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German Pages 432 Year 2014
Marina Ortrud M. Hertrampf Photographie und Roman
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machina | Band 3
Editorial Das lateinische Wort »machina« bedeutet – wie seine romanischen Entsprechungen – nicht nur Maschine, sondern auch List, bezeichnet zugleich den menschlichen Kunstgriff und das technische Artefakt. Die mit diesem Wort überschriebene Reihe versammelt Studien zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft in technik- und kulturanthropologischer Perspektive. Die darin erscheinenden Monographien, Sammelbände und Editionen lassen sich von der Annahme leiten, dass literarische, theatralische, filmische oder andere mediale Produktionen nur mit gleichzeitiger Rücksicht auf ihre materielle Gestalt und ihren kulturellen Gebrauch angemessen zu beschreiben sind. Die Reihe wird herausgegeben von Irene Albers, Sabine Friedrich, Jochen Mecke und Wolfram Nitsch.
Marina Ortrud M. Hertrampf (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Regensburg.
Marina Ortrud M. Hertrampf
Photographie und Roman Analyse – Form – Funktion Intermedialität im Spannungsfeld von nouveau roman und postmoderner Ästhetik im Werk von Patrick Deville
Zugl.: Regensburg, Univ., Diss., 2009 Die Arbeit wurde im Jahr 2009 von der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Gedruckt mit Unterstützung des Finanziellen Anreizsystems zur Förderung der Gleichstellung der Universität Regensburg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Marina Ortrud M. Hertrampf Lektorat: Marina Ortrud M. Hertrampf Satz: Marina Ortrud M. Hertrampf Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1718-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Danksagung | 9 Abkürzungsverzeichnis | 11
E INFÜHRUNG 1. Themenvorstellung | 17
1.1 Problemstellung und Zielsetzung | 17 1.2 Das Problem der Abgrenzung: Filmisches und photographisches Schreiben | 22 2. Zum Stand der Forschung. Eine Momentaufnahme | 25 2.1 Intermedialität im Spiegel der Forschung | 25 2.2 Photographie und Literatur als Forschungsthema | 34 3. Patrick Deville. Textauswahl und Verortung in der französischen Gegenwartsliteratur | 47 4. Aufbau der Arbeit und methodische Vorgehensweise | 59
E RSTER TEIL THEORETISCHE GRUNDLAGEN FÜR EIN ANALYSESYSTEM PHOTOGRAPHISCHEN S CHREIBENS 1. Die Photographie. Mediale und theoretische Voraussetzungen | 65
1.1 Eine kurze Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte | 66 1.2 „Vom Wechselbalg zum Lieblingskind“: Ein Medium zwischen Kunst und Konsum | 78 1.3 Das janusköpfige Medium: Theoretische Überlegungen zum Wesen der Photographie bei Benjamin, Bazin und Kracauer | 86 1.4 Zeichentheoretische Annäherungen: Das Paradoxon der Photographie in der Semiotik | 91 1.5 Die Entdeckung des Photographischen: Neuere Ansätze der Phototheorie | 101 1.6 Die (Analog-)Photographie im Spektrum der visuellen Medien | 108
2. Photographie und Literatur. Mediale, semiotische und kognitive Gemeinsamkeiten und Unterschiede | 113
2.1 Photographische und sprachliche Visualität: Medialitätsmerkmale von Photographie und Literatur | 113 2.2 Die Unmöglichkeit mimetisch-objektiven Abbildens und Vermittelns in Photographie und Literatur | 117 2.3 Das Wechselspiel von Wahrnehmung und Vorstellung in Photographie und Literatur | 130 2.4 Die Raum-Zeit-Dimension | 139 3. Folgerungen für einen Ansatz photographischer Schreibweise | 155
ZWEITER TEIL DIE PHOTOGRAPHISCHE S CHREIBWEISE: EIN KLASSIFIKATIONS - UND ANALYSEMODELL 1. Definitorische Überlegungen. Das Spektrum der photographischen Schreibweise | 161 2. Die monomediale photographische Schreibweise | 165
2.1 Geltungsbereich und Begriffsbestimmung monomedialer photographischer Schreibweise | 165 2.2 Der Allgemeinheits- und Direktheitsgrad der Referenz | 170 2.3 Ästhetische Strukturtiefe und Reichweite: Erwähnung und Systeminterferenz | 172 2.4 Die Systeminterferenz | 174 2.5 Die Erwähnung | 176 2.6 Deutlichkeit und Markierung photographischer Bezüge | 183 2.7 Allgemeine Grundfunktionen monomedialer photographischer Schreibweise | 194 3. Die bimediale photographische Schreibweise | 199
3.1 Terminologische Schwierigkeiten und Abgrenzung des Geltungsbereichs | 200 3.2 Analysebereiche der kombinatorischen photographischen Schreibweise | 206 3.3 Typologiemodell von Photo-Text-Beziehungen | 213
DRITTER TEIL P HOTOGRAPHIE UND ROMAN BEI P ATRICK DEVILLE 1. Devilles „Photo-Minimalismus“: Photographie und Narration im Zeichen postmoderner Ästhetik | 223
1.1 Die (photo-)minimalistische Schreibweise als Vexierbild von Innovation und Konvention | 225 1.2 Vorbilder und Abbilder: Intermedialitätsstützende Markierung | 246 1.3 Photo-Motive | 263 1.4 Photographisch geprägtes Erinnern und Erzählen | 280 1.5 Photographizitätseffekte in Raum und Zeit: Fragmentierung und Fixierung | 290 1.6 Der photographische Blick | 302 1.7 Zusammenfassung | 317 2. Devilles metabiographische Dokufiktion: Photographie und Narration zwischen Fiktion und Faktion | 321
2.1 Devilles Wende: Der Versuch einer Standortbestimmung | 322 2.2 Photographie im Dienste metabiographischer Dokufiktion: Pura vida und Equatoria | 344 2.3 Photographische (Zeit-)Reisen mit dem Transcaucase express | 354 2.4 Bimediale Photo-Geschichte(n) in La tentation des armes à feu | 362 2.5 Photoliterarische Gedankenspiele | 377 2.6 Zusammenfassung | 380 Schlussbemerkungen | 383 Literaturverzeichnis | 389 Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis | 429
Danksagung
Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die 2009 von der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg angenommen worden ist. Die Arbeit wäre nicht ohne die Hilfe und Unterstützung zahlreicher Personen entstanden, die mich auf meinem nicht immer einfachen Weg auf vielfältige Weise begleitet und unterstützt haben. Ihnen allen und insbesondere meinen Eltern sei an dieser Stelle mein größter Dank ausgesprochen. Für kritische Anmerkungen, konstruktive Verbesserungsvorschläge und neue Denkanstöße danke ich – neben anderen – vor allem Prof. Dr. Christian von Tschilschke und Dr. Isabelle Bernard Rabadi. Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle auch bei Patrick Deville, der nicht nur bereit war, mir für zahlreiche Gespräche zur Verfügung zu stehen, sondern mich auch in meinem Unternehmen ermutigte. Herrn Prof. Dr. Hermann Wetzel danke ich für die Begutachtung der Arbeit. Last but not least gilt mein ganz spezieller Dank meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Jochen Mecke, der mir den entscheidenden Anstoß zur Behandlung des Themas gab und mir in allen Phasen meines Promotionsprojektes mit großem Engagement und Interesse zur Seite stand. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern.
Regensburg, im September 2011
Marina Ortrud M. Hetrampf
Abkürzungsverzeichnis
Patrick Deville CB Cordon-bleu LV Longue vue PP „Passe-passe“ FDA Le feu d’artifice NL „Nordland“ FP La femme parfaite LM „Le lazaret de Mindin“ CDL Ces deux-là TE Transcaucase express ACE „De l’autre côté de l’eau“ PV Pura vida. Vie et mort de William Walker ET „Esquina Tacón, km 37“ NAG „Nageuse!“ TAF La tentation des armes à feu C301 „Chambre 301, Pansion Čobanija, Sarajevo“ HDT „Les histoires dans le tapis“ EQ Equatoria VMT Vie et mort de sainte Tina l’exilée Alain Robbe-Grillet VOY Le voyeur PNR Pour un nouveau roman
Einführung
„Fotografie, die Mutter aller Dinge.“ (Flusser 1992) „C’est l’avènement de la Photographie – et non, comme on l’a dit, celui du cinéma, qui partage l’histoire du monde.“ (Barthes 1980: 136) „[D]ie Photographie […] ist heute die verbreitetste Sprache unserer Zivilisation.“ (Freund 1976: 231) „Durch Kreuzung oder Hybridisierung von Medien werden gewaltige neue Kräfte frei, ähnlich wie bei der Kern-Spaltung oder der Kern-Fusion.“ (McLuhan 1968a: 58)
1. Themenvorstellung
1.1 P ROBLEMSTELLUNG UND Z IELSETZUNG Wie verhalten sich Photographie und Roman zueinander? So die Ausgangsfrage vorliegender Studie, in deren Mittelpunkt die Untersuchung des Funktionsspektrums von Photographien und im weitesten Sinne als „photographisch“ zu bezeichnenden Darstellungstechniken bei der ästhetischen Gestaltung und Rezeption von literarischen Erzählungen steht. Es geht also in erster Linie um das Aufspüren, Beschreiben und Interpretieren von medialen Grenzüberschreitungen zwischen Photographie und (erzählender) Literatur, die in Form von materiell realisierten Photo-Text-Kombinationen sowie photographischen Diskursreferenzen1, strukturellen Analogien bzw. medialen Simulationen2 in Romanen manifest werden. Die vorliegende Arbeit fällt damit in den interdisziplinären Forschungsbereich „Literatur und Bildkunst“, genauer gesagt in das Forschungsgebiet der Intermedialität, wobei die Besonderheiten des hier vertretenen Ansatzes darin liegen, dass der Begriff ,Schreibweise‘ sehr offen als ästhetische Verfahrenweise zur Komposi-
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Gemeint ist hiermit die Bezugnahme auf unterschiedliche theoretische Ansätze und Positionen zur Bestimmung der Photographie, die sich seit ihren Anfängen herausgebildet haben. Obwohl der Begriff ,Simulation‘ in der aktuellen Medienwissenschaft ausschließlich zur Bezeichnung bestimmter digitalter Imitationsverfahren verwendet wird, erscheint seine Verwendung im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Studie mit einer anderen Bedeutungszuschreibung legitim. Damit wird der Terminus in vorliegender Untersuchung anders gebraucht als etwa bei Kittler (1993b), der den Begriff aus medienhistorischer Perspektive tatsächlich nur in Bezug auf audiovisuelle und datenverabeitende Medien verwendet wissen will. Die Bezeichnung ,Simulation‘ wird hier – in Anlehnung an Lösers Studie zu intermedialen Schreibverfahren (1999) – zur Benennung altermedialer Kodes im Sprachlichen den andernorts verwendeten Begriffen ,Imitation‘ und ,Realisierung‘ vorgezogen, da es sich bei den Phänomenen verdeckter Intermedialität ja gerade nicht um tatsächliche „Umsetzungen“ photographischer Elemente handelt. Weiter unten wird alternativ hierfür der Terminus ,(System-)Interferenz‘ eingeführt.
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tion künstlerischen Werkes verstanden wird und der Terminus ,photographische Schreibweise‘ zwei grundsätzliche Verständnisweisen des Begriffs ,Intermedialität‘ miteinander verbindet, um so der Spezifität des Zusammenspiels von Photographie und Text gerecht werden zu können: Zum einen wird dem deskriptiven Ansatz Rajewskys (2002) folgend Intermedialität als Hyperonym für erschließbare wie nachweisbare bzw. für verdeckte und manifeste Formen von Intermedialität verstanden und damit auch bimediale Phänomene erfasst. Zum anderen bezieht sich die photographische Schreibweise im Sinne von Paechs theoretischer Definition von Intermedialität als „Differenz-Form des Dazwischen“ (1998: 16) auf monomediale Photo-TextReferenzen. Angesichts der mittlerweile großen Fülle an Arbeiten zu Interrelationen von Text und (malerisch-graphischem, photographischem, filmischem oder digitalem) Bild erscheint die Frage nach der Notwendigkeit, diesem Themenbereich eine weitere Studie zu widmen, berechtigt. Zumindest auf den ersten Blick. Denn bei genauerer Betrachtung zeigt sich schnell, dass gerade auf dem Gebiet Photographie3 und Literatur nach wie vor ein gewisser Mangel an präzisen Begrifflichkeiten und terminologischen Differenzierungen besteht, während für die Wechselbeziehungen zwischen Film und literarischem Text im Gegensatz dazu bereits unterschiedliche systematisch strukturierte Beschreibungsmodelle und Analysekonzepte vorliegen. So besteht trotz der Vielzahl an Arbeiten, die sich mit dem Zusammenspiel von Photographie und Literatur beschäftigen, noch immer die Tendenz, den Begriff ,photographisches Schreiben/Erzählen‘ weitgehend unsystematisch und 3
Explizit sei darauf hingewiesen, dass generell ein relativ weiter Photographiebegriff vertreten wird, bei dem Photographie nicht als ein auf eine bestimmte bildzentrierte Einzelmedienontologie reduzierbares Medium verstanden wird, sondern vielmehr als umfassender Komplex im Sinne eines dynamischen Handlungsbereichs, der produktions- und rezeptionsästhetische sowie formalästhetische Prozesse und Aspekte umfasst. Wie Guilia Eggeling und Christian von Tschilschke gezeigt haben, erlaubt eine solche begriffliche Öffnung im Rahmen von Einzelanalysen, die Analysetücke der „metonymische[n] Falle“ (Tschilschke 1999: 208) zu umgehen (vgl. Eggeling 2003: 17, 23). Der im Zusammenhang mit dem Thema Photographie und Literatur ebenfalls häufig verwendete, diskursorientierte Begriff des ,Photographischen‘ richtet sich mehr oder weniger kritisch gegen deskriptiv-klassifikatorische Ansätze, die sich – wie der hier vorgestellte Ansatz – an der Intermedialitätsforschung orientieren und wurde maßgeblich durch Rosalind Krauss (1998a: 14; Herv. i. O.) geprägt und folgendermaßen definiert: „Das Photographische bezieht sich nicht auf die Photographie als Forschungsgegenstand, sondern postuliert ein theoretisches Objekt.“ Um eventuell entstehende Missverständnisse von vornherein zu vermeiden, sei schließlich noch hervorgehoben, dass es in vorliegender Arbeit primär um die Analogphotographie geht. Bezüge zur Digitalphotographie werden hingegen explizit kenntlich gemacht.
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mit einer gewissen definitorischen Unschärfe und Beliebigkeit zu verwenden.4 Es erscheint daher an der Zeit, die mehrdeutige wie vage und vielfach recht oberflächliche Redeweise von „der Photographie als einer literarischen Beschreibungstechnik“ (Fleck 1989), von „sprachlichen Photographien“ (ebd.) und dem photographischen Schreiben terminologisch zu profilieren, zu präzisieren und ein typologisch wie begrifflich differenziertes Instrumentarium zur systematischen Textanalyse zu entwickeln, mit Hilfe dessen photographische Elemente und Strukturen in der formal-medialen Gesamttextkonzeption sowie in der spachlich-stilistischen Gestaltung von Ausdruck und literarischer Darstellung „erhellt“5 werden können. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Fragen danach, inwieweit mediale und ästhetische Eigenschaften der Photographie einerseits und photographische „Diskursivierungen“6 andererseits die Produktion literarischer Texte beeinflussen, als konstitutive Bestandteile in die Sprach- und Textausgestaltung der Gesamtkomposition eingehen und als photographische Strukturelemente im Medium Sprache erkennbar werden können sowie danach, welchen Literarisierungsstrategien integrierte Photographien unterliegen und welche Wirkungen dadurch beim Rezeptionsprozess in Gang gesetzt werden. Zur Diskussion stehen ferner Fragestellungen, wie der Roman Photographie und photographische Strukturen zu nutzen vermag, wie narrative Werke formal mit dem Bildmedium umgehen können und welche photographischen Verfahren und Merkmale sich in den unterschiedlichen Struktur- und Textebenen eines Erzähltextes manifestieren können.
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Zuletzt machten Silke Horstkotte und Nancy Pedri (2008: 7) sowie Liliana Louvel (2008: 32) auf die Diskrepanz aufmerksam, die zwischen der Fülle an Publikationen zum Thema Photographie und Literatur einerseits und dem Fehlen umfassender Überblicksdarstellungen und systematischer Analysemethoden andererseits besteht. In ihrem häufig vage bleibenden Begriffsverständnis der photographischen Schreibweise erinnern viele Studien an die narratologisch wie medientheoretisch wenig ergiebige Verwendung des Terminus in Hervé Guiberts Sammlung literarischer Miniaturen L’image fantôme (1981: 73-77). Zu Oskar Walzels Werk Wechselseitige Erhellung der Künste (1917) siehe weiter unten. Der Begriff wurde von Irene Albers (2002a) übernommen, um damit die verschiedenen Diskurse über das Medium zu bezeichnen, die die Photographie durch die Geschichte hindurch begleiteten. Im Unterschied zu Albers’ Ansatz, dem es vornehmlich darum geht, „die diskursive und historisch wandelbare Konstitution von Konzepten des Photographischen“ (ebd.: 27) in Wechselbeziehung zu literarisch-poetologischen Diskursen zu setzen und zu analysieren, stellt die von Albers unter Rückgriff auf Jürgen Links Konzept des ,kulturellen Interdiskurses‘ so genannte „diskursive Intermedialität“ (ebd.: 28-29), in dem hier entwickelten Modell nicht den zentralen Untersuchungsaspekt dar. Zur Geschichte des Diskurses über die Photographie siehe Diekmann (2003).
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Die Tatsache, dass sich die vorliegende Studie auf narrative Prosatexte konzentriert, schließt die Verwendung von materiell mitgelieferten Photographien und photographischen Schreibweisen in nicht-narrativen und poetischen Texten natürlich keineswegs aus. Ganz im Gegenteil, Barthes (2003: 113-118) und Sontag (2006: 94) haben sogar auf die besondere Affinität lyrischer Kurzformen zum intensiven photographischen Sehen hingewiesen. Allerdings treten Wechselspiele von Photographie und lyrischen Texten in der französischen Gegenwartsliteratur vergleichsweise selten auf.7 Ausgangspunkt der hier auf die französische Prosaliteratur der letzten vierzig Jahre fokussierten Fragestellung ist die vielfach konstatierte Beobachtung, dass die postmoderne8 Literatur Frankreichs im Anschluss an die visuelle 7
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Für die zeitgenössische französische Dichtung sind an dieser Stelle vor allem Gérard Macé und Denis Roche zu nennen, die sich als selbst photographisch aktive Autoren in ihren essayistischen und lyrischen Arbeiten intensiv mit der Photographie beschäftigen. Roche ist ferner seit 1971 Herausgeber der Reihe „Fiction & Cie“ des Verlagshauses Seuil, Mitbegründer der Vierteljahresschrift Les Cahiers de la Photographie und schreibt seit 1984 regelmäßig in der Zeitschrift City über zeitgenössische Photographie. Während einige Autoren (z.B. Tschilschke 2000) den Terminus ,Postmoderne‘ wegen seines schillernden Charakters und der Vielheit z.T. definitorisch unscharfer Begriffsbestimmungen vermeiden und den Ausdruck ,Postavantgarde‘ benutzen, wird mit Jochen Mecke (2000a) an dem Begriff festgehalten. Dies beruht auf der Annahme, dass der von Ulrich Schulz-Buschhaus propagierte und vor allem in der deutschen Romanistik weit verbreitete Begriff der ,postavantgardistischen Ästhetik‘ (Gelz 1996: 2) vielmehr zur Bezeichnung der frühen Übergangsphase geeignet scheint und daher vorrangig zur Benennung der ästhetischen Neuorientierung von Autoren wie Julia Kristeva, Alain Robbe-Grillet oder Philippe Sollers greift. Eine weitere Begriffsalternative stellt Raymond Federmans Vorschlag des Ausdrucks ,surfiction‘ dar, der zur Bezeichnung zumindest eines Teils der zeitgenössischen Literatur, wie sie etwa in Patrick Devilles Texten anzutreffen ist, durchaus passend erscheint. Als ,surfiction‘ benennt er seinen in bewusster Analogie zum Terminus ,Surrealismus‘ gebildeten Begriff, um dadurch deutlich zu machen, dass die so bezeichnete Literaturform „nicht die Realität nachahmt, sondern […] die Fiktionalität der Wirklichkeit offenlegt.“ (Federman 1992: 62) Es handelt sich seiner Definition nach um eine Literatur, „die versucht, die Möglichkeiten der Literatur jenseits ihrer Grenzen auszuloten; jene Art von Literatur, die Traditionen in Frage stellt, von denen sie beherrscht wird; jene Art von Literatur, die ständig den Glauben an die Vorstellungskraft des Menschen wachhält, statt den Glauben an die verzerrte Sicht des Menschen auf die Realität; jene Art von Literatur, die die spielerische Irrationalität des Menschen offenbart statt seine selbstgewisse Rationalität.“ (Ebd.). Auf eine ausführlichere Problematisierung und Diskussion des in der Forschung nicht unumstrittenen Postmoderne-Begriffs muss im Rahmen dieser Studie verzichtet werden, verwiesen sei aber auf Amette (1989), Asholt (1994b), Berger/Moser (1994), Bertho (1991) und (1993), Federman (1992), Gontard (1998) und (2001), Grabes
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Poetik des nouveau roman in außergewöhnlich starker Weise durch intermediale, insbesondere filmische und photographische Schreibverfahren geprägt ist.9 Ohne bestreiten zu wollen, dass sich in einer Vielzahl von Texten eindeutig filmische Strukturelemente erkennen lassen, wird hier die These aufgestellt, dass neben filmischen Schreibweisen auch spezifisch photographische Schreibweisen existieren, die sich, trotz großer struktureller Nähe, von diesen abheben. Um Ausmaß, Funktion und Bedeutung dezidiert photographisch geprägten Erzählens erfassen und untersuchen zu können, bedarf es allerdings eines spezifischen Beschreibungsmodells, das dem Bezugsmedium in adäquater Weise gerecht wird. Ein weiteres Ziel der Studie liegt schließlich darin, das vielfältige Formenspektrum von photographischen Strukturen im französischen Gegenwartsroman exemplarisch am Werk Patrick Devilles aufzuzeigen und im Kontext zeitgenössischer Mediendiskurse zu interpretieren. Dabei wird die Auffassung vertreten, dass insbesondere die photographische Ausrichtung eine äußerst produktive und zugleich interessante Tendenz literarischen Schaffens der Gegenwart darstellt. Weiter wird angenommen, dass in vielen Erzähltexten der achtziger und neunziger Jahren eine enge Korrelation zwischen postmodernen Mediendiskursen und der literarischen/narrativen Funktionalisierung der Photographie als ästhetischer Schreibstrategie der Postmoderne besteht, und dass es in vielen Fällen gerade die im weitesten Sinne des Begriffs „photographischen“ Schreibweisen sind, die als einendes Element der von Heterogenität und Diversität gekennzeichneten Gegenwartsliteratur geltend gemacht werden können.10 Ferner wird die These vertreten, dass sich anhand der Ausprägungen unterschiedlicher Formen sowie der Verschiebung von Funktionsweisen photographischer Momente im literarischen Text Entwicklungslinien der Gegenwartsliteratur ablesen lassen. So wird argumentiert, dass die poetologische Abkehr von der Schule des (2004), Jencks (1990), Kibédi Varga (1990b), Lyotard (1979), Mecke (2000a), Rorty (1984), Zima (2001) sowie auf Œuvres et Critiques XXIII/1 (1998). 9 Vgl. z.B. Eggeling (2003) und Tschilschke (2000). Irmela Schneider (2008) bezeichnet die literarische Funktionalisierung unterschiedlicher Medien als eine „intermediale Kulturtechnik“ der Gegenwart. Mit Blick auf die aktuelle Literaturproduktion Frankreichs stellt Vray (2007: 193; Herv. i. O.) fest: „Des photographies, réelles ou fictives, interviennent in praesentia ou le plus souvent in absentia dans la narration de beaucoup d’œuvres contemporaines majeures. L’interrelation texte narratif-photographie, en référence à l’histoire, est très productive en littérature contemporaine.“ 10 Auf die herausragende Bedeutung der Photographie in der französischen Literatur der achtziger Jahre wies Robert Fleck in seinem Artikel „Kurz belichtet. Vom Photo zum Text“ bereits 1989 hin. Allerdings bildet sein Beitrag eher die Ausnahme, denn abgesehen von Studien zu Jean-Philippe Toussaint oder Hervé Guibert (siehe z.B Strom 1998) wurde dieser Aspekt in der Literaturkritik kaum weiterverfolgt.
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nouveau roman und der Neubeginn der französischen Narrativik vor dem Hintergrund veränderter Mediendiskurse vor allem auf dem Feld der intermedialen Schreibverfahren ausgetragen werden und sich Autoren wie Deville gerade durch die Art ihres literarischen Umgangs mit dem Medium Photographie von der Poetik des nouveau roman lösen. Die Untersuchung des Wechselspiels von Photographie und Roman in Devilles Werken wird zeigen, dass sich mittels einer konterkarierend-spielerischen Verzerrung der photographischen Schreibweisen des nouveau roman eine poetologische Distanzierung von diesem vollzieht, die dem Autor zugleich neue Wege zu einer völlig anderes gearteten Funktionalisierung der Photographie im literarischen Text eröffnet.
1.2 D AS P ROBLEM DER ABGRENZUNG : F ILMISCHES UND PHOTOGRAPHISCHES S CHREIBEN In unserer „Kultur der Einbildungen“ (Roloff 1993: 1; Herv. i. O.) ist die Aussage, dass wir in einer Welt der Bilder leben, längst zu einem „abgedroschenen“ Gemeinplatz geworden. Meist meint man dabei allerdings die Flut schnell bewegter Bilder, die aufgrund der unzähligen audiovisuellen Digitalmedien unseren Lebensalltag dominieren. Dennoch eignet gerade dem statischen Bild eine ganz spezifische Prägnanz:11 „Fotos sind ubiquitär, sie prägen aus, was Max Bense schon vor Jahrzehnten Plakatwelt genannt hat – man sieht sie, ohne es zu wollen. Gemälde und Filme dagegen muß man sehen wollen, man muß ja erst die Schwelle zum Museum oder Kino überschreiten.“ (Bolz 1996: 18) Als „Baustein für die Medien des 20. Jahrhunderts“ (Scheurer zit. nach Uka 2000: 221) war es ja gerade die Photographie, die die Entstehung filmischer Medien überhaupt erst ermöglichte.12 Daher „scheint es normal zu sein, eine Theorie des Films mit dem Nachdenken über die Eigenschaften des fotografischen Bildes zu beginnen.“ (Penley zit. nach Paech 1998: 19) Da das, was für die Theorie des Mediums gilt, im Grunde auch für die literaturwissenschaftliche Textanalyse gelten sollte, verwundert es, dass solche „Vorüberlegungen“ zur filmischen Schreibweise in Form eines Nachdenkens über die photographische Schreibweise lange nur vereinzelt und relativ unsystematisch angestellt wurden.13 Aus diesem Grund wird hier quasi rückwärts vorgegangen, um zu einem Modell photographischen Schreibens zu gelangen: Von den theoretischen Erkenntnissen
11 Susanne Blazejewski nimmt sogar eine „Dominanz des photographischen Bildes“ (2002: 13) an. 12 Dies betont auch McLuhan mit seinem berühmten Diktum, dass der „,Inhalt‘ jedes Mediums immer ein anderes Medium ist“ (1968a: 14; Herv. i. O.). 13 Wie beispielsweise bei Albersmeier (1992).
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zum filmischen Schreiben wird auf die Möglichkeiten des Schreibens in Bezug zu bzw. mit Photographien geschlossen und die methodologischen Konzepte des filmischen Schreibens14 bei der Entwicklung des Analyseinstrumentariums der photographischen Schreibweise nutzbar gemacht. Die mediale Nähe der beiden visuellen Medien und ihre Strukturverwandtschaften legen nahe, dass die Überlegungen zum photographischen Schreiben keineswegs ein Gegenmodell zu Konzepten des filmischen Schreibens darstellen. Der hier entwickelte Ansatz photographischen Schreibens versteht sich folglich als komplementär zu den Konzepten benachbarter Disziplinen, insbesondere zu den Analyseverfahren filmischen Schreibens, welche auf die Spezifika der Photographie adaptiert werden. Statt um Konkurrenz geht es hier folglich vielmehr um eine Fokusverschiebung und somit um eine Erweiterung narratologischer Theorien und Analyseinstrumentarien durch ein weiteres visuelles Medium unter Hervorhebung seiner medialen Besonderheiten. Wie im Weiteren noch zu zeigen sein wird, weist die Photographie eine Reihe von medialen Spezifika auf, die im Verlauf der Diskursgeschichte des Mediums von unterschiedlich großer Bedeutung waren und dementsprechend auch in unterschiedlicher Weise in literarischen Texten thematisiert und verarbeitet wurden und werden. Dies gilt etwa für das (funktionale) Spezifikum der Photographie, im Vergleich zum Film, durch sekundenschnelle bzw. dauerhafte Belichtung das – wie Benjamin (1977a: 50) sagt – für die menschliche Wahnehmung „Optisch-Unsichtbare“ zeigen zu können. Schließlich wird insbesondere in den Textanalysen dargelegt werden, inwiefern photographische Schreibverfahren in narratologischer Hinsicht im Allgemeinen sehr viel stärker als filmische Schreibweisen zum Beschreiben tendieren (Photographien bilden etwas ab, sie zeigen) und das im Gegensatz zum Film sehr viel eingeschränktere erzählerische Potenzial der Photographie (auch bei der medialen Übertragung) text- wie
14 Als Rekursfolien sind vornehmlich Helbig (1996), Schmelzer (2007) und Tschilschke (2000) zu nennen. Nach ausführlicher Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Ansätzen der Intertextualitätsforschung entwickelt Helbig (1996: 224) eine Analyse unterschiedlicher Formen der Markierung von Intertextualität. In seinem Schlusswort räumt er selbst ein, dass der Aspekt der Intermedialität zu geringe Aufmerksamkeit erfahren habe und er verweist auf die denkbare Übertragung seiner Markierungstheorie auf andere semiotische Systeme. Als möglichen Ausgangspunkt nennt er Heinrich Pletts Modellschema medialer Transformationsprozesse (vgl. Plett 1991: 20). Tschilschke entwickelt darauf aufbauend ein methodisch hervorragend fundiertes Modell des filmischen Schreibens, mit dem er unter anderem Devilles Roman Longue vue untersucht. Schmelzers Arbeit zum filmischen Schreiben bezieht Tschilschkes Instrumentarium in ihr Modell mit ein und vertieft, modifiziert bzw. ergänzt Einzelaspekte mit Hinblick auf ihr Analysekorpus.
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rezipientenseitig sehr viel stärker von Kontext und Kofunktionen abhängig ist.15 Einer der wesentlichsten medialen Unterschiede zwischen Photographie und Film, der die Vielfalt der Möglichkeiten literarischer Bezugnahme auf das jeweilige Medium bestimmt, liegt jedoch zweifelsohne in der Statik der Photographie: Denn die bimediale Konzeption des intermedialen Bezugs durch die materielle Integration der Photographie in den gedruckten Text (Medienkombination) differenziert das referenzielle Verhältnis zwischen Photographie und Text maßgeblich von dem zwischen Film und Text. Zwar ist auch der Film ein per se schon plurimediales Medium, der geschriebene (und gedruckte) Text kann allerdings immer nur monomedial – also rein sprachlich – auf den Film Bezug nehmen. Anders bei der Bezugnahme eines Textes auf ein Photo, denn dieses kann auch materiell in den Text integriert sein. Ferner unterscheidet sich die Kombination von Photo und Text auch medien- wie rezipientenseitig vom Film: Denn anders als beim Film, wo die beteiligten Medien innerhalb des Hybridwerkes in einem medialen Dazwischen aufgehen und auf habitualisierte Weise als narrative Einheit rezipiert werden, bleiben bei Photo-Text-Hybriden die Einzelmedien deutlich als solche bestehen; die beiden unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi fordern den lesenden Betrachter dabei dazu auf, die unterschiedlichen Beziehungen der Medien untereinander sowie die Gesamtkonstruktion als Ko-Autor mit Sinn zu erfüllen. Dennoch ist abschließend festzuhalten, dass es aufgrund (z.T. bewusst eingesetzter) medialer Konvergenzen allerdings immer wieder zu Überschneidungen kommt, so dass sich das Problem der Abgrenzung letztlich nicht vollständig auflösen lässt.16
15 Das Narrativitätspotenzial der Photographie ist Gegenstand zahlreicher Diskussionen (siehe hierzu auch 2. Teil, Kapitel 3.2.1). Insbesondere Baetens vertritt mit Nachdruck die These, dass die Photographie nicht per se über ein geringeres Fiktionalitäts- und Narrativitätspotenzial verfügt als beispielsweise der Film, jedoch, so argumentiert Baetens (2006a: 74), variiere dies sehr stark: „Une photographie vaut-elle mille films? Cela dépend du type de photographie, du type de lecteur et du type de contexte.“ 16 Hierauf verweist beispielsweise auch Wilken (2008: 181, 240-241). Die Tatsache der gerade in der Gegenwart beliebten motivischen und strukturellen Interreferenzbezüge zwischen Film und Photographie unterstreichen dies nur. Mit der Bedeutung der Photographie im Film beschäftigen sich auch diverse Einzelbeiträge in Becker/Korte (2011). Berücksichtigt man ferner, dass literarische Texte auch auf „photographische Filmverfahren“ und „filmische Photoverfahren“ rekurrieren können, so offenbart sich, dass eine saubere Grenzziehung im Grunde gar nicht möglich ist. Vgl. hierzu Barck (2006) und Diers (2006). Zum medialen Vergleich von Film und Photographie, insbesondere auch mit Hinblick auf die vielfältigen zwischenmedialen Überschneidungsbereiche, in denen die Konturen der Einzelmedialität verschwimmen, siehe auch 1. Teil, Kap. 1.6.
