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German Pages 744 [746] Year 2017
Pietismus
Pietismus Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts
Herausgegeben von Veronika Albrecht-Birkner, Wolfgang Breul, Joachim Jacob, Markus Matthias, Alexander Schunka und Christian Soboth
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GELEITWORT
Diese Anthologie entstand mitten aus der aktuellen Forschungsdiskussion über den Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts heraus. Sie präsentiert keinen längst etablierten Kanon der in den Geschichten des Pietismus als programmatisch oder zumindest zentral eingestuften Texte, auch wenn auf solche natürlich nicht verzichtet worden ist, sondern greift weit darüber hinaus auf Quellen zurück, die erst in der neueren und gegenwärtigen Forschung entdeckt und in ihrer Relevanz für die Beantwortung der immer wieder Kontroversen auslösenden Frage, „was denn der Pietismus sey“ (August Hermann Francke, 1706), wahrgenommen werden. Insofern sind nicht nur Publikationen der damaligen Akteure herangezogen worden, die sich an eine entstehende, nicht mehr nur akademische Öffentlichkeit richteten, sondern auch Dokumente der internen Diskurse wie Briefe, vertrauliche Aufzeichnungen und Sitzungsprotokolle, die bisher nur handschriftlich in Archiven zugänglich sind. Es geht allerdings keineswegs um eine eindimensionale Verbreiterung der Quellenbasis auf der Grundlage konventioneller PietismusKonzepte. Entscheidend ist vielmehr, dass die Pietismusforschung zunehmend interdisziplinär geworden ist und im Kontext gegenwärtiger Forschungsfragen Themen aufwirft, die zuvor nicht oder nur marginal behandelt worden waren. Die einzelnen Rubriken dieser Anthologie sprechen für sich. Damit ergaben sich neben der Entscheidung für die Präsentation bisher kaum bekannter Texte auch neue Auswahlkriterien für die dargebotenen Ausschnitte aus längst bekannten Texten: Manche Aussagen zu heute relevanten Themen sind bislang schlicht überlesen oder aus fachspezifischer Sicht als nicht interessant wahrgenommen worden. Das wird sich nun hoffentlich ändern. Der interdisziplinäre Herausgeberkreis dieser Anthologie ist ein großer Gewinn für die Pietismusforschung. Erstmals treffen sich die unterschiedlichen Positionen nicht nur auf einem Kongress oder in Symposien, wo Kontroversen nebeneinander stehen bleiben, sondern einigen sich auf ein gemeinsam approbiertes Textkorpus, das sowohl
Geleitwort
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den Stand der Wissenschaft repräsentiert als auch Hinweise für die weitere Forschung geben kann. Ich habe die intensiven und immer weiterführenden Diskussionen des Herausgeberkreises mit großem Gewinn begleitet und gehe davon aus, dass diese Anthologie nicht nur als Quellenbuch für Studierende und Lektüre für alle Interessierten große Dienste leisten wird, sondern auch der Forschung neue Impulse gibt. Udo Sträter
INHALT
Einleitung .................................................................................................... IXX
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8
2.1 2.2
2.3 2.4
1. KIRCHENKRITIK (Veronika Albrecht-Birkner) Johann Arndt: Wahrer Glaube muss sich in heiligem Leben erweisen (1620) ...................................................................... Theodor Undereyck: Nichts ist für die Kirche gefährlicher als die Scheinchristen (1670) .......................................................... Philipp Jakob Spener: Die lutherische Kirche ist ganz verdorben (1676) ..................................................................... Philipp Jakob Spener: Die lutherische Kirche ist nicht mit Babel gleichzusetzen (1685) ........................................................... Joachim Feller: Pietisten leben nach der Schrift (1689) ............ [Johann Caspar Schade:] Die Privatbeichte überfordert das Gewissen der Pfarrer (1697) ..................................................... Gottfried Arnold: Die lutherische Kirche ist nicht mehr reformierbar (1698) ............................................................... Heinrich Horche: Die Pfarrer müssten wahrhaftige Heiligung predigen und darin selbst Vorbild sein (1701) .......
3 7 10 16 19 21 24 27
2. KIRCHEN- UND GEMEINSCHAFTSKONZEPTE (Veronika Albrecht-Birkner) Theodor Undereyck: Abkehr von der Welt ist das sicherste Kennzeichen der wahren Christen (1670) ................................... 33 Philipp Jakob Spener: Erbauungsversammlungen neben dem Gottesdienst sind ein gutes Mittel zur Besserung der Kirche (1676) ............................................................................... 35 Kirchlicher Umgang mit reformierten Konventikeln am Niederrhein in den 1670er Jahren (1670/1674/1677) ................. 38 Johann Jakob Schütz: Die Kinder Gottes müssen sich nicht zu einer Kirche halten, denn ihre wahre Gemeinschaft ist unsichtbar (1684) ........................................................................ 44
Inhalt
VIII
2.5 2.6 2.7 2.8
Philipp Jakob Spener: Die Privatkommunion gefährdet das Anliegen der Kirchenverbesserung (1693) .................................. Johann Konrad Dippel: Plädoyer für eine neue Kirche (1706) Heinrich Horche: Die wahrhaft Gläubigen müssen sich zur endzeitlichen Gemeinde vereinigen (1712) ................................ [David Cranz:] Herkunft und Verfassung der Brüdergemeine (1757) ...................................................................................................
3. FRÖMMIGKEITSPRAXIS (Christian Soboth) 3.1 Philipp Jakob Spener: „einfältig, aber gewaltig“ – Anweisung zum erbaulichen Predigen (1676) ........................... 3.2 Joachim Neander: Neue Lieder für neue Menschen (1680) .... 3.3 August Hermann Francke: Predigen wider den Kirchenschlaf (1693) ........................................................................ 3.4 August Hermann Francke: Anweisungen für das Beten mit Leib und Seele (1695) ........................................................................ 3.5 Johann Anastasius Freylinghausen / Christian Friedrich Richter: Im Geist und in der Wahrheit singen (1704) .............. 3.6 Karl Heinrich von Bogatzky: Frommes Spiel – Der Verkaufsschlager des Verlags des Halleschen Waisenhauses (1734) ..... 3.7 Herrnhuter Gesangbuch /Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Singen und Vergemeinschaftung (1737/1741) ........................... 3.8 Augusta Elisabeth von Posadowsky: Wertschätzung und Verachtung der Welt (1751) ........................................................... 3.9 Johann Adam Steinmetz: Ein Lob frommen Dichtens (1751) 3.10 [David Cranz:] Die Organisation geistlichen und kirchlichen Lebens in Herrnhut (1757) ............................................................. 3.11 August Gottlieb Spangenberg: Lose für alle Lebenslagen (1772)
4.1 4.2 4.3
49 51 53 56
65 67 71 72 75 79 83 85 87 91 95
4. BIBEL UND HERMENEUTIK (Wolfgang Breul) Philipp Jakob Spener: Je intensiver wir uns mit der Heiligen Schrift beschäftigen, desto besser steht es um die Kirche (1676) 101 Johann Wilhelm Petersen: Anleitung zur guten Kenntnis von Schriftworten (1685) ................................................................ 105 August Hermann Francke: Eine erbauliche Lektüre der
Inhalt
4.4 4.5 4.6 4.7 4.8
Heiligen Schrift wird begleitet von Gebet, Betrachtung und Anfechtung (1694) ................................................................... August Hermann Francke: Es fehlt an Wertschätzung der Schrift, nicht der Bibelübersetzung Luthers (1695) .................. Berleburger Bibel: Anleitung zur Lektüre der Schrift unter eschatologischen Vorzeichen (1726) ............................................. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Bibelfestigkeit bedeutet, mit der Schrift zu leben (1747) ...................................................... Johann Albrecht Bengel: Kriterien einer guten Bibelübersetzung (1753) ........................................................................................ Friedrich Christoph Oetinger: Erkenntnis und Gefühl der Schrift (1776) ...............................................................................
5. PROPHETIE, OFFENBARUNGEN, INSPIRATION (Joachim Jacob) 5.1 Jakob Böhme: Göttliche Weisheit wie ein Platzregen (1621/1658) ......................................................................................... 5.2 Rosamunde Juliane von der Asseburg: Ein auserwähltes Fräulein als Medium (1691) ........................................................... 5.3 Adelheid Sybille Schwartz: Drohende Mahnung zur Buße (1692) 5.4 Justus Vesti: Die ‚begeisterte Magd‘ Anna Maria Schuchart (1692) ................................................................................................... 5.5 Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke im Briefwechsel über den Umgang mit Offenbarungen (1693) .. 5.6 Jane Leade: Im Angesicht der Göttlichen Sophia (1697) .......... 5.7 Heinrich Horche: Offenbarung im Traum (1698) .................... 5.8 Johann Friedrich Rock: Mit hüpfendem Herz im Leib (1715) 5.9 Friedrich Christoph Oetinger: Worte von oben versprochen (1739) ................................................................................................... 5.10 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: „Geist über’s ganze Volk“ im Singen (1758) ...............................................................................
IX
108 111 115 119 123 126
133 135 138 141 145 148 151 154 157 160
6. GESCHICHTSDEUTUNG UND ZUKUNFTSERWARTUNG (Wolfgang Breul) 6.1 Philipp Jakob Spener: Hoffnung auf einen besseren Zustand der Kirche hier auf Erden (1676) ................................................... 165
Inhalt
X
6.2 6.3 6.4
6.5 6.6 6.7 6.8
August Hermann Francke: Sympathie mit dem Chiliasmus der Petersens (1695/96) .................................................................... 169 Heinrich Horche: Die eschatologische Zeitrechnung nach der Schrift (1697) ............................................................................... 173 [Gottfried Arnold:] Luthers Reformation und die göttlichen Strafen nach seinem Tod haben die Lutherischen nicht zur Buße gebracht (1698) ....................................................................... 176 [Johanna Eleonora Petersen:] Über den „mittleren Zustand“ nach dem Tod (1698)........................................................................ 180 Johann Albrecht Bengel: Historie und Apokalyptische Zeittafel (1740) ................................................................................................... 184 Friedrich Christoph Oetinger: Von der allgemeinen Glückseligkeit aller und jeder (1759) ...................................................... 186 [Philipp Matthäus Hahn:] Am Sonntag, dem 18. Juni 1836, wird das erste Tausendjährige Reich beginnen (1772) ............ 189
7. PÄDAGOGIK UND ERZIEHUNG (Christian Soboth) 7.1 Philipp Jakob Spener: Gottseligkeit durch den rechten Gebrauch des Katechismus (1677) ................................................ 195 7.2 Philipp Jakob Spener: Die katechetische Information bei der Kindererziehung (1680/1708) ......................................................... 197 7.3 August Hermann Francke: Gemütspflege als Mittel, die Gottesfurcht als Weg und die Ehre Gottes als Ziel der Kindererziehung (1702) ............................................................................... 201 7.4 August Hermann Francke: Der volle Tag und der erfüllte Tag in den Schulen des Halleschen Waisenhauses (1702) ....... 204 7.5 James Janeway: Fromme Kinder kommen in den Himmel (1702) ................................................................................................... 206 7.6 Otto Heinrich Becker: Der vollkommene Schüler (1704) ........ 209 7.7 Johann Jakob Rambach: Erziehung für alle Fälle (1735) ......... 211 7.8 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: „aus gehorsam alles thun“ (1739) ................................................................................................... 215 7.9 Christian David Lenz: Profil und Aufgaben eines Hofmeisters (1756) .................................................................................................. 217 7.10 [Paul Eugen Layritz:] Erziehung während der verflixten siebten Jahre (1776) ......................................................................... 221
Inhalt
XI
8. LEBENSREGELN (Joachim Jacob) 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7 8.8 8.9
Theodor Undereyck: Durch tägliche Übung der geistlichen Klugheit Ziel und Maß geben (1670) ........................................... Johann Jakob Schütz: Auserlesene Sprüche für den sicheren Weg zum höchsten Gut (1677) ...................................................... Philipp Jakob Spener: Die Pflicht zur bürgerlichen Gerechtigkeit gilt auch für himmlische Bürger (1688/1692) .............. August Hermann Francke: Das Gewissen und die Ordnung bewahren (1695) ............................................................................... Johann Henrich Reitz: Vom Leben in den „letzten Tagen und Zeiten“ (1698) ........................................................................... [Hieronymus Freyer:] Eine Handleitung für das äußerliche Leben (1706) ....................................................................................... Johann Albrecht Bengel: Regeln für das eigene Leben (nach 1713) ......................................................................................... Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Leben in der Gemeine (1727) Magnus Friedrich Roos: Rechtschaffenheit bei Hofe (1767) ..
227 230 232 235 238 241 245 247 249
9. LEBENSZEUGNISSE (Markus Matthias) 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 9.8 9.9
Vavasor Powel: Puritanische Glaubenserforschung (1653) ..... Johanna Eleonora Petersen: Autobiographie als göttliche Beglaubigung der eigenen Frömmigkeit (1689) ...................... August Hermann Francke: Anfang eines neuen Lebens (1691) Johann Henrich Reitz: Philadelphia der Wiedergeborenen (1698) .................................................................................................. Cornelis van Eecke: Das beispielhafte Sterben des Johannes (Jan) Luyken (1716) .......................................................................... Johann Jobst Hahn: Seelenerfahrung und Literarisierung (1717) Johann Friedrich Rock: Unterschiedliche Entwürfe des eigenen Lebens (1707/1715/1717) .................................................. Johann Liborius Zimmermann: Brieflicher Seelen-Austausch (1728) .................................................................................................. Anna Nitschmann: Vorbereitung des eigenen Gedächtnisses (1737) ..................................................................................................
255 257 261 264 268 270 271 275 279
XII
Inhalt
9.10 Gertrude Magdalene Bremmel: Die beispielhafte Reue einer Kindsmörderin (1744) ........................................................... 283 10. GESCHLECHTERROLLEN (Wolfgang Breul) 10.1 Philipp Jakob Spener: Wenn es an Männern fehlt, ist auch den Frauen die Predigt erlaubt (1677) ......................................... 10.2 Christian Kortholt: Die besondere Tugend und Frömmigkeit der Frauen in der Christenheit bekundet beispielhaft Johanna Eleonora Petersen (1689) ................................................................. 10.3 Johanette von Waldeck: Gewissensfragen für den frommen Regenten und Ehemann (um 1690) .......................... 10.4 Johanna Eleonora Petersen: Legitimation ihrer theologischen Veröffentlichungen (1691/1696) .................................................... 10.5 Zugang durch das Frauenzimmer (um 1698/99) ...................... 10.6 Gottfried Arnold: Dürfen Frauen auch öffentlich lehren? (1704) ................................................................................................... 10.7 Georg Konrad Rieger: Von der Beata zur Württembergischen Tabea (1730) .......................................................................................
289
291 296 297 303 306 312
11. EHE, SEXUALITÄT UND ANDROGYNIE (Wolfgang Breul) 11.1 Philipp Jakob Spener: Die Ungleichheit der Verbindung Christi mit den Gläubigen begründet standesungleiche Ehen (1680) ........................................................................................ 11.2 Philipp Jakob Spener: Begründung und Aufgabe der Ehe (1683/1701) ............................................................................................. 11.3 Philipp Jakob Spener: Umgang mit der ehelichen Sexualität (1683/1701) ......................................................................................... 11.4 Johanna Eleonora Petersen: Sorge um die Bewahrung der Keuschheit (1689) ...................................................................... 11.5 Gottfried Arnold: Die androgyne Beschaffenheit des Urmenschen, ihr Verlust und ihre anfängliche Wiederherstellung in der Ehe (1702) ............................................................................... 11.6 Johann Georg Gichtel: Fleischliche Trägheit führt zum Verlust der Bindung an Sophia (1704) ......................................... 11.7 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Die irdische Ehe der Herrnhuter als Vereinigung mit dem Bräutigam Christus (1745) ...
319 322 325 329
331 336 340
Inhalt
XIII
11.8 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Die Geschlechtsorgane von Männern und Frauen sind von Gott geschaffen und durch Christus geheiligt (1745) .................................................... 343 12. ARMEN- UND WAISENFÜRSORGE (Veronika Albrecht-Birkner) 12.1 Philipp Jakob Spener: Für die Errichtung von Armen- und Waisenhäusern wird kein Kapital benötigt (1695/1697) ......... 12.2 Johann Jakob Zoller: Frommer Bettler und Spitalgründer (1696) .................................................................................................. 12.3 August Hermann Francke und seine Gemeinde: Kampf um einen Repräsentativbau für Glaucha (1698) .............................. 12.4 August Hermann Francke: Beweis, dass das Glauchaer Waisenhaus dem Land von großem Nutzen ist (1701)............ 12.5 Carl Hildebrand von Canstein: Armenfürsorge ist Sache der Obrigkeit (1710) ............................................................................... 12.6 Conrad Mel: Aktive Spendenwerbung muss nicht dem Vertrauen in Gottes Providenz widersprechen (1711) ............. 12.7 [Christoph Andreas Chryselius:] Ein Fuhrmann als Waisenhausgründer (1714) ............................................................ 12.8 Wilhelmine von Sayn-Hachenburg-Kirchberg: Waisenhausgründung im Westerwald (1717) ................................................. 12.9 Gottfried Arnold: Sorge für Notleidende (1723) .......................
349 352 356 358 363 365 367 370 374
13. POLITIK UND OBRIGKEIT (Veronika Albrecht-Birkner) 13.1 Edikt gegen den Pietismus in Braunschweig-Lüneburg (1693) 13.2 [Otto Heinrich Becker:] Irrende im Glauben sind keine Häretiker (1704) ............................................................................... 13.3 [Ernst Christoph Hochmann von Hochenau:] Unheilsprophezeiung an die Obrigkeiten, die Pietisten verfolgen (1712) 13.4 August Hermann Francke: Besuch von König Friedrich Wilhelm I. (1713) .............................................................................. 13.5 Der Teschener Kirchenvorstand wehrt sich gegen die Vertreibung der Pietisten aus Schlesien (1723) ......................... 13.6 Johann Anastasius Freylinghausen: Sieben Tage am Hof Friedrich Wilhelms I. (1727) ..........................................................
379 383 386 390 394 398
XIV
Inhalt
13.7 Obrigkeitliches Zugeständnis von Privatversammlungen in Württemberg (1743) ................................................................... 402 13.8 David Cranz: Bericht von der obrigkeitlichen Anerkennung der Herrnhuter in Sachsen (1771) ................................................. 406 14. WIRTSCHAFT (Alexander Schunka) 14.1 August Hermann Francke: Arbeit mit Gottes Segen (1697) .... 413 14.2 Kurfürst Friedrich III.: Kurbrandenburgische Vergünstigungen für Franckes Anstalten (1698/1701) ............................... 416 14.3 August Hermann Francke: Fundraising zum Bau des Reiches Gottes (1704/1709) ............................................................................ 419 14.4 Glauchaer Konferenzprotokolle: Rationalisierung des Wäschewaschens (1705-1708) ........................................................ 423 14.5 Christian Friedrich Richter: Hallesche Medikamentenexpedition (1708) .............................................................................
425
14.6 Magdeburger Regierung: Wirtschaftlicher Nutzen der Glauchaer Anstalten (1711) ........................................................... 427 14.7 Johann Andreas Wiegleb: Gott ist Kapitalist (1716) .................
432
14.8 Samuel Urlsperger: Vor- und Nachteile der Sklaverei in Ebenezer, Georgia (1751) ................................................................ 433 14.9 August Gottlieb Spangenberg: Herrnhuter in Pennsylvania als Haushälter Gottes (1754) .......................................................... 436 14.10 Abraham Dürninger: Plan zur Anlegung einer Tuchbleiche in Berthelsdorf (1765) .....................................................................
438
14.11 Philipp Matthäus Hahn: Arbeitszeitplanung und Finanzökonomie im Tagebuch eines Pfarrers (1772) ............................ 440 14.12 Jacob Gass und Johann Peter Miller: Schwierigkeiten mit der Gütergemeinschaft in Ephrata (1786) .................................. 442 15. KOMMUNIKATION UND MEDIEN (Alexander Schunka) 15.1 Johann Jakob Schütz: Überkonfessionelle Korrespondenz (1677) .................................................................................................. 447 15.2 Georg Heinrich Neubauer: Reise in die Niederlande (1697) ................................................................................................... 449
Inhalt
15.3 Heinrich Wilhelm Ludolf: Ratschläge zur weltweiten Kommunikation (1700) ..................................................................
XV
454
15.4 Die Franckeschen Anstalten in Halle als Nachrichtenzentrum (1707/1709) .............................................................................. 459 15.5 Carl Hildebrand von Canstein: Billige Bibeln (1710) ............... 461 15.6 Anton Wilhelm Böhme: Der Weg einer Druckerpresse nach Tranquebar (1712) .................................................................
463
15.7 Johann Albrecht Bengel: Eindrücke eines Württembergers in Halle (1713) ..................................................................................
466
15.8 Johann Friedrich Rock: Reisen und Gefangenschaften (um 1717) ........................................................................................... 468 15.9 Gerhard Tersteegen: Der Brief als Erbauungsmedium (1728) ..................................................................................................
471
15.10 Geistliche Fama: Pietistisches Zeitschriftenwesen (1730) ..................................................................................................
473
16. MISSION UND INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN (Alexander Schunka) 16.1 Conrad Mel: Evangelische Missionspläne (1701)................................................................................................... 479 16.2 August Hermann Francke: Pflanzgarten der Weltverbesserung (1701) ....................................................................................
483
16.3 Justus Samuel Scharschmid: Ein Pietist am Kaspischen Meer (1701) .................................................................................................. 485 16.4 Bartholomäus Ziegenbalg: Der Götterhimmel Tranquebars (1706/1708) ......................................................................................... 489 16.5 Cotton Mather: Kontaktaufnahme zwischen Boston und Halle (1715) .......................................................................................
492
16.6 Johann Heinrich Callenberg: Judenmission (1730) ..................................................................................................
494
16.7 Heinrich Melchior Mühlenberg: Bericht über eine Begegnung mit Zinzendorf in Philadelphia (1743) ............................
497
16.8 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ein philadelphisch geprägtes Missionskonzept (1746) ............................................... 501 16.9 Georg Schmidt: Aus Böhmen nach Herrnhut und Südafrika (1785/1836) ......................................................................................... 504
XVI
Inhalt
17. GOTTESERKENNTNIS UND THEOLOGIE (Markus Matthias) 17.1 Johann Arndt: Theologie aus dem vernachlässigten Wissen alter Zeiten (1631) ............................................................................ 17.2 Philipp Jakob Spener: Umgang mit konfessionellen Streitpunkten (1676) .................................................................................. 17.3 Philipp Jakob Spener: Vorschläge zur Reform des Theologiestudiums (1676) ................................................................................ 17.4 Philipp Ludwig Hanneken: Kritik des Verhältnisses von Frömmigkeit und Theologie im Pietismus (1678) .................... 17.5 Philipp Jakob Spener: Der Zusammenhang von Glaube und Frömmigkeit (1680) ......................................................................... 17.6 Joachim Justus Breithaupt: Prinzipien pietistischer Theologie (1702) ......................................................................................... 17.7 August Hermann Francke: Das Ideal eines Theologiestudenten (1712) .....................................................................................
511 518 522 525 530 531 537
18. WEISHEIT UND WISSENSCHAFT VON DER NATUR (Markus Matthias) 18.1 Philipp Jakob Spener: Entzauberung der Natur (1680 /1716) 18.2 Christian Friedrich Richter: Seele, Körper, Sünde und Krankheit (1705) ............................................................................... 18.3 [Samuel Richter:] Theosophische Naturphilosophie (1711) ... 18.4 Johann Samuel Carl: Einfache Medizin für alle (1719) ............ 18.5 [Conrad Mel:] Freude an und Nutzen der Physik (1732) ......... 18.6 Friedrich Christoph Oetinger: Theologie der Natur (1765) ....
543 546 555 564 567 574
19. KÜNSTE UND KUNSTKRITIK (Joachim Jacob) 19.1 Joachim Feller: Von Amoristen und Pietisten (1692) ............... 19.2 Gottfried Vockerodt: Herrscher sollen regieren statt musizieren (1696/97) ................................................................................. 19.3 August Hermann Francke: Verdammung des „weltüblichen Tanzens“ (1697) ................................................................................. 19.4 Gottfried Arnold: Die Braut muss singen (1698) ...................... 19.5 Philipp Jakob Spener: Architektur der Seligkeit (1700) ...........
581 583 587 591 594
Inhalt
19.6 Johann Jakob Rambach: Sein Talent einsetzen (1720) ............. 19.7 Philipp Balthasar Sinold von Schütz: Eine pietistische Phantasie (1723) ............................................................................... 19.8 [Gerhard Tersteegen:] Einfaltung ins Inwendige (1729) ......... 19.9 Hieronymus Freyer: Gegen das Romanelesen (1730) ............... 19.10 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Wie mir ist, so schreibe ich (1735) ...........................................................................
XVII
597 600 603 606 609
20. KRITIKER UND GEGNER (Christian Soboth) 20.1 Philipp Jakob Spener: Versuch, den Pietismus gegen den Vorwurf der „Quackerei“ zu verteidigen (1677/78/1711) ......... 20.2 Gerichtliches Leipziger Protokoll: Der Pietismus auf der Anklagebank (1692) ......................................................................... 20.3 [Johann Benedikt Carpzov II.:] Kritik an der pietistischen Theologie (1693) ............................................................................... 20.4 Johann Konrad Dippel: Die Orthodoxen folgen einer Höllenlehre, die Pietisten sind die wahren Lutheraner (1697) .................................................................................................. 20.5 Gottfried Arnold: Der Kampf um eine verlorene Seele? (1702) 20.6 Johann Martin Weidner: Aufbegehren gegen August Hermann Francke, seine Gemeindereform und Kirchenzucht (1704) ...................................................................................... 20.7 [Johann Friedrich Mayer:] Ein Bericht über verwerfliche Zustände im Halleschen Waisenhaus (1709) ............................. 20.8 Valentin Ernst Löscher: Kritik am Vollkommenheitsstreben der Pietisten (1718) .......................................................................... 20.9 Valentin Ernst Löscher: Irrtümer und Irrwege des Pietismus (1721) .................................................................................................. 20.10 [Johann Simon Buchka:] Wie man den Pietisten gibt und sich lächerlich macht (1731/1750) ................................................ 20.11 [Luise Adelgunde Victorie Gottsched:] Der Pietismus auf dem Theater – Die Verspottung scheinheiligen Treibens (1736) .................................................................................................. 20.12 Ausführliche Historische Nachricht: Bekehrungswut, Betunsinn und Frömmigkeitsschauspielerei am Halleschen Waisenhaus (1743) .....................................................
615 617 621
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XVIII
Inhalt
20.13 [Erik Pontoppidan:] Auch in Halle im Jahr 1730 gibt es keine wahren Christen und Pietisten mehr (1741/42, 1747) ... 647 ANHANG Chronologisches Quellenverzeichnis ..................................................... 651 Verzeichnis der Quellenautoren .............................................................. 675 Abkürzungsverzeichnis ............................................................................. 687 Abbildungsverzeichnis .............................................................................. 689 Personenregister ......................................................................................... 693 Ortsregister .................................................................................................. 701 Bibelstellenregister ..................................................................................... 704
EINLEITUNG
„Was ist ein Pietist? der Gottes Wort studirt / Und nach demselben auch ein heilges Leben führt.“ So charakterisierte der Leipziger Professor für Poesie Joachim Feller 1689 in einem Gedicht (s. Quellentext 1.5) die Anhänger einer kurz zuvor in studentischen und bürgerlichen Kreisen Leipzigs aufgekommenen religiösen Erweckungsbewegung. Seit ca. 1670 hatten sich in Deutschland kirchliche und außerkirchliche Reformkräfte entwickelt, die dann seit den 1690er Jahren durch publizistische Auseinandersetzungen, insbesondere um die Leipziger Bewegung, als solche wahrgenommen wurden und dabei die Bezeichnung „Pietismus“ erhielten. Sie haben den deutschsprachigen, nordamerikanischen und partiell den europäischen Protestantismus und seine kulturellen Kontexte nachhaltig geprägt. Ihre Nachwirkungen sind noch heute vielfältig präsent. Der mit den erweckten Studenten sympathisierende Joachim Feller suchte, dem Begriff „Pietist“, der bis dahin nur abwertend gebraucht worden war, eine positive Deutung zu geben. Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke und viele andere, die heute selbstverständlich zum „Pietismus“ gezählt werden, blieben gegenüber dieser Zuordnung gleichwohl reserviert. Wie auch bei anderen Reformbewegungen änderte dieser terminologische Konflikt freilich nichts daran, dass sich der Begriff zeitgenössisch und historiographisch durchsetzte. Reichweite und zeitliche Eingrenzung des Phänomens blieben jedoch in der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Forschung im Fluss und waren bis in die jüngste Zeit hinein wiederholt Anlass für Kontroversen und Debatten. Galt der Pietismus in der Forschung lange Zeit als ein weniger beachtenswerter Teil der Kirchenund Frömmigkeitsgeschichte und war als Gegenstand dem (Regional-) Kirchenhistoriker vorbehalten, so hat sich diese Sicht in den letzten Jahrzehnten (zusammengefasst dokumentiert in der zwischen 1993 und 2004 erschienenen, vierbändigen Geschichte des Pietismus ) vollständig geändert, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird die gestalterische Einwirkung pietistischer Theologie und Frömmigkeit auf viele andere Bereiche des sozialen und kulturellen Lebens gesehen, zum anderen wird
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der Pietismus selbst als Teil eines umfassenden kulturellen und sozialen Wandels nach dem Dreißigjährigen Krieg erfasst. Es ist diese neue Perspektive, der auch die vorliegende Anthologie Rechnung tragen will, indem sie dazu einlädt, den Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts in seinen mannigfaltigen Wechselbeziehungen zu entdecken. Mit der vorliegenden Anthologie verbindet sich die Absicht, die pietistische Reformbewegung in der Vielfalt ihrer theologischen, frömmigkeitlichen, sozialen, kulturellen und literarischen Aspekte in einer breit angelegten Sammlung von Quellenauszügen unmittelbar zu Wort kommen zu lassen. Neben bekannten sind dabei auch bisher kaum bekannte, aber für die Bewegung aufschlussreiche und charakteristische Quellen berücksichtigt worden. Die zwanzig Kapitel des Bandes richten sich an alle an der Geschichte der (frühen) Neuzeit Interessierten, auch über die evangelische Kirchen- und Theologiegeschichte hinaus. Sie betreffen Aspekte der Geschichts- und Literaturwissenschaft, Medizin- und Pharmaziegeschichte, Amerikanistik, Historischen Pädagogik, Musik-, Kunst- und Architekturgeschichte und weiterer historisch arbeitender Disziplinen. Neben klassischen Themen der Pietismusforschung wie Frömmigkeitspraxis, Theologie, Bibelverständnis oder Mission sind auch Felder und Fragestellungen berücksichtigt, die erst in jüngerer Zeit verstärkt Aufmerksamkeit gefunden haben. So widmen sich einzelne Kapitel dem (auto-) biographischen Schreiben, den im Pietismus verbreiteten Lebensregeln und praktischen Verhaltenslehren, den stark divergierenden Ansätzen im Bereich von Ehe, Sexualität und Geschlechterrollen, den Darstellungen und Reflexionen zu Prophetie, Inspiration und Offenbarung, die häufig jenseits orthodoxer Dogmatik lagen, den vielfach von Paracelsismus, Alchemie und Pansophie beeinflussten Naturvorstellungen, den Kommunikationsformen und Medien, Konzepten im Bereich von Pädagogik, Sozialfürsorge, Politik und Wirtschaft sowie dem durchaus komplizierten Verhältnis zu zeitgenössischen Formen von Literatur, Kunst, Architektur und Musik. Ein letztes Kapitel dokumentiert schließlich exemplarisch Stimmen der Kritiker und Gegner sowie Entgegnungen, die die pietistische Bewegung fortwährend begleiteten. Der Umfang des Bandes erzwang Begrenzungen. So wurde die Quellenauswahl auf den Zeitraum von 1670 bis 1770 beschränkt und im Wesentlichen auf den deutschsprachigen Bereich konzentriert. Auch konnten die vielfältigen Beziehungen der zumal noch in sich differenzierten pietistischen Bewegungen zu vorausgehenden, parallelen und nachfol-
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genden religiösen Erneuerungsbewegungen nicht berücksichtigt werden. Sehr zu begrüßen wäre es, wenn diesem Band thematisch vergleichbare und zeitlich noch weiter ausgreifende Quellensammlungen für Nordamerika, Ostmittel- und Nordeuropa und vielleicht auch für weitere geographische Räume zur Seite gestellt würden. Damit könnten die internationalen Beziehungen und die fortdauernden Wirkungen des Pietismus deutlicher sichtbar werden, als es dieser Band leisten kann. Die Quellenauszüge werden grundsätzlich originalgetreu nach der jeweils ersten Auflage des Drucks bzw. nach den handschriftlichen Vorlagen dargeboten. Wo bereits wissenschaftliche Editionen vorliegen, wurden sie herangezogen. Alle Kapitel und Quellen sind mit einer kurzen Einleitung versehen, die in das jeweilige Thema und den Kontext der abgedruckten Quellen einführt; Angaben zu Autorinnen und Autoren sind am Ende des Bandes in knappen Biogrammen zusammengestellt. Anmerkungen verweisen auf biblische Bezüge, die in der Quelle nicht explizit angegeben sind, erläutern sprachlich sperrige Formulierungen und geben Hinweise auf theologische und historische Sachfragen. Knappe bibliographische Hinweise am Schluss jeder Quelle sollen eine eingehendere Beschäftigung mit Quelle und Thema ermöglichen. Die dem Band beigegebenen Indizes zu Personen, Orten und Bibelstellen sowie Querverweise innerhalb des Bandes (jeweils mit → markiert) erlauben es, Verbindungen zwischen den einzelnen Quellen herzustellen und die Quellensammlung nach bestimmten Kriterien zu durchsuchen. Genauer gelten folgende Editionsrichtlinien: Die Quellen innerhalb einer Rubrik werden in chronologischer Reihenfolge ihrer Abfassung wiedergegeben. Erschlossene Autoren bzw. Autorinnen anonym überlieferter Texte stehen in eckigen Klammern. Druckorte historischer Quellen werden modernisiert angegeben. Am Ende der Quellenangabe werden summarisch die Seiten bzw. Blätter oder Bögen genannt, auf denen der edierte Text im Original zu finden ist. Im Text sind Seiten-, Blatt- und Bogenübergänge durch Angabe der jeweils nachfolgenden Seite in eckigen Klammern kenntlich gemacht. Am Beginn des Quellentextes entfällt diese Angabe. Ist nach wissenschaftlichen Editionen ediert, wird dies in der Quellenangabe am Beginn vermerkt; gegebenenfalls vorhandene weitere Editionen werden vor den Literaturhinweisen am Ende des Quellentextes genannt. Die Übertragung des beschränkteren graphemischen Systems der Vorlagen auf das moderne System machte es erforderlich, dass der folgende Buchstabenbestand je nach graphemischem Kontext differenziert wiedergegeben wurde: „v“ auch als „u“, „sz“ auch als „ß“, „J“ auch als „I“ und „U“ auch als „Ü“. Tatsächliche Textaus-
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zeichnungen im Original (also nicht der Schriftwechsel zu Antiqua bei lateinischen Passagen) werden einheitlich kursiv dargestellt. Ligaturen werden stillschweigend, Abkürzungen in eckigen Klammern aufgelöst. Sich wiederholende Abkürzungen in einer Quelle werden nur ein Mal aufgelöst. Regelmäßig wiederkehrende Abkürzungen sind im Abkürzungsverzeichnis aufgelistet. Anmerkungen in Gestalt von Fußnoten, die sich bereits im Original finden, werden am Ende des jeweiligen Quellentextes als dessen Teil präsentiert. Entstehungsvarianten in handschriftlichen Texten sind – soweit sie inhaltlich relevant sind – kenntlich gemacht.
Wir sagen herzlichen Dank allen, die unsere Arbeit unterstützt haben. Dabei ist zuerst die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus zu nennen, die es uns mit einem großzügigen finanziellen Zuschuss ermöglicht hat, eine redaktionelle Bearbeitung der Quellenkapitel in professionelle Hände zu legen. Wir danken Frau Berit Biewald für diese Durchsicht. Udo Sträter danken wir herzlich für zahlreiche konzeptionelle Hinweise und Ratschläge. Wir danken ferner allen hier nicht namentlich zu nennenden Kolleginnen und Kollegen und Hilfskräften, die uns bei der Beschaffung von Vorlagen, der Erstellung und Durchsicht von Transkriptionen und mit sachlichen Hinweisen bei der Arbeit unterstützt haben. Schließlich danken wir den Verlagen, Bibliotheken und Archiven, die uns in unkomplizierter und entgegenkommender Weise die Rechte zum Abdruck der hier verwendeten Quellen eingeräumt haben. Besonders zu nennen sind hier das Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale und das Unitätsarchiv in Herrnhut. Wir hoffen, dass sich ein wenig von der Entdeckerlust und der Intensität des interdisziplinären Austausches, die unsere jahrelange Zusammenarbeit bei der Erstellung dieser Anthologie begleitet haben, auch auf die Leserinnen und Leser überträgt und zu einer eingehenderen Beschäftigung mit den frühneuzeitlichen Quellen zur Geschichte des Pietismus locken und anleiten kann. Siegen, Mainz, Gießen, Amsterdam, Berlin und Halle/Saale im Herbst 2016 Veronika Albrecht-Birkner, Wolfgang Breul, Joachim Jacob, Markus Matthias, Alexander Schunka und Christian Soboth
Anonymes Flugblatt Geistlicher Rauffhandel , 1619.
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1. K IRCHENKRITIK Die Formulierung pietistischer Positionen implizierte in der Regel Kritik an den bestehenden protestantischen Kirchen – eine Kritik, die bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert eine erhebliche Rolle spielte. Sie diagnostizierte, dass die meisten Christen gar keine wahren Christen seien, sondern die reformatorischen Lehren zwar äußerlich bekennen, aber nicht im Glauben verinnerlichen und so auch nicht in die eigenen Lebensvollzüge umsetzen würden. Johann Arndt war der lutherische Kirchenkritiker am Beginn des 17. Jahrhunderts, der diese Auffassung mit der größten Breitenwirkung formuliert hat (→ 1.1). Im Pietismus wurde er ab den 1670er Jahren intensiv rezipiert – allen voran von Philipp Jakob Spener (→ 1.3). 1689 wurde der Spottname Pietist in Leipzig erstmals als positive Selbstbezeichnung verwendet und stand seitdem für das Anliegen einer Fortführung der Reformation in Abgrenzung zur herrschenden Theologie (→ 1.5). Parallel zur pietistischen Kirchenkritik im Luthertum erwachten auch in der deutschen reformierten Kirche zunehmend kritische Stimmen, die sich vor allem aus Traditionen des Puritanismus und der niederländischen Nadere Reformatie (weitergehende Reformation) speisten und deren führende Gestalt Theodor Undereyck war (→ 1.2). Die pietistische Kirchenkritik war insofern eine Gratwanderung, als sie sich rasch auch mit dem offenbar ohnehin verbreiteten Eindruck verbinden konnte, die lutherische Kirche sei so verdorben, dass sie gar nicht mehr reformierbar sei. Dabei spielte die Identifikation der lutherischen – statt (nur) der römischen – Kirche mit der in Apk 17/18 beschriebenen ‚Hure Babel‘ eine Rolle. Diese Auffassung fand sich bereits im unmittelbaren Anhängerkreis Speners, weshalb sich dieser 1685 ausdrücklich dagegen wandte (→ 1.4). Spener konnte sie aber nicht zurückdrängen. Sie fand sich auch in den folgenden Jahrzehnten bei dem (innerkirchlichen) Pietismus nahe stehenden und teils sehr einflussreichen Gestalten, wie z. B. Gottfried Arnold (→ 1.7). Einige Vertreter von Speners Schülergeneration, wie z.B. Johann Caspar Schade, plädierten zwar weiterhin für innerkirchliche Reformen, gingen in ihrer Kritik an den Gemeinden und ihrem Anspruch einer Unterscheidung wahrer von falschen Christen aber so weit, dass sie faktisch Grundlagen der kirchlichen Tradition verließen (→ 1.6). Andere, wie z. B. Heinrich Horche, waren mit ihren Ansprüchen an ein geheiligtes Leben der Christen kirchlich gar nicht mehr integrierbar (→ 1.8)
1.1 Arndt: Wahrer Glaube
Literatur : Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924. – Fred A. van Lieburg: From Pure Church to Pious Culture. The Further Reformation in the Seventeenth-Century Dutch Republic. In: Later Calvinism. International perspectives. Hg. v. W. Fred Graham. Kirksville, MO 1994, 409–429.
1.1 Johann Arndt: Wahrer Glaube muss sich in heiligem Leben erweisen (1620) Vier Bücher / Vom wahren Christenthumb / Heylsamer Busse / Hertzlicher Reu und Leyd über die Sünde und wahrem Glauben: Auch heiligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen. Buch 1: LIBER SCRIPTURAE. Wie in einem wahren Christen Adam täglich sterben / Christus aber in ihm leben soll: Und wie er nach dem Bilde Gottes täglich erneuert werden / und in der neuen Geburt leben müssen. Magdeburg: Johann Francke [1610] 21620, Vorrede, A2r–B1r. Johann Arndt steht am Beginn einer Strömung im Luthertum des 17. Jh.s, die die christliche Lebenspraxis ihrer Zeitgenossen als zunehmend defizitär wahrnahm und dies auf einen zu oberflächlichen Glauben zurückführte. Mit dem Anspruch, möglichst viele auf den Weg eines ,wahren Christentums‘ zu bringen, versuchten Pfarrer wie Arndt, aber auch einzelne Universitätstheologen und Laien dem entgegenzuwirken – zusätzlich motiviert durch den Eindruck, in den letzten Zeiten vor dem Jüngsten Gericht zu leben. Arndt kann in dieser Hinsicht als langfristig einflussreichste Gestalt bezeichnet werden, vor allem durch seine Vier Bücher / Vom wahren Christenthumb . Diese erschienen vollständig erstmals 1610 unter dem Titel Vier Bücher Von wahrem Christentumb und wurden zum Bestseller in der erbaulichen Literatur Europas. Zusammen mit einem Gebetbuch, dem Paradiesgärtlein (1612), erlebten sie bis ins 19. Jahrhundert hinein zahllose Auflagen und Übersetzungen und wurden über konfessionelle Grenzen hinweg rezipiert. Dabei hatte Arndt sich nicht gescheut, auch Anleihen bei spätmittelalterlichen Mystikern und bei Quellen zu machen, die im Luthertum als heterodox galten (insbesondere Paracelsus und Valentin Weigel). Im Vergleich zur ersten Auflage des ersten der Vier Bücher / Vom wahren Christenthumb aus dem Jahr 1605 ist in der im Pietismus rezipierten, ab 1610 erschienenen und deshalb hier zugrundegelegten Ausgabe die Übereinstimmung mit der lutherischen Lehre deutlicher betont. Dennoch wird Arndt hinsichtlich seiner Kirchenkonformität bis heute kontrovers beurteilt (→ 17.1).
