AFSt/H A 78b: 25–26, 51–52, 106– 107, 145, 159–160r u. a. Vgl. Möllers Briefe an Callenberg, Erfurt 16.6.1729 (AFSt/H K 3: 79–80r), 14.6.1731 (AFSt/ H K 7: 39–40r), 24.1.1732 (AFSt/H K 9: 67–68r), 1.5.1732 (AFSt/H K 10: 95 f.), 24.11.1732 (AFSt/H K 13: 87 f.), 27.1.1734 (AFSt/H K 17: 66–67r), 19.8.1734 (AFSt/H K 18: 190–191r), 27.1.1735 (AFSt/H K 21: 75), 31.3.1735 (aaO, 258r), 17.5.1736 (AFSt/H K 25: 225–226r) und 25.9.1736 (AFSt/H K 26: 117–118r).

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Auch Vertreter des Militärs aus Erfurt wurden Förderer des Instituts.53 Hinzu kamen adlige Damen54, Angehörige des Bürgertums55 und Handwerker56. Weitere zwölf Unterstützer sind nur namentlich erwähnt und können nicht näher identifiziert werden.57 Die erste Taufbewerberin, die Callenberg an auswärtige Freundeskreise vermittelte, die aus Herleshausen gebürtige Hallenser Judenmagd Judith Cappelin, später Christina Konstantina, schickte er am 31. Januar 1731 zu Pfarrer Möller nach Erfurt, der mit einem pietistischen Freundeskreis am 1. April 1731 die Taufe realisierte, die weitere Versorgung der Proselytin sicherstellte und sich bemühte, sie in seine Gemeinde zu integrieren.58 Andersherum schickte die evangelische Pfarrerschaft auch Taufanwärter von Erfurt nach Halle an das Institut.59 In Gebesee bei Erfurt interessierte sich der Oberpfarrer Christoph Polycarp Engau (1673–1743) für das Institut und dessen jiddische Publikationen.60 3. SPENDER IM HERZOGTUM SACHSEN-GOTHA Callenberg versuchte, Cyprian dauerhaft für das Institut zu gewinnen und über ihn die Gunst des Herzogs zu erlangen.61 Dabei konnte Callenberg an seine frühere, langjährige Korrespondenz mit Cyprian anknüpfen.62 1731 wandte er sich direkt an Cyprian mit der Bitte um Fürsprache beim Herzog und hoffte sogar, er könne Cyprian als Fürsprecher beim preußischen König gewinnen, um sein Institut privilegieren zu lassen. Doch diese Bemühungen fruchteten nicht, obwohl Cyprian den 53 54

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Zu Hauptmann Reinhard vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 80). Zu Obermarschall Bayer vgl. aaO, 84 und zur Frau von Oberleutnant von Meissenbong FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 1). Zu Frl. von Schwarzenfeld und Frl. von Einsiedel vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 75); zu Eva Anna von Zanthier FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 1); zu Magdalena Auguste von Bachoff (1709–1735), Tochter des Gothaer Präsidenten und kaiserlichen Rates, bei dem Callenberg einst Hauslehrer war, FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 117). Zu Rektor Weida vgl. AFSt/H K 36: 191; zu J. C. Silber aaO, 118 und Verzeichnis ab 1736 (AFSt/H K 33: 1); zu Dr. Stieler ebd. und FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 79 u. 277). Zum Färber P. C. Carthaus vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 17 u. 26 und AFSt/ H K 33: 1). So Herr Büchner und Frau Silber (vgl. AFSt/H K 33: 1); Frau Bonnhorsten (AFSt/H K 36: 76), Frobenius (aaO, 81), Hager, Stichling, Bart, Völker, Kühn, Pfeiffer (aaO, 82–84) und Fritschler (aaO, 117). Vgl. hierzu Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 250–252. Vgl. aaO, 357. Vgl. das Verzeichnis der Traktatempfänger und -verteiler (AFSt/H K 35: [27]). Zu Engau vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 2: Br-Fa. Leipzig 2004, 455. Vgl. J. H. Callenberg an E. S. Cyprian, Halle, 18.8.1731 (FB Gotha, Handschriftenabteilung, A 434, 33). Zu Callenbergs Korrespondenz mit Cyprian vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 40 f. Diese begann 1719 aufgrund von Callenbergs arabischen Sprachstudien und des orientalischen Missionsinteresses bei Cyprian und setzte sich intensiv fort, als Callenberg Sekretär im Hause Franckes war. Cyprian zog bis 1726 über Callenberg Erkundigungen über Hallenser Gelehrte, insbesondere über Christian Thomasius, ein und ließ sich über die Russlandbeziehungen der Anstalten sowie über neueste Literatur von anderen Universitäten informieren.

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Unternehmungen seines Landsmanns Wertschätzung entgegenbrachte und anfangs versprach, beim Herzog um Spenden anzuhalten. Cyprian hielt den Versuch, Juden bekehren zu wollen, aber für wenig aussichtsreich.63 Maßgebliche Verbindungsperson nach Gotha wurde ab 1731 der dortige Diakon bzw. Archidiakon Johann Matthäus Sauerbrey (1692–1746).64 Er verteilte die Institutsberichte in Gotha u. a. an Cyprian, den Generalsuperintendenten Johann Benjamin Huhn (1684–1744)65, den Gymnasialrektor Johann Heinrich Stuss (1686–1775)66 sowie Subkonrektor Johann Michael Heusinger (1690–1751)67. Auch Huhns Vorgänger Georg Nitsch (1663–1729) zählte zum Freundeskreis Callenbergs.68 Sauerbrey vermittelte zudem Kontakte zum kaiserlichen und königlich preußischen Medailleur in Gotha, Christian Wermuth (1661–1739), der Vorschläge zur Institutsarbeit unterbreitete und sich theologisch zur Judenbekehrung äußerte,69 63

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Vgl. E. S. Cyprian an J. H. Callenberg, Gotha, 1.8.1731 (AFSt/H K 7: 177). Bis der Kontakt zu Callenberg 1734 abbrach, bekam Cyprian regelmäßig die Institutsberichte und verschiedene fremdsprachige Traktate zugesandt, zeigte aber kein näheres Interesse für das Institut (vgl. J. H. Callenbergs […] Neunte Fortsetzung seines Berichts Von einem Versuch Das arme Jüdische Volck zur Erkänntniß der Christlichen Wahrheit anzuleiten […]. Halle 1734 [PIJ 1734, 12]; FKVerz bis 1736 [AFSt/H K 36: 2 und Anhang, 1v]). Sauerbrey wurde 1731 während eines Halleaufenthaltes von Callenberg über das Institut in Kenntnis gesetzt (vgl. J. M. Sauerbrey an J. H. Callenberg, o. O., o. J. [präsent. 1.12.1731], AFSt/H K 8: 146r). J. M. Sauerbrey, gebürtig aus der Nähe von Gotha, hatte fast zeitgleich mit Callenberg das Gothaer Gymnasium und ab 1714 die Universität Halle besucht. 1720 wurde er Substitut zunächst in Kleinfahner und 1726 in Gotha, wo er 1728 Diakon und 1739 Archidiakon wurde (vgl. Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 1: Herzogtum Gotha. Neustadt a. d. Aisch 1995 [Schriftenreihe der Stiftung Stoye, 26], 580). Huhn war seit 1712 als Hofdiakon in Gotha tätig, 1717 wurde er Hofprediger, 1730 Generalsuperintendent und 1733 zudem Oberhofprediger (vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 354; FKVerz bis 1736 [AFSt/H K 36: 127]). Vgl. J. M. Sauerbrey an J. H. Callenberg, Gotha, 6.8.1733 (AFSt/H K 15: 177). Zu J. H. Stuss vgl. ADB 37, 68. Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 227). Heusinger hatte selbst das Gymnasium in Gotha besucht, wurde 1722 Schulrektor in Laubach,1730 Subkonrektor in Gotha und 1738 Rektor an einer Eisenacher Schule (vgl. Matrikel Halle-Wittenberg 1 [s. Anm. 44], 224). Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 227). Vgl. die anonymen Spendenzuweisungen über J. M. Sauerbrey, die Callenberg als Beiträge C. Wermuths notierte (Spendennotiz zum Brief J. M. Sauerbreys vom 15.12.1734, Gotha, 21.12.1734 [AFSt/H K 20: 57r]; Spendennotiz zum Brief J. M. Sauerbreys vom 29.12.1734, Gotha, o. J. [präsent. 4.1.1735] [AFSt/H K 20: 99r]; Spendennotiz, Gotha, 17.5.1736 [AFSt/ H K 25: 224r] und FKVerz bis 1736 [AFSt/H K 36: 310]). Wermuth verbrachte Kindheit und Lehrzeit in Dresden, wurde 1685 Münzmeister zunächst in Sondershausen, 1687 in Gotha und Eisenach und ab 1699 für den Kaiser sowie ab 1703 zudem für König Friedrich I. von Preußen (vgl. Cordula Wohlfahrt: Christian Wermuth, ein deutscher Medailleur der Barockzeit. Diss. [masch.]. Dresden 1979, v. a. 13–38). Zu seinen pietistischen Kontakten, u. a. zu Ph. J. Spener, J. W. Petersen und zu den Hallensern, insbesondere zu J. H. Callenberg, vgl. aaO, 33–38. Vgl. auch dies.: A German medallist of the Baroque age. London 1992. Wermuth war von der Bußpredigt eines Jerusalemer Rabbiners in einer Frankfurter Kirche beeindruckt, der die Predigterlaubnis durch Unterstützung des Seniors Johann Georg Pritius und des Frankfurter Magistrats erlangt hatte. Er rief Callenberg auf, die Institutstraktate auch als Bußruf an Christen zu verteilen (vgl. C. Wermuth an J. H. Callenberg, Gotha, 18.2.1733 [AFSt/H K 14: 135]).

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Traktate an Juden verteilte70 und 1733 zwei Münzen auf das Institut prägen ließ71. Zu den einflussreicheren Unterstützern in Gotha zählten auch Callenbergs früherer Dienstherr Johann Friedrich Bachoff, Freiherr von Echt (1679–1736), kaiserlicher Reichshofrat sowie Kanzler und herzoglicher Präsident im Landesregierungskollegium Sachsen-Gotha72, Konsul Waitz73 und die Inspektoren Jacobi74 und Johann Wilhelm Hildebrand (1669–1756)75. Außerdem werden weitere Spender aus Gotha genannt.76 Gelegentlich übersandte Sauerbrey auch Spenden anonymer Gönner77 und nahm bereits wenige Wochen nach seiner Kontaktaufnahme zum Institut eine von Callenberg zugesandte jüdische Magd aus Halle zur Taufe auf. Die Judentaufe kam aber nicht zustande, weil die Magd von der Mutter heimlich wieder abgeholt wurde.78 Sauerbrey vermittelte auch Institutsberichte an auswärtige Freunde, so z. B. an Pfarrer Johann Georg Starckloff (1682–1756) in Großfahner und an die dortige Frau des Generals von Seebach.79 Auf dem Lande setzte sich außerdem über mehrere Jahrzehnte Pfarrer Hieronymus Reibstein (1688–1771) in Kleinfahner für das Institut ein.80 Der Gothaer J. Müller hatte ihm einst begeistert aus seinem Manuskript Licht am Abend vorgelesen. Reibstein gewann einzelne Unterstützer in seiner 70 71

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Vgl. das Verzeichnis der Empfänger von Institutstraktaten (AFSt/H K 35: [32]). Zur Beschreibung und Abbildung der Münzen vgl. Wohlfahrt, Wermuth, [s. Anm. 69], 392 f. u. 406 f. (Kennzahl im Gothaer Münzkabinett: Kz 28 011.28 013.33 006) und die Beschreibung der Münzen im Anhang, 39; zu deren Prägung zugunsten des IJ vgl. C. Wermuth an J. H. Callenberg, Gotha, o. J. [präsent. 23.2.1733] [AFSt/H K 14: 138]). Der Plan zur Prägung der Münze ging nicht von Callenberg, sondern von Wermuth selbst aus (gegen Wohlfahrt, Wermuth [s. Anm. 69], 38). Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 92, 217 u. 229; hier auch die Erwähnung von dessen Sohn Joh. Friedrich). Auch die Tochter des Präsidenten erhielt die Institutsberichte (vgl. aaO, 117). Vgl. aaO, 94. Wohl Jacob Sigismund Waitz (1698–1776). Vgl. aaO, 16. Wohl Johann Adam Jacobi (1664–1733). Vgl. aaO, 228. Hildebrand war ab 1725 Inspektor in Gotha (vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 740). Frau Bayer, geb. Müller, Tochter des verstorbenen Archidiakons Johann Müller (vgl. FKVerz bis 1736, [AFSt/H K 36: 94]), und Fr. Schneider, geb. Heimburg, Schwester eines ehemaligen Mitschülers von Callenberg (vgl. aaO, 274); für die frühen 1730er Jahre zudem ein Herr Schultze und für die späteren ein Herr Thielemann (vgl. aaO, 93 und FKVerz ab 1736 [K 33: 152]). Vgl. J. M. Sauerbrey an J. H. Callenberg, Gotha, 15.12.1734 (AFSt/H K 20: 33r); ders. an J. H. Callenberg, Gotha, 29.12.1734 (aaO, 100r) und Spendenübermittlung, Gotha, o. J. [präsent. 12.12.1735] (SBB PK Nachlass Francke, Kapsel 8). Vgl. hierzu Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 254 f. Vgl. J. M. Sauerbrey an J. H. Callenberg, Gotha, 6.8.1733 (AFSt/H K 15: 177), ders. an J. H. Callenberg, Gotha, 8.7.1734 (AFSt/H K 18: 120r) und FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 105 u. 407). Starckloff besuchte die Schule in Waltershausen, studierte ab 1704 in Jena, war anschließend Informator in Hildburghausen und wurde 1712 Pfarrer in Großfahner (vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 632 f.). Zur Generalin von Seebach vgl. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 153). Reibstein besuchte das Gymnasium in Gotha und die Universität Halle, wurde 1713 Waisenhauslehrer in Gotha, 1718 Substitut und 1727 Pfarrer in Kleinfahner (vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 540; FKVerz bis und ab 1736 [AFSt/H K 36: 105 und im Anhang der Verteilschriften sowie AFSt/H K 33: 83]).

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Christoph Rymatzki

Gemeinde81 und wurde ab 1736 als Verteiler von Traktaten an Gönner in Walterhausen und Eisenach tätig. Ab 1740 reichte er die Institutsberichte auch an den Pfalzgrafen Christian IV. von Birkenfeld (1722–1775) in Bayern weiter.82 Reibstein übermittelte Spenden aus Großfahner, ermutigte Callenberg zur Weiterführung des Instituts und stellte Kontakt zu einem Molschlebener Schulmeister her.83 In Molschleben, Callenbergs Geburtsort, bildete sich trotz verschiedentlicher Werbung Callenbergs unter Bekannten und Verwandten aber kein dauerhafter Freundeskreis heraus. Vorübergehend gehörten ihm vier Personen an. Callenbergs ehemaliger Pfarrer Friedrich Heinrich Jacobs (1681–1737) las ab 1732 als Superintendent in Gräfentonna weiterhin die Institutsberichte.84 Über Wermuth in Gotha85 erreichten die Institutsberichte auch den Hofadvokaten Johann Zacharias Gleichmann († 1758) in Ohrdruf.86 Durch dessen Einfluss wiederum gelang es vorübergehend, den Ohrdrufer Archidiakon und späteren Superintendenten Johann Benjamin Martini (1692–1774) für das Institut zu gewinnen, der rabbinische und kabbalistische Literatur zu lesen pflegte und interessiert die jiddischen und hebräischen Institutstraktate studierte.87 Darüber hinaus vermittelte der aus Gotha gebürtige Johann Christian Nehring (1671–1736),88 Pfarrer in Morl bei Halle, die Berichte an den Bürgermeister und Hofadvokaten Johann Georg Juncker (1662–1739)89 in Waltershausen, der mit Callenberg gemeinsam das Gymnasium in Gotha besucht hatte. Juncker wiederum gewann den dortigen Superintendenten 81 82

So z. B. zu einer Frau Wittig und einem Herrn Kesler (vgl. FKVerz ab 1736 [AFSt/H K 33: 83]). Vgl. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 83). Christian IV. von Pfalz-Birkenfeld kam nach der Ausbildung am französischen Hof 1740 zurück und übernahm die Regierungsgeschäfte. 83 Vgl. H. Reibstein an Inspektor Zopf, Kleinfahner, 11.7.1731 (AFSt/H K 7: 104r [Abschrift]) sowie an Callenberg, Kleinfahner, 1.8.1731 (aaO, 181) u. 30.5.1736 (AFSt/H K 25: 246r– 247v); Notiz J. H. Callenbergs an [G. A. Francke] betr. ein Büchergeschenk von Reibstein an Callenberg, Halle, 10.7.1736 (SBB PK Nachlass Francke, Kapsel 8) und Auflistung gelegentlicher Empfänger der Nachrichten (FKVerz bis 1736 [AFSt/H K 36: 4, 213–215 u. 384]). 84 Zum Molschleber Freundeskreis gehörten laut FKVerz bis 1736 Sebastian Müller, der vermutlich Schulmeister war, als Verteiler sowie ein Heinrich Müller, ein Herr Gerlach und Johann Caspar Callenberg (vgl. AFSt/H K 36: 213 u. 384 [H. Müller], 214 [J. C. Callenberg] u. 215 [Gerlach u. S. Müller]). Zu Jacobs vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 364. 85 Zur Verteilertätigkeit Wermuths vgl. ders. an J. H. Callenberg, Gotha, 11.6. u. 12.11.1733 (AFSt/H K 15: 79r u. K 16: 106r). 86 Gleichmann war als Sekretär bei den Herzögen von Sachsen-Weißenfels und Sachsen-Gotha angestellt und zudem schriftstellerisch tätig, u. a. unter dem Pseudonym Clarus Michael Helmond (vgl. DBI 396, 168–184 u. ADB 9, 228). Als Mitherausgeber der Zeitschrift Curieuses Welt= und Staats=Cabinett zeigte sich Gleichmann bemüht, die Institutsarbeit darin positiv zu erwähnen (vgl. J. Z. Gleichmann an J. H. Callenberg, Ohrdruf, 1.7.1733 [AFSt/H K 15: 122 f.] u. ders. an J. H. Callenberg, Ohrdruf, 18.9.1733 [aaO, 287r]). S. auch FKVerz bis 1736 (AFSt/ H K 36: 337). 87 Vgl. J. Z. Gleichmanns Briefe an J. H. Callenberg aus Ohrdruf vom 1.7.1733 (AFSt/H K 15: 122v), 17.4.1736 (AFSt/H K 25: 160r) u. 10.11.1736 (AFSt/H K 26: 248r). Martini war von 1739 bis 1742 Superintendent in Ohrdruf (vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 461). S. Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [83]). 88 Vgl. zu Nehring Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 312 u. 434–436. 89 Vgl. J. G. Juncker an J. C. Nehring und J. H. Callenberg, Waltershausen, 14.11.1731 (AFSt/ H K 10: 218r–219r) und FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 206). Zum Schulbesuch in Gotha vgl.

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Johann Caspar Büchner (1678–1740) für das Institut.90 Juncker und Büchner waren dem Institut zwar verbunden, unterstützten es jedoch nur gelegentlich.91 In Waltershausen zählten zum Freundeskreis noch weitere drei Bürger.92 Über den Gothaer Subkonrektor Heusinger erhielt Pfarrer Georg Matthäus Stammler (1684–1756) in Mechterstädt bei Gotha die Berichte zugesandt, der mit Callenberg persönlich in Kontakt trat, um die Weiterversorgung eines jüdischen Täuflings seiner Gemeinde zu sichern.93 Nach Mehlis, zu Pfarrer Johann Anhard Löffler (1682–1745)94, entstand ein Kontakt über dessen Schwiegervater, Pfarrer Johann Eusebius Schmidt (1670–1745) in Siebleben bei Gotha, der als Student in Erfurt 1690/91 durch Francke geprägt worden war.95 Löffler vermittelte wiederum Kontakte nach Zella zu dem Diakon Johann Andreas Berlet (1691–1767).96

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Tabvla Censoria Class. Secundae, Anno (I) I) CCXIII, des Gymnasium Illustre Gotha (ThStAG Gymnasium Ernestinum 76, 108r, Nr. 34). Vgl. J. G. Juncker an J. C. Nehring, Waltershausen, 12.12.1733 (AFSt/H K 16: 208); J. C. Nehring an J. H. Callenberg, Morl, 29.12.1733 (aaO, 207); J. C. Büchner an J. H. Callenberg, Waltershausen, 19.10.1734 (AFSt/H K 19: 138) sowie FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 189). Büchner war von 1729 bis 1740 Superintendent in Waltershausen (vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 107). Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36, 87 und Verteilerliste im Anhang) sowie FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 33: 189 u. K 36: 308 [Juncker]). Ein weiterer Herr Juncker, eine Frau Junckerin und der Pfarramtskandidat Georg Grosch, der 1729 die Pfarrstelle im nahe gelegenen Hohenkirchen antrat und 1732 in Burgtonna, wo er dem Institut verbunden blieb (vgl. Briefe von G. Grosch an J. H. Callenberg vom 3.8. u. 4.10.1729 [AFSt/H K 3: 248r–249r, 309r–310r] u. 8.2.1732 [AFSt/H K 9: 127 f.] sowie FKVerz bis und ab 1736 [AFSt/H K 33: 83 u. 189; AFSt/H K 36: 206). Zu Grosch vgl. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 288. Stammler studierte nach dem Besuch des Gothaer Gymnasiums ab 1706 in Halle Theologie und war von 1712 bis 1715 zeitgleich mit Callenberg Hauslehrer in Gotha; 1723 erhielt er die Pfarrstelle in Mechterstädt (vgl. G. M. Stammler an J. H. Callenberg, Mechterstädt, 28.11.1734 [AFSt/H K 19: 221r–222v]; Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 631). Zu Heussinger, der nur bis 1736 Kontakte zum IJ unterhielt, vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 227). Zu seiner Tätigkeit als Subkonrektor am Gymnasium von 1711 bis 1761 s. Max Schneider: Die Lehrer des Gymnasiums Illustre zu Gotha (1524–1859). Ein biographisch-bibliographischer Beitrag zur Geschichte des Gymnasiums. Gotha 1900, 21, Nr. 105. Löffler war ab 1715 Lehrer am Gymnasium und ab 1718 Diakon in Gotha; 1726 wurde er Pfarrer in Mehlis, das unter gemeinschaftlicher Verwaltung von Sachsen-Gotha und SachsenWeimar stand (vgl. Schneider, Die Lehrer [s. Anm. 93], 21, Nr. 110 u. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 75 u. 592 sowie FKVerz bis und ab 1736 [AFSt/H K 36: 273 u. K 33: 125]). Schmidt besuchte das Gothaer Gymnasium und die Universität Jena, bevor er 1690/91 zu A. H. Francke nach Erfurt ging; dessen Anhänger blieb er auch als Informator in Gotha (ab 1693) und als Pfarrer in Siebleben (ab 1697/98) (vgl. Wotschke, Pietismus in Thüringen I [s. Anm. 3], 298 f. u. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 592). Vgl. J. A. Löfflers Briefe an J. H. Callenberg aus Mehlis vom 10.9.1732 (AFSt/H K 12: 51r– 52r), 30.3.1733 (AFSt/H K 14: 222), 4.5.1734 (AFSt/H K 18: 7r–8r) u. 8.3.1735 (AFSt/H K 21: 170r–171r); J. E. Schmidt an J. A. Löffler, Siebleben, o. J. [präsent. Callenberg, 18.4.1733] (AFSt/H K 14: 221r); L. A. Berlet an J. H. Callenberg, Zella, 16.4.1733 (AFSt/H K 14: 260); FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 273 u. K 33: 177) u. Thüringer Pfarrerbuch 1 [s. Anm. 64], 150.