2. Zum Stand der Forschung Eine Momentaufnahme
2.1 I NTERMEDIALITÄT
IM
S PIEGEL
DER
F ORSCHUNG
Da in den letzten Jahrzehnten im Bereich Intermedialitätsforschung reiche Vorarbeit geleistet worden ist, genügt es im Rahmen dieser Studie, das Problemfeld Intermedialität in einer Art tour de force nur kurz zu präsentieren und einige der wichtigsten Erkenntnisse, Modelle und Entwicklungen skizzenhaft zu referieren, um das im Kontext der Untersuchung vertretene Intermedialitätsverständnis in der aktuellen Forschungslandschaft zu positionieren.1 Die Bezugnahme von literarischen Medien auf nicht-literarische bzw. nicht-sprachliche Medien ist zwar nicht erst in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts entstanden,2 doch interessierten sich Philologie und Literaturtheorie zunächst vornehmlich für intramediale, also intertextuelle Bezüge.3 Traditionelle Begriffe für Text-Text-Bezüge gehen bis in die Antike zurück, 1
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Ein detaillierter diachroner Abriss der Forschungsentwicklung bis hin zur neuesten Forschung erübrigt sich angesichts der Vielzahl einschlägiger Studien und Überblicksdarstellungen speziell zu dieser Thematik: Einen bis in das Jahr 1996 reichenden Bericht zum Stand der Forschung legt Mertens (2000) vor. Einen aktuelleren Forschungsüberblick liefern Hagen (2007), Meinhof/Smith (2000) und Rajewsky (2002). Speziell zur literaturwissenschaftlichen Intermedialitätsdiskussion siehe z.B. auch Lüdeke/Greber (2004). Der Sammelband von Paech/Schröter (2008) zeigt neueste Perspektiven und Fokussierungen im Bereich der Intermedialität auf. Zur historischen und konzeptionellen Entwicklung der Intermedialität sowie zu Intermedialitätsansätzen, insbesondere in der bildenden Kunst der sechziger Jahre siehe Schröter (1998) und (2002). Diachron betrachtet reicht das Spektrum der Diskussion von einem falsch verstandenen Horazischen ut pictura (ut) poesis (dt. ,wie die Malerei, so auch die Dichtung‘) über die „wechselseitige Erhellung der Künste“ eines Oskar Walzel und den gesamten Bereich der Komparatistik (Interart Studies) bis zur aktuellen Intermedialitätsforschung.
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bezogen sich doch nicht alle Texte allein auf die Wirklichkeit (imitatio vitae), sondern auch aufeinander (imitatio veterum). Die neuere Intertextualitätsdebatte kam im Zuge der Bachtin-Rezeption in den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts auf. Der Begriff der ,intertextualité‘ wurde 1967 von Julia Kristeva geprägt. Zwar bezieht sie sich auf Bachtins Konzept der Dialogizität, jedoch gebraucht sie dieses weniger in seiner intratextuellen und gesellschaftlich-ideologisch orientierten Ausrichtung,4 sondern vielmehr zur Erklärung der Theoreme von Jacques Derrida: „[…] tout texte se construit comme mosaїque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme double.“ (Kristeva 1969: 146; Herv. i. O.)5 Damit erfolgt eine radikale Erweiterung und gleichzeitige Entgrenzung des Textbegriffes:6 Im Sinne der allgemeinen Kultursemiotik des Poststrukturalismus (Barthes) und des Dekonstruktivismus (Derrida) wird jedes kulturelle Struktur- und Diskurssystem zum Text. Tzvetan Todorov radikalisierte Kristevas Intertextualitäts4 5
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Bachtin entwickelt sein Konzept der Polyphonie anhand rein literarischer Texte (vgl. die Darstellung bei Pfister 1985a: 1-7). Dazu erläutert sie etwas später: „Le terme d’inter-textualité désigne cette transposition d’un (ou de plusieurs) système(s) de signes en un autre; mais puisque ce terme a été souvent entendu dans le sens banal de ,critique de sources‘ d’un texte, nous lui préférons celui de transposition, qui a l’avantage de préciser que le passage d’un système signifiant à un autre exige une nouvelle articulation du thétique – de la positionalité énonciative et dénotative.“ (Kristeva 1974: 59-60; Herv. i. O.). Kristeva verwendet den Begriff ,Transposition‘ für den Übergang eines Zeichensystems in ein anderes. Im Gegensatz zu Gérard Genettes Verwendung und Untergliederung des Begriffs in Palimpsestes. La littérature au deuxième degré (1982), benötigt Kristevas Begriffskonzept keinen Rekurs auf intentionale Kategorien, um das Phänomen zu begründen, denn „wenn jede Transposition eine Neuartikulation des Thetischen, d.h. der bedeutungssetzenden Instanz, bedingt, so ist mit jeder Transposition eine Bedeutungsveränderung unausweichlich eingeschlossen.“ (Müller-Muth 2001: 643) An dieser Stelle sei auf die Verwendung eines engen Textbegriffes in dieser Studie hingewiesen. Die begriffliche Differenzierung zwischen (verbalem) Text und Photographie als zwei distinkten Medien erscheint vor allem deshalb sinnvoll, weil sie der terminologischen Vereinfachung dient. Dennoch wird an dem Begriff ,Gesamttext‘ zur Bezeichnung von medienkombinatorischen Formen festgehalten, was eigentlich ein erweitertes Textverständnis voraussetzen würde. Diese terminologische Inkonsequenz erscheint jedoch insofern gerechtfertigt, als hier literarische Werke betrachtet werden, die unter einem verbalsprachlichen Titel in Buchform erscheinen und bei denen zumeist ein dialogisches, wenn nicht sogar textdominantes Relationsverhältnis von Sprachtext und photographischem Bild vorliegt. Auf eine ausführliche Problematisierung des Textbegriffs muss hier verzichtet werden. Zum Begriff des ,Gesamttextes‘ siehe Doelker (1997).
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begriff, indem er die Existenz voneinander isolierter literarischer Werke negiert: Il n’existe pas d’énoncé qui soit dépourvu de la dimension intertextuelle. [...] Non seulement [...] les mots ont toujours déjà servi, et portent en eux-mêmes les traces de leurs usages précédents; mais les ,choses‘ aussi ont été touchées, fût-ce dans un de leurs états antérieurs, par d’autres discours, qu’on ne peut manquer de rencontrer. La seule différence qu’on puisse établir, à cet égard, ne passe pas entre les discours qui possèdent la dimension intertextuelle et ceux qui ne la possèdent pas, mais entre deux rôles, l’un fort et l’autre faible, que l’intertextualité est appelée à jouer. (Todorov 1981: 98-99; Herv. i. O.)
Jeder Text verweist also stets auf alle anderen bestehenden Texte vor ihm und kann sich in diesem regressus ad infinitum nur als Echo (Barthes) in einen texte général (Derrida) einschreiben. Das Problem für die Textanalyse ist offensichtlich, denn das Konzept lässt sich nicht in operationale Analyseverfahren überführen. Die Verwendung des Intertextualitätsbegriffs nähert sich so der textsoziologischen Definition von Intertextualität an. Es wird dort die Differenzierung von interner und externer Intertextualität vorgeschlagen: Während die erstgenannte Ausprägungsform innerliterarische Textdialoge beschreibt, bezeichnet die externe Intertextualität die literarische Verarbeitung nichtliterarischer Diskurse, d.h. Bezüge zu den Diskursen der Politik, der Philosophie, der Wissenschaft, der Werbung oder der Diskurs der Photographie (vgl. Zima 2001: 188). Mit Beginn der achtziger Jahre nahmen Literatur-, Kultur- und Medientheoretiker Kristevas textontologische Anregungen verstärkt auf und entwickelten sie weiter. Nach anfänglich reservierter Zurückhaltung richtete sich das Interesse dabei immer stärker auch auf mediale Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Medien7 und führte schnell zu einem regel7
Der hierfür notwendige medial orientierte Transformationsprozess der Geisteswissenschaften setzte mit der so genannten medialen Wende ein. Gemeint ist damit die alternative Ergänzung etablierter Paradigmen auf metatheoretischer Ebene, die sich durch eine Konzentration auf Medien, Medialität und Medialisierung auszeichnet. Auf einer empirischen Ebene wird nunmehr die Bedeutung der Medien für Prozesse der Kommunikation, des Wissensaufbaus und der Wirklichkeitskonstruktion hervorgehoben. Der Ausdruck „Medialisierung der Lebenswelten“ beinhaltet gewissermaßen beide Aspekte: Die erfahrbare Alltagswelt und Beobachtungen der Mediendurchdringung sowie die Unhintergehbarkeit medialisierter Welten und deren Funktion als Ausgangspunkte für unsere Erkenntnisbestrebungen. Göran Sonesson (1997) hat als einer der ersten diese Herausforderungen im Zusammenhang kultursemiotischer Überlegungen thematisiert. Im deutschen Sprachraum hat Reinhard Margreiter den Ausdruck ,medial turn‘ geprägt und in ersten Ansätzen charakterisiert. Er erläutert dieses „MedienApriori“ wie folgt: „Nicht nur die Neuen Medien, sondern auch die ‚alten‘ Medi-
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rechten Boom der Intermedialitätsforschung.8 Während Horst Zander 1985 in seinem Beitrag „Intertextualität und Medienwechsel“ noch einleitend bemerkte, „[e]in Bereich, der von der Intertextualitätsforschung bisher weitgehend vernachlässigt wurde, ist die Intertextualität zwischen Texten und verschiedenen Medien (gelegentlich Intermedialität genannt)“ (1985: 178), stellt Joachim Paech 14 Jahre später ironisch und leicht provokativ fest: „Intermedialität ist ,in‘.“ (1998: 14)9
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en Oralität, Literalität und Buchdruck – genauer: die jeweilige historische Konstellation interagierender Medien – sind als dieses Apriori zu begreifen und funktional zu beschreiben. Medienphilosophie stellt somit weitaus mehr dar als eine so genannte Bereichsphilosophie, denn Medialität ist nicht eine periphere, sondern die zentrale Bestimmung des menschlichen Geistes.“ (Margreiter 1999: 17; Herv. i. O.) Der Begriff ,Materialität der Kommunikation‘ wurde ein neues Forschungsparadigma und die kulturwissenschaftliche Medientheorie fungiert heute als Mode oder wie Hörisch (2001: 17) es pointiert ausdrückt als die „diensthabende Fundamentaltheorie“ schlechthin. Lyotard sieht in der Dynamik medialer Transformationen in einem Text gar das wichtigste Textelement überhaupt, die Textbedeutung ist für ihn nur von sekundärem Rang (vgl. Prümm 1988: 195). Seit der Bereich der Intermedialität in den neunziger Jahren zu einem der beliebtesten Forschungsbereiche avancierte, wurde eine mittlerweile schier unüberschaubare Fülle theoretischer Ansätze zur Intermedialität entwickelt. Diese eröffneten immer neue Wege der Annäherung an Mediengrenzen überschreitende Phänomene, was unter anderem dazu führte, dass der bis heute in der Forschungsdiskussion stark umstrittene Modebegriff in der letzten Zeit verstärkt unter den Verdacht der Effekthascherei geriet: Die zum Teil nicht unbegründete Skepsis beruht vor allem auf der inflationären und nicht selten oberflächlichen Verwendung des opaken Ausdrucks, der allzu oft wie ein Label aufgepresst wird, um den Eindruck der Aktualität zu erwecken (vgl. Mertens 2000: 8 und Paech 1998: 14). Ein immer wieder auftretender Kritikpunkt an diversen Abhandlungen über nicht-sprachliche mediale Elemente, Strukturen und Bezüge in (literarischen) Texten ist die mangelnde Definitions- bzw. Abgrenzungsschärfe der Konzepte Intertextualität und Intermedialität. So vertreten beispielsweise Plett (1991: 20) oder Wagner (1996b: 17) die Auffassung, Intermedialität sei eine Unterkategorie der Intertextualität. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass neben den Begriffen Intertextualität/-medialität auch verschiedene andere Termini wie ,Hybridität‘, ,Hyper-‘, ,Multi-‘, ,Pluri-‘ oder ,Transmedialität‘ verwendet werden, die in der einschlägigen Forschungsliteratur ebenfalls z.T. höchst unterschiedlich definiert und teilweise als Subkategorien des übergeordneten Dach- (oder wie Rajewsky sagt) „Schirmbegriffs“ ,Intermedialität‘, teilweise jedoch auch als gleichwertige Kategorien (Rajewsky 2002: 6 und 2004: 29) betrachtet werden. Einen Versuch, den ihrer Meinung nach zu vieldeutigen Begriff der Intermedialität zu ersetzen, wagen Meyer/Simanowski/Zeller (2006) mit ihrem Paradigma der Transmedialität, das sie folgendermaßen definieren: „Transmedialität fokus-
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„Der Begriff Intermedialität deutet auf mediale Brückenschläge, das Zusammenspiel verschiedener Medien.“ (Eicher 1994: 11; Herv. i. O.)10 Um diesen Sachverhalt im Rahmen eines Modells für eine heuristischfunktionale Textanalyse zu operationalisieren, erscheint es mit Eicher von Vorteil, begrifflich präzisierende Einschränkungen zu treffen: „Es mag folgerichtig sein, bei einem erweiterten Textbegriff von Intertextualität als einer Bezeichnung der Beziehungen zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichenkomplexen gleichermaßen zu sprechen“, aber auch „selbst wenn man den Textbegriff – wie Hansen-Löve auf nicht-sprachliche Äußerungen erweitert, ist es hilfreich, am Konzept der Intermedialität festzuhalten, um die Besonderheit des Medienwechsels terminologisch schärfer fassen zu können.“ (Ebd.: 19; Herv. i. O.)11 Es geht also nicht um siert auf die gleichzeitige Anwesenheit der beteiligten Medien und steht somit im Grunde der intermedialen Kopplung nahe. Während dort der Akzent jedoch auf dem Ergebnis als vollzogene Verbindung beider Partner liegt, betont der Begriff Transmedialität [im Gegensatz zu dem der Intermedialität; M.O.H.] den Transfer. Gegenstand sind die beteiligten Medien im Prozess des Übergangs. Dieser Prozess wird z.B. im Moment der Rezeption wirksam.“ (Meyer/ Simanowski/Zeller 2006: 10; Herv. i. O.). Berücksichtigt man die Tatsache, dass sie von einem so weiten Medienbegriff ausgehen und dass im Grunde jede mediale Repräsentation per se transmedial ist, wird die Problematik ihres Ansatzes deutlich, denn der Terminus weist dieselbe Mehrdeutigkeit auf wie jener der Intermedialität. Zu anderen Auffassungen des Transmedialitätsbegriffs siehe Schröter (1998: 136-143). 10 Joachim Paech (1998) gibt einen knappen Abriss verschiedener Intermedialitätskonzepte, angefangen von Aage Hansen-Löve und Ernest Hess-Lüttich, die ihre Auffassungen von Intermedialität aus einem formalistischen bzw. semiotischen Kontext heraus aus ihrer Beschäftigung mit dem Intertextualitätsbegriff entwickelten, bis hin zu Jürgen Müller (1996), der Intermedialität als Behälter medialer Elemente definiert, die durch ein konzeptionelles Miteinander strukturiert sind. 11 In der wohl ältesten deutschen Studie zum Intermedialitätsbegriff erweiterte Hansen-Löve (1983) den Intertextualitätsbegriff, indem er diesen von rein intramedialen Relationen zwischen Sprachtexten auf intermediale Interaktionen zwischen Text und Bild ausdehnte und prägte damit den Begriff ,Intermedialität‘ (vgl. Eicher 1994: 11). Unter Rekurs auf Hansen-Löve fasst Yvonne Spielmann (1998: 109) pointiert zusammen: „Die Theorie der Intertextualität kennzeichnet in erster Linie einen Bezug von Texten auf Texte, wobei sich dieser Relationstyp, der eine monologische wie dialogische Konzeption von Textualität umfaßt, nicht nur auf Literatur, vielmehr auch auf andere Medien applizieren läßt.“ Mit Bezug auf den Film begründet sie die Verwendung des Textbegriffs wie folgt: „Die Umformung der literaturwissenschaftlichen Taxonomie auf das Medium Film erlaubt einen Vergleich von intertextuellen und intermedialen Bezugnahmen in einem Kunstwerk. Bei der Transposition eines literaturwissenschaftlichen in ein
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die Konkurrenz, die Isolierung oder die Verabsolutierung eines einzelnen Mediums, sondern vielmehr um die (diskurs-)analytische Untersuchung reziproker und integrierender medialer Relationen12 und folglich nicht allein um ein Übertreten medialer, sondern auch fachlicher und disziplinärer Grenzen. Betrachtet man nämlich zeitgenössische Prosa, so „[…] artikuliert sich der postmoderne Impuls als stilistische Heterogenität, die Kunst und Kitsch mischt, sowie durch eine neuartige, weil sichtbar inszenierte Praxis des Zitats. Die kreativen Gebrauchs- und Zuschauermedien verbreiten neue Stiltendenzen schnell, und leicht überspringen sie Grenzen.“ (Hoesterey 1988: 131) Neben der so genannten „intramedialen Intertextualität“, die sich auf die Traditionen des literarischen Diskurses stützt, steht die medienübergreifende „wechselseitige Erhellung der [Schwester-] Künste“13, die anfänglich noch unter dem Diktat des taxonomischen Systems der Intertextualität stehend als „intermediale Intertextualität“ (ebd.: 191) bezeichnet wird, sich jedoch allmählich von der restriktiv einseitigen literaturwissenschaftlichen Ausrichtung löst.14 Dennoch prägen die zwei grundlegenden „Traditionslinien“ einer im weitesten Sinne medienwissenschaftlichen Grundlage einerseits und einer kunst-, kultur- und literaturmedienwissenschaftliches Bezugssystem wird der Textbegriff beibehalten. Er dient zur Kennzeichnung intertextueller Transformationen in der Medienpraxis.“ (Ebd.: 64) Auch Kloepfer weitet das Prinzip der Intertextualität auf intermediale Spuren aus: „Der Unterschied zwischen der ‚traditionellen‘ und der ‚progressiven‘ Arbeit [die Suche nach dem Prätext; M.O.H.] besteht manchmal nur im Objekt, das zum Prätext wird: statt dem göttlichen Auge ist es der Photoapparat, statt dem Lebensschiff das Automobil, statt dem Labyrinth der Cyberspace im WWW.“ (1999: 35; Herv. i. O.) 12 Vgl. Albersmeier (1992: 1) und Mecke/Roloff (1999: 7). 13 Anfang des 20. Jahrhunderts belebte vor allem Oskar Walzel die Diskussion des Stilvergleichs der Künste wieder. Wenngleich der Titel seiner bereits aus dem Jahr 1917 stammenden Studie Wechselseitige Erhellung der Künste zu einem Schlagwort des Zusammenspiels von Literatur und andern Künsten wurde, so hält er sich in seinen Ausführungen in peinlichster Genauigkeit an Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915) und ist damit gleichsam ein typisches Produkt seiner Zeit. Aufgrund seiner intuitiv-einfühlenden, ja gleichsam impressionistischen Vergleichsbasis gilt Walzels Ansatz heute als umstritten und überholt. 14 Yvonne Spielmanns (1998) medienwissenschaftliche Studie befasst sich vornehmlich mit dem Phänomen der Intermedialität in den Bildmedien. Ausgehend von einer Differenzierung monomedialer und multimedialer Intermedialität wie von einer Vertikalisierungstendenz simultaner Anordnungsverfahren und horizontaler Montagefunktion linear-sukzessiv verketteter Sequenzen auf syntagmatischer Ebene, gelangt sie zum Begriff der ,monomedialisierten Multimedialität‘, der besonders auf digital erzeugte, intermediale Mischformen appliziert werden kann.
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wissenschaftlichen Verankerung andererseits bis heute die verschiedenen Intermedialitätskonzepte.15 Joachim Paech leistete mit seinem einflussreichen Aufsatz „Intermedialität: Mediales Differenzial und transformative Figurationen“ (1998) einen wichtigen Beitrag zur Theorie der Intermedialität, der in der Forschung nach wie vor relevant ist und dem auch im Rahmen dieser Studie in weiten Teilen gefolgt wird. Wesentlich sind für ihn vor allem zwei Punkte: Zum einen begreift er „Intermedialität als medialen Transformationsprozeß“ (1998: 1415) und „als Deckel und Behälter für alle möglichen kulturellen (künstlerischen und/oder medialen) Erscheinungen“ (ebd.: 17).16 Zum anderen rückt sein integratives Intermedialitätskonzept den Aspekt der Mediendifferenz in den Mittelpunkt und folgt damit Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form (vgl. Luhmann 1995: 165-214).17 Werden Medien als voneinander unterschiedene und unterscheidbare Formen verstanden, so impliziert dies zugleich, sie entsprechend ihrer jeweiligen Medialität und Materialität zu untersuchen: „In den intertextuellen Dialog der Schriftmedien haben sich die Bilder ,eingeschaltet‘, deren Interaktion nicht mehr nur textuell, sondern darüber hinaus medial verstanden werden will.“ (Paech 1998: 17; Herv. i. O.) Aufgrund der Komplexität des Phänomens Intermedialität gibt es potenziell unendlich viele intermediale Erscheinungsformen: „Brüche, Lücken, Intervalle oder Zwischenräume, ebenso wie Grenzen und Schwellen, in denen ihr mediales Differenzial fungiert.“ (Ebd.: 25) Intermediale Interaktions- und Kombinationsverfahren werden schließlich als ein Dazwischen, als „flüchtiges ,zwischen den Medien‘“ (Müller 2008: 36; Herv. i. O.) betrach15 Vgl. hierzu Rajewsky (2008). Einer der führenden Vertreter der literaturzentrierten Intermedialitätsforschung ist der Anglist Werner Wolf, auf dessen Ansatz im Rahmen dieser Studie ebenfalls rekurriert wird. 16 Während in vorliegender Arbeit die Termini ,Transformation‘ und ,Transposition‘ zur begrifflichen Differenzierung unterschiedlicher, intermedialer respektive photographischer Durchdringungstiefe verwendet werden, gebraucht Paech nur den Begriff ,Transformation‘ und meint damit die Intermedialitätsformen, die im Modell der photographischen Schreibweise als transpositorische photographische Schreibweise bezeichnet werden. 17 Auch Spielmanns Intermedialitätsmodell gründet in dieser Unterscheidung: „Intermedialität bezeichnet ein Phänomen der Vermischung zwischen unterschiedlichen Medien. In den medienwissenschaftlichen Disziplinen ist eine Begriffsverwendung geläufig, bei der Intermedialität als eine Verschmelzung definiert ist, deren Vorkommen die Trennung der Medien voraussetzt. Darauf beruht die Einschätzung, dass die Herausbildung von Intermedialität mit dem Aufkommen der technischen Medien, insbesondere Fotografie und Film, einhergeht und mit dem Computer ein Paradigma konstituiert.“ (1998: 31) Außerdem nimmt eine ganze Reihe theoretischer Intermedialitätsansätze literaturwissenschaftlicher Provenienz Luhmanns Konzept auf. Stellvertretend für viele andere seien hier nur Mecke/Roloff (1999) und Tschilschke (2000) genannt.
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tet. Intermedialität ist folglich allein anhand der altermedialen Spuren erkennbar, welche Intermedialitätsprozesse in medialen Produkten hinterlassen haben. Intermedialität erscheint aus dieser Sicht also nicht mehr als abstraktes, sondern als jeweils „werkinternes Phänomen“ (Wolf 1996: 86). Jürgen E. Müller (1996: 89) hebt indes den innovativen medialen und ästhetischen Mehrwert dieser Spuren hervor und definiert Intermedialität als „Integration von ästhetischen Konzepten einzelner Medien in einen neuen medialen Kontext.“ Indem die meisten Intermedialitätskonzepte das Medium nicht allein als „Informationsträger“ (Paech 1998: 17) oder technisch-apparativen Behälter definieren, sondern zugleich auch als Dispositiv der Kommunikation, grenzen sie sich von rein komparatistischen Forschungspraktiken sowie der traditionellen Quellen- und Einflussforschung ab. Und dies insofern, als sie die medienspezifische Bedingtheit, die Differenzialität der Kommunikation ermöglichenden semiotischen Systeme der Einzelmedien (Kodes) voraussetzen und die Transformation der Zeichensysteme bei der Transposition von einem Medium in ein anderes zu erfassen suchen.18 Mit Irena Rajewskys viel zitiertem Buch Intermedialität (2002), in dem sie eine umfassende Zusammenschau sämtlicher prominenter Intermedialitätskonzepte vorlegt und so die unterschiedlichsten Fokussierungen und Ansätze in einer systematischen Matrix zur Synthese gebracht werden, erreicht die Intermedialitätsforschung einen vorläufigen Höhepunkt, der „den Abschluss jener Phase der Unsicherheiten“ (Roloff 2008: 15) und der Begriffsetablierung markiert. Das Konzept ,Intermedialität‘ hat sich allgemein durchgesetzt und seine Position in der Forschung konsolidiert. Gleichzeitig zeugt die nicht verebben wollende Flut an Fachpublikationen von der ungeschmälert hohen Produktivität und großen Aktualität des Themas und beweist, dass das Forschungsgebiet weiterhin eine wichtige Herausforderung unterschiedlichster Disziplinen darstellt.19 Nachdem erste theoretischkonzeptionelle Grundlagen geschaffen sind, geht es nun um die „Feinarbeit“ und Ausdifferenzierung, d.h. es gilt, den Problem- und Unbestimmtheitsstellen des hochkomplexen Phänomens der Intermedialität, die beispielsweise bei der Analysepraxis auftreten, entgegen zu treten. Im Hinblick auf einen literaturwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungsansatz lässt sich dies an einem Beispiel illustrieren: In der genannten, detailreich recherchierten Studie von Rajewsky wird der Versuch angestellt, ein möglichst offenes und gleichzeitig noch operationelles Intermedialitätsmodell zusammenzustellen. Auch wenn ihre Typologie übersichtlich und in sich kohärent ist, so gelingt es ihr letztlich nicht, alle Schwachstellen und bestehenden Widersprüche der Vorgängermodelle komplett aufzulösen. Eine der wohl größten Schwierigkeiten liegt etwa dort, wo es um die Nachahmung eines Mediums in einem 18 Hess-Lüttich/Posner (1990) schlagen daher auch die Bezeichnung des ,CodeWechsels‘ vor. 19 Müller bezeichnet die Annäherung an den Begriff deshalb als „work in progress“ (2008: 32).
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anderen geht, ist doch der Grat zwischen Einflussforschung, Analogiebildung und Metonymie hier nur sehr schmal. Da sich nicht alle Medienstrukturen gleichermaßen mit sprachlichen Zeichen nachbilden lassen, erweist sich das Unspezifische des Oberbegriffs ,Intermedialität‘ besonders im Hinblick auf die Untersuchung literarischer Schreibverfahren, bei denen die Bedeutungskonstitution mittels materieller Medienbegegnung sowie durch Bezugnahme und Nachformung nicht-sprachlicher Fremdmedien erfolgt, als problematisch. Es ist daher in Frage zu stellen, ob zu Analysezwecken tatsächlich ein „abstraktes“, medienübergreifendes Terminologiekonzept intermedialen Schreibens eingesetzt werden sollte. Vorliegende Studie wird von der Überzeugung geleitet, dass es für exemplarische Einzeluntersuchungen geeigneter und zugleich ergiebiger scheint, ein Instrumentarium zu verwenden, das sich auf intermediale Phänomene zwischen zwei bestimmten Einzelmedien – hier im Speziellen zwischen Photographie und (erzählender) Literatur – konzentriert, um die Möglichkeiten ästhetischer Prozesse bei ihrer wechselseitigen Integration, Bezugnahme, Übertragung und Nachformung angemessen auszutarieren.20 Wird einem intermedialen Analysemodell – wie dem der photographischen Schreibweise – eine solche Restriktion des Gegenstandsbereichs zu Grunde gelegt, so folgt daraus, dass es letztlich nicht darum gehen kann, ein festes und in sich geschlossenes theoretisches Regelsystem zu konzipieren, sondern vielmehr darum, aus konkreten Fällen heraus spezifische Spielformen intermedialer Kombination bzw. Interaktion herauszuarbeiten, diese prototypischen Erscheinungsformen und Interaktionsprozesse theoretisch wie terminologisch zu beschreiben und taxonomisch zu fassen.21 Das in dieser Studie entwickelte Modell photographischer Schreibweise lässt sich zusammenfassend als ein Ansatz beschreiben, bei 20 Eine solche Einschränkung erscheint vor allem in dreierlei Hinsicht sinnvoll: Erstens wird damit der von Jürgen E. Müller vertretenen und auch hier geteilten Auffassung genüge getan, dass es wohl kaum „möglich sein wird, ein allumfassendes medientheoretisches System zu entwickeln, das alle […] [intermedialen Phänomene und; M.O.H.] Prozesse mit einbezieht.“ (2008: 32; Herv. i. O.). Zweitens kann mit der bewussten Fokussierung auf die gezielte Verbindung von nur zwei wechselseitig aufeinander Bezug nehmenden und sich durchdringenden Medien, die exklusive Betrachtung bimedialer Schnittstellen also, dem häufigen Vorwurf einer schwammig bleibenden, wie Adorno (1967: insbesondere 159160) sagt, „Verfransung“ der Mediengrenzen von vornherein entgegengetreten werden (ähnlich argumentieren Caduff/Gebhardt Fink/Keller/Schmidt 2006: 212). Und drittens wird durch die konkrete Problemstellung vermieden, das ohnehin schon recht ausgetretene Forschungsfeld allgemeiner, intermedialer Theoriebildung erneut zu betreten. 21 Vgl. Müller (1996: 130). Damit wird eine Richtung methodisch-theoretischen Vorgehens fortgesetzt, die bereits Tschilschke und ihm folgend Schmelzer und Eggeling erfolgreich in ihren Studien zum filmischen respektive mediengeprägten Schreiben einschlugen.
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dem ausgehend von einem recht offen verstandenen, spezifischen Intermedialitätsbegriff ein typologisches Ordnungschema photoliterarischer Formen von Intermedialität entwickelt wird.22
2.2 P HOTOGRAPHIE UND L ITERATUR 23 ALS F ORSCHUNGSTHEMA Während die literaturwissenschaftliche Erforschung von Photographie und Literatur in der anglo-amerikanischen Forschung gut zehn Jahre früher einsetzte als in der germanistischen und romanistischen24 und sich auch häufiger nicht-narrativen, bimedialen Werken widmet,25 liegen die Anfänge einer intensiveren Beschäftigung mit dem Thema in der deutsch- und französischsprachigen Romanistik in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Montier 2008: 7).26 Angesichts der Tatsache, dass der deutsche Germanist Rudolph von Gottschall mit seinem damals sehr einflussreichen 22 Diese Tendenz von Öffnung bei gleichzeitiger Einschränkung ist indes auch in den jüngeren Arbeiten von Werner Wolf (vgl. z.B. 2002c) zu beobachten. 23 Wie auch schon die Darstellung des Forschungsgebietes Intermedialität, erhebt folgender Abriss nicht den Anspruch, eine vollständige und ausführliche Präsentation aller vorliegenden Forschungsarbeiten zum Wechselverhältnis von Photographie und Literatur zu sein. Vielmehr dient dieser knappe Abriss dazu, den hier vertretenen Ansatz photographischer Schreibweise innerhalb der bereits vorgelegten Modelle und Argumentationsverfahren zu positionieren. In den Blick geraten dabei vor allem Arbeiten zur französischen Literatur. 24 Stellvertretend genannt seien hier Bogardus (1977) und (1984 – Es handelt sich hierbei um eine bereits 1974 abgeschlossene Dissertation), Hugunin (1979) und Wilsher (1978). Zur neueren Forschung im Bereich Amerikanistik siehe u.v.a. Brunet (2009), Bryant (1996), Gidley (2010), Green-Lewis (1996), Hughes/Noble (2003), Hunter (1987), Rabb (1995), Ribbat (2003), Shloss (1987) sowie das Themenheft „Photography and Literature“ der Zeitschrift English Language Notes (2006). Garrett-Petts/Lawrence (2000) widmet sich kanadischen Photo-Text-Verbindungen. 25 Vgl. z.B. Ribbat (2003). 26 Vgl. auch Krauss (2000: 10). Zetzsches Hinweis, dass sich die Romanistik bereits vor 1970 mit dem Thema beschäftigt, kann nicht nachvollzogen werden, zumal er selbst nur Publikationen aus den achtziger Jahren aufführt (vgl. 1994: 19-20). Unter Verweis auf Buddemeier (1970) und Mitry (1975) nennt zwar auch Koppen die siebziger Jahre als ersten Beginn der literaturwissenschaftlichen Annäherung an das Thema, schränkt jedoch selbst ein, dass es sich um noch stark punktuelle Studien handelte. Auch in der Germanistik ging die Forschung bis weit in die siebziger Jahre davon aus, dass „[d]ie Photographie […] im Bereiche der sprachlichen Kunstwerke keinen legitimen Ort“ (Hamburger 1968: 176) habe (vgl. Zetzsche 1994: 18).
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Artikel „Roman photographique contemporain en France“ (1881)27 bereits hundert Jahre zuvor den Grundstein für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit photographischen Momenten in der Literatur legte (vgl. Strom 1998: 84), verwundert es doch nur umso mehr, dass dieser Forschungsbereich geradewegs wieder in Vergessenheit geriet, so dass heute gemeinhin Erwin Koppen als Pionier dieses Themenfeldes der modernen romanistischen Literaturwissenschaft gilt.28 Im Jahre 1982 wies er auf diesen, seiner Ansicht nach, beklagenswerten Umstand hin: Das Thema der Beziehungen zwischen einer der ältesten ,Kommunikationsformen‘ der Menschheit, der literarischen, und einer der neuesten, der photographischen, erfreut sich nicht der Gunst der Literaturwissenschaftler, obwohl in den letzten anderthalb Jahrzehnten das öffentliche Interesse an der Photographie als ästhetischem und gesellschaftlichem Phänomen geradezu lawinenartig gestiegen ist [...]. (Koppen 1982: 101; Herv. i. O.)