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1. Kirchenkritik
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Vorrede. An den Christlichen Leser WAs für ein grosser und schändlicher Mißbrauch des heiligen Evangelii in dieser letzten Welt sey / Christlicher lieber Leser / bezeuget genugsam das Gottlose unbußfertige Leben derer / die sich Christi und seines Wortes mit vollem Munde rühmen / und doch ein gantz unchristlich Leben führen / gleich als wenn sie nicht im Christenthumb / sondern im Heydenthumb lebeten. Solch Gottloß Wesen hat mir zu diesem Büchlein Ursach geben / damit die Einfeltigen sehen möchten / worin das wahre Christenthumb stehe / nemlich in Erweisung des wahren lebendigen thätigen Glauben / durch rechtschaffne Gottseligkeit / durch Früchte der Gerechtigkeit / wie wir darumb nach Christi Namen genent seyn / daß wir nicht allein an Christum gleuben / sondern auch in Christo leben sollen / und [A2v] Christus in uns / wie die wahre Busse aus dem innersten Grunde des Hertzens gehen müsse / wie Hertz / Sinn und Muth müsse geändert werden / daß wir Christo und seinem heiligen Evangelio gleichformig werden. Wie wir durchs Wort Gottes müssen täglich ernewert werden zu newen Creaturen. Denn gleich wie ein jeder Same seines gleichen bringet / also muß das Wort Gottes in uns täglich newe Geistliche Frucht bringen / und so wir durch den Glauben newe Creaturen worden seyn / so müssen wir auch in der newen Geburt leben / Summa / wie Adam in uns sterben und Christus in uns leben sol. Es ist nicht gnug Gottes Wort wissen / sondern man muß auch dasselbige in die lebendige thätige Übung bringen. Viel meynen / die Theologia sey nur eine blosse Wissenschafft und Wort Kunst / da sie doch eine lebendige Erfahrung und Übung ist. Jederman studieret jetzo / wie er hoch und berümpt in der Welt werden möchte / aber from seyn wil niemand lernen. Jederman [A3r] sucht jetzo hochgelahrte Leute / von denen er Kunst / Sprachen und Weißheit lernen möge / aber von unserm einigen1 Doctore Jesu Christo / wil niemand lernen Sanffmut und hertzliche Demuth / da doch sein heiliges lebendiges Exempel die rechte Regel und Richtschnur unsers Lebens ist / ja die höchste Weißheit und Kunst / daß wir billich sagen können. Omnia nos Christi vita docere potest.2
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Einzigen. Das Leben Christi kann uns alles lehren.
1.1 Arndt: Wahrer Glaube
Jederman wolte gern Christi Diener seyn / aber Christi Nachfolger wil niemand seyn. Er spricht aber / Joh. 12. Wer mir dienen wil / der folge mir nach:3 Darumb muß ein rechter Diener und Liebhaber Christi / auch ein Nachfolger Christi seyn. Wer Christum lieb hat / der hat auch lieb das Exempel seines heiligen Lebens / seine Demut / Sanfftmut / Gedult / Creutz / Schmach und Verachtung / obs gleich dem Fleisch wehe thut. Und ob wir gleich die Nachfolge des heiligen und edlen Lebens Christi in dieser Schwachheit nit vollkömlich erreichen können. Dahin auch mein Büchlein nicht gemeynet / so [A3v] sollen wirs doch lieb haben / und darnach seufftzen / denn also leben wir in Christo / und Christus in uns / wie S[anctus] Johannes / 1. Joh. 2. spricht: Wer da saget / daß er in ihm bleibet / der sol auch wandeln / gleich wie er gewandelt hat.4 Jetzt ist die Welt also gesinnt / das sie gern alles wissen wolte / aber das jenige / das besser ist denn alles wissen / nemlich / Christum lieb haben / wil niemand lernen. Es kan aber Christum niemand lieb haben / er folge denn auch dem Exempel seines heiligen Lebens. Viel seyn / ja die meisten in dieser Welt die sich des HErrn Exempels Christi schämen / nemlich / seiner Demut und Niedrigkeit / das heisset sich seines HErrn Christi geschämet / davon der HErr saget / Marc. 8. Wer sich meiner schämet in dieser Ehebrecherischen Welt / etc.5 Die Christen wollen jetzo einen stattlichen / prächtigen / reichen / weltförmigen Christum haben / aber den armen / sanfftmütigen / demütigen / verachteten / niedrigen Christum wil niemand haben / noch bekennen / noch demselbigen folgen / darumb wird er einmal sagen: Ich ken- [A4r] ne ewer nicht6 / ihr habt mich nicht wollen kennen in meiner Demut / darumb kenne ich ewer nicht in ewer Hoffart. Nicht allein aber ist das Gottlose Leben und Wesen Christo und dem wahren Christenthumb gantz zu wieder / sondern es heuffet täglich Gottes Zorn und Straffe also / daß Gott alle Creaturen wider uns rüsten muß zur Rache / das Himmel und Erde / Fewer und Wasser wider uns streiten müssen / ja die gantze Natur ängstet sich darüber7 / und wil brechen.
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Joh 12,26a. I Joh 2,6. Mk 8,38. Vgl. Mt 25,12; Lk 13,25. Vgl. Röm 8,22.
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1. Kirchenkritik
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Daher muß elende Zeit kommen / Krieg / Hunger und Pestilentz / ja die letzten Plagen dringen so heuffig und mit Gewalt herein / daß man fast für keiner Creatur wird sicher seyn können. Denn gleich wie die gräwlichsten Plagen die Egypter überfielen für der Erlösung und Außgang der Kinder Israel aus Egypten8 / also werden für der endlichen Erlösung der Kinder Gottes / schreckliche / gräwliche / unerhörte Plagen die Gottlosen und Unbußfertigen überfallen. Darumb hohe Zeit ist Busse [A4v] zu thun / ein ander Leben anzufahen / sich von der Welt zu Christo zu bekehren / an ihn recht gleuben / und in ihm Christlich leben / auff das wir unter dem Schirm des Höchsten und Schatten des Allmechtigen sicher seyn mögen / Psal 91.9 Darzu uns auch der HErr vermahnet / Luc. 21.10 So seyd nu wacker allezeit und betet11 / daß ihr wirdig werden möget zu entfliehen diesem allen / solches bezeuget auch der 112. Psalm. Darzu werden dir / lieber Christ / diese Büchlein Anleytung geben / wie du nicht allein durch den Glauben an Christum Vergebung deiner sünden erlangen solt / sondern auch wie du die Gnade Gottes recht solt gebrauchen zu einem heiligen Leben / und deinen Glauben mit einem Christlichen Wandel zieren und beweisen. Denn das wahre Christenthumb stehet nit in Worten / oder im eusserlichen schein / sondern im lebendigen Glauben / aus welchem rechtschaffne Früchte / und allerley Christliche Tugenden entspriessen / als aus Christo selbst. Denn weil der Glaube Menschlichen Augen verborgen und unsichtbar ist / so muß er [B1r] durch die Früchte erwiesen werden / sintemal12 der Glaube aus Christo schöpffet alles gutes / Gerechtigkeit und Seligkeit. Literatur : Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung. In: GdP 1, 113–204. – Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“. Hg. v. Hans Otte u. Hans Schneider. Göttingen 2007. – Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006.
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Vgl. Ex 7–12. Ps 91,1. Vgl. Lk 21,5–36 (Jesu Rede über die Endzeit). Lk 21,36. Weil.
1.2 Undereyck: Scheinchristen
1.2 Theodor Undereyck: Nichts ist für die Kirche gefährlicher als die Scheinchristen (1670) Christi BRAUT / Unter den Töchtern zu Laodicaea / Das ist / Ein hochnötiger Tractat / In diesen letzten Tagen. Darinnen Die lebendige Krafft deß seeligmachenden Glaubens von allen Schmach=Reden der in dieser Zeit Christ=scheinender Spötter / nicht nur auß H. Schrifft; sondern auch auß gleichlautenden Zeugnüssen der darinn gottseelig erfahrnen und von GOtt gelehrten Männern gereiniget und verthädiget wird. In Drey Theil: Deren Der I. die unfehlbaren Kennzeichen |Der II. die verschiedene Hindernüssen |Der III. die darzu nöthige Mittel in sich verfast. Von Theodor UnderEyck / Predigern zu Cassel. Perkins Tom. I über die I. Epist. Joh. Es ist der allergrösseste Gewissens=Fall / der jemahls kan fürgestellet werden / woran der Mensch erkennen sol / daß er ein Kind GOttes sey. Hanau: Johann Ingebrand 1670, Widmungsvorrede vom 6. Dezember 1669, )(iijv-)(vir; Teil 2, 34 f. Der reformierte Pfarrer Theodor Undereyck hatte in den Niederlanden studiert und war 1660 zunächst Pfarrer in Mülheim/Ruhr geworden. Hier hatte er ein Konsistorium (Gemeinderatsgremium) initiiert und sich auch durch die Einrichtung außergottesdienstlicher Institutionen, vor allem zur Katechismuslehre, um ein intensiviertes Gemeindeleben nach niederländischem Vorbild bemüht. In seiner Tätigkeit als Pfarrer in Bremen setzte er diese Reformbemühungen ab 1670 fort und wird deshalb auch als Begründer eines deutschen reformierten Pietismus angesehen. – Christi Braut / Unter den Töchtern zu Laodicaea stellt eine der zentralen Programmschriften Undereycks dar. Er parallelisiert hier die Kirche mit der endzeitlichen Gemeinde von Laodicaea, die zu Buße und Umkehr aufgefordert wird (vgl. Apk 3,14–22). Undereyck widmete die Publikation Hedwig Sophie von Hessen-Kassel (1623–1683), bei der er von 1668 bis 1670 als außerordentlicher Hofprediger tätig war.
Die Dornen pflegen auff zweyerley Weise zu verwunden / oder dem der damit umbgehet / schädlich zu seyn: Etliche derselbigen stehen sichtbar herauß; Und für denen können sich alle Freunde Christi / mit geringer Behutsambkeit in Acht nehmen: Etliche seynd unter den Blättern und Blumen verbor- [)(iiijr] gen; Und diese thun der unvorsichtigen Einfalt den grösten Schaden. Der Türck selbst / der Antichrist13 / und der Teuf13
Vgl. Apk 13.
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1. Kirchenkritik
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fel / seynd der Kirchen Christi mit ihren groben Ketzereyen / Tyranney und Blutvergiessen / vormahls nicht so gefährlich gewessen / als die geist= lieb= und leblose Töchter zu Laodicaea / in diesen letzten Tagen / unter einem äusserlich zwar wohlriechenden / im Grund der Warheit aber krafftlosen Blumen=Schein der Gottseeligkeit. Da kan eine Engelscheinende Dalila 14 unter der Blätter= und Blumen=Gestalt der guten Bekäntnüß / fleissiger Besuchung deß äusserlichen Gottes=Dienstes / und Beobachtung der gemeinen Bürgerlichen Pflichten / einen berühmten Nahmen haben / daß sie lebet ;15 Unterdessen aber für GOtt / und in dem Umbgang mit seinen himmlisch=lebenden Kindern / [)(iiij v] geistlich todt / oder doch weder kalt noch warm / sondern law seyn;16 Und dardurch einen starcken Simson / der sonst für tausent Philister nicht verzagt ist / süß und sanfft in dem Schlaf der Sicherheit einschmeicheln; Biß derselbe ungemerckt aller Krafft beraubt worden.17 Also dörffte man mit weniger Gefahr in der Frembde / unter den Philistern / ja wohl gar in Babel 18 seyn / da die GOtt verklärende Söhnung19 nach Jerusalem sich brünstiger herauß lässet / als unter denen so gemeinten Kindern Zions leben: Welche nachdem sie vorher dem Golde gleich geachtet gewesen / nachgehends den erdenen Töpfpfen gleich worden / die ein Töpfer machet .20 [)(vr] Durch und durch geheiligte Christen 21 / das ist / die eines recht geistlichen Lebens / und ihrem GOTT in Auffrichtigkeit gewidmet und geheiliget seynd / zieren das Reich CHristi : Sie seynd die rechte Pfeiler seiner Kirchen / und ein Schmuck seines Reichs auff Erden: Ja die rechte Kriegsleute / welche zur Aufferbawung und Außbreitung desselben / weder Güter noch deß Lebens zu verschonen geneigt seynd: Starcke Mawren durch einerley Hertzen 22 und Gemüther auf Christum allein verliebt / und durch eine himmlische Krafft aneinander gewachßen ; 14 15 16 17 18 19 20 21 22
Nach Jdc 16 Geliebte des als unbezwingbar geltenden israelitischen Richters Simson, die ihn verriet und an die Philister auslieferte. Vgl. Apk 3,1. Vgl. Apk 3,15f. Vgl. Jdc 16. Vgl. Apk 17f. Gemeint wohl: Sehnung oder Sehnsucht. Vgl. Thr 4,2. Vgl. I Thess 5,23a. Vgl. Jer 32,39.
1.2 Undereyck: Scheinchristen
Daß sie dannenhero deß allergrausambsten Feindes spotten können. Wann aber der Feind selbst seine Gestalt verändert / und dasselbige Wort dieselbige Kleydung / [)(vv] dieselbige Sprach / angenommen; und unter solchem betrieglich ungemerckten verführischen Schein / in die Vestung / in die sichtbare Kirche hinein schleichet;23 daß ein Freund dem andern / ein Bruder dem andern nicht trawen darff : Alsdann kompt die Braut Christi / das ist / Gottes außerwöhlte Kinder 24 in die gröste Gefahr / und werden zum öfftern durch ihren einfältigen Umbgang mit einem Engelscheinenden Satans=Knecht25 in Sicherheit gebracht; Sie würden auch also fort in den Strick deß ewigen Verderbens abgezogen werden: Wo sie nit durch GOttes Macht / verborgene Fürsehung und Regierung / dardurch er seine Heiligen wunderlich führet :26 ja auch durch das Blut deß Lambs / dardurch sie erkaufft :27 und durch den [)(vir] Heiligen Geist / der sie versiegelt auff den Tag der Erlösung 28 / zur Seeligkeit bewähret würden . […] [34] Die Zwölffte Schluß=Rede. WAnns aber die beklägliche Erfahrung / sonderlich in diesen letzten Zeiten augenscheinlich bezeuget / daß die meiste Menschen ihre gute Meynung / und die so vermeynte Hoffnung der zukünftigen Seeligkeit mehrentheils dara[u]ff gründen / daß sie dem äusserlichen Gottes= Dienst und was dem anklebt / [35] neben ihren Beruffsgeschäfften / ohne Anmerckung der gebührlichen Form und Weiße / so darzu erfordert wird / fleissig abgewartet; so ist zur weitern Außrottung dieses Vorurtheils und unbegründeter Muthmassung zu wissen vonnöthen / daß nicht nur in Ansehung aller Menschen auf der gantzen Welt / sondern auch von denen die zu dem grosen Abendmal29 beruffen und genöhtiget / auch sich nachgehends zu dem rechten Glauben bekennen / und aller guten Ordnung Gottes und seiner Kirchen neben andern bewah23 24
Vgl. Mt 7,15. Das Bild von den Auserwählten als Braut oder Gemahlin Gottes findet sich schon im Alten Testament. Im Neuen Testament kommt es mehrfach vor (→ 11.1), u. a. in Apk 21,2 für das neue Jerusalem. 25 Vgl. II Kor 11,14. 26 Vgl. Ps 4,4. 27 Vgl. Apk 5,9. 28 Vgl. Eph 4,30 u. I Kor 1,22. 29 Vgl. Lk 14,15–24.
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1. Kirchenkritik
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ren / die wenigste gründlich wiedergebohren / recht geheiliget und bekehret / und also der ewigen Seeligkeit theilhafftig werden. Literatur : Johann Friedrich Gerhard Goeters: Der reformierte Pietismus in Deutschland 1650–1690. In: GdP 1, 241–277.
1.3 Philipp Jakob Spener: Die lutherische Kirche ist ganz verdorben (1676) PIA DESIDERIA: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen / Philipp Jacob Speners / D. Predigers und Senioris in Franckfurt am Main; Sampt angehengten Zweyer Christlichen Theologorum darüber gestellten / und zu mehrer aufferbauung höchst=dienlichen bedencken. Frankfurt/Main: Johann David Zunner [1675] 1676, 1–3, 8–13, 35–38. Philipp Jakob Speners zur Herbstmesse 1675 erschienene, aber auf 1676 datierte Pia Desideria (fromme Wünsche) wurden zur Programmschrift des lutherischen Pietismus. Spener veröffentlichte sie erstmals im Anhang zu einer Neuausgabe der Postille (Predigten zu allen Texten des Kirchenjahres) Johann Arndts (1555-1621). Die Pia Desideria gliedern sich in drei Teile: Zunächst werden Kritikpunkte an der lutherischen Kirche und des von ihr geprägten Gemeinwesens benannt. Spener entfaltet dann eine gegenüber der lutherischen Tradition durchaus veränderte eschatologische Perspektive (→ 6.1) und macht schließlich konkrete Reformvorschläge (→ 2.2, → 3.1, → 4.1, → 17.2). Im Folgenden werden Speners grundlegende Kirchenkritik und deren Explikation an den drei Ständen (weltlicher, geistlicher und Hausstand) wiedergegeben.
WO wir mit Christlichen und nur etwas erleuchteten augen / (nach unsers Erlösers vermahnung / die zeichen der zeiten und dero beschaffenheit zu beurtheilen)30 den jetzmahligen zustand der gesammten Christenheit ansehen / so möchten wir billich mit Jeremia 9.v.1. in die klägliche wort außbrechen: Ach / daß wir wassers gnug hätten in unsern 30
Vgl. Mt 16,3.
1.3 Spener: Kirche ist ganz verdorben
häuptern / und unsere augen thränen=quellen wären / daß wir tag und nacht beweinen möchten den jammer unsers Volcks . Und hat zu denen [2] noch güldenen zeiten / jener liebe alte Vatter sprechen mögen: Ah in quae nos tempora reservasti Domine;31 so haben wir es heut zu tag mit so viel mehrerm fug nicht nachzusprechen / sondern / wie die gröste betrübnuß fast einige wort zu machen nicht vermag / nachzuseuffzen. Ich wil jetzo nicht reden von dem elend der Christlichen Kirchen / in deroselben gliedern / welche unter den unrecht=lehrenden / in dem Babylonischen gefängnüß32 deß Antichristischen Roms;33 unter der nicht nur so schweren Türckischen tyranney / sondern auch theils unglaublicher unwissenheit / theils vielen vermengten irrthumen / insgesampt erschröcklichen ärgernüssen in Griechen= und den Morgen= ländern / und unter so vielen irrigen lehren anderer von dem Pabst zwar abgetrettenen / aber zu der reinigkeit der lehr nicht gekommenen / gemeinden / verborgen ligen / und in höchster gefahr mit furcht und zittern ihre seligkeit würcken müssen:34 An dero jammer ohne innigliche bewegung von einer gottseligen Seele nicht gedacht werden kan. Sondern wo wir allein bleiben bey un- [3] serer Evangelischen kirchen / die das theure und reine Evangelium / so durch den Seligen Rüstzeug GOttes D. LUTHERUM in dem vergangenen Seculo wiederumb deutlich gezeiget worden / der äusserlichen bekanntnuß nach annimmt / und also in welcher wir deßwegen die wahre Kirche allein noch sichtbar zu seyn erkennen müssen: So können wir doch auch auff dieselbe die augen nicht wenden / daß wir sie nicht so bald auß betrübnüß und scham wiederumb niederschlagen müssen. [...] [8] Die andere und vornehmste ursach deß jammers unserer kirchen ist / daß in derselben selbsten (außgenommen / daß uns GOtt noch nach seiner überschwenglichen güte sein wort und Heil[ige] Sacramenten gelassen hat) es fast an allen orten manglet. Wo ist ein stand / den wir rühmen könten / also zu stehen / wie die Christliche regeln erfordern?
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„Ach, für was für Zeiten hast du, Herr, uns aufbewahrt!“ Nach Eusebius von Cäsarea (Historia ecclesiastica V, 20,7) ein auf Polykarp von Smyrna (um 69–um 155) zurückgehendes Zitat. 32 Offenbar ein Rückgriff auf Martin Luthers Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium von 1520. 33 Vgl. Apk 17 f. 34 Vgl. Phil 2,12b.
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1. Kirchenkritik
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Sehen wir den weltlichen stand an / und in demselben die jenige / welche nach Göttlicher von dem N[euen] Testament gethanen verheissung Esa. 49/23. pfleger und säugammen der kirchen solten seyn: Ach / wie wenig sind unter denselben / welche sich erinnern / daß ihnen GOtt ihre scepter und regiments=stäbe darzu gegeben / umb sich ihres gewalts zu seines Reichs beförderung zugebrauchen? sondern leben nicht die allermeiste / was grosse Herren anlangt / in den jenigen sünden / allen welt=wollüsten / welche das hof=leben meistens mit sich führet / [9] und fast als ohnzertrennlich darvon geachtet werden; Andere magistraten in suchung eigenen nutzens; daß man auß solchem leben mit seufftzen abnehmen muß / daß wenig unter denselben nur wissen / was das Christenthumb seye / geschweige / daß sie selbst solches an sich haben und üben solten? Wieviel sind deren / welche sich umb das geistliche durchauß nicht bekümmern / sondern mit jenem Gallion darvon halten / es gehe sie nichts an als das zeitliche?35 Auch unter denen / die sich noch der ersten tafel36 annehmen wollen37 / und sich umb die kirche wol zu verdienen gedencken / wieviel sind wiederum der jenigen / die es nicht alles nur auff das jenige ziehen / daß die hergebrachte reine Religion möge erhalten / und vor eintrag der falschen verwahret werden / damit es gleichwol noch lange nicht außgemachet ist. Ja / von wie vielen ist zu sorgen / daß ihr noch zeigender eiffer vor unsere Religion / vielmehr darvor als eine faction38, auß absicht eines politischen interesse, als auß liebe der Warheit herrühre? Wie undanckbar werden ihrer viele der grossen güte GOttes / welche sie [10] deß harten jochs der Päbstischen Clerisey / welches vor etlichen hundert jahren die damals gelebte / auch gekrönte häupter / gnugsam erfahren / befreyet / und was sie seyen / ihnen gezeiget hat? Daß sie hingegen jetzo ihre gewalt / so zu beförderung nicht aber unterdruckung der kirchen gegeben / durch eine unverantwortliche Caesaropapiam39 mißbrau-
35 36
Gemeint ist der in Act 18,12–17 erwähnte Gallio, Prokonsul von Achaja (gest. 65). In Adaption der in Ex 31,18; Ex 32,15–19 und Ex 34,28 erwähnten steinernen Gesetzestafeln bezeichnet die „erste Tafel“ die auf das Verhältnis zu Gott bezogenen ersten drei Gebote im Unterschied zu den das Verhalten der Menschen untereinander thematisierenden Gebote 4–10 („zweite Tafel“). 37 Gemeint ist die Sorge der Obrigkeit für den Gottesdienst. 38 Partei. 39 Die Herrschaft der staatlichen Obrigkeit über das Kirchenwesen.
1.3 Spener: Kirche ist ganz verdorben
chen / und damit / wo etwa einige von GOTT gerührte diener der kirchen etwas gutes zu stifften meynen / solches muhtwillig hindern. Also das zu bejammern ist / daß in einigen orten denen gemeinden besser gerathen / welche unter anderer obrigkeit lebende / in anderen etwa vieles leiden müssen / aber doch in der übung dessen / so zu der erbauung dient / nicht eben gantz gehindert werden / als den jenigen / welche die obrigkeit von ihrer Religion / aber von deroselben mehr hindernüß als fördernüß haben. Wie es nun in dem weltlichen stande betrübt gnug außsiehet. Ach / so mögen wir Prediger in dem geistlichen stande nicht läugnen / daß auch dieser stand gantz verderbet seye / und also von unsern beyden [11] obern ständen / die meiste verderbnüß unter die gemeinde außbreche. Jener alte Kirchen=vatter hat vor dem also zu schliessen befohlen: Quemadmodum videns arborem foliis pallentibus, marcidam, intelligis, quod aliquam culpam habeat circa radicem: ita cum videris populum indisciplinatum, sine dubio cognosce, quod sacerdotium ejus non est sanctum. Gleichwie wo du einen baum sihest / dessen blätter bleich sind / und er verdirbet / du darauß schliessest / es müsse ein mangel an der wurtzel seyn: Also wo du sihest / daß das volck ohne zucht ist / so schliesse ohnezweiffel / daß es mangele an einer heiligen priesterschafft .40 Ich erkenne gern unsers Göttlichen beruffs heiligkeit; So weiß ich auch / daß GOTT in unserm orden die seinige übrig behalten / die das werck deß HErrn mit eiffer meynen. Ich bin auch nicht deß gemüths / mit einem Elia Praetorio auff die extrema zu gehen / und kind und bad zusammen außzuschütten.41 Sondern der allsehende Hertzenkündiger42 sihet / mit was [12] betrübnuß meiner seelen ich offt hieran gedencke / und jetzo dieses schreibe: Daß ich gleichwol nicht anders sagen kan / als daß wir prediger in unserm stande so viele reformation bedürffen / als immer einiger stande bedürffen mag. Wie gemeiniglich GOTT / so offt er eine reformation, zum exempel in dem Alten Testament durch
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Ein auf Johannes Chrysostomus (um 347–407) zurückgehendes Zitat, das Spener von Heinrich Varenius (1595–1635) übernommen hat (vgl. Kurt Aland: Spener-Studien. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus I. Berlin 1943, 53). 41 Spener bezieht sich hier auf kirchenkritische Schriften von Christian Hoburg (1607– 1675), die in den 1640er Jahren unter dem Pseudonym „Elias Prätorius“ erschienen waren. 42 Vgl. Act 1,24 und 15,8.
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die gottselige könige / vorgehabt / solche an dem geistlichen stand hat lassen anfangen.43 Ich nehme mich auch nicht auß der zahl der jenigen / welche in unserm stand bißher deß ruhms manglen / den wir vor Gott und der kirchen haben solten / sondern sehe mehr und mehr / woran es mir auch selbst mangele / bereit auch von andern fernere erinnerungen brüderlich anzunehmen. Ja / es betrübt mich nichts mehr / als daß ich fast nicht sehe / wie in solcher greulicher verderbnuß unser einer sein gewissen retten möge. Wir müssen ja bekennen / daß nicht nur in unserm stande hin und wieder leute gefunden werden / die gleichwol auch von offentlichen ärgernussen nicht frey sind / sondern / daß etwa der jenigen viel weniger sind / als das erste ansehen zeigen solte / [13] welche das wahre Christenthum (so je nicht bloß dahin in enthaltung von äusserlichen lastern und einem äusserlichen moral guten leben bestehet) recht verstehen und üben: Sondern es blicket auch bey vielen / deren leben / wo es mit gemeinen und von der welt mode eingenommenen augen angesehen wird / untadelhafftig scheint / gleichwol der welt=geist in fleischeslust / augenlust / und hoffärtigem leben / ob schon etwas subtiler / jedoch also herausser / das sich erkennen lässt / man habe noch das erste practische principium deß Christenthums / die verläugnung sein selbst / niemals mit ernst vorgenommen. [...] [35] Da es nun also in den ständen gehet / welche den dritten stand / und in demselben die meiste / solten regieren und zu der wahren gottseligkeit führen / mag nun leicht errathen werden / wie es dann in demselben gehet; Nehmlich wie es abermahl vor augen ligt / daß man der regeln Christi keine in offenem schwang sihet. [36] Unser liebe Heyland hat uns vorlängst das merckmahl gegeben / Johan. 13.v.35. Daran wird jederman erkennen / daß ihr meine Jünger seyd / so ihr liebe unter einander habt . Hie wird die liebe zum kennzeichen gemacht / und zwar eine solche liebe / die sich offentlich hervor thue / und nicht bloß in dem vorwandt einer in dem hertzen habenden aber unfruchtbahren liebe / 1.Johan.3.v.18. bestehe. Urtheilen wir nun nach diesem kennzeichen: wie schwehr wird es unter einem grossen hauffen vorgegebener / nur eine geringe anzahl recht wahrer Jünger Christi zu finden? und gleichwol trieget deß HERRN wort nicht / sondern wird wahr bleiben nun und in Ewigkeit. 43
Vgl. v. a. II Reg 23,1–25; II Chr 34,29–35,19.
1.3 Spener: Kirche ist ganz verdorben
Man sehe doch das gemeine leben an / auch derer unter den unseren so genannten Lutherischen (die aber auch solches namens nit werth sind / als die die lehre deß theuren Lutheri von dem lebendigen glauben nit erkennen) finden wir nicht schwehre ärgernüß / ja solche ärgernüssen / die völlig in offenem schwange gehen? Ich wil nicht sagen von dergleichen lastern / die auch in der welt unrecht zu seyn erkannt werden: [37] Dann derselbigen ärgernüß thut endlich so viel schaden nicht. Aber viel schwerer ist das jenige / welches herkommt von sünden / die man nicht mehr vor sünden erkennet / oder je dero schwehre nicht achtet. Wir müssen bekennen / daß die Trunckenheit unter die zahl gehöre / welche nicht nur an hohen und geringen orten bey geist= und weltlichem stande regieret / sondern auch ihre vertheidiger findet / welche ob sie wol bekennen / daß der jenige / welcher gar ein handwerck drauß machen wolte / sich damit versündigte / dannoch immer darvor halten wollen / daß bey gelegenheit einem guten freund zu gefallen / da es eben nicht zu offt geschehe / einen rausch zu trincken / keine / oder eine kaum deß andens würdige sünde seye. Daher wird solche niemahl bußfertig erkannt; dann solte sie erkannt werden / so muß einmahl der haß gegen sie gefasset seyn / nun und nimmermehr dieselbe jemand zu gefallen zu begehen. Wem kommt aber bey dem gemeinen hauffen dieses nicht gantz frembd und ungereimt vor / daß er auch diese sünde ein vor alle mahl verschweren müsse / solle er ein kind GOttes seyn? [38] Vielmehr gedencken solche leuthe / die jenige / welche wider solche sünde eiffern / müssen sonst seltzame leute / oder auß andern ursachen dieser ergötzlichkeit feind seyn / als / daß sie dero lehre in diesem punct vor Göttlich solten erkennen; und gleichwol ist sie Göttlich. Massen S. Paulus 1.Cor. 6/10. die trunckenbolden unter keine (vor GOTT) ehrlichere gesellschafft setzet / als zu den hurern / ehebrechern / weichlingen / knabenschändern / dieben / geitzigen / lästerern / raubern : Die alle überhaupt vom reich GOttes von ihm außgeschlossen werden. Edition : Ph. J. Spener: Pia Desideria. Hg. v. Kurt Aland. Berlin 31964, 9–11, 14–17, 28f. – Literatur : Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 21986.
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1.4 Philipp Jakob Spener: Die lutherische Kirche ist nicht mit Babel gleichzusetzen (1685) Der Klagen über das verdorbene Christenthum mißbrauch und rechter gebrauch / Darinnen auch Ob unsere Kirche die wahre Kirche oder Babel / und ob sich von deroselben zu trennen nöhtig / gehandlet wird. Samt zweyen Anhängen: I. Ob man mit gutem gewissen heut zu tag in dem Kirchen=Dienst stehen bleiben könne / oder denselben nohtwendig verlassen müsse? II. Wie sich die in den beyden Obern Ständen befindliche personen vor GOttes angesicht in ihrem gewissen zu prüffen haben? / In der furcht des HERRN auffgesetzt Und anderer Christlichen mitbrüder gottseligem nachsinnen vorgestellt [...] Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1685, 78–83. Einigen von Philipp Jakob Speners Anhängern in Frankfurt ging dessen Kirchenkritik (→ 1.3) schon bald nicht mehr weit genug. Sie kamen zu dem Schluss, dass die vorfindliche lutherische Kirche auf dem Wege innerkirchlicher Erneuerungen nicht mehr zu reformieren sei und setzten sie mit dem verdorbenen Babel nach Apk 17/18 gleich. Im Ergebnis rief insbesondere der Frankfurter Jurist Johann Jakob Schütz (1640–1690) explizit dazu auf, sich von der verfassten Kirche fernzuhalten (→ 2.4). In der vorliegenden Schrift versuchte Spener zu erklären, weshalb dies der falsche Schluss sei.
Wir gehen nun zu der dritten frage: Ob auß solchen Plagen / oder vielmehr denen beklagten unordnungen / folge / daß dann unsere kirche Babel seye / oder ein stück des grossen Babels / weil es so verwirret darinnen hergehe. Welche frage zwar mit der vorigen zimlich überein kommet / jedoch auch noch etwas unterschieden ist: massen auch noch nicht jegliche falsche kirche deßwegen stracks das Babel wäre / vielweniger solcher schimpffnahme der rechtlehrenden kirchen gegeben werden solle. Die frage aber selbst anlangend / so habe ich auch bereits anderwertlich (pia desid[eria] p[agina] 65.) meine gedancken davon zuerkennen gegeben:44 dabey ich nach erwegung alles dessen / was die Schrifft davon saget / noch bleiben muß. Zwar wo wir das wort Babel allein in dem verstand / den die bloße etymologia des worts mit sich
44
Vgl. Spener, Pia Desideria 1676 (→ 1.3), 65.
1.4 Spener: Kirche ist nicht babel
bringet / vor alle verwirrung und verwirrtes wesen nehmen wolten / so wäre nicht zu läugnen / daß in solchem allgemeinen verstand eine jede kirche / welche in grosser unordnung stehet / solchen nahmen tragen möchte: und so mögen auch zu- [79] weilen rechtschaffene lehrer von der wahren / aber in grossem verfall stehenden / kirchen diese wort gebraucht haben / wir heilen Babel / aber sie will sich nicht heilen lassen . Ja so offt etwa reine lehrer solches wort dahin brauchen / ist dieses auch allein die meinung nach dem allgemeinen verstand. Weil aber / wo eigentlich geredet wird / welche kirche Babel und also auß derselben außzugehen seye / uns nicht frey stehet / das wort nach der blossen derivation45 und herziehung außzudähnen / wie wir wollen / sondern nöthig ist / daß wir bey der sprache des H[eiligen] Geistes bleiben / so werden wir finden / daß uns solches Babel oder Babylon Offenb[arung] Joh. 17. und 18. beschrieben wird; wir werden auch an solchem ort nicht auff 1. Mos. 11. und die verwirrung / darvon es den nahmen erstlich empfangen / und der sich doch auch in dieser materie nicht applicieren46 läßt / oder alles sehr gezwungen ist / gewiesen / sondern auff Esa. 21. und Jerem. 51. und also auff das reich Babel / wie es damahl gewesen / als es das volck Gottes oder die Jüdische kirche feindlich bestritte. Daher wir allein auß derselben zeit analogia, [80] so viel es sich sonsten thun lässet / nicht aber auß der ersten gelegenheit des thurns zu Babel / abzunehmen was Babel heisse: wo wir / alles zusammen gefasset / ungefehr dieses mögen finden. 1. Babel seye ein offentlicher und bekanter feind der rechtlehrenden kirche. 2. Nicht alle feinde der kirchen sind Babel / (wie das volck Gottes auch zu solcher zeit mehr als einen feind gehabt hat) sondern allein ein gewisser hauptfeind / der ihr mehr und nachtrücklicher als andere zusetzet. 3. Solches Babel erlangt die gewalt / das verdorbene und abtrünnige Jerusalem / und also die wahre kirche / aber wie sie in grossem verfall stehet / (daher ist solche sehr verworren und doch nicht das Babel selbst) zu zerstöhren / und das gerichte Gottes über dasselbe außzuführen. Damit aber häuffet es selbst sein sünden=maaß / und ziehet sich den letzten zorn Gottes über den halß / der es auff ewig vertilget. Diese folgen mögen wir zur erklärung des Babels auß der betrachtung des alten reichs / so solchen nahmen getragen / und dessen bild von dem H. Geist durch den H. Johannem / aufs neue in dem 45 46
(Etymologische) Ableitung. Anwenden.
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N[euen] T[estament] auf eine geistliche gewalt gezogen wird / herziehen / und hoffe ich / ein unpartheyischer leser / der in [81] der forcht des HErrn der sache nachdencket / werde finden / daß solches dem sinn und absicht des H. Geistes viel gemäßer seye / als jene absicht auff das blosse wort. Vielleicht mögen andere / die der sache noch tieffer nachdencken / mehrere stücke der vergleichung finden können. Wo wir aber in die Offenb. Johannis selbst gehen / so werden wir gelehret / es seye dieses das grosse Babylon / aber im geheimnüs / und also wie Lutherus c[apitel] 18 [vers] 5 die glosse wol dazu thut / die geistliche grosse Babylon.47 Also bestehet es in einem nicht leiblichen oder weltlichen / sondern geistlichen / oder eine geistliche gewalt vorwendenden / reich. Wo aber dasselbe abermahl zu suchen seye / stehet in ebensolchem Cap[itel] v[ers] 9. 18 daß es seye die grosse stadt / welche damahl das reich gehabt über die könige auff erden. Welches eine so deutliche beschreibung des Roms ist / daß auch die vornehmste Papisten durchauß nicht läugnen / daß solcher ort Rom genennet werde / von dem sie auch bekennen / daß es noch verstöhret werden müsse / wie ich in piis desid[eriis] (ed[itio] Lat[ina]) in append[ice] auß berühmten Römischen Scribenten und Jesuiten dargethan habe.48 Also folget endlich / es [82] seye das gantze geistliche reich Babel das jenige geistliche reich / welches Rom / den Römischen stuhl und dessen regimentin dem geistlichen / vor seine haupt=stadt und obrigkeit erkennet / und deßwegen wider die wahre kirche so wol mit vermeintlich=geistlichen waffen streitet / als sich auch der weltlichen gewalt der in seinem gehorsam stehenden gewaltigen nach Gottes verhängnüs gebrauchet. Dieses achte ich so klar / daß man meinen solte / es seye nicht müglich / daß nicht diese warheit allen denen einleuchte / die auß der schrifft selbst allein den verstand des Babels hernehmen wollen. Darauß wird aber hinwieder offenbar / daß die rechtlehrende / obwohl sehr verfallene / kirche nicht könne das Babel seyn / als welche es offentlich zum feinde hat / und ausser seinem gehorsam stehet: wie wir ja Babel und das verderbteste Jerusalem nicht dörffen vermischen. 47
Die Kapitelangabe (Apk 18) ist nicht richtig. Diese Erläuterung gibt Martin Luther (1483–1546) zu Apk 17,5 (vgl. Die ganze Heilige Schrift deutsch. Übers. v. Martin Luther. Hg. v. Hans Volz. Neuausgabe der Ausgabe Wittenberg 1545. Bd. 3. München 1974). Auch im Folgenden geht es hier um Apk 17. 48 Vgl. Ph.J. Spener: Pia Desideria Necessariae emendationis Evangelicae verae ecclesiae, serio suscipiendae [...]. Frankfurt/Main 1678, 195–198 (vgl. die Deutsch-lateinische Studienausgabe. Hg. v. Beate Köster. Gießen, Basel 2005, 393, 395, 397).
1.5 Feller: Pietisten leben nach der Schrift
Ob nun wol hinwieder eingewendet werden möchte es hiesse alles Babel / was ein reich seye welches sich gegen Göttliches reich erhebe / und in eigener liebe / eigner erfindung und hochmuth sein regiment führe / welches allen secten gemein seye / und also alles auff einer wurtzel stehe: so sihe ich doch nicht solches dem [83] jenigen / was der H. Geist davon sagt / gemäß zu seyn / oder darauß erwiesen werden zu können / an dessen offenbahrung wir aber genau verbunden sind / wollen wir nicht in einer solchen wichtigen sache gefährlich irren / und unsern eignen etwa wohlgemeinten gedancken nachfolgende uns und andern unrecht thun. Meinen andere mit recht den nahmen des Babels weiter außzudähnen / so sind sie hertzlich zu beten / auch achte ich sie dazu allerdings verbunden / daß sie solches mit dergleichen gründen der schrifft thun / daß der jenigen / welche göttlichen willen und warheit auch hierinnen zuerkennen hertzlich begierig sind / gewissen möge überzeuget werden daß sie darinnen nicht ihren vermuthungen / sondern dem sinn des H. Geistes (der allein der grund des glaubens sicher seyn kan) nachfolgen: woran einmal ein grosses gelegen ist: Ich hingegen dieses / dessen ich mich auß Gottes wort versichert halte / auch anderen mit mehr liecht begabeten mitbrüdern willig zu dero nachsinnen und beurtheilung (aber allein nach der regel der Schrifft) übergebe / und so fern unterwerffe. Literatur : Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: GdP 1, 279–389, hier 295–299. – Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002.
1.5 Joachim Feller: Pietisten leben nach der Schrift (1689) Sonnet. In: LUCTUOSA DESIDERIA Quibus VIRUM JUVENEM DOCTISSIMUM PARITER AC PIETISSIMUM, DN. MARTINUM BORNIUM, Belgradia-Pomeranum, SS. Theol. Studiosum hactenus perindustrium, in ipso studiorum atque aetatis flore d. IV. Augusti Anni hujus M DC LXXXIX. in CHRISTO beate defunctum, Ipso exequiarum die, qui Augusti erat VII, prosequebantur Quidam Patroni, Praeceptores atque Amici. Leipzig: Christoph Günther [1689].
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Im Kontext der Unruhen um August Hermann Francke (1663–1727) und andere Magister der Theologie, die in Leipzig Collegia Philobiblica (philologischexegetische Übungen zu biblischen Texten) abgehalten hatten, verfasste der Professor für Poesie Joachim Feller 1689 ein Epicedium (Leichengedicht) auf einen Theologiestudenten. Darin stellt er der Konnotierung des seit den 1670er Jahren bekannten Begriffs Pietist als Spottname das Argument entgegen, dass die Anliegen der sog. Pietisten mit dem von allen Christen zu verlangenden Streben nach wahrem Christentum identisch sei.
ES ist ietzt Stadt=bekannt der Nahm der Pietisten; Was ist ein Pietist? der Gottes Wort studirt / Und nach demselben auch ein heilges Leben führt. Das ist ja wohl gethan / ja wohl von iedem Christen. Denn dieses machts nicht aus / wenn man / nach Rhetoristen Und Disputanten Art / sich auf der Cantzel ziert / Und nach der Lehre nicht lebt heilig / wie gebührt / Die Pietät die muß vor aus im Hertzen nisten. Der baut auch zehnmahl mehr / als wohlgesetzte Wort / Ja alle Wissenschafft / sie nutzt auch hier und dort. Drum weil der Seelge war / bey mancher schönen Gabe Und nimmer=müden Fleiß / ein guter Pietist / [25] So ist Er nunmehr auch ein guter Quietist49 / Die Seel ruht wohl in Gott / der Leib auch wohl im Grabe. Schriebs in Paulina50 L[icentiat] Joachim Feller / P[rofessor] P[ublicus] und der Universität Bibliothec[arius] Edition : Luctuosa desideria. Wiedergefundene Gedenkschriften auf den Leipziger pietistischen Studenten Martin Born [1666–1689]. Mit Gedichten von Joachim Feller, August Hermann Francke und anderen. Hg. v. Reinhard Breymayer. Teil 1. Luctuosa desideria und Vetterliche und Freund-verbundene Letzte Pflicht. Text. Tübingen 2008, 24 f. – Literatur : Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus (1921). In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Hg. v. Dietrich Blaufuß. Bielefeld 1975, 153–267. – Wolfgang Miersemann: „Pietismus“ und „Teutsche Poeterey“. Zu einem Schlüssel49
„Ruhender“. Seit den 1680er Jahren wurden als Quietisten sonst die Anhänger einer mystischen Richtung im Katholizismus um Miguel de Molinos (1628–1696) bezeichnet. 50 Universität Leipzig.