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4. SPENDER IM HERZOGTUM SACHSEN-SAALFELD In Sachsen-Saalfeld wirkte vor allem Walbaum als Sekretär am Hof von Herzog Christian Ernst zu Saalfeld97 als Vermittler für die Interessen des Instituts. Er unterhielt Kontakte zu den Familien von Schwartzenfeld und Vend in Altenberga und zum Saalfelder Herzog.98 Im Dezember 1731 reisten die Institutsmitarbeiter Johann Georg Widmann (1693–1753) und Johann Andreas Manitius (1707–1758) an den Saalfelder Hof und trafen mit Walbaum und anderen Pietisten zusammen. Manitius stellte dem Herzog die Reisetätigkeit des Instituts vor und erhielt als Schutz vor der Heereswerbung einen Pass ausgestellt.99 Walbaum unterstützte Callenberg von Saalfeld aus mit seinem weitreichenden Kontaktnetz und organisierte den Versand arabischer Traktate über Rotterdam, Regensburg,100 Den Haag101 und Venedig in die Levante,102 nach Nordafrika, Konstantinopel und über einen dortigen Kaufmann weiter nach Aleppo.103 Mit dem Saalfelder Superintendenten und Hofprediger Benjamin Lindner (1694–1754)104 und dem Pößnecker Diakon Christian Gottfried Bulle105 kamen 1733 zwei Institutsfreunde aus der Niederlausitz nach Sachsen-Saalfeld, die die Arbeit weiter unterstützten. Damit wurde die Arbeit des Instituts in Saalfeld dauerhaft 97 98

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Vgl. zu Walbaum und dessen Spendenaktion für das IJ von 1729 in Thüringen s. Abschnitt 1 u. Anm. 32. Vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 27, 201 u. Verzeichnis der Verteiler im Anhang 1, 2, 4 sowie in AFSt/H K 35: [46]; AFSt/H K 33: 16 u. 27). Zur Familie von Schwartzenfeld und weiteren Freunden vgl. J. H. Callenbergs Briefe an A. H. Walbaum aus Halle vom 5.6.1729 u. 10./11.12.1729 (AFSt/H K 3: 73v–74r, 340r), A. H. Walbaum an v. Burgsdorf, Saalfeld, 22.5.1729 (AFSt/H A 78b: 374) und A. H. Walbaums Briefe an J. H. Callenberg aus Saalfeld vom 31.7., 25.8. u. 3.11.1729 und o. J. (AFSt/H K 3: 234r, 269r, 276r–277r u. 333r). Zu weiteren Spendervermittlungen in den folgenden Jahren vgl. A. H. Walbaums Briefe an J. H. Callenberg aus Saalfeld vom 11.1.1733 (AFSt/H K 14: 29), 29.10.1733 (AFSt/H K 16: 72r), 13.5.1734 (AFSt/H K 18: 31r), 21.11.1734 (AFSt/H K 19: 204r–206r) u. 31.3.1735 (AFSt/H K 21: 257r) sowie J. H. Callenberg an A. H. Walbaum, Halle, 2.6.1732 (AFSt/H K 10: 182r) u. J. A. Manitius an J. H. Callenberg, Coburg, 13.12.1731 (AFSt/H K 8: 191r–192r). Der Herzog sicherte den Hallensern Schutz für die Reise nach Nürnberg, Heidelberg, Regensburg, Frankfurt und Halle zu, konnte sie aber nicht davor bewahren, von Februar bis Juli 1733 in Böhmen (Hohenmaut) unter dem Verdacht, Herrnhuter Missionare zu sein, eingesperrt zu werden (vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 220). Vgl. A. H. Walbaums Briefe an J. H. Callenberg aus Saalfeld vom 24.11. u. 1.12.1729, 15. u. 26.7.1731 (betr. Holland) (AFSt/H K 3: 352v, 358r u. K 7: 110 u. 147). Vgl. A. H. Walbaum an J. H. Callenberg, Saalfeld, 24.11.1729 (AFSt/H K 3: 352). In Rotterdam vermittelte Johann Hieronymus Liebenroth (ein Vetter von Johann Heinrich Michaelis) und in Den Haag Kaufmann Manger die Kontakte nach Nordafrika. Zu J. M. Wagner und dessen Versand von arabischen Traktaten Callenbergs vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 399. Vgl. A. H. Walbaum an J. H. Callenberg, Saalfeld, 13.3.1732 (AFSt/H K 9: 283r). Lindner, aus Brieg gebürtig, studierte in Leipzig und Halle Theologie, wurde 1724 Pfarrer in Schönbrunn/Schlesien und 1727 Archidiakon in Sorau; 1733 kam er nach Saalfeld (vgl. DBI 768, 208–215 u. ADB 18, 699). Vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 215 [Senior Heumann in der Nähe von Saalfeld] und K 33: 16 [Fr. von Diescau, Fr. Christ, Hr. Krämer und Hr. Rit]). Bulle war als Waisenhausinspektor in Sorau für das IJ tätig, bis er 1733 nach Pößneck kam. Vgl. zu ihm Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 341 und DBI 164, 309.

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von sieben Unterstützern (Lindner, Walbaum, der Herzog und vier weitere Personen) gefördert. In Pößneck bildete sich ein Kreis von 14 Förderern, die ohne Titel genannt werden und vermutlich dem bürgerlichen Kern von Bulles Gemeinde entstammten.106 Bulle hielt auch zu einem Gönner im benachbarten Ranis Kontakt107 sowie zu einem Waisenhausinformator Kirsten in Rudolstadt.108 5. SPENDER IN DEN GRAFSCHAFTEN SACHSEN-COBURG UND SACHSEN-EISENACH Der Jenaer Brumhard, der sich auch oft in Saalfeld aufhielt, vermittelte Institutskontakte in seine Heimatstadt Coburg, wo sein Schwager Johann Heinrich Scheeler (* 1681) als Kastenamtsverweser tätig war. Scheeler verteilte eifrig die Institutstraktate an dortige Juden und führte mit ihnen Gespräche. Zuweilen übersandte er auch Spenden an Callenberg. Sein Bemühen, bei der Ortsgeistlichkeit und dem Coburger Stadtrat Interesse für das Institut zu wecken, blieben erfolglos, da Judenmission als vergebliche Mühe angesehen wurde. Dennoch wurden vier Unterstützer gewonnen.109 In Hildburghausen förderte das Institut ab 1733 der in den Diensten derer von Sachsen-Coburg und Sachsen-Saalfeld stehende Geheimrat Johann Sebastian Kob (1699–1765), dessen Bruder Callenberg in Wittenberg kennengelernt hatte. Als Pate eines Sohnes des Hildburghausener Hofjuden Simon Moses musste Kob zwar schlechte Erfahrungen mit Judentaufen machen und ein 1732 von ihm an Callenberg weitervermittelter jüdischer Taufanwärter erwies sich als Taufbetrüger, dennoch blieb Kob mit ungeminderter Unterstützungsbereitschaft Callenbergs Institut gewogen.110 In Hildburghausen konnten außer Kob nur zwei Förderer gewonnen werden.111 106 Vgl. die Namen der Herren Bernhard, Brüderlein, Christ, Fröhlich, Leube, Rinck, Steckichten, Trautmann und der Frauen Jahnin, Brandsteinin, Müllerin und Rothin im FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 34). 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. aaO, 18. 109 Zu Scheeler vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 346, 447 u. 452. In Coburg wurde Callenberg außerdem von Fr. Brumhard, einem Hauslehrer Hegewer bei Familie von Littwitz und einem Herrn Türck unterstützt (vgl. FKVerz bis und ab 1736 [AFSt/H K 36: 112 u. 114; AFSt/H K 33: 162]). 110 Zu Kob vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 44, 307 u. K 33: 149) sowie das Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [58]). Kob († 1765) aus Eisfeld studierte ab 1721 in Wittenberg, stand 1726 als Amtmann in sachsen-eisenachischen Diensten, ab 1728 in SachsenWeimar, ab 1732 als Regierungsrat und Konsistorialassessor in Hildburghausen, ab 1733 in Sachsen-Saalfeld und Coburg (1737 Hof- und Regierungsrat) und ab 1742 erneut in Hildburghausen (Konsistorial- und Hofrat) (vgl. J. S. Kob an J. H. Callenberg, Coburg, 26.12.1733 [AFSt/H K 16: 193 f.]; ders. an J. H. Callenberg, Hildburghausen, 14.11.1732 [AFSt/H K 13: 60 f.] und FKVerz ab 1736 [AFSt/H K 33: 15]; Fritz Juntke: Album academiae Vitebergense (1660–1812). Bd. 3. Halle 1966, 84 u. Johann Werner Krauss: Beyträge zur Erläuterung der hochfürstl. Sachsen-Hildburghäusischen Kirchen-, Schul- und Landes-Historie. Aus bewährten Quellen gesammelt […]. Bd. 2. Greiz 1751, 82 f.). 111 Vgl. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 149 [Kutzbeh und Stolle]).

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Über den Kantor und engagierten Institutsfreund Jakob Schramm (1708– 1766)112 im brandenburgischen Prenzlau, Schwager des Institutsmitarbeiters Manitius, entstanden Kontakte nach Sachsen-Eisenach zu Pfarrer Johann Balthasar Wiß (* 1706) in Brotterode113 und zu Schramms Bruder Liborius Schramm (1701–1758), der Hauslehrer bei Gottfried Vockerodt in Gotha und Student in Halle war und ab 1727 als Organist und Lehrer in Ruhla seinen Schülern sowohl die Halleschen Berichte vorlas als auch Spenden für das Judenmissionsinstitut sammelte. Zudem verteilte er Traktate unter den ansässigen Juden. 1737 ging er zunächst als Kantor, später als Pfarrer nach Wölfis bei Gotha, wo er dem Institut verbunden blieb.114 In Eisenach bildete sich eine Gruppe von vier Förderern um die Frau eines Rates Gerhard und Prediger Johann Heinrich Christoph Hoffmann (1692–1773), die später durch Pfarrer Reibstein aus dem gothaischen Kleinfahner mit Berichten versorgt wurden.115 Für Weimar wird als Spender nur [Friedrich Gotthilf] von Marschall (1675–1740), Ober- und Reisemarschall bei Ernst August erwähnt. Von Marschall traf sich u. a. mit Gotthilf August Francke, als dieser 1719 in Jena studierte.116 6. DER JENAER SPENDERKREIS In Jena, das damals unter Eisenacher Herrschaft stand, bildete sich ein Freundeskreis von ca. 15 Personen heraus. Zu ihm zählten die Professoren Buddeus, Walch und Brückner. Brückner las die Institutsberichte und wandte sich gelegentlich, z. B. im Zusammenhang mit der Vermittlung eines Konvertiten, persönlich an Callenberg.117 Am engagiertesten unterstützte das Institut der 1728 nach Jena berufene Pfarrer, Universitätslehrer und spätere Superintendent Winckler. Dessen von Callenberg unterstützte Pläne, als Hauslehrer und Missionar mit Spangenberg nach Guinea zu gehen, blieben unverwirklicht.118 Winckler organisierte in Jena den Kontakt zum Hallenser Institut, dem außer den Genannten bis zu seinem Fortgang nach 112 Zu J. Schramm vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 320. 113 Wiß unterstützte das Institut finanziell (vgl. J. Schramm an J. H. Callenberg, Prenzlau, 30.10.1732 [AFSt/H K 1: 255v]) und FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 303 u. K 33: 128). 114 Vgl. Liste der Traktatempfänger (AFSt/H K 35: [60, 99]). Wiß war von 1732 bis 1748 Pfarrer in Brotterode (vgl. LKAK Nachlass Erich Döll, Nr. 6). 115 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 203 [Rätin Gerhardt], 196 [Prediger Hoffmann], 139 [Kellner]) u. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 83 [Gerhardt]). Hoffmann war von 1730 bis 1742 Diakon in Eisenach (vgl. Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 3: Großherzogtum Sachsen [-WeimarEisenach], Landesteil Eisenach [Schriftenreihe der Stiftung Stoye, 35], 226). 116 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 37). Vgl. Gotthilf August Francke: Hertzliebe Mama. Briefe aus Jenaer Studientagen 1719–20. Hg. von Thomas Müller u. Carola Wessel. Halle 1997, 35. 117 Vgl. W. H. Brückner an J. H. Callenberg, Jena, 10.8.1733 (AFSt/H K 15: 187) und FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 344). Die Jenaer Erstspender J. U. Hildebrandt und J. F. Christ blieben von Augsburg bzw. Pößneck aus dem Institut verbunden (vgl. FKVerz ab 1736 [AFSt/H K 33: 18 u. 34]). 118 Vgl. zu Winckler Anm. 36 u. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 345 und. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 31 [Winckler], 35, 344 [Brückner] u. K 33: 25 [Walch]).

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Hohenkirchen 1729 der Theologiestudent Georg Grosch (1698–1771)119, bis 1732 Spangenberg120, ab 1736 ein Theologiestudent Bahnmayer121 und weitere, nicht näher identifizierbare Gönner122 verbunden blieben. Neben Winckler trat in Jena Brumhard für das Institut ein, der unter den dortigen Pietisten geschätzt wurde.123 Auch dessen Frau und ein Familienangehöriger, der als Student in Jena weilte, waren dem Institut verbunden.124 Ein jüdischer Konvertit Augustus empfing 1739 in Jena Traktate zum Verteilen.125 Winckler wurde durch Callenbergs Vorbild angeregt, auch in Jena Lehrveranstaltungen über die theologische Argumentation gegenüber den Juden und jiddische Sprachkurse anzubieten.126 Zu seinen Studenten zählte Samuel Lieberkühn (1710–1777)127, den Callenberg mehrfach vergeblich als Reisemitarbeiter warb.128 Spätere Einträge in Callenbergs Versandliste von Missionstraktaten belegen, dass Callenberg mit Lieberkühn dennoch in Kontakt geblieben war. Als dieser 1739 als Herrnhuter Judenmissionar nach Amsterdam ging, hatte er mehrere hundert Exemplare von J. Müllers Licht am Abend im Gepäck und bestellte auch weiterhin verschiedentlich Literatur zum Verteilen bei Callenberg. Nördlich von Jena bildete sich in Camburg ein Freundeskreis des Instituts von sieben Personen, die sich um den 1729 zum fürstlichen Rat ernannten Amtmann Heinrich Ernst Haumann (1687–1762) scharten, dessen Bruder Christian mit Callenberg das Gymnasium in Gotha besucht hatte.129 Für das benachbarte Dornburg wird eine Spenderin Fritsch erwähnt.130

119 Vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 33: 25, 189 u. K 36: 344). Zu Grosch s. o. Anm. 92. 120 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 36). 121 Vgl. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 25). In den Matrikeln der Universität Jena ist in diesen Jahren kein Student Bahnmayer nachgewiesen. 122 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 130 [Wagner aus Ulm] u. 216 [Heimburg]) und FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 25 [Holländer]). 123 Vgl. J. C. Silber an J. J. T. Leichner, Erfurt, 24.2.1729 (AFSt/H A 78b: 355) und oben Anm. 35. 124 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 35 [Brumhardt], 278 [Fr. Brumhardt] u. 130 [Student Brumhardt]). 125 Vgl. Verzeichnis der versandten Traktate (AFSt/H K 35: [97]). 126 Vgl. J. A. Manitius an J. H. Callenberg, Jena, 7.12. u. 8.12.1731 (AFSt/H K 8: 177r, 178r, 179) u. J. P. S. Winckler an J. H. Callenberg, Jena, 7.3.1732 (AFSt/H K 9: 262r). 127 Im Oktober 1731 bat Callenberg Winckler, Lieberkühn als Reisemitarbeiter für das Institut zu werben. Eine diesbezügliche Antwort ließ sich nicht verifizieren. Vgl. J. P. S. Winckler an J. H. Callenberg, Jena, 1.11.1731 (AFSt/H K 8: 71); J. A. Manitius an J. H. Callenberg, Jena, 7.12.1731 (AFSt/H K 8: 177v–178r). 128 Dieselbe ablehnende Antwort gab Lieberkühn auch ein halbes Jahr später, als Callenberg wiederum bei ihm wegen eines Reisedienstes anfragte (vgl. J. H. Callenberg an J. P. S. Winckler, Halle, 11.3.1732 [AFSt/H K 9: 278r]). 129 Zu H. E. Haumann vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 226 u. K 33: 29). Zum dortigen Freundeskreis zählte Callenberg die Herren Melle, Wintz, Würth, einen Herrn Schmidt in Stein und die Frauen Schlumpf und Zinzendorf (vgl. AFSt/H K 33: 29). 130 Zu Frau Fritschin vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 312).

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7. DER SPENDERKREIS IN DEN REUSSISCHEN GRAFSCHAFTEN IM VOGTLAND131 Durch die Verbindungen der reußischen Grafschaften mit den Glauchaer Anstalten bildeten sich auch hier rasch Förderkreise der Halleschen Judenmission. Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz (1681–1748) spendete für Callenbergs Institut, nachdem dieses 1731 am Köstritzer und Ebersdorfer Hof bekannt gemacht worden war. Die Kontakte zu diesen Höfen hatten der Köstritzer Hofprediger [Peter] Christoph Martini (1661–1732), der gelegentlich Spenden übersandte, und Albrecht Bogislaus von Bonin, Hofmeister in Ebersdorf und ehemaliger Erzieher von Heinrich XXIV., vermittelt. Von Bonin hielt die Beziehung des Instituts zum Ebersdorfer Hof und insbesondere zur Gräfin Erdmuthe Benigna von Reuß (1670–1732) aufrecht.132 Für Köstritz sind zwei weitere Spender belegt.133 In der Grafschaft Reuß-Greiz wirkte ab 1729 Paul Christian Hoffmann (1693– 1777), ehemaliger Student in Halle und Sympathisant der Indienmission, als engagierter Agitator für Callenberg, zunächst in Zeulenroda und ab 1729 in Naitschau bei Greiz.134 Hoffmanns Angebot, im Vogtland Korrespondenten für das Institut zu vermitteln, nahm Callenberg 1729 dankbar an und übersandte zahlreiche Traktate und ein Dutzend Institutsberichte mit der Bitte, diese in den Grafschaften von Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz und Graf Erdmann Heinrich von Henckel (1681–1752) in Pölzig zu verteilen. Letzterer, der bereits ein Förderer des Halleschen Pietismus, auch auf seinen schlesischen Gütern, war, konnte als Gönner der Judenmission gewonnen werden. Vor allem die Gräfin Charlotte Maria Albertina, geb. Gräfin von 131 Das Haus Reuß teilte sich in Reuß-Greiz und Reuß-Gera, wobei wiederum Reuß-Greiz zwei Linien (Ober-, Untergreiz) besaß und Reuß-Gera vier Linien (Reuß-Köstritz, Reuß-Schleiz, Reuß-Gera, Reuß-Lobenstein, von letzteren spaltete sich zusätzlich Reuß-Ebersdorf ab). 132 Vgl. C. Martini an J. H. Callenberg, Köstritz, 31.5.1731 (AFSt/H K 6: 334) mit Übergabebescheinigung von Geld und Post durch L. J. Cellarius an J. H. Callenberg, Halle, 31.5.1731 (aaO, 335r) u. C. Martini an J. H. Callenberg, Köstritz, 20.5.1732 (AFSt/H K 10: 139r). Zur Vermittlertätigkeit von v. Bonin vgl. A. B. v. Bonin an J. H. Callenberg, o. J. [präsent. 15.1.1732] (AFSt/H K 9: 33 f.) und Versandlisten von Institutsliteratur, 29.9.1734 u. 16.4.1736 (AFSt/ H K 19: 69–70r u. K 25: 149). Zur Unterstützung durch Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz vgl. Johann Caspar Wagner an J. H. Callenberg, Köstritz, 30.12.1734 (AFSt/H K 20: 103v); FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 23 u. K 33: 36) sowie Liste von Traktatverteilern (AFSt/H K 35: [96]); zu weiteren Unterstützern vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 20 [Martini], 129 [Rat Bonin] u. 128 [verwitwete Gräfin]). Zu Martini vgl. Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 4: Die reußischen Herrschaften. Leipzig 2004, 205. 133 Vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36, Anhang der Verteiler [ein Bediensteter des Hofes] u. K 33: 36 [ein Herr Lentz]). 134 Hoffmann fungierte als Unterstützer und theologischer Inspirator für Callenbergs Unternehmungen; er verteilte die Berichte des Instituts, gewann neue Gönner und übersandte deren Spenden (vgl. die zur Fortsetzung der Mission ermunternden und vielfach die Judenbekehrung theologisch reflektierenden Briefe P. C. Hoffmanns an J. H. Callenberg aus Naitschau vom 22.6.1729 [AFSt/H K 3: 95 f.], 26.9.1729 [aaO, 300], 11.9.1731 [AFSt/H K 7: 278 f.], 27.1.1733 [AFSt/H K 14: 73r], 2.6.1733 [AFSt/H K 15: 55 f.], 4.11.1733 [AFSt/H K 16: 87–88r], 5.5.1734 [AFSt/H K 18: 18], 31.5.1734 [aaO, 56r], 20.9.1734 [AFSt/H K 19: 37–38r] u. 23.2.1735 [AFSt/H K 21: 139r]). Zu P. C. Hoffmanns Verbindungen nach Halle in seiner Erfurter Zeit vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 119, Anm. 84.