Die frühe romanistische Auseinandersetzung mit Photo-Literatur-Interrelationen wurde hauptsächlich von Ansätzen aus dem Bereich der Einflussforschung und Komparatistik dominiert und beschäftigte sich konsequenterweise zunächst auch fast ausschließlich mit der Literatur des 19. Jahrhunderts.29 Im Mittelpunkt stand die Untersuchung der literarischen Verarbeitung vermeintlich typisch photographischer Wahrnehmungsformen (beispielsweise durch präzise Detailbeschreibungen), die man als unmittelbare Beeinflussung der Literatur durch die Entstehung und Verbreitung der Photographie interpretierte, ohne dies jedoch philologisch exakt belegen oder aber wirklich überzeugend nachweisen zu können.30 Der Begriff der ,photo27 Gottschall untersucht hierin Elemente photographischen Schreibens in den Werken Zolas und Daudets. Es braucht wohl kaum eigens darauf verwiesen zu werden, dass der Begriff des ,photographischen Schreibens‘ hier rein metaphorisch verstanden wird und auf einem relativ subjektiven Lektüreeindruck des Verfassers beruht. Vgl. Strom (1998: 84), der sich auf Amelunxen (1985) und (1992c) bezieht. 28 Neben Erwin Koppen war es vor allem der Romanist und Kunsthistoriker Hubertus von Amelunxen, der sich in den Achtzigern verstärkt mit den Interrelationen von Photographie und Literatur beschäftigte. 29 Siehe z.B. das Themenheft „Photolittérature“ der Zeitschrift Revue des Sciences Humaines (1988). 30 Bemerkenswerterweise hatte allerdings schon Paul Valéry vor einer solchen Deutungsweise gewarnt: „Ich will damit keineswegs sagen, daß das literarische System von Flaubert, Zola oder Maupassant sein Konzept dem Aufkommen der Photographie verdankt […] Je mehr man versucht wäre, tiefere Verbindungen zwischen dem Phänomen Realismus und dem Phänomen Photographie aufzuspüren, desto mehr muß man sich davor hüten, ein ungewolltes Zusammentreffen auszubeuten.“ (Valéry zit. nach Mitry 1975: 17; Herv. i. O.) Und auch Mitry ver-
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graphischen Schreibweise‘ blieb in diesen Ansätzen daher auch auf einen rein metaphorischen Gebrauch beschränkt. Ein weiteres Hauptproblem dieser Arbeiten lag vielfach in der mangelnden bzw. unscharfen Differenzierung zur traditionellen Beschreibungsliteratur (Ekphrasis). Beispielhaft hierfür ist Koppens Monographie Literatur und Photographie, wo der Einfluss der Photographie auf die Poetik des Realismus untersucht und Flauberts impassibilité mit der objektiven Erfassung und Wiedergabe der Wirklichkeit durch die Photographie in Zusammenhang gebracht wird.31 Mit dem zunehmenden Interesse der Literaturwissenschaft an den (Bild-) Medien- und Kulturwissenschaften und insbesondere im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Intermedialität, interessierte sich die Literaturwissenschaft auch immer stärker für die Themen Visualität und Bildmedien in der Literatur. Im Zuge dessen manifestierte sich in der Literaturwissenschaft auch ein neues Interesse an der Photographie, das in engem Zusammenhang mit der medienwissenschaftlichen und kulturellen „(Wieder-)Entdeckung“ des „alten“ Mediums steht, die sich parallel dazu auch im öffentlichen Leben abzeichnet und ihren Ausdruck in dem Anstieg an Photomessen und -festivals sowie der Wiederauflage der Klassiker der Phototheorie (Barthes, Freund, Sontag usw.) findet (vgl. Blazejewski 2002: 13).32 Verstärkt wurde diese Tendenz durch den Wandel theoretischer Diskurse, den man als iconic turn (Boehm 2007), imagic turn (Fellmann 1995), pictorial turn (Mitchell 2007) bzw. visual turn (Bal 2000: 479) bezeichnet und damit die allmähliche Verabschiedung medientheoretischer Konzepte von rein semiotisch-strukturalistischen Ansätzen und deren Zuwendung zu kulturellen und handlungsorientierten Fragestellungen meint.33 tritt die Auffassung, dass „die Photographie mit dem Aufkommen und der Entwicklung des Realismus nichts zu tun hatte.“ (1975: 17) 31 Siehe auch Koppen (1982) sowie die Themenhefte der Zeitschrift lendemains aus den Jahren 1981, 1984 und 1988. Später weist Koppen (1992) selbst auf die Schwachstellen der Einflussforschung hin. 32 Umso erstaunlicher ist es, dass Friedrich Kittler der Photographie kaum Beachtung schenkt: In Grammophon, Film, Typewriter geht er lediglich auf die so genannte „Geisterphotographie“ ein (1986: 22) und selbst in Optische Medien (2002) setzt er sich in dem Kapitel zur Photographie mehr mit den Vorläufern auseinander als mit dem Medium selbst. 33 Während die Termini Mitchells und Boehms im Kontext der Bildwissenschaften stehen, bezieht sich Fellmanns Begriff auf die Kognitionswissenschaften. Bal hebt in einem Aufsatz aus dem Jahr 2000 hervor, dass diese visuelle Wende bzw. das verstärkte Interesse an Themen der Visualität im weitesten Sinne auch die literaturwissenschaftliche Forschung betrifft. Sachs-Hombach (2003: 98-99) spricht hingegen vom ,visualistic turn‘. Zum Begriff des ,turn‘ siehe BachmannMedick (2006). Im Gegensatz zu einem plötzlich eintretenden und unumkehrbaren Paradigmenwechsel, liege ein kulturwissenschaftlicher Theoriewandel ihrem Verständnis nach erst dann vor, „wenn der neue Forschungsfokus von der Ge-
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Auch wenn die intermedialen Beziehungen zwischen den Medien Photographie und Literatur lange Zeit weitaus seltener bearbeitet wurden als die zwischen Film/Kino und Literatur – die im Gegensatz dazu ausgiebig analysiert und systematisiert wurden (vgl. Koppen 1992: 231) – findet das Thema in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung seit einigen Jahren immer größeres Interesse. Dies lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass das von Karlheinz Barck herausgegebene Historische Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe von 2001 dem „Fotografische[n] in der Literatur“ (Albers 2001) einen eigenen Eintrag widmet. Die literaturwissenschaftliche Erforschung des Zusammenspiels von Photographie und Literatur erlebte in den letzten Jahren einen regelrechten Boom und führte zu einer beispiellosen Zunahme von Arbeiten zum Thema „Photographie und Literatur“.34 Derart in Mode gekommen, ließe sich mit einem Augenzwinkern sogar von einer Art „photographic turn“ innerhalb der literaturwissenschaftlichen Intermedialitätsforschung sprechen. Wie auch schon in den achtziger und neunziger Jahren beschäftigen sich viele der neueren Studien mit der Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts:35 Sie untersuchen die Realismusdebatte unter dem Blickwinkel der Beeinflussung des literarischen Schreibens durch das mit der Entstehung der Photographie fundamental veränderte Sehen,36 loten die Einflusskraft von genstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten ‚umschlägt‘, wenn er also nicht mehr nur neue Erkenntnisobjekte ausweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium wird.“ (Ebd.: 26; Herv. i. O.) Zur Entstehung und Herausbildung des iconic/pictorial/ visual turn siehe (ebd.: 329-365). 34 Eine recht umfassende Bibliographie deutschsprachiger Publikationen zum Thema „Photographie und Literatur“ bis 1984 liefert Heidtmann (1989). Einen ebenfalls etwas älteren Überblick über internationale Forschungsarbeiten gibt Lambrechts/Salu (1992). Einige monographische Studien widmen sich in einzelnen Kapiteln der Bedeutung der Photographie als Motiv des literarischen Textes bzw. gehen teilweise auch auf photographische Schreibverfahren ein, beispielhaft hierfür sind Baumann (2008), Dehne (2002: 213-225), Klettke (2001: 228-240) und Wilken (2008: 239-259). 35 Besonders häufig wird das Verhältnis von Photographie und Literatur bei Balzac, Champfleury, Flaubert, den Brüdern Goncourt, Proust, Rodenbach und Zola behandelt, so z.B. von Albers (2002a), Amelunxen (1985) und (1992c), Bal (1997), Brassaï (2001), Garnier (1997), Grojnowski (2002), Infantino (1992), Kindlein (2007), Müller (2007), Ortel (2002), Spieker (2008), Thélot (2003) u.v.a.. 36 Vgl. z.B. Becker (2010) und Novak (2008). Besonders medienhistorisch oder kulturwissenschaftlich ausgerichtete Arbeiten beschäftigen sich gerne mit der Veränderung der Sehgewohnheiten durch die Photographie im Kontext des Realismus. Vor allem mittlerweile zu Klassikern gewordene Autoren wie Gisèle Freund gehen von der fundamentalen Erschütterung der Sehgewohnheiten durch Einführung des Mediums aus (vgl. Freund 1976: 7). Bemerkenswert ist diesbe-
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Impressionismus und Photographie auf die Literatur des endenden 19. Jahrhunderts aus37 oder rücken die mannigfaltigen Schreibexperimente der Avantgarde in den Mittelpunkt ihres Interesses.38 Erst allmählich gelangten auch Autoren des mittleren und späten 20. Jahrhunderts in das Zentrum des Forschungsinteresses. Entsprechend der Fülle an photoliterarischen Werken, die im weitesten Sinne autobiographisch bzw. autofiktional sind, beschäftigen sich zahlreiche Einzelanalysen mit den Wechelwirkungen von Photographie und Autobiographie.39 Generell fällt überdies auf, dass gegenwärtig vornehmlich kulturwissenschaftlich ausgerichtete Studien hoch im Kurs stehen, die in den Themenbereichen Erinnerungskultur und literarische Geschichtsschreibung anzusiedeln sind und die die Bedeutung der Photographie als faktuale bzw. dokumentarische Mittel fiktionaler Vergangenheits(-re-)konstruktion ausloten.40 Besonders überrascht außerdem, dass die Werke der nouveau romanciers, die sich theoretisch wie literarisch intensiv mit Problemen der Perspektive und des Sehens auseinandersetzten, nicht
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züglich die ebenfalls anzutreffende These, dass die Photographie das Sehen gar nicht – wie so oft angenommen – revolutioniert habe. Begründet wird diese Annahme damit, dass Photographien „monokulare, auf Zentralperspektive basierende zweidimensionale Flächen“ sind, die damit auf ein altes Wahrnehmungsmodell rekurrieren, „das von der damaligen Erforschung des Sehens bereits als überholt angesehen wurde.“ (Bickenbach 2005: 179) Vgl. hierzu auch Crary (1996). Vgl. z.B. Spieker (2008). Das am häufigsten bearbeitete surrealistische Werk ist zweifelsohne Bretons Nadja (1928), dessen Text-Bild-Arrangement aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln immer wieder ins Zentrum des Interesses rückt. So legt Jochen Mecke beispielsweise dar, wie der Medieneinsatz zum Prozess der Subjektfindung und Selbstwerdung beiträgt: Die Photographien, so argumentiert er, gewährleisten nicht nur die Authentizität des Textes, sondern übernehmen über den ikonischen Abbildungsmodus insofern auch symbolische Funktionen, dass sie Dinge zeigen, die auf Themen der Transzendenz verweisen, die im Text unausgesprochen bleiben (Mecke 2005a: 171). Franziska Sick (2001: 147) unterstreicht ihrerseits „daß die Photographien, die Breton in seinen Roman Nadja einbindet, den Text nicht illustrieren, sondern ihm umgekehrt eine änigmatische Dimension verleihen, die zugleich die Ordnung des Erzählens von Grund auf verändert.“ Blazejewski (2002) stützt ihre Untersuchung des Zusammenhangs von Photographie und autobiographischem Schreiben auf einen ausführlichen Vergleich von Photographie und Autobiographie, bei dem sie funktionelle und strukturelle Analogien herausarbeitet. Zum Thema Photographie und Autobiographie generell siehe z.B. auch Adams (2000), Albers (2002b) Delory-Momberger (2006), Hirsch (1997), Horstkotte (2009), Kawashima (2011), Méaux/Vray (2004), Montémont (2007) und Roche (2009). Siehe z.B. Poetics Today 29/1 (2008).
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umfassender aufgearbeitet worden sind.41 Anders als in der germanistischen Forschung, wo gerade in den vergangenen zwei Jahren einige (auch monographische) Arbeiten zu Gegenwartsautoren wie Sebald, Kluge oder Brinkmann auf den Markt kamen,42 widmet sich mittlerweile zwar eine ganze Fülle von Sammelbänden der photoliterarischen Literaturproduktion Frankreichs der vergangenen vierzig Jahre,43 doch gerät diese nur vereinzelt – wie bei Eggeling (2003), Roche (2009) oder Strom (1998) – in den Blick von Monographien. Ferner fällt auf, dass bislang meist jeweils nur eine Seite des intermedialen Zusammenspiels von Photographie und Literatur untersucht wurde.44 Größtenteils handelt es sich bei den literaturwissenschaftlichen Studien um Arbeiten, die sich mit figurativen Intermedialitätsverfahren in monomedial verbalen Texten beschäftigen. Sehr viel seltener wird hingegen das Intermedialitätspotenzial bimedialer Werke ausgelotet.45 Dies resultiert sicher nicht 41 Exemplarisch zu nennen für die Beschäftigung mit diesem Thema sind Albers (2002b), Clemmen (1994), Glacet (2007) und Léonard (1982) zu Claude Simon; Bertelli (1998) und Chauvin-Vileno (2002) zu Georges Perec; Klinkert (2001) zu Simon und Perec; Winter (2007) zu Alain Robbe-Grillets nouveau regardKonzept. Blazejewski (2002) untersucht indes nur das Spätwerk von Marguerite Duras. 42 Zuletzt etwa Cheon (2007), Steinaecker (2007) und das Themenheft „Photography in Fiction“ der Zeitschrift Poetics Today 29/1 (2008), in dem sich der Großteil der Beiträge mit den oben genannten Autoren beschäftigen. 43 So z.B. in den Sammelbänden von Arrouye (2005), Montandon (1990) und insbesondere von Montier/Louvel/Méaux/Ortel (2008). 44 Ausnahmen bilden allerdings z.B. Albers (2002b), Blazejewski (2002), Eggeling (2003) oder Koppen (1987), die mono- und bimediale Texte untersuchen. So bearbeiten Blazejewski (2002) und Clemmen (1994) z.B. u.a. auch Werke von Hervé Guibert. 45 Erstaunlicherweise spart beispielsweise selbst der zwar auf den motivischen Gebrauch des Photographischen im 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zentrierte, aber sonst recht umfassende Eintrag „Das Fotografische in der Literatur“ von Albers (2001) diese Dimension komplett aus. Im deutschsprachigen Raum wegweisend für die Disziplinen übergreifende Beschäftigung mit Photo-Texten war Preisedanz (1971). Exemplarisch für eine Reihe neuerer Publikationen zum Verhältnis von Bild und Text seien Heitmann/Schiedermair (2000) und Linck/ Rentsch (2007) genannt. Obwohl die komparatistischen Studien in Frankreich eine lange Tradition haben und zur fest verankerten Forschungstradition zählen, trifft dieser Mangel auch auf die französische Forschungslandschaft zu. Symptomatisch für die Aussparung der Betrachtung von Photo-Text-Bezügen ist beispielsweise Simon Jeunes Plädoyer für eine zukünftige, medienorientierte literaturwissenschaftliche Komparatistik, in dem man liest: „Il […] s’agit […] de rechercher les liaisons existant entre la littérature d’une part, et les beaux-arts de l’autre (c’est-à-dire, avant tout, les arts graphiques: peinture, dessin, gravure; mais aussi
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zuletzt daraus, dass sich die Literaturwissenschaft seit noch nicht allzu langer Zeit auch mit Genres und Gattungen wie dem paraliterarischen46 Photo-
architecture, sculpture et musique). Au XXe siècle il convient naturellement d’y joindre l’immense domaine du cinéma.“ (Jeune 1968: 18) Während die Photographie hier noch völlig unerwähnt bleibt, wurde die Photographie in der Folge vielfach unter den Film subsumiert, so beispielsweise bei Jeanne-Marie Clerc (1989: 288), die die Photographie als Derivat des Films bezeichnet und sie in einem Atemzug mit Werbeplakaten und dem Fernsehen nennt. In ihrem Zusammenhang mag sich dies dadurch rechtfertigen lassen, dass sich ihr Aufsatz mit Elementen des filmischen Schreibens z.B. in Robbe-Grillets ciné-romans auseinander setzt, allerdings verkennt sie dabei das Spezifische der Photographie gerade auch in diesem Genre. Pionierarbeit bei der Erforschung von Text-BildRelationen in der Literatur der Romania leisteten vor allem Baetens und Grivel. Einen entscheidenden Meilenstein in der frankophonen literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Verhältnis von Bildern und Texten markiert das Kolloquium „Texte/Image“, das 2003 von Liliane Louvel und Henri Scepi in dem legendären Cerisy-la-Salle veranstaltet wurde. So beschäftigt sich z.B. Grojnowski (2005) in diesem Zusammenhang mit bimedialen Romanen, allerdings geht auch er dabei nicht über die rein illustrative Funktion mitgelieferter Photographien hinaus. Einen historischen Überblick von Photo-Text-Verbindungen bietet u.a. der Sammelband von Debat (2003). 46 Der in der deutsch- und französischsprachigen Forschung unterschiedlich definierte Begriff ,Paraliteratur‘ wird hier in der in Frankreich gängigen Definition verwendet. Vgl. Boyer (1992: insbesondere 13-22) und Fondanèche (2006: insbesondere 7-19). Paraliteratur wird dort als wertneutrale Bezeichnung marginalisierter literarischer Gattungen und Genres verstanden, die gemeinhin als nichtliterarische, triviale Erzeugnisse populärer Massenunterhaltung klassifiziert werden. Die normative Differenzierung von „hoher“ und „niederer“ bzw. von „guter“ und „schlechter“ Literatur soll hier jedoch möglichst vermieden werden, denn wie Pierre Jourde in La littérature sans estomac (2002: 11) ganz richtig konstatiert, findet man selbst unter den als Populärliteratur degradierten Texten literarisch durchaus interessante, ja mitunter sogar anspruchsvolle Werke. Im deutschen Sprachraum wird der Begriff hingegen im Zusammenhang mit interund transmedialen Verfahren verwendet: „Paraliteratur bezeichnet im Sinne der Herausgeber ästhetische Prozesse, die sich vom engen Rahmen der traditionellen Literaturgeschichte lösen, dabei die Dominanz der Schriftkultur demonstrativ durchbrechen und nur noch implizit in literarisch-ästhetischen Traditionsbezügen ihre Wirkung entfalten.“ (Meyer/Simanowski/Zeller 2006: 11; Herv. i. O.). Obwohl diese Definition auf den ersten Blick auch das bimediale Verfahren photographischen Schreibens recht gut zu erfassen scheint, erweist sich die Ausweitung der Begriffe ,Medium‘ und ,Paraliteratur‘ und ,-text‘ als wenig fruchtbar und trägt letztlich kaum zur Klärung der darunter gefassten Phänomene bei. Um Unklarheiten und Begriffsverwirrungen zu vermeiden, wird der Terminus ,Para-
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Roman beschäftigt, die der normativen Literaturauffassung nach nichtkanonisch und randständig sind.47 Während sich die deutschsprachige Literaturwissenschaft bereits etwas länger mit den zum Modethema gewordenen Wechselbezügen zwischen Photographie und Literatur beschäftigt, stellt das 2007 in Cerisy-la-Salle durchgeführte Kolloquium „Littérature et photographie“ einen wichtigen Wendepunkt in der französischen Literaturwissenschaft dar, die sich seither ebenfalls verstärkt dem Zusammenspiel von Photographie und Literatur zuwendet.48 Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass die Forschungsliteratur – wie auch die vorliegende Arbeit – lyrische Primärtexte weitgehend ausklammert und fast ausschließlich narrative Texte zum Gegenstand ihrer Untersuchungen macht.49 Wie bereits angedeutet, treten photographische Strukturen im Bereich der französischen Literatur in erzählerischen Texten sehr viel deutlicher zum Vorschein als in lyrischen; eine gewisse Ausnahme stellen solche – vielfach bimedialen – Texte dar, die zwischen Kurzprosa und Prosagedicht anzusiedeln sind.50 Während in der Anglo-Amerikanistik auch über „Photo-Poesie“ nachgedacht wird51 und auch im germanistischen Be-
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literatur‘ im Weiteren nur zur Bezeichnung randständiger, „trivialer“ literarischer Formen verwendet. Die kulturhistorische Ursache dafür, dass Photo-Texte bzw. Photo-Romane häufig bis in die Gegenwart unter den Generalverdacht des Kitsches und des Trivialen geraten und erst seit den letzten Jahren nicht mehr kategorisch als Populärkunst gebrandmarkt werden, liegt in der im 19. Jahrhundert ausgebildeten Wahrnehmung der Photographie als objektives Beweismittel und gerade nicht als Bild mit ästhetischem Eigenwert (vgl. Grivel/Gunthert/Stiegler 2003b: 8). Die bislang überzeugendste Studie zum paraliterarischen Photo-Roman in der Romania bietet Schimming (2002). Als weitere Studien, die sich mit französischen Text-Bild/ Photo-Hybriden beschäftigen sind exemplarisch zu nennen: Game (2007), Grote/ Tischer (2000), Soulages (2008) und insbesondere Rentsch (2010), die sich mit den bimedialen Arbeiten von Jean Le Gac und Sophie Calle beschäftigt. Besonders anschaulich dokumentiert wird das neue Interesse am Wechselverhältnis von Photographieund Literatur durch die umfangreiche Publikation der Tagungsakten (Montier/Louvel/Méaux/Ortel 2008). Angemerkt sei jedoch, dass Albersmeier (1992) und Koppen (1987) – wenn auch nur am Rande – auch auf lyrische und dramatische Texte eingehen. Ortel (2002) untersucht ebenfalls eine ganze Reihe poetischer Texte und Wilken (2008) beschäftigt sich hauptsächlich mit dem lyrischen Werk des italienischen Autors Sandro Pennas und spricht diesbezüglich von einer „fotografischen Poesie“ (2008: 239). So beispielsweise die literarischen Miniaturformen von Jean-Loup Trassard (vgl. z.B. 1987; 1989; 1990), die zwischen narrativer Kurzform und Prosagedicht oszillieren. So etwa erst 2006 in dem Themenheft „Photography and Literature“ der Zeitschrift English Language Notes.
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reich einige Studien etwa zu Dieter Brinkmann vorliegen, beschäftigen sich in der frankoromanistischen Forschung nur wenige Beiträge mit diesem Thema.52 Vergleichbares gilt indes auch für die in sich bereits hybride Gattung des Essays, die sich gegenwärtig ebenfalls verstärkt mit der Photographie auseinandersetzt.53 Etwas besser bestellt ist es um photoliterarische Reiseberichte, die zumeist aus kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht werden.54 Bezüglich der in der Forschungsliteratur bereits behandelten Primärtexte ist zusammenfassend festzuhalten, dass die noch immer größtenteils ungeschriebene Literaturgeschichte von französischen Photo-(graphischen)Romanen unzählige Lücken aufweist, die es in den nächsten Jahren zu schließen gilt.55 Vor diesem Hintergrund versteht sich die vorliegende Studie als ein weiterer kleiner Beitrag auf dem Weg zu einer noch zu schreibenden Photo-Literaturgeschichte. Ungleich schwerwiegender erscheint allerdings die Lücke, die sich in der Forschungsliteratur in methodischer Hinsicht abzeichnet. Obwohl sich im Zuge der visuellen Wende und dem Erstarken der Bildwissenschaften zahlreiche Wissenschaftler mit dem Verhältnis von Bild/Photographie und Text/Literatur auseinandersetzten, steht die methodologische Erforschung der intermedialen Beziehungen von Bild und Text nach wie vor am Anfang. Ein systematisches Theoriegerüst zur Analyse bimedialer Phänomene fehlt insbesondere mit Blick auf (literarische) Photo-Text-Hybride (vgl. Rentsch 2010: 40-41).56 Mit Blick auf reine Sprachtexte fällt auf, dass es sich allzu 52 Eine sehr schöne Darstellung der Verbindung von Photographie und Poesie bei Gérard Macé liefert Nitsch (2007). Zu Denis Roche allgemein siehe z.B. Regler (1997). 53 Man denke etwa an Bazon Brock, der sich in seinen essayistischen Werken an einer „photoessayistischen“ Theorie der Bilder versucht. Vgl. Brock/Velsen (1986) und Todorow (2008). 54 Stellvertretend für unzählige andere seien hier lediglich Caraion (2003) und Olcay (2001) genannt. 55 Vgl. hierzu auch den Klappentext der Studie von Albers (2002). Die germanistische Forschung weist diesbezüglich weniger Leerstellen auf. Zuletzt legte Michael Neumann eine (deutsche) Literaturgeschichte der Photographie (2006) vor. Sein Textkorpus umfasst narrative Texte von Mitte des 19. bis Ende des 20. Jahrhunderts, die er exemplarisch analysiert. Anzumerken bleibt jedoch, dass auch er seiner Arbeit kein befriedigendes theoretisches Analyseinstrumentarium zu Grunde legt. 56 In der gegenwärtigen Bild-Text-Forschung ist man ferner dazu übergegangen, der Diversität möglicher Bild-Text-Kombinationen dadurch Rechnung zu tragen, dass die Entwicklung eines methodologischen Bezugssystems im Sinne einer umfassenden Kategorisierung vermieden wird und stattdessen eine an Fallbeispielen orientierte, deskriptiv-offene Herangehensweise gewählt wird (vgl. Louvel/Scepi 2005: 9-10; Voßkamp/Weingart 2005: 10-11). Im Rahmen des Modells der bimedialen photographischen Schreibweise wird dementsprechend auch hier
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oft um mehr oder weniger rein rezeptionsästhetische, motivgeschichtliche bzw. deskriptive Studien handelt, in denen die Begriffe ,Photographie‘ und ,photographisch‘ in Bezug auf konkrete Schreibverfahren z.T. rein metaphorisch bzw. metonymisch verwendet werden; d.h ihren Untersuchungen werden vielfach keine Typologien unterschiedlicher Manifestationsformen des ko- und intermedialen Zusammenspiels zu Grunde gelegt.57 Zudem bearbeiten viele Studien vor allem solche Werke, bei denen ein offensichtlicher Bezug zwischen den Medien besteht: Sei es, dass reale Photographien mit Texten verbunden werden,58 dass dem Motiv Photographie auf der inhaltlichen Ebene eine besondere Bedeutung zukommt – etwa weil sich die Romanfiguren in irgendeiner Weise mit der Photographie beschäftigen – oder dass „sprechende“ Titel bereits einen deutlichen Bezug zur Photographie anzeigen.59 Jedoch finden sich nur vereinzelte Ansätze eindeutiger definitorischer Festlegungen darüber, wie photographische Momente in einem literarischen Text grundsätzlich manifest werden können oder aber diskursanalytische Methoden der Textanalyse.60 Dies trifft selbst auf eine insgesamt gut fundierte und überzeugende Studie wie die von Guilia Eggeling (2003) zu, deren Titel Mediengeprägtes Erzählen eigentlich eine solche Auseinandersetzung im Anschluss an Tschilschkes filmisches Schreiben und Rajewskys in-
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keine essenzialistische Metatheorie entwickelt. Da es für die konkrete Untersuchungspraxis nichtsdestotrotz sinnvoll erscheint, einen typologischen Bezugsrahmen vorzugeben, wird eine Typologie von Photo-Text-Kombinationen vorgestellt, die die allgemeinen Grundkategorien des bimedialen Zusammenspiels in Form eines Klassifizierungsmodells beschreibt. Überzeugende Ausnahmen bilden v.a. Albers (2002b) sowie Blazejewski (2002). So werden z.B. Arbeiten der Autoren Marie-Françoise Plissart (z.B. Konstantantinović 1989) oder Hervé Guibert (u.a. Baumann 2008, Cingal 1997, Sarkonak 1997 und Strom 1998) analysiert. Wie es etwa in Julio Cortázars „Las babas del diablo“, in Patrick Modianos Chien de Printemps, bei Jean-Philippe Toussaints Roman Appareil-Photo oder aber bei einer Reihe von Werken Hervé Guiberts (z.B. L’image fantôme) der Fall ist. Zu Cortázar siehe Stemmler (2006). Zu Modiano siehe etwa Grojnowski (2002), Morris (1998) oder Vanoncini (2001). Zu Toussaint siehe z.B. Böhm (2002), Ecker (1999), Eggeling (2003), Schmidt (2001), Scholle (2003), Strom (1998), Winter (2002). Zu Guibert siehe vorherige Fußnote. Wegweisend zur Analyse photographischer Strukturmerkmale in narrativen Texten war die Studie von Buddemeier (1981), der folgende Kategorien entwickelte, um so den Einfluss des Mediums auf die literarische Gestaltung nachzuweisen: Ausschnitt, Schärfenbereich, Verkleinerung, Immobilisierung, Beschränkung auf das Sehen, privilegierter Beobachterstandpunkt. Wie Koppen (1992: 243-244) später feststellte, fehlt es einem Teil der Buddemeierschen Kategorien allerdings an terminologischer Trennschärfe, treffen einige Kennzeichen doch gleichermaßen auch für die Malerei zu. Weitere fruchtbare Ansätze finden sich bei Becker (2010), Koppen (1987) und Krauss (2000).
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termediales Erzählen erwarten ließe. Doch auch sie geht nur gelegentlich und in eher unsystematischer Weise auf strukturelle Übertragungsverfahren ein.61 Noch deutlicher tritt dieses Manko in Stroms Photographia in Poesis (1998) zu Tage, der einzigen Studie zur Literatur der achtziger und neunziger Jahre, die sich explizit ausschließlich der Untersuchung photographischer Momente im französischen Roman des so genannten Minimalismus zuwendet. Entgegen des Anliegens, Facetten der Photographie auch auf der discours-Ebene zu erfassen, gelangt die Arbeit nur am Rande zu tiefer reichenden Erkenntnissen hinsichtlich diskursstruktureller Gestaltungsverfahren. Im Zentrum stehen vielmehr die Verwendung des Motivs Photographie als Erinnerungsmedium auf Handlungsebene sowie die Frage danach, inwiefern die ausgewählten Autoren die Photographie einer mythologischen Deutung unterziehen und explizit als Metapher ihres Schreibens instrumentalisieren.62 Da auch Strom kein Untersuchungsmodell intermedialer Bezüge entwickelt, wirken insbesondere seine interpretatorischen Ausführungen zur Diskursstruktur mitunter etwas beliebig. Soll der Begriff der ,photographischen Schreibweise‘ jedoch als stilistischer Kunstgriff im Sinne spezifischer ästhetischer (mono- wie bimedialer) Schreibverfahren verstanden werden, so impliziert dieses Desiderat zugleich, dass sich Formen photographischer Schreibweise auch in solchen Texten nachweisen lassen, in denen der Bezug zwischen den Medien nicht explizit im Zentrum steht. Eine Bearbeitung des Themas, welche das Phänomen der Interrelationen von Photographie und Literatur umfassend beleuchtet und dabei neben der medialen Formanalyse auch konsequent und systematisch die Diskurs-, Makro- und Mikrostrukturebenen des Textes63 61 Hierauf verweist auch Tschilschke (2004: 51). Auch Stemmlers „fotografisches Erzählen“ (2006), Vanoncinis „écriture photographique“ (2002) und Wilkens „fotografische Schreibweise“ (2008) zielen zwar auf die Untersuchung photographischer Strukturen, weiterreichende Darstellungen von methodischen Textanalyseverfahren fehlen jedoch und letztlich bearbeiten die Autoren vor allem das Motiv der Photographie auf der histoire-Ebene sowie die Photographie als literarische Metapher bzw. – bei Wilken – als metonymische Vergleichsfolie für die Gattung Gedicht (vgl. 2008: insbesondere 244-248). Von den genannten Untersuchungen ist die von Susanne Stemmler zweifelsohne die überzeugendste, allerdings wechselt bei ihr der Fokus recht oft zwischen Photographie und Film (siehe z.B. 2006: 200, 208). 62 Diese Vorgehensweise erklärt sich nicht zuletzt auch aus seiner Texauswahl: Neben einer Reihe von Werken anderer Autoren wie Paul Auster oder Antonio Tabucci stehen Romane von Hervé Guibert und Jean-Philippe Toussaint im Mittelpunkt seiner Untersuchung. 63 Die beiden letztgenannten Termini werden hier in der Definition von Bierwisch verwendet (1971: 584-586). In terminologischer Anlehnung an die Differenzierung von discours und récit/histoire werden mit dem Begriff ,Diskursstruktur‘ Verfahren der erzählerischen Vermittlung bezeichnet.
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auf photographische Strukturen hin untersucht, steht damit noch aus. So lässt sich auch weiterhin, wenn freilich mit einigen Einschränkungen, mit Hubertus von Amelunxen (1995b: 225) konstatieren: „vieles ist in der Forschung des letzten Jahrzehnts bearbeitet worden, vieles liegt nach wie vor mangels methodologischer Prämissen brach.“ Die vorliegende Studie stellt den Versuch dar, einen Beitrag zur Schließung der aufgezeigten Lücken zu leisten.
3. Patrick Deville Textauswahl und Verortung in der französischen Gegenwartsliteratur
Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts manifestiert sich ein Generationswechsel, der das literarische Feld entscheidend verändert. Nach dem Tod einiger tonangebender Autoren der Avantgarde (Jean-Paul Sartre, Roland Barthes, Michel Foucault), dem Ende von TelQuel und OuLiPo sowie dem Abgesang auf den nouveau roman1 zersplittert sich das literarische Feld, das sich vormals um ein in Paris angesiedeltes theoretisches Zentrum gruppierte. Für die zu dieser Zeit noch junge und zu publizieren beginnende Autorengeneration gilt es, den Literaturbetrieb in einem nunmehr dezentrierten literarischen Feld mit innovativen poetischen und ästhetischen Zielsetzungen neu zu bestimmen und so zu neuem Leben zu erwecken.2 Maß1
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„Je n’ai jamais parlé d’autre chose que de moi.“ (Robbe-Grillet 1984: 7) – Mit diesem berühmt gewordenen und viel zitierten Satz scheint der stets provozierende Robbe-Grillet sein eigenes Theoriekonzept des nouveau roman zu konterkarieren. Zweifelsohne markiert Le miroir qui revient, der erste Band seiner mit „Romanesques“ überschriebenen autofiktionalen Trilogie, insofern eine einschneidende Richtungsänderung, als er wieder auf die zuvor verworfenen Kategorien wie Subjekt oder histoire des traditionellen Romans zurückgreift (nebenbei sei bemerkt, dass genau genommen auch der nouveau roman nicht ohne histoire ausgekommen war, ging es doch auch hier um die ewig gleichen Geschichten von Liebe, Leidenschaft und Eifersucht), doch geschieht auch diese Wiederaufnahme – wie der mehrdeutige Titel seines letzten Romans La Reprise (2001) sinnfällig zum Ausdruck bringt – in Form eines erneuten Versuchs der Überbzw. Verarbeitung des Alten. Damit wird Alain Robbe-Grillet wieder zu einem wegweisenden Vorreiter. Der Begriff der ,reprise‘ kann zugleich als Programm einer neuen Autorengeneration verstanden werden, die gerade aus der spielerischen-kreativen Recyclage eine neue, eigenständige Form des Schreibens hervorbringt. Relativ dezentriert ist die Literaturproduktion der „postmodernen Avantgarde“ übrigens auch in geographischer Hinsicht, denn sie erobern den nationalen Buch-
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geblich getragen wird diese wegweisende Neuorientierung von Autoren wie Patrick Deville, Jean Echenoz, Christian Gailly, Hélène Lenoir, Christian Oster, Marie Redonnet und Jean-Philippe Toussaint, die – und das allein könnte als Zeichen ihres „post(modern)-avantgardistischen“ Potenzials geltend gemacht werden – allesamt bei dem legendären Verlagshaus Minuit zu publizieren beginnen und deren Romane von Jérôme Lindon, dem im Jahr 2001 verstorbenen Führungsvorstand der Éditions Minuit, als „romans impassibles“ bezeichnet wurden.3 Allerdings darf das textexterne Argument des gemeinsamen Verlages nicht darüber hinwegtäuschen, dass neben den so genannten „neuen“ Minuit-Autoren auch eine Reihe anderer Autoren wie etwa Pierre Bergounioux, François Bon, Christian Garcin, Olivier Rolin oder Antoine Volodine in ihren Werken mit ähnlich innovativen Schreibweisen arbeiten. Neben der Etikettierung als „typisch postmoderne Literatur“ gibt es eine enorme Begriffsfülle zur Bezeichnung der Texte dieser Autoren. So stößt man u.a. auf die folgenden Bezeichnungen: autre roman, roman minimal, roman minimaliste, renouveau romanesque, nouveau nouveau roman, néonouveau roman, post-nouveau roman, roman post-nouveau, postliterary novel, postexperimenteller oder post-avantgardistischer Roman.4 Die Schreibweisen der größtenteils befreundeten und häufig gemeinsam publizierenden Autoren der französischen Literaturszene verbinden gewisse ästhetische und stilistische Gemeinsamkeiten. Diese manifestieren sich beispielsweise in
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markt zumindest teilweise von der Provinz aus. So weist beispielsweise SaintNazaire nicht zuletzt durch das von Deville initiierte Literaturhaus M.E.E.T. einen lebhaften Literaturbetrieb auf. Zur zeitgenössischen Literaturproduktion Frankreichs siehe u.a.: Albert (1990), Amette (1989), Asholt (1994a) und (1994b), Bernard (2000) und (2005), Blanckeman (2000) und (2002), Blanckeman/MuraBrunel/Dambre (2004), Brandstetter (2006), Brunel (1997a) und (1997b), Eberlen (2002), Esfandi (2001), Flieder (1998), Flügge (1992), Garcin (2004), Gelz/Ette (2002), Jourde (2002), Joye (1990), Mecke (2000a) und (2002a), Pancrazi (1993), Richter (2003), Salgas (1993), Sallenave (1989), Schmidt-Supprian (2003), Schoots (1994) und (1997), Tonnet-Lacroix (2003), Touret/Dugast-Portes (2001), Viart/Vercier (2008) und La Quinzaine Littéraire 532 (1989). In einem von Jean-Pierre Salgas geführten Interview erläutert Lindon seine Bezeichnung wie folgt: „Impassible, ça n’est pas l’équivalent d’insensible, qui n’éprouve rien; cela signifie précisément le contraire: qu’on ne trahit pas ses émotions….“ (Lindon/Salgas 1989: 34) Zu den „jungen“ Minuit-Autoren siehe Ammouche-Kremers (1994). Vgl. Schoots (2000: 188) und Tschilschke (2000: 13-14). Unter Rückbezug auf Barthes, der in Le degré zéro de l’écriture (1953) den Begriff ,littérature blanche‘ zur Bezeichnung von Camus’ Schreibweise in L’Etranger prägt, schlägt Jourde die Übertragung des Terminus auf die Gegenwartsliteratur vor. Daneben verwendet er den provokanten Terminus ,littérature sans estomac‘ (Jourde 2002: insbesondere 151-157).