1.6 [Schade:] Privatbeichte
text des Poesieprofessors und „Sängers der Leipziger pietistischen Bewegung“ Joachim Feller (1638–1691). In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. v. Rainer Lächele. Tübingen 2001, 191–241.
1.6 [Johann Caspar Schade:] Die Privatbeichte überfordert das Gewissen der Pfarrer (1697) Die Schändliche PRAXIS Des Beicht=Stuhls und Nacht=Mahls des HERRN. In drey unterschiedenen Schrifften [...] Gezeiget und klärlich erwiesen Von denen / die in ihrem schweren Ampte über die allenthalben in Religionen und Secten im Schwange gehende Babylonische Greuel ängstlich Seuffzen und Schreyen. [o.O.] 1697, Teil 1, A2r–B1r. Wie August Hermann Francke (1663–1727) gehörte Johann Caspar Schade zu der Schülergeneration Philipp Jakob Speners (1635–1705), die zwar ebenfalls für eine innerkirchliche Reform plädierte, darin aber zum Teil wesentlich radikalere Optionen vertrat, als Spener dies vorgeschlagen hatte. Diese betrafen insbesondere verschärfte Kirchenzuchtmaßnahmen – mit dem Ziel, jedes einzelne Gemeindeglied unter teils erheblichen Anforderungen an eine veränderte Lebensführung zu einem ‚guten‘ Christen zu erziehen. Dies führte vielfach zu Auseinandersetzungen um die weiterhin übliche Privatbeichte, insofern die pietistischen Pfarrer aus Sorge, dass sie im Falle einer Absolution der in ihren Augen nicht bußfertigen Gemeindeglieder Schuld (nach Ez 3,18–20) auf sich laden würden, diese vielfach verweigerten und sie somit vom Abendmahl ausschlossen. So versuchten sie faktisch, innerhalb der Ortsgemeinden wahre von falschen Christen zu trennen. Die im Folgenden in Auszügen abgedruckte, anonym veröffentlichte Schrift Schades bildet das bereits 1696 als Flugschrift verbreitete zentrale Dokument in dessen grundsätzlicher Kritik an der Einzelbeichte, die den sog. Berliner Beichtstuhlstreit auslöste und letztlich zur Aufhebung der Privatbeichte führte.
Teil 1: Gewissens=Scrupel oder Fragen / welche allen gewissenhaften Theologis in ihren von GOtt empfangenen schweren Ampts=Verrichtungen zum Examine und gründlichen Beantwortung übergeben werden. 1. OB sich ein Prediger darüber keinen Scrupel zu machen habe / wenn er an einem solchen Ort / und auf dergleichen Art Beichte sitzen soll / da er mit keinem Beicht=Kind allein oder absonderlich handeln kan; sondern es in aller andern Gegenwart und Zuhören thun muß /
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daß dadurch seine und der Confitenten51 Andacht und Muth gestöret wird. Da doch die Aenderung des Orts so leicht und ohn einig Aergerniß geschehen kan: Oder obs ihm gnug ist / daß er es also gefunden / auch andere dergleichen thun und gethan haben / und weil es nun zur Gewohnheit gekommen? 2. Ob sich ein Prediger kein Bedencken drüber machen dürffe solche zu admittiren52 / und sie im Namen Gottes mit dem Siegel der Hand Auflegung der Vergebung ihrer Sünden zu versichern / die er doch nie gesehen; Weil er sie ja also im geringsten weder nach dem äusserlichen Leben noch innern Hertzens=Zustand kennen / geschweig preisen kan. Und ob ihm das gnug sey / daß es auch von andern / und aller Orten dergleichen geschehe? 3. Ob er mit gutem Gewissen für Gott die jenige / an welchen sich die grösseste Unwissenheit bey ihrer Beicht äussert / die er befunden / daß sie / (auch nur nach der geringsten Untersuchung) nicht einmahl eine Erkäntniß der Person oder Geschicht Christi / geschweig geistlich und lebendigs Erkäntniß haben / gleichwol absolviren53 und hinzulassen könne? Und ob das gnug sey / daß sie es begehren / und gleichwol auch von andern zugelassen worden seyn und werden? [...] [A2v] 6. Obs ein unnöthiger Scrupel sey / wenn ein Prediger sich beschweret findet / denen die Hand aufzulegen / und das Sacrament zur Stärckung des Glaubens und Versicherung des ewigen Lebens zu reichen / an derer Leben und Bezeigen er doch offenbahre Früchte des Unglaubens / und Wercke des Fleisches findet / als Zorn / Geitz / Hadder / Verachtung Gottes Worts / Schändung des Feyertags / Fluchen / Aergerniß / Unterlassung alles guten Gebets / Lesung / Kinder Erziehung / etc. Und ob ihm das genug / daß sie alleweg sich zu bessern aus Gewohnheit versprechen; Und er es sie verantworten lässet? 7. Ob er die zu absolvieren und admittieren kein Bedencken zu tragen / welche auff alle öffentliche und absonderliche Ermahnungen und Warnung / ohne einige dißfalls geltende Ursach / bloß zum Beweiß ihrer Widerspenstigkeit / Trotz gegen ihre Lehrer / und zum Aergernis und Betrüben seiner und vieler andern Seelen / mit ärgerlichem Kleider=Pracht und Geberden sich auff führen etc. Sonderlich die / welche 51 52 53
Beichtende. Durch Erteilung der Absolution zum Abendmahl zuzulassen. Die Absolution erteilen.
1.6 [Schade:] Privatbeichte
mit den allerhöchsten Thürnen / gepuderten Haaren / und biß aufn Hindern hangenden Paruquen54 hergezogen kommen / ihre Demuth bezeigen; Und ob ihn befriedigen könne / daß sie doch dabey ein demüthiges Herz haben können / oder / daß es nunmehr die allgemeine Mode sey? 8. Ob der Prediger dißfals irre / wenn er seinem Hertzen [A3r] dafür hält und lehret / daß die Hoffarth eben auch unter die verdammliche Sünden gehöre / und meistens aus denen äußerlichen Geberden und Gepränge zu schließen; Oder / ob nach gemeiner Meynung / alle äußerliche Dinge für Adiaphora55, und denen Christen nach ihrer Freyheit / erlaubte Sachen anzusehen? [...] 11. Ob dieses von einem Conscientia erronea56 und ungegründeten Wahn herrühre / wenn ein Prediger darüber grosse Angst und Furcht befindet / daß er bey Aufflegung der Hand und Benennung des allerheiligsten Nahmens der Göttlichen DreyEinigkeit / also absolviret / und drauff das Sacrament reichet / da ihm doch die klägliche Erfahrung und so vieler Bekäntniß und Klage versichern / daß die meisten auf diese absolution sich so fest verlassen / daß sie deswegen an keine wahre Bekehrung recht dencken / sondern dem Prediger trauen / er werde ja seiner Sachen und ihrer Seligkeit auff seine Treu und Verantwortung versichert seyn / sonsten würde er sie nicht annehmen. Und ob gegen die allgemeine [A3v] eingerissene Meynung und Vertrauen auf des Predigers Absolution gnug sey / in der Predigt zuweilen sie zu widerlegen: Mißbrauch und Gebrauch zu zeigen? [...] [B1r] 22. Ob nicht hierinnen Lutheri Worte zu erwegen / da er schreibet: Wenn du ein Wucherer / (als: Trunckenbold / Flucher / Sabbath=Schänder) gewiß weist und kennest / daß du ihm nicht reichest das Abendmahl noch die Absolution / so lang er nicht büßet / sonst machst du dich seines Wuchers und Sünden theilhafftig / und fährest mit ihm zum Teuffel ümb frembder Sünden willen / wenn du gleich deiner Sünde 54 55
Perücken. Mitteldinge: In der traditionellen christlichen Ethik Bereiche des Handelns, die nicht zu den Kernbereichen christlicher Lebensführung zählten und deshalb keinen Normierungen unterlagen. 56 Irrendes Gewissen; vgl. die Publikation der 30 Fragen als Flugschrift unter dem Titel
Vom Conscientia erronea, oder also genannten Irrigen Gewissen eines Predigers Wegen Absolution und Außtheilung des H. Abendmahls / Einige Fragen vorgestellet (o.O. [1696]).
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1. Kirchenkritik
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halben so rein und heilig wärest als St. Johannes der Täuffer. Item: Thue Buße! wo nicht / so kanst du eben so wohl ohne mich und meine Absolution einfältig zum Teuffel fahren / als daß du mit meiner Absolution zwiefältig zum Teuffel fährest / und dazu mich ohne meine Schuld / durch deine Schuld mitnimmst. Nein Gesell / es heist: Fahr du hin / ich bleibe hie: Ich bin nicht Pfarrer / daß ich mit jederman zum Teuffel fahre / sondern daß ich jedermann mit mir zu GOtt bringe. Tom[us] VII 40457. Literatur : Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul u. a. Göttingen 2010, 57–84. – Claudia Drese: Der Berliner Beichtstuhlstreit oder Philipp Jakob Spener zwischen allen Stühlen? In: PuN 31, 2005, 60–97.
1.7 Gottfried Arnold: Die lutherische Kirche ist nicht mehr reformierbar (1698) Babels Grab=Lied. In: Ders.: Göttliche Liebes=Funcken / Aus dem Grossen Feuer Der Liebe Gottes in CHristo JESU entsprungen; und gesammlet [...]. Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1698, 160–164. Die von Philipp Jakob Spener (1635–1705) abgelehnte Auffassung, dass die lutherische Kirche nicht mehr reformierbar, sondern nun – wie die römische Kirche – mit der in Apk 17/18 beschriebenen gänzlich verdorbenen ‚Hure Babel‘ zu identifizieren und deshalb zu verlassen sei (→ 1.4), spielte auch in der weiteren Entwicklung des Pietismus immer wieder eine Rolle. Das vorliegende Gedicht von Gottfried Arnold ist hierfür ein besonders signifikantes Beispiel, wobei der Verfasser in den einzelnen Bildern zugleich auf Jer 51 rekurriert. Das Gedicht ist vermutlich am Beginn der 1690er Jahre entstanden. Arnold selbst hat seinen radikal kirchenkritischen Standpunkt nach 1700 aber so weit modifiziert, dass er selbst als Pfarrer tätig wurde.
57
Vgl. Martin Luther: An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen, Vermahnung 1540 (WA 51, 331–424, hier 367 f. und 371). Die Angabe könnte sich beziehen auf den 1662 erschienenen 7. Band der Altenburger Lutherausgabe, allerdings wäre die Seitenangabe dann nicht ganz korrekt (die Zitate finden sich auf S. 409 f.).
1.7 Arnold: Kirche nicht mehr reformierbar
Babels Grab=Lied. Jerem. 51. v. 9. Melod[ie] Nur frisch hinein / es kan so tieff etc. 1. Der Wächter Rath / Den Gott bestellet hat / Spricht die Sententz schon über Babels wunden / Es sey kein Artzt noch Kraut vor sie gefunden / So gar verzweiffelt sey der Schad / Den Babel hat. [161] 2. Ein jeder will Den Schmertz zwar machen still / Wie viel Quacksalber wollen Ritter werden An diesem Krebs? und sehn nicht die Beschwerden / Daß Babel selbst GOtt niemals halten still Und folgen will. 3. Sie inficirt den Artzt / der sie berührt / Und läßt an ihm zum Trinckgeld Plagen kleben / Der sie doch will erhalten bey dem Leben / Und flickt an ihr. So / daß man deutlich spürt / Wer sie berührt. 4. Es zieh ihr an Die Larve / wer noch kan / Such seine Kunst mit Schwätzen zu beweisen / Die Zorn=Fluth wird den Heuchel=Schmuck greiffen. Das Feuer kommt und zündt die Stoppeln an. So bleibt nichts dran. 5. Seht ihr noch nicht / Daß ihr gar nichts außricht / Ihr / die ihr sie so gerne woltet heilen? Wollt ihr in dem Pest=Hause noch verweilen? Seht / daß euch ja der Patiente nicht Den Halß noch bricht. 6. Man sieht den Greul / Der Boßheit starcke [162] Seul. O pfuy wie stinckt die Hure hier auff Erden! Wie soll sie nicht ein Abscheu Engeln werden? Wenn sich entdeckt von so gar langer Weil Der Boßheit Greul. 7. So lasst sie gehn / und ihrem Richter stehn! O reisset Band und Pflaster ihr vom Leibe / Damit sie bloß und nackend stehen bleibe! Die Schande muß der gantze Himmel sehn. Drum laßt sie gehn! 8. Des Bechers Grimm schweigt ihre Zauber=Stimm: Der Könge Muth fängt sie schon an zu hassen. Man wird ihr nichts als Schand und Blösse lassen. Es zeigt ihr schon von fern die Engels=Stimm Des Bechers Grimm. 9. Der Tod sitzt ihr schon auff der Zungen schier / Ihr Aas soll bald in Abgrund seyn begraben / Da mögen sich die Buhler an ihr laben. Die fürchten schon / es falle ihre Zier / Und merckens schier. 10. Drüm stürmt ihr Nest / darinn sie stolz gewest / Zerschmettert ihre Kinder an den Stei- [163] nen! Die Schlangen=Brut soll ja niemand beweinen. Gebt ihrem Bau / dem Frevel=Sitz / den Rest /Und stürmt ihr Nest. 11. Seht / welcher Christ erst auff der Mauren ist / Soll zur Belohnung Schwerdt und Feuer haben / Bey diesem Sieg ertheilt man solche Gaben. Doch bey GOtt kriegt ein solcher Helden=Christ / Was ewig ist.
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1. Kirchenkritik
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12. Auff / auff! Es rufft auß jener Sternenlufft / und bläßt schon Lerm der Wächter auff der Mauren Der Sion=Stadt58. Es müsse keinen dauren Ehr / Gut und Blut! Hört wie euch in der Lufft Der Wächter rufft. 13. Laufft an / und streit in Helden=Tapfferkeit! Soldaten müssen nicht so feige kämpffen; Wer will dann sonst der Hure Herrschafft dämpffen / Wann auch nicht Hirten=Knaben sind bereit Zur Tapfferkeit? 14. Zwar mit dem Maul Ist annoch keiner faul; Es weiß ein jeder was davon zu sagen. Wer kan nicht über das Verderben klagen? Doch wenn es weiter geht / als an das Maul / So ist man faul. [164] 15. Drum dämpffet nicht Den Geist / wenn er außbricht In euch und andern / Babels Grund zustöhren; Ihr sonderlich / die ihr wollt viel bekehren / Seht / daß nur erst in euch gantz Babel bricht / Und heuchelt nicht. 16. Nennt fein das Kind Mit Namen / wie ihrs findt / Und schmieret nicht ein Pflaster auf den Schaden / Das euch selbst zum Gerichte möcht gerathen. Geht auß! schreyt an das höllische Gesind / Wo ihr es findt! 17. Bey Heuchel=Tand Wird Zion nicht bekandt / Wenn niemand will den Fuchs ins Fell recht beissen. Wollt ihr der Hur noch Reverentz beweisen / Die balde soll mit Feur seyn verbrannt? O Heuchel=Stand! 18. Indeß Gedult! GOtt find schone Babels Schuld / Triumph! Es ist der Sturm Sion gelungen! Drum sey GOTT schon im Vorrath Lob gesungen! Ein richtig Hertz bleibt doch in GOttes Huld / Darum Gedult. Literatur : Jürgen Büchsel: Vom Wort zur Tat: Die Wandlungen des radikalen Arnold. Ein Beispiel des radikalen Pietismus. In: Gottfried Arnold (1666–1714). Hg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, 145–164. – Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: GdP 1, 391–437, hier 410–416.
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Das neue Jerusalem (vgl. Apk 21).
1.8 Horche: Wahrhaftige Heiligung
1.8 Heinrich Horche: Die Pfarrer müssten wahrhaftige Heiligung predigen und darin selbst Vorbild sein (1701) Reinigung der Kinder Levi / In einer Glaubens=Bekäntniß / Und Vermahnung an seine Brüder fürgestellet / Und dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / HERRN Carln / Land=Grafen zu Hessen / etc. etc. etc. Seinen Gnädigsten Fürsten und Herrn / Auff Gnädigsten Befehl unterthänigst überreichet [...]. Offenbach/Main: Bonaventura de Launoy [Kassel, 23. Mai 1701], 12–15. Die Abfassung des Glaubens=Bekäntniß[es] des reformierten Theologen Heinrich Horche fällt in die ersten Jahre von dessen Leben nach der Entlassung aus allen öffentlichen Ämter. Offenbach/Main als Verlagsort und Kassel als Abfassungsort sprechen dafür, dass Horche nach seiner Inhaftierung auf dem Marburger Schloss (November 1699 bis August 1700) hier wichtige Bezugspersonen sowie Aufenthaltsmöglichkeiten gehabt haben muss. Das Glaubens=Bekäntniß spiegelt Kernpunkte seiner grundlegenden Kirchenkritik. Die Bezeichnung „Kinder Levi“ meint im Alten Testament die Ausgesonderten von der Gemeinde Israel (vgl. Num 16,8) und bezeichnet hier die Auserwählten innnerhalb der christlichen Gemeinden.
Gleichwie nun auff jener Seiten Christus nicht genugsam / und nicht lauter gelehret wird / als unsere Gerechtigkeit zur Vergebung der Sünden / also ist dieses auff der anderen Seiten der gemeine Haupt=Fehler / daß wir Christum nicht [13] in aller Krafft und Nachdruck predigen / wie er uns von GOtt gemacht ist zur Heiligung und zur würcklichen Außrottung unserer Sünden / da er doch zu dem Ende kommen ist / daß er die Wercke des Teuffels zerstöre59 / und sich selbst für uns dahin gegeben / daß er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit / und reinigte ihm selbst ein Volck zum Eigenthum / das eyferig wäre zu guten Wercken.60 Aber wie sagst du / thun wir dieses nicht täglich? Ja so ist es / aber in was Krafft an die Gewissen / weiß der HERR; Und die bösen Früchte verrathen den Baum mehr dann zuviel / daß er kein guter / sondern ein fauler und böser Baum seye.61 Worinnen aber bestehet der Mangel? 59 60 61
Vgl. I Joh 3,8. Tit 2,14. Vgl. Mt 12,33–35.
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1. Kirchenkritik
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Erstlich darinnen / daß wir unser Zuhörer nicht sattsam anführen zur Nachfolge Christi. Selbst die Heyden haben gute Exempel für die füglichste Lehr=Art gehalten / daß wir also dem HErrn unserm GOtt doppel verpflichtet seyn / dieweil er uns den Weg zum Leben angewiesen hat / nicht allein in der Mund=Lehre seines Sohns / durch welchen er zu uns in diesen letzten Tagen geredet / sondern auch in seinem Exempel und allerheiligsten Fürbild: Dann indem er beneben seiner H. Lehre / so er mit Worten verrichtet / uns auch würcklich fürgehet / zeiget er uns nicht allein sichtbarlich und in der That / was wir zuthun haben / wann wir seine Lehrjünger seyn wollen / sondern muntert auch zugleich auff / und frischet an unsere Trägheit zu einem freywilligen Gehorsam / der dem HErrn so gar angenehm ist: Dann die Schäflein folgen diesem guten Hirten gern / wann er zugleich vor ihnen hingehet / und seine Stimme hören lässet.62 Und was schärffet der Himmlische Lehrmeister seinen Lehrlingen am ersten ein / als eben diese Nachfolge? Will jemand mein Jünger seyn / der verleugne sich selbst / und nehme sein Creutz auff sich / und folge mir nach.63 Und ist es etwas Geringes um das Christenthum / oder ists Zärteley? Ists nicht [14] vielmehr ein stetes Marterthum / wo nicht eusserlich am Leibe / dennoch innerlich im Geist durch Selbst Verleugnung und Creutzigung aller fleischlichen Lüste?64 O wie nöthig will es hier seyn / auffsehen auff JEsum den Anfänger und Vollender unsers Glaubens / daß wir mit Gedult lauffen in den Kampff / der uns verordnet ist65 / und in unserm Muth nicht matt werden und ablassen? Solte dieses nun nicht in unsern Catechismis das Fürnehmste seyn / unserer Jugend ein zuschärffen / sie dadurch zum warhafften Christenthum gleichsam einzuweihen? Was solte in unsern Kirchen und Schulen mehr getrieben werden / als eben diese Lectionen / die der rechte Meister vom Himmel seinen Jüngern zum voraus aufgegeben / damit sie wüsten / was sie in ihrem gantzen Lebens=Lauff zu lernen und zu thun hätten. 62 63 64
Vgl. Joh 10,27. Mt 16,24. Vgl. Johann Arndt, Vier Bücher von wahrem Christentum, Buch 1 (→ 1.1), Kap. 4. – Vgl. Hans Schneider: Johann Arndts „Vier Bücher von wahrem Christenthum“. Offene Fragen der Quellen- und Redaktionskritik. In: Ders.: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621). Göttingen 2006, 197-215, hier 207 f. 65 Vgl. Hebr 12,1f.
1.8 Horche: Wahrhaftige Heiligung
Da wir aber nun dieses alles so gar fahrlässig thun und nur oben hin / was Wunder daß wir an statt geübter und tapfferer Christen / die wir nun billich alle seyn solten / weil wir so lange Zeit die Christliche Lehre bekennet / und leyder ! einen grossen Hauffen Zärtlinge sehen / die in der Verschmähung der Welt und auffnehmung des Creutzes Christi / so gar wenige Erfahrung haben. Wie lieben Brüder? Haben wir dann keinen Krieg mehr zu befahren / daß wir uns so wenig rüsten / und so wenig vorher üben zur behenden Handhabung der geistlichen Waffen? Da wir doch wissen / daß uns die grosse Versuchung noch bevor stehet / die da kommen wird über den gantzen Kreiß der Erden: Da nehmlich alle Höllen=Machten werden auff den Beinen seyn / der Drache / das Thier / und der falsche Prophet / Streit zu halten mit dem Lamm und mit seinen außerwehlten und beruffenen Heiligen / wie der Geist der Weissagung deutlich zeuget.66 Zum andern ist dieses nicht ein geringer Fehler / das man nicht in aller Krafft / und in allem müglichen Eyffer dringet auf die unumgängliche Nothwendigkeit einer warhafften [15] Heiligung / und eines thätigen Christenthums / wann wir wollen eingehen in das Reich GOttes. Der Heyland wuste wol / daß sich die meisten unter den Menschen=Kindern in das ewige Verderben stürtzeten / auß einem vermeßnen Vertrauen auff die Barmhertzigkeit GOttes / als die sie nicht würde lassen verlohren gehen / ob sie gleich seinen Willen nicht thäten. Darum vergaß er nicht in seinen Predigten / ihnen diesen so schädlichen Wahn zu benehmen / und sagte ihnen / wie solche Leute / die seine Rede höreten und doch nicht thäten / gleich wären einem thörichten Manne / der sein Hauß auff den Sand bauet / da es von dem Platz=Regen und Sturm=Winden des künfftigen Zorns nothwendig würde einen grossen Fall thun.67 Und dieses predigt er ihnen gewaltig und nicht wie die Pharisäer / daß sich auch das Volck entsatze über seine Lehre. Und es galt ja freylich dem Apostel ernst / da er seine Hebräer vermahnete und sprach: Jaget nach der Heiligung / fürnehmlich da er noch diesen Knoten daran knüpffet / daß ohne dieselbe niemand werde den HErrn sehen.68 O gewißlich es kan dieses nicht genugsam eingeknöpffet69 werden / 66 67 68 69
Vgl. Apk 12–14. Vgl. Mt 7,26 f. Hebr 12,14. Zuknöpfen, verbinden.
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1. Kirchenkritik
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da uns die tägliche Erfahrung lehret / wie die Menschen so gar geneigt seyn / dem Fleisch zu liebkosen / und die Gnade GOttes / die da sich ereignet / in rechtfertigung des Sünders durch den Glauben ohne Wercke / zu Muthwillen zu ziehen / und also die heilsame Artzney / die uns gegeben ist zur Verleugnung alles ungöttlichen Wesens70 / in ein tödlich Gifft zu verwandeln zu ihrem ewigen Verderben. Billich ists demnach daß wir allhier gegen das heutige Schlangen=Geschmeiß / das da meynet / ohne rechtschaffene Früchte der Busse / dem künfftigen Zorn zu entrinnen / mit dem Vorläuffer des HErrn71 abermal eine ernste Sprache führen / und ihnen die Art weisen / die den Bäumen schon an der Wurtzel lieget / und einen jeglichen Baum / der nit gute Früchte bringet / gewißlich abgehauen wird / daß er verbrand werde mit ewigem Feuer.72 Literatur : Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: GdP 1, 391–437, hier 406–410, 413, 419. – Ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: GdP 2, 107–197, hier 119–121. – Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998, 82–105, 155 f. u. ö.
70 71 72
Vgl. Tit 2,11 f. Johannes der Täufer. Vgl. Mt 3,10.
„Taufe eines Kindes“. In: [David Cranz:] Kurze, zuverläßige Nachricht Von der, unter dem Namen der Böhmisch=Mährischen Brüder bekanten, Kirche UNITAS FRATRUM Herkommen, Lehr=Begrif, äussern und innern Kirchen=Verfassung und Gebräuchen, aus richtigen Urkunden und Erzehlungen von einem Ihrer Christlich Unpartheiischen Freunde heraus gegeben und mit sechzehn Vorstellungen in Kupfer erläutert. [o. O.] 1757, Anhang, Graphik Nr. III (Bildausschnitt) {→ 2.8).
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2. K IRCHEN -
UND G EMEINSCHAFTSKONZEPTE In den frühen 1670er Jahren plädierten der reformierte Pfarrer Theodor Undereyck (→ 2.1) und der lutherische Pfarrer Philipp Jakob Spener (→ 2.2) unabhängig voneinander für die Einrichtung von privaten Erbauungsversammlungen neben dem öffentlichen Gottesdienst als Mittel zur Reform der Kirche. Im Luthertum wurden auf der Basis dieser Impulse solche Versammlungen – auch Collegia pietatis oder allgemeiner Konventikel genannt – zu einem der zentralen Merkmale des Pietismus. Unter Berufung auf Martin Luthers Betonung des Priestertums aller Gläubigen sollten hier die Laien an der Auslegung der Bibel beteiligt werden. Mit diesem Vorschlag betrat man allerdings ein gefährliches Terrain, weil derartige Versammlungen traditionell Orte einer Frömmigkeitspraxis waren, die sich kirchlichen Lehrnormen gerade entzog (→ 17.4). Insofern kann der pietistische Neuansatz auch als ein Versuch interpretiert werden, derartige tendenziell kirchenferne und auch kirchenkritische Kreise in das Anliegen einer Erneuerung der Kirche bewusst einzubinden. Dies gelang allerdings nur partiell. Dabei spielte auf reformierter Seite der Einfluss des separatistischen Labadismus (→ 2.3) und im Luthertum die maßgeblich von Johann Jakob Schütz in die Diskussion gebrachte Überordnung der umfassenden Gemeinschaft der ,wahren Kinder Gottes‘ über die aus ,Gewohnheitschristen‘ bestehenden verfassten Kirchen (→ 2.4) eine entscheidende Rolle. Den von Schütz formulierten Gedanken führten Johann Konrad Dippel und Heinrich Horche weiter und plädierten dafür, eben diese wahre Gemeinschaft als einzig wahre Kirche zu leben (→ 2.6 und → 2.7). Die Tendenz zu einer Vermischung der verschiedenen Ansätze begleitete die Entwicklung des Pietismus und spielte z. B. in den Anfangsjahren des hallischen Pietismus eine erhebliche Rolle (→ 2.5). Die Herrnhuter Brüdergemeine etablierte sich schließlich als eine Sonderkirche und prägte ganz spezifische Gemeinschaftsformen aus (→ 2.8).
Literatur : Hartmut Lehmann: Absonderung und neue Gemeinschaft. In: GdP 4, 487–497. – Hans Schneider: Art. „Soziale Bewegungen, religiöse“. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. v. Friedrich Jaeger. Bd. 12. Stuttgart, Weimar 2010, 229–240.
2.1 Undereyck: Abkehr von der Welt
2.1 Theodor Undereyck: Abkehr von der Welt ist das sicherste Kennzeichen der wahren Christen (1670) Christi BRAUT / Unter den Töchtern zu Laodicaea / Das ist / Ein hochnötiger Tractat / In diesen letzten Tagen. Darinnen Die lebendige Krafft deß seeligmachenden Glaubens von allen Schmach=Reden der in dieser Zeit Christ=scheinender Spötter / nicht nur auß H. Schrifft; sondern auch auß gleichlautenden Zeugnüssen der darinn gottseelig erfahrnen und von GOtt gelehrten Männern gereiniget und verthädiget wird. In Drey Theil: Deren Der I. die unfehlbaren Kennzeichen Der II. die verschiedene Hindernüssen Der III. die darzu nöthige Mittel in sich verfast. Von Theodor UnderEyck / Predigern zu Cassel. Perkins Tom. I über die I. Epist. Joh. Es ist der allergrösseste Gewissens=Fall / der jemahls kan fürgestellet werden / woran der Mensch erkennen sol / daß er ein Kind GOttes sey. Hanau: Johann Ingebrand 1670, Teil 1, 40–42; Teil 3, 280–282. Theodor Undereycks Programmschrift (→ 1.2) besteht aus 27 sog. Schlussreden, in denen er seine Reformvorschläge nicht nur mit Bibelzitaten, sondern auch mit zahlreichen Belegen aus den Werken von Theologen seit der Alten Kirche untermauert. Die zentrale Bedeutung der vierten Schluß=Rede über die „unfehlbare[n] Kennzeichen“ eines wahren Christen ist schon daran erkennbar, dass deren (hier nicht abgedruckte) Belege im Vergleich zu den anderen Schlussreden besonders umfangreich sind. Mit der Empfehlung der Hauskirche als „kleine[r] Kirche“ (ecclesiola ) in der letzten Schlussrede brachte Undereyck einen Vorschlag ein, der auch in Ph. J. Speners Reformprogramm (→ 2.2) eine wichtige Rolle spielte.
Die Vierte Schluß=Rede. OB nun wol solche süsse Gemeinschafft Gottes / in und mit seinen Außerwehlten hier auff Erden / der würcklichen und trostreichen Empfindung nach / in mancherley Anfechtungen / und zufälligen Gebrechlichkeiten / als da jemand seiner Unwachtsamkeit halber vom Fleisch betruglich hindergangen / oder plötzlich überfallen worden / ab= und nach erneuerter gleich=wiegender Buß / wiederum zuzunehmen [41] pfleget; so wird dennoch bey allen und jeden rechtschaffenen wiedergebornen Christen / so sie anders in diesem Stück jemals rechtgründlich= und tieffgewurtzelte Erfahrung gehabt haben / ein solcher Nachtruck
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2. Kirchen- und Gemeinschaftskonzepte
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und Versiegelung deß Heiligen Geistes1 davon übrig bleiben / daß sie denselbigen GOTT Vatter / Sohn / und Heiligen Geist / über aller Welt / und deß Fleisches Güter / das ist / Reputation, Ehre / Ansehen / Hoheit und Herrlichkeit; über alle Weltliche Kleinod / Reichthum / Schätz und Gaben; über alle / von der fleischlichen Vernunfft gewünschte / Süssigkeit / Gemach und kützelende Wollust der neues=gierigen Gedancken / und äusserlichen Sinnen / das ist / hinwiederum hertzgründlich und auffrichtig lieben / über alles hoch achten / suchen / und mit ihm allein zufrieden und vergnügt seyn; Und dieses / nemlich GOTT / oder was göttlich / und weil es göttlich ist / oder dahin weiset / über alles / oder mehr denn alles [42] anders / nicht aber zum theil halber / oder in etwa / lieben / ist eine unfehlbare Frucht / der uns durch den gerecht=machenden Glauben / von der geschehenen Vergebung der Sünden / von der unbetrüglichen Hoffnung / und begründeter Erwartung deß Ewigen Lebens / ohne Gefahr der fleischlichen Sicherheit / versicherenden Vereinigung / und Gemeinschafft mit GOtt in Christo; und deme zu folge / das allersicherste und unbetrüglichste Kennzeichen /2 wodurch die / so sich zu ihrem Trost vor rechtgläubig halten / von denen / welche bey nahe / das ist / dem Nahmen und der Glaubensbekäntnus / und dabey einiger vermeynter Liebe nach / Christen / unterdessen aber nicht kalt oder warm / sondern Zeitgläubigen / und darumb auch in ihrer eingebildeten Freud / Gewissens=Ruh / vermeyntem Trost und Geschmack der Himmlischen Dingen betrogen seynd / klärlich unterschieden werden. [...] [280] Die Sieben und Zwantzigste / Oder: Letzte Schluß=Rede. ES gibt uns aber die höchstbeklägliche Kaltsinnigkeit dieser letzten und gefährlichen Zeiten / daß zur auffrichtigen Beförderung eines heiligen und GOtt herrlichmachenden Lebens / bey so mancherley Zustand der Menschen / in ihren geist= und weltlichen Verrichtungen / Handthierungen und [281] Beruffs=Geschäfften / das öffentliche Predig=Ampt vor sich allein seinen gewünschten Nachtruck / vielweniger / als zu der Aposteln / und der ersten Kirchen Zeit erhalten wird: Es sey dann / daß auch solchem nach / und darneben / das gepredigte Wort deß HErren / 1 2
Vgl. II Kor 1,21f.; Eph 1,13 f. u. ö. Der sog. Syllogismus practicus: Der Schluss auf die eigene Auserwählung aufgrund der Empfindung der völligen Gottesliebe.
2.2 Spener: Erbauungsversammlungen
wie dazumahl im Brauch gewesen / von den Gliedern der Kirchen (wann und nachdem dannenhero bey allerley Gelegenheit / Zeit und Oerter absonderlich in frömmer / das ist / ihres ewigen Heyls begieriger Leute Gesellschafft weniger oder mehr Erbawung zu verhoffen) weiter nachgeforschet / und durch die Beföderung ihrer und ihres Nächsten Seeligkeit / aller Möglichkeit nach / fortgetrieben und heiliglich nach gelebt werde.3 Doch sol sich in diesem Stück ein jedes Haußgesind absonderlich / als eine kleine Kirche und der grossen Versamblung außgetruckte Abbildung / mit Lesen / Beten / Lobsingen / Unterrichten / und Vermahnen / bey [282] und neben dem irrdischen Beruff / verhalten und erzeigen. Literatur: Johannes van den Berg: Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden. In: GdP 1, 57–112, hier 68–78. – Johann Friedrich Gerhard Goeters: Der reformierte Pietismus in Deutschland 1650–1690. In: GdP 1, 241–277. – Willem op’t Hof: De theologische opvattingen van Willem Teellinck. Kampen 2011.
2.2 Philipp Jakob Spener: Erbauungsversammlungen neben dem Gottesdienst sind ein gutes Mittel zur Besserung der Kirche (1676) PIA DESIDERIA: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen / Philipp Jacob Speners / D. Predigers und Senioris in Franckfurt am Main; Sampt angehengten Zweyer Christlichen Theologorum darüber gestellten / und zu mehrer aufferbauung höchst=dienlichen bedencken. Frankfurt/Main: Johann David Zunner [1675] 1676, 97–99, 104–107, 109. Zu den Reformvorschlägen, die Philipp Jakob Spener zur Verbesserung der Kirche machte, zählte wie bei Theodor Undereyck (1635–1693) (→ 2.1) die Abhaltung privater Erbauungsstunden, auch Collegia Pietatis genannt. Spener verstand sie als Orte innerhalb der Kirche, von denen Impulse zu ihrer Erneuerung aus3
Undereyck bezieht sich auf Phlm 2, wo von der Gemeinde im Haus des Philemon die Rede ist.
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2. Kirchen- und Gemeinschaftskonzepte
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gehen sollten. Faktisch begab er sich mit diesem Vorschlag insofern auf ein gefährliches Terrain, als Konventikel seit dem frühen 17. Jahrhundert als von der Kirche separierte religiöse Gemeinschaften bekannt waren. Spener versuchte nun, unter Berufung auf das von Martin Luther (1483–1546) betonte Priestertum aller Gläubigen, die Form der außerkirchlichen Frömmigkeitsübung in die verfasste Kirche zu integrieren. Insofern verwundert es nicht, dass seine Gegner auch in Speners Reformvorschlägen von Anfang an die Gefahr des Separatismus gegeben sahen.
Solte auch (welches zu anderer reifflichem nachdencken setze) vielleicht nicht un- [98] dienlich seyn / wo wir wiederumb die alte Apostolische art der Kirchen=versamlungen in den gang brächten: Da neben unseren gewöhnlichen Predigten / auch andere versamlungen gehalten würden / auff die art wie Paulus I. Corinth. 14. dieselbe beschreibet / wo nicht einer allein aufftrette zu lehren / (welches zu andernmahlen bleibet) sondern auch andere / welche mit gaben und erkanntnüß begnadet sind / jedoch ohne unordnung und zancken / mit darzu reden / und ihre gottselige gedancken uber die vorgelegte Materien vortragen / die übrige aber darüber richten4 möchten. Welches etwa nicht unfüglich folgender art geschehe: Wo zu gewissen zeiten unterschiedliche auß dem Predigampt (nehmlich an orten da solches auß mehrern bestehet) oder doch unter dirigirung deß Predigers andere mehrere auß der Gemeinde / welche von GOtt mit ziemlicher erkanntnüß begabet / oder in derselben zu zunehmen begierig sind / zusammen kämen / die Heilige Schrifft vor sich nehmen / darauß offentlich lesen / und über jegliche stelle derselben von dem einfältigen5 verstand / und was in jeglichem zu allerhand unser [99] erbauung dienlich wäre / brüderlich sich unterredeten: Wo sowol jeglichem / welcher die sach nicht gnugsam verstünde / seine Dubia6 vorzutragen und dero erleuterung zu begehren / als denen jenigen die nunmehr weiter gekommen / sampt den Predigern / ihren verstand7 / den sie bey jedem ort hätten / beyzubringen erlaubt; was jeglicher vorgebracht / wie es der meynung deß Heiligen Geistes in der Schrifft gemäß seye / von den übrigen / sonderlich den beruffenen Lehrern8 / examiniret, und die gantze versamblung erbauet würde. 4 5 6 7 8
Die Sache beurteilen. Einfach, schlicht. Zweifel. Verständnis. Pfarrern.
2.2 Spener: Erbauungsversammlungen
Es müste aber alles in rechter absicht auff GOttes Ehr und den geistlichen wachsthum / daher auch in den schrancken die derselben gemäß wären eingerichtet / und hingegen / wo sich fürwitz / zancksucht / gesuch eigener ehre und was dergleichen ist / einschleichen wolte / verhütet / und sorgfältig / sonderlich von denen Predigern / als die das Directorium darbey behalten / abgeschnitten werden. Hierauß wäre nicht geringer nutzen zu hoffen. [...] [104] Neben dem würde unser offt=erwehnte D. LUTHERUS noch ein anders / zwar mit dem vorigen genau vereinbartes / mittel vorschlagen / welches jetzo das 2. seyn soll / die auffrichtung und fleissige übung deß Geistlichen Priesterthums . Niemand wird seyn / der etwas fleissig in Lutheri Schrifften gelesen / der nicht beobachtet haben solte / mit was ernst der selige Mann solches Geistliche Priesterthum / da nicht nur der Prediger / sondern alle Christen von ihrem Erlöser zu Priestern gemacht / mit dem Heiligen Geist gesalbet / und zu geistlichen priesterlichen verrichtungen gewiedmet sind / [105] getrieben habe. [...] [106] Ja / gleichwie dieses eine sonderbare list deß leidigen teuffels gewesen / daß derselbe in dem Pabsthum es dahin gebracht / daß alle solche geistliche ämpter allein der Clerisey9 (die ihnen auch daher hochmüthiger weise allein den namen der geistlichen / so allen Christen in der that gemein ist / zugemessen) heimgewiesen / und die übrige Christen darvon außgeschlossen hat / gleich ob gehörte denselben nicht zu / in dem Wort deß HERRN fleissig zu studiren / vielweniger andere neben sich zu unterrichten / zu vermahnen / zu straffen / zu trösten / und das jenige privatim zu thun / was zu dem Kirchendienst offentlich gehöret / sondern es wären solches lauter dinge / die an ihrem Ampt allein hiengen. Womit sie erstlich die so genannte Leyen zu dem jenigen / was sie billich mit angehen solte / träg gemacht / darauß eine schreckliche unwissenheit und auß derselben wildes wesen entstanden; Hingegen mochten die so genandte geistliche thun was sie wolten / da ihnen niemand in die karte sehen oder die geringste einrede thun dorffte. Dahero dieses angemaste Monopolium deß geistlichen standes / nechst oben [107] angedeuteter abhaltung von der Schrifft in dem Pabstthumb eines der vornehmsten mittel ist / damit das Päbstliche Rom seine gewalt über die arme Christen besteiffet hat / und wo es noch platz hat / bißher erhält. So konnte demselben nicht weher geschehen / als daß in dem gegentheil 9
Den Klerikern.
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2. Kirchen- und Gemeinschaftskonzepte
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von Luthero gezeiget würde / wie zu den geistlichen ämptern / (obwol nicht deroselben offentlicher verwaltung / darzu die verordnung der in gleichem recht stehender gemeinde gehöret) alle Christen beruffen / und nicht nur befugt / sondern wollen sie anders Christen seyn / verbunden seyen / sich derselben anzunehmen. [...] [109] Meines wenigen orts halte ich mich gantz versichert / wo nur [110] in jeglicher Gemeinde unterschiedliche zu diesen beyden stücken / fleissiger handlung Göttlichen Worts und ihrer priesterlichen Pflichten / gleichwie in andern stücken also vornehmlich in der brüderlichen vermahnung und bestraffung10 (die fast gantz unter uns verloschen / aber billich ernstlich getrieben / und von den Predigern die jenige / so deßwegen etwa leyden müssen / nach vermögen geschützet werden solten) gebracht werden möchten / so würde ein grosses gethan und gewonnen seyn / daß nachmahl immer mehr und mehrere gewonnen / und endlich die Kirche mercklich gebessert würde.
Edition : Pia Desideria. Hg. v. Kurt Aland. Berlin 31964, 55 f. u. 58–60. – Literatur : Werner Bellardi: Die Vorstufen der Collegia Pietatis bei Philipp Jacob Spener. Gießen 1994. – Markus Matthias: Collegium Pietatis und ecclesiola. In: PuN 19, 1994, 46–59.
2.3 Kirchlicher Umgang mit reformierten Konventikeln am Niederrhein in den 1670er Jahren (1670 /1674 /1677) Bereits vor dem Erscheinen von Philipp Jakob Speners (1635–1705) Pia Desideria entstanden erbauliche Privatversammlungen in reformierten Gemeinden am Niederrhein. Da diese von kirchenleitender Seite in erster Linie mit den separatistischen Konventikeln Jean de Labadies (1610–1674) in Zusammenhang gebracht wurden, wurden sie von den Classicalsynoden als regionalen Aufsichtsgremien über den örtlichen Konsistorien (= Presbyterien) wie auch von den Provinzialsynoden als überregionalen Aufsichtsgremien zunächst vielfach verboten bzw. nur in kirchlichen Räumen und in Anwesenheit des Pfarrers erlaubt (Text a). Die in der Generalsynode von Jülich, Kleve, Berg und Mark festgelegten „Regeln für Zusammenkünfte der Gottseligkeit“ von 1674 zeigen, dass unter bestimmten Auflagen erbauliche Zusammenkünfte schließlich doch auch in 10
Im Sinne von Zurechtweisung.