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Leiningen-Dachsburg (1704–1783) zeigte Interesse an den jiddischen Traktaten.135 Ebenso erfolgreich war die Vermittlung des Kontaktes zu Pastor Ernst Günther Rein (1679–1743) im benachbarten Fröbersgrün136, der sich bereits seit der Jahrhundertwende intensiv für die Judenbekehrung interessierte.137 In Naitschau selbst fand sich nur ein Spender.138 Hoffmann, der bereits eigene judenmissionarische Erfahrungen in Frankfurt/Main gemacht hatte, informierte Callenberg über durchreisende Konvertiten und nutzte das Institut in Halle als Informationsquelle zu Fragen des Judentums.139 Über Hoffmann gelang 1729 zudem eine Kontaktaufnahme in die vormundschaftlich von Köstritz verwaltete Grafschaft Reuß-Obergreiz, wo ein Förderkreis von zwölf Personen entstand.140 Zu diesem gehörte der Greizer Pfarrer Johann Benjamin Osswald (1696–1769).141 Zur wichtigsten Kontaktperson Callenbergs in dieser Grafschaft wurde ab 1731 jedoch Osswalds Greizer Kollege Johann Conrad Jahn (1672–1747).142 Dieser reichte die Institutsnachrichten an den jungen Grafen 135 Zur Familie von Henckel in Pölzig vgl. aaO, 69, Anm. 118 u. 353. Zu Hoffmann vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 25) und Anhang der Verteilschriften u. Verteiler im FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 33) sowie Liste der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [98]). Zu Graf Erdmann Heinrich von Henckel in Pölzig vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 14 u. K 33: 23, 322); zur Gräfin AFSt/H K 36, Anhang der Traktatempfänger, und Verzeichnis der Traktatempfänger (AFSt/H K 35: [43]). 136 Vgl. Briefe P. C. Hoffmanns an J. H. Callenberg aus Naitschau vom 2.6. u. 4.11.1733 (AFSt/H K 15: 55r u. K 16: 87v). Rein besuchte das Gothaer Gymnasium und studierte in Jena und Halle Theologie; von 1717 bis 1743 war er Pfarrer in Fröbersgrün (vgl. Matrikel Halle-Wittenberg 1 [s. Anm. 44], 350; Max Schneider: Die Abiturienten des Gymnasiums Illustre zu Gotha [1695– 1725]. Ein biographisch-bibliographischer Beitrag zur Geschichte des Gymnasiums. Gotha 1913, 240). 137 Vgl. E. G. Rein an P. C. Hoffmann, Fröbersgrün, 2.9.1729 (AFSt/H K 3: 280–282r); vgl. auch FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 124). 138 Ein Herr Jagow (vgl. aaO, 33). 139 So erbat er z. B. nähere Auskünfte über durchreisende Proselyten und den christlichen Ritualmordvorwurf (vgl. P. C. Hoffmann an J. H. Callenberg, Naitschau, 11.9.1731 [AFSt/H K 7, 279]; J. H. Callenberg an P. C. Hoffmann, Halle, o. J. [Dez. 1731] [AFSt/H K 8: 262r] u. 14.10.1733 [AFSt/H K 16: 34]). Unabhängig vom Institutsengagement diente Hoffmann der Callenbergkontakt als Verbindung nach Halle, um z. B. Studenten als Informatoren im Waisenhaus unterbringen zu lassen (vgl. P. C. Hoffmann an J. H. Callenberg, Naitschau, 29.4.1732 [AFSt/H K 10: 89]; ders. an J. H. Callenberg, Naitschau, 6.5.1732 [aaO, 104r]). 140 U. a. die namentlich erwähnten Herren Dölle, Göbler und Stützung (vgl. FKVerz ab 1736 [AFSt/H K 33: 11]). 141 Osswald studierte ab 1717 in Jena, 1720 war er als Informator bei Helmershausen (vgl. zu ihm oben Anm. 43) in Weimar tätig, bevor er 1726 Diakon in Greiz und Pastor in Caselwitz und 1736 Archidiakon und Konsistorialassessor in Greiz wurde. Später gründete er ein Waisenhaus und wurde 1761 als Superintendent auch Waisenhausdirektor (vgl. Adelung u. Rotermund, Gelehrten-Lexicon [s. Anm. 35] 5, 1816, 1245). Osswald zeigte sich nach Kenntnisnahme erfreut über die Bemühungen des Instituts, spendete sogleich und trat selbst mit Callenberg in Kontakt (vgl. J. B. Osswald an J. H. Callenberg, Greiz, 17.7.1729 [AFSt/H K 3: 218–219r]; J. H. Callenberg an J. B. Osswald, Halle, 28.8.1729 [aaO, 271] sowie FKVerz bis und ab 1736 [AFSt/H K 36: 22 u. K 33: 11]). 142 Auch Hoffmann selbst erhielt verschiedentlich Berichte über Jahn (vgl. P. C. Hoffmann an J. H. Callenberg, Naitschau, 27.1.1733 [AFSt/H K 14: 73r]). Der aus Zwickau gebürtige Jahn

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Heinrich XI. von Reuß-Obergreiz weiter143 und übermittelte zwei Greizer Institutsfreunden Traktate zur Austeilung an mährische und andere Juden.144 Jahn fungierte auch als Kontaktperson zum Reichenbacher Prediger Johann Balthasar Olischer (1685–1751).145 In Lobenstein erfuhr das Institut Unterstützung durch den Superintendenten Gottfried Valentin Orlich (1689–1766).146 Ebenfalls durch Hoffmann wurden die Unternehmungen Callenbergs 1731 in der Grafschaft Reuß-Schleiz bei der verwitweten Gemahlin von Heinrich XI. (1669–1726), Auguste Dorothea geb. von Hohenlohe-Langenburg (1678–1740) bekannt. Daraufhin ließ sie sich von ihrem Schleizer Archidiakon Heinrich Gottfried Lindner (1703–1772) aus den Berichten Callenbergs vorlesen. Erfreut darüber, dass mit Callenbergs Institut in der evangelischen Kirche die Sorge für das Heil von Juden und Heiden übernommen werde, spendete sie, verbreitete jiddische Traktate und machte die Arbeit des Institutum Judaicum u. a. in Franken und Württemberg bekannt.147 An der Traktatverteilung beteiligten sich auch Rektor Haynisch und die junge Gräfin Christina, geb. von Erbach-Schönberg (1721–1769).148 Vorübergehend unterstützte auch der Schleizer Superintendent und Hofprediger

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studierte ab 1712 in Halle und Wittenberg Theologie und war ab 1728 in Dresden und anschließend als Pfarrer in Greiz tätig (vgl. Matrikel Halle-Wittenberg 1 [s. Anm. 44], 244; Thüringer Pfarrerbuch 4 [s. Anm. 132], 170). Heinrich XI. von Reuß-Obergreiz stand unter der vormundschaftlichen Regierung von Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz und Erdmann Henckel von Pölzig und hielt sich am Köstritzer Hof auf (vgl. FKVerz bis 1736 [AFSt/H K 36: 16] u. Liste der Traktatverteiler [AFSt/H K 35: [3]). Vgl. J. C. Jahn an J. H. Callenberg, Greiz, 2.1.1735 (AFSt/H K 21: 5r) und die fortlaufenden Belege der Berichtszusendung an den Grafen in den FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 41 u. K 33: 11). Die Übersendung von Spenden des Grafen an Callenberg wickelte dagegen der gräfliche Informator Johann Caspar Wagner ab (vgl. J. C. Wagner an J. H. Callenberg, Köstritz, 30.12.1734 [AFSt/H K 20: 103]). Zu den Greizer Institutsfreunden Oehler und Kaufmann Müller vgl. J. C. Jahns Briefe an J. H. Callenberg aus Greiz vom 12.3.1731, 8.11.1731 u. 1.9.1732 (AFSt/H K 6: 116, K 8: 84r u. K 12: 2r) sowie FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 25 u. K 33: 11). Zu einem Archidiakon Müller vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 124); zu dortigen Verbindungen nach HessenKassel und einem Herrn Lange in Idstein vgl. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 11). Vgl. J. C. Jahn an J. H. Callenberg, Greiz, 8.6.1736 (AFSt/H K 25: 259r) u. J. B. Olischer an J. H. Callenberg, Reichenbach, 4.6.1736 (AFSt/H K 21: 249r). Olischer förderte die Einrichtung Callenbergs, da er in ihr ein göttliches Werk sah und ermahnte Callenberg zur Fortsetzung seiner Bemühungen (vgl. die Briefe J. B. Olischers an J. H. Callenberg aus Reichenbach vom 12.5.1733 und 4.6.1736 (AFSt/H K 15: 28–29r u. K 25: 249). Er hatte in Leipzig Theologie studiert und war ab 1721 Pfarrer in Reichenbach (vgl. Reinhold Grünberg: Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und Pfarrer der evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsen 1539– 1939. Bd. 1. Freiberg 1939/40, 156). Vgl. FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 121 u. K 33: 11). Lindner war nach dem Studium in Halle und Jena ab 1728 Archidiakon in Schleiz und ab 1735 Pfarrer in Tanna (vgl. Jöcher u. Adelung [s. Anm. 35] 3, 1810, 1884). Vgl. zu ihm und dem Schleizer Freundeskreis Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 355. Zur Spendensammlung und Werbung der Gräfin für das Institut während einer Reise durch das Reich vgl. H. G. Lindner an J. H. Callenberg, Schleiz, 17.6.1733 (AFSt/H K 15: 93v–94r). Zu Lindner und der Gräfin vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 107, 149 u. 165 und Verzeichnis der Traktatverteiler im Anhang sowie K 35: [23]). Vgl. Verzeichnis der verteilten Traktate ebd.

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Johann Martin Alberti (1685–1762) das Institut.149 Ab 1734 traf sich die Gräfin mit Lindner und Alberti wöchentlich, um für das Institut und die Judenbekehrung zu beten.150 Als Lindner 1736 in die Pfarrstelle nach Tanna bei Schleiz wechselte, machte er das Institut in seiner neuen Gemeinde bekannt und teilte Callenberg mit, dass die Lektüre der Institutsberichte bei einzelnen Gemeindegliedern Hoffnung auf eine Judenbekehrung geweckt hätte und zugleich dazu geführt habe, dass man die Anwendung von Zwang und Unterdrückung als Mittel zur Bekehrung der Juden verworfen habe.151 In Reuß-Gera unterstützte eine Frau Panckewitz das Institut und die Hofprediger Abraham Achatius Hager (1675–1739) und ab 1734 Magister Christian Friedrich Fischer (1698–1751) erhielten die Traktate zugesandt.152 8. SPENDER IN DEN NORDTHÜRINGISCHEN REICHSSTÄDTEN MÜHLHAUSEN UND NORDHAUSEN Im Gegensatz zu den meisten thüringischen Kleinstaaten war Juden zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Ansiedlung in den Reichsstädten erlaubt, so dass es in Mühlhausen und Nordhausen jüdische Gemeinden gab. Der Mühlhäuser Pfarrer Johann Ernst Vockerodt († 1761) knüpfte Beziehungen zum Institutum Judaicum und ließ sich jiddische Traktate übersenden, um sie unter den dortigen Juden zu verteilen.153 Mit einem gelehrten Juden traf er sich zu gemeinschaftlicher Lektüre der Traktate und anschließendem Gespräch über deren Inhalt. Er nutzte die Institutstraktate auch, um einen zum Tode verurteilten Juden im Gefängnis zu betreuen und unterstützte das Institut finanziell.154 Aus seiner Gemeinde interessierte sich auch noch eine Frau Meckbachin für die Arbeit des Instituts.155 Im benachbarten Altengottern, der Residenz des Freiherrn Friedrich August von Marschall († 1758), ließ sich Pfar149 Vgl. die Briefe H. G. Lindners an J. H. Callenberg aus Schleiz vom 28.6.1732 u. 17.6.1733 (AFSt/H K 10: 253v u. K 15: 93v) sowie FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 292). 150 Vgl. H. G. Lindner an J. H. Callenberg, Schleiz, o. J. [präsent. 16.6.1734] (AFST/H K 18: 75v– 76r). 151 Hierzu vgl. Rymatzki, Hallischer Pietismus [s. Anm. 14], 355 u. 429, Anm. 160. 152 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 277 [Panckewitz] u. Verzeichnis der Traktatverteiler im Anhang [Hofprediger]). Zu Hager vgl. Thüringer Pfarrerbuch 4 [s. Anm. 132], 144; zu Fischer aaO, 116. 153 Vockerodt hatte in Jena Theologie studiert, wurde 1711 Adjunkt und 1715 Pfarrer in Bollstedt bei Mühlhausen, 1729 Diakon an der Marienkirche und 1733 Diakon an der Divi Blasii-Kirche in Mühlhausen (vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 9: Tr–Z. Leipzig 2009, 120). Zu seinem Interesse an jiddischen Missionsschriften vgl. Verzeichnis der Traktatempfänger (AFSt(H K 35: [5]). 154 Vgl. Notizen Callenbergs zur Übersendung von Traktaten an J. E. Vockerodt zur Austeilung an Juden in Mühlhausen vom Jan. 1731 (AFSt/H K 6: 2) und Briefe J. E. Vockerodts an J. H. Callenberg aus Mühlhausen vom 13.4.1733 (AFSt/H K 14: 247–248r), 1.6.1733 (AFSt/ H K 15: 49r), 8.3.1734 (AFSt/H K 17: 175–176r), 2.4.1734 (AFSt/H K 17: 214r), 9.4.1736 (AFSt/H K 25: 133–134r) u. 19.10.1736 (AFSt/H K 26: 245r) sowie FKVerz bis und ab 1736 (AFSt/H K 36: 134 mit Anhang der Traktatverteiler u. AFSt/H K 33: 72) und Verzeichnis der Traktatempfänger (AFSt/H K 35: [27]). 155 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 160).

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rer Johann Bernhard Reiß (1675–1741)156 die Missionstraktate des Instituts über Vockerodt zur Verteilung zusenden. In der Reichsstadt Nordhausen bildete sich ein Förderkreis von sechs Personen. Zu ihnen zählte der Pfarrer an der Nikolaikirche Johann Balthasar Reinhard (1673– 1741).157 Außerdem wurde das Institut durch einen Aktuar Christian Strähler unterstützt, der durch eine Reise nach Halle von der Tätigkeit des Instituts erfahren hatte. Er führte Gespräche mit Juden und übersandte zahlreiche Spenden.158 Im pietistischen Sinne orientierte er darauf, die Juden zu einem „wahren Christenthum“ zu führen159, und bediente sich dabei mathematischer, naturphilosophischer und astronomischer Erklärungsversuche der Trinität, kabbalistischer Zahlenmystik und der Konstruktion eines Perpetuum mobile, das in Beziehung zur bevorstehenden allgemeinen Bekehrung der Juden und Türken stehen sollte.160 Unter den weiteren Beziehern der Institutsnachrichten in Nordhausen fanden sich auch Interessenten und Verteiler der jiddischen Traktate.161 9. SPENDER IN DER GRAFSCHAFT HOHENSTEIN UND IM FÜRSTENTUM SCHWARZBURG-SONDERSHAUSEN In der benachbarten Hohensteinischen Grafschaft zeigte der Superintendent Otto Christian Damius (1654–1728) in Ellrich Interesse für das Institut und dessen jiddische Publikationen. Damius, der durch eine Gesangbuchedition 1707 einen pietistischen Streit ausgelöst hatte und teils vom Dienst suspendiert worden war, verstarb aber bereits im Jahr der Institutsgründung.162 Er war auf das Institut durch seinen Adjunkt, Christian Schüßler, aufmerksam geworden, dessen Vater, Otto Wilhelm Schüßler (1670–1751), Pfarrer und später Superintendent im benachbarten Bleicherode war, in Halle studiert hatte und von 1693 bis 1697 Assistent bei August

156 Reiß war von 1721 bis zu seinem Tod Pfarrer in Altengottern, sein Sohn Christian Jacob kam 1744 in das Waisenhaus und die Lateinschule der Glauchaer Anstalten nach Halle (vgl. Verzeichnis der Traktatempfänger [AFSt/H K 35: 27, 28 u. 42]). 157 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 45). 158 Vgl. Briefe C. Strählers an J. H. Callenberg aus Nordhausen vom 10.4.1731 (AFSt/H K 6: 195r), 30.5.1732 (AFSt/H K 10: 159r, 161r), 22.9.1732 (AFSt/H K 12: 88v) u. 28.12.1733 (AFSt/H K 16: 197v u. 199). 159 C. Strähler an J. H. Callenberg, Nordhausen, 30.6.1732 (AFSt/H K 10: 159v). 160 Zu seinen naturphilosophischen Betrachtungen vgl. die Briefe C. Strählers an J. H. Callenberg aus Nordhausen vom 19.6. u. 18.8.1732 (AFSt/H K 11: 8–19, 23r u. 146), 28.12.1733 (AFSt/ H K 16: 197–202) u. 19.7.1734 (AFSt/H K 18: 134). Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 55 u. 272) und Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [10]). 161 Zu den Institutsfreunden Engel und Petersen vgl. FKVerz ab 1736 (AFSt/H K 33: 70); zu Stange und dem Studenten Suhl, die auch Traktate empfingen, FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 208 u. 210) und Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [10]). 162 Vgl. zu Damius FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 241) und Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [44]) sowie Peter Schicketanz: Der Pietismus als Frage an die Gegenwart. Berlin 1967, 936.

Der Freundeskreis des Institutum Judaicum und der Hallenser Judenmission

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Hermann Francke gewesen war.163 Zum Bleicheröder Freundeskreis zählte zudem Diakon Johann Christian Daniel Müller († 1742), der sich bei der Traktatverteilung engagierte.164 Im Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen bezog neben dem Rudolstädter Waisenhausinformator Kirsten165 der Rat der Stadt Sondershausen die Institutsnachrichten und ein dortiger Färber namens Schwäger verteilte Traktate an Juden.166 In Straußfurt, im benachbarten Herzogtum Weißenfels gelegen, interessierte sich ein Schulmeister Löwe insbesondere für die Traktate.167 10. FAZIT Es lässt sich resümieren, dass das Hallesche Institutum Judaicum in Thüringischen Städten und Territorien ein breites Netzwerk an Sympathisanten und Förderern besaß. Als Zentren sind dabei Städte wie Erfurt, Gotha und Jena, aber auch Nordhausen auszumachen. Freunde der pietistischen Judenmission fanden sich aber auch auf dem Land, mit Schwerpunkten in den reußischen Grafschaften und im Herzogtum Sachsen-Gotha sowie in Sachsen-Saalfeld. Quantitativ ergibt die Auswertung der Verzeichnisse von Spendern sowie Empfängern der Institutsnachrichten, dass es in Thüringen zwischen 1728 und 1742 mindestens 172 Sympathisanten und Förderer des Institutum Judaicum gab, von denen dem Institut ca. 80 dauerhaft verbunden blieben.

163 Vgl. zu Schüßler FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 185) u. Matrikel Halle-Wittenberg 1 [s. Anm. 44], 410. 164 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 232) und Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [44]). Zu Müller vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen 10 [s. Anm. 22], 204. 165 Vgl. zu ihm oben, S. 279 u. Anm. 108. 166 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 212 [Rat von Sondershausen] u. 304 [Färber Schwäger]) sowie Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [57]). 167 Vgl. FKVerz bis 1736 (AFSt/H K 36: 346) und Verzeichnis der Traktatverteiler (AFSt/H K 35: [63]).