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dem zuweilen spielerischen und oftmals bildhaft-oberflächlichen Umgang mit Sprache, der Vorliebe des Labyrinthischen, der Rekombination von Themen bzw. Stilelementen „hoher“ und paraliterarischer Literatur sowie in der Verwendung intermedialer und ironisierender Einschreibungen.5 Da sich die zwar relativ eindeutig definierbare Gruppe dieser Schriftsteller nicht als homogenes Autorenkollektiv im Sinne einer literarischen Schule verstanden wissen will und sich folglich auch keiner gemeinsamen poetischen Theorie verpflichtet, kann letztlich kaum einer der oben genannten Begriffe die volle Bandbreite der literarischen Produktion erfassen und damit der Heterogenität ihrer jeweiligen Schreibweisen gerecht werden. Die explizite Verweigerung einer Gruppenzugehörigkeit sowie die Absage an poetologische und literaturtheoretische Manifeste stellt freilich selbst wiederum eine Pose der Selbstinszenierung dar, die die Abkehr von der Ästhetik von TelQuel, OuLiPo und nouveau roman unterstreicht.6 Besonders eindringlich verdeutlicht sich diese Abwehrhaltung gegenüber gemeinsam verfolgter produktionsästhetischer Absichten in dem von Olivier Rolin verfassten Kommentar zu Rooms (2006), in dem er jeden Manifestcharakter des Gemeinschaftswerks explizit verneint: Ces vingt-huit chambres forment un caravansérail amical – ni plus, ni moins. On pourrait donner à leur recueil le titre d’un tableau de Max Ernst datant de 1922, où sont peints les membres du groupe surréaliste, ,Au rendez-vous des amis‘: à ceci près que ce n’est pas un groupe que rassemblent ces pages, moins encore une ,avant-garde‘, pas même une bande. Rooms affirme rien, Rooms n’est évidemment pas le manifeste d’une
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Mit einem Augenzwinkern bezieht sich Deville dergestalt implizit auf Toussaint, dass er die orthographisch nicht normgerechte Schreibung des Begriffs ,salle de bain‘ verwendet: Für Toussaint ist „das fehlende -s [seit seinem Kurzroman La salle de bain (1985); M.O.H.] eine Art Markenzeichen“ (Jacobs 1994: 332 Fn 5) geworden. Siehe (CB 118), (LV 16, 45, 64, 67, 77, 101), (FP 52, 58, 62, 64, 71, 99, 111, 142-143, 154), (NL 9) und (CDL 148). Vgl. auch Asholt (1994: 19). In seiner Überblicksdarstellung der (minimalistischen) Literatur Frankreichs von 1989 hebt Robbe-Grillet (1989: 1122) diesen Aspekt ganz besonders hervor. Und in der Tat vertritt er in dem Kapitel „A quoi servent les théories“ in Pour un nouveau roman eine ganz ähnlich Position: „Ces textes constituent en rien une théorie du roman; […] Si j’emploie volontiers […] le terme Nouveau Roman, ce n’est pas pour désigner une école, ni même un groupe défini et constitué d’écrivains qui travaillent dans le même sens [...].“ (PNR 9; Herv. i. O.) Allerdings – und das unterscheidet die zeitgenössischen Autoren von den nouveau romanciers – melden sich die Minimalisten hinsichtlich ihrer jeweiligen Poetik überhaupt nicht zu Wort. Siehe hierzu auch Mecke (2000a: 430-431). Äußerungen zu ihren Schreibweisen finden sich daher lediglich in Interviews (angemerkt sei, dass auch die vermeintlich poetologische Schrift Über wissenschaftliche und poetische Schreibweisen von Patrick Deville nur in deutscher Version vorliegt und auf der Grundlage eines Interviews zusammengestellt wurde).
50 | EINFÜHRUNG école, juste un jeu entre des auteurs (romanciers surtout, mais pas seulement) que lie un peu plus que de l’estime. (Klappentext von Rolin 2006; Herv. i. O.)
Im Hinblick auf Patrick Devilles Schaffen bieten bei der Suche nach Oberbegriffen vor allem zwei Termini befriedigende Lösungen: Zum einen der von Jochen Mecke (2000a) vorgeschlagene Begriff ,roman nouveau‘, der sich dadurch auszeichnet, dass er zugleich die Nähe zum literarischen Vorgänger des nouveau roman als auch den innovativ-kreativen Gehalt der Romane ausdrückt (ebd.: 406). Zum anderen hat sich die Bezeichnung ,literarischer Minimalismus‘ zur Klassifizierung von Autoren wie Deville, Echenoz, Toussaint u.v.a in der gegenwärtigen Forschung weitgehend durchgesetzt.7 Dabei wird das minimalistische Schreiben als eine Ästhetik der Reduktion verstanden, die sich in einem Spannungsfeld von realistischer, referenziell-formalistischer Ästhetik bewegt und sich als Poetik inszenierter Aliterarizität und Inauthentizität äußert.8 Damit unterscheidet sich der literarische Minimalismus französischer Provenienz, deutlich von der gleichnamigen amerikanischen Strömung: Contrairement aux minimalistes américains, les minimalistes français déréalisent le réel, et présente de la sorte le récit sous forme de représentation. Autrement dit, le récit réaliste traditionnel constituerait au niveau narratif une présentation de la réalité, alors que le récit revisité par les minimalistes serait une représentation. Le récit réaliste traditionnel procédérait d’une volonté de coller à la réalité pour la rendre autant que possible saisissable en tant que telle. Le réalisme traditionnel mettrait tous les moyens en œuvre pour masquer sa qualité de représentation, tandis que le récit minimaliste se présenterait ouvertement en étalant au grand jour ses artifices, comme une représentation. (Esfandi 2001: 20)
Diese in der Literaturkritik vielfach als Oberflächlichkeit bemängelte Tendenz zur Verdeutlichung der Medialität des Repräsentationscharakters wird von den minimalistischen Autoren nicht nur ganz bewusst eingesetzt, sondern mit Hilfe von Referenzen auf diverse Bildmedien sogar noch unterstri7
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Eine sehr gut zu lesende, umfassende Darstellung der minimalistischen Schreibweise in Frankreich liefert Fieke Schoots (1994) und (1997). Siehe auch die Studie Small Worlds von Motte, der den französischen Minimalismus vor allem als Suche nach neuen Ausdrucks- und Stilformen auffasst (vgl. 1999: 13). Mit Schramm (1999: 21) lässt sich das ,minimalistische Schreiben‘ folgendermaßen zusammenfassen: „Minimalismus kann sowohl zu einer Erzählweise, einem Erzählgegenstand als auch einem Erzählverfahren werden, wobei nicht davon auszugehen ist, daß es sich immer um Kürze in einem quantitativen Sinne handelt.“ Siehe auch Baetens (2004a). Zum Konzept inszenierter Inauthentizität als Strukturmerkmal minimalistischen Schreibens siehe Brandstetter (2006) und insbesondere Mecke (2000a) und (2002a).
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chen, wodurch sie zugleich ihren intermedialen Gehalt als eines ihrer wichtigsten Strukturmerkmale thematisieren (Asholt 1994b: 19-20). Während bei einer Vielzahl minimalistischer Erzähltexte filmische Referenzen dominieren, sind Devilles Erzähltexte zudem von mehr oder weniger deutlichen Bezügen zur Photographie durchdrungen.9 Dass Deville das statische Medium Photographie zu einem Thema macht, das seinem Erzählwerk eine gewisse Kontinuität verleiht, zeigt sich beispielsweise darin, dass er auch bei filmischen Anleihen gerade die photographischen Qualitäten des bewegten Mediums thematisiert und reflektiert. Interessant ist ferner, dass sich bei Deville ein Wandel bzw. eine Weiterentwicklung des „photographisch geprägten Erzählens“ (Eggeling 2003: 9) abzeichnet, während sich bei anderen Autoren wie beispielsweise bei Echenoz eine allmähliche Abkehr von visuellen zu Gunsten musikalischer Schreibverfahren beobachten lässt.10 Ein durchgängiges Kennzeichen aller Texte Devilles liegt mitunter darin, dass sie sich einer eindeutigen Zuordnung zu den konventionell üblichen Genre- und Gattungsbegriffen entziehen.11 Typisch ist vor allem für die neueren Werke, dass es sich um Hybridformen handelt, die im Zwischenbereich von fiktionaler Erzählung, (Auto-)Biographie, Historiographie, Essay, Reportage und Reisebericht und damit zugleich zwischen Fiktion und Faktion, zwischen Imagination und Realität anzusiedeln sind: So heißt es in der Literaturkritik zu Devilles Roman Equatoria: „[L]’auteur imagine une nouvelle forme romanesque où s’unissent sans à-coups des extraits de presse, des morceaux de journaux intimes, des fragments d’archives, des observations quotidiennes et personnelles. Les époques se croisent pour constituer un nouveau ,voyage extraordinaire‘ […].“ (Ferniot 2009; Herv. i. O.) 9
Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch darauf, dass sich gerade in den Romanen von Bon, Echenoz und Toussaint neben filmischen auch weiterreichende photographische Refenzen manifestieren. Bei Redonnet beschränken sich die Referenzen hingegen vor allem auf die motivische Ebene. 10 Au Piano (2003) und Ravel (2006) kreisen um Themen der Musik. Ohne einen harten Bruch zu seinen vorangegangenen Romanen zu markieren, schlägt Echenoz in diesen Romanen zudem einen deutlich anderen Ton an. Angemerkt sei, dass eine Untersuchung der intermedialen Bezüge zur Musik auch bei Deville sicher lohnend wäre, denn das grundlegende Interesse an Musik manifestiert sich auch durchgängig in seinem Werk: Auffallend häufig arbeitet er mit dem Phänomen des Ohrwurms, d.h. mit Melodien und Refrains, die kollektiven Erinnerungswert bestimmter Generationen erfüllen und in den Erzähltexten vielfach leitmotivisch eingesetzt werden. 11 Deville nähert sich damit den Schriftstellern der gegenwärtigen französichen Literatur an, die Viart/Vercier (2008: 102-128; zu Deville siehe 117) unter dem Begriff ,fiction biographique‘ zusammenfassen (zu nennen wären hier z.B. Jean Echenoz, Gérard Macé, Pierre Michon oder Pascal Quignard). Aufgrund der im Analyseteil aufgezeigten Besonderheiten von Devilles Werken scheint diese begriffliche Zuordnung allerdings etwas zu unspezifisch. Vgl. hierzu Hamel (2007).
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Patrick Deville wurde 1957 in Saint-Brévin-les-Pins (Loire Atlantique) geboren. Zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit lehrte er als Philosophiedozent an der Universität Nantes, widmete sich dann jedoch voll und ganz der Literatur. Er ist Begründer und Leiter des in Saint-Nazaire ansässigen Kultur- und Literaturhauses „Maison des Écrivains Étrangers et des Traducteurs“ sowie der dazugehörigen Zeitschrift M.E.E.T.12 Teilweise berufsbedingt verbrachte Deville in der Vergangenheit immer wieder längere Zeit im Ausland. Zahlreiche Erfahrungen und Erlebnisse seiner beruflichen und privaten Reisen, die ihn zunächst in den arabischen Raum, später dann in die Länder des ehemaligen Ostblocks, wiederholt nach Mittelamerika, auf den afrikanischen Kontinent und zuletzt nach Südostasien führten, fanden und finden immer wieder unmittelbar Eingang in seine Prosawerke. Die literarische Bühne betritt Patrick Deville 1987 mit seinem Romandebüt Cordon-bleu. Bereits ein Jahr später veröffentlichte er mit Longue vue seinen zweiten Roman. Es folgten die Romane Le feu d’artifice (1992), La femme parfaite (1995), Ces deux-là (2000), Pura vida. Vie et mort de William Walker (2004), La tentation des armes à feu (2006), Equatoria (2009) und der online publizierte Kurzroman Vie et mort de sainte Tina l’exilée (2011).13 Pünktlich zur rentrée littéraire erscheint im September 2011 mit Kampuchéa, der dritte Roman seiner mit Pura Vida begonnenen und mit Equatoria fortgeführten dokufiktional angelegten Welt(-literatur-)reise12 1993 übernahm M.E.E.T. den Literaturpreis Laure-Bataillon, der 1986 von den Städten Nantes und Saint-Nazaire ins Leben gerufen wurde. Die von der UNESCO geförderte Vereinigung organisiert regelmäßig Kolloquien sowie Schreib- und Übersetzungswerkstätten. Seit 1997 gibt M.E.E.T. die gleichnamige, jährlich erscheinende Zeitschrift heraus, in der die Texte der Teilnehmer des Literaturwettbewerbs sowie der Schreib- bzw. Übersetzungsateliers zweisprachig veröffentlicht werden (Laugier 1997). Siehe auch unter der Homepage von M.E.E.T.: http://www.meet.asso.fr/. Zur UNESCO-Förderung siehe: http://portal. unesco.org/culture/en/ev.php-URL_ID=4191 & URL_DO=DO_PRINTPAGE & URL_SECTION=201.html. 13 In Vie et et mort de sainte Tina l’exilée setzt Deville erstmals die Möglichkeiten des Internets unmittelbar bei der Textgestaltung ein: In dem online lesbaren Text sind insgesamt rund 140 Eigennamen von Orten und Personen mit den entsprechenden Wikipedia-Eintägen verlinkt. Auf diese Weise wird zum einen der Faktualitätsgehalt der erzählten Lebensgeschichte(n) unterstrichen, zum anderen ermöglicht Deville dem Leser, sich schnell möglicherweise fehlendes Hintergrundwissen anzueignen. Damit verliert der Text aber auch seine Abgeschlossenheit, denn die Einträge bei Wikipedia können sich jederzeit verändern, so kann etwa auch der Rezipient den Text indirekt weiterschreiben, indem er das Textgewebe von Wikipedia durch eigene Einträge ergänzt. Zugleich wird der Rezipient zu einem „Reisenden“, zu einem errant, der sich leicht im weit vernetzten Universum des Internets verlieren kann; der Lektüreprozess läuft damit nicht mehr streng linearchronologisch ab.
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Trilogie (vgl. Londner 2009). Daneben verfasste Deville aber auch eine Reihe kürzerer Texte. Eine gewisse Sonderstellung nehmen dabei die eigenständig publizierten Texte Une photo à Montevideo und Transcaucase express (beide 2000) sowie die Erzählungen „La 403 de Paco Santero“ (1995) und „La tentation des armes à feu“ (2001/2002) ein, die z.T. in etwas veränderter Form zu Kapiteln der Romane Pura vida. Vie et mort de William Walker bzw. La tentation des armes à feu wurden. Andere seiner Kurz- und Kürzestgeschichten entstanden im Kontext von gemeinschaftlichen Schreibprojekten, an denen unter anderen namhafte Zeitgenossen von Deville wie beispielsweise Bon, Echenoz, Rolin oder Toussaint beteiligt waren. Abgesehen von Devilles Text „Nordland“ (1994), der unter dem Titel „Absolut Homer“ des gleichnamigen experimentellen Schreibprojektes des österreichischen Schriftstellers Walter Grond auch in deutscher Übersetzung vorliegt, ist die intratextuelle Verküpfung der von unterschiedlichen Autoren verfassten Einzelkapitel in anderen Gemeinschaftsarbeiten weniger stark ausgeprägt,14 so dass die folgenden Texte auch als in sich abgeschlossene Erzählungen außerhalb ihres jeweiligen Gesamtkontextes gelesen werden können: Die Kurzgeschichte „Passe-passe“ ist die zweite Episode des Kollektivwerks Semaines de Suzanne, das 1991 unter dem Pseudonym New Smyrna Beach bei Minuit veröffentlicht wurde.15 „Nageuse!“ ist eine Erzäh14 Walter Gronds Kollektiv-Schreibprojekt ist ein Pastiche der Homerschen Odyssee, bei dem die Einheit des Autors einem „Schriftstellerchor“ weicht. Das Prinzip der Polyphonie gilt hier also über den Text hinaus. Wenngleich die jeweils „Absolut Homer“ übertitelten Textteile der insgesamt 22 Autoren durch eine Art Rahmen miteinander verbunden werden und in chronologischer – oder passender topographischer – Abfolge die Reise des postmodernen Odysseusverschnitts verfolgen, fügt sich daraus am Ende dieses literarischen Konzeptkunstwerkes kein Roman, „sondern eher eine Anthologie von Reisetexten“ (Jandl 1996). Bei der deutschen Übersetzung handelt es sich um keine völlig werkgetreue Übertragung, so heißt z.B. die Frau, die den Erzähler in ihren Bann zieht, im französischen Original zwar ebenfalls Teb, jedoch nennt der Erzähler sie Ciré. 15 Semaines de Suzanne ist das Ergebnis eines gemeinsamen Schreibprojektes der Schriftstellerfreunde Deville, Echenoz, Rolin und vier weiterer Autoren, die sich für ihr Schreibexperiment in der amerikanischen Küstenstadt New Smyrna Beach zusammengefunden hatten. Unklar ist allerdings, ob die Namensparallele des gewählten Tagungsortes zu einem der angeblichen Geburtsorte Homers bewusst erfolgte. Die insgesamt sieben Erzähltexte handeln alle von der gemeinsam erfundenen Protagonistin Suzanna alias Suzanne, Susy oder Sue und beleuchten jeweils völlig unterschiedliche Phasen ihres Lebens und Facetten ihres Charakters. Anders als bei Absolut Homer gibt es hier weder eine Rahmenhandlung, die die einzelnen Episoden verbindet, noch eine chronologische Handlungsprogression. Wie in der an einen Wörterbucheintrag erinnernden Einleitung erläutert, wurden die sieben Erzählungen in Bezug auf die Namen der Autoren alphabetisch angeordnet. Darüber hinaus erscheinen bestimmte Gegenstände und Motive
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lung aus dem bimedialen Text Negro toi-même (2005) und „Chambre 301, Pansion Čobanija, Sarajevo“ ist einer von insgesamt 29 sehr unterschiedlich gearteten, fiktionalen Texten in dem bereits erwähnten Buch Rooms.16 Der Text „L’horizon est plus grand“ (1997) befindet sich in dem Bildband La clef du monde, l’œuvre gravée, der dem Werk des französischen Künstlers Richard Texier gewidmet ist.17 Weitere Arbeiten, wie z.B. „Le lazaret de Mindin“ (1997) finden sich in Anthologien und Sammelbänden, die zum Teil wie die folgenden auch von Deville selbst konzipiert wurden: „De l’autre côté de l’eau“ (2003) ist einer der Texte aus dem kollektiven PhotoText-Band Queen Mary 2 & Saint-Nazaire und „Les histoires dans le tapis“ (2006) erschien in dem Sammelband Lectures lointaines. Mit Hinblick auf die intermediale Durchdringung des Schreibens hat Eggeling (vgl. 2003: 9) auf die nicht ganz unrelevante Bedeutung der Verlagsausrichtung hingewiesen: Freilich handelt es sich hierbei lediglich um einen paratextuellen18 Aspekt der Literaturproduktion, allerdings zeichnet sich gerade Minuit, bei dem die ersten fünf Romane Devilles publiziert wurden, durch sein traditionsreiches, medial ausgerichtetes Verlagsprofil aus.19 Und auch wenn die letzten vier Romane Devilles nicht mehr bei Mi-
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in mehreren Geschichten (vgl. hierzu die eingängige Analyse des Textganzen von Dufour 1996). Rooms erzählt kleine Geschichten über Hotelzimmer in den verschiedensten Weltgegenden und entstand möglicherweise als Reaktion auf die nicht ganz ernst gemeinte Idee Jorge Semprúns, eine Fortsetzung zu Olivier Rolins ähnlich konzipiertem Buch Suite à l’hôtel Crystal (2004) zu verfassen (Rüf 2006). Rooms ist ein eindrückliches Beispiel für die in der Forschungsliteratur immer wieder hervorgehobene Verspieltheit zeitgenössischer Literaturproduktion, die als Relikt von OuLiPo und TelQuel gelesen wird. Lebrun (2006) will in Rooms sogar eine postmoderne „Wiederauflage“ von Georges Perecs La Disparition (1969) erkennen. In diesen Zusammenhang ist auch die intramediale Referenz Devilles auf Rolins Werk zu setzen, die darin besteht, dass er in „Chambre 301, Pansion Čobanija, Sarajevo“ die schillernde Figur Thémistocle Papadiamantides auftreten lässt, die der Leser bereits aus Suite à l’hôtel Crystal kennt (Rüf 2006). Abgesehen von weiteren Beispielen von Interfiguralität erscheint Rooms vielmehr als lose und zusammenhangslose Abfolge äußerst heterogener Erzähltexte. Da das Buch mit limitierter Auflage leider nicht verfügbar war, konnte der Text nicht beachtet werden. Ferner konnten die Texte „Courgette, ciboulette et aubergine“ (1998) und „Saint-Nazaire et Dunkerque“ (2000) leider nicht beschafft werden und mussten bei den Textanalysen daher auch unberücksichtigt bleiben. Zum Begriff ,Paratext‘ siehe Genette (1992). Von wesentlicher Bedeutung war vor allem die langjährige Mitarbeit des im Februar 2008 verstorbenen Alain Robbe-Grillet im comité de lecture, da so die einst von ihm selbst über Minuit initiierte und propagierte Poetik der École du regard (PNR 8) zumindest indirekt fortwirkte. Als eine Art „literarisches Gewissen hielt
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nuit, sondern in der Reihe „Fiction & Cie“ des Seuil-Verlags erschienen, so wird die verlagsbedingte Kontinuitätslinie damit nicht unterbrochen: Schließlich ist Denis Roche selbst namhafter Photograph, Schriftsteller und verantwortlicher Leiter besagter Reihe, in der Texte erscheinen, die sich nicht nur einer eindeutigen Zuordnung als Fiktion oder Faktion entziehen, sondern zugleich auch das Wechselspiel von Literatur und anderen medialen Ausdrucksformen thematisieren, und in der sich eine Fortführung des Erbes von TelQuel manifestiert. Ein weiteres textexternes Argument, das dazu berechtigt, Devilles Werke unter dem Blickwinkel photographischer Referenzen zu untersuchen liegt in der Tatsache, dass Deville – um mit Mitry (1975) zu sprechen – dem Typus des photographierenden Autors zuzuordnen ist.20 Deville zählt dabei zwar weder wie etwa Sophie Calle, Hervé Guibert, Jean Le Gac, Denis Roche oder Jean-Loup Trassard zu den zeitgenössischen Künstlern mit so genannter Doppelbegabung (vgl. Koppen 1992: 237), die also gleichermaßen als Literaten und Photographen im engeren Sinne gelten können und in beiden Künsten gleichermaßen veröffentlichen,21 noch zu den photographierenden Schriftstellern, die sich, wie beispielsweise Annie Ernaux in L’usage de la photographie (2005), auch in ihren literarischen Werken explizit mit phototheoretischen Überlegungen auseinandersetzen. Dennoch bezeugt der Amateurphotograph überaus großes Interesse an der Photographie sowie am Akt des Photographierens.22 Am prägnantesten zum Ausdruck kommt dies wohl in seinen bimedialen Photo-Texten sowie dem leider nicht publizistisch dokumentierten und daher in dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigten Ausstellungsprojekt Cavale (2000), einem photoliterarischen Experiment, das sich aus separat dargebotenen Textfragmenten, Zeichnungen und Robbe-Grillet dem Verlag über dreißig Jahre lang die Treue“ (Ritte 2008). Vgl. auch Eggeling (2003: 9). 20 Natürlich kann das Interesse des Autors an der Photographie allein nicht als hinreichendes Argument für eine direkte Verbindung von photographischer Tätigkeit und photographischer Qualität seines Schreibens herangezogen werden, trägt jedoch indizierenden Charakter für das Wissen um photographische Techniken einerseits und für Sensibilität des Autors gegenüber dem Medium andererseits. 21 Wie Ulrich Weisstein (1992: 25-26) unter Rückbezug auf Kent Hooper ganz richtig feststellt, sind Fälle tatsächlicher Doppelbegabung recht selten, sehr viel häufiger handelt es sich um Doppelbetätigung, d.h. um Künstler, die zwar Werke in mehreren Künsten hervorbringen, bei denen aber eine Kunstform qualitativ über die andere(n) dominiert (vgl. auch Hooper 1987: 9-11). 22 Dass Deville ein Kenner zeitgenössischer Photographie ist, zeigt sich z.B. in dem Editorial zu dem Zeitschriftenband meet 10, wo er auf ein Schwarzweißbild des Photographen Milomir Kovačević von 1992 Bezug nimmt, das die in Flammen stehende Bibliothek in Sarajevo zeigt (Deville 2006c: 9) oder aber in dem Dialoggespräch „Photographie: mémoire et révélation“, das Deville mit Jean-Loup Trassard am 31.März 2010 im Centre National du Livre führte.
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Photographien von Deville zusammensetzte.23 Auch Transcaucase express geht auf eine textbegleitete Photo-Ausstellung im Ecomusée de SaintNazaire im Jahr 2000 zurück. Bei der Frage, welchen Stellenwert die Photographie für Devilles fiktionale Texte hat, erscheinen die Erzählungen „Nageuse!“ (2005) und „Esquina Tacón, km 37“ (2004) sowie der Kurzroman Vie et mort de sainte Tina l’exilée (2011) besonders relevant. „Nageuse!“ ist Teil von Negro toi-même, einer Sammlung von Texten, die auf Anregung der Photokünstlerin Marylène Negro entstand.24 Acht Autoren erhielten den Auftrag, zu dem seltsam anmutenden Titel zu schreiben. Der Titel ist als ironische Anspielung auf den Nachnamen der Künstlerin zu betrachten, wobei die Verbindung der einzelnen fiktionalen Texte nur sehr lose ist. Als bimediales Werk konzipiert, sind die insgesamt zehn Photographien der Künstlerin sowie fünf Photos anderer Photographen in der Buchmitte zwischen den Textbeiträgen platziert, tragen jedoch nur gelegentlich illustrative Funktion und sind folglich als zusätzliche Dimension zu den Wortquellen zu „lesen“. In „Nageuse!“ kann keine unmittelbare Verbindung zu den mitgelieferten Abbildungen hergestellt werden. Das Buchganze nimmt eine Zwischenstellung zwischen Ausstellungskatalog, Biographie, photographischer Ekphrasis und fiktionalen Erzähltexten ein (vgl. Moreau 2005). Insofern verweist „Nageuse!“ 23 Cavale wurde 2000 in Galerien in Saint-Nazaire und in Toulouse gezeigt. Dem Besucher der Ausstellung war die Zusammenstellung, d.h. die Kombination der 37 Photos, fünf Zeichnungen und zehn Texte weitgehend frei überlassen, so dass jeder Rezipient seinen eigenen Bild-Roman „lesen“ konnte. Seiner Konzeption und Anlage nach erinnerte Cavale an die medienkombinatorischen Werke der concept art, bei der das Kunstwerk als Konstruktion des Zufälligen und Beliebigen auf die reine Möglichkeit, auf die Idee zu einem Kunstwerk minimalisiert wurde (vgl. Grabes 2004: 91-99). Deville bot hier lediglich eine Anzahl von Bild- und Sprachzeichen an, die sinnstiftende Anordnung der Einzelfragmente lag jedoch in der Hand jedes einzelnen Rezipienten. Durch die Aufhebung der vom Autor und der Buchform fest vorgegebenen Linearabfolge des Lektüreprozesses und damit der Abgeschlossenheit des Werkes konnte der lesende Betrachter bzw. betrachtende Leser bereits gelesene Textpassagen bzw. bereits betrachtete Photographien und Zeichnungen beliebig oft und in immer anderer Reihenfolge rezipieren. 24 Einige der in der Presse verwendeten Photographien von Deville stammen übrigens von Negro: Vgl. die Photos in den Artikeln von Lebrun (1992), Salvaing (1995) und Scepi (1992). Außer mit Marylène Negro ist Deville auch mit dem Autor und Photographen Olivier Roller bekannt. Für Rollers bimediales PhotoLiteratur-Projekt Face[s] (2007) verfasste Deville einige autobiographische Zeilen. Face[s] enthält Photographien, die Roller von insgesamt 31 zeitgenössischen Autoren anfertigte – darunter neben Patrick Deville, Pierre Bergounioux, Eric Chevillard und Christian Garcin –, sowie kurze Textkommentare der jeweils abgelichteten Schriftsteller.
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bereits auf Devilles biofiktionale Arbeiten, allerdings sind die biographischen respektive dokumentarischen Elemente hier nur implizit und nur aufgrund des Kontextes der Erzählung erahnbar; es überwiegen hier eindeutig die fiktionalen Komponenten. Die bimediale Erzählung „Esquina Tacón, km 37“ entstand hingegen auf Initiative des Beaux-Arts Magazine, das zeitgenössische Autoren bat, zu einem Bild eines namhaften Photokünstlers eine Geschichte zu verfassen, die dann in der Serie „Roman-Photo“ abgedruckt wurden. Nur in diesem Fall ist eindeutig belegbar, dass ein reales Photo als Inspirationsquelle und Imaginationsauslöser fungierte. Allerdings gilt auch dies nur mit Einschränkung, denn der Autor konnte eine bestimmte Photographie auswählen und hatte damit die Möglichkeit, ein Bild zu wählen, das einer bereits im Kopf entstandenen Fiktion am ehesten entsprach. Auch der Text Vie et mort de sainte Tina l’exilée, der die Lebensgeschichte der Photographen Edward Weston und Tina Modotti erzählt, ist bimedial konzipiert und wird mit dem Photo „The White Iris“ eröffnet, das Edward Weston 1921 von seiner Geliebten Tina Modotti machte.25 Patrick Deville verfügt heute über eine mehr oder weniger etablierte nationale aber auch internationale Leserschaft.26 Seine literarischen Produktionen werden von der französischen Literaturkritik aufmerksam verfolgt und wie zuletzt im Falle von Pura vida Vie et mort de William Walker begeistert aufgenommen.27 Umso erstaunlicher ist es, dass seine Texte von der Forschung noch immer viel zu wenig beachtet werden. Zwar beschäftigt sich eine Reihe von Rezensionen, Aufsätzen und Monographien punktuell mit ausgewählten Romanen,28 jedoch mangelt es bislang an einer Monographie, die Devilles Werk vertieft und zusammenhängend untersucht. Wie auch 25 Entgegen der (falschen) Angabe auf dem Titelblatt des Textes stammt das Photo nicht Richard, sondern von Edward Weston. 26 Patrick Devilles Werke wurden in zehn Sprachen übertragen. Sein zweiter Roman Longue vue liegt seit 1989 unter dem Titel Das Perspektiv in deutscher Übersetzung vor, Pura vida. Vie et mort de William Walker erschien 2006 unter dem Titel Pura Vida. Leben und Sterben des William Walker. Seit seiner im Jahre 2007 durchgeführten Lesereise nach Deutschland widmet das von der Kulturabteilung der französischen Botschaft geleitete französische Kulturnetzwerk Patrick Deville auch eine Internetseite: http://www.kultur-frankreich.de/index. php?th=3&sth=28&suj=1149. 27 Der enorme Erfolg dieses Buches lässt sich daran ablesen, dass der Roman fünf Jahre nach seiner Erstpublikation bei dem Verlagshaus Éditions Points als Taschenbuchausgabe neu aufgelegt wurde. 28 Insgesamt acht monographische Arbeiten zur französischen Gegenwartsliteratur widmen sich unter anderem auch Deville: Bernard (2000), Brandstetter (2006), Eberlen (2002), Esfandi (2001), Schmidt-Supprian (2003), Schoots (1997) und Tschilschke (2000). Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf die umfassende Bibliographie zu Patrick Devilles literarischem Werk im Literaturverzeichnis vorliegender Studie.
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schon bezüglich einer systematischen Konzeptionalisierung der Wechselbeziehungen zwischen Photographie und Roman, besteht hier eine Lücke, die es angesichts eines literarisch spannenden wie vielschichtigen Werkes unbedingt zu schließen gilt. Mit der Textauswahl möchte vorliegende Studie diesem Desiderat zumindest ein Stück weit entgegenkommen. Zudem erscheint die Auswahl eines bisher noch wenig erforschten Autors mit deutlicher Affinität zur Photographie zur Überprüfung der Praktikabilität des entwickelten Analyseinstrumentariums photographischen Schreibens geeignet und verspricht zugleich besonders aufschlussreich zu werden.