2.3 Umgang mit reformierten Konventikeln
Privathäusern erlaubt wurden (Text b). Die Abgrenzung gegen separatistische Konventikel nach dem Vorbild Labadies bildete dabei eine ständige Herausforderung (Text c).
a. [Verbot absonderlicher Versammlungen in Privathäusern durch die Klevische Provinzialsynode, Emmerich, 3.–5. Juni 1670]. Nach: Die reformierten klevischen Synoden im 17. Jahrhundert. Hg. v. Wolfgang Petri. Bd. 2: 1649–1672. Köln: Rheinland-Verlag 1979, 224. Und dieweilen vorkombt, ob solten hie und da in Privathäusern absonderliche Versamblungen gehalten werden, welche zur Trennung und Zweyspalt nicht geringen Anlaß geben, so kan solche Synodus, obschon in denselben gottselige Übungen vorgenohmen werden mochten, nicht billigen, sondern stellet vest, daß keine Versamblung alß in loco publico, alß in der Kirchen oder eines Predigers Wohnungh, in dessen Gegenwarth die catechisationes, Unterweisungen und gottselige Ermahnungen zu geschehen pflegen, gehalten werden sollen. Wan aber jemandt außer diesen öffentlichen Örthern Zusammenkünfften anstellen solte, wird Synodus widder dieselbe alß verdächtig zu verfahren genötiget sein. b. [Von der Generalsynode von Jülich, Kleve, Berg und Mark 1674 beschlossene Regeln für Zusammenkünfte der Gottseligkeit]. Nach: Generalsynodalbuch. Die Akten der Generalsynoden von Jülich, Kleve, Berg und Mark 1610–1793. Teil 1: Die Akten der Generalsynoden von 1610–1755. Hg. v. Albert Rosenkranz. Düsseldorf: Presseverband der Ev. Kirche im Rheinland 1966, 158 f. Demnach bei und nach Verlesung deren actorum Synodalium eine Frage vorgefallen von denen sogenanten Zusammenkünften der Gottseligkeit, so ist Synodus mit allem Fleiß darauf bedacht gewesen, daß christliche gottselige Uebungen befordert und gleichwol dadurch keine Gelegenheit zur Trennung, falscher Lehre, Verachtung der Prediger und offentlichen Gottesdienstes und anderer Unordnung gegeben werde. Und ist dem zufolge in der Forcht Gottes geurteilet, wie folget. Es ist zugelassen und wird auch billig – nach dem Zustand und bester Erbauung jeder Gemeine – bestes Fleißes zu beförderen recommendiret11: 1. daß ein Prediger in der Kirchen oder andern ihm gefälli11
Empfohlen.
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2. Kirchen- und Gemeinschaftskonzepte
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gen bequämen Ort die Glieder seiner Gemeine, welche Unterweisung nötig oder auch von dem Prediger sich ferner unterweisen zu lassen Lust haben, bei sich kommen lasse; jedoch also, daß niemand davon ausgeschlossen werde und alles ohne Abbruch gemeiner Catechisation geschehe; 2. daß ein jeder in seinem Hause seine Hausübungen halte mit Lesen, Bäten, Singen, Wiederholung der Predigten, Catechisiren der Seinigen, auch wan er einen oder andern Nachbaren oder Bekanten hat, welcher denen Uebungen gern beiwohnen wolte, er denselben mit herbei lasse, nur allein, das solches unverborgen geschehe; 3. daß, wan einer einen andern weiß, der in Unwissenheit oder übelem Wesen ist, er denselben also, wie Aquila und Priscilla den Apollo, zu sich nehme,12 ihn zu unterrichten, und dasselbige dem Prediger anmelde; 4. daß, wan gute Freunde und Bekanten einander zusprechen und besuchen, sie anstatt eiteler Reden christliche erbauliche Discursen führen; 5. daß, da fromme Christen ohngefähr in einiger Gelegenheit zusammenkommen, sie ebenfals erbauliche Unterredung mit einander halten. Hergegen wird nicht zugelassen: 1. daß diejenige, welche das Hirtenamt in der Gemeine des Orts nicht führen, wan es schon auch sonsten Predigere oder Candidati Ministerii13 wären, ohne Wissen und Willen der Prediger und Consistorii des Orts einige Zusammenkünfte anstellen, darinnen Glieder der Gemeind zu unterweisen; 2. daß Glieder der Gemeinden aus unterschiedlichen Familien ohne Erkäntnüs, Wissen und Willen Predigers und [159] Eltesten vor sich selbsten ordentliche und gewöhnliche Zusammenkünfte halten, mit Vorgeben, sich darinnen zu üben und aufzumuntern in Erkäntnüs und Gottseligkeit; 3. auch urteilet Synodus, daß in dieser Zeit, da durch sogenante Zusammenkünfte der Gottseligkeit allerlei Trennung angerichtet wird, ein Prediger denen Gliedern seiner Gemeinde aus unterschiedlichen Familien nicht zulassen solle, daß sie ohne seinem Beisein ordentliche Zusammenkünften halten, womit gleichwol nicht soll verbotten sein, daß des Sontags nach der Predigt und Catechisation zwei oder drei zusammenkommen, die Predigt zu wiederholen; 4. alle Privatübungen müssen also angestellet werden, daß dadurch der offentlicher Gottesdienst nicht verhindert werde oder in Verachtung komme; auch solle allewegen Predigern und Consistorien freistehen, in ihrer Gemeine dasjenige in die12 13
Vgl. Act 18,26. Pfarramtskandidaten.
2.3 Umgang mit reformierten Konventikeln
sem Stück zu verbieten, welches sonsten zulässig, aber insbesonder nicht gebotten ist, im Fall sie befinden, daß ein solches bei gegenwärtiger Gelegenheit und Zeit undienlich oder auch gefährlich sei. Doch werden Predigere und Consistorien daran sein, daß sie anders nichts als nach Gottes Wort mit gutem Gewissen – hierin wie in allem – wiederfahren. c. [Erklärung Joachim Neanders14 vor dem Düsseldorfer Presbyterium vom 17. Februar 1677]. Nach: Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphaelischen evangelischen Kirche. Bd. 2: Das siebzehnte Jahrhundert oder die herrschende Kirche und die Sekten. Koblenz: in Kommission bei Karl Bädeker 1852, 343f. Weil Joachimus Neander wegen Unterschreibung der schuldigen Ordnung Beschwerniß gemacht, auch mit Verweigerung und bedingter Unterschreibung, übeler Ausdeutung und anstößlicher Begegnung, die er dem Consistorio hat lassen widerfahren, verursachet, das eine suspension von seinem Schuldienst gegen ihn hat beschlossen werden müssen, und aber derselbe nunmehr seinen Irrthum und Mißverstand, insonderheit, daß er dem Ehrwürdigen Consistorio nicht gebührliche Ehrerbietigkeit erwiesen, bekennet, auch nachdem er einige Tage seiner Bedienung sich enthalten, sich anbeut, daß er aller guten Ordnung sich bequemen, und auch derselbe des ehrwürdigen Consistorii Erkenntniß sich beständiglich unterwerfen wolle; als hat ein ehrwürdiges Consistorium in Ansehung seiner Jugend und verhoffentlichen corrigibilitaet oder Besserung das darin gegebene Aergerniß ihm Neandro für diesmal christlich verziehen, dabei auch amts- [344] halber und aus reiflichem Bedenken zu näherer Erläuterung des dritten articuli, (von der Kirche)15 worüber gemelter Neander vornehmlich Schwierigkeit gemacht, Ihm zu erwägen und zu unterschreiben vorgelegt, nachfolgende Stücke: 1. Ob er nicht die Wahrheit, welche aus göttlichem Worte nach dem heydelbergischen Catechismo16 in der reformirten Kirche gelehret wird, festiglich halte für den einzigen Samen der Wiedergeburt und kräftiger Lehre zur Gottseligkeit und, wenn man dieselbige verachtet, für ein 14 15 16
Joachim Neander war Schüler Theodor Undereycks (1635–1693). Der dritte Teil des Glaubensbekenntnisses. Der Heidelberger Katechismus (1563) als die in Deutschland und den Niederlanden maßgebliche reformierte Bekenntnisschrift.
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2. Kirchen- und Gemeinschaftskonzepte
Wort rechtfertiger Verdammnuß urtheile, also, daß der Verächter keine Entschuldigung habe? 2. Ob er nicht das Predigtamt und Aeltesten=Bedienung und förder christliche Kirchenordnung und Zucht, nach welcher die göttliche Wahrheit in der reformirten Kirche zur Besserung der Sünder und Beförderung der Gottseligkeit getrieben wird, bekenne von Christo und den Aposteln befohlen, und also die beste Weise zu sein? 3. Ob er derhalben aufrichtig und ohne einige Ausnehmung verläugne und verdamme die Trennung und Abscheidung von der äußerlichen Gemeinschaft der reformirten Kirche, welche Labadie und seines Gleichen angerichtet, und selbige halte für ein Werk des Fleisches? 4. Dieweil die traurige Erfahrung gelehrt hat, daß die absonderliche Versammlung – welche an einem und andern Ort von einigen Gliedern der Gemein ohne Beysein und Aufsicht des Predigers oder Aeltesten zu dem Ende angestellet, daß darin Gottes Wort von solchen, die dessen nach christlicher Ordnung in der Gemeine keinen Beruf noch Befehl haben, ausgelegt, und ein öffentlicher Gottesdienst geübet wird – gestrecket haben zu absonderlicher Trennung, wiemaßen dann auch ganz kein Befehl Christi ist, daß, wo er seiner Kirche öffentlich Freiheit verleihet und durch seine ordentlichen Hirten und Lehrer obige Wahrheit lässet bedienen, solche absonderliche Versammlungen gehalten werden sollen und also auch sein Gnadensegen dabei nicht, wie bei der ordentlichen Versammlung zu gewarten ist; dabei denn auch durch die Gnade des Herrn Jesu Christi in dieser [345] Gemeine fast täglich die öffentlichen Beisammenkünfte zu Uebung der Wahrheit und Gottseligkeit gehalten werden. 5. Ob er nicht bekenne, daß er solche Zusammenkünfte nicht anstellen, hegen, befördern, denselben nicht beiwohnen, noch Andern dazu rathen, sondern vielmehr die, so ihm bekannt, die solches thun, dem Prediger und Consistorio andeuten, und selbige verhindern helfen wolle? 6. Weil ferner die Trennung aus dem Grund auch erwächset, daß einige absonderlich sich untereinander als Wiedergeborne ansehen mit Verurtheilung der Andern; ob er nicht von allen denen, so die seligmachende Wahrheit bekennen und in ihrem Wandel dergestalt sich erweisen, daß alle Mittel der Besserung, selbst die äußerliche Zucht noch nicht unfruchtbar an ihnen befunden, die Hoffnung habe, daß der Same Gottes in Ihnen sei, und derowegen sie für Brüder zu halten; nicht weniger
2.3 Umgang mit reformierten Konventikeln
7. dieweil auch die Verwirrung viel daher rühret, daß Privatpersonen, die dazu nicht berufen sind, in das Amt der Kirchendiener greifen mit Abhaltung der Gliedmaßen vom h[eiligen] Abendmahl, unzeitiger und unglimpflicher Ausdeutung dessen, so jene in ihrem Amt verrichten sollen, ob er sich dessen nicht fleißig enthalten, und sich des geringsten nicht anmaßen, als mit weisem Gutfinden, oder auf Ersuchen des Predigers und Consistorii? 8. Endlich zu diesem allem dergestalt heiliglich sich verbinde, daß im Fall, da Gott vor sey, er dagegen gethan zu haben, erfunden würde, seiner Schulbedienung bei dieser Gemeinde sich begeben und entübriget haben, und sich diesesfalls, was die Schulvocation betrifft, dem Belieben des Consistorii ergeben wolle? Aufrichtig und ohne mentalreservation17 unterschreibe ich die obige puncten alles ohne gefehrds und arglist18 Joachimus Neander Rector scholae Dusseld[orfensis] Actum in consistorio 1677 17. Februarii.
Literatur : Veronika Albrecht-Birkner, Matthias Plaga-Verse: Erbauungsversammlungen im reformierten Bereich als Parameter und Multiplikatoren von (pietistischen) Reformbestrebungen bis um 1710. In: „Schrift soll leserlich seyn.“ Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013. Hg. v. Christian Soboth u. Pia Schmid. Bd. 1. Halle/Saale 2016, 67–86. – Wilhelm Goeters: Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670. Leipzig 1911. – Johannes Wallmann: Labadismus und Pietismus. Die Einflüsse des niederländischen Pietismus auf die Entstehung des Pietismus in Deutschland. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Tübingen 1995, 171–196.
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Inneren Vorbehalt. Ohne Betrug und Böswilligkeit (Eidesformel).
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2. Kirchen- und Gemeinschaftskonzepte
2.4 Johann Jakob Schütz: Die Kinder Gottes müssen sich nicht zu einer Kirche halten, denn ihre wahre Gemeinschaft ist unsichtbar (1684) Abdruck eines DISCURSES über die Frage: Ob die Außerwehlte verpflichtet seyen / sich nothwendig zu einer heutigen grossen Gemeinde und Religion insonderheit zu bekennen und zu halten? Item / von der sichtbaren Kirche / und Liebe der Brüderschafft / oder brüderlichen Liebe. Nur zur Communication der Kinder Gottes. I. Johan. 3. Vers. 1. 13. 14. Verwundert euch nicht / meine Brüder / ob euch die Welt hasset / wir wissen daß wir Gottes Kinder heissen / und aus dem Tod in das Leben übergetretten sind / denn wir lieben die Brüder: Darumb kennet euch die Welt nicht / denn sie kennet den Vatter nicht. Frankfurt/Main [u. a.]: Andreas Luppius [1684], 3–6, 8, 43–46. Der Jurist Johann Jakob Schütz gilt als Mitbegründer des Pietismus in Frankfurt, der im Gegensatz zu Philipp Jakob Spener (1635–1705) allerdings auch auf dezidiert nicht kirchenkonforme Traditionen zurückgriff. Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um die erste publizierte Aufforderung zur Separation im lutherischen Pietismus – konzipiert für den ,internen Gebrauch‘ unter den Frommen. Sie ist Teil einer intensiven literarischen Debatte über den Separatismus, an der insbesondere auch Spener beteiligt war und die den Bruch zwischen Schütz und Spener besiegelte. Man kann davon ausgehen, dass der Discurs die wichtigsten der in Frankfurt zwischen Spener und Schütz ausgetauschten Argumente spiegelt. Insbesondere durch diese Schrift ist Schütz zu einem über seine Lebenszeit weit hinausreichenden Impulsgeber für den separatistischen Pietismus geworden. Dabei spielte theologisch die entscheidende Rolle, dass an die Stelle der lutherischen Rechtfertigungslehre eine Wiedergeburtslehre trat, wie sie im mystischen Spiritualismus beheimatet war. Von hier aus argumentierte Schütz, dass die im Neuen Testament von den Wiedergeborenen als äußeres Kennzeichen ihrer Wiedergeburt geforderte Bruderliebe in den verfassten Kirchen nicht ausgeübt werden könne. Faktisch vertrat Schütz damit ein philadelphisches Kirchenideal (nach Apk 3,7–13), das am ehesten mit Traditionen in Zusammenhang zu bringen ist, die auf Caspar Schwenckfeld (1490–1561) zurückzuführen sind. Im Gegensatz zu denen, die zur Gründung einer alternativen Kirche aufriefen (→ 2.6 und → 2.7), beschränkte er sich aber darauf, die unter allen sichtbaren Kirchen zerstreuten Kinder Gottes als außerhalb jeden Kirchenwesens innerlich oder geistlich Verbundene zu proklamieren. – Der 46 Seiten umfassende Discurs besteht in der Hauptsache aus einem Teil, in dem Schütz in sieben Unterpunkten mögliche Einwände gegen eine
2.4 Schütz: Die Kinder Gottes
Verneinung der im Titel genannten Frage abwehrt (8–23), und einem Teil, in dem er unmittelbar zur Trennung von der Kirche aufruft (23–46). Er bedient sich einer in hohem Maße durch biblische, hier nicht einzeln nachgewiesene Wendungen angereicherten Redeweise.
Allen hin und her zerstreueten Kindern Gottes / und welche noch zu erretten sind aus diesem jetzigen Verwirrungs=Feuer / Gnade und Friede! GEliebte; Nachdem wir in solchen Zeiten leben / da die Verwirrung immer höher steigende / zu ihrem Ziel eylet / und es sonder Zweiffel die jenige Zeiten sind / darvon der HErr gesaget / daß solche Irrthumen kommen werden / daß / so es möglich / auch die Außerwehlten in Irthumb solten verführet werden:19 So tragen wir unsers Orths / auch [4] nicht unbillig Sorge / dieweil wir in der Zerstreuung sind / und einander nach dem Angesicht zu kennen und zu sprechen die Gelegenheit nicht haben / für einander nicht allein mit Gebett zu kämpfen / sondern auch auf alle Weiß und Wege / welche jetzige Zeit giebet / nach der Gabe eines jeglichen / einander zu erinnern / uns zu verwahren / daß wir nicht durch den Irrthumb der Gesetzlosen / worzu der Widerchristische Geist / umb seinen Zweck und Reich zu erhalten / mittelst scheinbarer Verdrehung der heiligen Schrifften arbeytet und eyfert / mit verführet werden / und aus unserer eigenen Festung entfallen: 2. Pet. 3. vers. 16.17. Vielmehr aber in der warhafften Gnade und rechten Erkäntnüs unsers HErrn und Heylandes Jesu Christi wachsen und zunehmen mögen; Es fället aber vornehmlich diese Hauptfrage bey diesen Zeiten / da einige Bewegung und Hunger nach der Warheit sich mercken lässet / vor / nemlich: Ob die Glaubige und Außerwehlte obligiert und verpflichtet seyen / sich nothwendig zu einer öffentlichen Gemeinde der heutigen so genandten Christen / insonderheit zu bekennen / und zu halten? Woraus wiederumb diese Frag entspringet: Ob von diesen heutigen gespaltenen Gemeinden und Religionen / eine vor der andern absonderlich den Namen der sichtbaren Kirchen / gantz allein / mit Außschliessung aller andern tragen könne und solle? [5]
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Mt 24,23 f.
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2. Kirchen- und Gemeinschaftskonzepte
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Wir wollen von dieser letzten Frage den Anfang und damit eine Bahn zu der ersten machen; So dienet nun zur Antwort / daß diese Ehre zwar eine jegliche Parthey gerne haben wolte / dahero sie ihr bestes / was sie haben / vorwenden; und weiln sich keine mit der Krafft legitimiren und mit Warheit einen Brieff Christi / mit dem Geist deß lebendigen Gottes geschrieben / nennen und darstellen kan: So bringen sie ihre Lob=Brieffe / die sie selbsten gemachet / und beruffen sich auff die Lehr; worinnen sie aber wiederumb uneins sind / dergestalt / daß die eine die Lehr nicht allein aus den heiligen Schrifften / sondern auch aus der Antiquität und Authorität der Kirchen; die andern alle aber allein aus der Bibel behaupten wollen; und weiln / wie obgedacht / keine Parthey / diese Sach mit der Krafft und Siegel der ihrigen beweisen kan: so wil doch eine jegliche die Rechtlehrende Kirche seyn / davon aber eben die Frag ist: dessen sich sonderlich von denen letztern zu verwundern / daß sie sich alle auff die Bibel oder Wort Gottes / und zwar / wie es lauter und rein seye / beruffen / und doch eine jegliche ihren eigenen Verstand und Außlegung darvon hat; auch keine der andern nachgeben wil / sondern einander zwar ihre Schande und Blöse entdecken / verurtheilen und verdammen / allerseits aber der Krafft und deß Lebens ermangeln / in welchem tertio20 sie zimblich überein kommen / und keine der anderen wie sie selbst gestehen / viel vorzu= [6] rücken / sondern jegliche vor der eignen Thür gnugsam zu kehren hat / welches dann eine rechte Verwirrung ist [...]. [8] Und nachdem es nun eine solche Bewandnus mit der sichtbaren Kirche hat / daß sie nemlich in so viel Secten zertheilet ist / die sich wegen der äusserlichen Lehr=Sätze unter einander hassen und verdammen / der innerlichen wahren Krafft aber ermangeln / außgenommen die außerwehlte Frommen / welche unter diesen sichtbaren grossen Hauffen zerstreuet seyn / und ob sie schon das Thier nicht anbethen21 / dennoch mit unter die sichtbare Kirche gehören; so kommen wir auf unsere Haubt=Frage: Ob denn die Glaubige und Außerwehlte verpflichtet seyen / sich nothwendig zu einer solchen sichtbaren / von den andern nur allein in
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Tertium comparationis: Vergleichspunkt. Vgl. Apk 13,3.12.
2.4 Schütz: Die Kinder Gottes
etlichen Lehr=Puncten unterschiedenen / Gemeinde insonderheit zu bekennen und zu halten? Antwort: Durchaus nicht! Und damit sonderen sie sich gar nicht ab von der allgemeinen sichtbaren Kirchen / darzu alle gehören / die sich eusserlich zu Christo bekennen / und Christen nennen; welches die Außerwehlte durch ihr Bekandtnuß auch thun: Dann niemand schliesset sich von der sichtbaren Gemeinde der Christen aus / als welcher auch den Na- [9] men eusserlich verlässet / und sich entweder zu der Judischen oder Türckischen oder einer andern Heydnischen Religion wendet; Nun aber verlassen die Glaubige den Namen Christi im geringsten nicht / nur mit den unchristlichen Wesen wollen sie nichts / sondern allein mit den Worten und Leben ihres Hauptes22 zu thun haben. [...] [43] Weiln dann nun das wesentliche Stück eines Christen ist: Der Geist Christi in ihm / denn wer solchen nicht hat / ist nicht sein / auch nur die jenige Kinder Gottes sind / so viel von diesem Geist getrieben werden zur Außwürckung der wahren Liebe / als dem rechtschaffenen [44] alleinigen Kennzeichen von aussen / woran jederman die Jünger Christi erkennen soll; In den heutigen wieder Christischen Gemeinden aber / sich solche nicht practiciren lässet / und man in dem Lauff der rechtschaffenen Gerechtigkeit nur auffgehalten wird / weil der Geist des Anti=Christs alles so verfasset / daß die Gerechtigkeit nicht auffkommen kan / biß zu dessen Außrottung. So last uns dann / ihr meine Geliebte / bey diesen letzten Zeiten/ [...]23 da die Menschen / nicht nur einige / sondern ins gemein / oἱ ἄνθρωποι24 (ausser die zerstreuete einzele sehr wenige außerwehlte) mehr Wollust lieben als GOTT; und dabey eine äusserliche Gestalt der GOTTES Verehrung haben / und sich darauff beruffen / wie zu der Juden Zeiten: hier ist deß HErrn [45] Tempel / hier ist die rechte Religion! die Krafft der Gottseligkeit aber verläugnen; da auch weder Pflastern / schmieren / noch flicken hilfft / sondern die Kranckheit / und der Riß dardurch nur ärger wird / lasset Uns / sag Ich / nach dem Befehl des Apostels / den Er uns / die wir solche letzte Tage beleben / dabey giebet / solche meyden / oder wie es eigentlich heisset / gantz abkehren von sol22 23 24
Vgl. Eph 1,22. Schütz verweist hier auf II Tim 3 und I Tim 4. Die Menschen.
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chen / und auß aller frembden Gemeinschafft / die bey Christo nicht stehen kan / und zu deren Genesung auch keine Hoffnung ist / herauß gehen / ausser dem Lager / und seine Schmach tragen / nicht das Creutz fliehen / und deßwegen Gemeinschafft mit Babel haben;25 Sondern im Gegentheil von Babel fliehen / und Gemeinschafft des Creutzes Christi haben26 / auch solche Gemeinschafft der Heiligen / so viel möglich: (denn mehrers von uns nicht gefordert werden wird) wieder auffrichten / und uns derselben nicht schämen / auff daß wir ein wahres Siegel unserer Erwehlung haben / und unser keiner dahinden bleibe / noch etwas von den Plagen Babels [46] empfange / sondern als Glieder eines Leibes / durch das Band der Liebe / zusammen geknüpffet / zur Göttlichen Grösse anwachsen / und das Kleinod der himmlischen Beruffung in Christo Jesu / nemlich das Recht der Erstgeburth in der ersten Aufferstehung27 darvon bringen mögen: Aber niemand wird gekrönet / er kämpfe dann recht / zu erkennen die Krafft der Aufferstehung Christi / und die Gemeinschafft seiner Leyden / seinem Tode gleichförmig zu werden:28 Dann wer sein Leben erhalten wil / der wirds verliehren 29 / wer aber also überwindet / der soll alles ererben30 / Amen! Die Gnade Christi sey mit uns allen / Amen! Geschrieben den 1. Septemb[e]r Anno 1684.
Literatur : Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, hier 190–206.
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Nach Apk 17 f.; → 1.3, 1.4, 1.7. Vgl. Röm 8,17. Vgl. Apk 20,6. Phil 3,10 f. Lk 9,24a. Apk 21,7a.
2.5 Spener: Die Privatkommunion
2.5 Philipp Jakob Spener: Die Privatkommunion gefährdet das Anliegen der Kirchenverbesserung (1693) Spener an August Hermann Francke, Berlin, 11. April 1693. Nach: Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke. 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 291–296, hier 294–296. Seit Februar 1693 studierte Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1669/ 1670–1721) in Halle Theologie. Nach einem Bekehrungserlebnis trat er mit besonderem Berufungsbewusstsein auf, äußerte scharfe Kirchenkritik und ging nicht mehr zur Beichte und zum Abendmahl. Zugleich sammelte er einen Kreis von frommen Studenten und Bürgern um sich, zu dem u. a. sein Kommilitone Johann Christian Ernst Machenhauer (1670–1746) und wahrscheinlich auch der im Text erwähnte Student Köhler gehörten, in dem ohne Anwesenheit eines Pfarrers Abendmahl gehalten wurde. Seit Anfang März erregte die Gruppe in Halle Aufsehen durch Zustände ekstatischer Verzückung. Eine im Auftrag des Konsistoriums arbeitende Kommission untersuchte die Vorgänge. Am 8. April 1693 richteten die Stadtgeistlichen in der Sache eine Eingabe an den Kurfürsten. Der vorliegende Briefauszug gibt Philipp Jakob Speners Sicht auf diese Entwicklungen wieder.
Nun dancke ich Gott, das mich derselbe einiger sorge in Pommern [...] etwas erleichtert hat: wie wünschte aber auch, das die sorge wegen ihres lieben Hall auch gemindert würden, so widerum auffs neue wegen Herrn Hohmanns u. Machenhauers anwachsen, davon eine sehr [295] harte relation31 hieher gekommen, die ich nicht weiß, was sie hier wircken werde, leicht aber betrübliche folgen nach sich ziehen möchte. Ach das der Herr uns doch nicht über vermögen wolle laßen versucht werden,32 und in allem uns seinen h[eiligen] willen erkennen laße, das wir doch an demselben weder auff eine noch andre seite irren: Er gebe also sonderlich geliebten Brüdern wie in allem also auch diesem stück, die weißheit von oben,33 und führe sie selbs nach seinem rath. Was mir Herr Köhler von der Anna Maria Schuchartin erzehlet, macht mich 31 32 33
Bericht. I Kor 10,13. Vgl. Jak 3,15.17.
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nicht allein an derselben sondern auch an andern exempeln noch mehr irre.34 So ligt mir auch fast mehr alß alles andre an dem punct wegen der privatcommunion, als ein solcher, der wo er éclattirte35 den völligen und unheilbaren riß machen würde. Ob geliebter Bruder einen auffsatz, welchen von solcher materie an Herrn D. Breithaupt36 gemacht,37 [296] gelesen, weiß ich nicht: hoffe sonsten es solte dem gewißen darmit ein gnüge geschehen. Ich bekenne, das dergleichen dinge meine allerschwehrste anligen sind, gegen die ich allerley andre leiden oder gefahr geringer achte: als zum exempel meines Schwagers Herrn Horben jetzt in Hamburg, wie indigne er daselbs von dem ministerio tractiret wird, und er wegen des in grimm gebrachten pöbels seines lebens nicht sicher ist:38 bey allem solchen aber bin ich durch Gottes gnade so getrost, als in den fällen, wo ich leiden sorgen muß, in einer sache, da ich nicht gewiß weiß, das sie recht, ja das gegentheil beförchte, nidergeschlagen u. ängstlich bin. Nun es bleibet uns endlich nichts übrig, als das wir dem Herrn alles überlaßen, und ihm selbs die hände darreichen, das er uns führe.
Literatur : Heinz Renkewitz: Hochmann von Hochenau (1670–1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus (1935). Witten 1969.
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Die Erfurter Magd Anna Maria Schuchart hatte seit Dezember 1691 Ekstasen und chiliastische Offenbarungen (→ 5.4). Nach ihrer Ausweisung aus Erfurt war sie im Herbst 1692 zunächst nach Halle, wohl zu Beginn des Jahres 1693 aber weiter nach Quedlinburg gezogen. Aufsehen erregte. Joachim Justus Breithaupt (1658–1732), Theologieprofessor in Halle, enger Vertrauter August Hermann Franckes (1663–1727). Wohl das im AFSt/H A 143: 152, Bl. [1–4] überlieferte Manuskript unter dem Titel „Ob es recht und Christi ordnung gemäß seye, wo an einem ort, da eine Evangelische gemeinde und predigamt ist,〈daß〉sich einige Christen, so von dem predigamt nicht ausgeschloßen sind, unterstehen wollten, einer allein, oder etzliche unter sich, heimlich und ohne wißen oder billigung der übrigen gemeinde, und predigamts, das abendmahl des herrn zu halten?“. Johann Heinrich Horb (1645–1695) war Hauptpastor an St. Nicolai in Hamburg und wurde u. a. wegen Begünstigung radikalpietistischer Konventikel von seinen Kollegen hart angegriffen. Im November 1693 wurde er aus Hamburg ausgewiesen (vgl. Frank Hartmann: Johann Heinrich Horb [1645–1695]. Leben und Werk bis zum Beginn der Hamburger pietistischen Streitigkeiten. Tübingen 2004).
2.6 Dippel: Plädoyer für eine neue Kirche
2.6 Johann Konrad Dippel: Plädoyer für eine neue Kirche (1706) Ein HIRT Und eine HEERDE: Oder Ohnfehlbare METHODE, Alle Secten und Religionen zur einigen wahren Kirch und Religion zu bringen / und ohne einigem Syncretismo beständig zu vereinigen. Aus dem [!] in dem Vorbericht berührten Uhrsachen entworffen und publiciret Durch CHRISTIANUM DEMOCRITUM. Amsterdam: Henrich Betke 1706, 39 f. Johann Konrad Dippel, der sich in der Mitte der 1690er Jahre dem Pietismus zugewandt hatte, war rasch zu radikalen Ansichten gelangt und durch heftige Polemik gegen die protestantische Orthodoxie bekannt geworden. Die vorliegende Schrift fällt in die Zeit seines Aufenthaltes in Berlin (1704–1707), in der er wegen Angriffen auf die schwedische Religionspolitik kurzzeitig verhaftet wurde und daraufhin in die Niederlande floh. Im Zusammenhang mit der Frage, wie eine christliche Obrigkeit zum Frieden zwischen den verschiedenen Religionsparteien (Konfessionen) beitragen könne, postuliert Dippel die Errichtung einer neuen (philadelphischen) Gemeinschaft derer, die die Sünde tatsächlich überwunden haben. Zum Pseudonym „Christianus Demokritus“ → 20.4.
Dritte Abtheilung Zeiget positivè, nach der Weißheit Rath von oben / die einige und sicherste Methode, nach welcher eine Christlich=gesinnte Obrigkeit das Ihrige mit gutem Success zum Frieden aller mißhelligen Partheyen contribuiren könne. ALles / was biß hieher gesagt / gehet dahin / daß alle Secten, sollen sie wiedrum in CHristo und der Warheit einig werden / sich selbst ansehen müssen als Heyden und Juden / ja als Leuthe / die noch vor Heyden und Juden in gefährlichern praejudiciis39 stecken / der Evangelischen Warheit Platz zu lassen. So bald sie nun sich von dem Juden= und Heydenthum zu Christo bekehren / so bald werden sie auch unter sich einig werden / dann die Christen in wahrem Biblischen Verstand / sind nie so zänckisch und beissig unter einander gewesen. Bekehren müssen sie sich von dem Heydnischen Laster=Leben in der Natur / und verleugnen das ungöttliche Wesen / und die weltlichen Lüste: Bekehren müssen sie sich auch von der Jüdischen Heucheley / da man mit Meynungen / Cere39
Vorurteilen.
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monien und eusserlichen Übungen GOTT in [40] Christo gefallen will / alsdann werden sie sehen / daß der Geist Christi / der sie regiert / und der göttlichen Natur theilhafftig macht 40 / sie auch in alle Wahrheit könne leiten / und ihnen das Verständnüß in der Schrifft öffnen / welches Buch ihnen sonst verschlossen bleibet. Sie werden in dieser lebendigen Erkäntnüß Jesu Christi / gar wichtigere Argumenta und BeweißGründe finden / gegen die / so draussen sind / Christi Ehre / Gottheit und Majestät zu vertheydigen / wann sie seine göttliche Krafft zuvor in sich selbst erfahren in Zerstörung der Wercke des Teuffels41 / und in Wiederbringung des Göttlichen Bildes / da sie sonst mit ihren leeren Worten / womit sie Christum verherrlichen wollen / seine Gottheit und Majestät mehr geschändet / indeme sie ihn dort droben im Himmel / weit von sich / gar groß gemacht / in sich selbst aber die Macht der Sünden und des Teuffels / weit über die Krafft Christi erhoben / so wohl im Leben und in der That / als durch schändliche und verteuffelte Lehr=Sätze / in welchen man die würckliche Erlösung und Seeligmachung von der Sünden gar geleugnet / und geglaubet / es sey auch in Christo ohnmöglich / kein Sünder mehr zu seyn / oder / alle Versuchungen zur Sünde zu beherrschen / und weit zu überwinden / durch den / der uns mächtig macht.42
Literatur : Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung. Göttingen 2001. – Wolf-Friedrich Schäufele: Taufe und Wiedergeburt bei Johann Konrad Dippel. In: Alter Adam und neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung. Hg. v. Udo Sträter [u.a.]. Bd. 1. Tübingen 2009, 219–228.
40 41 42
Vgl. II Petr 1,4. Vgl. I Joh 3,8. Vgl. Röm 8,37. Hier heißt es aber: „... überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.“
2.7 Horche: Die wahrhaft Gläubigen
2.7 Heinrich Horche: Die wahrhaft Gläubigen müssen sich zur endzeitlichen Gemeinde vereinigen (1712) Filadelfia. Das ist / Bruder=Liebe Unter den rechtschaffenen Gläubigen in denen so genanten Lutherischen und Reformirten Gemeinen / ungeachtet der Streitfragen / welche dieselbe untereinander haben / Zur Ersten Probe Vom Heiligen Abendmahl Fürgestellet Von Henrich Horchen / Von Eschwege aus Hessen. Marburg: Johann Kürßner 1712, 3–6. Heinrich Horche, der seit 1697 kein kirchliches Amt mehr bekleidete (→ 1.8), formulierte sein neues Kirchenideal unter explizitem Bezug auf die in Apk 3,7–13 angekündigte Zeit von „Philadelphia“. Die ,Philadelphier‘, stark beeinflusst von den Schriften der Engländerin Jane Leade (1623/24–1704), gingen davon aus, dass die Zeit der Sammlung der wahren Kinder Gottes zu einer endzeitlichen Gemeinde als überkonfessioneller und außerinstitutioneller christlicher Liebesgemeinschaft nun angebrochen sei. Die als Sekten bezeichneten Kirchen würden als Teil von Babel (Apk 18) bald untergehen, wenn das Tausendjährige Reich anbreche (Apk 20). Anders als Johann Jakob Schütz (1640–1690) (→ 2.4) strebte Horche eine tatsächliche Vereinigung der aus den verschiedenen Kirchen stammenden wahren Christen an. In Hessen trat er als Prophet und erster Organisator philadelphischer Gemeinden hervor.
Dem Christlichen Leser Gnade und Fride zuvor von GOtt dem Vatter in JEsu Christo dem Fürsten des Friedens. MAn suchet hier nicht die vereinigung der grossen weltförmigen haufen / die sich Christen nennen / als welche eben dadurch ihre hörner wider das wahre wesen in Christo mit desto grösserem trotz und verdoppelter gewalt würden auffheben / sondern nur der wahren gläubigen unter ihnen / wie das Titel=blat besaget / und demnach so fern auch der übrigen / wo sie sich durch einen lebendigen und die welt verleugnenden glauben zuvorderst mit Christo dem Haubt43 vereinigen. Man erstrecket auch disen göttlichen friedens handel für dißmal nur auff die / unter denen wir wohnen / die edlen früchte / so für unser thür sind / zum voraus zu samlen. Mit was liebe aber und behutsamkeit umzugehen mit denen andern / die nach ihrem glauben und ort / da sie wohnen / uns nicht so nahe sind / erfordert eine besondere betrachtung / darvon / so der HErr will / auff eine andere zeit / die darzu füglich 43
Vgl. Eph 1,22.
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seyn wird. Die gnädige fürsehung aber unsers Gottes / der alles fein thut zu seiner zeit / lasse sie bald kommen / uns die wir um die zukunfft seines reichs tag und nacht seufzen / zu einer offenen thür zu allen völckern44 unter dem himmel / damit sein name herrlich werde vom aufgang der sonnen bis zum niedergang.45 Ja / Amen. Was die wichtigkeit besagter vereinigung betrifft / mag uns selbige niemand besser lehren / als der himmlische Lehr- [4] meister selbst: Dan da er blut und seele für uns ausschütten wolte / bat er darum zum viertenmal und sprach: Heiliger Vatter / erhalte sie in deinem namen / die du mir gegeben hast / daß sie eins seyen gleich wie wir. Joh 17 / 11. Und abermahl: Ich bitte nicht allein für sie / sondern auch für die / so durch ihr wort an mich glauben werden / auff daß sie alle eins seyn; gleichwie du Vatter in mir und ich in dir / daß auch sie in uns eins seyn / auf daß die welt glaube / du habest mich gesand v 20/21. Ferner im folgenden verß:46 Ich habe ihnen gegeben die herrlichkeit / die du mir gegeben hast / daß sie eins seyn / gleichwie wir eins sind. Endlich damit nichts fehlen möge / thut er alsobald noch hinzu: Ich in ihnen / und du in mir / aufdaß sie volkommen seyen in eines / und daß die welt erkenne / daß du mich gesandt hast und sie geliebet wie du mich geliebet hast v. 23 . Sihe da die selige frucht solcher vereinigung! nemlich / daß die unglaubige welt glaubig werde; daß sie erkenne / daß Christus der welt Heiland sey / den der Vatter vom himmel gesand; und daß die gläubige an Christum geliebte kinder Gottes seyen / wie Christus auch selbst der sohn der liebe ist / in welchem sie geliebet und zur kindschafft gesetzet sind. Was erhält aber nun hergegen die welt in ihrem unglauben? Ists nicht auch dises / daß einer spricht: Ich bin Paulisch /der ander / Kefisch: der dritte / Apollisch? 47 Hören wir nicht täglich die Juden zu uns spöttlich sagen? Werdet erst selbst untereinander eins / ihr Christen / alsdan wollen wir auch Christen werden. Und werden das nit auch die heyden sagen / denen unsere uneinigkeit bekant ist? Was wunders demnach / daß es eine solche gemeine seyn muß / die da Filadelfia / das ist / Brüderliebe heisset / welche auffs neue eine offene thür bekommet zurbekehrung der völcker Off. 3/10. die durch den bißherigen zwyspalt wieder ist zugeschlossen 44 45 46 47
Vgl. Ez 26,2 und Apk 3,8. Mal 1,11. Joh 17,22. Vgl. I Kor 1,12.
2.7 Horche: Die wahrhaft Gläubigen
worden. Dan wie die erste Apostolische gemeine / in welcher sie allesamt ein [5] hertz und eine seele wären48 / dieselbe für sich offen hatte / die erstlinge zu samlen aus den Juden und heiden; also muß krafft der fürbitte des HErrn endlich wieder eine solche aufkommen / welche jener an liebe und eintracht gleichet / wie eine echte und rechte tochter ihrer mutter / die völlige erndte der auserwehlten einzubringen / daß die töchter oder dirnen der von Christo entfrembdeten heiden sie sehen und selig preisen / und die königinnen und kebsweiber / das ist / die Antichristischen und Muhammedischen gemeinen / sie loben in der gemeinschafft des glaubens mit ihr Hoh Lied 6/9. Wir werden aber zugleich hieraus belehret / wie dise so gar köstliche vereinigung müsse beschaffen seyn / daß sie nemlich seyn müsse im Vatter und im Sohn / also daß / gleichwie diselben eins sind und mit inniger liebe sich umfahen / auch selbst sie in Ihnen eins seyen / wie geschrieben stehet. Wer dem Herren anhanget (durch lebendigen glauben und rechtschaffene liebe / ) der ist ein geist mit ihm I. Cor. 6/17 . Wo derwegen dise liebe Gottes in Christo nicht ist / so aus einem reinen hertzen und ungeheucheltem glauben komt / da mag eine solche selige gemeinschafft / warum der Heiland den Vatter bittet / nit platz haben / so wenig unterschiedene linien in einen circul können vereinbaret werden / wo sie nicht in dem mittelpunct zusammen lauffen. Woraus dan auch weiter erhellet / daß das allerfurnemste und kräfftigste mittel zu solcher vereinigung zu gelangen / dises sey / wan man mit allem nachdruck das innere Christenthum prediget / darauf dringet / und es je und allewege treibet / damit die hertzen durch ungeheuchelten glauben / lebendige hofnung und rechtschaffene liebe gerichtet werden auf GOtt in Christo / in disem einigen eins / als dem algemeinen Centro oder mittelpunct / zusammen zu fliessen. Gewißlich / je gen[au]er dise vereinigung ist / je mehr wird einer den andern ver[eini..?]gen in der liebe / und fleissig seyn zu halten die einigkeit des Ge[i-] [6] stes durch das band des friedens Efes. 4/2. Dan wer da liebet den / der ihn geboren hat / der liebet auch den / der aus ihm geboren ist. I. Joh. 5/1 .
Literatur : Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, 63–73. 48
Vgl. Act 4,32a.