DIE BRÜDERGEMEINE IN DEN ERNESTINISCHEN TERRITORIEN UND ERFURT Rüdiger Kröger Die Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine in Thüringen ist bislang nur punktuell erforscht worden. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die bisherigen Arbeiten zur Brüdergemeine im Thüringer Raum liefern. Gleichzeitig will er aufmerksam machen auf die wenig beachteten Quellenbestände zum Thema im Unitätsarchiv Herrnhut. Am Beispiel der dort liegenden Quellen über Erfurt werden ausgewählte Quellengruppen und ihr Potenzial für künftige Forschungen vorgestellt. 1. HERRNHUTER IN JENA UND GOTHA Erstmals durchreiste Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) 1719 auf seiner Kavalierstour das Thüringer Land.1 Hierbei stand jedoch nicht die Kontaktpflege mit frommen Kreisen auf dem Programm, sondern die mit den Höfen. Enge Beziehungen zu Thüringen bestanden durch die Freundschaft und Verschwägerung mit dem Hause Reuß-Ebersdorf,2 doch davon soll hier nicht die Rede sein. Ab 1722 entstand auf Zinzendorfs Gut Berthelsdorf in der Oberlausitz eine Ansiedlung von Exulanten, zunächst aus den durch die Gegenreformation bedrückten Gebieten Mähren und Böhmen, zu denen sich alsbald Erweckte aus vielen Territorien des Alten Reichs und des nördlichen Europas gesellten. Ab 1727 nahm sich Zinzendorf in besonderer Weise dieser Siedlung an. Aus einer Gemeinschaft von Christen unterschiedlicher regionaler und sozialer Herkunft entwickelte sich bis ins 20. Jahrhundert die (erneuerte) Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine als eine evangelische Freikirche. Sie wirkte wiederum nach außen – mit dem Ziel, Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu suchen und zu pflegen. Dies geschah sowohl durch persönliche Besuchsreisen als auch durch Korrespondenzen.3 Einer der ersten Außenkontakte der Brüdergemeine kam bereits 1727 mit Johann Franz Buddeus (1667–1729) in Jena zustande, dessen Ausgabe von Johann 1 2

3

Zinzendorf besuchte Naumburg, Erfurt, Gotha und Eisenach (vgl. Attici Wallfarth in Teütschland, durch diese Welt [UA R.20.A.6]; s. auch die Transkription von Richard Träger [UA NTR, o. Nr.]. Wilhelm Jannasch: Erdmuthe Dorothea Gräfin Zinzendorf, geb. Gräfin Reuss zu Plauen. Ihr Leben als Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der Brüdergemeinde dargestellt. Herrnhut 1915 [= ZBG 8, 1914], mit zahlreichen Quellenauszügen aus dem wenige Jahre später verbrannten Schleizer Archiv. Rüdiger Kröger [u. a.]: Das Unitätsarchiv. Aus der Geschichte von Archiv, Bibliothek und Beständen. Herrnhut 2014, 10 f., 112 f. mit der dort angegebenen Literatur.

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Amos Comenius’ (1592–1670) Historia Fratrvm Bohemorvm (Halle 1702) eine der Grundlagen für die herrnhutische Identitätsbildung geworden war. Die Verbindung blieb anscheinend ohne Nachwirkung. 1728 und 1729 besuchte Zinzendorf selbst Jena und fand unter Studenten und Dozenten freundliche Aufnahme.4 Über 100 Studenten verschiedener Fächer traten in engen Kontakt mit Herrnhut. Diese Beziehung bestand – mit einigem allein schon aufgrund der natürlichen Fluktuation innerhalb des Kreises bedingten Wandel – über etwa 15 Jahre. Bisher hat sich niemand der Mühe unterzogen, die in diesem Zusammenhang in den Quellen genannten Namen zusammenzustellen und auszuwerten. Zu einem erheblichen Teil sind die Personen später innerhalb der Brüdergemeine wiederzufinden. Zusätzlich gewähren die inzwischen ediert vorliegenden Tagebücher5 und ein als Freundschaftsalbum genutztes Erbauungsbüchlein6 von Zinzendorfs Neffen Karl Graf von Zinzendorf (1739–1813) Einblick in das der Brüdergemeine nahestehende studentische Milieu in Jena in der Mitte der 1750er Jahre. Die Verbindung zu Jenaer Studenten und deren Umfeld steht im Zentrum der 1922 von Edelgard Franck vorgelegten Dissertation Pietismus in Jena.7 Die Darstellung kontextualisiert die im Unitätsarchiv überlieferte Korrespondenz mit Jenaer Aktenfunden sowie in Jena erschienenen zeitgenössischen Publikationen. Die Kontakte der Jenaer Herrnhuter zu nicht-akademischen Kreisen, beispielsweise über die von ihnen vor den Toren der Stadt gehaltenen Freischulen, sind im Zusammenhang mit der Herrnhuter Diaspora-Arbeit thematisiert worden.8 Das für die Jahre 1728 bis 1730 im Unitätsarchiv erhaltene umfangreiche Diarium über die Aktivitäten und Vorkommnisse in dem mit Herrnhut sympathisierenden Studentenkreis9 blieb bislang unberücksichtigt. Es bietet Potenzial für weitergehende Forschungen zu den Herrnhutern in Jena. Angestoßen durch persönliche Begegnungen mit Zinzendorf und anderen Herrnhuter Reisenden ergaben sich auch andernorts in Thüringen Kontakte zur Brüdergemeine, wie z. B. ab 1737 in Gotha.10 Hier setzte sich der Kreis der Erweckten ganz anders zusammen als in Jena. So gab es etliche Personen unterschiedlichen Standes, die in enger Beziehung zum Hof standen. Die erste Versammlung für Frauen fand im Hause des Bürgermeisters Heinrich Sigismund Waitz (1671– 1743) statt und beauftragte die gerade zwanzigjährige Gattin des Bildhauers Johann 4 5 6 7 8 9 10

Siehe zu Jena zuletzt Gerald Theodore MacDonald: Johann Georg Walchs Darstellung des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine. Herrnhut 2016 (UF Beiheft, 25), hier vor allem 69 f. Karl Graf von Zinzendorf: Aus den Jugendtagebüchern 1747, 1752 bis 1763. Nach Vorarbeiten von Hans Wagner. Hg. v. Maria Breunlich u. Marieluise Mader. Wien [u. a.] 1997. Herrn W. Ludwigs Grafen Henckels Schatz-Kästlein, Bestehend In auserlesenen Göttlichen Verheissungen […] beygefügten Reimen. Halle, Leipzig 1743 (UA T 140 / 29). Edelgard Franck: Der Pietismus in Jena mit Benutzung ungedruckter Quellen aus dem Archiv der Brüdergemeine in Herrnhut. Diss. theol. [masch.]. Jena 1922 (UA NB.I.R.3.226 Fol). Zur Herrnhuter Diaspora-Arbeit vgl. O[tto] Steinecke: Die Diaspora der Brüdergemeine in Deutschland. Ein Beitrag zu der Geschichte der evangelischen Kirche Deutschlands. 3 Bde. Halle/Saale 1905–1911; zu Thüringen speziell Bd. 2. Halle 1905, 130–137. UA R.19.B.g.2.7. Vgl. hierzu Fr[iedrich] Geller: Gemeinschaftspflege in Gotha. Aus den Tagen Zinzendorfs 1736–1755. Neudietendorf 1914.

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Michael Grünbeck († 1742), Magdalena Augusta, geb. Naverowsky (1717–1796), ein Patenkind der Herzogin und am Hofe aufgewachsen, mit der Leitung der Gothaer Herrnhuterinnen und der Seelsorge unter den Frauen.11 Ihre zahlreichen in diesem Zusammenhang bis 1741 nach Herrnhut geschriebenen Briefe harren einer Auswertung.12 Nach dem offenen Bruch zwischen Herrnhut und Halle Ende der 1730er Jahre schlossen sich die verschiedenen Herrnhuter Gruppen in Jena und Gotha fester zusammen.13 Zugleich wurden Einrichtungen, Ämter und Ordnungen eingeführt, wie sie sich inzwischen in Herrnhut herausgebildet hatten, so dass sich aus den Herrnhuter Kreisen in Jena und Gotha 1738/39 reguläre Brüdergemeinen entwickelten, die auch von außerhalb der Städte wohnenden Sympathisanten besucht wurden. Neben internen Auseinandersetzungen über unterschiedliche ‚Lehrmeinungen‘ und die Akzeptanz einer Einmischung durch die Herrnhuter Brüdergemeine spielten in den Thüringer herrnhutischen Gemeinden auch äußere Konflikte eine Rolle: Immer wieder wurden die Leiter vor die Geistlichkeit oder den Rat der jeweiligen Städte zitiert, wo sie über die ungern gesehenen Privatversammlungen bzw. Konventikel und die Verbindungen zu Zinzendorf und Herrnhut befragt wurden. Größere Zusammenkünfte und die Verbindungen mit Herrnhut wurden in beiden Städten untersagt. Um die Verbote und Strafandrohungen scherte man sich jedoch wenig – wohl weil man sich unter Rekurs auf die Bibel verpflichtet sah, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (Apg 5,29), und vermutlich auch, weil man einzelne einflussreiche Fürsprecher hatte, die reale Zwangsmaßnahmen verhindern oder zumindest aufschieben konnten. Der bedeutendste Gegner der Herrnhuter in Gotha war Ernst Salomon Cyprian (1673–1745).14 Inwieweit Cyprian auch auf die Entwicklungen in Jena eingewirkt hat, wäre noch zu untersuchen. Auf Cyprians Einfluss könnte schon die Tatsache hindeuten, dass die Einschreibung von Zinzendorfs Sohn Christian Renatus (1727– 1752), den der Graf von 1737 bis 1739 in Jena von Studenten hatte unterrichten lassen (die sogenannte „Christelsökonomie“), an der Jenaer Universität scheiterte.15 Die Frage nach Cyprians Einfluss ist aber vor allem im Blick auf die langfristig 11

12 13 14

15

Zu M. A. Grünbeck, die seit ihrer zweiten Ehe mit dem getauften Juden Benjamin David Kirchhoff (1716–1789) auch Esther genannt wurde, vgl. Christiane Dithmar: Zinzendorfs nonkonformistische Haltung zum Judentum. Heidelberg 2000 (Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, 1). Vgl. UA R.19.B.g.6.a.24–81.c. Vgl. hierzu und zum Folgenden Steinecke, Diaspora [s. Anm. 8], 130–137. Vgl. hierzu Dietrich Meyer: Cyprians Abwehr einer Herrnhuter Siedlung im Fürstentum Gotha. In: Ernst Salomon Cyprian zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Vorträge des Internationalen Kolloquiums vom 14.–16. September 1995 in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha Schloß Friedensstein. Hg. v. Ernst Koch u. Johannes Wallmann. Gotha 1996 (Veröffentlichungen der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha, 34), 136–166; s. auch C[arl] F[riedrich] von Strenge: Die Herrnhuter-Colonie Neudietendorf. In: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung, 1904, 45–88, hier: 69–88 (Anhang mit Briefen Cyprians und Zinzendorfs aus den Jahren 1742–1747, die sich auf die Gemeine in Neudietendorf beziehen). O[tto] Uttendörfer: Zinzendorf und die Entwicklung des theologischen Seminars der Brüderunität. I. Teil. Vorstufen des Seminars der Brüderunität bis 1739. In: ZBG 10, 1916, 32–88.

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wirksame Verunglimpfung der „Christelsökonomie“ und das 1742 erlassene Verbot der öffentlichen Versammlungen sowie die 1746 erfolgte gänzliche Einstellung der Privatversammlungen in Jena von Belang. In Gotha erging ein analoges Verbot 1743, bis 1747 gerieten die Herrnhuter Versammlungen hier durch den Wegzug leitender Personen ins Stocken. 2. HERRNHUTER IM KURMAINZISCHEN ERFURT Die unmittelbare Nachbarschaft des ernestinischen Thüringen zum kurmainzischen Erfurt implizierte auch im Fall der Herrnhuter Gemeinden enge Wechselbeziehungen zwischen den Territorien.16 Einen ersten Hinweis auf Herrnhuter in Erfurt bietet die Schilderung dreier Mähren, die auf ihrer Reise nach England im Juni 1728 Erfurt besuchten und von dort berichteten: „Der Herr hat die seinigen auch in Erfort“.17 Sie machten jedoch keine konkreten Angaben darüber, wen sie damit meinten. Zwei Jahre später erfuhr Zinzendorf durch einen Brief des Konsistorialrats Georg Friedrich Helmershausen (1684–1757)18, den er aus Weimar kannte und mit dem er in losem Briefwechsel stand, dass der Schreiber um Ostern herum eine wöchentliche Gebetsgemeinschaft mit den beiden Predigern Johann Gottlieb Wilhelm Rößler (1682–1734)19 und Johann Melchior Möller (1684–1761)20 angefangen habe, zu welcher kürzlich noch Hieronymus [Heinrich?] Wolfgang Fratzscher (1694–1757)21 hinzugekommen sei.22 Später erwähnte er außerdem einen Mediziner Glaß (Gloß?), während Fratzscher nicht mehr explizit genannt wurde. Als Zinzendorf Ende August 1730 selbst in Erfurt weilte, gastierte er bei Helmershausen.23 Ende 1731 veranstaltete dieser Kreis auch Bibelstunden, in denen einzelne Bücher bzw. Kapitel der Heiligen Schrift thematisiert wurden.24 Johann Georg Orthausen, anscheinend ein Dippelianer, vermittelte eine Kontaktaufnahme zwischen Zinzendorf und einem Konventikel beim Strumpfwirker Johann Friedrich Reinhardt und stellte dem Grafen im Haus eines nicht genauer identifizierbaren Dr. Stiler zwei charismatische Persönlichkeiten (aus dem Umland?) vor: einen Bauern Marcus und eine Hirtin Christiane Lange25, über die in den späteren Briefen ausführlicher 16 17 18

19 20 21 22 23 24 25

Anhand der folgenden exemplarischen Studie zu den Herrnhutern in Erfurt werden zugleich Quellen verschiedener Gattung aus dem UA vorgestellt, die für das Thema relevant sind. Es handelte sich um David Nitschmann, Johann Teltschig (1703–1764) und Wentzel Neißer (1716–1777) (vgl. UA R.19.B.g.7.a.26). Vgl. Martin Bauer: Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens. Neustadt an der Aisch 1992 (Schriftenreihe der Stiftung Stoye der Arbeitsgemeinschaft für mitteldeutsche Familienforschung e. V., 22), 181. AaO, 265 f. AaO, 232. AaO, 152. Helmershausen an Zinzendorf, Erfurt, 26.6.1730 (UA R.19.B.g.7.a.8). Orthausen an Zinzendorf, Erfurt, 8.10.1730 (UA R.19.B.g.7.a.27). Helmershausen an Zinzendorf, Erfurt, 6.12.1731 (UA R.19.B.g.7.a.10). Orthausen an Zinzendorf, Erfurt. 8.10.1730 (UA R.19.B.g.7.a.27).

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berichtet wird. Es scheint aber zu keiner Verbindung der verschiedenen Kreise gekommen zu sein, was Zinzendorf missfiel, worauf er aber drängte.26 Wohl dadurch animiert veranstaltete der oben genannte Prediger Möller, den Zinzendorf ebenfalls getroffen hatte, nach dem Sonntagsgottesdienst Privatversammlungen in seinem Hause, musste sie jedoch vor Mitte 1731 wegen starken Zulaufs und nicht näher spezifizierter Hindernisse vorläufig einstellen und sich nach einem anderen Ort für die Versammlungen umschauen.27 Über die Teilnehmer ist aber nichts Konkretes bekannt. Aus den Briefen Helmershausens und Orthausens geht hervor, dass von 1730 bis 1735 weitere Herrnhuter Erfurt besuchten, so mehrfach Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782), David Siegmund Krügelstein (1698–1760), Martin Dober (1703–1748), David Nitschmann (1703/5–1779), Christian David (1692–1751) und die ersten drei nach Surinam ausreisenden Missionare. Bis 1735 schlief der Briefwechsel allmählich ein. Dabei hatte Helmershausen sich 1733 noch positiv zu August Gottlieb Spangenbergs (1704–1792) Lebensweg und Umzug nach Herrnhut geäußert.28 Dann scheint sich die Aufmerksamkeit der Erfurter deutlich Halle zugewendet zu haben.29 1738 bemühte sich Zinzendorf um eine Erneuerung der Beziehungen zwischen Herrnhut und Erfurt. Er sprach mit den Predigern – offenbar aber ohne großen Erfolg, auch wenn er zunächst äußerte, er habe „keinen ohne Segen“ besucht.30 Er hielt auch „eine Versammlung unter den Bürgern“, und zwar im Konventikel des Strumpfwirkers Reinhardt.31 Dieser war grundsätzlich offen für die Anregungen Zinzendorfs, doch war sein Kreis im zeitlichen Umfeld des Besuches offenbar öffentlichem Spott ausgesetzt und durch obrigkeitliche Untersuchungen in der Handlungsfreiheit beschränkt.32 Zwar fand sich kein Prediger bereit, das Konventikel in seine Betreuung zu nehmen, wie Zinzendorf gefordert hatte, doch führte eine Intervention Fratzschers zu dem Erfolg, dass es nicht zu Vorschriften über die zahlenmäßige Beschränkung der Teilnehmer an „kleinen“ Privatzusammenkünften kam. Anders als in Jena und Gotha entstand in Erfurt aber keine selbstständige herrnhutische Gemeinde, sondern die Anhänger Herrnhuts wurden hier als Teil der Diaspora nur besuchsweise von Herrnhutern betreut. Eine neue Qualität nahm diese Betreuung an, als 1741 ein Predigtamtskandidat namens Gottschalk in Erfurt eine Hauslehrerstellung antrat.33 Dieser hatte in Halle studiert und war 1740 Mitglied der Brüdergemeine geworden. Er war öffentlich sehr darum bemüht, nicht mit den verketzerten Herrnhutern in Verbindung gebracht 26 27 28 29 30 31 32 33

Helmershausen kannte Marcus und Christiane noch 1733 nicht persönlich (vgl. Helmershausen an Zinzendorf, Erfurt, 10.6.1733 [UA R.19.B.g.7.a.14]). Möller an Zinzendorf, Erfurt, 25.6.1731 (UA R.19.B. g.7.a.25). Ebd. Vgl. die umfangreiche, im AFSt unter verschiedenen Signaturen überlieferte Korrespondenz Helmershausens und Möllers mit Halle. Zinzendorf an seine Frau, Marienborn, 26.5.1738 (UA R.20.A.18.a.b.46). Ebd. Reinhardt an Zinzendorf, Erfurt, 12.8.1738 (UA R.19.B.g.7.a.36a). Nach Angaben aus seiner Korrespondenz und seinem Diarium sowie der sogenannten Burkardt-Kartei (UA).

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zu werden, so dass ihm verschiedene Prediger die Kanzel überließen. Zugleich besuchte er aber nach einem festen Plan die Erweckten in Erfurt, unter denen sich inzwischen zwei oder drei Gruppen gebildet hatten. Seine umfangreichen Diarien34 sind bislang nicht ausgewertet worden. Auskunft über die Situation in Erfurt gibt zudem ein von Gottschalk zusammengestelltes, undatiertes Namensverzeichnis, teils mit ergänzenden Angaben, in dem es beispielsweise zu Reinhardt heißt: Reinhardt ein artiger lieber Mann den ich in meinem Hertzen vor einen Bruder halte, ein verständiger, moderater und überaus ordentlicher Mann, der numehro[!] nicht nur (der äußeren apparenz nach) nichts gegen die Lehre vom Lamm und seinem Blut hat, sondern sie auch, und zu weilen mit Thränen, bekennt und in allen seinen Stunden darauff weiset. Wie tief es aber im Hertzen Grund hat, weiß ich nicht; wo nicht seine bißher noch ziemlich merckliche Wiedrigkeit gegen die intime connexion mit der Gemeine in dem unweißlichen verhalten der Brüder selbst einigen Grund hat, so glaube ich, ist es der Mangel des ins Hertz zu schreibenden Sinns das Lamm und die Brüder zu lieben.35

Nach einer Unterbrechung lief die Wiederaufnahme von Gottschalks Predigertätigkeit mit Schwierigkeiten an. Man wollte ihn nicht mehr predigen lassen – möglicherweise, weil sein Herrnhutertum offenbar geworden war. 1744 verließ er Erfurt endgültig. Im September desselben Jahres war Zinzendorf erneut für mehrere Tage in Erfurt zu Gast.36 Dieses Mal hielt er sich beim Stadthauptmann Georg Caspar Martini auf. Dort hatte einige Tage zuvor schon der junge Carl Adolph Gottlob von Schachmann (1725–1789)37 mit seinem Herrnhuter Hofmeister Friedrich Emanuel Hermann (1710–1782), dessen Frau und zwei weiteren Herrnhutern, die eine kleine Hausgemeinde bildeten, Quartier genommen, um an der Universität zu studieren.38 Zinzendorf besuchte die Prediger und empfing Gegenbesuche. Ein Mitglied der Hausgemeinde schilderte die Lage im November 1744 recht anschaulich: Sonsten haben wir hier die Seelen, denens ums Lam[m] und seine Wunden zu thun ist, so gefunden, als wenn sie dazu praeparirt und so weit vom Vater gezogen wären, daß das Ewangelium von Jesu Verdienst und Blut ihnen sehr angenehm und kräftig ist. Die Geschwister Hermans haben sonderlich von den verheuratheten viel Besuch. Unser Früh- und Abendstunden sind noch sehr klein, weil wir sie nur vor uns und unsere Haußleute haben. Dazu wir alle Tage einen von den hiesigen Brüdern kommen lassen. Wenn wir sie allgemein wollten werden lassen, so kämen sie wohl zu Hunderten. Aber es ist noch nicht Zeit dazu, sondern unser Anfang soll kleine seyn, und kein groß Aufsehen machen.39

Mit etwa 30 Erfurter Erweckten pflegte man auf diese Weise engeren Umgang. Der Stadthauptmann Martini wurde vom Rat wegen seiner herrnhutischen Mieter befragt. Helmershausen soll die Schrift eines Paters Antonius in Erfurt herumgereicht 34 35 36 37 38 39

Vgl. UA R.19.B.g.7.b. Gottschalk an Zinzendorf (?), Erfurt, 10.3.1744 (UA R.19.B.g.7.b.19). Johannes von Watteville an Erdmuthe Dorothea, Gräfin von Zinzendorf, Erfurt, 27.9.1744 (UA R.9.B.b.8.a.48). Zu Schachmann siehe Ernst-Heinz Lemper: Carl Adolph Gottlob von Schachmann. Zittau 2001. Johannes von Watteville an Erdmuthe Dorothea, Gräfin von Zinzendorf, Erfurt, 27.9.1744 (UA R.9.B.b.8.a.48). Siegmund Roth an Gottfried Polycarp Müller (1684–1747), Erfurt, 7.11.1744 (UA R.19.B.g.7.a.37).