4. Aufbau der Arbeit und methodische Vorgehensweise
Die Untersuchung gliedert sich in insgesamt drei Teile: Der erste Teil setzt sich mit dem Medium Photographie und seinen Differenzen zur Schrift auseinander. Der zweite Teil behandelt theoretisch-methodische Fragestellungen des intermedialen Zusammenwirkens und bildet gewissermaßen das Gelenk zwischen dem allgemeinen Theorieteil und dem autorenspezifischen Analyseteil. Der dritte Teil bietet schließlich eine Anwendung des präsentierten Arbeitsinstrumentariums zur Auslotung des Verhältnisses von Photographie und literarischem Schreiben in ausgewählten Werken Patrick Devilles. Der erste Teil liefert die wichtigsten medientheoretischen Grundlagen für die im zweiten Teil entwickelten Überlegungen zum photographischen Schreiben. Das erste Kapitel des ersten Teils präsentiert in Streiflichtern wesentliche Stationen der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Mediums Photographie. Ein etwas ausholenderes, exkursartiges Kapitel zur Rezeptionsgeschichte der Photographie in Kunst und Literatur eröffnet die diachronische Perspektive, beschränkt sich dabei jedoch auf eine nur schlaglichtartige Darstellung der für die noch zu schreibende Gesamtdarstellung französischer Photo-(graphischer) Literatur notwendigsten Grundzüge.1 Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit diversen älteren und neueren Bildund Phototheorien (u.a. Bazin, Benjamin, Berger, Freund, Flusser, Kracauer, 1
Aufgrund der Schwerpunktlegung auf das Werk Patrick Devilles kann und soll im Rahmen dieser Arbeit weder eine Längs- noch eine Querschnittdarstellung der Be- und Verarbeitung photographischer Momente in der (französischen) Literatur geleistet werden, wenngleich dies zweifelsohne ebenso überfällig wie spannend wäre. Stattdessen wird an gegebener Stelle immer wieder auch auf Parallelen bzw. Unterschiede zu zeitgenössischen oder historischen Varianten photographischer Schreibweise Bezug genommen. Damit soll vor allem aufgezeigt werden, welchen Wandel die im weitesten Sinne photographische Schreibweise seit der Verbreitung der Photographie erlebt hat, um so schließlich die konkreten Erscheinungsformen der photographischen Schreibweise bei Deville (gerade im Verhältnis zu Robbe-Grillet) besser situieren und beurteilen zu können.
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Sontag) sowie mit semiotischen Ansätzen zur Photographie (u.a. Barthes, Dubois, Eco, Schaeffer) und beleuchten so den Wandel des Diskurses über das Medium vor dem Hintergrund eines sich diversifizierenden Medienkontextes. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den medialen, kognitiven und semiotischen Voraussetzungen und fragt nach den Gemeinsamkeiten und Differenzen der Medien Photographie und Sprache/Literatur. Der Vergleich der Medien zeigt, dass Photographie und Literatur nicht in einer einfachen schematisierten Binäropposition einander gegenübergestellt werden können. Es bestehen zwar einige kategoriale Ähnlichkeitsbeziehungen, doch bezüglich ihres Zeichenmaterials sowie deren Anordnung und Funktionsweisen bestehen medial verankerte Differenzen. Auch beim Konzept photographischen Schreibens werden die strukturalen und formalen Unterschiede und somit die mediale Autonomie beiderseits gewahrt bleiben. Die photographische Schreibweise muss folglich durch Ambivalenz gekennzeichnet sein, wenn sich der Terminus nicht nur auf Medienkombinationen, sondern auch auf konkrete schriftliche Sprache beziehen soll. Aufbauend auf die theoretisch ausgerichtete Annäherung an die Photographie im ersten Teil setzt sich der zweite Teil mit der Operationalisierung der gewonnen Erkenntnisse auseinander, um schließlich ein Klassifikationsund Analysemodell des Zusammenspiels von Photographie und Literatur in literarischen Werken zu entwerfen. Vorgeschlagen wird ein weit angelegtes, zweidimensionales Modell photographischen Schreibens, das sowohl auf rein sprachliche Formen photographischen Schreibens (monomediale photographische Schreibweise) als auch auf Text und Photo verbindende Formen (bimediale photographische Schreibweise) anwendbar ist. Dabei liegt das Ziel des Ansatzes jedoch nicht allein darin, eine rein materielle Klassifizierung in monomediale und bimediale Texte zu ermöglichen, sondern vielmehr darin, neben der rein deskriptiven Analyse des Motivs Photographie sowie des Diskurses über das Medium (Medienreflexion) auf den textuellen Oberflächenstrukturen gerade auch die tieferen Textstrukturen, den Modus des Darstellens selbst, ins Zentrum des Interesses zu rücken und zu erfassen. Bei monomedialen Texten geht es also vor allem um die Form der Sprache, d.h. um strukturelle Parallelen und Interrelationen zwischen Photographie und literarischem Text, die nicht allein auf der Ebene des inhaltlich Dargestellten, sondern insbesondere auf der Ebene des Darstellens selbst zu beobachten sind. Bei bimedialen Texten gilt den Schnittstellen und Relationen von Photographie und Text ganz besonderes Interesse. Auch wenn das diskursgestützte Analysemodell Anleihen aus der Medien- und Kulturwissenschaft macht, versteht es sich dennoch als dezidiert literaturwissenschaftliches, das sich auch nicht davor scheut, traditionelle Begrifflichkeiten der Literaturwissenschaft zu nutzen. Schließlich handelt es sich nicht ausschließlich um Photographien, vielmehr gilt ja gerade den Sprachtexten und ihren mannigfaltigen Relationsmöglichkeiten zur Photographie das besondere Interesse, eine rein medienwissenschaftliche Terminologie erscheint demnach nicht gewinnbringend. Anders als die strikt literaturwis-
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senschaftliche Perspektive, ermöglicht der Umweg oder vielmehr der Miteinbezug von Medien- und Kulturwissenschaft, Intermedialitätsforschung und Semiotik eine umfassendere und der Polyvalenz von photographischen und literarischen Werken gerechter werdende Erkenntnis über die ästhetische Wirkung innerhalb ihrer kontextuellen Situiertheit. Im dritten Teil der Studie geht es schließlich um die Applikation des entwickelten Untersuchungsmodells. Realisiert wird dies durch die Analyse und Interpretation von mitgelieferten Photographien sowie photographischer Elemente und Strukturen in Patrick Devilles Arbeiten.2 Im Rahmen der hier versuchten Gesamtdarstellung von Devilles literarischem Werk wird in zwei Schritten vorgegangen, um der poetologisch-ästhetischen Entwicklung seines Schaffens von einer minimalistischen hin zu einer dokufiktionalen und (auto-)biofiktionalen Ausrichtung Rechnung zu tragen. Devilles Romane und Erzählungen werden zunächst inhaltlich, gattungstypisch und hinsichtlich ihrer intramedialen Konzeption und Gestaltung vorgestellt und in den Kontext gegenwärtiger Literaturkritik gestellt. Ferner werden die Erzähltexte auf die Bedeutung der Photographie sowie der Spielarten des photographischen Schreibens hin untersucht. Behandelt werden in diesem Zusammenhang verschiedene Aspekte der Erzähltextanalyse, wie narrative Ordnung, Zeitgestaltung, Erzählperspektive, Personengestaltung oder Darstellung der Textrealität. Dabei wird in einem ersten Schritt vor allem dem Spannungsverhältnis von nouveau roman und Devilles roman nouveau besonderes Augenmerk geschenkt werden; denn die Loslösung von RobbeGrillets visueller Poetik tritt – so die hier vertretene These – im Einsatz diverser (monomedialer) Formen und Funktionen photographischer Momente in der jeweiligen Schreibweise besonders deutlich zutage. In einem zweiten Schritt wird schließlich der Wandel der Bedeutung der Photographie und der Funktionalisierung von Verfahren des photographischen Schreibens innerhalb des erzählerischen Werkes Devilles einer resümierenden Bewertung unterzogen. Methodisch unterscheiden sich die beiden Unterkapitel vor allem dahingehend, dass im ersten Kapitel eher thematisch und textvergleichend vorgegangen wird, während das Kapitel zur (auto-)biographischen, dokufiktionalen photographischen Schreibweise vornehmlich monographisch vorgeht. Mit der unterschiedlichen Herangehensweise soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Untersuchung bimedialer Texte neben der reinen (Sprach-)Textanalyse stets auch die Analyse des Photomaterials sowie der Verknüpfungsrelationen der beteiligten Medien erfordert und dies nur in Form von Einzelanalysen zu leisten ist. Zudem scheint es lediglich so mög2
An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass vorliegende Untersuchung zwar generell darum bemüht ist, das Gesamtwerk Devilles zu erfassen, es kann jedoch nicht auf alle Werke gleichermaßen intensiv eingegangen werden kann. Da Kampuchéa erst nach Abschluss der Redaktionsarbeit vorliegender Studie erschien, konnte dieses Werk nicht mehr in die Analyse einbezogen werden.
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lich, der thematisch-inhaltlichen Spezifität der semi-fiktionalen Prosawerke gerecht zu werden.
Erster Teil
Theoretische Grundlagen für ein Analysesystem photographischen Schreibens
1. Die Photographie Mediale und theoretische Voraussetzungen
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit medientechnischen, kultur- und kunstgeschichtlichen und soziologischen Aspekten sowie mit der Rezeption und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Bildmedium Photographie. Dabei geraten unterschiedlichste Facetten und Betrachtungsweisen eines ebenso populären wie umstrittenen Mediums in den Blick, das seit seiner Entstehung kaum an Faszinationskraft eingebüßt hat, dessen mediale und materielle Voraussetzungen und Erscheinungsformen sich allerdings in kürzester Zeit in spektakulärer Weise verändert haben. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass das Hauptaugenmerk vorliegender Untersuchung auf der „altmodischen“ Analogphotographie liegt, die digitale Photographie kommt daher nur am Rande zur Sprache. Um die einzelnen Etappen photographischer Entwicklung und die damit einhergehenden Verschiebungen hinsichtlich der theoretischen Diskurse über das Medium zu vergegenwärtigen und zugleich die Komplexität der Photographie begreifbar zu machen, werden im folgenden Panorama die wichtigsten photogeschichtlichen Stationen genannt, wesentliche mediale Charakteristika vor Augen geführt sowie die maßgeblichsten Richtungen der Phototheorie samt ihren einflussreichsten Vertretern erläuternd präsentiert, um an gegebener Stelle immer wieder auf hier Dargestelltes anknüpfen und rekurrieren zu können.
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1.1 E INE KURZE E NTSTEHUNGS - UND E NTWICKLUNGSGESCHICHTE 1.1.1 Von den Vorformen über das Silberhalogenkristall zum Pixel1 Die Entstehung des Mediums Photographie lässt sich keineswegs auf die entscheidende Entdeckung einer einzigen Person reduzieren:2 Wie bereits Erich Stenger in seinem Buch Die Photographie in Kultur und Technik von 1938 herausstellte, hat man es vielmehr mit einem „Nebeneinander vieler ‚erster‘ Erfindungen“ (Bickenbach 2005: 176; Herv. i. O.) und einer Vielzahl von Photopionieren zu tun. Das verstärkte Interesse an der Entwicklung mechanischer Verfahren der Wirklichkeitsreproduktion steht im Zusammenhang mit der positivistisch geprägten Geisteshaltung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, die nach technisch-exakter und wissenschaftlich-objektiver Erfassung, Reproduktion und Erforschung der Welt strebte. Busch definiert die Photographie in seiner Wahrnehmungsgeschichte der Photographie deshalb folgerichtig auch als „Geschöpf der bürgerlichen Aufklärung und des naturwissenschaftlich-positivistischen Denkens“ (1995: 222). Die zur Entstehung der Photographie notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse gehen bis in die Zeit der Renaissance zurück, also in die Zeit der ersten Bestrebungen wissenschaftlich-objektiver Welterfassung.3 Filippo Brunelleschis optische Apparaturen ermöglichten erstmals eine mathematisch präzise und berechenbare Realitätsabbildung. In Leonardo da Vincis camera obscura trifft man bereits auf die entfernten Vorläufer der ersten photographischen Kameras, wenngleich diese die Lichtbilder noch nicht zu fixieren und damit zu speichern vermochten.4 Der entscheidende Aspekt all
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Die Darstellung der Geschichte der Photographie basiert auf folgenden Überblicksdarstellungen: Baatz (2000), Baier (1980), Brauchitsch (2002), Buddemeier (1970), Busch (2001), Eder (1932), Frizot (1995), Gernsheim (1983), Johnson (2000), Kittler (2002: 155-195), Monaco (2007: 37-45), Mulligan/Wooters (2000), Newhall (1989), Tausk (1977) und Yorath (2001). Zur phototechnischen Entwicklung siehe z.B. Marx (2001). Diese Auffassung wird besonders von Régis Durand vertreten, der in Le temps de l’image versucht, eine neue Form der Photographiegeschichte zu schreiben (1995: 13). Dennoch finden sich selbst noch heute Phototheoretiker, die komplexitätsreduzierend von „der“ Erfindung der Photographie sprechen, so z.B. Berger (1984a: 99) oder Oeder (1990: 248). Das Wissen um lichtsensible Stoffe war sogar schon seit der Antike bekannt (Bickenbach 2005: 175). Da die diachrone Verfügbarkeit erst von der Photographie geleistet wird, will Bickenbach (2005: 175) weder die camera obscura noch die laterna magica als Vorläufer der Photokamera verstanden wissen.
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dieser Geräte und der damit im Zusammenhang stehenden wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen lag einerseits in dem Wunsch, die Natur zu entzaubern, zu entziffern und somit zu beherrschen.5 Andererseits aber auch in der Einsicht, mit dem mechanischen Gerät eine neue unbekannte Welt generieren zu können.6 Während des 18. Jahrhunderts machte die Chemie gewaltige Fortschritte: So erlangte man in dieser Zeit viele der wesentlichen Erkenntnisse hinsichtlich chemischer Lichtempfindlichkeiten, die zur Grundlage der Datenkodierung der späteren Photographie werden sollten. Entgegen vielfacher Behauptungen kann das erste Photonegativ, das der Altdorfer Universitätsprofessor Johann Heinrich Schulze bereits um 1727 durch die Belichtung von Silbersalzen erzielte (Gernsheim 1983: 29), wie Kittler ganz richtig konstatiert, allerdings nicht als unmittelbare Vorwegnahme der Photographie betrachtet werden. Denn Schulze war es gerade nicht darum gegangen, „daß Reelles im Wortsinn von Lacan seine Zufälligkeit in einem technischen abspeichert, er wollte ganz im Gegenteil, daß Symbolisches, der Code einer Schrift nämlich, in die Natur eingeschrieben wird.“ (Kittler 2002: 160161)7 Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts stark verbreiteten und äußerst populären Verfahren des Panoramas und Dioramas zeugen von dem anwachsenden Streben nach der illusion totale von Realität und Bewegungsdarstellung.8 Indem das Panorama dem den Bildmittelpunkt bildenden Betrach5
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Zu nennen wären hier beispielsweise die Entwicklung der Konvexlinse durch den venezianischen Humanisten Daniele Barbaro, die Erfindung der transportablen Kamera durch den Würzburger Mönch Johann Zahn oder die Präzisierung und Optimierung der Kameralinse und des Reflexspiegels durch Johannes Kepler. Diese Absichten und Denkkonstrukte waren allerdings nur einer kleinen Zahl von Gelehrten und Wissenschaftlern vorbehalten. Die breite Masse der (Land-) Bevölkerung wurde weiterhin von herumziehenden Gauklern verzaubert, die die Bildersehnsucht des Volkes mit dem magischen Illusionismus ihrer camera obscura-Projektionen befriedigten. Entscheidend war auch der Einfluss des Engländers Thomas Wedgwood, der um 1800 sämtliche optische und und chemische Kenntnisse seiner Zeit zu photographischen Versuchen verband. Siehe hierzu Beneke (1999: 75) und Gernsheim (1983: 36-41). Der Porträtmaler Robert Barker hatte 1787 als erster eine, auf eine im Halbrund aufgestellte Leinwand gemalte, panoramaartige Stadtansicht von Edinburgh realisiert. In der Folgezeit entstanden in allen großen europäischen Städten Rotunden mit Stadtrundblicken um 360 Grad. 1882 realisierten Daguerre und Bonton das erste Diorama in Paris. Mittels der Kombination verschiedener komplizierter Beleuchtungstechniken, konnten Hell-Dunkel-Effekte erzielt werden, die es ermöglichten transitorische Vorgänge wie den Wechsel von Tag zu Nacht wiederzugeben. Vor allem das von Louis Jacques Mandé Daguerre entwickelte Doppeleffekt-Verfahren zielte darauf ab, Bewegungsabläufe vorzutäuschen.
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ter die Illusion vermittelt, er stünde auf einer Anhöhe, gaukelt es ihm vor, ein Teil dieser Welt zu sein, die allerdings in Wirklichkeit erst durch seine Betrachtung entsteht. Anders beim Diorama, dessen Hauptanliegen in der möglichst präzisen Imitation von Bewegungsabläufen liegt, also gerade nicht in der totalen Illusion.9 Obwohl es sich bei beiden Verfahren um gemalte Abbilder handelte, stellten sie einen wesentlichen Schritt zur photographischen Naturreproduktion dar: „Mit der im Augenblick quasi schockgefrorenen Zeit nimmt das Panorama die Bannung der Realität durch das Kameraobjektiv des Photographen vorweg.“ (Oettermann zit. nach Schnell 2000: 37) Neben den rein mechanisch arbeitenden Zeichenmaschinen, wie etwa dem von Gavard entwickelten Diagraphen, erzielte Joseph Nicéphore Niépce nach anfänglichen Versuchen zur technischen Fixierung von Umrisslinien unter Verwendung lichtempfindlicher Substanzen auf einer Druckplatte ab 1822 erste Erfolge. Das erste beständige Photo der Welt, die so genannte Heliographie,10 entstand 1826 und gibt den Blick des Photographen aus dem Fenster seines Arbeitszimmers wieder.11 Das Hauptproblem dieses PositivVerfahrens bestand in der langen Belichtungszeit, die entstandenen Sonnenbilder büßten dadurch viel an Plastizität ein, dass die Sonne die Bildgegenstände in ihrem Tagesverlauf auf beiden Seiten beleuchtete. 1829 schloss Niépce mit dem 22 Jahre jüngeren Louis Jacques Mandé Daguerre einen Partnerschaftsvertrag, der besagte, dass der bekannte Theatermaler und Miteigentümer des Pariser Diorama zehn Jahre lang an der Verbesserung der Heliographie mitarbeiten und dafür einen Teil der dadurch entstehenden Gewinne erhalten sollte. Doch erst 1835, zwei Jahre nach Niépces Tod, fand sich ein wirklich geeignetes Fixierungsmittel, mit dem die Daguerreotypie entstand. Es handelt sich dabei um versilberte und mit Joddämpfen lichtempfindlich gemachte Kupferplatten, die mit Quecksilberdampf entwickelt und in Natriumsulfat fixiert werden. Im Gegensatz zur Heliographie ist die Daguerreotypie ein Negativ/Positiv-Verfahren, d.h. die zunächst entstehenden Negative, geben den Gegenstand seitenverkehrt wieder und erscheinen
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Deutlich wird dies auch schon allein darin, dass die Betrachter hierbei ganz bewusst vor einer Guckkastenbühne sitzen, wobei die gesamte Zuschauertribüne von Bild zu Bild gedreht wird. 10 Vielfach findet man auch die Bezeichnung ,Heliogravüre‘. Zeitgleich experimentierte der Engländer W. H. Fox Talbot mit der Heliographie, gab seinem Verfahren aber den Namen ,Photoglyphie‘. 11 Zetzsche macht darauf aufmerksam, dass eine Vielzahl der frühen Photographien den Blick aus dem Fenster abbilden (1994: 83 Fn 17). Interessanterweise wählte auch Daguerre bei seinen frühen Aufnahmen vielfach den Blick aus dem Fenster. Dieses Spiel mit der, so könnte man sagen, „doppelten Rahmung“ wird in der zeitgenössischen Photographie wieder verstärkt eingesetzt.
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durch Reflexion bei der Entwicklung schließlich als Positivbilder.12 Nachdem der Nutzwert des neuen Mediums zunächst verkannt worden war, brachte erst der Einsatz von François Dominique Arago, Sekretär der Akademie der Wissenschaften, vor der französischen Regierung den gewünschten kommerziellen Erfolg. Er machte die Daguerreotypie 1839 öffentlich bekannt und schon kurze Zeit später wurde die Produktion von Daguerreotypien in Paris geradezu exzessiv betrieben. Vor dem Hintergrund des sich gerade etablierenden Positivismus – Auguste Comte arbeitete in dieser Zeit gerade an seinem Cours de philosophie positive (1830-42) – ist es nicht verwunderlich, dass die öffentliche Präsentation des Mediums in den nach empirischer Präzision strebenden wissenschaftlichen Kreisen auf fruchtbaren Boden fiel. Allerdings war auch die Aufnahmebereitschaft der breiten Öffentlichkeit ungemein groß, so dass binnen Kurzem eine regelrechte ,Daguerreotypomanie‘13 herrschte und die Photographie schnell zu einem äußerst populären Medium avancierte. Etwa zeitgleich entstanden auch in Amerika und England erste Photographien. So etwa die photogenic drawings des Engländers W. H. Fox Talbot, der seinerseits für sich den Anspruch erhob, Erfinder der Photographie zu sein (Busch 2001: 499). In der Tat ermöglichte erst Talbots 1841 patentiertes Verfahren der Kalotypie (auch Talbotypie genannt) als erstes Negativ/Positiv-Verfahren die Reproduzierbarkeit der Licht-Bilder und setzte damit den Grundstein für die spätere Papierphotographie. Talbot ist allerdings auch in anderer Hinsicht ein Vorreiter: Sein 1844-46 veröffentlichtes Werk The Pencil of Nature ist das erste mit Photographien illustrierte Buch.14 Interessant ist hierbei vor allem, dass Talbot, der Photographie übrigens nicht als Kunst auffasste, einen medienkombinatorisch komplexen Diskurs führt, „an dem die Kalotypien und die Texte ebenbürtig beteiligt sind und der viele Gedanken bereits im Kern enthält, die später von anderen Theoretikern entfaltet worden sind“ (Braun 2002: 120; Herv. i. O.) – dies 12 Ein weiterer Photopionier ist Hippolyte Bayard (1801-1887), der erstmals Papier als Trägermaterial verwendete. Sein auf Solarisation fußendes Direktverfahren zur Herstellung von positiven Papierbildern ohne eigentlichen Entwicklungsprozess lieferte jedoch weniger scharfe Bilder als die sich schnell verbreitende Daguerreotypie. Daher wurde diese Verfahrenstechnik seinerzeit auch nicht als eigenständige Erfindung anerkannt, so dass Bayard nicht weiter an der Optimierung arbeitete. 13 Der Begriff wurde von dem Karikaturisten Théodore Maurisset bereits 1839 geprägt (Buddemeier 1970: 77). 14 In Frankreich erschien das erste bimedial konzipierte Buch erst rund vierzig Jahre später: Illustrations pour les ,Mémoires d’un fou‘ de N.V. Gogol. Photographies sans retouches d’après l’acteur de Moscou, M. Andréef-Bourlak dans le rôle de Popristchine (1883) von Abba Constatin Chapiro wurde von der damaligen Öffentlichkeit begeistert aufgenommen (Amelunxen 1985: 87). Anders als bei Talbot erfüllen die Photographien hier allerdings rein illustrative Funktion.
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betrifft zum Beispiel die Auslotung ästhetischer Spielräume im Zusammenspiel von Photographie und Literatur.15 In Europa mehrten sich schon nach 1850 die Zeichen für das Ende der Daguerreotypie-Ära, denn inzwischen hatte sich die anfangs wegen ihrer Unschärfe verspottete und wenig geachtete Papierphotographie enorm verbessert. Dies basierte vor allem auf Gustave Le Grays Erfindung des Negativ-Verfahrens mit der Kollodium-Nassplatte (1851). Damit war die Möglichkeit uneingeschränkter Vervielfältigung von Bildern erreicht. Allerdings verlor die Photographie mit der stetig voranschreitenden Optimierung der technischen Reproduktionsverfahren gewissermaßen an Wert, denn im Gegensatz zu der durch die Papierträger erschwinglich gewordenen Photographie, waren die Daguerreotypien, rein materiell betrachtet, noch kostbare Schätze von unikalem Wert gewesen.16 Andererseits konnte sich das Medium freilich auch nur so in größerem Maße verbreiten. Aufgrund wesentlich verkürzter Belichtungszeiten wurden ab den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts Porträtaufnahmen überaus populär und die Photographen dieses Genres berühmt. So beispielsweise Nadar, einer der ersten großen Kunstphotographen, der für das Thema der Photo-Text-Verbindung auch insofern von Interesse ist, als er ein Gespräch anlässlich des 100. Geburtstages des Chemikers Michel Eugène Chevreul 1886 im Journal Illustré zusammen mit einigen Photographien veröffentlichte und somit zu einem der Begründer der Photo-Reportage wurde (Neitzel 2003: 206). Zur Modeerscheinung in Kreisen der Bourgeoisie wurde die Porträtphotographie durch den Photographen André Adolphe Eugène Disderi, der um 1854 mit der kleinformatigen carte de viste ein Verfahren einführte, das die Photographie für eine immer größere Bevölkerungsgruppe bezahlbar werden ließ (Freund 1976: 68-69). Hinsichtlich der Inhalte und Kompositionen der Bilder lässt sich jedoch noch eine zeitlang das Phänomen „medialer Mimikry“ beobachten, das typischerweise bei der Einführung neuer Medien auftritt.17 So sicherten sich die weit verbreiteten tableaux photographiques18 die kulturelle Akzeptanz, indem sie vom Prestige der etablierten Ästhetik der Malerei profitierten. 15 So ist etwa seine Aufnahme Szene in einer Bibliothek „mit einem Begleittext versehen, der in merkwürdiger Weise auf die abgebildete Photographie Bezug nimmt und dabei die mögliche Leistung der Photographie als solcher thematisiert.“ (Stiegler 2001: 9) 16 Es hatte sich um jodierte und in der camera obscura belichtete Silberplatten gehandelt. 17 Es handelt sich dabei um ein Übergangsphänomen, das die natürliche Scheu der Benutzer vor dem Neuen abschwächen soll, indem an das Gewohnte appelliert wird. 18 Gemeint ist die in dieser Zeit äußerst beliebte Mode der photographierten tableaux vivants, bei denen Gemälde meist vor gemalten Landschaftskulissen nachgestellt und photographiert wurden (vgl. Foucault 2002: 873). Interessant ist an dieser Stelle auch der Hinweis darauf, dass der impressionistische Maler Eduard
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Die um 1871 von dem englischen Arzt Richard Leach Maddox entwickelte Bromsilber-Gelatine-Trockenplatte konnte industriell vorgefertigt werden und ermöglichte so die seither für die Photographie charakteristische räumliche und zeitliche Trennung von Aufnahme und Entwicklung. Da der Photograph nun nicht mehr seine gesamte Dunkelkammer mit sich führen und das Photomaterial auch nicht mehr selber herstellen musste, versetzte diese Neuerung insbesondere der Reisephotographie einen Schub.19 Weiteren technischen Optimierungen des Photomaterials ist es zu verdanken, dass die notwendige Belichtungszeit immer weiter verkürzt werden konnte. Dies wiederum begünstigte um 1860 die Entwicklung erster Momentaufnahmen, etwa durch den Amerikaner Eadweard J. Muybridge und den Franzosen Etienne-Jules Marey. Muybridges Stroboskopie und Mareys Chronophotographie versuchten über die sequenzielle Reihung einzelner instantanés20 Bewegungsabläufe photographisch abzubilden und ermöglichten damit die Entwicklung erster filmischer Techniken. Weitere Neuerungen wie die Entwicklung des flexiblen Zelluloids als Träger der photosensitiven Schicht durch Hannibal Williston Goodwin und John Carbutt oder George Eastmans Erfindung des Rollfilms führten schließlich zu den noch heute üblichen Verfahren der Analogphotographie. Um 1888 propagierte Eastman die Kodak-Boxkamera und lancierte so den neuen Bereich der laienhaften Jedermannphotographie.21 Die starke VerkürManet diese „technisch produzierte Seherfahrung“ (Hieber 2007: 101) bereits in seinem wegweisenden Bild Le Bain, ou Le Déjeuner sur l’herbe (1863) aufnimmt, indem auch hier die Figurengruppe direkt von vorn beleuchtet scheint, während der Landschaftshintergrund, gleich einer Kulisse, eine traditionelle Beleuchtung von links oben aufweist. Siehe hierzu auch Jobert (2000). 19 Zu den photographisch illustrierten Reiseberichten des 19. Jahrhunderts siehe z.B. Bustarret (1990) und Méaux (2001). 20 Marey hatte 1883 die so genannte „chronophotographische Flinte“ (auch „photographisches Gewehr“ genannt) entwickelt, die das Photographieren von im Raum bewegten Objekten erlaubte. Zur Entwicklung der Bewegungsphotographie siehe Frizot (1995) und (2001). 21 In The Kodak Manual schreibt George Eastman: „Die Photographie wird auf diese Weise jedem Menschen zugänglich gemacht, der von dem, was er sieht, ein Bild festhalten möchte. Ein solches fotografisches Notizbuch enthält dauerhafte Dokumente von Dingen, die man nur einmal im Leben sieht […].“ (Eastman zit. nach Newhall 1989: 134) Mit der zunehmenden Mobilität des Photographen entstehen bereits Ende des 19. Jahrhunderts metaphorische Bezeichnungen, die den Photoapparat als Schusswaffe (vgl. die Bezeichnung ,Schnappschuss‘) und den Photographen als Jäger bzw. auch als Voyeur bezeichnen (Busch 2001: 510 und Sontag 2006: z.B. 18-19). Insbesondere Ernst Jünger betont die enge Allianz von Kriegsgeschehen und photographischer Praxis (Busch 2001: 527). Im Laufe der phototheoretischen Diskursgeschichte wurde die Metaphorik des Schießens, Kämpfens und Mordens gerade von medienkritischen Stimmen immer wieder
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zung der Verschlusszeiten ermöglichte spontane Momentaufnahmen, deren Komposition (wie beim Schnappschuss) allein vom Zufall regiert wird. Soziokulturell betrachtet stellt die Vermarktung der erschwinglichen Kodak-Kamera einen markanten Einschnitt in der Erfolgsgeschichte der Photographie dar: Die Trennung von Amateur-, Berufs- und wissenschaftlicher Photographie. Die Ausdifferenzierung verschiedenster Funktions- und Anwendungsbereiche verstärkt sich in der Folge immer weiter, so dass das Medium schon bald alle kulturellen Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens durchdringt, was dazu führt, dass Ereignisse aller Art „im Augenblick des Erlebens als prinzipiell speicherbar und wiederholbar wahrgenommen [werden].“ (Mecke 2000b: 34)22 Eastmans „photographisches Notizbuch“ (Eastman zit. nach Newhall 1989: 134) ließ alle nur erdenklichen Motive zum Objekt der Photographie werden: Familienereignisse wie alltägliche Straßenszenen, Besonderes wie Gewöhnliches.23 Zunehmend war die nunmehr als Instrument der Wissensaneignung betrachtete Photographie auch in den Dienst des Dokumentarischen und der ratioaufgenommen: Walter Benjamin ist der Auffassung, der Photographie gerate „das Erlebnis zur ,Kamerabeute‘“ (1977a: 60) und Rudolf Arnheim (2004c: 2124) sieht gerade in der Mobilität des Photographen eine Art Bedrohung und beschreibt die Photographie als einen den Menschen persönlich denunzierenden „Störenfried“ und den Photographen als einen Jäger, der versucht in alle Privatund Intimsphären einzudringen. Die Charakterisierung des Photographen als lauernden Jäger findet sich indes auch bei Flusser (1991: insbesondere 31) und Sontag (2006: z.B. 19-21). Baudrillard (1999a: 180) beschreibt den Akt des Photographierens als eine Art des symbolischen Mordes und für Sontag ist das „Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord – ein sanfter, einem traurigen und verängstigtem Zeitalter angemessener Mord“ (2006: 20). Zur engen Allianz von Krieg und Photographie siehe z.B. auch Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotogeschichte 43 (1992). Zum Thema Photographie und Voyeurismus siehe Schabacher (2003). 22 Zur Photographie als soziologisches Phänomen siehe insbesondere Bourdieu (1981), Freund (1976), McQuire (1998: 13-63) und Sontag (2006). Ebenso wie die ersten photographischen Abbilder die Betrachter in Schock versetzten, so haben verfeinerte Verfahren und Techniken (wie z.B. die der Mikro- und Makrophotographie) vor allem in den Naturwissenschaften bis heute immer wieder vergleichbare Schockwirkungen hervorgerufen. Man denke nur etwa an die Bilder des Photographen Lennart Nilsson: Mit Hilfe eines Fisheye-Objektivs, das er an das Ende eines millimeterdünnen Schlauches montiert hatte, gelang es ihm die ersten Photographien von Föten im Mutterleib zu machen (vgl. Fabian 1976: 16 und Nilsson/Hamberger 1990). Zur Bedeutung der Photographie in Wissenschaft und Technik siehe Geimer (2002). 23 Mit einem gewissen Anklang der Klage angesichts der fortgeschrittenen Visualisierung der bildbestimmten westlichen Kultur hebt Sontag hervor, dass seit Einführung der Photographie „so ungefähr alles fotografiert worden“ (2006: 9) sei.