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2.8 [David Cranz:] Herkunft und Verfassung der Brüdergemeine (1757) Kurze, zuverläßige Nachricht Von der, unter dem Namen der Böhmisch=Mährischen Brüder bekanten, Kirche UNITAS FRATRUM Herkommen, Lehr=Begrif, äussern und innern Kirchen=Verfassung und Gebräuchen, aus richtigen Urkunden und Erzehlungen von einem Ihrer Christlich Unpartheiischen Freunde heraus gegeben und mit sechzehn Vorstellungen in Kupfer erläutert. [o. O.] 1757, 9f., 18 f., 48–51. Im Jahre 1757 publizierte David Cranz, der in der Herrnhuter Brüdergemeine zum Führungskreis um Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) gehörte, eine Geschichte der Gemeine, in der er Herkunft, Selbstverständnis und Verfassung der Herrnhuter beschrieb. Dabei erläutert er die Herleitung von der im 15. Jahrhundert entstandenen Mährischen Brüderunität (Hussiten) ebenso wie die speziell Herrnhutischen Gemeinschaftsformen.
§. I. DIe Böhmisch=Mährische Brüder=Kirche stammt von denjenigen Brüdern her, welche der König in Böhmen, Georg Podiebrad,49 aus eigener Bewegung und Liebe und auf Vorbitte des damaligen Erzbischofs zu Prag, An[no] 1457, auf seinen Erbgütern in der Gegend Lititz an der Schlesischen Grenze aufgenommen hat; damit sie daselbst in Stille und Friede GOtt dienen und ihren Feinden nicht so leicht preis werden möchten: Weil sie in dem Punkt des Religions=Schutzes durch die Waffen, von den Taboriten50 abgegangen waren und das Gebet für die einige Gewalt der Christen gegen ihre Feinde erklärt hatten. §. II. Sie nennten sich, nach dem Exempel der ersten Christen, Brüder : Und weil sie Böhmen und Mähren waren, so wurden sie von den Auswärtigen die Böhmischen und Mähri - [10] schen Brüder ; und nachdem die Wal-
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Georg von Podiebrad (1420–1471) war von 1458 bis 1471 König von Böhmen. Radikaler Flügel der Hussiten, benannt nach der von ihnen in Südböhmen gegründeten Stadt Tábor.
2.8 [Cranz:] Herkunft und Verfassung der Brüdergemeine
denser51 aus der Verfolgung zu ihnen flüchteten und sich unter ihre Nation verloren, auch Waldenser , genennet. Da sie aber in Preussen, Polen, England, Würtenberg und Sachsen Schutz suchten und zum Theil sich niederliessen, so wurde es zu weitläuffig, alle diese Abtheilungen zusammen zu fassen und die Böhmisch=Mährisch=Welsch=Polnisch=Deutsch= und Englische Brüder zu sagen: Daher sie sich lieber von keiner Nation nennen, sondern alle diese Abtheilungen unter dem nun vor 300 Jahren schon beliebten Namen, der Fratrum Unitatis oder Vereinigten Brüder , begreiffen wollten. Und das ist der Name, den sie, laut der Act des Parliaments von Gros=Britannien,52 noch itzt führen; so wie sie in andern Ländern, sonderlich vom Chur=Sächsischen, als Evangelischen Directorial-Ministerio , laut der allergnädigsten Assecuration von 175053 die Evangelischen Brüder benennet werden. [...] [18] §. X. Es ist bereits §. II. erinnert worden, daß die Brüder den Namen Unitas Fratrum führen. Denselben gründen sie auf des Heilands hohepriesterliches Gebet und Testament Joh. XVII. daß sie alle Eins seyn , auf seine Worte, Matth. XXIII. 8. Ihr seyd alle Brüder , und auf Pauli Beschreibung einer Gemeine Ephes. IV. und ist, anstat des ersten Namens, Fratres Legis Christi, Brüder des Gesetzes Christi , weil er von den Widersachern verdreht wurde, von den Brüdern in Lititz 54 schon eingeführt worden. Da hernach dieselben sich mit allen Protestanten brüderlich geschlossen und endlich in dem bekanten Consensu Sendomiriensi eine Union oder Verein mit den beiden Evangelischen Religionen in Polen errichtet haben:55 so hat der Name Unitas Fratrum, das Brüder=Verein , noch die
51 52
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Im 12. Jahrhundert um den Lyoner Kaufmann Petrus Valdes (1140–1217?) gegründete und von der Kirche verfolgte Gemeinschaft religiöser Laien. Anerkennung der Brüdergemeine als „Ancient Protestant Episcopal Church“ im „Act for Encouraging the People Known by the Name of Unitas Fratrum or United Brethren, to Settle in His Majesties in America“ vom 24.6.1749 (vgl. Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen 2009, 58). Versicherungsdekret Friedrich Augusts II. von Sachsen (1696–1763) vom 20.9.1749 über Tolerierung und Schutz der Brüdergemeine als Augsburgische Religionsverwandte (vgl. Dietrich Meyer: Zinzendorf und Herrnhut. In: GdP 2, 3–106, hier 98 f.). Die Brüdergemeine in Lititz in Pennsylvania. Consensus von Sandomir 1570 zwischen Lutheranern, Calvinisten und Böhmischen Brüdern.
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Nebenbedeutung erhalten, von Brüdern, die mit allen Evangelischen in Union leben. Dieselbe ist seitdem immerfort fest geblieben und nie entkräftet worden: Die Mährische Brüder aber haben ihren ältesten Namen, Unitas Fratrum, erst alsdenn wieder öffentlich angenommen, als sie den drey Tropis,56 dem [19] Mährischen57, Lutherischen und Calvinischen, ihre alte Stellen und eigene Verfassungen im Synodo generali, als worinnen die Unität eigentlich zu suchen ist, wieder verschaffet und zwey Summi Theologi58 der Lutherischen und Reformirten Kirchen, als Administratores der beiden presbyterianischen59 Troporum, auf dem Synodo introducirt worden sind.60 §. XI. Tropus heist, die besondere Art und Weise, welche dieser oder jener Abtheilung in der Brüder=Kirche eigen ist, die Göttliche Wahrheit zu begreifen und vorzutragen. Die Brüder haben nicht klüger seyn wollen als ihre Vorfahren. Weil sich nun mit ihnen, so wie mit jenen, sehr viele aus beiden Evangelischen Religionen vereinigt hatten; so haben sie auch die verschiedenen Tropos wieder aus einander gesetzt, damit kein Mischmasch in ihren Gemeinen entstünde, woraus entweder eine Gleichgültigkeit der Religion, oder ein heimliches Secten=Wesen werden könte, sondern die verschiedenen Arten, die Wahrheit zu begreifen, bey unvermerktem Anwachs, ohne allzugrosses Aufsehen einander ausweichen, und der stärkere den schwächeren Theil nicht aufreiben möchte. Die Tropi verhüten den Schein eines Abfalls von der Religion, darinnen man geboren und erzogen ist, und den daher entstehenden Haß gegen die vorige Parthey; halten auch sowol denen, die die Brüder wieder verlassen wollen, als den Kindern, die etwa nicht ihrer Eltern Sinnes sind, die Thür in die andere Evangelische Religionen offen, daß sie ohne Auf56 57 58 59 60
Den folgenden drei in die Brüdergemeine integrierten „Lehrweisen“ (Konfessionen). Vgl. § XI. S. § I. Höchste Theologen. Von „Presbyter“ (Älteste). Bezeichnung für Kirchen mit einer Ältestenverfassung, wie sie v.a. im reformierten Bereich üblich ist. Nach der Vorstellung des Tropenkonzepts 1744 auf der Synode von Marienborn hatte Zinzendorf im Laufe der 1740er Jahre zunächst für den lutherischen und den reformierten Tropus Administratoren eingesetzt (vgl. Meyer, Zinzendorf und Herrnhut [wie Anm. 53], 46 u. 97).
2.8 [Cranz:] Herkunft und Verfassung der Brüdergemeine
sehen dahin wiederkehren können, woher sie gekommen waren. Im Synodo haben sie alle drey gleiches Ansehen und Rechte, und der Tropus, der eben den meisten Geist hat, der hat auch zu der Zeit das meiste Gewicht. [...] [48] §. XXXIX. Nachdem wir nun die Verfassung, öffentlichen GOttes=Dienst und Anstalten der Unität überhaupt beschrieben haben; so wird man wol noch etwas besonders von der Innern Gemein=Führung eines jeden völlig eingerichteten Ortes erwarten. Um die durch die Aufnahme versicherte Pflege einer jeden Person desto ordentlicher, besonderer und ihrem Grade und Alter gemässer angedeihen zu lassen, ist das Ganze nicht nur nach den zwey verschiedenen Geschlechten, sondern diese auch nach ihren besondern Graden und Altern abgetheilt und mit eigenen Ältesten oder Pflegern und Arbeitern versehen. Solche Abtheilungen nennen sie die Chöre , in dem Sinn der Reigen im Alten Testament. Die Ledigen wohnen von den Familien abgesondert in grossen dazu aptirten Häusern, die man Chor-Häuser nennet. Ein solches Chor=Haus haben die Jünglinge oder Ledige Brüder ; und in ihrer Nachbarschaft die Witwer . In einer geziemenden Entfernung davon wohnen die Jungfrauen oder Ledige Schwestern ; und nicht weit von ihnen haben die Witwen ihr eigenes Chor= [49] Haus. In solchen Häusern wohnen, beten und arbeiten sie für sich, erziehen kleine und grössere Knaben, oder auf der andern Seite, Mägdgen, die nicht mehr in den Anstalts=Häusern wohnen. Was minderjährige Personen sind, nennt man im ledigen Brüder=Hause, grosse Knaben und Jünglinge ; und bey den ledigen Schwestern, grosse Mägdgen und kleine Jungfern : Die überjahrten aber bey jenen Väter , bey diesen Matronen , bey den Witwern Alt=Väter und bei den Witwen Hannen , und werden nicht weniger als im Ehe=Chor die Schwangere und Säugende , und im Kinder=Chor die Säuglinge und Arm Kindergen (das ist, die noch auf dem Arm getragen werden) nach ihrem Grad und Alter gepfleget. Eine Rede, die für eins der Haupt=Chöre besonders auf dessen Zustand gehalten wird; heißt eine Chor=Homilie ; und ists ein Hymnus, eine Chor=Liturgie , die gemeiniglich Sontags Nachmittags nach einander gehalten werden. Bringt aber der Text des Tages mit sich, mit einem der Chöre besonders zu reden; so heißt das ein Chor=Tag ; und ists zugleich ein Gedächtnis=Tag, ein Chor=Fest .
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Die Chöre werden nach gewissen Grund=Regeln, die aus GOttes Wort und aus der vielfältigen Erfahrung, von sich selber und andern Christlichen Verfassungen hergenommen sind, und die sie den Chor= Plan nennen, von Arbeitern ihres eigenen Geschlechts und Grades besorgt, denen die Chor=Priester oder Pfleger , die man sonst auch Aeltesten genennt hat, vorgesetzt sind; und die Chor=Diener halten, unter Direction eines Diaconi oder Vorstehers über die Ordnung im Haus= Wesen. Zu einem Chor=Hause wird, wie bey Kirchen und Capellen geschieht, der Grund=Stein feyerlich unter Gebet und Gesang des ganzen Chors gelegt, und wenn es fertig ist, an einem [50] besondern Dank=Fest mit Agapen, Gebet und Danksagung eingeweihet und bezogen. Ein solches Haus muß regulär und lichte gebaut seyn, keine finstere Winkel haben, keine Stube, Versammlungs= oder Speise=Saal, wenn sie nicht verschlossen sind, Abends ohne Licht seyn: Wie denn auf allen Gängen und Treppen die ganze Nacht durch Lampen brennen, sonderlich aber auf dem Schlaf=Saal, den sie noch ins besondere einweihen und alle Nacht mit einer abwechselnden Wache versehen, damit auch keine involuntäre61 Unziemlichkeit eine Stöhrung und Unordnung verursache, weil sie glauben, daß man, nach des Apostels Regel (I. Cor. X, 31. Coloss. III, 17.) im Namen und Nachfolge JEsu Christi nicht nur essen und trinken , sondern auch schlafen könne und müsse. §. XL. Die Chor=Pflege äussert sich zuförderst in den Banden . So wurden anfänglich die kleinen Cotterien62, die eine bey den ersten Einwohnern von Herrnhuth wahrgenommene Fremdigkeit unter den Familien und Gemüthern heben und verhüten solten, in dem Sinn, wie die Liebe das Band der Vollkommenheit heißt, genennet. Weil aber die Gegner das Band durch den Pluralem, die Bande , i[d] e[st] Fesseln und Zwang, und also durch das gerade Gegentheil verhaßt, und durch die Hof=Idee, eine Bande , lächerlich zu machen suchten: So wurde anstatt dieser Ausdrücke, das ebenfals nicht geschikteste Wort, Gesellschaft , angenommen. Dieselben bestehen aus sehr wenigen, selten über zehen, Personen von einerley Geschlecht und Grad, die nach ihrer Gemüths=Stellung sich entweder selbst mit andern ihres gleichen, und zwar mit der übrigen 61 62
Ungewollte. Eine Gruppe von Personen, die vertraulich miteinander umgehen.
2.8 [Cranz:] Herkunft und Verfassung der Brüdergemeine
Kenntniß, zum täglichen Umgang, so gut sie können, gesellen; oder, so sie die Gabe zu wählen nicht haben, von ihren Arbeitern, nach den treuesten Freundschafts=Regeln, mit aller von GOtt ver- [51] liehenen Weisheit, zu Freunden und Vertrauten gewiesen werden, mit denen sie sich täglich, oder zu gewissen Zeiten, in Beyseyn eines Arbeiters öffentlich und freundschaftlich besprechen, in aller Freiheit ihr Gemüth entdecken, ihre Noth klagen, und Ermahnung oder Trost einander ertheilen und erwarten können. Diejenigen Gesellschaften, die sich nicht sowol auf die verschiedene Gemüths=Stellungen, als auf gewisse aus der innern Beschaffenheit herrührende äusserliche Grade beziehen, heissen sie die Classen eines Chors. Damit aber durch solcher Gesellschaften allzuenge Freundschaft und einzele Gemeinschaft der Gemüther, die übrigen einander nicht fremde bleiben, sondern der Sinn des Testaments Joh. XVII. daß sie alle Eins seyn , sich mehr ausbreiten und durch alle Personen äussern möge; so werden nicht nur solche Gesellschaften, ins besondre die Banden, von Zeit zu Zeit, jedoch nach ihrem innerlichen Zweck, verändert; sondern man hat auch zu gewissen Zeiten den täglichen Besuch dazu geordnet, daß die Glieder eines Chors auch wohl alle Brüder unter sich, und so auch die Schwestern ihrerseits, alle Jahr etlichemal einander durchgängig sehen und sprechen, lieb werden und bleiben mögen. Auf diese Weise haben sie es manchmal so eingerichtet, daß jeglichen Tag ein Ehe=Paar in den Familien, und eine einzele Person in ihrem Chor= Hause, den übrigen die tägliche Losung63 bekannt gemacht, oder, wie sie es einmal nennten, mit dem Namen des Heylands desselbigen Tages gegrüßt hat.
Edition : Kurze, zuverlässige Nachricht von der Brüder Unität. Das Zeremonienbüchlein (1757). Eingeleitet u. neu hg. v. Rudolf Dellsperger. Herrnhut 2014. – Literatur : Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen 2009.
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Das für den Tag ausgeloste Bibelwort (→ 3.11).
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„Vom verborgenen Leben der Gläubigen.“ Johann Anastasius Freylinghausen: Geist=reiches Gesang=Buch / Den Kern Alter und Neuer Lieder / Wie auch die Noten der unbekannten Melodeyen / Und darzu gehörige nützliche Register in sich haltend; In gegenwärtiger bequemer Ordnung und Form / sammt einer Vorrede / Zur Erweckung heiliger Andacht und Erbauung im Glauben und gottseeligem Wesen herausgegeben [...]. Halle/Saale: Waisenhaus 1704, 807. Die Abbildung zeigt die Melodie eines der wohl bekanntesten Lieder des Pietismus: Es glänzet der Christen inwendiges Leben .
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3. F RÖMMIGKEITSPRAXIS Die Praxis pietatis oder Frömmigkeitspraxis zählt zum definitorischen Kernbestand dessen, was den Pietismus zum Pietismus gemacht hat. Gleichwohl sind diese Praktiken nicht in jeder Form und in jeder Funktion als spezifisch pietistisch zu begreifen. Vielmehr hat der Pietismus Frömmigkeitsformen etwa der Lutherischen Orthodoxie oder der mittelalterlichen katholischen Mystik modifizierend aufgegriffen. Die Praktiken unterlagen einer klaren Zielstellung: der schrittweisen, gründlichen Veränderung des Menschen von einem Kind der Welt zu einem Kind Gottes, von einem nichtwiedergeborenen zu einem wiedergeborenen (protestantischen) Christen. Dies verband sich teils mit einem dezidiert pädagogischen Blick auf die Christen (→ 7). „Weltveränderung durch Menschenveränderung“, diese griffige Formel von Martin Schmidt, bezeichnet die doppelte Zielsetzung vor allem des hallischen Pietismus, demgegenüber sich die Gestaltungsanstrengungen anderer pietistischer Gruppierungen bescheidener ausnahmen. Dennoch darf ein verbindender Bestand an Frömmigkeitspraktiken angenommen werden, der freilich nicht nur geübt, sondern zugleich theoretisch flankiert und reflektiert wurde (→ 3.4, → 3.10). Dazu gehörten das Predigen (→ 3.1, → 3.3), das Beten (→ 3.4) und Meditieren (→ 3.8), das Singen (→ 3.2, → 3.5, → 3.7), Schreiben (→ 3.8, → 3.9) und Lesen, aber auch das Erziehen, schließlich das Missionieren sowie auch – vor allem, aber nicht ausschließlich bei den Herrnhutern – das Losen (→ 3.6, → 3.11).
Literatur : Christoph Krummacher: Musik als praxis pietatis. Zum Selbstverständnis evangelischer Kirchenmusik. Göttingen 1994. – Praxis Pietatis. Beiträge zu Theologie und Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Hg. v. Elke Axmacher u. Hans-Jörg Nieden. Stuttgart [u. a.] 1999. – Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010. – Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995. – Tanja Täubner: „Zum andern soltu meditirn“. Die Meditationspraktiken in der Pädagogik August Hermann Franckes. Halle/Saale 2015.
3.1 Spener: einfältig, aber gewaltig
3.1 Philipp Jakob Spener: „einfältig, aber gewaltig“ – Anweisung zum erbaulichen Predigen (1676) PIA DESIDERIA: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen / Philipp Jacob Speners / D. Predigers und Senioris in Franckfurt am Main; Sampt angehengten Zweyer Christlichen Theologorum darüber gestellten / und zu mehrer aufferbauung höchst=dienlichen bedencken. Frankfurt/Main: Johann David Zunner [1675|] 1676, 149–154. Ein Baustein für die von Philipp Jakob Spener in den Pia Desideria formulierte Kirchenreform ist die „Anleitung zum richtigen Predigen“, die den Prediger befähigen sollte, „den kopff in das hertz“ zu bringen (Spener nach Franciscus Mercurius van Helmont [1614–1699]). Freilich sollten dabei Kopf (intellectus und memoria ) und Herz (voluntas) als die drei entscheidenden Seelenkräfte nicht gegeneinander ausgespielt, sondern ergänzend und unterstützend aufeinander bezogen werden. Predigtlehre (Homiletik) und Predigtpraxis der Lutherischen Orthodoxie waren Spener und im Anschluss auch anderen Pietisten zu gelehrt, zu trocken, nicht ausreichend begeisternd, um einen lebendigen, tätigen Glauben zu initialisieren. Die von Spener geübte Predigtkritik hat im Protestantismus eine bereits im 17. Jahrhundert ausgebildete Tradition.
Neben diesen zu ihrem eigenen Christentum dienlichen Exercitiis1, solte auch wol nützlich seyn / wo ihnen von ihren Praeceptoribus2 gelegenheit gemacht würde / zu einigen vorübungen der dinge / damit sie in ihrem ampt dermahl eins umbzugehen haben werden: Zuweilen einige unwissende zu unterrichten / krancke zu trösten / und dergleichen; Vornehmlich aber in den Predigten sich also zu üben / daß ihnen bald gezeigt werde / wie sie alles in solchen Predigten zu der erbauung einzurichten. Wie Ich dann jetzo noch dieses vor das 6. mittel anhänge / wodurch der Christlichen Kirchen zu besserm stand geholffen werden möchte / wo nehmlich die Predigten auch also von allen eingerichtet würden / daß der zweck deroselben / nehmlich glaube und dessen früchten / bey den zuhörern bestmüglichst befördert werden. Es ist 1 2
Auf die eigene Frömmigkeitspraxis sich beziehende Übungen. Lehrer.
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zwar freylich an dem / daß wenig Ort [150] unserer Religion seyn werden / da mangel solte seyn / daß nicht gnug Predigten gehalten würden. Aber viel gottselige gemüther finden gleichwol nicht wenig mangel an vielen Predigten. Indem es solche Prediger gibt / welche öffters ihre meiste Predigen mit dergleichen dingen zubringen / damit sie sich vor gelehrte leute darstellen / obs wol die Zuhörer nicht verstehen: Da müssen offt viele frembde Sprachen herbey / da etwa nicht ein einiger in der Kirchen ein wort davon weiß: Wie manche tragen wol etwa mehr sorge davor / daß ja das Exordium3 sich recht schicke / und die zusammenfügung artig; daß die Disposition4 kunstreich und etwa verborgen gnug; daß alle Theile recht nach der Redekunst abgemessen und außgeziert seyen / als wie sie solche Materien wehleten und durch GOttes Gnade außführeten / darvon der Zuhörer im leben und sterben nutzen haben mag. So solle es nun nicht seyn / sondern weil die Cantzel nicht der jenige Ort ist / da man seine kunst mit pracht sehen lassen / sondern das Wort deß HERRN einfältig / aber gewaltig predigen / und dieses das Göttliche mittel seyn solte / die leute selig zu machen / [151] so solte billich alles auch nach diesem zweck gerichtet werden. Und hat sich darinnen der Prediger vielmehr nach seinen zuhörern / weil sie nach ihm nicht können / zu richten: Allezeit aber mehr auff die einfältige / so den meisten theil machen als auff etliche wenige gelehrte / wo sich dergleichen antreffen lassen / zu sehen. […] Was ein und andere anmerckungen sonsten sind / die bey den Predigten zu beobachten / übergehe hier gern. Das vornehmste aber achte Ich dieses zu seyn / weil ja unser gantzes Christenthum bestehet in dem innern oder neuen menschen / dessen Seele der Glaube [152] und seine würckungen die früchten deß lebens sind: Daß dann die Predigten insgesampt dahin gerichtet solten werden. […] [153] Also / daß es nicht gnug seye / getaufft seyn / sondern / daß unser innerlicher mensch / darinnen wir CHristum vermittels desselben angezogen / ihn auch müsse anbehalten / und dessen zeugnüß an dem äusserlichen leben zeigen: Daß es nicht gnug seye / äusserlich das Heil[ige] Abendmahl empfangen zu haben / sondern / daß auch unser innerlicher mensch durch solche selige Speise müsse wahrhafftig 3 4
Einleitung, Anfang (in der klassischen Rhetorik eines der vier zentralen Elemente einer Rede). Gliederung der Rede (in der klassischen Rhetorik der zweite Schritt bei der Ausarbeitung einer Rede).
3.2 Neander: Neue Lieder für neue Menschen
genehret werden: Daß es nicht gnug seye / äusserlich mit dem munde zu beten / sondern / daß das rechte und vornehmste gebet in unserm innerlichen menschen geschehe / und sich entweder in die wort erst außlasse / oder aber wol gar in der Seele bleibe / und doch daselbst GOTT finde und antreffe: Daß es nicht gnug seye / GOtt seinen Dienst in dem äusserlichen Tempel zu leisten / sondern / daß unser innerliche mensch den vornehmsten dienst GOtt in seinem eigenen Tempel / er seye jetzt [154] in dem äusserlichen oder nicht / leisten müsse; und was dergleichen ist. Darauff / weil darinnen die rechte krafft deß gantzen Christenthums stehet / sind billich ins gemein die Predigten zurichten. Und würde gewißlich / wo solches geschehe / vielmehr erbauung als auff diese weise bey vielen geschiehet erfolgen.
Edition : Ph.J. Spener: Pia Desideria. Hg. v. Kurt Aland. Berlin 31964. – Literatur : Oliver Pfefferkorn: Übung der Gottseligkeit. Die Textsorten Predigt, Andacht und Gebet im deutschen Protestantismus des späten 16. und 17. Jahrhunderts. Frankfurt/Main [u. a.] 2005. – Udo Sträter: Predigt III. Neuzeit 1. Reformation bis Neuzeit: Protestantische Predigt. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 7. Tübingen 2005, 65–84.
3.2 Joachim Neander: Neue Lieder für neue Menschen (1680) A & Ω. JOACHIMI NEANDRI Glaub= und Liebes=übung: Auffgemuntert durch Einfältige Bundes= Lieder und Danck=Psalmen: Neugesetzet Nach bekant= und unbekandte Sang=Weisen: Gegründet Auff dem / zwischen GOTT und dem Sünder im Bluht Jesu befestigtem Friedens= Schluß: Zu lesen und zu singen auff Reisen / zu Hauß bey Christen= Ergetzungen im Grünen / durch ein geheiligtes Hertzens=Halleluja! Cant. II. 14. Meine Taube / in den Felßlöchern |/ in dem Verborgenen der Steinritzen / laß mich hören deine Stimme. Bremen: Hermann Brauer 1680. Nach: Joachim Neander: Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen. Hg. v. Rudolf Mohr. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002, 10 f., 90 f. 1680 erschienen, teils mit selbst komponierten Melodien, die Bundeslieder und Dankpsalmen des reformierten Theologen Joachim Neander. Reich durchsetzt
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mit biblischen und mystischen Bildern und Motiven gelangten die Lieder rasch in reformierte und lutherische Gesangbücher. Das Lob der leidvollen Nachfolge Christi steht dabei in Spannung zum freudigen Genuss und Lob der von Gott geschaffenen Natur. In dem hier abgedruckten Gedicht artikuliert Christus seine Bereitschaft, den Menschen erlösen zu wollen. In der letzten Strophe reagiert der erlösungsbedürftige Mensch. Ein programmatischer Text zu Beginn der Liedersammlung macht den Anspruch geltend, mit neuen Liedern die Frömmigkeit in reformiert-calvinistischer Ausprägung befördern zu wollen.
ALte Gewonheiten / fest gewurtzelt; böse Exempel / hoch gehalten; kluge Schein=reden bald geglaubt; sind drey Haupt=Seulen / darauff des Teuffels Reich zu jeder Zeit sonderlich sich gestützet. Dieses sind auserlesene Feuer=giftige und tödtende Bösewichts=Pfeile / durch welche der Satan / wie ein lang erfahrener Tausend=Künstler / vielen / auch sonst in Welt=Sachen sehr Verständigen / so weiß das Hertz zu treffen / daß darauff der ewige Tod unvermerckt doch unfehlbar / offt plötzlich erfolget. Was ist gemeiners bey denen / die weder kalt noch warm seynd5 / als auff diese Weise sich zu entschuldigen: Man solte es bey dem Alten lassen / das so viel treffliche Männer auch gethan; wan alles so genau zu halten / wer wolte dan seelig werden? Mit alldem neuen Werck / davon haben die Vorfahren ja nichts gewust / etc. Auff solche Weise kan der Sünder seinem Gewissen eine zeitlang den Mund woll stopffen / aber vor dem Angesichte des Richters wird es nicht schweigen. […] Dieses ist auch mein Augmerck / geliebter Leser / daß ich obgenandte Glaub= und Liebes=Übung zu meiner und anderer Auffmunterung habe drucken lassen. Unterschiedliche Ursachen könte ich beybringen die mich hiezu gleichsahm gezogen haben. Theils / weil ich vernommen / daß ohne mein Wissen schon etwas davon ge- [11] drucket / viele Gesänge von andern nicht recht abgeschrieben / und nicht wenig es auch von mir begehret haben / insonderheit weil ich beynah keinen unter den Reformirten Teutschen weiß / der solche Arbeit auff sich genommen / da hingegen andere / insonderheit die Holländer viele dergleichen haben ausgegeben! man dencke hierbey was für seltsame Worte nicht gesungen werden von dem gemeinen Mann in fremder Sprache: als: In dulci ju5
Nach Apk 3,15 f. die ,Laodicaeer‘: Bewohner der antiken Stadt Laodicaea im Südwesten der heutigen Türkei. Die Stadt kam als wirtschaftliches Zentrum zu großem Reichtum. In der Johannesoffenbarung des Neuen Testamentes wirft Jesus den wohlhabenden Laodicäern ihren Hochmut und Mangel an geistlichem Reichtum, insbesondere ihre Lauheit vor (→ 1.2, → 2.1).
3.2 Neander: Neue Lieder für neue Menschen
bilo 6; Puer natus in Bethlehem 7; Gratiosa coeli rosa 8. Wie kann doch einer / der unerfahren / Amen hiezu sagen? Eben so viel als das Volck in der Römischen Kirchen davon verstehet / wan es mit voller Stimme ruffet: Et cum Spiritu tuo 9. Es muß ja alles billig mit Verstand geschehen / weil GOtt im Geist und in der Warheit durch vernünfftigen Gottesdienst will gedienet seyn.10 Habe also mich schuldig befunden / meinen Nechsten auch hierin wollgemeinete Auffmunterung mitzutheilen. Nachdem auch der allein weise GOtt mich wiederumb in mein irdisches Vatterland Bremen nach seinem Raht geruffen / umb der Gemeine zu Martini das Wort des Glaubens und der Liebe zu predigen / so bin ich desto ehe an diese mühsame Arbeit gegangen / umb zu beweisen / daß ich so willig als schuldig were / das geringe Pfund / von JEsus mir Unwürdigen anvertrauet11 / so anzulegen / damit etwas bey meinem Nechsten möchte gewonnen werden zur Tödtung des Alten und Erweckung des Neuen Menschen / alles zur Ehre des grossen GOttes und unser Seelen Seligkeit [...]. [90] Christus unsere Erlösung. Mel[odie] Kompt her zu mir etc. WOllan! All die ihr dürstig seyd / Ein Wasser ist Euch hie bereit. Das Seelen-Durst kann stillen;12 Wer davon trinckt / dem dürstet nicht / In Ewigkeit ihm nichts gebricht13 / Es kann den Mund erfüllen. 6
In süßem Jubel : Titel eines Heinrich Seuse (um 1297–1366) zugeschriebenen,
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Ein Knabe geboren zu Bethlehem : Titel eines auf das Spätmittelalter zurückgehen-
8
Gnadenreiche Himmelsrose : Lateinischer Ausdruck in dem von Philipp Nicolai (1556–1608) gedichteten weihnachtlichen Christuslied Wie schön leuchtet der Morgenstern , der im 17. Jahrhundert meist weggelassen wurde.
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In der römisch-katholischen Messe begrüßt der Priester seine Gemeinde mit den Worten „Dominus vobiscum“ („Der Herr sei mit euch“). Die Antwort der Gemeinde lautet: „Et cum spiritu tuo“ („Und mit deinem Geiste“). Vgl. Joh 4,24 und Röm 1,12. Vgl. Mt 25,14–30 par. Vgl. Ps 42. Vgl. Ps 52.
deutsch-lateinischen Weihnachtsliedes aus dem 14. Jahrhundert. den lateinischen Weihnachtsliedes.
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2. Kompt her und kauffet ohne Geld / Was euch nicht geben kann die Welt Mit allen ihren Schätzen; Vor nichtes geb’ ich Milch und Wein / Dem / der mein Eigenthumb will seyn / Ich kann in Freyheit setzen. 3. Diß ist der Zweck von meinem Lauff / Des Teuffels Werck zu lösen auff! Ist jemand hart gebunden? Der kom in Glauben her zu mir / Ich bin Allein des Himmels-Thür / Ich hab’ Erlösung funden! 4. Ich / Ich des grossen Vatters Wort Zerstöre den Gefängniß-Ort / Ich mache freye Kinder / Aus Tausenden ich Einer bin! Diß ist mein Will’ und letzter Sinn: Daß Ich sey Überwinder! [91] 5. Herr / der du an mich hast gedacht / Erlöse mich durch deine Macht / Mein Fleisch und Bluhts-Verwandter; Wie kann ich nahen zum Verderb? Nun Jesus Bürg’ und ich der Erb? O Gnaden-Bunds Gesandter!
Literatur : Helmut Ackermann: Joachim Neander. Sein Leben. Seine Lieder. Sein Tal. 3., veränd. u. erw. Aufl. Düsseldorf 2005. – Johann Friedrich Gerhard Goeters: Der reformierte Pietismus in Deutschland. In: GdP 1, 241–277.
3.3 Francke: Predigen wider den Kirchenschlaf
3.3 August Hermann Francke: Predigen wider den Kirchenschlaf (1693) Glauchisches Gedenck=Büchlein / Oder Einfältiger Unterricht Für die Christliche Gemeinde zu Glaucha an Halle, Die Heiligung der Sonn= Fest= Apostel= Buß= und Bet=Tage, Wie auch Der Fasten=Zeit, die Wiederholung der Predigten, Catechisation, Wochen=Predigten, Bet= stunden / und insgemein die Handlung des Göttlichen Worts betreffend […]. Leipzig, Halle/Saale [ohne Verlagsangabe] 1693, 49–53. Im Glauchischen Gedenkbüchlein stellt August Hermann Francke der Gemeinde von St. Georgen in Glaucha bei Halle ausführlich Prinzipien und Ziele seiner Amtsführung vor. Umfänglich werden Franckes (verloren gegangene) Freitagabendpredigten über Johann Arndts (1555–1621) Vier Bücher von wahrem Christentum (→ 1.1) beschrieben, die das theologisch-frömmigkeitliche Zentrum der kleinen Schrift bilden. Das Büchlein scheint sich, wie der folgende Ausschnitt zum unschicklichen Verhalten während des Gottesdienstes, insbesondere während der Predigt, zeigt, durch Lebensnähe und Menschenkenntnis auszuzeichnen. Gleichwohl wird mit dem Kirchenschlaf ein schon im gesamten 17. Jahrhundert bekannter Topos der Kritik aufgegriffen. Hier zeigen sich deutliche Kontinuitäten zwischen der Homiletik und Predigtpraxis der Lutherischen Orthodoxie und des Pietismus.
§. 26. In der Anhörung der Predigt selbst ereignen sich bey denen / die nicht aus Liebe zum Worte Gottes / sondern aus blosser Gewohnheit zur Kirchen kommen / fürnehmlich zwey Laster / dass sie entweder schlaffen / oder mit ihrem Nachbarn plaudern . [Marginalie: Zwey Laster / Schlaffen und Plaudern unter der Predigt.] Sehet zu lieben Pfarr=Kinder / dass es doch nicht von nöthen sey / euch in so gar groben und schändlichen Dingen zu erinnern. Zwar [50] was das Schlaffen betrifft / pfleget solches entweder daher zu rühren / dass man des vorigen Tages von der häußlichen Arbeit nicht zeitig genug Feyerabend gemachet / und daher der Leib noch ermüdet ist / und das ist noch die ehrlichste Ursache / die kaum iemand vor Sünde erkennen will; Sondern es rühret daher / dass man vor der Predigt / wie oben gedacht / Brantewein / oder dergleichen starckes Geträncke zu sich genommen / damit das Haupt über die masse beschweret / und der Mensch denn fein sänfftiglich in den Schlaff (ach dass es nur nicht den ewigen Todes=Schlaff bedeuten möchte!) geprediget wird; Oder so es Nachmittags=Predigten sind / haben sich auch wohl [51] einige mit der Speise so dicke angefüllet / dass / absonderlich im
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Sommer nur eine kleine Wärme darzu kommen darf / so können sie sich des Schlaffs nicht erwehren; Es gedencke aber ja ein ieder / wenn ihm Gottes Wort so geringe ist / dass er dabey so sicher schlaffen kann / oder gar zum Schlaff durch unzeitige Arbeit / starckes Getränck / oder Überfüllung mit Speise / muthwillige Gelegenheit giebet / dass ihme nicht Gott / sondern der Teuffel selbst die Augen zudrucket: Denn so darff er das Wort nicht erst aus dem Hertzen reissen / sondern nimmt es bald vor den Ohren und äusserlichen Sinnen hinweg / und gehet einem solchen Menschen eben / als wenn einem Schlaf- [52] fenden eine sehr frölige Botschafft gebracht würde. Denn also verschlaffen auch solche Menschen / wenn Gottes Wort gepredigt wird / Seel und Seeligkeit. Durch das Plaudern pfleget der Teuffel noch mehr zu gewinnen. Denn da wird erstlich der / der das Geschwätz anhebet / zum andern der / mit welchem er plaudert / und zum dritten / die bey solchen Plauderern sitzen oder stehen / von dem Gehör des Worts abgehalten / ich geschweige / dass zum vierdten so viele / die solches sehen / dadurch schändlich geärgert werden. Zwar ist es kein Wunder / weil ja die Menschen ihr Leben gemeiniglich führen / als sey kein GOTT / der alles sehe und höre / was wir [53] reden und thun / dass denn endlich solche Frechheit in der Kirche sich nicht bergen kan / da es doch heissen sollte: Höret ihr Himmel / und Erde nimm zu Ohren / denn der HErr redet .14
Literatur : Veronika Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees (1692–1704). Tübingen 2004.
3.4 August Hermann Francke: Anweisungen für das Beten mit Leib und Seele (1695) Schrifftmässige Anweisung, recht und Gott wohlgefällig Zu beten Nebst hinzugefügten Morgen= u. Abend=Gebetlein und einem Kielischen RESPONSO Die Gewissheit und Versicherung der Erhörung des Gebets betreffend. Halle/Saale: Johann Jakob Schütze 1695, 255–269. 14
Jes 1,2.
3.4 Francke: Anweisungen für das Beten
Während der vorangehende Auszug aus dem Gedenkbüchlein mahnenden und warnenden Charakter hat, will die folgende Passage aus August Hermann Franckes Schrifftmässiger Anweisung , d. h. einer Anweisung nach biblischen Maßgaben, lehren, wie der wahre Christ zu beten hat. Als entscheidend werden Fleiß und Übung für denjenigen Fall herausgestellt, dass das Gebet nicht wie von selbst aus dem Herzen strömt. Besondere Aufmerksamkeit widmet Francke dabei Fragen der Frömmigkeitsexpression. Damit beruhigt Francke diejenigen, die beim Beten nicht weinen oder sonstige Ergriffenheit verspüren und diese auch zeigen können, dergestalt, dass es nicht entscheidend auf die Darstellung der Frömmigkeit ankomme. So werden zugleich spätere Vorwürfe gegen die übertriebene Expression und die Heuchelei zurückgewiesen.
Hingegen irren sich auch [256] wol solche anfangende rechtschaffene Beter darinnen / daß sie meynen / sie haben keine rechtschaffene Andacht in dem Gebet / wenn sie nicht eine sonderbahre Süßigkeit und Geschmack im Gebete finden / Thränen vergiessen / oder auff eine andere empfindliche Art mit GOtt umbgehen können. Nun ist zwar auch dieses an und vor sich selbst [257] nicht zu verachten / wenn GOtt unserer Schwachheit also zu Hülffe kommet / und wird dadurch ein blödes Hertz15 manchmal auffgerichtet / daß es eine gute Zuversicht zu GOTT gewinnet / und sein Christenthum hinfort desto freudiger führet: Aber es ist nicht die Sache selbst / darinnen die wahre Andacht bestehet. Denn Christus spricht: [258] Die wahrhafftigen Anbeter sollen den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten;16 welches viel etwas größers ist / als was in den Sinnen empfunden wird. Das ist aber die rechte und wahre Andacht im Gebet: wenn der H[eilige] Geist den Willen des Menschen zu dem himmlischen Vater [259] neiget / daß er sein Gebet mit einem wahrhafftigen Ernst verrichtet / und es ihm umb nichts anders zu thun ist / als daß er vor seinem GOtt erscheine / als ein Kind vor seinem Vater / in der gläubigen Zuversicht / GOTT werde ihm sein Gebet wohlgefallen lassen / und es gewißlich erhören. Wenn es auch der Mensch nicht also vollenkommendlich [260] bey sich selbst befinde / und hätte doch ein hertzlich und sehnlich Verlangen / daß er mit einem solchen rechtschaffenen / gläubigen und zuversichtlichen Hertzen vor GOtt kommen möchte: so hätte es keines weeges daran zu zweiffeln / daß sein Gebet GOtt dem HErrn angenehm sey; sondern GOtt würde ihm auch seine 15
Blöde wird hier – im historischen Wortgebrauch – als schwach, anfechtbar, verführbar oder verzagt verstanden. 16 Joh 4,24.
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Andacht unter dem Ge- [261] bet stärcken / und ob ers gleich unter vielem Kampf verrichten müßte / so würde doch GOtt mit seiner Schwachheit Gedult tragen. Ja es findet sich zu weilen / daß einer betet / und mißfället ihm selbst gar sehr in seinem Gebet / darumb daß er keine rechte Lust und Liebe zum Gebet / noch rechte Freude an GOtt bey sich befindet / daß keine Brünstigkeit17 da [262] ist / das Hertz nicht will beweget und entzündet werden / die Worte nicht fliessen wollen / und er elender darvon gehen muß / als da er zu beten angefangen. Nun hat sich zwar der Mensch bey solchem Zustande wohl zu prüffen / ob er nicht zu solcher Zerstreuung seiner Sinnen / und zu solcher Unempfindligkeit und laulichten Wesen selbst Ursache [263] gegeben durch muthwillige Versäumung und Auffschiebung des Gebets / durch allzu grosse Überhäuffung der äusserlichen Geschäffte / durch unnützes Geschwätz / dadurch der H[eilige] Geist betrübet wird / durch weltliche Gesellschaft / durch Sorgen der Nahrung / und durch andere Dinge / welche den Menschen zum Gebet untüch- [264] tig machen. Befünde er solches in der genauen Prüffung sein selbst: so hat er die Zeit nicht zu versäumen / sondern mit Demuth solchen Fehl zu erkennen / und desto mehr in Ringen und Kämpffen18 vor den HErrn anzuhalten / biß der die Übung des Gebets wieder in den rechten Lauff bringe / und so dann desto mehr Fleiß zu thun / daß er sich für solchen [265] Verhinderungen des Gebets hinfort hüte / und in einem stetigen andächtigen Gebet verharre. Befünde sich aber nach ernstlicher Untersuchung nichts von dergleichen ihm selbst gemachten Hindernissen / und der Mensch könnte dennoch nicht zu einem solchen hertzlichen Gespräch mit GOtt kommen / als er es wünschete und verlangete / sondern [266] hätte bald damit zu streiten / daß er nicht eine rechte Lust und Verlangen zu beten hätte: bald / daß er durch so viele ihm einfallende Gedancken angefochten würde; bald / daß er keine rechte Zuversicht auff die gnädige Erhörung GOttes setzen könnte; bald / daß er nicht wisse / wie der seine Noth GOtt vortragen solle: so ist gewiß der Mensch in solchen [267] Zustande / da er ihm selbst am übelsten gefället / GOtt dem HErrn angenehm / und GOtt erkennet ihn für einen andächtigen Beter / ob er sich gleich selbst nicht dafür hält. Denn GOtt siehet an den Elenden / und der zerbrochenes Geistes ist / Esai. LXVI, vers[us] 2. Die Brünstigkeit im [268] Gebet / die Freu17 18
Starke sinnliche Erregung. Vgl. Jakobs Ringen mit Gott (Gen 32,23–32).