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und sich damit als Feind der Herrnhuter offenbart haben.40 Auch andere Antiherrnhutiana machten in Erfurt Eindruck. Die Schriften Zinzendorfs waren hier dagegen nicht bekannt. Bei seinem Besuch in Erfurt muss der Graf dem Kunst- und Naturalienkabinett des Erfurter Waisenhauses einige Objekte aus den Missionsgebieten der Herrnhuter versprochen haben, denn Mitte März 1745 traf eine kostbare Sammlung von ca. 30 Stücken aus Lappland, Island, Ceylon und Südafrika zusammen mit Büchern für das evangelische Ministerium ein.41 Während man die für das Waisenhaus bestimmten Objekte nach oberflächlicher Sichtung in der Stadtwaage ausgehändigte, wurden die Bücher zu Revisionszwecken allerdings erst einmal beschlagnahmt.42 Eine anscheinend gut vorbereitete Intrige nahm ihren Lauf, ohne dass deren Drahtzieher sicher zu bestimmen wären. Das Resultat: Der junge Schachmann erhielt zwei Tage später vom Sekretär der Universität ohne jede Begründung das Consilium abeundi, und innerhalb von einer Woche mussten die Herrnhuter die Stadt verlassen.43 In den Aufzeichnungen von Paul Eugen Layritz (1707–1788) werden Einzelne namhaft gemacht, die sich vergeblich für die Angehörigen der Gruppe einsetzten: der Jura-Professor Hieronymus Friedrich Schorch (1692–1783) in der Universität, der Hauswirt Martini, der alle Beteiligten persönlich aufsuchte, der Prediger Möller in der Pfarrerschaft und Gustav Adolf von Gotter (1692–1762, seit 1740 Graf) beim Statthalter.44 Hermann zog sich mit seinem Schützling Schachmann fürs Erste nach Gnadenthal (Neudietendorf) im Fürstentum Gotha zurück. 3. DIE HERRNHUTER NIEDERLASSUNG NEUDIETENDORF (GNADENTHAL) Gnadenthal war, wenn man so will, eine illegale Herrnhuter Niederlassung auf dem Gut Altenhof.45 Diese erst 1735 von Gustav Adolf von Gotter angelegte Siedlung war 1742 an Balthasar Friedrich, Graf von Promnitz (1711–1744), einen Verwandten der Gräfin Zinzendorf, verkauft worden. De facto stand aber die Brüdergemeine 40 41

42 43 44 45

Friedrich Emanuel Hermann an Zinzendorf, Neudietendorf, 26.12.1744 (UA R.19.B.g.7.a.18). Sigismund Friese (1673–1754) an Zinzendorf, Erfurt, 19.3.1745 (UA R.20.C.14.a.100; mit zugehöriger Specification der Raritaeten vom Vortag). Vgl. dazu Stephan Augustin u. Andrea Scholz: „Verdienste um die ethnologische Wissenschaft“ – Herrnhuter Missionare als Sammler für das Berliner Museum für Völkerkunde. In: Baessler-Archiv. Beiträge zur Völkerkunde 62, 2015, 67–89, hier: 69. [Paul Eugen Layritz]: Nachricht von Bruder Hermanns Erfurthischen Begebenheiten, wie er mir solche bey meiner retour in Gnadenthal erzehlet [nach 30.3.1745] (UA R.19.B.a.7.34). Vgl. Balthasar Heider (Universitätssekretär) an Carl Adolph Gottlob von Schachmann, Erfurt, 17.3.1745 (UA R.21.A.154.A.8, pag. 5 [Abschrift]). Layritz, Nachricht [s. Anm. 42]. Zu Gnadenthal bzw. Neudietendorf siehe: Jubelfeier des 100jährigen Gedächtnisses der Einweihung des Kirchensaales der Gemeine in Neudietendorf am 2. und 3. December 1880 nebst Rückblick auf die Geschichte der Gemeine Neudietendorf von der Gründung des Orts im Jahr 1736 bis 1880 und Anhang einiger statistischer Verzeichnisse. Nach den im Archiv der Gemeine vorhandenen Quellen bearbeitet. Neudietendorf 1881; von Strenge, Herrnhuter-Colonie [s. Anm. 14], 44–68; Fr[iedrich] Geller: Gründung Neudietendorfs. Zur Erinnerung an die vor

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hinter dem Erwerb. Nach einem ersten, von Zinzendorf 1743 nach seiner Rückkehr aus Amerika abgebrochenen Unternehmen wurden die vorhandenen Häuser mit lutherischen Freunden aus der Thüringer Diaspora belegt und einige neue errichtet. Unter der Hand entstand, geschützt von dem gewogenen Herzog, eine kirchlich unselbstständige Gemeine. Cyprian bekämpfte diese und setzte sich schließlich mit vorläufiger Wirkung über seinen Tod hinaus durch: 1748 erfolgte die Emigration der Einwohner, die auf andere Gemeinen verteilt wurden. Zinzendorf hingegen spielte auf Zeit. Nach abermaligem Besitzerwechsel zum Herrnhuter Anton Günter Urban von Lüdecke (1723–1788) im Jahr 1753 gelang unter offizieller Anerkennung der Landes- und Kirchenordnungen die Duldung einer Neugründung, die schließlich 1764 auch offiziell erfolgte und seitdem den Namen Neudietendorf trägt. Doch verblieb die Gemeinde bis 1849 im landeskirchlichen Verband. Waren schon von Gnadenthal aus die Erweckten in Thüringen besucht worden, so bekam die Diasporaarbeit nach der Neugründung Neudietendorfs hier feste Strukturen mit speziell für diesen Zweck berufenen Mitarbeitern. Sie verfassten tagebuchartige Berichte über ihre Besuchstätigkeit, die in ziemlicher Vollständigkeit im Unitätsarchiv liegen und weit bis in das 19. Jahrhundert reichen.46 Es kann hier nur quantitativ die Bedeutung dieser Aufzeichnungen für die Frömmigkeitsgeschichte Thüringens angedeutet werden. Personalbestand in der Thüringer bzw. Neudietendorfer Diaspora

Personen in Orten Jena

1732

1742

1754

1765

1777

1782

364

380

154

506

348

145347

104

62

185

81 123

Gotha

60

Erfurt

72

Freilich orientierte sich der hier erfasste Diaspora-Bezirk nicht an den heutigen politischen Landesgrenzen Thüringens, aber auch nicht an zeitgenössischen Territorien. So umfasste er neben den ernestinischen Landen etwa auch die seinerzeit zu Hessen-Kassel gehörende Grafschaft Henneberg, das kursächsische Langensalza und das kurmainzische Erfurt, ja sogar das kurhannoversche Göttingen. Dagegen vermisst man etwa Coburg oder die Reußischen Lande, die zum Ebersdorfer Diaspora-Bezirk gehörten. Einen Eindruck von den Inhalten dieser Berichte vermittelt

46 47

150 Jahren der Brüdergemeine Neudietendorf durch Fürstliche Gnade verliehene Konzession. Neudietendorf 1914; Herman Anders Krüger: Neudietendorf und seine merkwürdige Geschichte. Berlin, Leipzig 1943; H[erbert] Billhardt: Neudietendorf und seine Umwelt. Ein historischer Rückblick. 2. erweiterte u. berichtigte Aufl. Kornhochheim 1990 [1. Aufl. 1985]. UA R.19.B. g.8–14. „[…] ohnerachtet in den 5 Jahren auf 80 heimgegangen und 74 zur Gemeine gekommen“ (Gottlob Friedrich Burghardt: Bericht an die Synode, Neudietendorf, 22.5.1782 [UA R.2.B.47.c.4]).

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Reiner Axmann am Beispiel von Coburg.48 Für das heutige Thüringen sind die Berichte – soweit ich sehe – überhaupt noch nicht ausgewertet worden. Die ersten grundlegenden Publikationen über Neudietendorf datieren aus dem Zeitraum von 1881 bis 1922. Sie erreichen aber bei weitem nicht die Materialfülle der nur handschriftlich vorliegenden, um 1770 entstandenen, knapp 300 Seiten umfassenden Historischen Nachricht von der Ausbreitung des Reichs Jesu Christi durch den Dienst der Brüder in Thüringen überhaupt und insonderheit in NeuDietendorff oder Gnadenthal von Erich von Rantzau (1719–1796).49 In jüngster Zeit sind Arbeiten zu Einzelaspekten wie den wirtschaftsgeschichtlich relevanten Unternehmungen Neudietendorfs, der Siegellackfabrik Liliendahl (ab 1778) und der Herstellung des Likörs Aromatique (ab 1828), entstanden.50 Einen eigens untersuchten Aspekt bildet die in Neudietendorf ab den 1820er Jahren relevante Produktion sowie der Export homöopathischer Arzneimittel.51 Im Kontext der wirtschaftlichen Betätigung von Herrnhutern im Thüringer Land ist auf den hannoverschen Diaspora-Bruder und Hofmaler Johann Georg Ziesenis (1716–1776) und den Neuwieder Kunsttischler David Roentgen (1743–1807) hinzuweisen, die einige Höfe des Landes belieferten.52 Während der Napoleonischen Kriege hielt Roentgen sich über längere Zeit in Neudietendorf auf. Insgesamt ist die Architektur- und Siedlungsgeschichte Neudietendorfs der bislang am besten erforschte Bereich der Geschichte der Herrnhuter in Thüringen.53

48

49 50 51 52

53

R[einer] Axmann: Coburg, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. Die Besuche der Diasporaarbeiter in Coburg in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – ihre Berichte, mit ausführlichen Annotationes versehen. Zugleich eine religionssoziologische Studie. In: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 41, 1996, 49–110. UA NB.I.R.3.277.1. Vgl. Tamara Hawich: Manufakturen, Maschinen, Manager. Unternehmer und Unternehmen zwischen Gotha und Eisenach. Geschichte und Geschichten. Erfurt 2002, hier: 120–124 (Liliendahl) und 289 f. (Aromatique). Vgl. Guntram Philipp: Herrnhuter Apotheker. Pioniere homöopatischer Arzneimittelherstellung. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 22, 2003, 89–146. Vgl. hierzu v. a. Karin Schrader: Der Bildnismaler Johann Georg Ziesenis (1716–1776). Leben und Werk mit kritischem Oeuvrekatalog. Münster 1995 (Göttinger Beiträge zur Kunstgeschichte, 3); Georg Himmelheber: Ein Kommodenensemble der Roentgen-Manufaktur. Gotha 1999 (Patrimonia, 159); Die Möbelkunst des David Roentgen in Gotha. Neue Aspekte im Wirken eines großen Ebenisten. Ausstellungskatalog. Hg. v. Gesellschaft der Freunde für Möbelund Raumkunst e. V. Fulda 2008 (Schriftenreihe Mobile, 2). Vgl. Jürgen Lafrenz: Deutscher Historischer Städteatlas. Bd. 3: Herrnhut & Herrnhuter Siedlungen. Moravian Settlements. Münster 2009; Dorothea Hornemann: Herrnhuter Architektur des 18. Jahrhunderts in Thüringen. Halle/Saale Univ., Phil. Fak., Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas, Magisterarbeit [masch.] 2008 (UA 2010/104); dies.: Herrnhuter Bau- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts in Neudietendorf: […] eine Kolonie sieht der anderen so ähnlich, wie Tücher nach eben demselben Muster aus eben derselben Fabrik. In: Zinzendorf – Reformator in Bildung, Kirche und Gesellschaft. Hg. v. Peter Vogt u. Michael Haspel. Weimar 2012 (Scripturae, 3), 101–118; Arndt Dietmar Schumann: Neudietendorf in Thüringen. Eine herrnhutische Ansiedlung anderer Art. AaO, 119–130.

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Rüdiger Kröger

4. EXEMPLARISCHE AUSWERTUNGEN VON HERRNHUTER LEBENSLÄUFEN AUS DEM ERFURTER RAUM Die von den Mitgliedern der Brüdergemeinen zur Verlesung beim Begräbnis regelmäßig verfassten und praktisch vollständig überlieferten Lebensläufe – teils Autobiographien – ergänzen die genannten quantitativen Angaben zur Diasporaarbeit um konkrete biographische Angaben. Üblicherweise berichteten die Autor_innen hier ausführlich über ihre religiöse Entwicklung, insbesondere ihre Erweckung, ihren Weg bis zur Ankunft und Eingewöhnung in der Brüdergemeine sowie über Bewahrungen und göttliche Führungen in ihrem persönlichen Leben. Der äußere Lebensweg spielte demgegenüber eine deutlich untergeordnete Rolle. Nach dem Tod wurden von Dritten ausführliche Berichte über das Lebensende hinzugefügt. Im Unitätsarchiv werden mehr als 20.000 solcher Lebensläufe unterschiedlichen Umfangs aufbewahrt, davon etwa 20 von Personen, die vor ihrer Emigration aus Gnadenthal (1748) in oder um Erfurt geboren wurden.54 Trotz der auf der Hand liegenden quellenkritischen Vorbehalte, die hier zu berücksichtigen sind, wie der Rückgriff auf stereotype Formulierungen und Erklärungsmuster, biblische Anspielungen, die zeitliche Distanz zum Berichteten oder postume Kürzungen zum Zweck des Vortrags, sind diese Lebensläufe als historische Ego-Dokumente von hohem kulturgeschichtlichen Rang einzuordnen. Sind die Lebensläufe ‚nach den Erzählungen‘ der Verstorbenen durch Dritte abgefasst, muss allerdings mit zusätzlichen Ungenauigkeiten und Stilisierungen gerechnet werden. Überliefert ist beispielsweise der Lebenslauf des Knopfmachers Georg Heinrich Mohnhaupt (1705–1767), gebürtig aus Hochstedt, der in Kontakt mit Pietisten kam und deren Erbauungsstunden besuchte, aber „keine Ruhe für sein Herz“ fand und über die Frage in Skrupel geriet, „ob nicht vielleicht alles was in der Bibel stünde, eine Menschliche Erfindung sey, wodurch die Menschen in Furcht und Ordnung gehalten werden sollten!“55 Er machte (vielleicht 1731) die Bekanntschaft mit David Nitschmann und besuchte daraufhin selbst die Brüder in Jena, Ebersdorf und Marienborn, was ihn fest an die Herrnhuter band. Sein Biograph hebt besonders hervor, Mohnhaupt habe „alle Geschwister, die Geschäfte wegen bey ihm einsprachen, mit herzlicher Willigkeit in sein Haus“ aufgenommen.56 Eva Susanna Keulen (1711–1788) aus Haßleben bei Erfurt, Tochter eines Schäfers, blieb unverehelicht. Sie trat mit 26 Jahren in Erfurt in Stellung im Hause Möller und berichtete, ihr Dienstherr 54

55 56

Zu den Herrnhuter Lebensläufen im Allgemeinen vgl. u. a. Christine Lost: Das Leben als Lehrtext. Lebensläufe aus der Herrnhuter Brüdergemeine. Herrnhut 2005 (UF Beiheft, 14). Speziell mit der Lebenslaufsammlung im Gemeinarchiv in Neudietendorf befasst sich Stephanie Böß: Brüderische Blut- und Wundenverehrung und ihre Spuren in Lebensläufen der Herrnhuter Brüdergemeine Neudietendorf. In: Bayerische Blätter für Volkskunde NF 7, 2005, 9–33; vgl. auch dies.: Gottesacker-Geschichten als Gedächtnis. Eine Ethnographie zur Herrnhuter Erinnerungskultur am Beispiel von Neudietendorfer Lebensläufen. Jena 2014 (Studien zur Volkskunde in Thüringen, 6). UA GN.C.149, 470–473. Ebd.

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liebte das Gute so wie auch sein Bruder, ein Geistlicher [wohl der oben erwähnte Johann Melchior Möller, R. K.], der sich bey ihm aufhielt. Dieser laß fleißig die Gemein-Schriften und ich mußte sie aus dem Buchladen holen, da ich auch hinein sah; einmal kam mir eine Predigt in die Augen, die von dem Bußkampf-Schweiß des Heilands und von seiner ganzen blutigen Marter handelte, das fuhr tief in mein Herz und erpreßte mir viel Thränen.57

Jahre später nahm der Predigtamtskandidat Gottschalk auch ihres „Herren Kinder in die Information und kam öfters in unser Haus uns vom Heiland zu sagen, und durch Ihn kamen wir denn in Bekanntschaft mit Geschwistern von der Brüder-Gemeine“. Als Gottschalk Erfurt verließ, „kam er vorher noch zu uns, kniete mit der ganzen Haus-Familie nieder und empfahl uns dem lieben Heiland. Den[n] fragte er uns, ob wir alle ganz des Heilands seyn und bleiben wollten? Ich versprachs von ganzem Herzen“. Eva Susanna Keulen selbst kam 1746 „mit 3 Müllerischen Kindern nach Gnadenthal“ und 1748 nach Herrnhaag. In Walschleben, nördlich von Erfurt gelegen, war ab 1710 Johann Michael Langguth (1682–1739) tätig, zunächst als Diakon und seit 1717 als Pastor. 1723 wurde er Pfarrer an der Predigerkirche in Erfurt.58 Langguth schickte seinen gleichnamigen Sohn (1718–1788)59 1735 zum Studium nach Jena, wo dieser Anschluss an die mit Herrnhut verbundenen Studenten fand. Bei einem Heimatbesuch in den 1730er Jahren traf er mit dem drei Jahre älteren, ebenfalls aus Walschleben gebürtigen Bernhard Adam Grube (1715–1808) zusammen und lud diesen nach Jena ein.60 Grube stammte aus einfachen Verhältnissen, war inzwischen aber auf Vermittlung des Walschleber Ortspfarrers Heinrich August Francke (1688–1757)61 auf der Predigerschule in Erfurt. Vater Langguth war sein Beichtvater. Mehrere Besuche Grubes in Jena schlossen sich der Begegnung mit Langguth an, bis Grube 1737 schließlich – so sein Bericht – nach Jena ziehen konnte, um den Heiland recht kennen zu lernen, welches der einzige Zweck meines Studierens war; denn ich wäre ohnehin kein großer Gelehrter geworden. Ich hörte etliche Collegia unentgeldlich, denn mein weniges Geld war bald verbraucht, und besuchte fleißig die Erbauungsstunden, sonderlich in der Oeconomie des jungen Grafen Christian von Zinzendorf.62

57 58 59 60

61 62

UA R.22.63.50. Hier auch das Folgende. Vgl. Bauer, Theologen [s. Anm. 18], 208. Vgl. zu diesem: aaO, 208 f. Grube berichtet von enger Vertrautheit mit Langguth junior bereits in der Jugend: „Wir unterhielten uns öfters mit einander von unserer Bekehrung. Wenn dieselbe bey uns zu Stande gekommen wäre, so wollte er ein Prediger werden und ich sollte sein Schulhalter seyn; er wolle die Erwachsenen und ich die Kinder bekehren und wenn das zu Stände gebracht worden wäre, so wollten wir unter die Heiden gehen und sie auch bekehren. Ueber diese Plane freuten wir uns denn ungemein und wünschten von Herzen, daß sie auch in Erfüllung gehen möchten, ohne uns viel um unsre Mitschüler zu bekümmern, die unser spotteten, wenn sie etwas von unsern Gesprächen hörten“ (UA R.22.116.13). Bauer, Theologen [s. Anm. 18], 151. UA R.22.116.13.

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Rüdiger Kröger

Schließlich wurden beide, Grube und Langguth junior, Teil der „Christelsökonomie“. Langguth avancierte nicht nur zu einem der wichtigsten Mitarbeiter Zinzendorfs, sondern wurde – nach seiner Erhebung in den Freiherrenstand – als Johannes von Watteville 1746 zudem dessen Schwiegersohn. Eine Verbindung zum Herrnhuter Konventikel in Erfurt über die Familie Langguth zeigt sich auch bei einem Bader namens Lohoff. Dieser habe, so heißt es, „vielen Umgang mit unsers lieben Johannes seinem seligen Vater“ gehabt, „wurde auch hernach mit Geschwistern aus der Gemeine bekannt“.63 Sein Sohn Johann Salomo Wilhelm (1727–1757) habe als Jugendlicher dem „Bruder Gottschalck bey seinem Besuch von ihm als Kind versprechen“ müssen, „daß er den Heiland lieb haben und sein Eigenthum werden“ wolle. Der Vater gab den Sohn zu einem Bruder Lückard nach Gotha, der dort Versammlungen abhielt, in die Knopfmacherlehre, die dieser nach der Übersiedlung beider nach Herrnhut abschloss. Doch auch nach Walschleben bestanden die Beziehungen fort. Dort lebten der Leinwanddrucker Johann Andreas Wohlson (1680–1748) und dessen Frau Anna Dorothea, geb. Schaef (1684–1753). Sie hatten 1704 geheiratet und sechs Kinder erzogen. Von der Mutter, mehreren Kindern und Enkeln sind Lebensläufe vorhanden, die hinsichtlich der Namen und Daten voneinander abweichen. Folgt man den Angaben in der Autobiographie der jüngsten Tochter, Anna Maria Wohlson (1716– 1786), war diese selbst der Ausgangspunkt für die Erweckung der ganzen Familie. Es heißt hier: Meine Zeit verbrachte ich viel mit Lesen in geistlichen Büchern, sonderlich im neuen Testament. Da trat mir der Heiland oftmals vor mein armes Herz und ich pflegte dem, was ich gelesen, weiter nachzudenken, unter andern: ob es wol noch solche Gemeinen gebe, wie sie in diesem Buche beschrieben sind? bat auch den lieben Heiland mehrmalen, daß Er mich zu einer solchen Gemeine bringen möchte. Endlich hörte ich, daß in Erfurt Leute wären, die alle Abend zusammen kämen und sich erbaueten. Es war wol zwey Stunden von unserm Orte, ich ging aber doch hin und fand es so. Die dasigen Versammlungen wurden von einem lieben Mann, namens Mohnhaupt, gehalten. Einmal, da ich daselbst zu Markte war, konnte ich nicht unterlaßen, um der Versamlung willen übernacht zu bleiben, wie wol ich gewarnt wurde, daß ich bey den meinigen, denen ich nichts gesagt hatte, würde dafür büßen müßen. Die Versamlung war mir zum Segen; als ich aber den andern Morgen nach hause kam, empfingen mich meine Eltern, die bange um mich gewesen waren, mit großer Unzufriedenheit, und mein Vater, der von diesen Leuten übel berichtet war, drohete mir mit Schlägen, wenn ich wieder zu ihnen ginge. Meine Vorstellungen brachten jedoch endlich zu Wege, daß ers mir nicht mehr verwehrte, und ich konnte darauf nicht nur in Erfurt, sondern auch in Jena und Gotha besuchen; ja als Bruder Schick einmal in meiner Eltern Hause war, wurde mein Vater selbst für den Heiland gewonnen. Hierdurch bekam ich Weg und Bahn, meinen Trieb zur Gemeine zu befolgen.64

Der Bruder der Magdalena Augusta Grünbeck nahm Anna Maria Wohlson nach deren elterlicher Zustimmung 1740 mit nach Herrnhaag. 1743 zog sie mit ihrem kurz zuvor angetrauten Mann Gottfried Grabs nach Amerika. Der genannte Schick besuchte 1740 Erfurt. Nach Aussagen im Lebenslauf der Mutter65 kam es hier zu einer 63 64 65

Lebenslauf Johann Salomo Wilhelm Lohoff (UA NB I.R.4.293.V.114, 207 f.). Hier auch das folgende Zitat. UA GN.A.241, 326–333. Diarium Herrnhut, 20.4.1753 (UA R.6.A.b.18).