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nell-objektiven Erkenntnis getreten.24 Seit den zwanziger Jahren entstehen in kürzester Zeit zahlreiche mit Photographien illustrierte Zeitungen und Zeitschriften: „Die Photographie ist damit zu einer Alltagserscheinung geworden. Sie ist so weitgehend ein Bestandteil des sozialen Lebens, daß man sie nicht mehr wahrnimmt, weil man sie ständig sieht.“ (Freund 1976: 6) Damit beginnt auch die Ära des Bildjournalismus sowie der illustrierten Unterhaltungsliteratur, man denke etwa an Formen wie den ciné-roman oder den paraliterarischen Photo-Roman. Mit Alphonse Bertillons Einführung des Pass- und Fahndungsphotos für die Polizei erfüllt das photographische Porträt nicht mehr nur private und ästhetische Funktionen, sondern tritt fortan auch in die Dienste von Staat und Gesellschaft.25 Während der Kriege dominierte die Photo-Reportage und ließ die Macht der Photographie so deutlich hervortreten wie nie zuvor26 – wurde doch deutlich, dass sich das politisch-ideologische Beeinflussungs- und Manipulationspotenzial des Mediums zu Propagandazwecken – anders als die bildende Kunst – insbesondere deshalb eignet, weil es die äußere Wirklichkeit vermeintlich authentisch abbildet und aufgrund dessen von allen sozialen Schichten gleichermaßen und uneingeschränkt akzeptiert wird.27 In den ersten Dekaden des 20. 24 Den vermeintlichen Verismus der Photographie machten sich um die Jahrhundertwende auch zahlreiche der damals überaus populären spiritistischen Zirkel zunutze, um so parapsychologische Phänomene wissenschaftlich zu objektivieren und zu beweisen. Als Beweismittel erschien die Photographie als nicht von Menschenhand geschaffenes Bild zur Abbildung des Unsichtbaren und Imaginären besonders geeignet, korrespondiert es doch in dieser Hinsicht ideengeschichtlich mit der auf das Mittelalter zurückgehenden Vorstellung des archeiropoietischen Bildes (vgl. Braun 2002: 119). Zur vermeintlichen Gespenster- und Geisterphotographie vgl. Grojnowski (2002: 245-274) und Stiegler (2006a: 115-130). Siehe auch Schmitz-Emans (2009), die auf die unterschiedlichen metaphorischen Modellierungen der Photographie als Phantom eingeht. Zur literarischen Behandlung dieses Phänomens bei Balzac siehe Amelunxen (1988c). 25 Die „photographische Eroberung“ von Nachrichtenberichterstattung, Rechtsprechung, Medizin oder Theaterwelt behandeln verschiedene Einzelbeiträge in Grivel/Gunthert/Stiegler (2003a) und Wolf (2003). Speziell zu Bertillon siehe Kammerer (2007). 26 Die charakteristischen Merkmale wie Detailgenauigkeit, Perspektivierung und Rahmung repräsentieren gleichsam „ein durch den fotografischen Apparat vermitteltes Herrschaftsverhältnis gegenüber der abgebildeten Welt, einen Gestus der Kolonialisierung, der urteilt, auswählt, zurichtet, einfängt und festhält“ (Schnell 2000: 41). Damit besitzt die Photographie bezüglich ihres Darstellungssujets nicht nur eine gewisse Macht über die Wirklichkeit, sondern sie umgibt auch eine Art „Aura des Demiurgischen“ (Busch 1995: 216). 27 Bereits früh in der Entwicklungsgeschichte des Mediums warnte Gustave Le Bon in seiner Psychologie der Massen (1895) vor der Manipulationsmacht der Photographie (Le Bon 1961; vgl. auch Nöth 1997: 133). Zur Inszeniertheit und
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Jahrhunderts begann die sich rasch vollziehende Institutionalisierung der Photographie: Photo-Agenturen und Firmen zur Herstellung von Photomaterial wurden gegründet, in juristischer Hinsicht wurde das Recht am Bild und der Autoren-Status von Photographen eingeführt und es entstand eine fachspezifische, nunmehr auch wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bildmedium. Die ersten modernen Farbphotographien um 190728 bereicherten das Medium schließlich um die bis dahin noch fehlende Dimension der Farbigkeit, wodurch die Bedeutung der Photos im Bereich der Werbung rasch anstieg, so entstand beispielsweise der kommerzielle Bereich der Modephotographie. Schnell waren farbgetreue Papierabzüge zur omnipräsenten Selbstverständlichkeit geworden. Mit der Optimierung der Photoindustrie und insbesondere durch die Billigimporte aus dem asiatischen Raum wurden Photoapparate nicht nur immer kleiner, sondern bis hin zur Wegwerfkamera auch immer erschwinglicher, so dass heute häufig auch Amateurphotographen über professionelle Photoausrüstungen verfügen. Immer neue Computertechniken beschleunig(t)en zunehmend auch die technische Weiterentwicklung der Photographie: Vollautomatische Digitalkameras ermöglichen eine exaktere Bildauflösung und Abbildungsgenauigkeit – das Photo liegt damit aber auch nicht mehr zwangsläufig als materiell fassbares Photo vor.29 Es handelt sich nicht mehr um latente Bilder, die Ergebnis chemo-phototechnischer Aufzeichnungsprozesse sind und erst mit zeitlicher Verzögerung nach der Entwicklung sichtbar werden, sondern um elektronische Simultanübertragungen. Damit verliert die Photographie die für sie charakteristische raum-zeitliche Trennung von Fixierungsmoment und chemischer Entwicklung des belichteten photosensiblen Materials in der gezielten Manipulation von Photos zur Gesellschaftssteuerung in Politik, Medien und Werbung sei an dieser Stelle verwiesen auf: Grittmann (2003), Knieper/ Müller (2003), Kroeber-Riel (1996), Matthias (2004), Schicha (2005) und Vöhringer (2000). 28 Die älteste erhaltene Farbphotographie (Heliochromie) stammt bereits aus dem Jahre 1877. Die ersten Mehrschichten-Farbfilme wurden allerdings erst 1935 von Kodak und 1936 von Agfa auf den Markt gebracht. Zur Geschichte der Farbphotographie siehe Roberts (2007). 29 Die Virtualisierung der Realitätsabbildung beeinflusst das Wesen der Photographie insofern, als sie damit ihre charakteristische Palpabilität verliert und ihr mediales Differenzpotenzial einbüßt, denn mit der numerisch kodierten Speicherung der Lichtstrahlen unterscheiden sie sich als digitale Datenmenge nicht von anderen, nicht-photographischen Daten. Zudem verlässt die Digitalphotographie den Bereich der Analogmedien, dem eigentlichen Teilgebiet der Photographie, zu Gunsten der Computermedien. Siehe dazu Spielmann (1998), die sich im Rahmen ihrer Definition von Inter- und Multimedialität mit den Computermedien auseinandersetzt. Zum Verhältnis von Digitalbild und Realität siehe z.B. Boom (1996) und Hüsch (2004).
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Dunkelkammer. Zwar basiert auch der digitale Aufnahmeprozess auf dem Einfall des Lichts durch ein Objektiv, jedoch erfolgt die Speicherung der eingeschriebenen Lichtspuren nicht mehr auf Celluloidfilmen, sondern numerisch kodiert auf CCD-Chips. Die digitalen Bildinformationen können sodann per Computer beliebig bearbeitet, auf CD-Rom gespeichert bzw. auf Papier ausgedruckt werden. Statt der Körnung der Silberhalogenkristalle erfolgt die Bildrasterung über Pixel. Digitale Medien verarbeiten bzw. verrechnen schriftliche wie bildliche Zeichen mit einer einheitlichen binär strukturierten Technik und erfüllen so eine integrative Funktion. Anders als die analoge Photographie, deren Reduplizierbarkeit mit der Zeit aufgrund materieller Erschöpfung verloren geht und damit endlich ist, ist die dialoge Photographie (fast) „[…] unendlich oft absolut verlustfrei duplizierbar, d.h. reproduzierbar; digitale Information kann wahrhaftig den zweiten Hauptsatz [der Thermodynamik; A.d.V.] austricksen. Zum erstenmal [sic!] in der Geschichte der Menschheit gibt es ein Dokument, das seine Identität gerade darum dauerhaft bewahren kann, weil seiner elektromagnetischen Natur nichts Individuelles mehr anhaftet.“ (Boom 1996: 106; Herv. i. O.) Während die materielle Photographie die Spur der Realität in analoger SignalFixierung stets als wieder verschwindendes Nachbild festhält, eignet dem digitalen Bild nichts mehr von dem grundsätzlich indexikalischdokumentarischen Potenzial der analogen Photographie. Denn die elektronische Bildmanipulation hinterlässt keine sichtbaren Spuren mehr, wie es etwa bei der klassischen Retouchierung, Montage oder Collage noch der Fall war. Digitalphotos tendieren also – ungeachtet ihres noch so authentisch anmutenden Charakters – stets dazu, lediglich Darstellungen einer potenziell möglichen Realität zu sein.30 Umso erstaunlicher, dass der „optische Glaube“ (Debray 1999: 406)31 ungeachtet dessen als das Credo der modernen Informationsgesellschaft schlechthin fortwirkt. 1.1.2 Die Zukunft der Photographie im neuen Medienkontext Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Photograph und BauhausLehrer Laszlo Moholy-Nagy, für den die Photographie ein bildnerischkreatives und kein reproduktionstechnisches Medium war, in seinem Aufsatz „Die beispiellose Fotografie“ prophezeit, das 20. Jahrhundert
30 Weitere Ausführungen hierzu bei Mitchell (1992). 31 Unabhängig von der Verwendung des Terminus bei Régis Debray, dem Begründer der Mediologie, sind hiermit im vorliegendem Kontext die im 19. Jahrhundert vorherrschende Rezeptionsgewohnheit, das Photo als perfektes Analogon der Wirklichkeit zu betrachten sowie der uneingeschränkte, positivistischutopische Glaube an die Zuverlässigkeit der photographischen Zeugenschaft gemeint (vgl. Matthias 2004: 225).
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gehöre dem Licht,32 sein Breslauer Kollege Johannes Molzahn bezeichnete die Photographie voller Medienenthusiasmus als „Schrittmacher des Zeitund Entwicklungstempos“ (1983: 228) und Karl Pawek, Gründer und Herausgeber der Photozeitschrift Magnum, rief 1963 angesichts der photographischen „Bilderflut“ das „optische Zeitalter“ aus.33 Doch die technischen Innovationen sollten sich überschlagen: Durch die Einführung und die rasend schnelle Verbreitung des digitalen Bildes „ist die wichtigste Erfindung für gedruckte Medien seit Gutenberg – das stille Bild der [analogen; M.O.H.] Photographie – urplötzlich zu einem ‚alten‘ Medium geworden.“ (Wackerbarth 1996: 197; Herv. i. O.) Meist konservative und kulturpessimistisch inspirierte Thesen vom Medien-Darwinismus sehen das analoge photographische Bild daher auch von den neuen Medien bedroht und verkünden, wie beispielsweise Paul Virilio in seinem Aufsatz „Fotofinish“, sogar sein Ende: „In nicht allzu ferner Zukunft […] wird die analoge Darstellung der Formen von der digitalen Darstellung verdrängt sein, so daß das berechnete Bild der elektronischen Optik endgültig die Oberhand über das fotografierte Bild der geometrischen Optik gewinnt.“ (Virilio 1998a: 21-22) Optimisten behaupten hingegen gerade das Gegenteil und sehen hierin den endgültigen Siegeszug des Licht-Bildes. In seiner Apologie der Photographie konstatiert Wackerbarth (1996: 193): „Die Photographie wird im 21. Jahrhundert erst ihre große Zeit erleben und wahre Anerkennung finden.“ Weiter betont er, dass lediglich die Photographie das Spiel von Phantasie und Realität in Gang setzen kann, was der schnell bewegten bunten Computer- und Fernsehästhetik niemals gelingen werde. Weniger enthusiastisch betrachtet lässt sich feststellen, dass sich die Photographie – und zwar auch die analoge Photographie – nach wie vor behaupten kann. Schließlich hat der Verlauf der Mediengeschichte wiederholt gezeigt, dass die Situation der Medienkonkurrenz gerade nicht dazu führt, dass Medien sich gegenseitig verdrängen, sondern sich jeweils im Gesamtmediensystem ihre Spezifika ausdifferenzieren und ihre Funktionsmöglichkeiten neu zuordnen.34 Vor allem die Vorstellung einer kontinuierlichen Ablösung ein32 Moholy-Nagy schließt seine theoretisch motivierte Streitschrift mit dem optimistischen Ausblick: „Noch einige lebendig vorwärtsschreitende Jahre, einige begeisterte Anhänger der photographischen Techniken und es wird zu den allgemeinen Erkenntnissen gehören, daß zum Anfang neuen Lebens die Photographie einer der wichtigsten Faktoren gewesen ist.“ (Moholy-Nagy 1925: 37) 33 Burkhard Michel (2006: 13) weist darauf hin, dass die von Pawek geprägte Metapher von der ,Bilderflut‘ mit dem explosionsartigen Anstieg photographischer Bilder der letzten Jahrzehnte zum unmarkierten, festen Begriff wurde. 34 Beispielhaft aufzeigen lässt sich dies daran, dass die Photographie die gegenständliche Malerei nicht vollends verschwinden ließ, sie jedoch eine Zeitlang ins Abseits drängte. In der Malerei waren die jungen impressionistischen Künstler wie Cézanne, Monet oder Van Gogh zwar auch bestrebt, dass Momentane zu fi-
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es älteren durch ein neues Leitmedium wie sie in den fünfziger Jahren mit McLuhans apokalyptischer Prophezeiung vom „Ende der Gutenberg-Galaxie“ (Böhme 1999: 7) noch verkündet wurde,35 greift angesichts der sich stark diversifizierenden Medienprozesse gegen Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr (Schneider 2008: 121). Ebenso wenig wie sich Mohlzahns Totsagung des Buches in seinem Manifest „Nicht mehr lesen! Sehen!“ (1983) bewahrheiten sollte, wird auch das analoge Photo im neuen Medienkontext nicht etwa verschwinden, sondern wird im Verbund elektronisch generierter Bilder vielmehr andere, mitunter neuartige Effekte erzeugen.36
xieren, aber eben gerade nicht so objektiv wie die Photographie, sondern durch den Filter der subjektiven Wahrnehmung. Zum Wechselverhältnis von Impressionismus und Photographie als Einflussfaktoren auf Zola siehe Spieker (2008). Dies führte zu einer völlig neuen Farb- und Formensprache und beschleunigte den Abstraktionsprozess der Malerei wie er schon bald im Fauvismus, Kubismus und Expressionismus zum Ausdruck kam. Zur Entmimetisierung der Kunst im Wirkungszusammenhang mit der Photographie siehe Willems (1989: insbesondere 161-168). Die Malerei wurde also nicht verdrängt, sondern besetzte lediglich andere Nischen. Jedes neue Medium löst solange einen Prozess der Neusituierung aus, bis die älteren Medien einen anderen Systemplatz eingenommen haben. Verwiesen sei hier beispielsweise auf den gegenwärtig erfolgreichsten deutschen Maler Gerhard Richter, dessen Malerei ganz wesentlich durch die Auseinandersetzung mit der Photographie charakterisiert ist. Richter reflektiert dadurch den Stellenwert zeitgenössischer Kunst in einer von der massenmedialen Bilderflut bestimmten Gesellschaft, dass er banale Photographien der Massenmedien oder Amateurphotos als Vergleichsfolie und Ausgangspunkt seiner Gemälde nutzt. 35 Siehe hierzu McLuhan (1968a) und (1968b). 36 Auf diesen Sachverhalt weist auch Kittler hin (1993a: 178). Aufschlussreich erscheint in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, dass das Interesse der Künstler am Medium Photographie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geradezu sprunghaft anstieg. Die große Faszination, die von der Auseinandersetzung mit dem Medium im Spannungsfeld von analoger, digitaler und post-photographischer Photographie ausgeht, bezeugt beispielsweise das u.a. von Hubertus von Amelunxen konzipierte Ausstellungsprojekt „Fotografie nach der Fotografie“ (vgl. Amelunxen/Iglhaut/Rötzer 1996). Während die diversen Inszenierungs- und Manipulationsformen des photographischen Bildes aufgrund des offenbar unerschütterlichen Glaubens an den Realitätseffekt der Photographie als konstitutives Element der Bildrezeption in vielen Bereichen (Journalismus, Wissenschaftsphotographie und Kriminalistik) unterdrückt und verschwiegen wird, stellen die mannigfaltigen Spielarten der digitalen Photographie eine enorme Bereicherung und Erweiterung künstlerischer Gestaltung dar (vgl. Wolf 2002a).
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1.2 „V OM W ECHSELBALG ZUM L IEBLINGSKIND “ 37: E IN M EDIUM ZWISCHEN K UNST UND K ONSUM 1.2.1 Die Rezeption der „Licht-Schrift“ in Kunst und Literatur38 Bezeichnenderweise war die öffentliche Bekanntmachung der Daguerreotypie im Jahr 1839 in einer gemeinsamen Sitzung der französischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Schönen Künste erfolgt (Koppen 1992: 232), doch von diesem Tag an war der Stellenwert der Photographie in Frankreich höchst umstritten und löste so heftige Reaktionen im literatur- und kunstästhetischen Diskurs aus wie sonst in keinem anderen Land (Schöning 1998: 724). Während die einen das neue Medium hochlobten und sich ob der „mathematischen Genauigkeit“ und der „unvorstellbaren Vollendung“ (Arago zit. nach Kracauer 1964: 26) der Reproduktion schlichtweg fasziniert zeigten, wurde es von den Gegnern und Skeptikern entweder als „magisches Teufelswerk“ (Koppen 1992: 233) verurteilt, mittels derer sich der Mensch, in seiner Überheblichkeit als Schöpfer einer gleichsam neuen Welt über Gott zu stellen suche, zur Hilfsmamsell der Kunst degradiert (Delacroix) oder aber als plattes „Plagiat der Natur“ (Lamartine zit. nach Tagg 2002: 246) verschrien.39 Solche Urteile begründen sich vor allem dadurch, dass der frühe Diskurs über die Photographie von der Kunstkritik beherrscht wurde, sich folglich um das Thema der Konkurrenz der Photographie zu den Künsten – insbesondere freilich der Malerei – zentrierte und dabei ein kunstästhetischer Maßstab angelegt wurde (Bickenbach 2005: 179). Die Diskussion, ob Photographie Kunst sei, ist also fast so alt wie das Medium selbst. Da die photographische Naturnachahmung das Erzeugnis eines Apparates bzw. eines chemischen Prozesses ist, wurden die detailgenauen Photographien als Bilder ohne Künstler angesehen. Im Kontext der damaligen Ästhetikauffassung musste die
37 Der Titel nimmt Bezug auf Koppen (1987: 87). Eine ausführliche Darstellung gerade der frühen Reaktion und Rezeption der Photographie liefert Buddemeier (1970). 38 Nachdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich die folgende Darstellung als fragmentarischer Streifzug durch die Rezeptionsgeschichte der Photographie im literarischen Kontext versteht und lediglich einschneidende Wendepunkte beleuchten möchte. 39 Interessanterweise gelangt Lamartine allerdings nur wenige Jahre später zu einer ganz anderen Beurteilung und verkündet fast schon schwärmerisch „Es [die Photographie; M.O.H.] ist eine Kunst. Es ist sogar mehr als eine Kunst: es ist ein Sonnenphänomen, bei dem der Künstler mit der Sonne zusammenarbeitet!“ (Lamartine zit. nach Mitry 1975: 10) Vgl. hierzu auch Soulages (2008: 87).
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Photographie daher als Bild ohne Kunstwert gelten.40 Umso bemerkenswerter also, dass die Photographie gerade in der Frühphase dennoch als bedrohendes Konkurrenzmedium zu den traditionellen Abbildungskünsten empfunden wurde. So soll etwa der damals auf dem Gipfel seines Ruhmes stehende Historienmaler Paul Delaroche die Veröffentlichung der Photographie mit der Bemerkung kommentiert haben, die Malerei sei von diesem Tag an tot und werde durch die Photographie ersetzt.41 Teilweise wurde der Eindruck eines Konkurrenzmediums wohl auch dadurch unterstützt, dass die noch um allgemeine Anerkennung ringende Photographie versuchte, in ihrer Bildlichkeit der Akademiekunst nachzueifern.42 Vor dem Hintergrund der romantischen Ästhetik erteilte der Genfer Professor für Ästhetik Rodolphe Toepffer dem Medium mit seiner Schrift „De la plaque Daguerre. A propos des excursions daguerriennes“ (1841) eine vehemente kunsttheoretische Absage. Toepffer, der mit seinen Text und Zeichnung verbindenden satirischen Geschichten als einer der Väter der bande dessinée gilt, begründete sein Urteil damit, dass die Photographie als exakte, aber unbeseelte Kopie der Wirklichkeit nicht in der Lage sei, eine durchgeistigte, subjektiv mit allen Sinnen erfahrbare, imaginative Ähnlichkeitsabbildung im Sinne einer symbolischen Interpretation der Wirklichkeit – und damit ein Kunstwerk – hervorzubringen.43 Sehr viel positiver fiel die Beurteilung der LichtSchrift hingegen bei anderen romantischen Autoren wie etwa Théophile de Gautier oder Victor Hugo aus. Während ersterer sich als „daguerréotype littéraire“ und seine Dichtung als „mots de lumière“ (im Gegensatz zu den photographischen „mots de soleil“) bezeichnet, spricht Hugo vom lyrischen Subjekt als innerer Dunkelkammer (Albers 2001: 537). Im Allgemeinen allerdings reagieren die französischen Autoren im Gegensatz zu der heftigen Reaktion und massiven Kritik an der Photographie seitens der Künstler, zunächst sehr viel verhaltener und melden sich erst mit einem gewissen Verzögerungseffekt zu Wort. Eine ganze Reihe großer Schriftsteller – wie Nerval, Du Camp, De Gautier, Rodenbach oder Zola, um nur wenige beim Namen zu nennen, – griff aber schon früh selbst zur Kamera und prägte den
40 Vgl. hierzu Plumpe (1990). 41 Im Gegensatz zu Delacroix, der dem Medium jeden Kunstwert absprach und darin bestenfalls ein Hilfsmittel der Malerei erkannte, zählte Delaroche zu den Künstlern, die der Photographie von Grund auf positiv zugeneigt waren und in ihr die Zukunft der Kunst zu erkennen glaubten. Schon 1839 verkündete er seine Überzeugung, dass die Photographie „die Natur nicht nur wahrhaftig, sondern auch kunstvoll“ (Delaroche zit. nach Mitry 1975: 5) abbilde. Vgl. auch Freund (1976: 90-92). 42 Hierzu z.B. Jobert (2000). Dies führte zu teilweise derart heftigen Debatten um den Kunstcharakter, dass es sogar zu Gerichtsverhandlungen kam (Freund 1976). 43 Toepffers Text findet sich in Buddemeier (1970: 234-250).
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so genannten Typus des photographierenden Autors.44 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es sich gerade in der frühen Phase mehr um ein laienhaft betriebenes Hobby handelte, als um eine praktische Auseinandersetzung mit künstlerischem Anspruch, von wirklicher Doppelbetätigung im Sinne Hoopers (1987: 9-11) kann hier also keineswegs gesprochen werden. Im Zuge der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Realismusdebatte begannen einige (wenige) Literaten, unter anderem in der damals neu gegründeten Société Héliographique, sich auch theoretisch mit der Photographie auseinander zu setzen. In seinem Manifest Le Réalisme (1857) verwahrte sich Champfleury allerdings dagegen, dass die literarische Realitätsdarstellung mit der Photographie gleichgesetzt würde. Grundsätzlich fällt auf, dass es im 19. Jahrhundert gerade Autoren von heute relativ geringem Bekanntheitsgrad sind, die die Photographie als ideales Vorbild und ästhetischen Maßstab ihres Schreibens betrachteten. Namhafte „realistische“ Schriftsteller wie z.B. Balzac45 oder Flaubert nehmen hingegen keine vergleichbare, eindeutig positive Stellung zur Photographie ein. Insbesondere bei Flaubert und Zola lässt sich vielmehr eine gewisse Ablehnungshaltung gegenüber dem entzaubernden photographischen Blick erkennen. So versucht Flaubert in seinen Notizen zur gemeinsamen Orientreise mit seinem Freund Maxime Du Camp gerade jene Eindrücke schriftlich festzuhalten, die Du Camps Photographien nicht zu zeigen vermögen und in Bouvard et Pécuchet (1881) steht das cliché photographique für ein cliché lingustique, für einen geistlosen und erstarrten Gemeinplatz (Albers 2001: 539). Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Diskurses über die Photographie als rein technisches Medium der objektiven Realitätswiedergabe, verwehert sich auch Zola entschieden gegen die simplifizierende Aussage, die naturalistische Schreibweise sei photographisch:46 Denn die Photographie stellt zwar durch ihr empirisch-wissenschaftliches Dokumentationspotenzial einen wichtigen Ausgangspunkt des experimentellen Romans dar, das Re44 Eine detailliertere Darstellung findet man z.B. bei Mitry (1975). Für die meisten Autoren war das Medium allein ein Mittel, die Realität zu erfassen (ebd.: 9). Zum Diskurs der Photographie und zum Verhältnis von Photographie und Literatur im 19. Jahrhundert siehe z.B. auch Albersmeier (1992: 9-22), Bustarret (1990), Grivel (2001), Koppen (1982) und (1992), Olcay (2001), Ortel (2002), Plumpe (1990), Shloss (1987), Thélot (2003) sowie die Themenhefte 23 und 34 der Zeitschrift lendemains – Zeitschrift für Frankreichforschung und Französischstudium. 45 Im Vorwort zu Splendeurs et misères des courtisanes (1845) schreibt Balzac (1977: 426) zwar, er beabsichtige eine Daguerreotypie der französischen Gesellschaft zu erstellen, meint damit jedoch eine Form des „verdichteten Sehens zweiten Grades“ (Albers 2001: 537), die den Blick auf die Wirklichkeit hinter den Dingen erlaubt. 46 Eine ausführliche Untersuchung von Zolas Bewertung der Photographie im Zusammenhang mit seinem Schreiben liefert Spieker (2008).
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sultat jedoch ist das Produkt eines ästhetisch-künstlerischen Transformationsprozesses durch den Literaten: „Un reproche bête qu’on nous a fait, à nous autres écrivains naturalistes, c’est de vouloir être uniquement des photographes.“ (Zola 1971: 65; Herv. i. O.) Den Höhepunkt der ablehnend kritischen Auseinandersetzung mit dem Medium im Zusammenhang mit den bildenden Künsten und der Literatur erreicht die Diskussion jedoch mit Baudelaires polemischer Verurteilung der Photographie in seinem Bericht über den Pariser Salon de 1859,47 bei dem zum ersten Mal auch Photographien ausgestellt wurden. Baudelaires Skepsis gegenüber der Photographie richtete sich allerdings nicht gegen das Medium per se. Seine Kritik galt in erster Linie dem Kunstbetrieb seiner Zeit, ist folglich im Kontext seiner kulturpessimistischen Betrachtungsweise zu bewerten und lässt sich als aristokratische Aversion gegen die beginnende Vermassung von Kunst und Kultur sowie der Ausbildung der massenhaft reproduzierbaren Populärkunst erklären. Den Mangel der seines Erachtens rein referenziellen, indexikalischen Photographie, die die Realität objektiv abbildet, sah Baudelaire vor allem darin, dass die Photographie – zumindest die seiner Zeit – nicht in der Lage schien, der pathetischen Melancholie, dem spleen, Ausdruck zu verleihen.48 Anders als später Valéry49 stellte Sainte-Beuve die enge Verbindung von Photographie Literatur dadurch besonders heraus, dass er das etwa zeitgleich mit der Photographie entstandene poème en prose als „produit du daguerréotype en littérature“ (Ortel 2002: 142) bezeichnete. Besondere Wertschätzung erfuhr die Photographie durch Mallarmé, indem er den Meisterphotographen Nadar als „auteur des plus beaux poëmes en prose écrits depuis Baudelaire“ (Mallarmé zit. nach Ortel 2002: 142) feierte. Eine ebenfalls eindeutig positive Bewertung erfährt die Photographie bei Edmond de Goncourt, der den Begriff ,instantané‘ zur metaphorischen Beschreibung seines Schreibverfahrens in seinem Tagebuch verwendet (Koppen 1992: 244245).50 Georges Rodenbachs Roman Bruges-la-Morte (1892) stellt schließlich die erste autorintendierte Verbindung von photographischer Abbildung und literarischem Werk im französischsprachigen Raum dar. Obwohl die photographischen Stadtansichten von Brügge rein illustrative, also textergänzende Funktion tragen, geht Rodenbach im Vorwort explizit auf die innovative Juxtaposition von Bild und Text ein und weist die Bimedialität als 47 Seine Stellungnahme zur Ausstellung photographischer Bilder formuliert Baudelaire in dem Abschnitt „Le public moderne et la photographie“ (1976: 614619). 48 Vgl. hierzu Kracauer (1964: 30), Mitry (1975: 11) und Taminaux (2009: 15-58). 49 Zu Valérys Bewertung der Photographie siehe Mitry (1975: 17), Taminaux (2009: 143-181) und Zetzsche (1994: 78-82). 50 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts greift Robbe-Grillet diesen Analogieschluss mit seinen Instantanés (1962) wieder auf, wenngleich hier freilich unter völlig anderen Vorzeichen.
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konstitutiven Teil seines poetologischen Gesamtkonzeptes aus.51 Im Allgemeinen wurde die Photographie allerdings erst gegen Ende des Jahrhunderts nicht mehr als potenzielle Bedrohung von Kunst und Literatur empfunden. Die Selbstbestimmung der Photographie als konkurrenzloses, leistungsfähigstes Dokumentationsinstrument führte um 1870 letztlich dazu, dass sich der Künstler „in dieser Zeit zum ersten Mal völlig frei fühlen [konnte; M.O.H.], seine subjektive Sicht der Wirklichkeit in seinem Werk auszudrücken; mit Huysmans und Maupassant beginnt diese Entlastung, die mit dem lyrischen Symbolismus zur literarischen Moderne führt.“ (Straub 1981: 5-6) Nach der Jahrhundertwende und insbesondere während der Zeit des literarischen Experimentierens in den verschiedenen Ismen der Moderne und Avantgarde schätzen viele Autoren das Medium nicht mehr nur als mediale Technik per se, sondern erkennen es als ernst zu nehmendes, der Literatur ebenbürtiges Medium an und entdecken zunehmend auch das für ihr literarisches Schaffen bereichernde Potenzial der Photographie. Immer häufiger findet sich nun die Photographie als literarisches Motiv oder Metapher in ihren Werken wieder. Vielfach wird dabei wie etwa bei Proust die Funktion der Photographie als (un-)brauchbares Erinnerungsmedium diskutiert. Werden photographische Bilder in die literarischen Texte integriert, so werden sie kaum mehr – wie etwa noch bei Rodenbach – dazu eingesetzt, den Lokalkolorit, die Atmosphäre eines verbal ausführlich beschriebenen Raumes photographisch zu verstärken, sondern gehen – wie erstmals in André Bretons Nadja (1928) – als autonome Bedeutungsnarrative eine fruchtbare intermediale Symbiose mit dem Text ein.52 1.2.2 Photographie als Kunst oder die Eroberung der Museen Gleichwohl die Debatte um die Konkurrenz der Photographie zur Malerei gegen Jahrhundertwende im Zusammenhang mit der realistischen respektive naturalistischen Literatur abflaute und immer mehr Künstler und Literaten die ungeahnten gestalterischen Möglichkeiten mit den unterschiedlichsten phototechnischen Verfahren für sich entdeckten, war der „Kunststreit“ allerdings noch lange nicht beendet.53 Während die Photographie in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf der einen Seite zunehmend als Medium politischer Polemik herhalten muss und zur Bezeugung von Kriegsgeschehen funktionalisiert wird, begeistern sich auf der anderen Seite immer mehr Künstler für die 51 Eine intensivere Analyse der Text-Bild-Bezüge in Bruges-la-Morte findet man z.B. bei Fondanèche (2005: 423-424), Koppen (1987) und Müller (2007). 52 Vgl. Koppen (1982: 112), der als einer der ersten das ästhetische Spannungsverhältnis von Text und photographischen Abbildungen untersuchte. Zu Rodenbach und Breton siehe z.B. auch Steinaecker (2007: 33-53). 53 Zur aktuellen Diskussion siehe z.B. Wolf (2002a).
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neuen experimentellen Verfahren der Rayographie und des Photogramms, die insofern eine große Ähnlichkeit mit den etwa parallel entwickelten literarischen Verfahren der écriture automatique aufweisen, als auch sie unbewusste, automatische Fixierungsverfahren darstellen. Aber auch die „normale“ Photographie gerät in den Blick, so beginnt Moholy-Nagy sein programmatisches Buch Malerei, Fotografie, Film mit den Worten: „Dieses Buch ist eine Apologie der Photographie, in der viele Menschen noch heute nur ein untergeordnetes ,mechanisches‘ Notierverfahren sehen. Daß die Photographie auch schöpferisches Ausdrucks- und Gestaltungsmittel sein kann, ist fast unbekannt.“ (Moholy-Nagy 1925: 5; Herv. i. O.) Bis zur heute mehrheitlich vertretenen, vielfach kulturrelativistisch geprägten Auffassung, dass eine Photographie bis zu einem gewissen Grad auch einen Teil der Subjektivität des Photographen abbildet,54 sollte dies auch noch eine Weile so bleiben. Durch den in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einsetzenden Photographie-Boom veränderte sich der Status der Photographie dergestalt, dass sie endgültig zum Alltagsmedium der Massen wurde. Dadurch geriet der Kunstcharakter der Photographie jedoch nur umso stärker ins Kreuzfeuer der Debatten. So klagt z.B. der Kunsttheoretiker Karl Pawek ganz in der Manier eines Walter Benjamin über die maschinell-chemotechnische Kälte der photographischen Abbildung und führt die angebliche Objektivität aufgrund der vermeintlichen Unbeteiligtkeit des Menschen beim Akt des Photographierens in seinem Buch Das optische Zeitalter (1963) als Argument gegen das künstlerische Potenzial des Mediums ins Feld.55 54 Vgl. z.B. Sontag (2006: 115). Im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Denis Roches Photographie stellt Philippe Dubois (1990: 287-302) fest, dass das Autoportrait der Modus der Photographie par excellence sei, denn jedes Photo sei insofern zwangsläufig immer auch ein Selbstportrait, als die Wahl der photographischen Parameter wie Ausschnitt, Fokus usw. bereits implizit etwas über die Identität und Subjektivität des Photographen verrieten. 55 Wenn Pawek mit der Feststellung, „[d]er Künstler erschafft die Wirklichkeit, der Fotograf sieht sie“ (1963: 58) die unterschiedliche Wahrnehmungsweise des menschlichen Auges gegenüber der Kamera betont, dann erinnert das stark an Walter Benjamin (1977a: 50): „Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt.“ Zu den frühen Vertretern derjenigen Medientheoretiker, die versuchten, die Photographie in Schutz zu nehmen vor dem seit Baudelaire berühmt gewordenen Vorwurf, nicht mehr als eine apparativ-mechanische Nachahmung der Natur zu sein, zählt Rudolf Arnheim. So nimmt er 1929 die damalige Malerei scharf ins Gericht und betont im Gegenzug dazu das Kunstpotenzial der Photographien etwa eines Man Ray (Arnheim 2004a). In seinem späteren Essay „Über das Wesen der Photographie“ bringt er seine Position folgendermaßen auf den Punkt: „Um also Photographie zu verstehen, muß man sie als ein Aufeinandertreffen der
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In den siebziger Jahren kommt es allmählich zur Konsolidierung und Institutionalisierung des photographischen Feldes und die Photographie avanciert endgültig zum „künstlerischen Leitmedium“ (Eggeling 2003: 7). Damit war ein Stiefkind scheinbar plötzlich zu einem Star des Kunstmarktes geworden. Insbesondere alte Photographien erzielten auf Kunstauktionen rasch Höchstpreise und das photographische Bild hielt Einzug in Museen, Galerien und Sammlungen (Wackerbarth 1996). Hubert Damisch hält hierzu fest: Die leicht suspekte Aura, die ihr heute den Eintritt ins Museum erlaubt, und der regelrechte Kult, der sich um die vintage prints entsponnen hat, erscheinen wie eine verdrehte Parodie auf den Prozeß der Entsakralisierung des Kunstwerks, der mit der Erfindung der Photographie an sein Ende hätte kommen können: Ihr Ausstellungswert trägt die Photographie über die dokumentarische Funktion hinaus, mit dem Resultat, daß wir glauben, über sie verfügen zu können, wie wir es über die Kunstwerke tun, die im Museum aufbewahrt werden. Tatsächlich fährt sie aber fort, über uns zu verfügen. Das zeigt sich an dem Bild, das uns urplötzlich überfällt, das uns umringt, bei der Zeitungslektüre oder gelegentlich eines unvorbereiteten Abstiegs in unser Privatarchiv. (Damisch zit. nach Krauss 1998a: 11; Herv. i. O.)