3.5 Freylinghausen/Richter: Im Geist singen
digkeit so man in GOtt empfindet / die innigliche Bewegung des Hertzens / die Thränen / welche für Liebe / oder für Leyd über die Erkänntniß des eigenen Elendes vergossen werden / und was dergleichen mehr ist / sind allerdinges Gnaden Gaben Gottes: dafür der Mensch demüthiglich GOtt den HErrn zu prei- [269] sen hat / so ihm solche geschencket werden.
Literatur : Christian Soboth: Tränen des Auges, Tränen des Herzens. Anatomien des Weinens in Pietismus, Aufklärung und Empfindsamkeit. In: Anatomie. Sektionen einer medizinischen Wissenschaft im 18. Jahrhundert. Hg. v. Jürgen Helm u. Karin Stukenbrock. Wiesbaden 2003, 293– 315. – Johannes Wallmann: Frömmigkeit und Gebet. In: GdP 4, 83–101.
3.5 Johann Anastasius Freylinghausen / Christian Friedrich Richter: Im Geist und in der Wahrheit singen (1704) Bekannt wurde Johann Anastasius Freylinghausen, Schwiegersohn August Hermann Franckes (1663–1727) und gemeinsam mit dessen Sohn Gotthilf August (1696–1769) Direktor der Glauchaschen Anstalten (→ 13.6), als Kompilator und Herausgeber des an Auflagen und Ausgaben starken Geistreichen Gesangbuchs (1704 ff.), das bis weit in das 19. Jahrhundert hinein rezipiert und früh bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Das Gesangbuch , vor allem die Melodien, zogen wegen ihrer vermeintlichen Üppigkeit und ihres tänzerischen Charakters den Unmut der Wittenberger orthodoxen Theologen auf sich. Nicht zuletzt der ,Freylinghausen‘, der sich traditionsgeschichtlich aus verschiedensten Quellen orthodoxen und heterodoxen Liedgutes speist, hat dazu beigetragen, dass der Pietismus auch als eine Singebewegung in die Geschichte einging. Neben seiner Arbeit in der Apotheke des Waisenhauses und in der Medikamentenexpedition dichtete Christian Friedrich Richter Lieder für Kirche und Hausandacht, teils mit alchemisch-erotisch unterlegter Jesusmystik, teils mit millenaristischen Beitönen, deren bekanntestes hier zum Abdruck kommt. Darin werden u. a. unter Betonung des inneren Reichtums der wahren Christen und Kinder Gottes sowohl die Differenz zu ihrem schlichten Erscheinungsbild („schlechteste“ Leute) als auch zu den Kindern der Welt herausgestellt.
a. Geist=reiches Gesang=Buch / Den Kern Alter und Neuer Lieder / Wie auch die Noten der unbekannten Melodeyen / Und darzu gehörige nützliche Register in sich haltend; In gegenwärtiger bequemer Ord-
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nung und Form / sammt einer Vorrede / Zur Erweckung heiliger Andacht und Erbauung in Glauben und gottseligem Wesen / herausgegeben […]. Halle/Saale: Waisenhaus 1704, )()(v-)()(2r u. 808 f. (Nr. 515). Vorrede. Im übrigen schicket sich nicht ein jeglicher Gesang auf einen jeglichen Sänger / ohne Unterscheid. Der unbußfertige und fleischliche Mensch mag gar nicht also singen / daß es GOtt gefalle / so lange er von der Ungerechtigkeit nicht begehret abzutreten / sondern die Finsterniß mehr liebet als das Licht. Wobey mancher auff die Gedancken kommen möchte / daß bey solcher Bewandtniß es rathsamer seyn möchte / weil doch dergleichen Leute leider! den größten Hauffen ausmachen / den Gebrauch Christlicher Gesänge / bevorab in öffentlichen Versammlungen / gantz und gar abzuschaffen / und es bey der blossen Predigt des göttlichen Worts bewenden zu lassen. Allein ob wol an sich selbst wahr bleibet / was von den [!] Singen eines fleischlichen und unbußfertigen Menschen gesaget worden / so ist doch nicht zu leugnen / daß GOtt der HErr / nach seiner mannichfaltigen Weißheit und liebreichen Condescendenz19 auch bey solchen Leuten sich offters der Christlichen Lieder und Gesänge als ein Mittel gebrauche / ihre Hertzen zu rühren / zu überzeugen / und sie auf einen bessern Weg zu bringen; [)()(2r] wie denn kein Zweiffel ist / daß mancher böser Mensch / indem er auch nur aus Gewonheit / ohn die geringste Absicht auff seine Besserung / ein kräfftiges und geistreiches Lied entweder öffentlich oder daheim mitsinget / einen solchen Stachel in seinem Gewissen empfindet / der ihn [!] / wo nicht zu seiner Bekehrung / doch gewiß zu einem Zeugniß dienen muß auff jenen Tag. Umb weßwillen denn dieselbe schlechterdings abzuschaffen nicht gerathen werden mag. Treue Knechte GOttes thun indessen wohl / wenn sie dergleichen Menschen auff diejenige Warheit / welche sie mit vollem Halse auszuschreyen pflegen / sorgfältig weisen / für den [!] unvernünfftigen Gottesdienst warnen / und wie sie im Geist und in der Warheit20 singen sollen / sie treulich anweisen. Wer GOtt in der Warheit suchet / er mag nun erst anfangen / oder allbereit einen recht-
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Herabsteigen, Herablassen (im Gegensatz zur Aszendenz [Auffahrt in die Himmlische Welt]), das Herabsteigen Christi aus dem Himmelreich in Gestalt eines Menschen, seine Liebe und Barmherzigkeit. 20 Vgl. Joh 4,24.
3.5 Freylinghausen/Richter: Im Geist singen
schafffenen Grund darzu geleget haben / kan wie erhörlich und GOtt= gefällig beten / also auch singen / und ein solcher wird überflüßig in diesem Buche antreffen / womit er seine Seele nach aller Lust seines Hertzens stärcken / nähren und erquicken kan. b. Christian Friedrich Richter: Es gläntzet der Christen inwendiges Leben (Nr. 515). 1. ES gläntzet der Christen inwendiges Leben / ob gleich sie von aussen die sonne verbrannt / was ihnen der König des himmels gegeben / ist keinem als ihnen nur selber bekannt. Was niemand verspüret / was niemand berühret / hat ihre erleuchtete sinnen gezieret / und sie zu der göttlichen würde geführet.
2. Sie scheinen von aussen die schlechtesten leute21 / ein schau=spiel der Engel / ein eckel der welt / und innerlich sind sie die lieblichsten Bräute / der Zierrath / die Krone / die JESU gefällt; das Wunder der zeiten / die hier sich bereiten / den König / der unter den lilien weidet / zu küssen / in güldenen stücken gekleidet. 3. Sonst sind sie des Adams natürliche kinder / und tragen das bilde des irrdischen auch / sie leiden am fleische wie andere sünder / sie essen und trincken nach nöthigem brauch. In leiblichen sachen / in schlaffen und wachen / sieht man sie vor andern nichts sonderlichs machen / nur / daß sie die thorheit der welt=lust verlachen. 4. Doch innerlich sind sie aus Göttlichem stamme / die GOtt durch sein mächtig Wort selber gezeugt:
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Schlichteste, einfachste Menschen.
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ein funcke und flämmlein aus Göttlicher flamme / die oben Jerusalem freundlich gesäugt. Die Engel sind brüder / die ihre lob=lieder mit ihnen gar freundlich und lieblich absingen / das muß denn gantz herrlich / gantz prächtig erklingen! 5. Sie wandeln auff erden / und leben im himmel / sie bleiben ohnmächtig / und schützen die welt: sie schmecken den frieden bey allem getümmel / sie kriegen / die ärmsten / was ihnen gefällt. Sie stehen im leiden / sie bleiben in freuden / sie scheinen ertödtet den äusseren sin- [809] nen / und führen das leben des glaubens von innen. 6. Wenn Christus / ihr Leben / wird offenbar werden / wenn Er sich einst / wie Er ist / öffentlich stellt / so werden sie mit Ihm als Götter der erden / auch herrlich erscheinen zum wunder der welt. Sie werden regieren / und ewig floriren / den himmel als prächtige lichter auszieren / da wird man die freude gar offenbar spüren. 7. Frolocke du erde / und jauchzet ihr hügel / dieweil du den göttlichen saamen geneußt! denn das ist Jehova sein göttliches siegel / zum zeugniß / daß Er dir noch seegen verheißt. Du solt noch mit ihnen auffs prächtigste grünen / wenn erst ihr verborgenes leben erscheinet / wornach sich dein seufftzen mit ihnen vereinet. 8. O JEsu / verborgenes Leben der seelen / du heimliche zierde der inneren welt / gib / daß wir die heimlichen wege erwählen / wenn gleich uns die larve des creutzes22 verstellt. 22
Kreuz als Leiden und Entbehrung, das wie eine Maske (Larve) das dahinter verborgene Glück verdeckt.
3.6 von Bogatzky: Frommes Spiel
Hier übel genennet und wenig erkennet / hier heimlich mit Christo im Vater gelebet / dort öffentlich mit Ihm im Himmel geschwebet.
Edition : Johann Anastasius Freylinghausen: Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar. Im Auftrag der Franckeschen Stiftungen hg. v. Dianne Marie McMullen u. Wolfgang Miersemann. Bd. 1, 3 Teile. Nach der Ausgabe Halle/Saale 41708. Tübingen 2004, 2006 u. 2013, Bd. 2, 2 Teile. Nach der Ausgabe Halle/Saale 1714. Tübingen 2009–2010. – Literatur : Geistreicher Gesang. Halle und das pietistische Lied. Hg. v. Gudrun Busch u. Wolfgang Miersemann. Tübingen 1997. – Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Halle/Saale 2014. – „Singet dem Herrn nah und fern.“ 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Hg. v. Gudrun Busch u. Wolfgang Miersemann. Tübingen 2008. – Eckhard Altmann: Christian Friedrich Richter (1676–1711). Arzt, Apotheker und Liederdichter des Halleschen Pietismus. Witten 1972. – Steffen Arndal: Medizinische Anthropologie und mystische Frömmigkeit. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer. Bd. 2. Wiesbaden 1995, 883– 892.
3.6 Karl Heinrich von Bogatzky: Frommes Spiel – Der Verkaufsschlager des Verlags des Halleschen Waisenhauses (1734) Güldnes Schatz=Kästlein der Kinder GOttes, deren Schatz im Himmel ist: Bestehend in auserlesenen Sprüchen der H. Schrift samt beygefügten Versen. Zum 12ten mal gedruckt, nebst einem Vorbericht, von dem rechten Gebrauch dieses güldnen Schatz=Kästleins. Halle/Saale: Waisenhaus [1718] 1734, 3–8. Die erfolgreichste unter den zahlreichen von Karl Heinrich von Bogatzky verfassten Erbauungsschriften war das Güldene Schatz=kästlein (Erstausgabe 1718). Mit seinen erbaulichen Losungen wurde es zum beliebten Hilfsmittel für die tägliche Frömmigkeitspraxis und erreichte mehr als 60 Auflagen. Später legte Bogatzky noch einen Zusatzband mit Betrachtungen und Erläuterungen vor. Der Auszug aus dem „Vorbericht“ stellt eine Gebrauchsanweisung dar, um
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die angestrebte Erbauung zu erreichen. Bogatzkys Schatz=Kästlein macht ersichtlich, dass der Versuch, Gottes Willen zu erkunden, nicht nur in der Herrnhuter Lospraxis (→ 3.11) einen Ausdruck und ein Medium gefunden hatte.
Von dem rechten Gebrauch dieses güldnen Schatz=Kästleins. Zuvörderst ist zu erwägen, daß man, wie jeder Verständiger selber erachten wird, keinesweges der Welt etwas zu einem Spielwerck, oder zur blossen Curiosite23 vorlegen wolle; sondern ihr da sie sich ohnedem in keine weitläuftige geistliche Betrachtung einlässet, auf eine geschickte und bequeme Weise, manche göttliche Wahrheiten beyzubringen, und sie also vielmehr von ihrem eitlen, spielenden und kindischen Wesen, so viel als hierdurch geschehen kan, abzuführen suche. Solte es demnach auch denen, so noch die Welt lieb haben, gefällig seyn, sich dieser [4] Arbeit zu bedienen, so werden sie freylich hierbey viel besser thun, als wenn sie ihre Zeit mit Spielen und Tantzen, mit Schertz und Narrentheidung, mit liebloser Beurtheilung anderer Menschen, oder mit andern unnützen und eitlen Worten und Wercken vertreiben und verderben; weil ja ihnen die ohne dem kurtze und kostbare Zeit nicht zu dergleichen Eitelkeiten, sondern zur Zubereitung auf die Ewigkeit, und zwar auf schwere Verantwortung gegeben ist. Sie werden aber doch zugleich wohlmeynend erinnert, daß sie hieraus keinen blossen Zeitvertreib machen; sondern das, was sie bekommen, zu ihrer wahren Bekehrung und Besserung anwenden. Finden sie einige nachdrückliche und scharfe Vorstellung, dadurch sie recht getroffen und abgemahlet werden, so dencken sie ja nicht, daß es von ohngefähr geschehen; sondern glauben vielmehr, daß auch hierdurch der HERR an ihren Hertzen anklopfe und sie zur Busse rufe: Dahero sie denn sobald Gehör geben, und sich auch durch dieses Seil der Liebe, von der Welt zu GOTT ziehen lassen mögen, wofern sie nicht allererst durch Zaum und Gebiß wollen gezogen werden. Finden sie aber [5] allerley Trost= und Glaubens=Sprüche so werden sie am sichersten gehen, wenn sie dieselben nicht so gleich zu einem falschen Trost auf sich appliciren24, sondern sich vielmehr dadurch allererst zur Busse locken lassen, und GOTT anrufen, daß er ihnen ihre Sünden, sonderlich ihr tiefes inneres Verderben der Erbsünde, recht aufdecken, ein zerbrochenes, geängstes [!] und bußfertiges 23 24
Neugierde, Merkwürdigkeit. Anwenden.
3.6 von Bogatzky: Frommes Spiel
Hertze geben, und einen lebendigen Glauben, der durch die Liebe thätig ist, und die Welt überwindet, in ihnen selber wircken wolle: Denn alsdenn, wenn sie recht bußfertig und gläubig sind, werden sie allererst die Kraft und Süßigkeit des Evangelii empfinden, und durch dergleichen herrliche Trost=Sprüche sich trösten und stärcken können, weil alle Gnaden=Verheissungen des Evangelii nur den Gebeugten und Bußfertigen, keines weges aber den Frechen, Eitlen und Unbußfertigen gegeben sind. Was die Kinder GOttes betrifft, zu deren Gebrauch dieses Werckchen sonderlich verfertiget ist; so werden dieselbigen, da sie in der Einfalt und Demuth stehen, aus ihrer und anderer Erfahrung wissen, daß der liebreiche Vater, vermöge seiner Freundlichkeit und Leutseligkeit, sich nach [6] unserer Schwachheit accommodiret und dahero auch auf diese Weise oftmals ins besondere, ein solches Wort der Stärckung und Ermahnung, das sich recht eigentlich für unsere Umstände schicket, an unser Hertz leget, und unserer Schwachheit aufhilft. Dahero werden denn solche sich um so viel weniger an anderer Mißbrauch oder Vorurtheile kehren; sondern alles zu ihrer wahrhaftigen Erbauung gebrauchen; Sie werden auch sonst bey allerley vorfallenden Umständen, bey ihrem Aus= und Eingehen, Aufstehen und Niederlegen etc. sonderlich aber, wenn sie oft nicht wissen, wie oder was sie beten sollen, Anlaß finden sich zu erwecken, und das was in dem Spruch enthalten, ins Gebet zu führen, auch dabey oft Gelegenheit nehmen, mit andern was erbauliches zu reden, und also vielen unnützen Worten und Wercken25 vorzubeugen. Treffen sie einige scharffe Sprüche des Gesetzes an, so werden sie selbige zu ihrer Prüfung und Bestrafung, sonderlich aber dazu dienen lassen, daß wenn sie in denseligen als einem Spiegel, ihre Flecken und Gebrechen sehen, sie nur desto mehr die Evangelischen Gnaden= Verheissungen sich zu Nutze [7] machen, und sich dadurch locken lassen, zu dem Lämmlein GOttes und zu seiner am Creutz eröffneten Seite,26 als dem Brunn wider die Sünde und alle Unreinigkeit, zu eilen27 und in seinem Blute ihre Kleider täglich zu waschen und helle zu machen,28 als welches ja auch da wir hier noch immer die Sünde fühlen, unsere tägliche u. stündliche allerseligste Arbeit seyn soll, worbey der 25 26 27 28
Kol 3,17. Joh 19,34. Sach 13,1. Apk 7,14.
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Friede GOttes, wie auch der kindliche willige Geist in uns bewahret, und also die wahre Heiligung, die aus dem Glauben fliesset, am meisten befördert wird. Damit sie aber um so viel mehr Erbauung hieraus nehmen mögen, so werden sie wohl thun, wenn sie zuweilen die Sprüche in der Bibel selbst nachschlagen, und in ihrem Zusammenhang betrachten, wie auch die hin und wieder angeführten loca parallela29 nachsehen, und erwegen; bey denen dabey verfestigten Versen aber Anlaß und Gelegenheit nehmen denen Sprüchen desto besser nachzudencken, und die gehörige Application auf sich selbst zu machen. Zu gleichem Zweck der Erbauung wird ebenfalls gar dienlich seyn, wenn sie auch die Verse aus denen Liedern, welche in dem I und II Theile des vom Herrn Pastore Freylinghausen [8] edirten Gesang=Buchs zu finden, und zu dem Ende hieher gesetzet, und mit Numern bezeichnet sind, bey Gelegenheit nachschlagen, und diese geistreiche und liebliche Lieder selber sich wohl bekant machen werden. Zum Beschluß ist hierbey noch zu erinnern, was auch schon in den vorigen Editionen gedacht worden, daß man nemlich dieses güldne Schatz=Kästlein so wol nach Art der bekanten Spruch=Kästlein mit zerschnittenen=Blättern gebrauchen, oder auch als ein Büchlein einbinden lassen kan; in welchem letztern Fall manche auf die leere Seite Christl. Freunde zu erbaulichem Andencken etwas einschreiben lassen, und solches also statt eines Stamm=Buchs zu gebrauchen pflegen.30
Literatur : Shirley Brückner: Kulturen der Berechenbarkeit. Religiosität und Lebensführung im Pietismus. Diss. phil. Halle/Saale 2010. – Dies.: Die Providenz im Zettelkasten. Divinatorische Lospraktiken in der pietistischen Frömmigkeit. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 351–366. – Jörg-Ulrich Fechner: Carl Heinrich von Bogatzky (1690–1774). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Bd. 1. Tübingen 2005, 171–185.
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Parallelstellen. Gemeint ist die seit der Reformation vor allem in studentischen Kreisen gepflegte Textsorte des album amicorum , als welches auch Bogatzkys Schatz=Kästlein Verwendung gefunden hat.
3.7 Herrnhuter Gesangbuch
3.7 Herrnhuter Gesangbuch / Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Singen und Vergemeinschaftung (1737/1741) Das Herrnhuter Gesangbuch gehört zu den zentralen und wegen seines ab 1741 beigegebenen XII. Anhangs auch zu den umstrittensten Publikationen im Pietismus. Das nach Rubriken geordnete Gesangbuch verzichtet auf Verfasserangaben, es will eine Dokumentation der unmittelbaren Eingebungen einer begeistert singenden und dichtenden Gemeinschaft sein. Von diesem Selbstbild führen Wege zur Genieästhetik und Geniedichtung des 18. Jahrhunderts, wie sie – auch durchaus mit kritischen Untertönen – u.a. vom jungen Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) und von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751– 1792) formuliert worden sind. Freilich zeigen die im Unitätsarchiv Herrnhut überlieferten Entwürfe zu den Herrnhuter Liedern, insbesondere für die Lieder Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs, akribische Bearbeitungen. Geboten werden hier ein an Thomas à Kempis’ (um 1380–1471) Imitatio Christi orientiertes Lied und eines aus dem XII. Anhang, der von den Zeitgenossen teils mit Spott, teils mit Abscheu zur Kenntnis genommen worden ist. Hier ist die verehrende, liebende ,Andichtung‘ des blutigen Christus, insbesondere seiner fünf Wunden, zentral gestellt. Die mitunter in inspiriertes Stammeln und Lallen verfallenden Texte steigern sich zu erotisch-rasenden Imaginationen der in immer neuen Bilderanläufen beschworenen Wunden Christi. Die beiden hier gebotenen Lieder stammen von Zinzendorf.
a. Das Gesang-Buch der Gemeine in Herrn-Huth. Herrnhut: Waisenhaus 1737, 454 f. 506. MEin Heiland! Gib mich mir zukennen, ich bin ja lange nicht so viel, als andere mich et- [455] wa nennen, ich bin ein blosses zeiten=spiel, kaum heb ich armer an zu leben; so muß ichs wieder von mir geben: ich bin ein pures lauters nichts, der Kopf begreift ein hauffen dinges, das herze bleibet was geringes, und ist beraubet deines lichts. 2. Was hilfts, den kopf mit bildern füllen, die augen mit vergänglichkeit,
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viel besser ist das herze stillen, in heiliger gelassenheit; viel besser wissen und gedenken an seines JEsu creuze henken, und sein geringes stäublein seyn. Ach JEsu! mache mich so kleine, und durch dein heilig blut so reine, so geh ich in dein alles ein. b. Christliches Gesang-Buch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735. Zum drittenmal aufgelegt und durchaus revidirt. [Löbau] 1741, 1788. 1864. In voriger Melodie. AUsgeblutets theil der leichen! funkle mir ins angesicht; du, du bist der Gottheit zeichen, das der sünder harte bricht. 2. O du auserwehltes höhlgen! wie verwünsch ich mich hinein, daß mein kleines armes seelgen ewig möge in dir seyn, 3. Wie ein täubgen drinnen sitzen, auf Anachoretenart31, bis sich einst der strahl der ritzen32 und mich mit ihm offenbart. 4. Lamm, ach Lämmlein! ich vergehe über solchen wunder=blik, nims nicht übel, denn ich stehe ganz verstummt bey solchem glük.
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Als Anachoret wird jemand bezeichnet, der sich von einer Gemeinschaft zurückzieht (wörtl.: zurückweichen), z. B. Mönche oder Einsiedler. Zum Teil ließen sich Anachoreten in Höhlen oder Zellen einmauern, um nur durch einen kleinen Spalt noch Nahrung zu empfangen und allem Kontakt fern zu sein. 32 Der Glanz der Wunden Christi.
3.8 von Posadowsky: Wertschätzung und Verachtung
5. Herz und auge will mir rinnen über ieden dornenschrik. Schließt euch zu, ihr blöden sinnen! ich vergeß mich bey dem blik. 6. Wollt ihr ja noch resoniren, so gelobts der Pleura33 an, über nichts zu meditiren als wie weit sie aufgethan. 7. Reine Geister! euch gelüst’t es in den ritz hineinzuschaun: aber diese hohl, (ihr wißt es) ist fürs sünder=herz gehau’n. 8. Diese Lammes=creatürlein, die betrübte sünderlein, haben macht als wundenthierlein, in dem loch daheim zu seyn.
Literatur : Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus. Tübingen 2000. – Aaron Spencer Fogleman: Jesus is female. Moravians and the challenge of radical religion in early America. Philadelphia, Pa. 2007. – Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, 19– 57. – Peter Vogt: „Gloria Pleurae!“ Die Seitenwunde Jesu in der Theologie des Grafen von Zinzendorf. In: PuN 32, 2006, 175–212.
3.8 Augusta Elisabeth von Posadowsky: Wertschätzung und Verachtung der Welt (1751) Geistliche Gedichte der weiland Hochwohlgebohrnen Fräulein Augusta Elisabeth von Posadowsky, gebohrner Freyin von Postelwitz, nebst ihrer Gnaden Führung und einer Vorrede herausgegeben von Johann Adam Steinmetz. Magdeburg, Leipzig: C. Seidel u. G. E. Scheidhauer 1751, 142 f. 33
Brustfell, welches die Brusthöhle von innen abschirmt, hier die Seitenwunde Christi.
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Die Gedichte der Augusta Elisabeth von Posadowsky, die von Johann Adam Steinmetz (1689–1762; → 3.9) geistlich beraten und begleitet wurde, können noch als typisch „barock“ in der Hinsicht gelten, dass Weltwahrnehmung und -wertschätzung, etwa der Natur, mit krasser Weltverneinung, ja Weltverachtung oft parallel geführt werden. Ziel des hier abgedruckten Gedichts ist die für nach dem Tod erhoffte liebende Vereinigung mit Christus. Dieses zentrale Motiv und Bild in geistlicher Lyrik und Meditation in Mittelalter und Früher Neuzeit gehört auch zum Kernbestand von Dichtung, die entweder aus pietistischen Federn stammt oder doch zumindest in pietistisch gestimmten Kreisen gelesen wurde.
Als es unter unserm Fenster Jahr=Markt war. B. Weißh[eit]. 15, v. 12. Sie halten das menschliche Leben für einen Scherz und menschlichen Wandel für einen Jahr=Markt. Mein Heiland! laß mich nicht mein Leben so verschwenden, Als wie die heutge Welt es suchet anzuwenden; [143] Denn diese opfert sich und also auch die Zeit Nur einig und allein zum Dienst der Eitelkeit. Da trachtet jederman, wie er auf dieser Erden Doch möge reich und hoch vor allen andern werden: Allein das wahre Gut und was uns seelig macht, Wird von den wenigsten kaum denckens werth geacht. O mein Immanuel!34 laß mich mit diesem Haufen Doch ja nicht so verblendt in mein Verderben laufen Und wenn der größte Theil das Leben in der Welt Für einen lautern Scherz und eitlen Jahr=Markt hält; So laß dagegen mich mit Furcht und Zittern35 wandeln Und immer eingekehrt mit dir alleine handeln. Ja stimmte auch mein Herz in ihre Meynung ein, So muß es einig nur auf diese Weise seyn: Daß ich die ganze Welt verkaufe und verlasse Und dich, Immanuel! in heisser Liebe fasse; Damit ich der mahleinst nach wohl vollbrachter Zeit, Mich dessen freuen kan in alle Ewigkeit. 34
In Jes 7,14 kündigt der Prophet die Geburt eines göttlichen Kindes an, das „Immanuel“ („Gott mit uns“) heißen soll; Mt 1,22 f. bezieht diese Prophezeihung auf die Geburt Jesu. 35 Vgl. Phil 2,12.
3.9 Steinmetz: Ein Lob frommen Dichtens
Literatur : Cornelia Niekus Moore: Das Wachen der klugen Jungfrau. Die Dichtung der Augusta Elisabeth von Posadowsky (1715–1739) als Meditationsergebnis. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hg. v. Udo Sträter [u.a.]. Bd. 2. Tübingen 2009, 727– 738.
3.9 Johann Adam Steinmetz: Ein Lob frommen Dichtens (1751) Die selige Gnaden=Führung und Vollendung, Der weiland Hochwohlgebohrnen Fräulein, Augusta Elisabeth von Posadowsky, gebohrner Freyin von Postelwitz Aus zuverläßigen Nachrichten, zur Erbauung anderer Seelen entworffen, nebst einigen ihrer Briefe ausgefertiget. Als die Sterbenden, und siehe, wir leben! Magdeburg: C. Seidel u. G. E. Scheidhauer 1751, 6–9, 109–112. In seiner Vorrede zu den von ihm herausgegebenen Gedichten der Augusta Elisabeth von Posadowsky (1715–1739; → 3.8) entwirft Johann Adam Steinmetz am historischen Beispiel des Fräuleins von Posadowsky das Ideal eines von Gott privilegierten und inspirierten, bibeltreuen Dichtens, das erbauen und bekehren will. Zur Illustrierung des Selbstverständnisses Posadowskys als Dichterin fügt Steinmetz seiner Vorrede einen Brief der Dichterin bei, der im Rekurs auf die Bibel, insbesondere auf das Hohe Lied, eine innige Jesusminne angesichts der menschlichen Verderbtheit aufruft. Dieses traditionsreiche Motiv intimer Zweisamkeit mit Christus gehört zum Kernbestand pietistischer Dichtung.
Das erste was einem jeden bey Durchsicht der Poesien unsrer theuresten Fräulein von Posadowsky , in die Augen fallen wird und was mir dieselben besonders schätzbar gemacht, ist dieses: Sie legt allenthalben das ohnfehlbare Wort GOttes zum Grunde ihrer Gedanken und ist recht sorgfältig beflissen gewesen, solche aus dieser allerreinsten Quelle zu schöpfen . Man wird unter ihren Gedichten gar wenige antreffen, welche sie nicht auf eine oder mehrere derselben vorgefügte Schriftstellen gebauet habe. Sie hatte im Lich- [7] te des heiligen Geistes die Tiefe des menschlichen Verderbens eingesehen und erkennen gelernet, wie leicht man zur Rechten und Linken ausschweiffen könne, wenn man, auch in guter
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Meinung, seinen eigenen Einfällen Raum giebt und sie nicht durch das Wort, das gewiß ist, in die genauesten Schranken setzet. Darum ergrif sie niemals ihre Feder, wenn sie sich nicht vorher, unter hertzlichem Gebet und Flehen, durch eine aufmerksame Betrachtung36 einer und der andern Stelle des göttlichen Bibelbuchs dafür verwahret hatte. Sie ließ es aber dabey noch nicht bewenden, sondern prüfte auch unter der Ausarbeitung ihrer Poesien, alle ihre beyfallende Gedanken nach diesem unbetrüglichen Probierstein, und ließ keine derselben aufs Papier fliessen, bis sie versichert war, daß sie damit übereinstimmeten. Man kan solches aus deren häuffigen Anführungen wahrnehmen, und es wäre zu wünschen, daß alle, die sich unterwinden, ein geistliches Gedicht zu entwerfen, disfals nicht ihr so wol, als dem unmittelbar erleuchteten Dichter der Psalmen, nachahmen möchten; der, ob er wol vom Geiste GOttes getrieben sei- [8] ne göttlichen Lieder geschrieben, doch die Zeugnisse des HErrn auch dabey seine Rathsleute , ja seine Rede und das Wort des Höchsten seines Fusses Leuchte, und ein Licht auf seinen Wegen seyn und bleiben ließ . Ps. 119, 24. 99. 105. 172. etc. Die Ursache dessen ist zum Theil schon angezeiget, zum Theil aber in den ausdrücklichen Worten des Geistes GOttes gegründet, die Coloss. 3, 16. aufgezeichnet stehen. Denn daselbst lesen wir, daß, da der Apostel die Gläubigen dazu anweisen sollen, sich selbst mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen lieblichen Liedern zu lehren und zu vermahnen , er zuvor aufs ernstlichste darauf dringen müssen, das Wort Christi unter oder in ihnen reichlich wohnen zu lassen mit aller Weisheit 37 und ihr Herz dergestalt damit anzufüllen, daß nichts anderes als dieses lautere Wasser des Lebens daraus hervorquellen könne. Wie manche ungegründete und aus den trüben Pfützen einer erregten Einbildungskraft entsprungene Vorstellung wür- [9] den, auch in sonst nach der natürlichen Kunst und ihres übrigen Inhalts wegen lobenswürdigen Abhandlungen, weggeblieben seyn, wenn ihre Urheber diesen allen Christen ertheilten Befehl des Höchsten beobachtet hätten! Wer demnach ein geistliches Gedicht gehörig beurtheilen will, muß zuvorderst und vor allen Dingen darauf merken: Ob diese erste und vornehmste Eigenschaft darin zu verspüren sey? Es leitet uns solche aber sogleich zu einer Zweiten, welche darin
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Im Sinne von Meditation als Frömmigkeitspraktik. Kol 3,16 ist eine zentrale biblische Referenz in Speners Pia Desideria .
3.9 Steinmetz: Ein Lob frommen Dichtens
bestehet: Daß nichts von falschen und der Aehnlichkeit des Glaubens 38 entgegen laufenden Lehren darein gemischet werde . […] Allein wer erweget, in was für einer genauen Verbindung alle göttliche Wahrheiten stehen und was für schädliche Würkungen ein einiger Irrthum nach sich ziehen könne; der wird gar bald überzeuget werden, daß die ersten Zeugen Christi nicht ohne wichtige Ursachen so gar ernstlich auf die durchgängige Beybehaltung der reinen Lehre gedrungen. Der vierte Brief. d. d.39 24. Junii 1736. P. P.40 Es ist doch nichts so herrlich in der ganzen Welt, wenn auch alle ihre Schätze zusammen gebracht würden, als die Gemeinschaft, die wir im Glauben mit GOtt haben und die auch unverrückt in uns bleibet, wenn wir sie gleich nicht immerdar empfinden. Der liebe Heiland hat mich dieses eine Zeit her recht lebendig erfahren lassen, daß, wenn ich auch äusserlich unter mancher Zerstreuung und sonst anklebenden Trägheit gewesen, ich dennoch, wenn in mein Herz gekehret, alsobald eine Versicherung von der Gegenwart GOttes empfunden, welches mich denn der Worte unsers Heilandes erinnert, da er sagt: Sehet, das Reich GOttes ist inwendig in euch.41 O! daß nun dieser seelige und vertrauliche Umgang mit GOTT durch keine Sünde mehr möchte unterbrochen werden und dieselbige nicht [110] oftmals ein Nebel würde, welcher uns hindert, die Klarheit des HErrn mit aufgedecktem Angesicht zu sehen. Aber auch die Sünde, die wir nicht können loß werden, muß uns zum Besten dienen; denn eben die Entdeckung und Gefühl derselben muß uns am allernähesten zu ihm treiben; […] [111] O! wenn doch der liebe Heiland uns nur zu rechten unbefleckten Jungfrauen machen wolte, die ihm, dem Lämmlein nachfolgten, wo es hingehet und uns so recht treu machte, aller Sünde gleich anfangs zu widerstehen, die unser Gewissen verunrei38
Anspielung auf die Lehre von der analogia fidei (vgl. Röm 12,6), wonach alle theologischen Aussagen mit den Hauptlehren (Glaubensartikeln) in Übereinstimmung zu bringen sind. 39 Datum die : Gegeben am Tag. 40 Praemissis praemittendis : „Nach Vorausschickung des Vorauszuschickenden“ als Teil der Grußformel in historischen Briefen, Widmungen u. ä. Man lässt die zum Teil umfangreichen Anreden (und Titel) also weg. 41 Lk 17,21.
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nigen könte! Denn wenn dasselbige einmahl gereiniget ist von den todten Werken, zu dienen dem lebendigen GOtt, so kan es keinen Flecken noch Runzel, noch des etwas an sich mehr leiden. Aber wenn wir nun nicht so einen freyen und offenen Born hätten wider alle unsere Sünde und Unreinigkeit,42 wo wolten wir doch unsere Kleider helle waschen, die wir so ofte besudeln?43 Nichts als das Blut des Lammes kan uns rein machen von allen Sünden.44 Nichts als das Wasser, was aus der offenen Seite floß, kan uns Schnee=weiß machen, wenn wir auch Blut=roth sind. Der liebe Heiland lehre mich nur in diese Freystatt recht einzudringen und als die Taube, die da nirgends fand wo ihr Fuß ruhen konte, nur immer in diese Felsen=Kluft einzukehren.45 Es ist doch nirgends besser als bey ihm dem treuen Hohenpriester, der die Versöhnung ist für unsere Sünde. Es ist nirgends sicherer, als bey ihm dem [112] mächtigen König, der uns wider alle Feinde beschützen kan. Es ist auch nirgends tröstlicher, als bey ihm dem grossen Propheten,46 in dem uns die allergrösten und theuresten Verheissungen geschenket sind, daß wir sollen theilhaftig werden der göttlichen Natur, so wir anders fliehen die vergängliche Lust. Nun er schenke uns denn Flügel, uns von allen zu entfernen, was er nicht selber ist und helfe, daß wir eilen mögen zu ihm einzudringen und das Kleinod zu ergreifen, welches uns vorbehalten ist im Himmel. Treu ist er, der uns dazu berufen hat, er wird es auch thun;47 denn die auf den HErrn harren, kriegen immer neue Kraft,48 das sind theure Worte, die das zerstossene Rohr meines Glaubens49 schon öfters unterstützet haben. Er verherrliche sich immer weiter in unsern Seelen, etc.
Literatur : Wilhelm Bernhardy: Johann Adam Steinmetz, weiland Abt des Klosters Bergen, Consistorialrath und General-Superintendent des Herzogthums Magdeburg, in seinem gottseligen Leben und segensreichen Wirken. Berlin 1840. – Gergely Csukás: Johann Adam Steinmetz (1689– 42 43 44 45 46
Sach 13,1. Apk 7,14. I Joh 1,7. Cant 2,14; vgl. Gen 8,9. Gemeint ist die von Calvin auf alttestamentlicher Grundlage profilierte, auch im Luthertum rezipierte Lehre von den drei Ämtern Christi (munus triplex ) als Hohepriester, König und Prophet. 47 I Thess 5,24. 48 Jes 40,31. 49 Jes 42,3; vgl. Mt 12,20.
3.10 Cranz: Organisation geistlichen und kirchlichen Lebens
1762). Biographie eines bedeutenden Predigers, Pädagogen und Publizisten im Umfeld des Pietismus. Mag. Theol. Arbeit. Univ. Wien 2013. – Peter Kawerau: Johann Adam Steinmetz als Vermittler zwischen dem deutschen und amerikanischen Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 70, 1959, 75–88.
3.10 [David Cranz:] Die Organisation geistlichen und kirchlichen Lebens in Herrnhut (1757) Kurze, zuverläßige Nachricht Von der, unter dem Namen der Böhmisch=Mährischen Brüder bekanten, Kirche UNITAS FRATRUM Herkommen, Lehr=Begrif, äussern und innern Kirchen=Verfassung und Gebräuchen, aus richtigen Urkunden und Erzehlungen von einem Ihrer Christlich Unpartheiischen Freunde heraus gegeben und mit sechzehn Vorstellungen in Kupfer erläutert. [0. O.] 1757, 35–37, 43f. Folgende Auszüge aus der Nachricht (→ 2.8) zeigen zentrale Elemente der Herrnhutischen Frömmigkeitspraxis in Gestalt von Anweisungen für Gottesdienste und außergottesdienstliche Liturgien.
§. XXVIII. Besondere Liturgie Bey dem öffentlichen GOttes=Dienst haben die Brüder=Gemeinen eine von den andern Kirchen=Verfassungen zwar besondere, aber von denselben und unter sich selbst nicht viel mehr unterschiedene Liturgie, als man nicht nur in der Catholischen Religion verschiedene Ritualien, sondern auch in jeder der Evangelischen Religionen viele differente Agenden hat.
und Ceremonien. Ihre Ceremonien und Gebräuche sind zum Theil einerley mit der alten Brüder=Kirche50 ihren; oder denselben doch in nichts entgegen; als wo es bey jener, aus Furcht, es möchte dem Catholischen GOttes=Dienst 50
Böhmische (oder Mährische) Brüder(-Kirche): religiöse Gemeinschaft des 15. und 16. Jahrhunderts, die sich in Lehre und Leben am Urchristentum orientierte und
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noch zu ähnlichen sehen, gar zu raffinirt und unliturgisch zugegangen seyn mag. Dasselbe haben die jetzigen Brüder geändert, nach einem Grundsatz ihrer Agende: Daß man zu ewigen Zeiten ändern und bessern soll, was einer Verbesserung bedarf. Das kan ein jeder Ordinarius 51 in seiner Gemeine vor eine Zeit; ins Ganze aber und vor die Dauer, nur der Synodus 52. Und obgleich nicht sonderlich auf eine Gleichförmigkeit aller Ceremonien gedrungen werden kan, indem jeglicher Gemein=Ort sich in die Umstände des Landes schickt: So richtet sich doch eine jede Gemeine von selbst gern, so viel möglich, nach der andern.
Tägliche Versammlungen Die zum öffentlichen GOttes=Dienst bestellte Lehrer halten denselben, wie in andern Evangelischen Kirchen, nur überaus simpel, in einer Kirche, Capelle, Bet=Hause, oder Saal, des Sonntags Vor= und Nachmittags, und an den übrigen Tagen, nach Unterscheid der Orte und der Gemein= Glieder Haus=Umständen, entweder nur einmal auf den Abend, oder etliche mal am Tage: Im Jünger=Hause aber gemeiniglich fünfmal, als: Früh Morgen=Segen; Mittags eine Rede; Winters in der Dunkeley, wenn man Licht anzündet, die tägliche Liturgie; Abends um 8. Uhr Sing=Stunde; und zuletzt zwischen 10. und 11. Uhr Abend=Segen. [36] §. XXIX. Morgen= und Abendsege n Der Morgen=Segen wird an den meisten Orten von jedem Haus=Vater mit seiner Familie besonders, und in jedem Chor=Hause gemeinschaftlich; der Abend=Segen aber von jedem Chor vor sich, und zu gewissen Zeiten von allen zugleich gehalten.
Liturgien. Die Tägliche Liturgie wird nur an gewissen Orten, und zwar im Sommer zu Mittag, im Herbst und Winter aber zu der Zeit gehalten, da sich Tag und Nacht scheidet. Im Jünger=Hause wird aus dem Common-Prayer 53 Kirchenzucht, Ablehnung des Kriegsdienstes sowie öffentlicher Ämter betonte. Bedeutendste Gestalt der Böhmischen Brüder war der Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670). 51 Ordinierter Amtsträger. 52 Die Synode bilden gewählte Mitglieder einer Kirchengemeinde, die selbige vertreten und über Fragen des Gemeindelebens entscheiden.
3.10 [Cranz:] Organisation geistlichen und kirchlichen Lebens
oder Liturgien=Büchlein, (bestehend aus verschiedenen Kirchen=Gebeten, Litaneyen, Hymnis und Collecten,) am Sonntag die Litaney des Lebens und Leidens Jesu54, und an den folgenden Tagen das Te Deum laudamus 55, das Te Jehova 56, und Te Abba 57, wechselweise gesungen. Mitwochs, welcher der sogenannte Jünger=Tag ist, da man die Post aus den Gemeinen, (so wie in allen Gemeinen an den monatlichen Gemein= Tagen) communicirt, wird die Liturgie zur Heil. DreiEinigkeit gesungen, oder in drei verschiedenen Versamlungen, zum Vater, zum Sohn und zum Heil. Geist ins besondere gebetet: Freytags ist Paßions=Vesper, gemeiniglich mit dem Hymno : O Haupt voll Blut und Wunden58 etc. und Sabbaths wird die Liturgie von der Kirche Gottes gesungen.