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näheren Bekanntschaft zwischen Schick und Grube, die durch den gemeinsamen Besuch eines Gothaer Bettages und einen zweiten Besuch Grubes zusammen mit Langguth junior 1741 gefestigt worden sei. Deutlich ist, dass die Familie Wohlson regelmäßig von den Herrnhutern besucht wurde, selbst in Erfurt und Gotha an Versammlungen teilnahm und 1743 nach Gnadenthal übersiedelte. Der Vater verstarb dort noch kurz vor der Emigration. War in diesem Fall die gesamte Familie zu den Herrnhutern gezogen, lagen die Verhältnisse bei der Familie Mengershausen anders. Martha Sophie Mengershausen, geb. Freitag (1696–1765), Tochter des Amtsschreibers in Azmannsdorf, war mit 17 Jahren an den Gehilfen des Vaters verheiratet worden und in der Folge nach Erfurt gezogen, wo sie zehn Kinder gebar. In ihrem Lebenslauf heißt es: Ob ich nun gleich oft um meine Seligkeit seufzte, so erstickte doch die Lust zur Welt und Sünde solches immer wieder, bis in meinem 30sten Jahre, da ich aufs neue recht kräftig von meinem unseligen Zustand überzeugt wurde. Ich ging fleißig in die Kirche und suchte in allerley vermeintlich guten Sachen Ruhe, fand sie aber nicht, bis ich anno 1743 mit dem Volcke des Heilands bekannt wurde. Da wies man mich mit meiner Noth gleich zum Heiland und seinem blutigen Verdienste, da ich denn gar oftmalen Seine unaussprechliche Sünder-Liebe gefühlt und empfunden.66

Sie besuchte häufig Gnadenthal, doch teilte ihr Mann ihre Gesinnung nicht. Als die Töchter 1744 bei einem Besuch in einer Gemeine (Gnadenthal oder Herrnhaag) ihr Aufnahmegesuch bewilligt fanden, „hielt [es] schwer, ehe der Vater darein willigte“.67 Erst nach seinem Tod (1758) zog die Mutter als Witwe selbst in die Gemeine. Abschließend sei das Beispiel des Erfurter Schönfärbers Carthaus und seiner Frau erwähnt, von denen es heißt, dass sie „im vertrauten Umgang“ mit dem Prediger Langguth „gestanden sind“.68 Ihre Tochter Regina Christiane (1710–1755) wurde 15-jährig an den 20 Jahre älteren Witwer Andreas Walther (1689–1758) verheiratet, einen gescheiterten Studiosus und nunmehrigen Besitzer eines kleinen Landguts in Sundhausen bei Langensalza, „mit welchem sie 9 Kinder gezeuget hat“. Dessen ursprünglich geleistetes Ehelosigkeitsgelübde69 lässt vermuten, dass er zuvor ein Engelsbruder (Gichtelianer) gewesen war. Inzwischen in Gotha wohnhaft, lernten sie 1740 während der hier im Gasthof zum Mohren gehaltenen Synode die Herrnhuter kennen. 1741 wurde das Paar in Herrnhaag in die Brüdergemeine aufgenommen, Regina Christiane aber im Jahr darauf als Nachfolgerin von Magdalena Augusta Grünbeck für die Schwesternpflege wieder nach Gotha entsandt. Andreas Walther stellte schließlich eine große Summe Geldes für den Ankauf von Gnadenthal zur Verfügung, geriet deshalb aber in heftige Auseinandersetzungen mit der Brüdergemeine:

66 67 68 69

UA GN.C.135, 82–85. Lebenslauf von Eva Maria Rührig, geb. Mengershausen (1720–1801) (UA R.22.72.66). Lebenslauf der Tochter Regina Christina Walther, geb. Carthaus (UA R.22.2.b.117). Hier auch das folgende Zitat. Vgl. Lebenslauf Andreas Walther im Diarium Barby, 3.4.1758 (UA R.6.D.I.b.1). Hier auch das Folgende, einschließlich der Zitate.

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Rüdiger Kröger Er hatte das Unglück unter die SeelenMörder zu fallen, die schlugen ihn und ließen ihn halbtodt liegen.70 Nach unzählichen Feindseligkeiten, Bosheiten und verübten Mishandlung an der Gemeine, wozu er war aufgebracht worden und die ihm vollends Verstand, Gemüth und Hütte ruinirten, nahm er doch wieder seine Zuflucht zu der von ihm äußerst gemishandelten Gemeine. Er gehörte unter die elenden Schafe, die sich dumm gelaufen und nun wie halbgefreßen dem nachhinken, der sich nicht läßt vergeßen. Er erhielt Anno 1750 Erlaubniß hieher [nach Barby, R. K.] zu ziehen, wo man sich sein[er] jammern ließ und als eine complete Lazareths-Person und an Seele und Leibe jämmerlich zugerichteten Elenden pflegen, warten und bedienen muste.

Seine Frau starb über der Pflege ihres Mannes, für die – so heißt es – „eine mehr als menschliche Geduld bey seinem ganz zerrütteten und kindischen Zustande nöthig“ gewesen sei, im Alter von 45 Jahren. Er überlebte sie noch um drei Jahre. 5. FAZIT In den vorstehenden Ausführungen konnte nicht allein gezeigt werden, dass die Herrnhuter Quellen aus Thüringen von der Forschung bisher keineswegs erschöpfend herangezogen worden sind, sondern auch, dass dieses Material weit über die engen Grenzen der Brüdergemeine hinaus allgemein für die Frömmigkeitsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts auskunftsfähig ist. Die Quellen umfassen im Wesentlichen über 500 Briefe aus Jena, Gotha, Erfurt und anderen Thüringer Orten der Jahre 1728 bis 1749, das Diarium der Jenaer Studentenverbindung von 1728 bis 1730, spätere Korrespondenzen mit ehemaligen Jenaer Studenten außerhalb Thüringens, die Protokolle der wöchentlichen Konferenzen in Jena von 1738/39, die lückenhaft überlieferten Protokolle von Gemeintagen in Jena von 1739 bis 1742, Dokumente zur Brüdergemeine Neudietendorf (u. a. Gemeindiarien, Konferenzprotokolle, detaillierte Mitgliederlisten und Unterlagen zu den Gemeindefinanzen) sowie Lebensläufe von Thüringern, die sich der Brüdergemeine anschlossen. Hier sind noch manche Schätze zu heben.

70

In dieser Formulierung und im Folgenden sind biblische Anspielungen evident.

ANHANG

BIOGRAPHISCHE INFORMATIONEN ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN Albrecht-Birkner, Veronika: Dr. theol.; Professorin für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität Siegen; Forschungsschwerpunkte: Neuere und neueste Kirchengeschichte, Pietismus, protestantische populäre Kulturen, Kirche in der DDR. Kontakt: [email protected] Breul, Wolfgang: Dr. theol.; Professor für Kirchengeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Forschungsschwerpunkte: Spätmittelalter und frühe Reformation, Konfessionalisierung, Kulturgeschichte des Pietismus, Hallescher Pietismus, radikaler Pietismus, Herrnhuter im 18. und 19. Jahrhundert. Kontakt: [email protected] Koch, Ernst: Dr. theol. habil.; Honorarprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Reformation, Frühe Neuzeit, Thüringen. Kontakt: [email protected] Kröger, Rüdiger: Dr. phil.; Archivar im Landeskirchlichen Archiv Hannover; Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Kultur der Herrnhuter Brüdergemeine, evangelische Kirchengeschichte, Sprachgeschichte. Kontakt: [email protected] McIntosh, Terence: Dr. phil.; Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der University of North Carolina at Chapel Hill; Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kirchengeschichte Deutschlands. Kontakt: [email protected] Miersemann, Wolfgang: Dr. phil.; nach Lehrtätigkeit an der Humboldt-Universität zu Berlin bis 2015 wiss. Mitarbeiter der Franckeschen Stiftungen zu Halle; Forschungsschwerpunkte: deutsche Literaturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, pietistische Liedkultur. Kontakt: [email protected] Müller, Mathias: Pfarrer der Evangelischen Kirche der Pfalz; Forschungsschwerpunkte: Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit, Hallescher Pietismus. Kontakt: [email protected]

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Biographische Informationen zu den Autorinnen und Autoren

Rymatzki, Christoph: Dr. theol.; Pfarrer am Lutherhaus Jena; Forschungsschwerpunkte: Hallescher Pietismus, Anfänge protestantischer Judenmission. Kontakt: [email protected] Schloms, Antje: Dr. phil.; Referentin Stadtgeschichte im Stadtarchiv Mühlhausen; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Frühen Neuzeit, Sozialgeschichte, insbesondere Armen- und Waisenfürsorge, Pietismus, Stadtgeschichte. Kontakt: [email protected] Schunka, Alexander: Dr. phil.; Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin; Forschungsschwerpunkte: Religions- und Kulturgeschichte, Historische Migrationsforschung. Kontakt: [email protected] Shantz, Douglas H.: Ph. D.; Professor Emeritus of Classics and Religion an der University of Calgary, Kanada; Forschungsschwerpunkte: Protestantismus in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Pietismus, Autobiographie in Pietismus und Aufklärung. Kontakt: [email protected] Strom, Jonathan: Ph. D.; Professor der Kirchengeschichte an der Emory University, Atlanta, USA; Forschungsschwerpunkte: Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit, Geschichte der Geistlichkeit, Pietismus. Kontakt: [email protected] Trauzettel, Holger: Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien Geschichte und Physik; Forschungsschwerpunkte: Hallescher Pietismus, Kulturgeschichte des Politischen, Geschichte der Stadt Halle. Kontakt: [email protected] Venables, Mary Noll: Ph. D.; Privatgelehrte, Cork, Irland; Forschungsschwerpunkte: Sozial-, Kultur- und Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Pietismus, moderne deutsche Geschichte. Kontakt: [email protected]

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS aaO ADB AEvWE AFSt/H AFSt/M AFSt/S AFSt/W AGB AGP Anm. ARG Aufl. Ausg. BBKL BFSt BHTh Bl. ca. cf. d. Ä. DBA DBI ders. d. h. d. J. dies. ebd. ed. ed. by e. g. EPT et al. etc. f.

am angegebenen Ort Allgemeine Deutsche Biographie Archiv des Evangelischen Waisenhauses Erfurt Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle/Saale, Hauptarchiv Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle/Saale, Missionsarchiv Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle/Saale, Schularchiv Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle/Saale, Wirtschaftsarchiv Archiv für die Geschichte des Buchhandels Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Anmerkung Archiv für Reformationsgeschichte Auflage Ausgabe Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bibliothek der Franckeschen Stiftungen Halle/Saale Beiträge zur Historischen Theologie Blatt circa confer der Ältere Deutsches Biographisches Archiv Deutscher Biographischer Index derselbe das heißt der Jüngere dieselbe/dieselben ebenda edition edited by exempli gratia Edition Pietismustexte et alii/aliae et cetera following/folgend[e]

308 FB Gotha HaFo Hg. hg. v. ibid. id. JEcclH KTP LHA Magdeburg LKAK der EKKW LStRLO n. NASG ND NF NRSV o. J. o. O. PuN RGG4 s. SBB PK s. l. s. o. Sp. SPCK SUB Göttingen SUB Hamburg ThHStAW ThStAG ThStA Greiz u. UA u. a. UF unpag. usw. v. a. VD17 Vf./Vf.in

Abkürzungsverzeichnis

Forschungsbibliothek Gotha Hallesche Forschungen Herausgeber herausgegeben von ibidem idem The Journal of Ecclesiastical History Kleine Texte des Pietismus Landeshauptarchiv Magdeburg Landeskirchliches Archiv Kassel der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie note Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde Neudruck Neue Folge New Revised Standard Version of the Bible ohne Jahr ohne Ort Pietismus und Neuzeit Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl. siehe/see Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz sine loco siehe oben Spalte Society for Promoting Christian Knowledge Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar Thüringisches Staatsarchiv Gotha Thüringisches Staatsarchiv Greiz und Unitätsarchiv der Evangelischen Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine und andere Unitas Fratrum unpaginiert und so weiter vor allem Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts Verfasser/Verfasserin

Abkürzungsverzeichnis

vgl. VOC vol. z. B. ZBG

vergleiche Vereenigde Oostindische Compagnie volume zum Beispiel Zeitschrift für Brüdergeschichte

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PERSONENREGISTER Das Institutum Judaicum in Halle wird im Folgenden mit IJ abgekürzt. A Abba Gregorius (Gorgoryos) 254 Acxtelmeier, Stanislaus Reinhard 186 Adelung, Anhard 257 f., 260 f. Ahab (alttestamentlicher Prophet) 199 Aikin, Judith P. 102 Aland, Kurt 85 Alberti, – Johann Gottlieb 180 – Johann Martin 285 Albrecht, Georg 186 Albrecht-Birkner, Veronika 56, 58, 60, 62, 75, 262 Alexej I., Zar und Großfürst von Russland 253 Althaus, Paul d. Ä. 36, 93 Ambach, Melchior 204 Andreae, – Johann Michael 104 – Johann Valentin 21, 43, 62 – N. N. (Oberstadtvogt und Unterstützer des IJ in Erfurt) 272 Anna I., Königin von Großbritannien 248 Anton, Augustin 205 Anton, Paul 12, 88, 205, 220 Antonius, – N. N. (schlesischer Bauernprediger) 23 – N. N. (Pater, Autor) 294 Appold, Kenneth 34 Arndt, Johann 22, 35, 37–40, 42, 46, 75, 78, 101, 103, 110, 112, 138, 145, 148, 231, 238 Arnold, – Gottfried 115 f., 136, 152, 204, 224, 251 – N. N. (Kammerregistrator in Saalfeld) 117, 122 Augusti, Johann Christoph Wilhelm 149 Augustinus von Hippo 245 Augustus, N. N. (jüdischer Konvertit in Jena) 281 Axmann, Reiner 296 f.

B Bachoff von Echt, – Johann Friedrich d. Ä. 163 – Johann Friedrich d. J. 275 – Magdalena Auguste 273, 275 Bahnmayer, N. N. (Student in Jena) 281 Baier, Johann Wilhelm 165 Bäron, – N. N. (Ehefrau von N. N. Bäron) 157 – N. N. (Schuster in Jena) 157 Bart, N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Bartholomäi, Johann Christian 260 Baur, Jörg 30 Bayer, – N. N., geb. Müller (Unterstützerin des IJ in Gotha) 275 – N. N. (Obermarschall und Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Bechmann, Friedemann 158, 168 Becker, Otto Heinrich 16, 129–148, 231 Beer, – Johann 192 – N. N. (Hofmeisterin in Greiz) 231 Beerensprung, Siegmund 186 f. Berchelmann, – Friedrich Wilhelm 249, 260 f. – Joachim Christian 157 Berlet, Johann Andreas 277 Bernhard von Clairvaux 103 Bernhard, N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279 Beyer, N. N. (Barbier in Jena) 166 Biedermann, – Friedrich 116, 118 f., 122, 125, 128 – N. N. (Hofschneider in Saalfeld) 117, 122 f. Bielcke, Johann 153 Biereye, Johannes 211, 213, 215 Bisterfeld, Johann Heinrich 246 Blaufuß, Dietrich 102 Blumentrost, – Familie 255 – Laurentius d. Ä. 253–255

312

Personenregister

Bockelem, Johann Wilhelm 269 Bode, Heinrich 129 Böhme, – Anton Wilhelm 43, 229, 249–251, 259 – Erdmann Werner 193 – Jakob 37, 121–123, 127 Bonifatius (Wynfreth) 215 Bonin, – Albrecht Bogislaus von 282 – Ulrich Bogislaus von 227, 234, 236 f. Bonnhorsten, N. N. (Unterstützerin des IJ in Erfurt) 273 Botterweck, Johann Friedrich 130 Brakel, Wilhelmus à 23 Brand, Christian 150–158, 160 Brandenburg-Bayreuth, Sophie Luise, Markgräfin von 199 Brandstein, N. N. (Unterstützerin des IJ in Pößneck) 279 Bray, Thomas 247–249 Brecht, Martin 30 Breckling, Friedrich 248, 259 Breithaupt, Joachim Justus 12, 88 f., 116, 119, 202, 205, 212, 215 Brückner, – Georg Heinrich 88, 205 f. – Hieronymus 134, 249 – Wilhelm Hieronymus 158, 270 f., 280 Brüderlein, N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279 Brumhard, – Johann Sebastian 271, 279, 281 – N. N. (Unterstützerin des IJ in Coburg) 279 – N. N. (Ehefrau von Johann Sebastian Brumhard) 281 Brunchorst, – Christoph 37 f., 71–84 – Martha 73 – Rupert 73 Brunner, Anke 224 Buchen, Christoph 221 Büchner, – Johann Caspar 277 – N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Buddeus, Johann Franz 16, 151 f., 154–156, 158–165, 167, 169 f., 174, 180, 270, 280, 289 Bulle, Christian Gottfried 278 f. Burgstaller, N. N. (Alchemist in Erfurt) 214 f. Bussche, Clamor von dem 129 f. Buttlar, Eva von 15

C Callenberg, – Johann Caspar 276 – Johann Heinrich 12, 16, 19, 265, 267–280, 282–285 Calvin, Johannes 27, 51 Canstein, Carl Hildebrand von 224 Cantemir, Dimitrie 255 Cappelin, Judith (Taufname: Christina Konstantina) 273 Carthaus (Karthaus), – N. N. (Bruder von Peter Caspar) 269 – N. N. (Ehefrau von Peter Caspar) 301 f. – Peter Caspar 269, 273, 301 f. Chamberlayne, John 247, 249 Christ, – Johann Friedrich 270, 280 – N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279 Chrysander, Wilhelm Christian Just 268 Cicero, Marcus Tullius 245 Clarus, Michael Helmond (Pseudonym) → Gleichmann, Johann Zacharias Clauder, Israel 202 Claudian, Claudius 169 Coldewey, Lewin 270 Coler, Johann Christoph 260 Comenius (Komenský), Johann Amos 21, 43, 213, 246, 289 f. Cramer, – Andreas 40 – Johannes Cosmas 110 Crusius, Irenaeus 250 Cyprian, Ernst Salomon 16, 161–163, 167–170, 181, 218, 267, 271, 273 f., 291, 296 D Damius, Otto Christian 286 Dannhauer, Johann Conrad 21 Danz, Johann Andreas 150, 163, 165, 169, 270 David (alttestamentlicher König) 200 David, Christian 293 Diescau, N. N. (Unterstützerin des IJ in Saalfeld) 278 Dippel, Johann Konrad 116 Dober, Martin 293 Dölle, N. N. (Unterstützer des IJ in Greiz) 283 Dositheos (Patriarch von Jerusalem) 257 Dreckmann, Bernhard Georg 129 Dunte, Ludwig 35

Personenregister E Eberhardt, Christoph 256 Eilmar, Georg Christian 195, 198 Einsiedel, N. N. (Unterstützerin des IJ in Erfurt) 273 Elers, Heinrich Julius 12, 215, 228 f., 231 Elia (alttestamentlicher Prophet) 199 Elsner, Bartholomäus 38, 53, 212 Endter (Verleger in Nürnberg) 79 Engau, Christoph Polykarp 273 Engel, N. N. (Unterstützer des IJ in Nordhausen) 286 Erberfeld, Philipp 45 Erdmann, Johann Heinrich 265 Ernst, Jacob Daniel 186, 194 Eusebius, Alethophilus 186 Evenius, Sigismund 73 f. F Fabricius, Johann Jakob 21 Falkner, Daniel 125 Fecht, Johann 164, 181 Feller, Joachim 41 Fende, Christian 131 Fergen, Heinrich 89, 191, 266 Fischer, Christian Friedrich 285 Foertsch, Michael 151–153, 156–158, 163–165 Forstern, Georg von 162 Franck, Edelgard 290 Francke, – Anna Magdalena, geb. von Wurm 206, 229, 231 – August Hermann 12–14, 17, 24, 41–44, 51, 68 f., 85–89, 92, 94, 96 f., 113–119, 121 f., 124–130, 133, 136, 141 f., 145, 157, 169–171, 173 f., 186 f., 190, 194, 197, 199 f., 205–216, 218–240, 243–250, 255 f., 258 f., 262 f., 266 f., 269, 273, 277, 286 f. – Ernst Sigmund 207 – Familie 113, 209 – Gotthilf August 228 f., 280 – Heinrich August 299 – Heinrich Friedrich 258 – Johann 209 f. Fratzscher, – Hieronymus [Heinrich?] Wolfgang 292 f. – Nikolaus 88 Freitag, N. N. (Amtsschreiber in Azmannsdorf) 301 Freudenreich, Abraham 154