Gleichzeitig erobert die Photographie aber auch den Literaturmarkt: Spätestens seit der Feier der Photographie als ästhetisches Strukturprinzip der Schreibweise des nouveau roman steigt die Anzahl an literarischen Werken, die sich der Photographie materiell, als literarisches Motiv oder stilgebendes Schreibprinzip im Sinne einer – wie auch immer gearteten „photographischen Schreibweise“ – bedienen, überexponenziell an.56 Mit ihren bimedialen Werken zeigen Künstler wie Bernard Plossu und Denis Roche mannigfaltige Möglichkeiten des photoliterarischen Arbeitens, betonen in ihren theoretischen Essays die Literarizität der Photographie und die Photographizität der Literatur: „Les appareils photo, comme les machines à écrire, sont des machines à fabriquer des leurres et des ex-voto, c’est-à-dire la même chose.“ (Roche zit. nach Soulages 2008: 90) Mit der Nobilitierung der Photographie durch die Eroberung der Museen sowie des literarischen Feldes gerät auch der wissenschaftliche und öffentliche Diskurs über den Stellenwert der Photographie in Kunst, Literatur und Wissenschaft mit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts regelrecht in Mode. Einhergehend damit erreicht auch die Debatte „Kunst als Photographysischen Realität mit dem schöpferischen Geist des Menschen begreifen – nicht einfach als eine Widerspiegelung dieser Realität im Geist, sondern als einen Zwischenbereich, in dem beide Gestaltungskräfte, Mensch und Welt, als gleich starke Gegner oder Partner einander begegnen, wobei jeder seine spezifischen Fähigkeiten einbringt.“ (Arnheim 2004c: 32) 56 Diese Fülle an Arbeiten mit und über Photographien führt auch dazu, dass alle bisherigen Versuche von Überblicksdarstellungen recht lückenhaft bleiben. Vgl. z.B. Albers (2001), Eggeling (2003) und Viart/Vercier (2008).
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phie – Photographie als Kunst“ einen erneuten Höhepunkt. Gründe für die bis in die Gegenwart anhaltende Neubewertung der Photographie als Kunstmedium sind im Wandel des Kunstbegriffs und der veränderten Auffassung von Ästhetik vor dem Hintergrund der Postmoderne-Debatte zu suchen.57 Doch auch ungeachtet der Tatsache, dass sich die Photographie heute nicht nur als eine anerkannte, sondern auch als eine führende Kunstform durchgesetzt hat, der man durchaus auch auratische Qualitäten zuerkennt, kann die Debatte nicht – wie etwa Wackerbarth behauptet – „für beendet erklärt werden“ (1996: 194): Ausnahmen bestätigen die Regel und so beziehen einige Kritiker wie beispielsweise Gerhard Plumpe in Der tote Blick noch immer eine Gegenposition, indem sie den Kunstanspruch photographischer Arbeiten weiterhin in Frage stellen.58 Häufig wird der zeitgenössischen Kunstphotographie, nicht zuletzt aufgrund ihrer semantischen Offenheit, ihrem Spiel mit den photographischen Möglichkeiten und ihrer zuweilen banal anmutenden Beliebigkeit, Ausdrucks- und Inhaltslosigkeit, Künstlichkeit, Kitschigkeit, Geschmacklosigkeit und z.T. sogar Obszönität nachgesagt. Dieser Vorwurf rührt mitunter daher, dass „[i]n der Kunst der Fotografie, die nach 1970 erstmals seit den zwanziger Jahren wieder Bedeutung erlangte, das […] Besondere darin [lag], dass die dargestellte Realität als inszenierte erscheint. [...] Und nachdem die Werbefotografie die Produktion der ,schönen‘ Bilder übernommen hat, verwundert es nicht, dass die künstlerische Fotografie darauf mit parodistischer Manier reagierte [...].“ (Grabes 2004: 108; Herv. i. O.) Ein wesentliches Charakteristikum zeitgenössischer Photographie liegt in der großen Vielfalt der Verwendungsarten und der großen Bandbreite nebeneinander existierender Stile und Ausdrucksformen.59 Kurzum gilt das für 57 Interessant erscheint in diesem Kontext die Auffassung von Jacques Derrida, der das Kunstpotenzial der Photographie durch eine „Nicht-Kunst“ oder „HyperÄsthetik“ und „durch eine in gewisser Hinsicht unmittelbare und natürliche Wahrnehmung: eine unmittelbar reproduzierte, unmittelbar archivierte Wahrnehmung“ (2000: 284) bedingt sieht. 58 Vgl. Zetzsche (1994: 85 Fn 20). Insbesondere gilt dies in der Kunstszene, so spricht beispielsweise der zeitgenössische deutsche Künstler Markus Lüpertz der Photographie noch immer jeglichen Kunstwert ab (vgl. Wackerbarth 1996: 194). Ebenso stellt der Maler David Hockney die Begrenzung der Fähigkeiten der Photographie im Gegensatz zur Malerei in seinem Werk „Das Massaker und die Probleme der Darstellung“ dar und fordert in dem Begleittext zu dem Gemälde: „Die Grenzen der Fotografie bestehen noch immer; sie müssen heute diskutiert werden.“ (Wagner 2003: 33) 59 Crimp (2000: 240) schreibt hierzu: „Bei der Postmoderne handelt es sich um eine Streuung der Kunst, eine Pluralität, womit nicht Pluralismus gemeint ist. Pluralismus bringt die Vorstellung mit sich, die Kunst sei frei, frei von anderen diskursiven Praktiken und Institutionen, vor allem frei von Geschichte. Und diese Vorstellung von Freiheit kann gewahrt werden, weil jedes Kunstwerk für absolut
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die Postmoderne allgemein als kennzeichnend betrachtete Diktum des anything goes auch für die aktuelle Photographie und manifestiert sich in dem Hin- und Heroszillieren von Realismus und märchenhaft-phantastischer Imagination, von Kunst und Kommerz einerseits und in der Vermischung von „komponierten“ Kunstphotos, dokumentarischen Reportagebildern und Werbephotos andererseits. In der aus der Konzeptkunst hervorgegangenen art narratif/story art, die mit Photographen wie Jean Le Gac und Christian Boltanski Mitte der siebziger Jahre entsteht, mit der Gründung der Gruppe Photolangage um Christian Gattinoni im Jahr 1982 eine Neubelebung erfährt60 und ab den neunziger Jahren mit einer jungen Generation von Künstlern wie Sophie Calle und Hervé Guibert einen neuen Höhepunkt erreicht, findet zudem eine Durchkreuzung und Hybridisierung von Photographie und Literatur statt. Dadurch, dass sich die Autoren dieser Photo-TextHybride als intermediale Erzählkünstler verstehen, die ihre Geschichten gleichermaßen mit Photographien wie mit Texten erzählen (vgl. Rentsch 2010: 13-17), findet eine Entgrenzung der Künste statt. Dies führt zu der Frage, wo die Grenzen zwischen Literatur und Photokunst zu ziehen sind bzw. ob diese überhaupt noch gezogen werden können oder sollen.61
1.3 D AS JANUSKÖPFIGE M EDIUM : T HEORETISCHE Ü BERLEGUNGEN ZUM W ESEN DER P HOTOGRAPHIE BEI B ENJAMIN , B AZIN UND K RACAUER 62 Grundsätzlich ist zwischen zwei Richtungen der theoretischen Auseinandersetzung mit der Photographie zu unterscheiden: Anhänger der realistischen Position, der so genannten Analogontheorie, vertreten die Ansicht, die Photographie reproduziere die Wirklichkeit aufgrund des chemotechnischen Reproduktionsvorganges objektiv, das Photo stellt demnach eine wahrheitsgetreue Kopie der vorgefundenen Realität dar. Diesem Konzept steht die kulturrelativistische Position entgegen, die von der Arbitrarität der Photographie ausgeht. Als Argumente für diese Betrachtungsweise werden die ontogenetische und sozio-kulturelle Abhängigkeit der Wahrnehmung einerseits
einzigartig und originell gehalten wird. Gegenüber diesem Pluralismus der Originale möchte ich von der Pluralität der Kopien sprechen.“ 60 Vgl. hierzu Soulages (2008: 92-93). 61 Hierzu auch Hapkemeyer/Weiermair (1996). Für weitere Beispiele zur postmodernen „Erzähl-Photographie“ siehe etwa Sabau (1998). 62 Zur Theoriegeschichte des Mediums von den Anfängen bis in die Gegenwart siehe auch die einführenden Überblicksdarstellungen von Geimer (2009) und Stiegler (2006a) sowie die von Stiegler (2010) zusammengestellte Anthologie fundamentaler theoretischer Texte zur Photographie.
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und die Manipulations- und Gestaltungsmöglichkeiten während des Aufnahme- und Entwicklungsprozesses andererseits auf den Plan gerufen. Wie die nachfolgenden Ausführungen verdeutlichen, überlappen sich die beiden Lager insbesondere bei Theoretikern des 20. Jahrhunderts häufig. So hat Dörfler (vgl. 2000: 21-23) diesbezüglich gezeigt, dass die beiden Positionen einander deshalb nicht ausschließen, weil die vermeintlichen Gegensätze im Grunde vor allem darauf beruhen, dass sich die realistische Betrachtungsweise auf den Produktionsmoment bezieht, während die kulturrelativistische Sichtweise den Wahrnehmungs- und Rezeptionsaugenblick im Fokus hat, der diesem temporär nachgeordnet ist, und sich die Ansätze zudem meist auch hinsichtlich der jeweils zu Grunde gelegten Zeichenmodelle voneinander unterscheiden. Wie bereits erwähnt, ist die Photographie von jeher von der Frage nach ihrem Kunstcharakter begleitet gewesen, doch in den Debatten des 19. Jahrhunderts war nie der Frage nachgegangen worden, ob sich mit dem neuen Medium nicht auch die Auffassung der Kunst an sich verändert habe. Walter Benjamin, der wohl als der erste wirklich moderne Medientheoretiker gelten darf (vgl. Harland 1999: 140), stellt diese Frage in den Mittelpunkt seiner kunstsoziologischen Untersuchung zum rezeptionsästhetischen Wandel der Kunstauffassung.63 In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (erstmals 1936) definiert Benjamin das Medium durch die jeweiligen gesellschaftlichen und technischen Verhältnisse und Bedingungen der Produktion und Rezeption – das Photo wird damit untrennbarer Bestandteil gesellschaftlicher Komponenten und erhält dadurch politischhistorische Dimensionen.64 In seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“ (1931) skizziert Benjamin den Verlust des mythologischen Wertes des Bildes durch die technisch präzise Naturnachahmung. Mit der maschinellen Massenproduktion verliert die Photographie aber auch die Aura des einzigartigen Originals, welche die Daguerreotypie noch umgeben hatte und die, bedingt durch die langen Belichtungszeiten, Dauerhaftes auszudrücken schien: „Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“ (Benjamin 1977a: 58) Aus Benjamins kunsttheoretischer Perspektive heraus betrachtet zieht die Möglichkeit der kostengünstigen Massenreproduktion eine Demokratisierung bzw. eine Vulgarisierung des Bildes nach sich, die das Bild desakralisiert. Dies resultiert nicht zuletzt auch daraus, dass jedes Kunstwerk als Reproduktion potenziell an jedem Ort rezipiert werden kann: „Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an einem Orte, an dem es sich befin63 Zu Walter Benjamins Verständnis der Photographie als Allegorie des 19. Jahrhunderts siehe Amelunxen (1988b) und Grojnowski (2002: 277-298). 64 Zu Benjamins Phototheorie siehe z.B. auch Schnell (2007).
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det.“ (Benjamin 1977b: 11; Herv. i. O.) Damit löst sich der Kunstgenuss aus seiner ritualisierten Form des Museumsbesuchs. An die Stelle der bewussten, konzentrierten Kunstbetrachtung in kontemplativer Versenkung tritt ein beiläufiges, unkonzentriertes Rezipieren – der Blick auf das reproduzierte Kunstwerk wird damit banal. Zudem stellt sich mit den Momentaufnahmen und Idealisierungen mittels Negativretouchen für Benjamin ein jäher Verfall des Geschmacks ein. Die inszenierten Posen der in Mode gekommenen Porträtphotographie repräsentieren, entgegen dem photographischen Wesen, weder faktische Authentizität noch Wahrheit. Erst mit dieser Verzerrung und Verfremdung des Wesens des Mediums durch die Konventionalisierung und mit der „blinden“ Automatisierung erstarrt die Photographie in ihrem Fortschritt zum statischen Objekt der Künstlichkeit. Benjamin zufolge verliert die Photographie als omnipräsentes Kollektivmedium der Masse nicht nur ihren ästhetischen Wert, sondern büßt zugleich den Löwenanteil ihrer Autonomie dadurch ein, dass sie in der Presse vom Wort dominiert auf eine bestätigende Beweisfunktion reduziert wird.65 Ferner hat der Wandel des ästhetischen Geschmacksurteils in der Gesellschaft sowie die Vermassung einer nunmehr „ent-auratisierten“ Kunst, die Benjamin mit dem Sieg der Reproduktionstechniken diagnostiziert, schlechterdings auch Auswirkungen auf die Funktion der Kunst, der damit eine gefährlich riskante Macht zuteil wird: Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. […] In einem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihrer Fundierung auf Politik. (Ebd.: 17-18; Herv. i. O.)
Hatte Benjamin bereits die Authentizität als Mittel der Erkenntnisfunktion der Photographie betont, so wurde ihr jedoch auch weiterhin die Eigenschaft der bloßen Wirklichkeitskopie vorgehalten. Erst die Erfahrung der durch die Wirren des Krieges bedrohten Kultur ließ den eigentlichen Wert der Photographie deutlich zu Tage treten. Der Kritiker André Bazin setzte diese Erkenntnis, angeregt durch zahlreiche Essays von Malraux, in seiner „Ontologie de l’image photographique“ (erstmals 1945) konsequent um. Für ihn besteht das entscheidende Wesensmerkmal der Photographie, ihre Originalität, in ihrer Objektivität, bei der die geradezu „natürliche“ Schönheit der photographischen Aufnahme nicht aus der künstlerischen Kreativität erwächst, sondern eben gerade aus der Abwesenheit des Menschen: „[...] entre l’objet initial et sa représentation, rien ne s’interpose qu’un autre objet“ (Bazin 1994: 13) und „[l]es virtualités esthétiques de la photographie résident dans la révélation du réel.“ 65 Siehe auch Bolz (1990: 67-100).
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(ebd.: 16) Insofern löscht die Photographie nicht das Modell der Wirklichkeit durch ein künstlich generiertes Produkt einer wesensmäßig anderen Kategorie aus, sondern bereichert dieses: „L’existence de l’objet photographié participe au contraire de l’existence du modèle comme une empreinte digitale. Par là, elle s’ajoute réellement à la création naturelle au lieu de lui en substituer une autre.“ (Ebd.). Die Echtheit und die daraus resultierende „puissance de crédibilité“ (ebd.: 13) der photographischen Aussage ist das Ergebnis der technischen Bildproduktion, die auf den geometrischen Regeln der perspektivischen Projektion beruht:66 „La photographie bénéficie d’un transfert de réalité de la chose sur sa reproduction. [...] C’est la présence troublante de vies arrêtées dans leur durée, libérées de leur destin, non par les prestiges de l’art, mais par la vertu d’une méchanique impassible: car la photographie ne crée pas, comme l’art, de l’éternité, elle embaume le temps, elle le soustrait seulement à sa propre corruption.“ (Ebd.: 14) Aufgrund ihrer ausgeprägten und einzigartigen Wesenszüge, durch die die Photographie laut Bazin allen anderen Bildkünsten und sogar dem Film überlegen ist, darf das Medium nicht als Konkurrent betrachtet werden, sondern beansprucht eine eigene photoästhetische Theorie. Neben André Bazin schickt auch Siegfried Kracauer seiner Filmtheorie den Versuch einer Wesensbestimmung des „Basismediums“ des bewegten Bildes in einer „Materialsammlung“ voraus, dabei vertritt er eine kritischreflektierte, realistische Position.67 Anders als z.B. die Malerei oder die Literatur, deren mediale Eigenschaften sich gemäß Kracauer (1964: 37) einer genauen Definition entziehen, lässt sich das Wesen der Photographie aufgrund ihrer technischen Komponente genauer bestimmen: Das Hauptmerkmal liegt demnach eben gerade in dem technischen Element, welches zugleich den einzigartigen Beweischarakter ermöglicht und dennoch nie vollständige Objektivität erreichen kann (ebd.: 41).68 Insofern, so Kracauer, ist 66 Bei der projektiven Transformation eines dreidimensionalen Objektes in eine zweidimensionale photographische Abbildfläche bleiben bestimmte Eigenschaften von Formen unverändert: „Projektive Transformationen begründen eine mathematische Beziehung zwischen Objekt und fotografischem Signifikanten: Genauer gesprochen besteht eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Punkten des Objektes und Punkten des Signifikanten.“ (Martino 1985: 15) Diese Invarianz gewisser geometrischer Eigenschaften (z.B. Fluchtlinie, Einfallswinkel, Schnittpunkt und Geradlinigkeit) des photographierten Objektes liefert die Grundlage für Denotation und Designation und damit für das Erkennen des Photographierten. 67 Ähnlich setzt sich der frühe Arnheim in seiner Apologie des Kinos Film als Kunst aus dem Jahre 1932 mit der Photographie auseinander. 68 Den entscheidenden Vorteil der photographischen gegenüber den gestalterischen Bildmedien sieht er gerade in ihrer realitätsreproduzierenden Eigenschaft, also gerade in dem Merkmal, das der Photographie von Kritikern wie Benjamin vorgehalten wurde. Wie der programmatische Untertitel seiner Theorie des Films
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auch die häufig verwendete Spiegelmetapher dem Medium unangemessen, denn zum einen handelt es sich vielmehr um einen – wie bereits Oliver Wendell Holmes 1859 konstatiert hatte – „mit einem Gedächtnis begabten Spiegel“ (Holmes zit. nach Newhall 1980: 54), zum anderen spiegelt die Photographie eben nicht bloß wider, sondern reduziert die Natur zugleich, indem sie einen Teilausschnitt aus dem Ganzen heraustrennt und ins Flächenhafte überträgt. Dadurch erhält die Photographie etwas Unbestimmtes, Unvollständiges und akzentuiert das Vorläufige und Zufällige. Die aufzeigende und aufdeckende Funktion der Photographie stellt eine Mindestanforderung dar, die im letzten Jahrhundert gravierende Folgen hatte: Die Photographie veränderte die Sicht der Welt erheblich, durch sie wurden die Wunder der Außenwelt förmlich entdeckt und somit überhaupt erst sichtbar. Dies führte wiederum zur Relativierung der Raum- und Zeitauffassung und brachte völlig neue Perspektiven nahe. Einhergehend damit nahm die moderne Photographie aber auch einen neuen Wesenszug an. Ihre Beeinflussung der anderen Künste wurde zur Quelle der Inspiration, paradoxerweise machte sich die avantgardistische Kunst das „realistische“ Medium zu eigen und suchte ausgerechnet im Bekannten die Abstraktion.69 Kracauer lehnt die Vereinnahmung der Photographie durch den Bereich der Kunst jedoch entschieden ab, denn der schöpferisch-subjektive Umgang verfälscht das seiner Ansicht nach wesentlichste Medienmerkmal: die objektive Naturwiedergabe. So erklärt Kracauer (1973: 72) auch die Debatte um den Kunstcharakter der Photographie für beendet und behauptet: „[…] gesetzt, Photographie ist eine Kunst, dann eine Kunst, die anders ist: im Gegensatz zu den herkömmlichen Künsten darf sie sich rühmen, ihr Rohmaterial nicht gänzlich zu verzehren.“ Schließlich gelangt aber auch er zu keiner eindeutigen Wesensbestimmung, es sei denn man sieht diese gerade in der Janusköpfigkeit der unterschiedlichen Erscheinungsformen des Mediums. Aus den kurz skizzierten Positionen der frühen Phototheoretiker wird deutlich, dass sie sich eines monolithischen Medienbegriffs bedienen und den Anspruch einer ontologischen Bestimmung der Photographie erheben. Ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wendet sich der medien- und phototheoretische Diskurs verstärkt strukturalistischen, semiotischen und soziologischen Modellen zu und versucht das „alte“ Medium neu zu fassen. Als herausragende Vertreter einer kritischen, mediensoziologischen Theoriebildung sind vor allem Pierre Bourdieu, Gisèle Freund und Susan
(1964) hervorhebt, tritt Kracauer als Anwalt zur Errettung der äußeren Wirklichkeit ein. 69 Die avantgardistische Kunst mit ihren Photo-Collagen und Photogrammen befindet sich in einem „Niemandsland zwischen Reproduktion und freier Komposition.“ (Kracauer 1964: 44)
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Sontag zu nennen.70 Vor allem letzterer ist es zu verdanken, dass die vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen und kapitalistischen Bildmissbrauchs von Benjamin und 1944 von Adorno/Horkheimer (1998) formulierte Ermahnung zu einem ethisch verantwortungsvollen und kritischen Umgang mit der Photographie neu gestellt und diskutiert wurde.71 Explizit warnt Sontag vor einem naiven Glauben an die Realitätsillusion der ambivalenten Photographie, die stets Gefahr laufe, als idiologisch-propagandistisches „Instrument der Macht“ (2006: 14) eingesetzt zu werden. Neben diesen medienkritischen Betrachtungen der Photographie, die sich thematisch und motivisch auch in einigen literarischen Medienreflexionen wieder finden, erweisen sich mit Blick auf das intermediale Zusammenspiel von Photographie und Literatur insbesondere semiotische Ansätze als besonders ergiebig.
1.4 Z EICHENTHEORETISCHE ANNÄHERUNGEN : D AS P ARADOXON DER P HOTOGRAPHIE IN DER S EMIOTIK Obwohl das photographische Zeichen seit Charles Sanders Peirce, dem Begründer der modernen allgemeinen Semiotik, Untersuchungsgegenstand einer Reihe von semiotischen Modellen wurde, die sich mitunter auch als fruchtbar erwiesen, wurde bislang jedoch noch kein eigens für das Medium konzipiertes semiotisches Zeichenmodell im Sinne einer autonomen, spezifischen Photosemiotik entwickelt (Calabrese 1987: 29).72 In allen der im Folgenden kurz skizzierten Ansätze basieren die Überlegungen zur Semiotik der Photographie auf bereits bestehenden Modellen, die ursprünglich im linguistischen Zusammenhang entstanden sind und vom sprachlichen auf das photographische Zeichen übertragen wurden.73
70 An dieser Stelle sei auch auf Vilém Flussers technikphilosophische Theorie der Photographie hingewiesen, die ihm zu einer pessimistischen Medien- und Zivilisationskritik gerät, dabei jedoch auch ganz bewusst als streitwürdige Provokation konzipiert ist. Siehe hierzu Flusser (1991). 71 Eine besonders große ethische Problematik sieht Sontag (2006: 17) bei der Aufnahme von menschlichem Leid in der Passivität des Photographen, denn „[d]as Fotografieren ist seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung.“ Hierauf hatte auch schon Arnheim (2004c: 25) hingewiesen. 72 Dies wird auch von Volli (2002: 328) betont. Eine gut lesbare, breit angelegte Darstellung unterschiedlichster semiotischer Annäherungen an das Medium Photographie bietet Sonesson (1989). 73 Damit setzt sich die seit den Anfängen der Photographie dominante Annahme einer analogen Beziehung von Photographie und Schrift fort, die sich übrigens auch in dem Begriff ,Photo-graphie‘ (dt. ,Licht-Schrift‘) ablesen lässt. Als Wort-
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1.4.1 Roland Barthes und René Lindekins Roland Barthes, den der Schweizer Photographie-Sammler Peter Herzog als den „bon dieu de la photographie“ (Mack 2003: 52) bezeichnet, setzte sich Zeit seines Lebens intensiv mit dem Medium auseinander und zählt mittlerweile zu den „semiotischen Klassikern der Photographie“ (Nöth 2000a: 496).74 Seine stark vom Strukturalismus geprägte, semiotische Beschreibung schöpfer dieser Bezeichnung wird in der Literatur immer wieder der selbst stark an der Photographie interessierte Wissenschaftler John Herschel genannt, der Talbot diesen Begriff 1839 nahe gelegt haben soll. In Frankreich verwendet der französiche Forscher Paul Desmartes im selben Jahr erstmals den Terminus ,photographie‘, in diesem Fall zur Bezeichnung des photographischen Verfahrens von Daguerre (vgl. Gernsheim 1983: 91). Medien- und kulturhistorisch interessant ist die terminologische Zurechnung des Lichtbildes zum Kulturmedium Schrift vor allem auch im Hinblick auf die Bezeichnung des photographischen Verfahrens der ,Heliogravüre‘ und der ,Daguerreotypie‘, die die Bildformen als Kunst (Gravüre) bzw. als Drucktechnik (Typie) auszeichnen. In der bild- bzw. phototheoretischen Auseinandersetzung wird vielfach von einer analog zur Verbalsprache organisierten Bild- bzw. Photosprache ausgegangen. Damit wird zugleich postuliert, dass es sich bei den Bild- respektive Photozeichen nicht um „natürliche“ Zeichen handelt. In diesem Zusammenhang wird auch der Versuch unternommen, eine Art Photogrammatik zu erstellen, so kontatiert z.B. Geschke (2010: 179): „Bilder können wie Sätze gelesen werden.“ In ihrer rezeptionsästhetischen Studie geht Geschke davon aus, dass die in photographischen Momentaufnahmen enthaltenen Handlungsstränge im Prinzip der syntaktischen Komposition „lesbar“ werden. Zu diversen Ansätzen der Photosprache siehe z.B. auch Doelker (1997), Sauerbier (1985) und Wetzel (1991: 163-204). Dabei muss allerdings eingeräumt werden, dass die linguistischen Begriffe vielfach metaphorisch gebraucht werden (Rippl 2004: 46-47). Der Semiotiker Omar Calabrese (1987: 31; Herv.i. O.) kehrt die Fragestellung hingegen gänzlich um und konstatiert: „statt die Existenz einer ,Sprache der Fotografie‘ anzunehmen“, könnte man auch „von dem Gedanken ausgehen, dass die Sprache sich auch durch die Fotografie ausdrückt.“ Dabei basieren seine Überlegungen auf einem erweiterten Textbegriff, den er auf Organisationsgefüge mit einer nicht-sprachlichen, photographischen Ausdruckssubstanz ausdehnt. Die Photographie begreift er folglich nicht als Sprachform, sondern als Text, dessen diskursive Formen und Strukturen von den medienspezifischen Bedingungen der Substanz des Ausdrucks abhängen. Zur Frage nach der Existenz einer spezifischen Bild-/Photosprache siehe Nöth (2000a: 478-480). 74 Roland Barthes beschäftigte sich lange und eingehend mit dem (Kommunikations-) Medium des dokumentierten Verlusts. Zunächst im Zuge der semiotischen Phase theoretischer Ansätze und Konstrukte, dann jedoch, in seinem einflussreichen, zwischen literarischem und phototheoretischen Essay anzusiedelndem Buch Die Helle Kammer, auf phänomenologisch-psychoanalytische Weise.
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der Photographie basiert auf einer Übertragung des dyadischen Zeichenmodells von Ferdinand de Saussure. Im Gegensatz zu Saussures Verständnis der Semiologie als umfassender, übergeordneter Wissenschaft geht Barthes allerdings von der Annahme aus, dass quasi jedes (auch nonverbale) Zeichensystem auf die Gesetze der Sprache rückführbar ist und nach diesen beschrieben werden kann.75 Auf den ersten Blick scheint Barthes jedoch nicht immer ganz stringent zu argumentieren. Zum einen räumt er beispielsweise ein, dass der photographische Abbildungsprozess zu einer mehrfachen Reduktion der vorgefundenen Realität führt: Bei der photographischen Aufnahme gehen Tiefendimension, alle non-visuellen Zeichen sowie Bewegung verloren. Ferner reduziert sich die Farbigkeit, der Maßstab verschiebt sich und es erfolgt eine Begrenzung durch die photographische Rahmung (Barthes 1982a: 10-11).76 Zum anderen führt er für den realistischen Abbildungsprozess den prägenden Terminus ,Analogon‘ ein: „[…] certes l’image n’est pas le réel; mais elle en est du moins l’analogon parfait, et c’est précisément cette perfection analogique qui, devant le sens commun, définit la photographie.“ (Ebd.: 11; Herv. i. O.) Damit steht sein Ansatz in deutlichem Gegensatz zu rein kulturrelativistischen Positionen, die der Photographie ja gerade die Ikonizität also den realistischen Abbildungscharakter in Abrede stellen, so stellt etwa der französische Philosoph Yves Michaud (1995: 737; Herv. i. O.) fest: „Les caméras ne produisent des images de rien de réel, si par ,réel‘ nous entendons ,ce que nous pourrions voir nous-
Sein erklärtes Ziel ist es, seinem „ontologischen Wunsch“ nachzukommen und in Erfahrung zu bringen, was die Photographie „an sich“ sei (vgl. 1985: 11). Einen phänomenologischen Neuansatz der Photographie vor dem Hintergrund der Prozessualität des photographischen Aktes legt indes Hubert Damisch in Fixe Dynamik (2004) vor. 75 Barthes verfolgt eine logozentristische Perspektive. Er vertritt die These, dass stets eine Dependenzbeziehung zwischen Bild und Text besteht und zwar dergestalt, dass das Bild nie per se, sondern immer nur mittels eines sprachlichen Begleittextes interpretierbar ist. Vgl. Barthes (1982a: 18-20) und (1982b: 30-33) sowie Nöth (2000a: 483). Damit scheint Barthes der sprichwörtlichen Aussage, dass ein Bild mehr als tausend Worte sage zu widersprechen (zur Begründung dieses Ausspruchs in Deutschland siehe Tucholsky 2004). Allerdings meint Barthes mitnichten, dass die Photographie über kein eigenes Aussagepotenzial verfügt. Wie weiter unten noch genauer dargestellt wird, liegt für Barthes das Besondere einer Photographie in dem so genannten punctum, einem Element, das den Betrachter beunruhigt, ohne dass er spontan verbalisieren kann, weshalb. Barthes (1985: 60) schlussfolgert daraus: „Die Unfähigkeit, etwas zu benennen, ist ein sicheres Anzeichen für innere Unruhe“, denn „[w]as ich benennen kann, vermag mich nicht eigentlich zu bestechen.“ 76 Vgl. auch Barthes (1982b: 28).
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mêmes‘.“77 Die scheinbare Inkonsequenz seiner Argumentation löst Barthes in „Le message photographique“ (1961) in folgendem semiotischen Paradoxon auf: Von der Annahme ausgehend, dass die Photographie als mechanische Reproduktion ein offenbar perfektes Analogon der Wirklichkeit darstellt, folgert er, dass der Abbildungsvorgang von keinem auf Konventionalität beruhenden Kode gesteuert wird. Damit ist das photographische Analogon – wie die Wirklichkeit selbst – in seiner primären Bedeutung unkodiert und folglich eine denotierte Nachricht, also eine Botschaft ohne Kode (1982a: 11). Zu dieser tritt – wie Barthes für die Pressephotographie ausführt – ein historisch und kulturell bedingter Konnotationskode, eine kodierte Nachricht also, die der primären eine sekundäre Bedeutung hinzufügt. Daraus ergibt sich das „photographische Paradox“ einer „coexistence de deux messages, l’un sans code (ce serait l’analogue photographique), et l’autre code (ce serait l’,art‘, ou le traitement, ou l’,écriture‘, ou la rhétorique de la photographie).“ (Ebd.: 13; Herv. i. O.) Mit anderen Worten scheinen sämtliche analogische bzw. ikonische Reproduktionen der Wirklichkeit zwar von vergleichbarem Status zu sein, allerdings wird der analogische Repräsentationsinhalt noch zusätzlich durch die stilistische Bedeutungsebene ergänzt.78 Die Botschaft des Bildes ist demnach stets dual: Zu der denotierten, photographisch dargestellten Botschaft fügt sich die dem Bild ebenfalls inhärente konnotierte Botschaft, deren Kode selbst wiederum symbolischer Natur ist. Die Beschreibung einer Photographie kann also letztlich nie dem Medium gerecht werden, denn dadurch fügt man zwangsläufig zu der dualen Bildbotschaft eine weitere konnotierte Botschaft – die des verbalsprachlichen Kodes – hinzu: „[…] décrire, ce n’est donc pas seulement être inexact ou incomplet, c’est changer de structure, c’est signifier autre chose que ce qui est montré.“ (Ebd.: 12)79 Die beim Produktionspro-
77 In La chambre claire kritisiert Barthes vehement den kulturrelativistischen Standpunkt vieler Photokritiker, die im Photo allein das Artefakt sehen: „[…] la Photographie, disent-ils, n’est pas un analogon du monde; ce qu’elle représente est fabriqué, parce que l’optique photographique est soumise à la perspective albertinienne […] et que l’inscription sur le cliché fait d’un objet tridimensionnel une effigie bidimensionnelle“ und schließlich behauptet er: „Ce débat est vain: rien ne peut empêcher que la Photographie soit analogique.“ (1980: 138) Eine vermittelndere Position vertritt der kritisch-realistische Phototheoretiker Gunther Waibl (1987): Wie Barthes verweist auch er auf die Reduktion der photographierten Wirklichkeit, hebt aber zugleich kulturrelativistische Argumente hervor, indem er den schöpferischen Einfluss des Photographen beim Entstehungsprozess betont und daher vom Doppelcharakter der Photographie spricht. 78 Gemeint ist damit die künstlerisch-ästhetische, kulturelle oder gesellschaftsideologische Überarbeitung. 79 Durch die „Einverleibung außertextueller Bedeutungsdimensionen“ (Eicher 1994: 15), d.h. durch die Integration intermedialer Verweise und struktureller
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zess aufgrund bestimmter Normen erzeugten Konnotationen unterscheidet Barthes dabei nach den Kategorien Photomontage, Pose, Objekte, Photogenität, Ästhetizismus und Syntax. Bei der Photorezeption differenziert er zwischen perzeptiven, kognitiven, ideologischen und ethischen Konnotationen. In „Rhétorique de l’image“ (1964) formuliert Barthes seine wissenschaftliche Position etwas konkreter. Wieder verleiht er der „Erkenntnis einer vertikalen Mehrschichtigkeit der Signifikanten“ (Eicher 1994: 17) deutlichen Nachdruck. So hebt er die der Photographie stets inhärente dreifache Botschaft ganz besonders hervor: „[…] la Photographie analysée propose donc trois messages: un message lingustique, un message iconique codé et un message iconique non codé.“ (Barthes 1982b: 29) Prägnanter als zuvor verweist er allerdings auf die rein operatorische Gültigkeit der Unterteilung der bildlichen Gesamtbotschaft, die sich seiner Ansicht nach damit rechtfertigen lässt, dass sie die kohärente Beschreibbarkeit der Bildstruktur ermöglicht, dabei freilich jedoch rein virtueller Natur ist (vgl. ebd.: 29). Dies gilt insbesondere für die dritte, unkodiert-bildliche Botschaft: […] la lettre de l’image correspond en somme au premier degré de l’intelligible (en deça de ce degré, le lecteur ne percevrait que des lignes, des formes et des couleurs), mais cet intelligible reste virtuel en raison de sa pauvreté même, car n’importe qui, issu d’une société réelle, dispose toujours d’un savoir supérieur au savoir anthropologique et perçoit plus que la lettre; à la fois privatif et suffisant, on comprend que dans une perspective esthétique le message dénoté puisse apparaître comme une sorte d’état adamique de l’image; débarrassé utopiquement de ses connotations, l’image deviendrait radicalement objective, c’est-à-dire en fin de compte innocente. (Ebd.: 34)
Trotz Kadrierung, Reduzierung und perspektivischer Verflachung vollzieht sich beim Aufnahmeprozess keine Transfomation der Zeichen im Sinne einer Kodierung. Da die Zeichen dieser dritten Botschaft also keinem kodierten, institutionellem Vorrat entnommen sind, liegt statt der für „echte“ Zeichensysteme typischen Äquivalenz, eine gleichsam „tautologische“ Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant vor, die nicht wie etwa in der Sprache durch Arbitrarität, sondern durch eine Art „Quasi-Identität“ gekennzeichnet ist (vgl. ebd.: 28). In seinem Spätwerk verfolgt Barthes seine Thesen zur Photographie weiter, neu ist die Einführung der „Unterscheidung dreier verschiedener fotografischer Verfahrensweisen: ein Foto zu machen, ein Foto betrachten und Objekt eines Fotos zu sein.“ (Calabrese 1987: 30) Sein Hauptaugenmerk gilt dabei zweifelsohne der Seite des Empfängers, also dem Rezeptionsvor-
medialer Umsetzungen, wird die Polysemie, insbesondere (post-) moderner literarischer Texte, folglich in doppelter Weise potenziert.