Fürbitte Das Kyrie Eleison, oder die Kirchen=Litaney,59 wird in jeder Gemeine alle Sonntag früh und an den Gemein=Tagen gebetet, und darin sowol für alle, als besonders für jedes Gemein=Orts hohe und niedere Obrigkeit namentlich, wie auch für alle Brüder=Gemeinen und die ganze Christenheit geflehet. Ausser dem wird die Fürbitte durch gewisse Personen, welche sich dazu besonders gedrungen finden / Tag und Nacht unaufhörlich fortgesetzt. Und das nennen sie die Kirchen= oder Gebets= Wache, und eines jeden seine bestimmte Zeit, die Bet=Stunde. [37] und Singstunde. Alle Abend ist eine Zusammenkunft der Gemeine, da ein Lehrer, über einen Biblischen Text des Tages, singt, was er aus allerley Liedern der 53
Das Book of Common Prayer ist ein 1549 erstmals erschienenes Regelwerk für den Gottesdienst, die Amtshandlungen und Zeremonien der Anglikanischen Kirche. 1744 hat Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) ein solches Regelwerk unter dem Titel Common Prayer für die Brüdergemeine formuliert. 54 Erschien 1752 unter dem Titel Die Litaney des Lebens, Leidens und Todes des Herrn in der 2. Ausgabe der Litaneyen der Brüder-Gemeinen . 55 Mit dem Gotteslob Te Deum beginnt ein feierlicher Dank- und Bittgesang. Das hier gemeinte Te Deum erschien ebenfalls erstmals 1752 in der 2. Ausgabe der Litaneyen
der Brüder-Gemeinen. 56
Erschien 1744 in der 1. Ausgabe der Litaneyen der Brüder-Gemeinen mit dem Titel Common Prayer . 57 Erschien 1752 in der 2. Ausgabe der Litaneyen der Brüder-Gemeinen . 58 Titel eines bekannten Passionsliedes von Paul Gerhardt (1607–1676). 59 Kyrie Eleison („Herr erbarme dich“) ist der Beginn einer Gebetslitanei, die häufig einen Gottesdienst eröffnet.
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3. Frömmigkeitspraxis
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Materie gemäß findet, welches die Gemeine ohne Buch mitsingt. Das nennen sie die Sing=Stunde, die sie sehr hoch halten und besser angehört als beschrieben werden kan. Und weil die Böhmen gebohrne Musici sind; so ist auch an manchen Orten, zu besserer Erhaltung der Harmonie und Dämpfung unangenehmer Stimmen, kein Mangel an einer ziemlich vollständigen Musik, sonderlich der Orgel, der Violinen und blasenden Instrumente, die sie, weil sie GOtt im Alten Testament selbst eingeführet,60 bey gewissen, sonderlich Fest=Gelegenheiten, nicht verwerfen wollen, sondern nur mit grosser Sorgfalt so simpel, anständig und leise einrichten, auch nur, ausser wenigen Fest=Cantaten, zum Mitspielen der Melodien brauchen, daß es niemanden weltförmig vorkommen kan; es müste denn ein hypochondrisches oder geistlich=stolzes Gemüth seyn, oder eine Gemeine in einem Lande wohnen, wo man sich eben an allen Ceremonien, auch den einfältigsten und nöthigsten, stösset; Da ihr denn auch an die Hand gegeben wird, der Schwachheit ihres Nächsten möglichst zu schonen. […] [43] §. XXXIV. Liebes=Mahle. Siehe Vorstellung N[ummer] XIV Ausserdem halten die Brüder auch bey verschiedenen Gelegenheiten Agapen61 oder Liebes=Mahle nach dem Exempel der ersten Kirche. Dieselben sind in der That nichts anders, als sehr mäßige Mahlzeiten, die mehr zum frölich und voll Geistes werden, als sich zu sättigen, gemeint sind, und wegen der weitläufigen Freundschaft der Kinder GOttes, nur grösser und weitläufiger als die gewöhnliche Familien=Mahlzeiten sind. Und damit sie weder in eine unanständige Sparsamkeit, noch ärgerliche Verschwendung degeneriren können: so hat man nicht nur die Art der Speise und des Tranks, nemlich Brod und Thee, vorgeschrieben; sondern in regulirten Gemeinen werden die Brödgen mit besonderm Fleis dazu gebacken, daß es sich von anderm Brod unterscheidet. Es sind aber 1.) Liebes=mahle aus Anlaß verschiedener Gelegenheiten, die weiter keine gesezte Zeit haben. 60 61
Zum Beispiel I Chron 23,5. Agape bezeichnet in der christlichen Tradition in Nachfolge der Apostel ein feierliches Liebes mahl (griech. ἀγάπη für Liebe), das – wohl auch für die Armen ausgerichtet – vor dem Abendmahl eingenommen wurde (vgl. I Kor 11,20–34).
3.11 Spangenberg: Lose für alle Lebenslagen
2.) Haus=Liebes=Mahle, wenn ein Haus=Herr, der ein grosses Hauswesen hat, um den Bedienten einmal einige Feyer=Stunden zu gönnen, es in die Wege richtet, daß er mit seinem Hause manchen Tag, z[um] E[xempel] Sabbaths oder Sontags, einmal am Tage nicht ordentlich speiset, sondern mit allen zugleich Agapen hält. 3.) Fest= und Kirchen=Liebes=Mahle, z[um] E[xempel] am Grünen Donnerstag, Char=Freytag, grossen Sabbath, an Gedächtniß=Tagen, und vor oder nach dem heiligen Abendmahle. Bey den Lezten hatte man sonst Wein und Wasser: Weil aber gewisse Personen aus andern Kirchen, diese Agapen vor das [44] heilige Abendmahl nehmen wolten; so haben die Brüder den ordinären Trank62 dabey eingeführet.
Literatur : Paul Graff: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands bis zum Eintritt der Aufklärung und des Rationalismus. (Göttingen 1921). ND der Ausg. 1939 Waltrop 1994. – Bernhard Lang: Heiliges Spiel. Eine Geschichte des christlichen Gottesdienstes. München 1998. – Otto Uttendörfer: Zinzendorfs Gedanken über den Gottesdienst. Herrnhut 1931.
3.11 August Gottlieb Spangenberg: Lose für alle Lebenslagen (1772) Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf. Dritter Teil. Barby: Brüdergemeine Barby [1772], 544–546. Die am 3. Mai 1728 von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) eingeführte Lospraktik verstand das Unberechenbare des Losens von Bibelversen als unerklärliche Gnadenzuwendung und Offenbarung Christi. Die Losungen selbst wertete Zinzendorf, wie sein Biograph August Gottlieb Spangenberg berichtet, als „connectierende Gespräche des Heylands mit der Gemeine auf Tag und Stunden“, die für das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft verschiedene Aufgaben und Funktionen übernehmen konnten, wie im Folgenden ausgeführt wird. Das Auslosen von Bibelsprüchen und Liedversen war dabei
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Vermutlich ist Wasser gemeint.
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3. Frömmigkeitspraxis
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keine Erfindung Zinzendorfs, wie das Beispiel Karl Heinrich von Bogatzkys (1690–1774) in Halle zeigt. Auch bei anderen Pietisten oder dem Pietismus Nahestehenden wie Hermann von der Hardt (1660–1746) oder Gerhard Tersteegen (1697–1769) hatte das Losen als Frömmigkeitspraktik zur Erschließung des Willens Gottes einen Sitz in Leben und Alltag.
Mit den Loosungen, von deren Anfange ebenfalls (S. 474)63 Nachricht gegeben worden, machte er in diesen Jahren [um 1731] eine etwas andere Einrichtung. Anstatt, daß dieselben [wie] im vorigen Jahre in den täglichen Singstunden der Gemeine auf den folgenden Tag mitgegeben, und überdies durch denjenigen Bruder, welcher eben seinen Tag hatte, in der Gemeine zu besuchen, beym Morgengrusse erinnerlich gemacht wurden, hielt man es nunmehro damit folgender massen: Man that alle für das Jahr aus der Bibel oder aus Liedern genommene Stellen, die der gemeine zur Lehre, zur Warnung, zum Troste, zur Erinnerung, zur bestrafung, und zur Besserung dienen konten, zusammen in ein Kästgen. Aus dieser Samlung zog einer von den Gemeinältesten des Abends die Loosung für den folgenden Tag, und gab sie dem Bruder, welcher an demselben den Besuch hatte. Dieser trug sie in der Gemeine von Haus zu Haus herum. Und diese besuchenden Brüder merkten zugleich auf alle Umstände eines jeglichen Hauses, und brachten abends den Aeltesten Nachricht davon. [545] […] Ich will hier den Sinn unsers Grafen von und mit besagten Loosungen nur kürzlich anzeigen. Er setzte voraus, daß unser HErr JEsus Christus, der auf ein jedes Schäflein seiner Heerde, und dessen Wege siehet, auf ein durch Seine Gnade verbundenes Häuflein Seelen, die in Glauben an Ihm hangen, ein besonderes Auge habe. Dabey halte er das kindliche Vertrauen zu Ihm, daß Er der Gemeine auf ihr Bitten, nach Seiner Weisheit und Güte, die für ein jedes Jahr, ja für einen jeden Tag, nach den Umständen nöthige und nützliche Warnung, Lehre, Bestrafung, Ermunterung, und tröstliche Anweisung geben würde.64 Daher sahe er eine jede Tagesloosung nicht anders an, als ein von dem HErrn selbst der Gemeine gegebenes Wort, und bat die Brüder und Schwestern oft, darauf treulich acht zu haben. Man muß auch gestehen, daß seit der Zeit, da man sich unter den Brüdern der Loosungen bedient [546] hat, dieselben gar oft auf die Umstände entweder der 63
Verweis auf Einführung der Lose durch Zinzendorf als Geschenk nach den Singstunden am 3. Mai 1728. 64 Vgl. II Tim 3,16.
3.11 Spangenberg: Lose für alle Lebenslagen
ganzen Gemeine, oder einzelner Glieder derselben, so zupassend gewesen sind, daß man darüber erstaunen müssen.
Literatur : Shirley Brückner: Kulturen der Berechenbarkeit. Religiosität und Lebensführung im Pietismus. Diss. phil. Halle/Saale 2010. – Peter Zimmerling: Die Losungen. Eine Erfolgsgeschichte durch die Jahrhunderte. Göttingen 2014.
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„Die Philadelphische Gemeinde. Offenb. c. 3 v. 7–13. Sihe ich habe vor dir gegeben eine offene Thür und niemand kan sie zuschliessen, denn du hast eine kleine Krafft und hast mein Wort behalten und hast meinen Namen nicht verleugnet etc. Friedens-Fürst Friedenskinder.“ Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet [...]. Bd. 1. Berleburg 1726, Titelkupfer (→ 4.5).
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4. B IBEL
UND
H ERMENEUTIK
Die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift bildete ein wesentliches Element der pietistischen Frömmigkeit. Seit Ende 1674 wurden in den Frankfurter Collegia Pietatis nicht mehr Erbauungsbücher, sondern biblische Texte gelesen und besprochen. Diese neue Praxis formulierte Philipp Jakob Spener in den Pia Desideria als Reformvorschlag, „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen“ (→ 4.1). Es wurde ein Charakteristikum der neuen Reformbewegung, dass sie sich für die Verbreiterung und Vertiefung der Lektüre der ganzen Schrift und ihrer erbaulichen Anwendung einsetzte. Anleitungen zum Lesen der Schrift (→ 4.3), katechetisch motivierte Spruchsammlungen (→ 4.2), die Bemühungen um günstige Bibeldrucke (z.B. in den später sogenannten Cansteinschen Bibelanstalten, seit 1710), die Lospraxis der Herrnhuter, Erläuterungen zum Bibeltext (→ 4.5 und insbesondere Johann Albrecht Bengels Gnomon [1742]) und schließlich das biblische und emblematische Wörterbuch Friedrich Christoph Oetingers (→ 4.8) dienten der Absicht, die Schriftlektüre in die alltägliche Frömmigkeitspraxis zu implementieren (→ 4.6). Die in pietistischen Kreisen verbreitete Tendenz zu einer biblizierenden Sprache dürfte nicht zuletzt ein Resultat dieser Bemühungen sein. Diese Anstrengungen waren keineswegs nur auf den sogenannten kirchlichen Pietismus beschränkt, wie das monumentale Werk der Berleburger Bibel (→ 4.5) zeigt. Demgegenüber hatte die textkritische, philologische und wissenschaftlich-exegetische Arbeit an der biblischen Überlieferung etwas geringere Bedeutung. August Hermann Franckes – allerdings bald aufgegebene – Korrekturen an der im Luthertum um 1700 noch nahezu sakrosankten Übersetzung des Reformators und insbesondere Bengels Revision des griechischen Neuen Testaments, der Vulgata und seine kritische Neuübersetzung des Neuen Testaments sind hier zu nennen. Diese sich in den Erweckungsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts fortsetzenden Bemühungen haben sicherlich nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Schriftauslegung in Frömmigkeit und Theologie des Protestantismus zu stärken.
Literatur : Pietismus und Bibel. Hg. v. Kurt Aland. Witten 1970. – Martin Brecht: Die Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus. In: GdP 4, 102– 120.
4.1 Spener: Heilige Schrift – Kirche
4.1 Philipp Jakob Spener: Je intensiver wir uns mit der Heiligen Schrift beschäftigen, desto besser steht es um die Kirche (1676) PIA DESIDERIA: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen / Philipp Jacob Speners / D. Predigers und Senioris in Franckfurt am Main; Sampt angehengten Zweyer Christlichen Theologorum darüber gestellten / und zu mehrer aufferbauung höchst=dienlichen bedencken. Frankfurt/Main: Johann David Zunner [1675] 1676, 94–101, 103 f. Unter den Reformvorschlägen im dritten Teil der Pia Desideria nimmt der erste, „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen“, eine hervorragende Rolle ein. Zur Erweiterung und Vertiefung der Schriftlektüre schlägt Philipp Jakob Spener neben der privaten die öffentliche Lesung zusammenhängender biblischer Texte außerhalb der Predigt und das erbauliche Gespräch in besonderen Kreisen (→ 2.2) vor. Auch die Theologiestudenten sollten solche „collegia pietatis“ bilden (→ 17.3).
1. Daß man dahin bedacht wäre / das Wort GOttes reichlicher unter uns zu bringen. Wir wissen / daß wir von natur nichts guts an uns haben / sondern soll etwas an uns seyn / so muß es von GOtt in uns gewürcket werden / und darzu ist das Wort Gottes das kräfftige mittel / indem der glaube auß dem Evangelio entzündet werden muß / das Gesetz aber die regel giebet der guten wercke / und viel herrlichen antrieb [95] denselben nachzujagen. Je reichlicher also das Wort unter uns wohnen wird / je mehr werden wir glaubens und dessen früchte zuwegen bringen. [...] [96] Dahero noch zu gedencken stehet / ob nicht der Kirchen wol gerathen wäre / wann nebens den gewöhnlichen Predigten über die verordnete Text1 noch auff andere weiß die leute weiter in die Schrifft geführet würden: 1. Mit fleissiger lesung der H. Schrifft selbst / sonderlich aber deß N. Testaments. Das ist je nicht schwer / daß jeglicher Hausvatter seine Bibel oder auffs wenigste das Neue Testament bey handen habe /
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Nach der Perikopenordnung.
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4. Bibel und Hermeneutik
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und täglich etwas in solchem lese / oder wo er je deß [97] lesens unerfahren / ihm von andern lesen lasse.2 […] Nechstdeme / daß also die leute zu der privat Lection angetrieben würden / wäre rathsam. 2. Wo man es einführen könnte / daß zu gewissen zeiten in offentlicher Gemeinde die Biblische bücher nach einander3 ohne weitere erklärung / es wäre dann sache / daß man kurtze Summarien darzu thun wolte / verlesen würden / zu aller / vornemlich aber derjenigen / erbauung / welche gar nicht oder nicht bequem und wol lesen könnten / oder auch die Bibel nicht zu eigen hätten. 3. Solte auch (welches zu anderer reifflichem nachdencken setze) vielleicht nicht un= [98] dienlich seyn / wo wir wiederumb die alte Apostolische art der Kirchen=versamlungen4 in den gang brächten: Da neben unseren gewöhnlichen Predigten / auch andere versamlungen gehalten würden / auff die art wie Paulus 1. Corinth. 14.5 dieselbe beschreibet / wo nicht einer allein aufftrette zu lehren / (welches zu andernmahlen bleibet) sondern auch andere / welche mit gaben und erkantnüß begnadet sind / jedoch ohne unordnung 6 und zancken / mit darzu reden / und ihre gottselige gedancken über die vorgelegte Materien vortragen / die übrige aber darüber richten möchten. Welches etwa nicht unfüglich folgender art geschehe: Wo zu gewissen zeiten unterschiedliche auß dem Predigampt (nehmlich an orten da solches auß mehrern bestehet) oder doch unter dirigirung deß Predigers andere mehrere auß der Gemeinde / welche von GOtt mit ziemlicher erkanntnüß begabet / oder in derselben zu zunehmen begierig sind / zusammen kämen / die Heilige Schrifft vor sich nehmen / darauß offentlich lesen / und über jegliche stelle derselben von dem einfältigen verstand7 / und was in jeglichem zu allerhand unser [99] erbauung dienlich wäre / brüderlich sich unterre-
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Zur Stützung seiner Argumentation verweist Spener nachfolgend auf Werke von Andreas Hyperius (1511–1564), Georg Nigrinus (1530–1602) und seinem Straßburger Kommilitonen Elias Veiel (1635–1706). Spener knüpft damit an die vor allem im reformierten Bereich beheimatete Tradition der lectio continua an. Spener will offensichtlich vermeiden, dass die von ihm vorgeschlagenen Erbauungszusammenkünfte als vom Reichsrecht verbotene Konventikel aufgefasst werden können. Vgl. besonders I Kor 14,23–40. Vgl. I Kor 14,33. Verständnis, Sinn.
4.1 Spener: Heilige Schrift – Kirche
deten: wo sowol jeglichem / welcher die sach nicht gnugsam verstünde / seine Dubia8 vorzutragen und dero erleuterung zu begehren / als denen jenigen die nunmehr weiter gekommen / sampt den Predigern / ihren verstand / den sie bey jedem ort9 hätten / beyzubringen erlaubt; was jeglicher vorgebracht / wie es der meynung deß Heiligen Geistes in der Schrifft gemäß seye / von den übrigen / sonderlich den beruffenen Lehrern10 / examiniret, und die gantze versamblung erbauet würde. Es müste aber alles in rechter absicht auff GOttes Ehr und den geistlichen wachsthum / daher auch in den schrancken die derselben gemäß wären eingerichtet / und hingegen / wo sich fürwitz / zancksucht / gesuch eigener ehre und was dergleichen ist / einschleichen wolte / verhütet / und sorgfältig / sonderlich von denen Predigern / als die das Directorium11 darbey behalten / abgeschnitten werden. Hierauß wäre nicht geringer nutzen zu hoffen. Es lerneten die Prediger selbst ihre Zuhörer / und deroselben schwachheit oder zunahm in der Lehr der Gottseligkeit kennen / [100] auch würde ein zu beyder besten viel dienendes vertrauen zwischen ihnen gestifftet; sodann hätten die zuhörer eine stattliche gelegenheit / ihren fleiß über das Göttliche Wort zu üben / und sich darzu auffzumuntern / ihre habende scrupel / umb derer willen sie nit eben jedesmal den Prediger zu besprechen das hertz nehmen / demselben bescheidenlich vorzutragen / und dero entscheid anzuhören / und in weniger zeit sowol vor sich selbst zu wachsen / als auch tüchtiger zu werden / in ihrer Hauß=Kirche12 / Kinder und Gesinde besser zu unterrichten. Da in ermangelung dergleichen übungen die Predigten / wo einer allein in stäts=fliessender rede seinen vortrag thut / nicht eben allemahl / so recht und genüglich gefast13 werden / weil keine zeit dazwischen ist / der sache nachzudencken / oder wo man einem nachdencket / indessen so viel von der folge entgehet / (welches aber bey dergleichen unterredung nicht geschiehet) sodann die privat= und hauß= lection / wo man niemand darbey hat / der etlicher massen den verstand und absicht jeglichen orts mit zeigen hilfft / dem lesenden nicht alles 8 9 10 11 12
Zweifel. Schriftstelle. Pfarrer. Leitung. Spener hat Martin Luthers (1483–1546) Vorstellungen von der christlichen Praxis im Haus zum Konzept einer „Hauskirche“ weiterentwickelt (→ 2.2). 13 Erfasst, verstanden.
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4. Bibel und Hermeneutik
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was er gern verstehen möchte zur gnüge erläutern kan. [101] Hingegen würde was an beeden manglete / durch der gleichen übungen ersetzet / und weder dem Predig=ampt noch den Zuhörern grosse arbeit gemacht: Ein ziemliches aber gethan zu erfüllung der vermahnung Pauli / da er sagt: Col. 3 / 16. Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen / in aller weißheit. Lehret vermahnet euch selbst / mit Psalmen und Lobgesängen / und geistlichen lieblichen Liedern. Welche auch bey dergleichen versamblungen zum Lobe GOttes und aufmunterung gebraucht werden möchten. Einmahl ist gewiß / daß die fleissige handlung deß Göttlichen Worts (die nicht nur bloß in anhörung der Predigten bestehet / sondern auch lesen / betrachten / darvon unterreden Psalm. 1/2. in sich fasset) das vornehmste mittel etwas zu bessern seyn muß / es geschehe nun durch dergleichen oder von andern füglicher zeigende anstalten. […] [103] Wie nun eines der vornehmsten bösen stücke in dem Pabstthum gewest / dardurch die Päbstliche Stats ration14 sich befestiget / die leute in unwissenheit / und also einen15 völligen gewalt über ihre gewissen zu behalten / daß sie sie von lesung der Heiligen Schrifft abzehalten / und noch nach vermögen abhalten; hingegen wie ein grosses theil [104] deß zwecks der theuren Reformation gewesen / die leute zu dem Wort GOttes / so fast unter die banck verstecket gelegen / wiederum zu bringen / auch solches das kräfftigste mittel gewesen / dadurch GOtt sein werck gesegnet / also wird auch eben dieses das vornehmste16 mittel seyn / da die Kirche wieder bedarff in bessern stand zu kommen / daß der eckel der Schrifft / so bey vielen ist / oder die nachlässigkeit in derselben zu studiren / abgethan / und hingegen hertzlicher eiffer zu derselben erwecket werde.
Edition : Ph.J. Spener: Pia Desideria. Hg. v. Kurt Aland. Berlin 31964, 53– 58. – Literatur : Beate Köster: Die Lutherbibel im frühen Pietismus. Bielefeld 1984. – Martin Schmidt: Philipp Jakob Spener und die Bibel. In: Pietismus und Bibel. Hg. v. Kurt Aland. Witten 1970, 9–58.
14 15 16
Staatsraison. Im Oberdeutschen üblicher maskuliner Gebrauch des Begriffs „Gewalt“. Beste.
4.2 Petersen: Anleitung zur kenntnis von Schriftworten
4.2 Johann Wilhelm Petersen: Anleitung zur guten Kenntnis von Schriftworten (1685) I. N. JESU! Spruch=Catechismus / Aus dem Catechismo des sel. Lutheri in Fragen vorgestellet / Die mit den unmittelbahren Sprüchen Der heiligen Schrifft beantwortet werden17 […]. Ploen: Tobias Schmidt 1685, Vorrede, )0()0)iiir/v, viv– werde, und sollte er Berge von Chartequen50 auffeinander setzen: denn aus einem so conf[usen?] Gemüthe kann unmöglich etwas gründliches kommen und alßo auch der wahrheit keinen Schaden thun. Seine Lästerungen wider mich mögen bey andern vor Gott liegen bleiben, biß sie abgethan sind; Seine Drohungen mit Gottes Gerichte rühren mich nicht an, denn Gott hat mich längst in seinen Schirm auffgenommen, da kein Feind hinreichet; Er selbst aber zeiget mit seinen worten und wercken51 an, wie tieff er noch unter dem Zorn und Gericht leider! begraben liege, daraus er durch eine starcke Hand erst wird müßen errettet werden. Seine Drohungen aber mit dem weltlichen Arm können noch weniger hinreichen, zumal Gott bisher wol andere Eifferer als er ist, zu Schanden an mir gemachet hat. Ich bitte ihn aber umb seiner Seelen Seligkeit willen, er enthalte sich weiterer Lästerungen und Zänckereyen und jage mit mir dem Frieden nach52 und laße sich keinen falschen Eiffer mehr aufreitzen. Denn < N[ota]B[ene]53 > seine äußerliche Scheinheiligkeit wird ihn nicht retten am Tage des Zorns ,54 dessen Krafft er noch nicht gefühlet hat.
Edition : Gottfried Arnolds Weg von 1696 bis 1705. Sein Briefwechsel mit Tobias Pfanner und weitere Quellentexte. Eingel. u. hg. v. Jürgen Büchsel. Halle/Saale 2011, 204 f. – Literatur : Ernst Salomon Cyprian (1673– 1745). Zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Hg. v. Ernst Koch. Gotha 1996. – Gottfried Arnold (1666–1714). Hg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1990. – Gottfried Arnold. 49 50 51 52 53 54
Der Text in < > als Marginalie notiert. Altes, wertloses Schriftstück. Kol 3,17. Hebr 12,14. Wohlgemerkt (Text in < > als Marginalie notiert). Spr 11,4.
20.6 Weidner: Aufbegehren gegen Francke
Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß u. Hanspeter Marti hg. v. Antje Mißfeldt. Köln 2011. – Hans Schneider: Cyprians Auseinandersetzung mit Gottfried Arnolds „Kirchen- und Ketzerhistorie“. In: Gottfried Arnold (1666–1745). Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß u. Hanspeter Marti hg. v. Antje Mißfeldt. Köln 2011, 111–135.
20.6 Johann Martin Weidner: Aufbegehren gegen August Hermann Francke, seine Gemeindereform und Kirchenzucht (1704) Weidner an Johann Hieronymus Wiegleb, Glaucha, 29. März 1704 (AFSt/ H D 84: 350–352). Seit 1696 lebte der studierte Theologe Johann Martin Weidner als Schneider in der Gemeinde Glaucha, in der August Hermann Francke (1663–1727) von 1692 bis 1715 als Pfarrer tätig war und eine strenge Kirchenzuchtpraxis durchzusetzen versuchte. Dagegen regte sich unter den Bürgern von Glaucha Widerstand, auch von Berufsgruppen wie den Schneidern, angeführt durch Weidner. Seine theologische Kompetenz machte ihn für Francke zu einem ernstzunehmenden Kritiker. Seine Vorwürfe artikulierte er unter anderem im zitierten Brief an den Diakon und Gymnasiallehrer Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1730), in welchem er sich dezidiert gegen Francke und den Pietismus ausspricht. Unter anderem wendet er sich gegen die von Martin Luther (1483–1546) verworfene Praxis der Exkommunikation und wirft Francke irrige Lehren und Predigten vor. Später jedoch, nach zahlreichen Auseinandersetzungen, kehrte Weidner zu Franckes Position zurück und widerrief seine Anschuldigungen.
Und zwar Erstlich halte ich auffs gewisseste dafür, daß diese ihre excommunication ein Päpstischer Greuel und schändlicher Mißbrauch der Kirchen=Gewalt sey. Denn die Ursache dieses ihres Verdammens ist, weil ich ihre spiritualitates55 und Menschen=Satzungen, doch mit allem Glimpff 56 und Bescheidenheit, angegriffen, erstlich mit der that, da ich umbs Gewissens Willen nicht mehr corrigiren wolte, weil nicht allein 55 56
Glaubenssätze, Geistlichen Gesetze. Nachsicht, Angemessenheit.
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20. Kritiker und Gegner
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die Verwirrer der Kirchen verflucht sind, sondern auch alle ihre Helffers Helffer. Ps. 135,18. hernach auch mit Worten, da ich diese des Herrn Professoris Satzung: Tantzen, wo es auch am honettesten zugehet, ist Todt=Sünde, verwarff sammt allen seinen Beweißthümern, welche nur fallaciae57 wären, entweder petitiones principii,58 oder fallaciae accidentis,59 oder fallaciae secundum non causam ut causam,60 wie ich solches durch Gottes Gnade zur Gnüge cum convictione vestri61 gezeiget, wiewol der Herr Professor, omni licet argumento probanti destitutus,62 dennoch drauff blieb, und mit grossem Zorn und Geschrey antwortete: Es ist Sünde, es ist Sünde: nempe, sic volo, sic i(?)ubeo, stat pro ratione voluntas63 item. […] [351] Zum Andern, so bleibet dieses auch gewiß, wie ich gesagt, daß Sie mit dem Troste des Evangelii nicht recht umgehen, in dem Sie ihn an die Wercke, an unsere Frömmigkeit binden, und also aus den Wercken und Glauben, aus dem Gesetz und Evangelio einen mischmasch machen. Denn zugeschweigen ihrer ausdrücklichen Reden: Ohne Wercke, ohne Liebe, ohne Gehorsam ist der Glaube nicht gerechtmachend: Christus in uns ist die Gerechtigkeit: das Evangelium muß man nicht applicative predigen: Man muß das Evangelium predigen, wie Paulus Rom. II,1–10, < da doch Paulus hier aus dem Gesetz prediget vid[eatur] Rom. X, 5–14 Christi Verdienstes sich trösten, ist nicht genug, etc.,>64 so will ich nur vor ietzo ihre praxin ein wenig ansehen, wem Sie den Trost appliciren. [… ] Zum Dritten, was den punckt von der Erleuchtung betrifft, gestehe ich gerne, daß ich darinnen vorm Jahre irre wurde, und auff die Seite der Enthusiasten mich zuneigen begunte: Welches mir zwar zu kleinen Ehren gereichet, denn ich demüthigte mich daher, und gab Ihnen recht, 57 58 59 60
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Betrug, Täuschung. Ein fehlerhafter Beweis, bei dem die Schlussfolgerung schon in den Prämissen als wahr vorausgesetzt wird. Ein fehlerhafter Beweis, bei dem eine zufällige, nicht notwendige Eigenschaft (Akzidenz) einer Sache als deren Wesenheit ausgegeben wird. Ein fehlerhafter Beweis, bei dem etwas als Ursache für etwas anderes ausgegeben wird, obwohl eigentlich kein kausales Verhältnis besteht (sondern z. B. ein zufälliges). Mit eurer Überzeugung. Ist entledigt jedes beweisenden Argumentes. Freilich, so wie ich will, so befehle ich, für die Begründung steht der Wille. Als Marginalie notiert.
20.6 Weidner: Aufbegehren gegen Francke
mir aber unrecht. Allein, ob ein geistlicher Israelit65 vor seinen Feinden gedemüthiget wird, so hat ihn Gott deswegen nicht gar verlassen. Der Herr erhält, die da fallen, und richtet auff die niedergeschlagen sind.66 Ob ich falle, so fällt doch die Wahrheit nicht. In diesem punct bestehet die Wahrheit darinne, daß die wahre Erleuchtung komme nicht durch enthusiasmos oder innerliche unmittelbare Offenbahrungen, sondern durch fleissiges lesen, hören, meditiren, disputiren, oder mit einem Worte, durch die Predigt, des Wortes Gottes Rom. X,14–17. 1 Cor. I,21. 2 Cor. IV,6. Dannenhero irret der Herr Prof. Francke sehr schwehrlich, daß Er diejenige Wissenschafft und Erkäntniß in göttlichen Dingen, so durch dieses ordentliche Mittel erlanget worden, und der H[eiligen] Schrifft gemäß ist, verwirfft als eine bloß natürliche todte Wissenschafft, und sie der wahren Erkänntniß Himmel und Erden weit contradistinguiret67. Denn die H[eilige] Schrifft und Libri Symbolici68 lehren einhelliglich, daß der Mensch mit seinen bloß natürlichen Kräfften das Evangelium nicht fassen noch begreiffen möge. Daher ich ja unwidersprechlich schliessen kan: Ergo so haben alle, die den rechten Verstand des Evangelii per dicta media69 haben, die wahre Erleuchtung des H[eiligen] Geistes, und ist solche Erleuchtung durchaus nicht eine natürliche Erleuchtung zunennen, es thue es wer da wolle, Freund oder Feind. [352] Daß nun der Herr Professor in diesem punct wahrhafftig irre, erhellet nebst diesem auch aus seiner eigenen praxi. Denn das studiren hält Er dafür, daß es den Kopff tumm mache. Daher meidet Er es, weil auch nichts dadurch zuerlangen. Wenn Er aber für sein auditorium treten wolte, so bäte Er, Gott wolle Ihm geben zureden, was Gott gefällig were; und also bekäme Er wol mehr (auch wo es nöthig, erudita70) als andere durch ihr studiren und Kopffbrechen. Was ist aber das nun anders als immediate erleuchtet zuwerden begehren? Ich halte es mit denen, die 65 66 67 68
Ein Christ als Teil des geistlichen Israels. Ps 145,14–21. Voneinander unterschieden und entgegengesetzt. Die lutherischen Bekenntnisschriften (symbolische Bücher), v. a. neben den altkirchlichen Symbolen: Confessio Augustana (1530), Philipp Melanchthons Apologie des Augsburgischen Bekenntnisses (1530), Martin Luthers Schmalkaldische Artikel (1537), der Kleine und der Große Katechismus (1529) und die Formula Concordiae von 1577. 69 Durch das Medium. 70 Gelehrte Dinge.
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nach dem Ausspruch Syrachs cap[itel] XXXIX,1 seqq. erst fein auff ihre Predigten studiren, und der Sache, die sie vortragen wollen, erst zu hause fein gewiß werden, so können sie hernach ihren Mund fein getrost auffthun, und das unordentliche und weitläuffige Gewäsche vermeiden. Denn ich weiß, daß zufällige Gedancken, ob sie auch gleich hübsch sind, dennoch nicht flugs vom H[eiligen] Geist, sondern sehr offte vom Teuffel sind.
Edition u. Literatur : Veronika Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees (1692–1704). Tübingen 2004.
20.7 [Johann Friedrich Mayer:] Ein Bericht über verwerfliche Zustände im Halleschen Waisenhaus (1709) Das Durch die Geschäfftige Martham, und nicht wie fürgegeben wird Durch die Das beste Theil erwehlende Mariam Seinen Unterhalt und Reichthum Suchende Waysenhauß In Halle […]. Greifswald: Georg Heinrich Adolphi [1709], 18 f., 22, 44. Der vorliegende Auszug liefert in Anlehnung an Lk 10,38–42 einen mit Zahlen und Fakten gespickten Bericht über die angeblich ausbeuterischen und menschenverachtenden Verhältnisse im Halleschen Waisenhaus. Der Text stammt wohl nicht, wie lange angenommen, von Johann Friedrich Mayer selbst, sondern von einem studentischen Spion aus Greifswald, zur Zeit der Abfassung des Textes Mayers Wirkungsstätte als Ordinarius der Theologischen Fakultät. Ziel des Pamphlets war es, mit August Hermann Franckes (1663–1727) Arbeit in Glaucha zugleich die gesamte neue Frömmigkeitsbewegung in Misskredit zu bringen. Die Praxis pietatis sollte der Heuchelei überführt werden, um als die wahren Motive des vorgeblich karitativen Handelns ökonomisches Kalkül und rücksichtsloses Gewinnstreben auf Kosten der Kinder aufzudecken.
Daß aber die meisten hierunter [gemeint sind die Waisenkinder] ihre Patronos71 haben / kann hieraus erhellen: Da einsmals dem Waysenhause ware zugemuthet worden / weil solches so vieler Königl[icher] 71
Schirmherr.
20.7 [Mayer:] Verwerfliche Zustände im halleschen Waisenhaus
Gnade genosse, daß dasselbe Findel=Kinder im Lande möchte auffnehmen; hat sich solches damit excusiret72: Es könte nicht einmal die einländischen Waysen=Kinder auffnehmen -/ sondern dieselben / welche Gutthäter / durch welche die Anstalten guten theils erhalten werden müsten / recommendireten73. Woraus gnugsam die Wahrheit meines Satzes erhellet. Nun wenn wir ansehen / daß die guten Freunde entweder auf einmahl eine gute Summa Geldes gegeben / oder Jährlich zu 24. 30. 40. und 50. Rthl.74 interesse bezahlen /75 wie solches einiger maßen die Fußstapffen76 bezeugen; so ist leicht zu erachten / wenn wir absonderlich die schlechte Kost solcher Kinder observiren / daß die Kinder dem Waysenhauß mehr Gutthaten / als dasselbe ihnen erweiset: denn wenn solches ausgerechnet würde / so kan ein solches Kind in der Kost über 12 Rthl. nicht kosten. Darnach erweisen die Kinder dem Waysenhauß Gutthaten / indem sehr viele unter ihnen Wolle krämpen / dieselben spinnen / verstricken und verweben / wodurch eine schöne Strumpff=Manufactur im Waysenhauß hat können aufgerichtet werden / dadurch nicht ein schlechtes verdienet wird. Alsdenn lassen sich auch einige Knaben / welche unterrichtet worden / in der Druckerey gebrauchen / welche umsonst Gesellen=Dienste im Setzen versehen / und kan ein jeder leicht erachten / was sie verdienen in einer solchen Druckerey / darinnen jederzeit auf unterschiedenen Pressen gearbeitet wird. Endlich so ist die gröste Wohlthat / so die Waysen=Kinder dem Waysenhause praestiren / dass dasselbe von ihnen seinen Nahmen führen darff / und unter diesem Nahmen nicht allein reiche Allmosen annoch 72 73 74 75
Entschuldigt. Empfehlen. Reichstaler. Die Zinsen eines Kapitals, der Gewinn oder Überschuss auf ausgeliehenes bares Geld. 76 Gemeint ist die Werbeschrift des hallischen Pietismus, die in folgenden Auflagen und Ausgaben überarbeitet und erweitert wurde und wesentlich zur Ausbildung der sog. Waisenhauslegende beigetragen hat: August Hermann Francke: Die Fußstapffen Des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes. [...] Durch den Ausführlichen Bericht Vom Wäysen-Hause, Armen-Schulen und übrigen Armen-Verpflegung Zu Glaucha an Halle / Wie selbige fortgesetzet biß Ostern Anno 1701. Glaucha bei Halle: Waisenhaus 1701 (→ 12.4).
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empfängt / sondern / welches das allergröste / sehr grosser Freyheiten geniesset: Denn alle die / so auf dem Waysenhause speisen / deren wol insgesamt über 300. gerechnet werden / leben Accis-frey77. Dar= [19] unter werden denn nun die mit gerechnet / welche in der Druckerey / in der Apothecke und Laboratoriis, die an der Manufactur, Buchladen / an der Brauerey / Backerey / etc. etc. arbeiten / welche alle ihr Geld verdienen, und unter dem Nahmen der Waysen=Kinder und armen Studenten der Königl[ichen] Wohlthat geniessen. […] [22] Die Kost nun, womit die Waysen=Kinder tractiret werden / ist Mittags und Nachts eine Suppe / entweder von Wasser mit Mehl / oder von schalen Bier / darinnen viereckichte Brocken schwimmen / darnach bekommen sie zu Mittag ein Zugemüß / als braunes= süßes= oder saures=Kraut / Erbsen oder Hirsen / manchmal auch dürre Holtzbirnen. Dabey haben sie Brod / des Abends aber / weil sie kein Zugemüß haben / so bekommen die Kinder / wenn mir recht ist / ein wenig Butter oder Zwetschken=Muß / zu Mittag aber bekommen sie solches nicht. Sie bekommen auch zweymal Fleisch in der Woche und etwas Bier zu trincken. […] [24] Kan demnach E[uer] G[naden] sehen wie die Wercke des Waysenhauses gar nichts von der Frömmigkeit / Widergeburth / Vertrauen und Glauben auf GOtt / bezeugen / oder das GOttes Gnade sonderlicher über die Anstalten leuchte / als über andere weltliche Dinge. Ja aus den Nachfolgenden soll erst vollkommen der Deckmantel dieser frommen Menschen abgerissen werden / damit ihre Schönheit besser hervor leuchte.
Literatur : Dietrich Blaufuß: Der Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712). Fromme Orthodoxie und Gelehrsamkeit im Luthertum. In: Pommern in der frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tübingen 1994, 319– 347 (wiederabgedruckt in: Ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Leipzig 2003, 303–336). – Volker Gummelt: Johann Friedrich Mayer. Seine Auseinandersetzungen mit Philipp Jacob Spener und August Hermann Francke. Univ. Greifswald, Habil.-Schr. 1996.
77
Der Akzise (Verbrauchssteuer) enthoben.
20.8 Löscher: Kritik am Vollkommenheitsstreben
20.8 Valentin Ernst Löscher: Kritik am Vollkommenheitsstreben der Pietisten (1718) Vollständiger TIMOTHEUS VERINUS Oder Darlegung der Wahrheit und des Friedens In denen bisherigen Pietistischen Streitigkeiten Nebst Christlicher Erklärung und abgenöthigter Schutz=Schrifft Vor seine Lehre / Ambt und Person Insonderheit gegen eine von Hrn. Joach. Langen / Prof. Hall. mit approbation und beytrag der Theol. Facultaet zu Halle edirte Schrifft Die Gestalt des Creutz=Reiches genannt. Teil 1. Wittenberg: Samuel Hannauer 1718, 704–706, 709 f. In den zwei Bänden des Timotheus Verinus attackiert Valentin Ernst Löscher den Pietismus, namentlich den schärfsten Verfechter des hallischen Pietismus, Joachim Lange (1670–1744). Im ersten vorliegenden Auszug konzentriert sich Löscher auf den gegenüber den Pietisten erhobenen Kardinalvorwurf des Perfektionismus, also die angeblich von den Pietisten vertretene Auffassung, der Mensch könne bereits im Diesseits ein hohes Maß an Vollkommenheit erreichen.
I. Wir kommen nun zu einem Punct / welcher mit Recht die Seele des Pietismi kann genennet werden / und worinnen [705] dessen gröste Krafft / menschlich davon zu reden / bestehet. Ich sorge hertzlich / wo ja bey den übrigen Puncten etwas heilsames an dem Gegentheil auszurichten / so werde doch hier meine Arbeit umsonst seyn / indem man sich auff jener Seite allzufest eingebildet / man thue Gott einen Dienst daran / wenn man / unter dem guten Nahmen der Möglichkeit des thätigen Christenthums78 / die Sache über das Ziel treibet / und eine solche absolut nöthige und mögliche Vollkommenheit lehret / welche doch nicht im Werck / sondern in der Einbildung beruhet / über das / was geschrieben ist / gehet / theils geistlichen Hochmuth / theils desperation, nach unterschiedener Beschaffenheit der Gemüther / hervorbringen muß / und endlich die heilsame Lehre und gute Lehr=Art sehr zerrüttet. Mir thut es auch in Wahrheit hertzlich wehe / dass ich etwas hierbey thun muß / welches den Schein haben kann / als ob man den Eyfer / im thätigen Christenthum zu wachsen / verdächtig mache und 78
Philipp Jakob Spener: Deß thätigen Christenthums Nothwendigkeit und Möglichkeit [...]. Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1680.