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Freylinghausen, Johann Anastasius 12, 88, 205, 214 f., 222 Friedrich I., König in Preußen 268, 273 f. Friedrich II., der Große, König von Preußen 226, 256 Friesen, Carl von 67 Fritsch, – Ahasver 15, 18, 101–112 – Heinrich 104 – N. N. (Bürgermeister in Mücheln) 103 – N. N. (Ehefrau des Bürgermeisters in Mücheln) 103 f. – N. N. (Unterstützerin des IJ in Dornburg) 281 Fritschler, N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Frobenius, N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Fröhlich, N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279 Frommann, Heinrich Christian Immanuel 268 f. Frömmichen, N. N. (Student aus Saalfeld) 117, 121 Fuchs, Samuel Christoph 266 Funck, Johann 104 Furly, Benjamin 248 f., 258 G Geier, Martin 67 Georg von Dänemark, englischer Prinzgemahl 248–250 Gerhard, – Johann 35, 79, 110, 203 – N. N. (Ehefrau des Eisenacher Geheimrats) 280 – N. N. (Geheimrat in Eisenach) 280 Gerlach, N. N. (Unterstützer des IJ in Molschleben) 276 Gierl, Martin 32 Gispachius, Abraham 71, 78, 82 Glaß [Gloß], N. N. (Mediziner in Erfurt) 292 Glassius (Glaß), – Anna-Sophie 76–78 – Anne-Margarethe 76–79 – Balthasar 76 f. – Salomon 37 f., 74–76, 79 f. Gleichmann, Johann Zacharias 276 Gloxin, Anna 210 Glück, Ernst 255 Göbler, N. N. (Unterstützer des IJ in Greiz) 283 Goebel, Max 24

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Personenregister

Goethe, Johann Wolfgang von 24 Gomprecht, Andreas 217 Goodwin, Thomas 239 Gotter, – Gustav Adolf von 295 – Johann Christian 65 Gottschalk, N. N. (Predigtamtskandidat in Erfurt) 293 f., 299 f. Grabs, Gottfried 300 Graetzler, Johann Christian 90 f., 96 Gregorius (Gregorii), Johann Gottfried 252– 254, 259 Grosch, Georg 277, 281 Großgebauer, Theophil 21, 39, 62, 130 Grube, Bernhard Adam 299–301 Grünbeck, – Johann Michael 290 f. – Magdalena Augusta, geb. Naverowsky 290 f., 300 f. H Haase, Wilhelm Edzard 266 Haberkorn, Johann Balthasar 212 Hager, – Abraham Achatius 285 – N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Hahn (Adelsgeschlecht) 130 Hamberger, Georg Albert 154, 159 Hassel, Johann Heinrich 124, 127, 199 f. Haucke, Christoph 117, 120, 123 Haumann, – Christian 256, 269, 281 – Heinrich Ernst 281 Haynisch, N. N. (Rektor in Greiz) 284 Hecker, Johann Wilhelm 174, 180 Hegewer, N. N. (Hauslehrer und Unterstützer des IJ in Coburg) 279 Heidenreich, Johann Ludwig 162 Heimburg, N. N. (Unterstützer des IJ in Jena) 281 Hellmund, Günther Aegidius 187 Helmershausen, Georg Friedrich von 272, 283, 292–294 Henckel, Christian 129 Henckel von Donnersmarck, – Charlotte Maria Albertina Gräfin von, geb. von Leiningen-Dachsburg 282 f. – Erdmann Heinrich Graf von 95, 149, 157, 231, 233 f., 282–284 – Familie 283 Heppe, Heinrich 24 f. Hercker, Johann Christian 187

Hermann, – Friedrich Emanuel 294 f. – N. N. (Ehefrau von Friedrich Emanuel) 294 Herrnschmidt, Johann Daniel 187 Hessen-Braubach, Johann, Landgraf von 83 Hessen-Darmstadt, Dorothea Charlotte, Landgräfin von 224 Hessen-Rheinfels-Rotenburg, Ernst I., Landgraf von 51 Heßling, Elias Johannes 37 f., 75 Heumann, – N. N. (Unterstützer des IJ bei Saalfeld) 278 – Samuel 118 Heusinger, Johann Michael 274, 277 Hildebrand, Johann Wilhelm 275 Hildebrandt, Johann Ulrich 269 f., 280 Hirsch, Emanuel 28 Hoburg, Christian 122 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 45, 148 Hoffmann, – August 272 – Johann 104 – Johann Heinrich Christoph 280 – Paul Christian 282–284 Hofmann, N. N. (Student aus Dinkelsbühl in Jena) 152 Hogel, Zacharias 212 Hohenlohe-Ingelfingen, Maria Catharina Sophia, Gräfin von 229 Hönn, Georg Paul 219, 221 Hörnlein, Michael 104 Hugo, Hermann 45 Huhn, Johann Benjamin 274 Hunnius, Ägidius 30 I Isenburg (Ysenburg)-Büdingen-Büdingen, Ernst Casimir, Graf von 131 f. Isenburg (Ysenburg)-Büdingen-Marienborn, Carl August, Graf von 131 J Jacobi, Johann Adam 275 Jacobs, Friedrich Heinrich 276 Jagow, N. N. (Unterstützer des IJ in Naitschau) 283 Jahn, – Johann Conrad 283 f. – N. N. (Unterstützerin des IJ in Pößneck) 279

Personenregister Jakob (alttestamentliche Vätergestalt) 179 Jerobeam I. (alttestamentlicher König) 179 Jesaja (alttestamentlicher Prophet) 153 Jesus Christus 37, 86, 92, 94, 103 f., 106 f., 109, 112, 120, 130, 142 f., 171 f., 178 f., 228, 232, 267, 297, 299–301 John, Wilhelm Reichhardt 259 Josia (alttestamentlicher König) 179 Juncker, – Johann Georg 276 f. – N. N. (Unterstützer des IJ in Waltershausen) 277 – N. N. (Unterstützerin des IJ in Waltershausen) 277 Jung, Martin 102 K Kaufmann, Thomas 29 f., 32–34, 39 f. Kegel, N. N. (Kantor in Saalfeld) 117 Kellner, N. N. (Unterstützer des IJ in Eisenach) 280 Kellner von Zinnendorf, Johann Wilhelm 187 Kesler, – Johann Conrad 13, 187, 190–192, 194, 196–208, 268 f. – N. N. (Ehefrau und Schwester von Johann Conrad) 206, 208 – N. N. (Unterstützer des IJ in Kleinfahner) 276 Kessler, Andreas 21 Keulen, Eva Susanna 298 f. Kirchhoff, Benjamin David 291 Kirsten, N. N. (Waisenhausinformator in Rudolstadt) 279, 287 Kißner, N. N. (Buchführergeselle in Jena) 153 Klein, N. N. (Medizinstudent in Jena) 152 Klein-Nicolai, Georg (Pseudonym Georg Paul Siegvolk) 148, 234–236 Kleinschmidt, Johannes 148 Klesch, Daniel 104 Klessen, Johann 162, 165 f., 174, 180 Klinger, Andreas 56–60, 62 Kob, Johann Sebastian 279 Koch, Ernst 9, 104, 191 Komenský, Jan Amos → Comenius Köppen, Johann Ulrich Christian 227, 229 Kortholt, Christian 260 Krebs, – Johann Adam 162 – Johann Jacob 194 Kromayer, Johannes 37, 73 f., 84 Krügelstein, David Siegmund 293

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Kühn, N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Kutzbeh, N. N. (Unterstützer des IJ in Hildburghausen) 279 L Lairiz, Johann Georg 173 Lange, – Christiane 292 f. – Johann Christian 115 f., 186, 189, 201 – N. N. (Unterstützer des IJ in Idstein) 284 Langguth, – Familie 300 – Johann Michael d. Ä. 269, 272, 299, 301 – Johann Michael d. J. → Watteville, Johannes von Layritz, Paul Eugen 295 Lehmann, Hartmut 33, 237 Leibniz, Gottfried Wilhelm 246, 254 Lentz, N. N. (Unterstützer des IJ in Köstritz) 282 Leonhardi, Johann Heinrich 152 Lerche, Johann Christian 260 Leube, – Hans 28 – N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279 Liebenroth, Johann Hieronymus 248 f., 258, 278 Lieberkühn, Samuel 281 Liliendahl, Andreas 297 Lindner, – Benjamin 278 f. – Heinrich Gottfried 284 f. Lingke, Johanna Margarethe 213 Littwitz, von (Familie in Coburg) 279 Lobhartzberger, Johann Christoph 76 Loder, Johann Heinrich 267 Löffler, – Anja 238 – Johann Anhard 277 Lohoff, – Johann Salomo Wilhelm 300 – N. N. (Bader in Erfurt, Vater von Johann Salomo Wilhelm) 300 Löscher, – Christian Wilhelm 176 f., 180 – Valentin Ernst 29, 164, 173, 180 Löwe, N. N. (Schulmeister und Unterstützer des IJ in Straußfurt) 287 Lückard, N. N. (Knopfmacher in Gotha) 300

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Personenregister

Lüdecke, Anton Günter Urban von 296 Ludolf, – Heinrich Wilhelm 248–252, 255, 257–259, 262 – Hiob 249, 254 Ludwig XIV., König von Frankreich 192 f. Luh, Jürgen 226 Luhmann, Niklas 72 Lully, Jean-Baptiste 192 f. Luther, Martin 37, 40, 43 f., 73, 75, 79, 87, 92, 94, 108, 189, 203 f., 206, 215 Lütkemann, Joachim 39, 110, 112 M Manger, N. N. (Kaufmann in Den Haag) 278 Manitius, Johann Andreas 278, 280 Marci, Johann 104 Marschall, – Friedrich August von 285 – Friedrich Gotthilf von 170, 280 Martin, Johann 237 Martini, – Christoph 234 f. – Georg Caspar 294 f. – Johann Benjamin 276 – Peter Christoph 282 Maser, Anton 118 Matthias, Markus 30, 33, 36 May, Johann Heinrich d. Ä. 130, 266 f. McIntosh, Terence 73 Meckbach, N. N. (Unterstützerin des IJ in Mühlhausen) 285 Mecke, Wilhelm 248 Mehder, Johann Christoph 247–249, 255 Meidinger, – Georg 91 f. – Johann Wendelin 91 Meisel, Johann Andreas 208 Meisner, Balthasar 21 Meissenbong, N. N. (Ehefrau eines Oberleutnants in Erfurt) 273 Meister, Georg 247 Melle, N. N. (Unterstützer des IJ in Camburg) 281 Mengershausen, – Familie 301 – Martha Sophie, geb. Freitag 301 Mentz, Georg 65 Mertz, Justus 253 Metting, Johann Jacob 131 Micha (alttestamentlicher Prophet) 199 Michaelis, Johann Heinrich 278 Milde, Heinrich 270

Mohnhaupt, Georg Heinrich 298, 300 Molière, eigentlich Jean-Baptiste Poquelin 192 Möller, Johann Melchior 269, 272 f., 292 f., 295, 298 f. Molwitz, Johannes 104 Mönch, Johann Siegmund 162 Mori, Ryoko 114, 116 Moses, Simon 279 Müller, – Heinrich 39, 110, 276 – Johann 265–267, 269, 275, 281 – Johann Christian Daniel 287 – Johann Georg 158 – Johannes 21 – N. N. (Kaufmann und Unterstützer des IJ in Greiz) 284 – N. N. (Unterstützerin des IJ in Pößneck) 279 – Petrus 104 – Sebastian 276 Münch, N. N. (‚Oberaufseher‘ in Jena) 155 Münchhausen, N. N. (Hausgenosse von Johann Franz Buddeus in Jena) 170 Müntzer, – Nikolaus 117, 120, 123 – Thomas 23 Musäus, Johann 165 N Natzmer, – Dubislav Gneomar von 270 – Karl Dubislav von 270 Nehring, Johann Christian 276 Nehrlich, Hans Ludwig 88 Neubauer, Georg Heinrich 215, 222, 229, 231 Neumann, N. N. (Ehefrau eines Strumpfwirkers in Weimar) 176 Nitsch, Georg 265, 274 Nitschmann, David 292 f., 298 N. N., Marcus (Bauer aus Erfurt) 292 f. O Oehler, N. N. (Unterstützer des IJ in Greiz) 284 Oetinger, Friedrich Christoph 293 Olearius, Johann 89 Olischer, Johann Balthasar 284 Orlich, Gottfried Valentin 284 Orthausen, Johann Georg 292 f. Osswald, Johann Benjamin 283 Ostermann, Johann Lorenz 219, 221

Personenregister P Panckewitz, N. N. (Unterstützerin des IJ in Gera) 285 Pasch, Johann 186 Paulus (Apostel) 92 Pečar, Andreas 226 Peschke, Erhard 69, 195 Petermann, Kurt 186 f., 201 Petersen, – Johann Wilhelm 115, 125 f., 148, 224, 236, 267, 274 – Johanna Eleonora 115, 125, 205, 225, 236 – N. N. (Unterstützer des IJ in Nordhausen) 286 Pfalz-Zweibrücken, Christian IV., Herzog von 276 Pfeiffer, N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Pommer, – Johann Konrad 258 – Kaufmannsfamilie in Venedig 258 Poppe, Christoph Friedrich 178 f. Porst, Johann 92, 97 Posner, Johann Caspar 155 Pritius, Johann Georg 274 Promnitz, Balthasar Friedrich, Graf von 295 R Rambach, Johann Jakob 12 Ramsdorf, N. N. von (Adliger in Köstritz) 232 Rantzau, Erich von 297 Rathen, N. N. von (Unterstützerin des IJ in Erfurt) 272 Ratke, Wolfgang 21 Ravius, Christian 254 Rehabeam (alttestamentlicher König) 179 Reibstein, Hieronymus 275 f., 280 Reichmuth, Johann 256 Rein, Ernst Günther 283 Reineck, – Henrich Christoph 131 – Konrad Valentin 131 Reinhard, – Johann Balthasar 286 – N. N. (Hauptmann und Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 – N. N. (Kämmerer in Lobenstein) 237 – N. N. (Stadtsyndikus und Unterstützer des IJ in Erfurt) 272 Reinhardt, Johann Friedrich 292–294 Reiß, – Christian Jacob 286

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– Johann Bernhard 286 Reuß-Ebersdorf, – Erdmuthe Benigna, Gräfin von 229, 234, 236 f., 282 – Ernestine Eleonore, Gräfin von 230 – Heinrich XXIX., Graf von 133, 234 Reuß-Gera, Heinrich XVIII., Graf von 221, 230, 232 Reuß-Köstritz, – Heinrich XXIV., Graf von 132–134, 136, 169, 224 f., 230–233, 282, 284 – Maria Eleonore Ämilie, Gräfin von 230 Reuß-Lobenstein, – Heinrich XV., Graf von 233, 238 – Heinrich XXIII., Graf von 223, 226–228, 231, 233–240 Reuß-Obergreiz, – Heinrich I., Graf von 132 f. – Heinrich II., Graf von 132 f., 138, 140, 229 f., 233, 239 – Heinrich VI., Graf von 133 – Heinrich XI., Graf von 284 – Henriette Amalie, Gräfin von, geb. von Friesen 132 f. – Sophie Charlotte, Gräfin von, geb. von Bothmer 231, 233 Reuß-Schleiz, – Auguste Dorothea, Gräfin von, geb. von Hohenlohe-Langenburg 230, 232, 284 – Christina, Gräfin von, geb. von Erbach-Schönberg 284 f. – Heinrich XI., Graf von 230 Reuß-Untergreiz, Heinrich XIII., Graf von 230 f., 240 Reyher, Andreas 14, 210 f., 245 f. Ribbeck, N. N. (Hausgenosse von Johann Franz Buddeus in Jena) 170 Rieger, Miriam 92, 189, 191 Rinck, N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279 Rinhuber, Laurentius 253 f., 258 Rit, N. N. (Unterstützer des IJ in Saalfeld) 278 Ritschl, Albrecht 24 f., 102 Roda, Wolfgang Friedrich von 116, 118–120, 122, 124 f. Roentgen, David 297 Rombout, Isaak 258 Rosa, Andreas 162 Rößler, Johann Gottlieb Wilhelm 272, 292 Roth, N. N. (Unterstützerin des IJ in Pößneck) 279

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Personenregister

S Sachsen, – Johann Georg I., Kurfürst von 66 – Johann Georg II., Kurfürst von 66 f. – Johann Georg IV., Kurfürst von 247 Sachsen-Altenburg, – Elisabeth, Herzogin von, geb. von Braunschweig-Wolfenbüttel 76 – Friedrich Wilhelm II., Herzog von 64 Sachsen-Coburg, – Albrecht, Herzog von 127 – Johann Casimir, Herzog von 55 Sachsen-Eisenach, – Albrecht, Herzog von 64 – Johann Georg I., Herzog von 67 – Johann Wilhelm, Herzog von 155 f., 159, 161–163, 166 f., 169 Sachsen-Gotha(-Altenburg), – Ernst I., der Fromme, Herzog von 13 f., 21, 36, 38 f., 43 f., 51–69, 71, 73–75, 81, 83, 146, 192, 210 f., 217, 245 f., 253 f., 266 – Friedrich I., Herzog von 66 f., 192 f. – Friedrich II., Herzog von 170, 173, 193, 216, 218, 266, 273 f. – Friedrich III., Herzog von 296 – Magdalena Augusta, Herzogin von, geb. von Anhalt-Zerbst 291 – Magdalena Sibylla, Herzogin von, geb. von Sachsen-Weißenfels 66 f. Sachsen-Meiningen, Elisabeth Ernestine Antonie, Prinzessin von, Äbtissin von Gandersheim 269 Sachsen-Merseburg, Christian I., Herzog von 66 f. Sachsen-Saalfeld, – Christian Ernst, Herzog von 15, 270 f., 278 f. – Johann Ernst, Herzog von 114, 117 f., 121, 124 f., 127 f. Sachsen-Weimar, – Johann Ernst II., Herzog von 66 f. – Wilhelm Ernst, Herzog von 161 f., 171, 173–180 – Wilhelm IV., Herzog von 53, 64, 73 f. Sachsen-Weißenfels, August, Herzog von 66 f. Sachsen-Zeitz, Moritz, Herzog von 66 f. Sachsse, Eugen 102 Sagittarius, Caspar 22, 42, 86, 113, 150, 200 Salmen, Walter 203 Saltzmann, N. N. (Bäcker in Laubach) 236 Sandhagen, Caspar Herrmann 166 Saubert, Johann d. Ä. 21

Sauerbrey, Johann Matthäus 274 f. Schachmann, Carl Adolph Gottlob von 294 f. Schade, Johann Caspar 92, 116 Schäfer, N. N. (Student aus Franken in Jena) 152 Schall (Verleger in Gotha) 79 Scharschmid, – Familie 261 – Justus Samuel 255, 259 – Samuel 256 Scheeler, Johann Heinrich 279 Schelwig, Samuel 165 Schick, N. N. (Herrnhuter im Erfurter Raum) 300 f. Schilling, – Familie 125 – Hans Georg 117, 120 – Hans Nikolaus 115–121, 123–127 – Johann Andreas 115–119, 121 f., 124–128 Schlesien-Liegnitz-Brieg, Johann Christian von 36 Schlumpf, N. N. (Unterstützerin des IJ in Camburg) 281 Schmid, Heinrich 24, 102 Schmidt, – Johann 35 – Johann Eusebius 277 – Kurt 209 – N. N. (Dr. in Jena) 154 – N. N. (Unterstützer des IJ in Stein bei Camburg) 281 Schmit, Georg Jakob 155 Schmitt, Wolfgang 185 Schmutzer, N. N. (Kanzleisekretär in Weimar) 178 Schneider, – Hans 25 f. – N. N., geb. Heimburg (Unterstützerin des IJ in Gotha) 275 – Wilhelm Christian 221, 258, 260 Schönburg-Waldenburg – Christian Heinrich, Graf von 239 – Friederike Auguste, Gräfin von 239 Schorch, Hieronymus Friedrich 295 Schorn-Schütte, Luise 71 f., 83 Schramm, – Jakob 280 – Liborius 280 Schröter, Johann Christian 159 Schultz, Stephan 268, 275 Schultze, – Dorothea Margaretha 218

Personenregister – N. N. (Unterstützer des IJ in Gotha) 275 – Otto Christoph 218 Schupp, Johann Balthasar 21, 83 Schurzfleisch, Heinrich Leonhard 176 f. Schüßler, – Christian 286 – Otto Wilhelm 286 Schuster, Susanne 102 f., 112 Schwäger, N. N. (Färber und Unterstützer des IJ in Sondershausen) 287 Schwarzburg-Rudolstadt, – Aemilie Juliane, Gräfin von 101–103 – Albert Anton, Graf von 104 Schwarzburg-Sondershausen, Heinrich XXXV., Fürst von 178 Schwarzenfeld, N. N. (Unterstützerin des IJ in Erfurt) 273 Schwartzenfeld, Familie (Unterstützer des IJ in Altenberga) 278 Seckendorff, Veit Ludwig von 14, 35, 39, 245 Seebach, – Christoph 267 – N. N. von (Ehefrau eines Generals und Unterstützerin des IJ in Großfahner) 275 Seidel, Christoph Matthäus 187 Serkova, Polina 32 Shantz, Douglas 83 Siegvolk, Georg Paul → Klein-Nicolai, Georg Silber, – Johann Christoph 269, 272 – Johann Heinrich 269 – N. N. (Ehefrau von Johann Christoph) 272 – N. N. (Unterstützerin des IJ in Erfurt) 273 Slare, Frederick 251 Söffing, Justus 104 Sommer, – Christoph 104 – Wolfgang 33 f. Spangenberg, August Gottlieb 271, 280 f., 293 Sparn, Walter 30 Spener, Philipp Jakob 22–24, 28, 38–43, 45 f., 83, 88, 101, 103–105, 107, 111 f., 114, 116–118, 129 f., 136, 139, 144, 194, 202, 205, 224, 229, 235, 245, 266, 274 Stammler, Georg Matthäus 277 Stange, N. N. (Unterstützer des IJ in Nordhausen) 286 Starckloff, Johann Georg 275 Steckichten, N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279

319

Stenger, – Johann Melchior 23, 42 – Nicolaus 53 f., 212, 214 Sternbeck, – Johann David 117, 121 – Paul 114, 117, 121–124, 127 f. Stichling, N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Stieler/Stiler, N. N. (Dr., Konventikelbesucher und Unterstützer des IJ in Erfurt) 273, 292 Stockmann, Anna Ursula 117 f. Stolberg-Wernigerode, Christian Ernst, Graf zu 270 Stolle, N. N. (Unterstützer des IJ in Hildburghausen) 279 Stolte, – Catharina Elisabeth, geb. Berchelmann 149, 157, 171 – Christiane Hedwig 157, 178 f. – Johann 150 – Johann Ernst 18, 149–181, 250 – Johann Ernst August 157, 178 f. – Sophie Friederike 157, 178 f. Strähler, Christian 286 Sträter, Udo 32 Straus, N. N. (Student in Jena) 152 Strom, Jonathan 40 Struve, – Burkhard Gotthelf 157, 160 f., 166 – Christian Gottlob 163 f. Stryk, Samuel 130 Stuss, Johann Heinrich 274 Stützung, N. N. (Unterstützer des IJ in Greiz) 283 Suhl, N. N. (Unterstützer des IJ in Nordhausen) 286 Süsse, Heinrich 248 Syburg, N. N. von 229 T Taatz-Jacobi, Marianne 31, 212 Tattenbach, N. N. von (Komtessen in Schleiz) 230 Tauler, Johannes 103, 112 Teellinck, Willem 39 Tennhardt, Johann 267 Tersteegen, Gerhard 45 Thielemann, N. N. (Unterstützer des IJ in Gotha) 275 Tholuck, August 24 Thomas von Aquin 245 Thomasius, Christian 125 f., 273 Thüringen, Ludwig IV., Landgraf von 216

320

Personenregister

Trautmann, N. N. (Unterstützer des IJ in Pößneck) 279 Trauzettel, Holger 44 Trebß (Trebus), Christoph 151 Treuner, – Johann Christoph 104 – Johann Philipp 151 f., 158, 173, 176, 178–180 Tribbechow, – Adam 250 – Friedrich 250 – Johann(es) 205 f., 249–252, 257, 259 Trier, Georg Albrecht 162 Triplier, Johann 121–123, 127 Troeltsch, Ernst 29 Türck, N. N. (Unterstützer des IJ in Coburg) 279 Turner (Kaufmannsfamilie in Smyrna) 257 U Undereyck, Theodor 45 Uthesius, Joachim 155, 174 f., 178 f. V Van de Kamp, Jan 39 Van Lieburg, Fred 27, 30, 46 Vend, Familie (Unterstützer des IJ in Altenberga) 278 Ven(d)t, Lambert 157 Vierorth, Albert Anton 256, 269 Vieth, N. N. (Student aus Holstein in Jena) 152 Vockerodt, – Familie 12, 261 – Gottfried 13 f., 89–92, 189–192, 205, 207 f., 246, 252, 265–268, 280 – Johann Dietrich 252 f., 259 – Johann Ernst 269, 285 f. – Johann Gotthilf 255, 259 Voetius, Gisbert 198, 200, 204 Vogel, – Heinrich Tobias 234, 237 – Johann Wilhelm 261 Völker, N. N. (Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 W Wagner, – Erich 102 – J. M. (Unterstützer des IJ in der Levante) 278 – Johann Caspar 284 – N. N. (Unterstützer des IJ in Ulm) 281

Waitz, – Heinrich Sigismund 290 – Jacob Sigismund 275 Walbaum, Anton Heinrich 16, 270 f., 278 f. Walch, Johann Georg 270 f., 280 Waldeck, – Christian Ludwig, Graf von 129 f., 136 f. – Friedrich Anton Ulrich, Graf von 131, 137, 148 – Johannette, Gräfin von, geb. von Nassau-Idstein 130 f. Wallmann, Johannes 28 f., 34, 38, 46, 103, 150 Walther, – Andreas 301 f. – Regina Christiane, geb. Carthaus 301 f. – Samuel Benjamin 270 Wandersleben, Martin 38 Wansleben, Johann Michael 254, 258 Watteville, Johannes von, geb. Johann Michael Langguth 299–301 Weida, N. N. (Rektor und Unterstützer des IJ in Erfurt) 273 Weigel, Valentin 121, 127 Weißenborn, N. N. (Student in Jena) 163 Wermuth, Christian 274–276 Werthern, – Johann Friedrich von 178 f. – N. N. (Ehefrau von Johann Friedrich) 178 Wetterkampf, Christoph 187, 194, 205 f. Whaley, Joachim 83 Widmann, Johann Georg 278 Wiegleb, – Anna Catharina 95 – Johann Andreas 95 – Johann Hieronymus 13, 22, 85–97, 190–192, 194, 197, 199, 201 f., 204–208, 215, 265 f., 268 Wigers, Jakob Bruno 248 f., 255 Winckler, Johann Peter Siegmund 271, 280 f. Wintz, N. N. (Unterstützer des IJ in Camburg) 281 Wiß, Johann Balthasar 280 Witschel, Johann Jakob 269, 272 Witt, Ulrike 157 Wittig, N. N. (Unterstützerin des IJ in Kleinfahner) 276 Wohlson, – Anne Dorothea, geb. Schaef 300 – Anne Maria 300 – Familie 300 f. – Johann Andreas 300

Personenregister Wöllner, Poppo Sebastian 90, 96 Wotschke, Theodor 11 f., 102, 113–115 Würth, N. N. (Unterstützer des IJ in Camburg) 281 Württemberg, Eberhard Ludwig, Herzog von 232 Y Ysenburg-Büdingen → Isenburg-Büdingen Z Zandt, N. N. (Student in Jena) 153 Zanthier, Eva Anna von 273 Zapf, Nicolaus 65 Zeller, – N. N. (Amtmann in Ebersdorf) 236 – Winfried 28, 36 Zembsch, Johann Conrad 235 f.

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Zerbst, Johann Christoph 156 Ziegenhagen, Friedrich Michael 251 Ziegler, N. N. von (Ratsherr und Unterstützer des IJ in Erfurt) 272 Ziesenis, Johann Georg 297 Zimmermann, Johann Liborius 270 Zinck, Justus Christoph 260 Zinzendorf, – Christian Renatus, Graf von 16, 291, 299 – Erdmuthe Dorothea, Gräfin von, geb. von Reuß-Ebersdorf 133, 295 – Karl, Graf von 290 – Nikolaus Ludwig, Graf von 16, 45, 133, 289–296, 300 – N. N. (Unterstützerin des IJ in Camburg) 281 Zülich, Michael 154–157, 160, 167

ORTSREGISTER Nicht aufgenommen wurden Begriffe wie „Thüringen“, „Deutschland“, „Europa“ etc. A Adrianopel → Edirne Afrika (Nordafrika) 278 Aleppo → Halab Altdorf 229 Altenberga 271, 278 Altenburg 15, 118–122, 124–127, 162, 186, 194, 216, 253, 255, 259 Altengottern 285 f. Altes Reich → Heiliges Römisches Reich deutscher Nation Amerika (Nordamerika) 250, 296, 300 Amsterdam 21, 217, 281 Anklam 155 Ansbach 229, 271 Arnstadt 12, 218, 255 Astrachan 255 Äthiopien 254, 257 Augsburg 75, 152, 173, 186 f., 217, 280 Azmannsdorf 301 B Bad Berleburg 267 Bad Frankenhausen 220 Bad Langensalza 195–198, 218, 296, 301 Bad Tennstedt 251 Baltikum 153, 258, 268 f. Basel 210 Bayern 225, 276 Bayreuth 199 Berge, Kloster 136 Bergisches Land 45 Berleburg → Bad Berleburg Berlin 12, 25, 92, 97, 187, 207, 223 f., 229, 268, 270 Berthelsdorf 289 Bleicherode 286 f. Böhmen 289 Bollstedt 285 Brandenburg-Ansbach, Markgraftum 224

Brandenburg-Preußen, Kurfürstentum/ Königreich 68, 164, 212, 226, 268, 270, 273 Braunschweig 217 Braunschweig-Lüneburg (Kurhannover), Kurfürstentum 296 Brieg → Brzeg Brotterode 280 Brzeg (Brieg) 278 Büdingen 129, 131, 186 f. Burgau 163 Burgtonna 277 C Camburg 281 Caselwitz 283 Ceylon 295 China 254 Coburg 124, 161, 168, 198, 271, 279, 296 f. D Dänemark 248 f., 270 Danzig → Gdańsk Den Haag 278 Dinkelsbühl 152 Dornburg 281 Drackendorf 270 Dresden 40, 55, 233, 247, 252, 274, 284 E Ebersdorf 225, 227, 229–236, 239, 296 Edirne (Adrianopel) 258 Eichsfeld 73, 218 Eisenach 12, 15, 152–159, 161–163, 165–170, 174, 181, 217, 219, 274, 276, 280, 289 Eisfeld 21, 279 Eisleben 220 Ellrich 249, 286 England 24, 26, 46, 239, 248, 251 f., 255, 257 f., 261 f., 292 Ephesus 109

324

Ortsregister

Erbach 232 Erfurt 10, 12, 15, 18, 21, 23, 38, 41, 44, 53, 69, 73, 86–89, 113, 115–119, 124, 127, 155, 211–216, 222, 245, 248 f., 255, 263, 269, 272 f., 277, 287, 289, 292–296, 298–302 Esens 260 Estland 269 F Flechtdorf 135 f. Franken 152, 181, 278, 284 Frankenhausen → Bad Frankenhausen Frankfurt/Main 39 f., 131, 186, 217, 224, 235, 283 Frankfurt/Oder 267, 274 Frankreich 192 f., 200, 276 Freyburg/Unstrut 151 Friedrichswerth 218, 222 Fröbersgrün 283 G Garnbach 269 Gdańsk (Danzig) 210 Gebesee 273 Genf 51, 254 Gera 221, 225, 232 f., 239 f. Gießen 115, 130, 186, 189, 205 f., 229, 267 Glaucha 14, 43 f., 51, 68 f., 85, 145 f., 207, 209, 211–222, 224, 235 f., 243–245, 247–249, 255–257, 259, 262 f., 266 f., 269, 272, 282, 286 Gnadenthal → Neudietendorf Gotha 12–16, 18, 22, 36–39, 41, 43 f., 51, 53, 61, 65–69, 71 f., 74 f., 79, 83–92, 96 f., 113 f., 117, 121, 146, 155 f., 161–163, 165, 167, 169 f., 173 f., 181, 188–199, 205, 207, 209–211, 213, 215–218, 222, 245 f., 249 f., 252, 254 f., 258–260, 263, 265–269, 272–281, 287, 289–292, 295 f., 300–302 Göttingen 296 Grabsleben 257 Gräfentonna 276 Greiz 131–133, 135, 137, 139, 141–148, 181, 220, 225, 230 f., 234, 237 Großfahner 275 f. Guinea 280 Günthersleben 37 H Hachenburg 232, 239 Halab (Aleppo) 259, 278

Halberstadt 123 Halle/Saale 11–18, 24, 41, 44 f., 52, 66 f., 69, 85, 87, 89, 93, 96 f., 104, 115, 117, 119, 124 f., 127, 129–131, 133 f., 142, 147 f., 152, 154, 164, 168 f., 176, 181, 186, 189, 192–194, 205, 209, 211 f., 215 f., 219 f., 223–226, 228 f., 231, 233–236, 238 f., 243–251, 255, 257–260, 262 f., 265–271, 273–280, 282–284, 286 f., 290 f., 293 Hamburg 21, 69 Hannover 136, 297 Hanstein 73 Harz 10, 41 Haßleben 298 Heidelberg 278 Heiligenstadt 218 Heiliges Land → Palästina Heiliges Römisches Reich deutscher Nation (Altes Reich) 11, 15 f., 24, 44, 52, 131 f., 181, 210, 216, 218, 225, 227, 229, 232, 239, 260 f., 284, 289 Helmstedt 268 Henneberg, Grafschaft 296 Herbsleben 258 Herleshausen 273 Herrnhaag 299–301 Herrnhut 16 f., 19, 24, 45, 269, 278, 281, 289–295, 297–302 Hessen 225 Hessen-Darmstadt, Landgrafschaft 260 Hessen-Homburg, Landgrafschaft 210 Hessen-Kassel, Landgrafschaft 51, 284, 296 Hildburghausen 218, 275, 279 Hochstedt 298 Hoh[e]nstein, Grafschaft 286 Hohenkirchen 277, 281 Hohenmauth → Vysoké Mýto Hohenpreis 233, 238, 240 Hohlstedt 73 f. Holland → Niederlande Holstein 152 I Idstein 284 Indien 249, 282 Ingelfingen 232 Isenburg-Büdingen, Grafschaft 131 f. Island 295 İstanbul (Konstantinopel) 254, 256, 258 f., 278 İzmir (Smyrna) 257–259

Ortsregister J Jena 12, 16–18, 61, 73 f., 85 f., 104, 113, 126, 127, 149–151, 153, 155–162, 164–171, 173 f., 177, 179–181, 250, 252, 258 f., 269–271, 275, 277, 279–281, 283–285, 287, 289 f., 292 f., 296, 298–300, 302 Jerusalem 171 f., 257, 274 K Kaliningrad (Königsberg) 210 Kamsdorf 163 Karsdorf 150 Kassel 51 Kleinfahner 274, 280 København (Kopenhagen) 229 Köln 185 Königsberg → Kaliningrad Konstantinopel → İstanbul Kopenhagen → København Köstritz 170, 224–226, 228, 231 f., 239, 282 f. Kötschau 73 f. Kranichfeld 63 Kurhannover → Braunschweig-Lüneburg Kurland 155 Kurmainz → Mainz, Kurfürstentum Kursachsen → Sachsen, Kurfürstentum L Langendorf 221 Langensalza → Bad Langensalza Lappland 295 Laubach 232, 236, 274 Lausitz 224 Leiden 210 Leipzig 41, 43 f., 55, 67, 69, 112–118, 122, 124, 127 f., 186 f., 212, 215, 217, 270, 278, 284 Levante 254, 256–258 Livorno 258 Lobeda 163 London 43, 229, 243 f., 247–252, 257–260, 262 f. Lübeck 40, 115, 210 Lüneburg 88, 123 Lützen 53 M Magdeburg 67, 136, 211 Mähren 289 Mainz, Kurfürstentum (Kurmainz) 10, 211, 292, 296 Marienborn 298

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Mechterstädt 277 Mecklenburg 12 Mehlis 277 Meiningen 166, 219, 221, 260 Mellingen 104 Mengeringhausen 129 Merseburg 41, 252 Minden 150 Moldau 255 Molschleben 12, 267, 276 Morl 276 Moskau → Moskva Moskva (Moskau) 243 f., 252–256, 258 f., 262 f. Mücheln 103 Mühlhausen 10, 12, 40, 195, 219, 222, 252 f., 285 Mülheim/Ruhr 45 Münster 23 N Naitschau 282 f. Naumburg 154, 289 Neudietendorf (Gnadenthal) 291, 295–299, 301 f. Neuwied 287 Niederlande 23 f., 26 f., 39, 213, 215, 248, 250, 258, 261, 278 Niederlausitz 278 Niederndodeleben 115, 125 Niedersachsen 168, 270 Nordafrika → Afrika Nordamerika → Amerika Norddeutschland, Nordwestdeutschland 153, 181 Nordeuropa 289 Nordhausen 219–222, 249, 285–287 Nördlingen 53 Nürnberg 21, 79, 187, 229, 278 O Obergreiz → Reuß-Obergreiz Oberlausitz 15 f., 289 Oberrheingebiet 250 Odenwald 225, 233 Ohrdruf 266, 276 Osmanisches Reich 254, 256 f. Ostfriesland 221, 260, 270 Ostindien → Indien

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Ortsregister

P Palästina (Heiliges Land) 256 Paris 210 Persien 254 Pferdingsleben 86 Philadelphia 250 Polen 164 Pölzig 233 f., 239, 282–284 Pößneck 18, 113–128, 270, 278–280 Prag → Praha Praha (Prag) 73 Prenzlau 280 Preußen → Brandenburg-Preußen Q Quedlinburg 123, 255 R Ranis 279 Ratzeburg 210 Ravensberg, Grafschaft 129 Regensburg 260, 278 Reich → Heiliges Römisches Reich deutscher Nation Reichenbach i. Vogtland 284 Reuß, Grafschaften 18, 129, 138, 223–226, 229 f., 232–234, 239, 282, 287, 296 Reuß-Ebersdorf, Grafschaft 16, 133, 229, 237, 271, 282, 287, 289, 298 Reuß-Gera, Grafschaft 132, 221, 230, 233, 282, 285, 287 Reuß-Greiz, Grafschaft 132 f., 282–284, 287 Reuß-Köstritz, Grafschaft 132 f., 224, 235, 282 f., 287 Reuß-Lobenstein, Grafschaft 132, 223, 226–228, 233–238, 240, 282, 284, 287 Reuß-Obergreiz, Grafschaft 129, 131–139, 141, 145, 147 f., 229, 231–235, 239, 282 f., 287 Reuß-Saalburg, Grafschaft 132 Reuß-Schleiz, Grafschaft 132, 230, 282, 284 f., 287 Reuß-Untergreiz, Grafschaft 133, 230, 232 f., 240 Riddagshausen 136 Rinteln 129 Rostock 21, 39, 130, 164, 181 Rotterdam 248 f., 258, 262, 278 Rudolstadt 15, 17, 101–105, 112, 279, 287 Ruhla 280 Russland, Russisches Reich 252 f., 254 f., 269, 273

S Saalfeld 113–115, 117 f., 121–123, 125, 127 f., 132, 255, 270 f., 278 f. Sachsen, Kurfürstentum (Kursachsen) 54–56, 67, 84, 103, 212, 230, 247, 253, 261, 296 Sachsen-Altenburg, Herzogtum 64, 67, 69, 76 Sachsen-Coburg, Herzogtum 55, 65, 67, 69, 127, 279 Sachsen-Eisenach, Herzogtum 64, 67, 69, 153, 162, 279 f. Sachsen-Gotha(-Altenburg), Herzogtum 12 f., 15, 18, 36, 52, 56 f., 59 f., 63–69, 74, 146, 162, 170, 209–211, 216–218, 245, 249, 253–255, 257, 262, 266, 275 f., 287 Sachsen-Meiningen, Herzogtum 162 Sachsen-Merseburg, Herzogtum 66 f., 69 Sachsen-Saalfeld, Herzogtum 15, 114, 278, 287 Sachsen-Weimar, Herzogtum 53, 64–67, 69, 74, 162, 277 Sachsen-Weißenfels, Herzogtum 66 f., 69, 276, 287 Sachsen-Zeitz, Herzogtum 66, 69 Schleiz 225, 229–233, 239 f. Schlesien 23, 132, 224, 260, 282 Schönbrunn → Słotwina Schöps 163 Schwäbisch Hall 186, 229 Schwarzburg-Rudolstadt, Grafschaft/ Fürstentum 18, 101 f., 104 Schwarzburg-Sondershausen, Fürstentum 178, 286 f. Schweina 218 Schweinfurt 164 Seeburg 130 Siebleben 277 Słotwina (Schönbrunn) 278 Smyrna → İzmir Solms-Laubach, Grafschaft 229, 236 Sömmerda 248, 269 Sondershausen 218, 274, 287 Sorau → Żary Stettin → Szczecin Stolberg 271 Stolberg-Wernigerode, Grafschaft 11 Strasbourg (Straßburg) 21, 217 Straßburg → Strasbourg Straußfurt 287 Stuttgart 21, 232 Südafrika 295 Süddeutschland 253 Sulechów (Züllichau) 221

Ortsregister Sülzenbrücken 255 Sundhausen 208, 301 Surinam 293 Szczecin (Stettin) 253 T Tanna 284 f. Tennstedt → Bad Tennstedt Trento (Trient) 245 Trient → Trento U Ulm 233 V Veltheim 150 Venedig → Venezia Venezia (Venedig) 258, 260, 262, 278 Verden 150 Versailles 192 Vogtland 229, 231–233, 282 Vysoké Mýto (Hohenmauth) 278 W Waldeck, Grafschaft 11, 18, 129–132, 134–137, 139–148 Waldheim 217 Walschleben 299 f. Walsrode 150 Waltershausen 208, 275–277 Weida 132

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Weimar 65, 72–74, 83, 104, 149, 161 f., 165 f., 170–180, 211, 218, 260, 272, 279 f., 283, 292 Weißenfels 192, 195, 221 Wernigerode 270 f. Wesel 45 Westerwald 225, 233 Wetterau 224 f., 233 Wien 130 Wiesbaden 232 Wittenberg 21, 37, 55, 171, 173, 279, 284 Wittstock 23 Wolfenbüttel 39, 123, 192 Wölfis 280 Württemberg, Herzogtum 24, 37, 45, 57, 62, 225, 232, 284 Würzburg 217 Y Ysenburg-Büdingen → Isenburg-Büdingen Z Zarenreich → Russland Żary (Sorau) 278 Zella 277 Zenta 133 Zerbst 207 Zeulenroda 133, 148, 233 f., 282 Züllichau → Sulechów Zwickau 283

Der Pietismus auf dem Gebiet des heutigen Thüringen ist bislang ein wenig bearbeitetes Thema. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes untersuchen die thüringischen Ursprünge dieser protestantischen Reformbewegung sowie ihre Ausstrahlungen und Wirkungen in Deutschland und Europa zwischen 1650 und 1750. In ihren Beiträgen vermessen die internationalen Expertinnen und Experten das Forschungsfeld, markieren Desiderate, verweisen auf reichhaltige

Quellenbestände und umreißen die besondere Bedeutung Thüringens für den Pietismus. Aufgrund des interdisziplinären Ansatzes – von der Kirchengeschichte über die Allgemeine Geschichte bis hin zu den Literaturwissenschaften – bietet der Band einen multiperspektivischen Zugriff zwischen traditioneller Pietismusforschung, Sozial- und Kulturgeschichte sowie Religions- und Kommunikationsgeschichte.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12171-2

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