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hindere / da ich doch selbst in meiner Schwachheit durch des Heil. Geistes Beystand mich bestrebe der Heiligung nachzujagen / und von Grund meines Hertzens wünsche / auch dahin trachte / dass alle / die mich hören / solche seyn; ja in allen Guten immer völliger werden möchten. Doch ich muß auch diesen sauren Weg gehen / weil ich nicht wider die Wahrheit kann / und bin gewiß / dass wo ich (wie ich den festen Bund mit meinem Gott gemacht habe) von seinem Gesetz und Zeugnuß auch in diesem Punct durch keinen Schein [706] mich abwendig machen lasse / und darnach spreche / so werde ich nicht straucheln / und doch auch dem Wachsthum des thätigen Christenthums keinen Schaden thun. […] [709] IV. Die Ausbrüche des schädlichen Perfectismi sind insonderheit folgende dogmata: Daß ein wahrer Christ ohne alle Sünde seyn kann und müsse: Daß ein Christ so vollkommen werden könne / dass er der Vergebung der Sünden nicht brauche: Daß die Wiedergeburth nirgends sey / wo nicht die Vollkommenheit des Lebens ist / und dass jene die letzte in sich schließe: Daß die Wiedergeburth eine solche wesentliche Veränderung sey / darinnen der gantze Mensch völlig fromm werde: Daß sich ein Christ in diesem Leben völlig von allem Bösen active reinigen könne: Daß ein Christ den alten Adam in sich völlig annihiliren79 könne: Daß es ein Christ so weit bringen könne / daß er gar keine böse Lüste mehr fühle / oder dass sie sich gar nicht mehr bey ihm regeten: Daß man zu dem gradu der Vollkommenheit / welche der absoluten oder höchsten am allernächten ist / kommen könne: Daß man Gottes Gesetz könne erfüllen / und halten in der Vollkommenheit / oder also / dass man darinnen vollkommen sey: Daß ein Christ für Gottes Gericht mit seiner Vollkommenheit bestehen könne / u. sonst gar nicht. Des Perfectionismi Ausbrüche sind auch folgende Praxes: Daß man bey seinem thätigen Christenthum sich ferner nicht als einen Sünder [710] für Gottes Diener erkennen und bekennen will: Daß man die ascetica, Fasten / und dergleichen Strenge über die Gebühr treibet: 79
Zunichte machen.
20.9 Löscher: Irrtümer und Irrwege des Pietismus
Daß man andere / die nicht so strenges Leben führen / oder absolut fordern / eben darum vor fleischlich und Weltgesinnt ausschreyt.
Literatur : → 20.9.
20.9 Valentin Ernst Löscher: Irrtümer und Irrwege des Pietismus (1721) Vollständiger TIMOTHEUS VERINUS Oder Darlegung der Wahrheit und des Friedens In denen bißherigen Pietistischen Streitigkeiten Nebst Christlicher Erklärung und abgenöthigter Schutz=Schrifft Vor seine Lehre / Ambt und Person gegen Hn. D. Joach. Langen Theol. Prof. Hall. Teil 2. […] Wittenberg: Samuel Hannauer 1721, 81f., 84–87. Im zweiten Auszug aus dem zweiten Band von 1721 liefert Valentin Ernst Löscher einen kursorischen Abriss über Aufkommen, Themen und Ausbreitung des Pietismus und fokussiert dabei insbesondere die vor allem in radikalpietistischen Kreisen wie beim Ehepaar Johanna Eleonora (1644–1724) und Johann Wilhelm (1649–1727) Petersen vertretene Lehre von der Wiederbringung aller Dinge, der apokatastasis panton .
Das Vierdte Capitel. II. Daß / seit 30. und mehren Jahren her / ein Pietismus und Pietisten unter uns gewesen / ist nicht eine bloße gemeine Sage / vielweniger ein ungegründetes Vorgeben / und falsche Bezüchtigung / sondern die Sache verhält sich / nach den Actis publicis80, die vor aller Welt Augen liegen / oder dargelegt werden können / also: 1.) Von A[nno] 1671. her haben verschiedene Lehrer / hin und wieder / in der Meinung / die Gottseeligkeit zu befördern / Collegia Pietatis angefangen / und darzu alle / so sie vor fromme Seelen gehalten / gelassen / auch ihnen die Freyheit gegeben / in solchen Collegiis zu proponiren81 / und also gewisser massen zu lehren / ja zuweilen solche Zusammenkünffte ohne Gegenwart und Direction eines Lehrers zu halten / daher der Pietisten Nahme am Rhein=Strome entstanden. Auff 80 81
Veröffentlichten Akten. Vorzutragen.
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geschehene Gegen=Erinnerungen und Vorstellungen / ist solches dennoch je mehr und mehr fortgestellet worden / biß etwan / nach dem 1697sten Jahre / die betrüb= [82] ten Folgen so viel zu wege gebracht / dass die erste Art der Collegiorum Pietatis meistentheils auffgehöret hat / wiewohl man noch immer schreyet / es sey alles unschuldig / recht und nützlich gewesen. 2.) Von A. 1676 her hat der Irrthum / dass die reine Lehre und Analogie des Glaubens / und der richtige Verstand aller Glaubens=Sprüche / aus bloßen natürlichen Kräfften / erlanget werden könne / und also in den Unheiligen ein bloßes Natur=Werck sey / ingleichen / dass ein Orthodoxus impius82 nichts vom Lichte des Geistes Gottes habe / bey vielen Lehrern überhand genommen; und weil demselben erstlich nur in der Stille / und sehr glimpflich / widersprochen ward / und / die es öffentlich thaten / nicht zum allerbesten es verrichteten / so nahm solche Lehre von Jahren zu Jahren also überhand / dass von A. 1696 her praetendirt ward / sie sey allein die wahre und ächte Evangelisch=Lutherische Lehre / ungeacht die vornehmsten und meisten Theologi unserer Kirche ihr widersprachen. […] [84] 8.) Von A. 1692. her ist Chiliasmus öffentlich / theils etwas verdeckter / unter dem Nahmen der Hoffnung besserer Zeiten / von vielen Lehrern in Schrifften verteidiget worden. 9.) Ungefehr von A. 1694. her haben etliche Lehrer den irrigen Lehr= Vortrag / dass diejenigen Prediger / so zwar richtig lehreten / aber nicht erbarlich lebten / Wölffe wären / öffentlich getrieben. 10.) Fast um diese Zeit ist auch die Lehre / dass die Thätigkeit des Glaubens in das [85] Werck der Rechtfertigung gehöre / aufgekommen. 11.) Von A. 1695. an sind auf der neuen Universität Halle / und wo sonst die Lehrer / welche vor andern der Pietät wollen zugethan seyn / mächtig waren / viel schreckliche und Himmelschreyende Religios= Greuel vorgegangen und geduldet worden / biß man nach A. 1702. angefangen / einigen Ernst gegen eines und das andere zu bezeugen. […] [86] 17.) Von A. 1699. an ist der Irrthum / dass die Teufel und Verdammten noch seelig werden müsten / ungescheuet vorgetragen worden / welchem sich niemand / als diejenigen / so dem Pietsimo widersprochen / (biß auff ein Paar sonst irrige Scribenten /) wiedersetzt hat.
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Unfrommer, gottloser Orthodoxer.
20.10 [Buchka:| ] Wie man den Pietisten gibt
19.) Von gedachtem Jahr her ist auch die Meinung / dass Tantzen / Spielen / und dergleichen Ergötzlichkeiten / an und vor sich Sünde wären / völlig ausgebrochen / und hernach auffs heftigste vertheidiget worden. […] [87] 2.) Die Meinung / dass die Orthodoxia, und analogia fidei, durch die bloßen Natur=Kräffte erlangt werde / und dass ein Orthodoxus impius von aller Erleuchtung schlechterdings ausgeschlossen sey / hat H[er]r D[octor] Spener vornehmlich / und in verschiedenen Schrifften / ausgebreitet / und seine Nachfolger wollen das Leben darüber lassen; Sonderlich aber haben die Hnn. Professores Theologiae zu Halle bißher die Vertheidigung dieses Puncts in vielen Schrifften über sich genommen.
Literatur : Martin Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie. Witten 1971. – Klaus Petzoldt: Der unterlegene Sieger. Valentin Ernst Löscher im absolutistischen Sachsen. Leipzig 2001.
20.10 [Johann Simon Buchka:] Wie man den Pietisten gibt und sich lächerlich macht (1731/1750) Muffel der Neue Heilige oder die entlarvte Scheinheiligkeit Bey einer Magister=Promotion offenbaret von einem Mitgliede der deutschen Gesellschaft in Leipzig. [1731]. Vierte Auflage Im Jahr 1750. In: Ders.: Evangelische Buß=Thränen über die Sünden seiner Jugend, und besonders über eine Schrift, die man Muffel der neue Heilige betitult, mit Poetischer Feder entworfen, von dem Verfasser des sogenannten Muffels, oder besser M. Oufle. Hof, Bayreuth: Johann Gottlieb Vierling 1750, 7–9. Die Schrift, die den Theologen Johann Simon Buchka unter seinen Zeitgenossen bekannt gemacht und mehrere Auflagen erreicht hat, ist ein satirischer Angriff auf die Pietisten in der Zeit um 1731. Dabei verwendet Buchka zur Verspottung der Pietisten vor allem im radikalen Pietismus auftretende böhmistisch-theosophische Formulierungen und Bilder. Der Muffel ist Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), Vater von Karl Wilhelm Jerusalem (1747– 1772), dem historischen Vorbild von Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Werther-Figur, anlässlich seines Magisterexamens gewidmet. Sechs Jahre spä-
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ter soll Buchka jedoch selbst Pietist geworden sein und hat der Reue, die er über seine vorherigen Ansichten empfand, wiederum poetischen Ausdruck verliehen. Er verfasste die Evangelischen Buss-Thränen über die Sünde seiner Jugend und besonders über eine Schrift, die man Muffel, der neue Heilige betitult .
Dann melde, wo und wenn du seyst bekehret worden; So hast du schon ein recht zum stillen Bruder=Orden. Und endlich fragt man noch: wie ist dir itzt zu Muth? Sag nur: ich fühle wohl, dass es recht kützlich thut; Es grübbelt, grabbelt mich; Allein ich kans nicht sagen; So wird man völlig dich zum stillen Ritter schlagen. Bis du dahin gelangt; so stosse was hervor, Das kauderwellisch klingt, und ein verständig Ohr Vor Zauberformeln hält: Das wird man göttlich nennen, Und dieß verwirrte Zeug vor Gottes Wort erkennen. So hast du kurz und gut Welt, Fleisch und Blut besiegt, Ob dich der Satan gleich in stummen Sünden83 wiegt. Ja sprich: Ich habe nun nach Angstbeseelten Stunden Den Ausfluß, so aus Gott, in meiner Brust gefunden, Das äußre Wort taugt nichts: Das Wort, so in uns wacht, Hat mich zu Gottes Sohn und einem Christ gemacht. Der Christus, so in uns in Urgrunds-Wesen stecket, Hat in der Ichheit sich von Todten aufgewecket. Der starke Wesens=Grund dringt durch des Fleisches Dampf, Und kämpft mit voller Kraft den heilsam innern Kampf. [8] Nun hat der Feuer=Geist, der aus dem Urgrund stammet, Das innerlich göttlich Licht im Mittelpunct entflammet. […] So verstecke dich in der Auroren Licht, Daraus die Dunckelheit mit hellen Strahlen bricht. Hast du die Brüderschaft durch solches Zeug begeistert So thu, als hätt ein Geist sich deiner Brust bemeistert. Erst strampfle mit dem Fuß und brumme wie ein Bär;
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Auch „Sünde ohne Namen“. Im Mittelalter Bezeichnung für sodomitische (vgl. Gen 18 u. 19) oder „widernatürliche“ sexuelle Praktiken, insbesondere für den homosexuellen Analverkehr.
20.11 [Gottsched:] Der Pietismus auf dem Theater
Ein Auge zugedrückt, das andre bald die Quehr, Bald tief, bald himmelwärts, bald in sich selbst gezogen; So hast du meisterlich zum Heuchler dich gelogen. Man wird dich alsobald zu einem Priester weyhn, Und du wirst, böser Schalk! der frömmste Bruder seyn. […] Seufz, ächze, jederzeit! Ein stetes Händefalten Wird deiner Büberey den Tugendschein erhalten. Bisweilen setze dich in ein verdüstert Loch! Und betest du gleich nicht; was schads? Man glaubt es doch. Das Haar laß recht verwirrt um Kopf und Stirne fliegen, Und Fingerdick den Staub auf schwarzen Kleidern liegen! [9] Denn ist es Zeit, wenn sich das Ungeziefer regt, Daß man ein reines Hemd an Haut und Glieder legt. Man muß das wilde Fleisch auf diese Weise zähmen, und sich nicht vor der Welt und ihren Kindern schämen.
20.11 [Luise Adelgunde Victorie Gottsched:] Der Pietismus auf dem Theater – Die Verspottung scheinheiligen Treibens (1736) Die Pietisterey im Fischbein=Rocke; Oder Die Doctormäßige Frau, in einem Lust=Spiele vorgestellet. Rostock [Leipzig]: Auf Kosten guter Freunde 1736, 1–4. 1736 erschien anonym Die Pietisterey im Fischbeinrocke . Verfasserin war Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Ehefrau des Leipziger Literaturprofessors Johann Christoph Gottsched (1700–1766). In ihrer Bearbeitung eines auf die Jansenisten gemünzten französischen Originals von Guillaume-Hyacinthe Bougeant (1690–1743; La Femme docteur, ou la Théologie tombée en quenouille , 1731) nimmt die Gottschedin Pietisten unterschiedlicher Couleur auf‘s Korn, verspottet mit deren hochtrabend und rätselhaft betitelten Büchern geheuchelte Frömmigkeit sowie nur schlecht kaschierte Habgier und Wollust. Die Pietisterey ist das Musterbeispiel einer sogenannten sächsischen Typenkomödie, die durch Übertreibung und Verspotten einer Unart, in diesem Falle der geheuchelten Frömmigkeit, tugendhaft-vernünftiges Denken und Handeln zu formulieren und einzuüben unternimmt.
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Erste Handlung. Erster Auftritt. Jungfer Luischen, Catherine. JL: Cathrine! C: Jungfer Luischen! JL: Was ist das wieder vor ein Pack Bücher, was du da versteckst? C: [2] Ach! frage sie nur nicht; sie wird’s schon zeitig genug erfahren. JL: Wie? ists schon wieder eine solche verzweifelte Scarteque84, die die Mama mir immer zu lesen gibt? C: Ja, ja! Das wäre mir eine rechte Scarteque! Nein, meine liebe Jungfer Luisgen! es ist ein schönes grosses Werck in Octav85, wenn sie es wissen will: Und dancke sie noch dem Autor, daß er, wie es scheint, des Lügens müde geworden ist; sonst wäre wahrhafftig ein guter Foliante86 darauß geworden. Lese sie nur den Titul: Fußstapfen der Wunder GOttes im Hällischen Wäysen-Haus.87 Ist das nicht lustig? JL: Ach Cathrine! ich ärgere mich fast zu Tode. C: Ja, ja! ich glaube es wohl, daß sie lieber einen Roman oder eine Comedie läse; aber ihre Mama versteht das Ding besser: Hübsche Hertzens-Catechismi88; ein Heiliger oder ein Vieh;89 Hoburgs unbekannter Christus;90 Freylinghausens Grundlegung,91 das, das gehört zur Erziehung eines Mädgens, welches in der Welt sein Glücke machen soll! 84 85
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Altes, inhaltlich wertloses Schriftstück. Altes Schreibheft- oder Buchformat, bei welchem ein Papierbogen dreimal gefaltet und somit in acht Blätter – daher die Abkürzung 8° – gebrochen wurde (ergibt 16 Seiten). Folio ist ein Buchformat, bei dem sich die Größe der Seite dadurch ergibt, dass der ursprüngliche Papierbogen, der den Maßen des traditionellen römischen Pergamentbogens entspricht, nur einmal gefaltet ist (Folium). Es hat oft ungefähr die Größe eines DIN-A3-Blattes (ganz grob ca. 29–40 cm). S. Anm. 76. Erstausgabe Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760): Herzens-Catechismus [...]. Tübingen: Sigmund 1720. Erstausgabe Richard Baxter: Ein Heiliger oder ein Vieh: Das ist eine Verhandlung des elendigen Standes derer ohne Gott und Heiligkeit lebenden Menschen [...]. Hanau: Carl Scheffer 1685. Erstausgabe Christian Hoburg (1607–1675): Der unbekannte Christus. Das ist: Gründlicher Beweiß, daß die heutige so genannte Christenheit in allen Secten den wahren Christum nicht recht kennen und derowegen in Lügen und nicht Wahrheit sich nach Ihm Christen nennen. Amsterdam: Jacob van Velsen 1669. Erstausgabe Johann Anastasius Freylinghausen: Grundlegung der Theologie [...]. Halle/Saale: Waisenhaus 1703.
20.11 [Gottsched:] Der Pietismus auf dem Theater
JL: Schweige doch nur! C: Ich weiß wohl, dass sie schon seit zwey Jahren [3] an den Herrn Liebmann versprochen ist; und daß die Vollziehung der Heyrath nur auf die Mama ankömmt: Allein, meynt sie, dass die Frau Glaubeleichtin sie einem Manne geben werde, ehe sie recht Doctormäßig, und in der Lehre vom wahren innern Christenthume des Hertzens recht befestigt ist? Nicht so, nicht so! Ich wette, dass sie noch nicht einmal weiß, was Christus in uns, und die Salbung samt dem Durchbruche sey? JL: Zum Hencker! Wozu soll ichs den wissen? C: Wie? und sie will heyrathen? Pfuy Jungfer Luisgen! JL: Ach! ich bitte dich, stehe doch nur der Mama nicht bey. Ist wohl ein unglücklichers und närrischer erzogenes Mädgen in der Welt, als ich? Meine Mutter, welche selbst nicht mehr weiß, was sie in der Welt für eine Figur machen soll, hat sich die närrischen Grillen der Pietisterey in dem Kopf gesetzt. Was hat sie nicht für einen Character! wie hartnäckigt und eigensinnig ist sie nicht, bey aller ihrer scheinbaren Gelindigkeit! C: Gelindigkeit? Ja! man verlasse sich nur darauf! [4] JL: Zwey Jahre bin ich schon dem Herrn Liebmann verlobt; gleichwol habe ich kaum die Erlaubniß ihn zu sprechen. Ich sehe niemanden, als allerley Arten von Heuchlern, Candidaten, Magisters, und lächerliche Beth=Schwestern. Zu Hause schwatzt man von lauter Orthodoxen und Ketzermachern; gehe ich auß, so muß ich eben wieder solch Zeug anhören. Du weist, daß ich der Mama zu gefallen Speners Predigten von der Wiedergeburt,92 und so viel anderes Zeug, gantz auswendig gelernet habe. Ich habe mich bisher gestellt, als wenn ich mit ihr einer Meynung wäre; damit ich sie nur gewinnen möche: Aber nun bin ichs auch überdrüßig. Ich kanns nicht länger aushalten! Und wo mein Vater nach seiner langen Abwesenheit nicht bald wieder kömt, und allen diesen Verwirrungen ein Ende macht; so === C: O ja doch! Sie ist gewiß von den Leuten, die was rechts unternehmen. Sie hat ja nicht in das Hertze der Mama ein Wort zu sagen.
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Philipp Jakob Spener: Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt, dero Ursa chen, Mittel, Art, Pflichten, Würden, Kennzeichen und übrigen dahin gehörigen Materien aus unterschiedlichen Texten heiliger Schrift in sechs und sechzig Wochen-Predigten [...]. Frankfurt/Main: Johann David Zunners Erben u. Johann Adam Jung 1715.
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JL: Es ist wahr! Aber nun habe ich mir es vorgesetzt: Ich will nicht länger heucheln! Ich will ihr meine Meynung sagen, und wanns noch heute wäre.
Literatur : Bettina Bannasch: Von Menschen und Meerkatzen. Luise Adelgunde Victorie Gottscheds „Pietisterey im Fischbein Rocke“. In: PuN 35, 2009, 253–269. – Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Hg. v. Gabriele Ball. Wiesbaden 2006.
20.12 Ausführliche Historische Nachricht: Bekehrungswut, Betunsinn und Frömmigkeitsschauspielerei am Halleschen Waisenhaus (1743) Ausführliche Historische und Theologische Nachricht von der Herrenhuthischen Brüderschafft, wie solche Einige Jahre daher in der Ober= Lausitz überhand nehmen und sich von dannen durch gantz Deutschland, Schweitz, Holland, Dännemarck, Liefland, Pensylvanien, besonders aber unter den Normännern, Lappländern, Mohren und Hottentotten etc. ausbreiten wollen, Durch eine nach Herrnhuth angestellte Reise persönlich betrachtet und geprüfet, Nunmehro aber mit einer Fortsetzung bis auf gegenwärtige Zeiten zum zweyten mahl ans Licht gestellet von Einem Liebhaber der reinen Gottseligkeit, der zum Wahlspruch hatt Prüfet alles, und das Gute behaltet. 1. Thess. 5, 21. Frankfurt/ Main [ohne Verlagsangabe] 1743, 247–254. Der hier abgedruckte Ausschnitt aus der Ausführlichen Historischen und Theologischen Nachricht berichtet in einer langen Anmerkung über das Treiben im Halleschen Waisenhaus während einer Bet- und Singestunde unter dem Direktorat und den Augen von Gotthilf August Francke (1696–1769). Am Gebaren der Teilnehmer entdeckt der anonyme Augenzeuge vielfach und vielgestaltig Heuchelei von Frömmigkeit, die nach seiner nüchternen Einschätzung aus rein strategischen Gründen erfolgt: Die Frömmigkeitssimulanten versuchen, sich für das Pfarramt oder eine Stellung an der Universität zu empfehlen. Auch die Bekehrungswut und das freie, für etwaige Zuhörer wohl oft wirre Beten der Halleschen Pietisten werden kritisch in den Blick genommen. Auch
20.12 Bekehrungswut ... am Halleschen Waisenhaus
dieser Text wiederholt und variiert die mit Beginn des Pietismus eingeführten Vorwürfe der Heuchelei und der exaltierten Frömmigkeit. Die im Titel geführten Herrnhuter treten in dieser Anmerkung aus dem 12. Kapitel nicht in Erscheinung.
Es ist auch an dem, dass jetziger Herr Professor Francke93 mit seinem importunen94 Wesen dasjenige nicht ausrichtet, was sein Herr Vater mit seinen liebreichen und angenehmen Vorstellungen zu Wege bracht, auch werden besonders zu unsern Zeiten in Halle viel Heuchler gezogen, indem Herr Francke immer schreyet: Ihr Leute, nehmet doch unser Gutes an, es soll euer Schade nicht seyn, und diejenigen die sich nicht in die Hällische Mode schicken, [248] auf das ärgste anfähret, und mit despotischen Worten herunter machet. Doch ist die Haupt=Ursache der grossen Feindschafft, dass sich die Herren Hallenser immer besser lernen in acht nehmen, daher sie auch dem Herrn Grafen95 nicht verstatten wollen, in ihren Waysen=Hause Conventicula zu halten, Brüderschafft aufzurichten und Schwestern hinein zu führen, wie er vor wenig Jahren thun wollen. Sie thun auch hieran sehr wohl, wenn sie nur sonst noch andere wunderliche Dinge abschafften, sintemahl sie von ihren Studiosis immer noch den Terminum Conversionis96 fordern, und mit den gemeinschafftlichen Gebeten im Waysen=Hause, in Gegenwart derer Inspectoren, entsetzliche Heucheley erwecken. Weil die umständliche Erzehlung der Conversion, und die erlangte Fertigkeit ein Gebet mit eigenen Worten zu verrichten, welches ich nicht weiß, ob es mehr ein Hirn= oder Hertzens=Gebet zu nennen sey, die zwey Haupt=Requisita eines Hällischen Studiosi ausmachen, so werde nicht unrecht thun, wenn von beyden Stücken noch insbesondere etwas bey dieser Gelegenheit melde. So bald einer in Halle als Studiosus anlangt, so wird er gleich gefragt: […], [249] ob er wisse, dass er bekehret sey oder nicht? Wenn er nun antwortet, wie er gewiß glaube, dass er bey Gott in Gnaden stehe, auch einen ernstlichen Abscheu vor allen wissentlichen und vorsetzlichen 93
Gotthilf August Francke (1696–1769}, Nachfolger seines Vaters im Amt des Direktors der Glauchaschen Anstalten. 94 Ungeeignet. 95 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760), der von 1710 bis 1716 das Pädagogium Regium der Glauchaschen Anstalten besuchte. 96 Zeitpunkt der Bekehrung.
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Sünden habe, so wird er weiter gefragt, ob er auch die Zeit und das Punctum seiner Bekehrung wisse, da sein Hertz gantz und gar wäre verändert worden? wenn derselbe nun antwortet, dass er zu gewisser Zeit gantz besonders von der Wahrheit des göttlichen Wortes sey überzeuget worden, also, dass er sein sündlich Elend erkannt, dasselbe bereuet, und in dem Blute Christi die Vergebung seiner Sünden gesuchet, so wird er noch weiter befragt, ob er auch den rechten Buß=Kampff ausge= [250] standen, da ein Mensch anfange an allen zu verzweiffeln, und in eine recht selige Desperation hinein gerathe, da ihm nicht anders zumuthe sey, als wenn er schon in den Rachen der Hölle liege, und keine Hülffe vor ihn weiter übrig sey; denn einen solchen Kampff müsten alle Kinder Gottes ausstehn, sie müsten ringen, durchbrechen, eindringen, und zum göttlichen Leben recht schmertzlich ausgebohren werden, da müste ein recht gewaltiger Durchbruch vorgehn, wie in ihrem Gesangbuche stehe: Brich der Natur Gewalt entzwey, und mach mich von ihr selbsten frey .97 Wenn nun einer saget, er könne nicht leugnen daß ihm seine Sünden zu gewisser Zeit recht schmertzlich leid gewesen, indem er doch einen so gütigen Gott beleidiget, so wird er doch endlich wieder angehalten zu sagen: Wenn eine solche Reue in seinem Hertzen entstanden, und ob sie auch durch das Wort eines solchen Lehrers sey gewürcket worden, der von Halle ausgegangen? wenn dieses nicht ist, so ist seine Busse wiederum verdächtig, und wird ihm auf keine Weise geglaubet. [… ] [253] Was den andern Punct, nehmlich das heuchlerische Gebet anlangt, welches in dem Waysenhause gleichfalls in Schwange gehet, so verhält es sich damit also: Ob wohl einige, wie jetzo gemeldet, dem Herrn Francken einfältig nachgehen, und sich seinem Worte und Methode in der Bekehrung unterwerffen, so giebt es doch viele, ja den grösten Theil, die nur aus Heucheley mit machen, was jene aus Einfalt begehen, sie fallen in denen angestellten Bet= und Bekehrungs=Stunden auch mit auf ihre Knie, thun als wenn es ihnen ein rechter Ernst wäre, beten und schreyen wohl noch hefftiger und beweglicher als die vorigen, daß man meynen sollte, er wäre mit diesen Leuten schon halb, wo nicht gar herum. Inzwi97
Aus dem Lied: HIer legt mein Sinn sich vor dir nieder . In: Christian Friedrich Richter: Erbauliche Betrachtungen vom Ursprung und Adel der Seelen […]. Halle/Saale: Christoph Andreas Zeitler 1718, 377. Dort heißt es: „Brich der Natur Gewalt entzwey / Und mache meinen Willen frey.“
20.13 [Pontoppidan:] Keine wahren Christen in Halle
schen wissen sie den Schalck so meisterlich in ihren Hertzen zu verbergen, daß, ob sie wohl zur Zeit nur äusserliche Vortheile suchen, nemlich die Sustentation98 auf der Academie, und nach vollbrachten Universitäts=Jahren Recommendation99 ins Amt oder auch nur in Condition100, weil ersteres gar selten geschehen kann, man es ihnen doch nicht anmercket, sondern wohl in den Augen derer Inspectoren vor die besten gehalten werden. Ihr Kopff, weil alles affectirt ist, hanget weit tieffer als [254] der andern ihre Seuffzer fliegen, weit höher als derer vorigen, und ihr Gang ist weit seltsamer als der andern. Gewiß wer mit Verstand und Klugheit in die gantzen Anstalten hinein schauet, wird solche Dinge darinnen gewahr werden, die zwar höchst seltsam und wunderlich anzusehn, aber zu practiciren fast bedencklich, wo nicht gar gefährlich sind.
20.13 [Erik Pontoppidan:] Auch in Halle im Jahr 1730 gibt es keine wahren Christen und Pietisten mehr (dän. Orig. 1741/42, dt. Übersetzung 1747) MENOZA, Ein Asiatischer Printz, welcher die Welt umher gezogen Christen zu suchen, Besonders in Indien, Hispanien, Italien, Franckreich, Engelland, Holland, Teutschland und Dännemarck, Aber des Gesuchten wenig gefunden. Eine Schrift, welche die untriegliche Gründe der natürlichen sowohl als der geoffenbahrten Religion deutlich darstellet, und wider die Abwege derer meisten Christen im Glauben und Leben treulich warnet. Aus dem Dänischen übersetzt. Teil 3. Kopenhagen: Waisenhaus / Gottmann Friedrich Kiesel 1747, 712, 715f. Der dänische Theologe Erik Pontoppidan kämpfte gegen den im Zeitalter der Aufklärung aufziehenden Unglauben ebenso, wie er gegen jedweden religiösen Obskurantismus zu Felde zog. Sein Reiseroman Menoza , der im Sinne von
98 Unterstützung, Versorgung. 99 Empfehlung. 100 Anstellung.
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Montesquieus (1689–1755) Lettres persanes (1721) die Perspektive umkehrt, lässt einen indischen Prinzen in Europa nach wahren und guten Christen suchen. Mit spitzer Feder greift Prinz Menoza die misslichen Glaubens- und Lebensverhältnisse sowie die mangelnde Praxis pietatis in Europa an. Neben Paris, London, Madrid und Lissabon sind Berlin, Wittenberg, Halle und Leipzig wichtige Anlaufstationen. Pontoppidans Roman hat mit anonymen umfangreichen Fortsetzungen und vor allem mit Jakob Michael Reinhold Lenz’ (1751–1792) Drama Der Neue Menoza eine vielstimmige Rezeption erfahren.
Januario 1730. begab ich mich von Leipzig nach Halle, einer Stadt, von der ich, bey Gelegenheit nurerwehnter Materie, viel hatte reden gehöret. Nach dem Begriffe, welchen man sich aus dem Gerüchte machen kann, vermuthete ich daselbst mehrere Zeichen des Christenthums zu finden, als ich nachhero würcklich fande. Wo Gottes Wort reichlich gelehret wird,101 da bessert es die, so einer Besserung statt geben und dieselbe annehmen wollen, die andern aber sincken so viel tieffer in die Finsterniß und Boßheit durch ein gerechtes Gericht Gottes hinab, und diejenigen, welche fortfahren, das Licht zu hassen, trachten mit verdoppelten Kräften sich dawider zu verschantzen. Die Sünde nimmt, nach den Worten Pauli, Ursach am Gesetz, und wird über die massen sündig.102 So geht’s in Halle und anderwerts. […] [715] Auf bemeldtem Waysenhause werden zu allgemeiner Erbauung zum öftern eine Bet=Stunde und Vermahnungs=Rede gehalten, da sich denn sowohl Fremde als die Hausgenossen einfinden können, und zwar geschiehet diß nicht ohne Befördrung der Andacht, wie solches auch des frommen Stifters, seel[igen] Prof[essors] Francks103, Augenmerck hiebey gewesen ist. Gleichwie aber die allerbesten Dinge, zufälliger Weise, was fremdes und verderbtes gebären können, so soll es auch, wie man sagt, hiermit gehen, dass nemlich junge Studenten, welche die Kinder unterrichten, wechselsweise, sonderlich in ihren Classen dergleichen Erbauungs= oder Ermunterungs=Reden, ohne einige Vorbereitung oder nur alleine aus der Fülle des Hertzens, so in andere Hertzen am besten dringen soll, halten. Allein was geschicht? Da viele derselben, welche aus der Fülle ihres Hertzens reden sollten, just zu diesem mahl eben keine grosse Fülle, sondern eher Mangel und ein leeres Hertz haben, so höret man nicht selten etwas 101 Vgl. Kol 3,17. 102 Vgl. Röm 7: „Der Mensch unter dem Gesetz“. 103 August Hermann Francke (1663–1727).
20.13 [Pontoppidan:] Keine wahren Christen in Halle
hervorbringen, das lieber möchte stecken bleiben, und wodurch aufs wenigste der Preiß der Göttlichen Wahrheit [716] bey solchen Zuhörern gemindert wird, die einer vernünftigen Prüfung eben nicht entsaget haben: Ein ander Uebel, so daraus entsteht, ist dieses, dass sothane gute Studenten, durch die ohne eintzige Ueberlegung gehaltene Reden, welche ihnen zugleich eine Uebung seyn sollen, sich nachgerade angewöhnen, einen andächtigen Mischmasch daher zu machen, oder mit devoten Minen hin und wieder, und doch immer einerley zu reden, ohne Grund, ohne Ordnung, ohne Weißheits=Saltz und ohne rechte Zueignung. Sind sie hierinnen erst einmahl zu einer Fertigkeit gelanget, so behalten und gebrauchen sie dieselbe, wann sie ein Prediger=Amt überkommen, in der gäntzlichen Einbildung, daß sie, als von Gott gelehret, und mit seinem Geist erfüllet, alles aus der Salbung reden, wenn schon in ihrem Vorbringen weder Saft noch Kraft, weder Grund noch einiges Gewichte zu spühren ist, ausgenommen was sie sich selbst etwan imaginiren.
Literatur: Daniel Cyranka: ,Blinde Flecken?‘ Das Verhältnis von Halle und Tranquebar im Spiegel von Pontoppidans Menoza-Roman. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Bd. 1. Tübingen 2005, 795–811. – Ders.: Der ,fromme Wilde‘ – Erik Pontoppidans Menoza-Roman. In: Projektionen – Imaginationen – Erfahrungen. Indienbilder der europäischen Literatur. Hg. v. Winfried Eckel. Remscheid 2008, 71–89.
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ANHANG
Chronologisches Quellenverzeichnis Jahr 1620
1621 1631
1653
1658
1670
Quelle Johann Arndt: Vier Bücher / Vom wahren Christenthumb / Heylsamer Busse / Hertzlicher Reu und Leyd über die Sünde und wahrem Glauben: Auch heiligem Leben und Wandel der rechten wahren Christen. Buch 1: LIBER SCRIPTURAE. Wie in einem wahren Christen Adam täglich sterben / Christus aber in ihm leben soll: Und wie er nach dem Bilde Gottes täglich erneuert werden / und in der neuen Geburt leben müssen. Magdeburg: Johann Francke [1610] 21620, Vorrede, A2r–B1r. → 1 Jakob Böhme: Das XII. Send-schreiben. An H. C. L. vom 10 Maji 1621. Siehe 1658. Johann Arndt: DE ANTIQUA PHILOSOPHIA: Et divina veterum Magorum Sapientia recuperanda, deque Vanitate Scientiarum et artium huius Seculi. Oratio [Rede über die antike Philosophie und die wiederzugewinnende göttliche Weisheit der alten Magier und die Nichtigkeit der Wissenschaften und Künste dieses Jahrhunderts.] [1580/81] 1631 (HAB Wolfenbüttel, cod. Guelf. 912 Novi 4°, 1r–27v). → 17 Vavasor Powel: SPIRITUALL EXPERIENCES, Of sundry BELEEVERS. Held forth by them at severall solemne meetings, and Conferences to that end. With the recommendation of the sound, spiritual, and savoury worth of them, to the sober and spirituall Reader, by Vavasor Powel , Minister of the Gospel. London: Robert Ibbitson [1651/52] 21653, 87–93. → 9 Jakob Böhme: Das XII. Send-schreiben. An H. C. L. vom 10 Maji 1621. In: I. B. T.: THEOSOPHISCHE Send-Schreibens. Amsterdam: Heinrich Betke 1658, 118–155, hier 119–121. → 5 Theodor Undereyck: Christi BRAUT / Unter den Töchtern zu Laodicaea / Das ist / Ein hochnötiger Tractat / In diesen letzten Tagen. Darinnen Die lebendige Krafft deß seeligmachenden Glaubens von allen Schmach=Reden der in dieser Zeit Christ=scheinender Spötter / nicht nur auß H. Schrifft; sondern auch auß gleichlautenden Zeugnüssen der darinn gottseelig erfahrnen und von GOtt gelehrten Männern gereiniget und verthädiget wird. In Drey Theil: Deren Der I. die unfehlbaren Kennzeichen Der II. die verschiedenen Hindernüssen Der III. die darzu nöthige Mittel in sich ver fast. Von Theodor UnderEyck / Predigern zu Cassel. Perkins Tom. I. über die I. Epist. Joh. Es ist der allergrösseste Gewissens=Fall / der jemahls kann
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Anhang
fürgestellet werden / woran der Mensch erkennen sol / daß er ein Kind Gottes sey. Hanau: Johann Ingebrand 1670, Widmungsvorrede vom 6. Dezember 1669, )(iijv–)(vir; Teil 1, 40–42; Teil 2, 34 f.; Teil 3, 79–82, 108 f., 280–282. → 1, 2, 8 1670 [Verbot absonderlicher Versammlungen in Privathäusern durch die Klevische Provinzialsynode. Emmerich 3.–5. Juni 1670.] Siehe 1979. 1674 [Von der Generalsynode von Jülich, Kleve, Berg und Mark 1674 beschlossene Regeln für Zusammenkünfte der Gottseligkeit.] Siehe 1966. 1676 Philipp Jakob Spener: PIA DESIDERIA: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen […]; Sampt angehengten Zweyer Christlichen Theologorum darüber gestellten / und zu mehrer aufferbauung höchst=dienlichen bedencken. Frankfurt/Main: Johann David Zunner [1675] 1676, 1–3, 8–13, 35–38, 72–76, 81, 83 f., 90 f., 94– 101, 97–99, 103–107, 109, 113–124, 126 f., 144, 147–154. → 1, 2, 3, 4, 6, 17 1677 [Erklärung Joachim Neanders vor dem Düsseldorfer Presbyterium vom 17. Februar 1677]. Siehe 1852. 1677 Johann Jakob Schütz: Brief an Cornelius Hase, Frankfurt/Main, 10./20. März 1677. Siehe 2008. 1677 Johann Jakob Schütz: Christliche Lebens=Reguln / Oder vielmehr Außerlesene Sprüche auß dem N. Testament / deren Buchstäblicher Inhalt / ohne ferneres verkünstelen / Den gewissen Weg zu dem einigen höchsten Gut/ und das rechte Wesen der Tugenden einfältig / doch gründlich zeiget: Also / daß alle heylbegierige Seelen / und jede absonderlich hierinnen finden mag / was sie gegen GOTT / gegen sich selbsten / und gegen alle Menschen / in allerley Stand und Begebenheit zu thun und zu lassen schuldig sind. Unter gewisse Überschrifften zusammen getragen [...]. Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1677, 494 f., 524 f. → 8 1677 Philipp Jakob Spener: Einfältige Erklärung Der Christlichen Lehr / Nach der Ordnung deß kleinen Catechismi deß theuren Manns GOttes LUTHERI. In Fragen und Antwort verfasset / Und mit nöthigen Zeugnüssen der Schrifft bewehret […]. Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1677, Vorrede, b2v–b5v. → 7 1677 Philipp Jakob Spener: Das Geistliche Priesterthum Auß Göttlichem Wort Kürtzlich beschrieben / und mit einstimmenden Zeugnüssen Gottseliger Lehrer bekräfftiget […]. Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1677, 63–66, 89–91. → 10 1677/78 Philipp Jakob Spener: Allerhand einwürffe beantwortet / den Auctorem und seine lehr betreffend [1677/78]. Siehe 1711.
Chronologisches Quellenverzeichnis
1678
1680
1680
1680
1680
1680
1683
1684
Philipp Ludwig Hanneken: Hebdomas Disputationum De Necessitate Doctrinae Christianae, Profane negata, imprudenter asserta, & infallibiliter demonstrata, Pro agnoscenda una veraque Religione. Cum Dedicatione ad Serenissimos Hassiae Landgravios, De nova praxi pietatis. Cum consensu Superiorum & approbatione Facult. Theologicae. Gießen [Mai] 1678, Widmungvorrede vom 15. März 1678 an die darmstädtischen Landgrafen, Bl. )(1r–)()(3v. → 17 Joachim Neander: A & Ω. JOACHIMI NEANDRI Glaub= und Liebes= übung: Auffgemuntert durch Einfältige Bundes=Lieder und Danck= Psalmen: Neugesetzet Nach bekant= und unbekandte Sang=Weisen: Gegründet Auff dem / zwischen GOTT und dem Sünder im Bluht Jesu befestigtem Friedens=Schluß: Zu lesen und zu singen auff Reisen / zu Hauß bey Christen=Ergetzungen im Grünen / durch ein geheiligtes Hertzens=Halleluja! Cant. II. 14. Meine Taube / in den Felßlöchern / in dem Verborgenen der Steinritzen / laß mich hören deine Stimme. Bremen: Hermann Brauer 1680. Siehe 2002. Philipp Jakob Spener: Die allgemeine Gottesgelehrtheit aller glaubigen Christen und rechtschaffenen Theologen. Auß Gottes wort erwiesen / mit den zeugnüssen vornehmer alter und neuer reiner Kirchen=Lehrer bestätiget / Und Der so genannten THEOSOPHIAE HORBIO-SPENERIANAE, Zur gründlichen verantwortung entgegen gesetzt. Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1680, 138–140. → 17 Philipp Jakob Spener: Über den zweyten Theil des Christ=Festl. Evangelii / von denen Cometen. Luc. II, 8–14 [1680]. Siehe 1716. Philipp Jakob Spener: Die vereinigung Christi mit seiner Kirche und jeglicher glaubigen Seele: Auß den worten des Hocherleuchten Apostels Pauli Ephes. V,32 [...]. Bey gelegenheit der Ehelichen Trauung Des Hoch=Ehrwürdigen / Großachtbaren und Hochgelehrten Herrn Joh. Wilhelm Petersen [...], Und Der Reichs= Frey= Hoch=Edelgebohrnen / Viel=Ehren= und Tugendreichsten Jungfrauen Johannae Eleonorae Von und Zu Merlau [...]. Frankfurt/Main: Johann David Zunner 1680, 9–11. → 11 Philipp Jakob Spener: Von einigen vorschlägen der besserung / sonderlich in erziehung der kinder. Catechismus=examina. Confirmation. Ob gnug / an der jugend zu arbeiten? Ob die reformation ohne die obrigkeit anzustellen? Gefahr von dem Pabstthum. Siehe 1708. Philipp Jakob Spener: Von der gebühr christlicher eheleute unter einander / in gebrauch der ehe: da unterschiedliches aus 1. Cor. 7. erklährt wird. Siehe 1701. Johann Jakob Schütz: Abdruck eines DISCURSES über die Frage: Ob die Außerwehlte verpflichtet seyen / sich nothwendig zu einer heutigen gro-
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ssen Gemeinde und Religion insonderheit zu bekennen und zu halten? Item / von der sichtbaren Kirche / und Liebe der Brüderschafft / oder brüderlichen Liebe. Nur zur Communication der Kinder Gottes. I. Johan. 3. Vers. 1. 13. 14. Verwundert euch nicht / meine Brüder / ob euch die Welt hasset / wir wissen daß wir Gottes Kinder heissen / und aus dem Tod in das Leben übergetretten sind / denn wir lieben die Brüder: Darumb kennet euch die Welt nicht / denn sie kennet den Vatter nicht. Frankfurt/Main [u. a.]: Andreas Luppius [1684], 3–6, 8, 43–46. → 2 Johann Wilhelm Petersen: I. N. JESU! Spruch=Catechismus / Aus dem Catechismo des sel. Lutheri in Fragen vorgestellet / Die mit den unmittelbahren Sprüchen Der heiligen Schrifft beantwortet werden […]. Ploen: Tobias Schmidt 1685, Vorrede, )o()o(iiir/v, viv–