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gang.80 Laut Barthes sind die Referenten der Photographie anderer Art als die der übrigen Abbildungssysteme: „J’appelle ,référent photographique‘, non pas la chose facultativement réelle à quoi renvoie une image ou un signe, mais la chose nécessairement réelle qui a été placé devant l’objectif, faute de quoi il n’y aurait pas de photographie.“ (1980: 120; Herv. i. O.) Weiter betont Barthes in La chambre claire, dass der Referent der Photographie nicht eine imaginative Wirklichkeitssimulation bildet, sondern dass dieser zwangsläufig als Sache zum Zeitpunkt der Entstehung der Photographie da gewesen sein muss. Wie auch schon in „Rhétorique de l’image“ (1982b: 3536) liegt für ihn der Kern – oder in seiner Terminologie das Noema – der Photographie gerade eben darin, dass die Photographie das Bewusstsein des Dagewesenseins impliziert, also in der Zwangsläufigkeit des „Es-ist-sogewesen“, des Unveränderlichen: „Il y a double position conjointe: de réalité et de passé. Et puisque cette contrainte n’existe que pour elle, on doit la tenir, par réduction, pour l’essence même, le noème de la Photographie. Ce que j’intentionnalise dans une photo (ne parlons pas encore du cinéma), ce n’est ni l’Art, ni la Communication, c’est la Référence, qui est l’ordre fondateur de la Photographie.“ (1980: 120) Die Wirkung einer Photographie beruht nach Barthes darauf, ob sie lediglich kodierte oder auch nicht kodierte Elemente enthält (ebd.: 84). Das letztlich immer kodierte Element, das er studium nennt, ruft einen durchschnittlichen Affekt hervor (ebd.: 48). Es weckt das Interesse des Rezipienten, ohne dass dessen Teilhabe am Abgebildeten besonders heftig wäre. Das punctum, das unkodierte Element, das im Zufälligen (ebd.: 49) und im Detail (ebd.: 71-73) liegt, durchbricht das gewöhnliche studium, es besticht, verwundert und trifft den Betrachter, kurz es macht die affektive Betroffenheit des Rezipienten, die besondere Wirkung einer Photographie aus.81 80 Calabrese (1987: 30) vertritt daher auch die These, dass „Barthes hinsichtlich der Fotografie eher eine Pragmatik denn eine Semiotik“ entwirft. Bei seinem Unternehmen, eine postavantgardistische Ästhetik zu formulieren, geht Gelz (1996: 237-241) auf La chambre claire ein und bezeichnet den Essay als einen der letzten Diskurse über die Avantgarde. Eggeling will diese Zuordnung nur bedingt gelten lassen, denn wie Calabrese bereits betonte, zeichnet sich in Barthes’ La chambre claire eine theoretische Wendung zu pragmatisch-performativen Fragestellungen ab, wodurch der Text bereits zum postmodernen Theoriediskurs gezählt werden kann. 81 An dieser Stelle sei auf die gedankliche Nähe von Merleau-Pontys Konzept des ,percer‘ (vgl. 1964b: 24) zu Barthes’ phänomenologischer Semiologie bzw. konkret zu seinem Begriff des ,punctums‘ (1980: 48-49) hingewiesen, die darin liegt, dass dem gesehenen respektive photographierten Objekt eine eigene Kraft zugestanden wird, die den Betrachtenden „durchdringt“ und „durchbohrt“. Diese Erschütterung und Irritation lässt sich vom Rezipienten nicht steuern und stellt sich hier wie dort plötzlich und unerwartet ein. Ferner sei auch erwähnt, dass sich noch weitere Verbindungen zwischen beiden Autoren ausmachen lassen: Hinge-
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Neben Barthes entwickelt auch der Semiotiker René Lindekens einen photosemiotischen Ansatz, er ist jedoch „der einzige Autor, der seinen Namen explizit mit der Semiotik der Fotografie in Verbindung brachte.“ (Calabrese 1987: 30) Dabei orientiert sich Lindekens – wie auch schon Barthes – an der Semiologie Ferdinand de Saussures. Das wichtigste Fundament seines Konzeptes gründet jedoch in dem (ebenfalls linguistischen) Zeichenmodell von Louis Hjelmslev.82 Im Gegensatz zur Position Barthes’ betrachtet Lindekens das photographische Zeichen in Genese und Rezeption als mehrfach kodiert: „La sémiologie photographique postule l’existence d’un en-deça (ou d’un au-delà) de l’analogon, lieu de ressemblance, d’ailleurs elle-même doublement codée: d’un part, selon les lois qui sont celles d’une perception simili-sensible du réel; d’autre-part, selon les lois d’une représentation culturelle.“ (Lindekens 1971: 262) Darüber hinaus definiert er den eigens auf das photographische Bild anwendbaren „code iconique photographique“ (ebd.: 255), der nur die Bedingungen formuliert, die allein für die präverbale Wahrnehmung einer Photographie spezifisch sind.83 Den Zeichenbegriff von Hjelmslevs glossematischer Semiotik übernehmend untergliedert Lindekens das ikonische wie das sprachliche Zeichen in Ausdruck und Inhalt sowie in Substanz und Form. Das besondere Charakteristikum des Photos liegt seiner Ansicht nach „darin, dass es wie die Sprache eine doppelte Substanz hat (Ausdruckssubstanz und Inhaltssubstanz), aber nur eine Form, da Ausdrucks- und Inhaltsform bei einem ikonischen Zeichen zusammenfallen.“ (Dörfler 2000: 33) Weiter überträgt er die zweifache Gliederung der Sprachzeichen in bedeutungstragende Minimaleinheiten (Wörter), die sich wiederum aus einem begrenzten Inventar semantisch leerer, aber bedeutungsdistinktiver Elemente (Grapheme respektive Phoneme) zusammensetzen, umstandslos auf ikonische Zeichen (Lindekens 1971: 250, 264).84 Angemerkt sei, dass Lindekens Denkkonstrukt letztlich jedoch in eine Sackgasse führt, denn es gelingt ihm nicht, seine abstrakten Ausführungen über die rein theoretische Ebene einer Hypothese hinaus in ein praktikables Beschreibungsmodell zu überführen.
wiesen sei beispielsweise auf Merleau-Pontys „Leib“-Metaphorik (er verwendet den Begriff ,chair‘), auf der er sein gesamtes Wahrnehmungskonzept aufbaut, und die an Barthes’ Vorstellung einer Körperverbundenheit der Rezeption erinnert (1980). 82 Zu Hjelmslev siehe Nöth (2000a: 78-87). 83 Siehe hierzu auch Nöth (2000a: 498-499). 84 Gerade diese Form einer Mikrosemiotik des Visuellen ist es, die Eco ablehnt.
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1.4.2 Charles Sanders Peirce und Umberto Eco In seinen Schriften ging der Semiotik-Pionier Charles Sanders Peirce auch immer wieder auf die Photographie als ein Zeichen ein, das anderen Zeichen in Komplexität, Funktion und Produktion gleichgestellt ist.85 Anders als Saussures dyadisches Modell, bildet das Zeichen für Peirce eine triadische Relation, die zwischen dem Zeichen, das er auch Representamen nennt, seinem Objekt und seiner Bedeutung – er spricht vom Interpretanten – besteht.86 Peirce (1993: 255) definiert die Semiose, den Gesamtvorgang der Zeichenbildung, als „eine Wirkung oder einen Einfluss, der in dem Zusammenwirken dreier Gegenstände, wie ein Zeichen, sein Objekt und sein Interpretant, besteht, wobei dieser tri-relative Einfluß in keiner Weise in Wirkungen zwischen Teilen aufgelöst werden kann.“ Damit betont er den funktionalen und relativen Charakter des Zeichens. Der wesentliche Aspekt seines Zeichenbegriffs besteht gerade in diesem funktionellem Charakter von Zeichen, die er nicht als reale oder gar gegenständliche, sondern als rein virtuelle, nur im Kopf des Zeichenbenutzers existierende Zeichen begreift. Daraus schließt er, dass etwas nur dann als Zeichen fungiert, wenn es auch als solches erkenn- und interpretierbar ist. Damit deutet Peirces Zeichenverständnis in gewisser Hinsicht bereits auf Ecos Verständnis von Zeichen als kulturelle Einheit hin. Allerdings weist Peirces Argumentationsweise nicht zuletzt aufgrund seines realistischen Standpunktes gewisse, argumentative Schwachpunkte auf. So nimmt er etwa an, dass ein Photo „erst dann Informationen transportiert, wenn sie der Zeichenbenutzer mit einem auf andere Weise bekannten Objekt in Verbindung bring[en]“ (Dörfler 2000: 27) kann – eine These, die in Opposition zur Rezeptionserfahrung historischer Photographien steht. Weiter zählt er in seiner Einteilung der Zeichen nach ihrem jeweils dominanten Referenzbezug, Sprach- und Schriftsystem kategorisch zu den symbolischen und Bildsysteme zu den ikonischen Zeichensystemen, obwohl Sprachzeichen durchaus auch indexikalisch oder ikonisch sein können. Sprachliche Bilder werden – abgesehen von Bild-Text-Kombinationen – über die Signifikanten des Mediums Schrift vermittelt, sind also nicht real wahrnehmbar, sondern werden mittels des evozierten Signifikats der bildlichen Vorstellung des Rezipienten anheim gestellt: „Ein Wort ist ein Bild einer Idee, und eine Idee ist ein Bild eines Dinges“ (Mitchell 1990: 33). Ähnlich verhält es sich beim photographischen Zeichen, das Peirce hinsichtlich des Interpretantenbezugs als Dicent definiert. Als solches behauptet das Bild insofern eine Wirklichkeit, als es die Existenz des repräsentierten Objektes konstatiert und einen potenziell entscheidbaren Sachverhalt – die Wirklichkeit des Gegenstandes betreffend – herstellt: „The mere print does not, in itself, convey any information. But the fact, that it is virtually a section of 85 Vor allem an zwei Stellen in seiner Schrift Elements of Logic äußerst sich Peirce explizit zur Photographie als semiotisches Zeichen (1965: 159, 184). 86 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Peirce (1965: 134-150).
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rays projected from an object otherwise known, renders it a Dicisign. […] It will be remarked that this connection of the print, which is the quasipredicate of the photograph, with the section of rays, which is the quasisubject, is the Syntax of the Dicisign.“ (Peirce 1965: 184; Herv. i. O.) Anzumerken bleibt jedoch, dass der photographische Index zu jenen Indices gehört, die als Zeichen desselben Objekts in zweierlei Form wirken: So ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existenzielle Eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies ist es, was an Fotografien oft am meisten geschätzt wird. Doch darüber hinaus liefert ein Foto ein Ikon des Objekts, indem genau die Relation der Teile es zu einem Bild des Objekts macht. (Peirce 1983: 65)
Die Peircesche Basistheorie definiert das photographische Zeichen also über seine semiotische Doppelbestimmung. In seinem Objektbezug ist das Photo aufgrund seiner wirklichkeitsreproduzierenden Qualität Ikon. Da die ikonische Qualität des Photos aber „davon abhängig [ist], daß Photographien unter Bedingungen entstehen, die sie physisch dazu zwingen, Punkt für Punkt dem Original zu entsprechen“ (Peirce 2000: 193), gehört es zur zweiten Zeichenklasse, ist also zugleich Index. Da der Konnex zwischen Bild und Objekt bei der Photographie existenzieller Natur ist, kann das Photo sogar als der Prototyp des indexikalischen Bildes schlechthin gelten. Das photographische Zeichen fungiert demnach vornehmlich dicentisch und fällt damit in Peirces Kategorie der secondness (Zweitheit). Allerdings variieren die unterschiedlichen Photogenres auch hinsichtlich ihrer Indexikalität: So tendieren künstlerische Photographien, aber auch Mikro- und Makrophotographien aufgrund ihres nicht sofort identifizierbaren Inhaltes bezüglich ihres Interpretantenbezugs zur Kategorie der firstness (Erstheit). Sie ähneln bloß rhematischen Zeichen und nehmen Züge eines Qualizeichens an. Werbephotos sowie wissenschaftliche Photographien tragen vielfach die Qualität eines indexikalischen Legizeichens und tendieren insofern in Richtung thirdness (Drittheit), als sie zwar individuelle Einzelobjekte abbilden, zugleich jedoch den generalisierenden Anspruch für sich behaupten, eine ganze Klasse von Objekten zu repräsentieren.87 Auch was das Zeichen als Representamen angeht, weist die materielle Beschaffenheit des photographischen Zeichens eine Doppelbestimmung auf, denn die materielle Photographie ist sowohl Legizeichen als auch Sinzeichen. Das Legizeichen definiert Peirce als abstrakten, allgemeinen und unspezifischen Typus. Überträgt man dies auf die Photographie, ist das Negativ, von dem zahllose Abzüge gemacht werden können, ein Legizeichen oder in der Terminologie der modernen Linguistik ein type. Unter Sinzeichen versteht Peirce hingegen eine bestimmte Realisation des abstrakten 87 Vgl. hierzu Nöth/Santaella Braga (2000: insbesondere 364-367).
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Legizeichens. Auf die Photographie übertragen entspricht demzufolge ein spezifischer Abzug in seiner einzigartigen Oberflächenstruktur dem Sinnzeichen oder token. Ausgehend von Saussures und Peirces Zeichentheorien und unter Einbezug von informations- und kommunikationstheoretischen Erkenntnissen entwirft Umberto Eco, für den Semiotik gleichbedeutend mit der „Untersuchung der Kultur als Kommunikation“ (Eco 1994: 19) ist, ein komplexes Modell einer allgemeinen Semiotik. Im Zentrum seines Interesses steht in erster Linie der Signifikationsprozess.88 Nach Eco konstituiert sich die Bedeutung eines Signifikanten aus der Summe der von einem Code evozierten bzw. gesteuerten Denotationen und Konnotationen. In einem weiteren Schritt beschäftigt er sich dann mit der visuellen Semiotik (vgl. ebd.: 197249). Einer von Ecos Hauptkritikpunkten richtet sich gegen die Annahme von Peirce, das wichtigstes Merkmal zur Unterscheidung von Bild und Sprache liege in der Ikonizität der Bildzeichen, die Peirce ja als natürlich motivierte, unkodierte Zeichen betrachtete. Daher weist Eco die Existenz eines visuellen Codes für Peirces Zeichenklassen nach. Während sich die Konventionalität symbolischer und indexikalischer Zeichen relativ problemlos zeigen lässt, gestaltet sich der Nachweis für ikonische Zeichen etwas komplizierter. Schließlich kommt Eco jedoch zu dem Ergebnis, dass auch das Ikon die Wirklichkeit nicht rein mechanisch 1:1 abbildet, sondern zwangsläufig immer auch konventionalisierte, kulturspezifische Stereotype wiedergibt: „Die ikonischen Zeichen geben einige Bedingungen der Wahrnehmung des Gegenstandes wieder, aber erst nachdem diese auf Grund von Erkennungscodes selektioniert und auf Grund von graphischen Konventionen erläutert worden sind.“ (Ebd.: 205) Der ikonische Repräsentant weist also keine unmittelbare Ähnlichkeit mit dem gemeinten Referenten der Wirklichkeit selbst auf, sondern allein mit dem im Laufe des Sozialisationsprozesses konstruierten mentalen Modell, das die Wahrnehmung und das Erkennen der Objekte der realen Welt ermöglicht: „Der ikonische Code stellt so die semantische Beziehung zwischen einem graphischen Zeichenträger und einer schon kodierten Wahrnehmungsbedeutung her. Die Beziehung besteht zwischen einer relevanten Einheit des graphischen Systems und einer relevanten Einheit eines semischen Systems, das von einer vorhergehenden Codifizierung von Wahrnehmungserfahrung abhängt.“ (Ebd.: 208-209) Für Eco gründet damit nicht nur das Sprachsystem in normierten Konventionen, sondern auch die Bildsprache bzw. die Realitätswahrnehmung als solche. Die Beziehung zwischen Bild und Realität erscheint dabei ebenso arbiträr wie die zwischen dem Schriftzeichen und seinem Referenten.89 88 Eine einführende Zusammenfassung von Ecos Semiotik liefert Dörfler (2000: 34-42). 89 Neben Umberto Eco und dem im nächsten Kapitel besprochenen Jean-Marie Schaeffer entwickeln auch Max Bense – der sich übrigens mit Nachdruck für die Verbreitung der Peirceschen Semiotik in Deutschland und Frankreich einsetzte –,
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1.5 D IE E NTDECKUNG DES P HOTOGRAPHISCHEN : N EUERE ANSÄTZE DER P HOTOTHEORIE Wie bereits einleitend angedeutet, verabschiedeten sich medientheoretische Konzepte infolge des als iconic turn (Boehm 2007), imagic turn (Fellmann 1995), pictorial turn (Mitchell 2007) bzw. visual turn (Bal 2000: 479) bezeichneten Paradigmenwechsels von rein semiotisch-strukturalistischen Ansätzen und begannen sich stark auszudifferenzieren. Ausgehend von den achtziger Jahren wenden sich die theoretischen Auseinandersetzungen vor allem handlungsorientierten Fragestellungen zu, wobei über das Medium Photographie nunmehr als Form des Handelns in seiner Prozessualität nachgedacht wird.90 In methodischer Hinsicht werden seither verstärkt medien-, bild- und kulturwissenschaftliche, philosophische, soziologische und kulturanthropologische, psychoanalytische91 und gender-theoretische92 Herangehensweisen gewählt. Mit dieser Pluralisierung der Betrachtungsweisen wird der Komplexität des Mediums und seinen mannigfaltigen Funktionszusammenhängen im gegenwärtigen Photodiskurs erstmals tatsächlich angemessen Rechnung getragen.93 Ins Zentrum des theoretischen Interesses können dabei alle Aspekte des photographischen Feldes94 in seiner Prozessualität rücken, der photographische Akt bzw. die Geste des Photographierens ebenso wie der Entwicklungs- und Bearbeitungsprozess oder der Rezeptionsprozess des photographischen Bildes.95 Hinsichtlich der Neubewertung von Bildre-
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Hans Brög und Manfred Schmalriede eine Semiotik der Photographie auf der Grundlage von Peirces Basistheorie (vgl. Nöth 2000a: 496). Am auffälligsten zeigt sich diese Interessenverlagerung vielleicht im Werk von Roland Barthes, der den Photographiediskurs in La chambre claire (1980) einer rezeptionsästhetischen und psychoanalytisch-phänomenologischen Perspektivierung unterzieht. Ferner ist in diesem Kontext auch der programmatische Titel Photographie(r) der im Jahr 2001 von Michel Frizot und Cédric De Veigy herausgegebenen kleinen Photographiegeschichte zu nennen. Eine semiotische Darstellung des Photographierprozesses legt Tomas (1982) vor. Zur Diskussion des Mediums aus psychoanalytischer Perspektive siehe beispielsweise Schuster (1996) und Tisseron (1996) und (2007). Exemplarisch genannt sei hier z.B. Hentschel (2001). In seiner Nouvelle histoire de la photographie (1995) gibt Frizot einen Abriss dieser Entwicklung. Zur aktuellen, interdisziplinären Auseinandersetzung mit den bildtheoretischen Potenzialen des Photographischen siehe z.B. Dobbe (2007). Zum Begriff des ,champ photographique‘ siehe Durand (1995: 18). Das Konzept des ,photographischen Aktes‘ entwickeln vor allem Dubois (1990) und Roche (1982), das der ,Geste des Fotografierens‘ stammt von Flusser (1991). Die Modelle von Dubois und Flusser entstehen bereits 1983. Dubois versteht unter dem acte photographique nicht nur den Herstellungs- und Entwicklungsprozess, sondern auch die Rezeptions- und Betrachtungsprozesse, die mit einem Photo in Verbindung stehen (vgl. Dubois 1982: 57). Interessanterweise überträgt
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zeptionsvorgängen wird immer wieder Merleau-Pontys phänomenologischer Ansatz als Wegbereiter der visuellen Wende genannt, hatte doch bereits er das Sehen als körperlichen Prozess verstanden, bei dem sich das Auge einen nonverbalen, vorbegrifflichen Sinn erschließt (vgl. Michel 2006: 15). Häufig baut die Wiedereinführung des Performativen in den theoretischen Photographiediskurs auf den Erkenntnissen der Allgemeinen Semiotik von Peirce auf. Unabhängig davon ist allen performativen Ansätzen ein entschiedenes Abrücken von der Realismus-Illusion, also von dem Verständnis der Photographie als Analogon der Wirklichkeit, gemein. Stattdessen betonen neuere Studien zur Photographie bzw. zum Photographischen die Indexikalität des Photos, denn es geht, so schreibt Rosalind Krauss (1998a: 169), letztlich nicht darum, „über Photographie zu schreiben, sondern über das Wesen des Indexes, über die Funktion der Spur und ihre Beziehung zur Bedeutung, über die Bedingung des deiktischen Zeichens.“96 1.5.1 Philippe Dubois und Jean-Marie Schaeffer Ohne Zweifel hat sich kein anderer so intensiv mit dem photographischen Akt und dem photographischen Dispositiv als indexikalische Spur des Referenten auseinander gesetzt wie Philippe Dubois in L’acte photographique (1983). Er vertritt darin die Auffassung, dass die Untersuchung des photographischen Bildes immer auch dessen Herstellungsprozess mit in Betracht
Roche seine theoretische Position insofern auch auf sein photographisches Arbeiten, als viele seiner Photos den Akt des Photographierens ins Bild setzen. Zu Roches Begriffsverständnis des ,photographischen Aktes‘ siehe auch Damisch (2004). 96 Vgl. auch Krauss (1998a: 116). Besonders Dubois (1990: 40-53) und Schaeffer (1987: 46-104) gehen in ihren semiotischen Ansätzen auf die Indexikalität des Photographischen als Spur ein. Das Konzept der ,Spur‘ wurde spätestens seit Jacques Derridas Grammatologie (1967) zu einem wegweisenden zeichentheoretischen Paradigma in der postmodernen Literaturtheorie aber auch in den verschiedensten anderen Wissenschaftsdisziplinen (Harland 1999: 241). Siehe hierzu den Sammelband Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst (Krämer/Kogge/Grube 2007). In ganz ähnlicher Weise sprechen auch andere Autoren vom (indexikalischen) Abdruck: Den Kausalbezug zwischen dem zum Bildreferenten gewordenen Objekt und dessen photographischem „Ab-zeichen“ hervorhebend, verwendet Göran Sonesson den Begriff ,abrasion‘ („Abschürfung“) und unterscheidet unterschiedliche Arten und Ebenen des Indexikalitätsbezugs (Sonesson 1999: 17-24), allerdings betrachtet er die Indexikalität gerade nicht als die „primäre Zeichenrelation“ (ebd.: 154). Für ihn ist die Photographie in erster Linie ein ikonisches Zeichen. Er begründet dies damit, dass sich ihre Bedeutung auch ohne das Wissen um ihre Indexikalität erschließt.
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ziehen muss – eine Trennung des Produktes von seinem Konstituierungsakt erscheint ihm unmöglich: Avec la photographie, il ne nous semble plus possible de penser l’image en dehors de son mode constitutif, en dehors de de ce qui la fait come telle, étant entendu d’une part que cette ,genèse‘ peut être autant un acte de production proprement dit (la ,prise‘) qu’un acte de réception ou de diffusion […] On voit que, dans un tel contexte, la dimension pragmatique apparaît comme l’incontourable pointe de fuite de toute perspective sur la photographie. (Dubois 1990: 57; Herv. i. O.)
Nach Dubois ist das photographische Zeichen durch die vier Grundprinzipien physikalische Verbindung, Singularität, Designation und Beweiskraft gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Barthes relativiert er jedoch die Bedeutung des ikonischen Anteils: „La photo est d’abord index. C’est ensuite seulement qu’elle peut devenir ressemblante (icône) et aquérir du sens (symbole).“ (Ebd.: 50; Herv. i. O.) Dubois geht beim photographischen Zeichen von einem natürlichen Zeichen aus, was sich daran ablesen lässt, dass er dem symbolischen Gehalt einer Photographie eine sekundäre Rolle zuweist und den kulturell bzw. ideologisch konventionalisierten und kodifizierten Elementen damit – im Gegensatz etwa zu Eco – eine eher geringe Bedeutung beimisst. Für ihn ist die Photographie folglich ein Bildtyp, der vielmehr auf dem Prinzip der Kontiguität und „Kontaktnahme“ beruht, als auf dem der Mimese und Similarität oder gar dem des Arbiträren und Symbolischen (vgl. ebd.: 79). Als trace du réel bezeugt die Photographie die Präsenz des Abgebildeten im Moment des Belichtungsprozesses. Allerdings ist der Status der photographischen Spur stets prekär, denn bereits der Akt der „Spurenlegung“ ist durch räumliche Distanz und zeitliche Verzögerung geprägt und eben diese coupe spatio-temporelle, dieser trennende Abstand zwischen dem Spuren hinterlassenden Objekt (Referent) und seiner Spur auf dem Photo (Zeichen) vergrößert sich von diesem Moment an unweigerlich und unaufhaltsam: „Voilà pourquoi une photographie ressemble jamais à rien. Parce que ce à quoi elle serait censée ressembler est à ce point définitivement distancié, éloigné, perdu, qu’il n’y a plus rien en face de l’image. La photographie n’a pas de vis-à-vis. Elle est l’unique apparition d’une absence.“ (Ebd.: 222) Doch genau diese paradoxe Gleichzeitigkeit von Verschmelzung und Schnitt von anwesender Abwesenheit und abwesender Anwesenheit verleiht dem Photo schließlich das Moment des Einzigartigen und Wunderbaren und erklärt seine überwältigende, ja geradezu halluzinatorische Anziehungskraft: „Présence affirmant l’absence. Absence affirmant la présence. Distance à la fois posée et abolie, et qui fait le désir même: le miracle.“ (Ebd.: 79) Und weiter führt er aus: „[…] principe de distance et de proximité. Connexion et coupure (du signe avec son référent). De là la duplicité de cettte image, véritable ,apparition‘ (dans les deux sens du terme), à la fois vision spectrale (hallucinatoire) parce que coupée, séparée, et trace unique, singulière, parce qu’indiciaire.“ (Ebd.: 93; Herv. i. O.)
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Unter Bezugnahme auf Barthes, Dubois und Peirce entwirft Jean-Marie Schaeffer in seinem Buch L’image précaire (1987) eine ebenfalls prozessorientierte Semiotik der Photographie, die er in eine pragmatische Logik stellt.97 Wie bereits Dubois fasst Schaeffer das photographische Zeichen als ein natürliches, nicht-konventionelles Zeichen auf. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es komplett transparent ist. Vielmehr bedarf es zur Interpretation neben dem Weltwissen das so genannte „savoir de l’arché“ (Schaeffer 1987: 41; Herv. i. O.), d.h. das Wissen darum, dass es sich um ein photographisches Zeichen und damit um ein indizielles Bild handelt. Für seine zeichentheoretischen Überlegungen wählt er eine Herangehensweise, die eine Einbeziehung aller Phasen der Photographie, von der Genese bis zur Rezeption, impliziert. Um dies auch terminologisch zu verdeutlichen, verwendet er neben dem Terminus ,image photographique‘ den eigentlich präziseren Begriff „dispositif photographique“ (Ebd.: 13; Herv. i. O.). Weiter geht Schaeffer von der These aus, dass das photographische Dispositiv gerade keine in sich abgeschlossene, statische Entität repräsentiert, sondern sich sein Status vielmehr als eine Art dynamisch wandelbarer Prozess beschreiben lässt, bei dem sowohl das Indexikalische als auch das Ikonische wesentliche Facetten kommunikativen Handelns mit photographischen Aufnahmen darstellen: Je viens de qualifier l’image photographique à la fois d’indice iconique et d’icône indicielle. Je ne sous-entends pas par là que les deux termes sont équivalents: ils expriment plutôt le statut ambigue de ce signe, défini tantôt par la prévalence de la fonction indicielle, tantôt par celle de la fonction iconique. Autrement dit, l’image photographique considérée comme construction réceptive n’est pas stable. Elle possède un nombre indéfini d’états, dont chacun est caractérisé par le point qu’il occupe le long d’une ligne continue bipolaire tendue entre l’indice et l’icôn. (Ebd.: 101)
Damit wird es letztlich auch unmöglich, die einzelnen „Zustände“ des Photographischen befriedigend in Form eines festen taxonomischen Systems zu fassen. Denn diese, so unterstreicht Schaeffer, hängen in hohem Maße vom individuellen Rezeptionsvorgang jedes einzelnen Betrachters einer Photographie ab. Aufgrund der Wahrnehmungskonventionen einer Kulturgemeinschaft lässt sich jedoch auf der Basis dieses kleinsten gemeinsamen Nenners eine Typologie der wichtigsten pragmatischen Funktionsweisen der Photographie entwickeln. Er unterscheidet dabei insgesamt acht Grundfunktionen, die sich als Vektoren in ein Koordinatensystem einschreiben lassen, dessen vertikale Achse eine relationale Verortung in den Dimensionen Raum und Zeit ermöglicht und dessen horizontale Achse eine graduelle Zuordnung zu den jeweils dominierenden Anteilen des Ikonischen respektive Indexikalischen erlaubt. Während bei den Funktionen Spur (trace), Erfahrungsprotokoll (protocole d’expérience), Deskription und Zeugnis (témoignage) das 97 Zu Schaeffer siehe auch Nöth (2000a: 497-498).
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Indexikalische überwiegt, fallen die Funktionen Souvenir, Erinnerung (remémoration), Präsentation eines Objektes und Demonstration einer Handlung (monstration) tendenziell in den Dominanzbereich des Ikonischen (ebd.: 130-139). Mit seiner Typologie gelingt es Schaeffer auf überzeugende Weise, die semiotische Doppelbestimmung des photographischen Zeichens mit der pragmatischen Ebene zu verbinden und sich so dem komplexen Phänomen des photographischen Dispositivs in nachvollziehbarer und praktisch anwendbarer Weise anzunähern. 1.5.2 John Berger, Vilém Flusser und Henri Vanlier98 Wie Schaeffer geht John Berger in seinem phototheoretischen Essay „Erscheinungen“ (engl. Original 1982) den „Nutzungskategorien“ (Berger 1984a: 86) sowie dem Sinnbildungsprozess bei der Rezeption von Photographien nach. Auch er beschreibt das Photo als materialisierte und präsente Spur des Gewesenen (ebd.: 93), die nicht mit einer natürlichen Spur zu verwechseln ist, da sie gleichzeitig Züge eines Artefakts aufweist.99 Photoapparate definiert er als „Schachteln für den Transport von Erscheinungen.“ (Ebd.: 92) Ergebnis dieses Transportprozesses ist das „photographische Zitat“: „Photographien übersetzen Erscheinungen nicht. Sie zitieren aus ihnen.“ (Ebd.: 96) Allerdings versteht Berger die Photographie damit nicht wie Lamartine als plattes „Plagiat der Natur“ oder als „Plagiat des Dagewesenen“,100 denn sie geben weder vor, die Realität selbst zu sein, noch handelt es sich um völlig unveränderte Kopien. Vielmehr verändern die variablen Parameter der Photographie (Ausschnitt, Tiefenschärfe, Brennweite etc.) sowie die projektive Transformation die sichtbare Welt im Sinne einer simplifizierenden Reduktion. Anders als Dubois oder Schaeffer geht Berger von der grundsätzlichen Polysemie des photographischen Zeichens aus: „Alle Photographien sind vieldeutig“ (ebd.: 86), schreibt er und erklärt dies anhand der photographischen Zeit: „Die Vieldeutigkeit rührt aus jener Diskontinuität her, die zu der Sekunde der photographischen Doppelbotschaft führt (Aus dem Abgrund zwischen dem aufgezeichneten Augenblick und dem Augenblick des Anschauens.).“ (Ebd.: 88) Zu einer ebenfalls nicht-indexikalischen Definition des photographischen Zeichens gelangt Vilém Flusser in seinem thesenhaft-provokativen Plädoyer für eine zivilisationskritische Philosophie der Fotografie (1983).101 In seinem Denkgebäude nimmt der Photoapparat als eine Art black box, die 98
In der Forschungsliteratur findet man zuweilen auch die Schreibung „Van Lier“ verwendet wird. 99 Berger nimmt daher auch an, das die Photographie „im Gegensatz zur Malerei keine Sprache“ (1984a: 95) besitzt. 100 So die vernichtende Kritik von Alfred Becker an einer Ausstellung von Karl Pawek im Jahre 1964. Hier zitiert nach Glasenapp (2008: 223). 101 Zu Flusser siehe z.B. den Sammelband von Jäger (2001).
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nur bereits vom manipulierenden (Macht-)System der postindustriellen Gesellschaft vorprogrammierte Bilder generieren kann, eine entscheidende Rolle bei der „Geste des Fotografierens“ (Flusser 1991: 24-30, 33-34) ein. Hinsichtlich der Referenzialität zur Wirklichkeit repräsentiert das Photographieren für Flusser eine Form des bildlichen Definierens von Begriffen (vgl. ebd.: 34). Die allgemein angenommene Objektivität der photographischen Bilder stellt daher auch nichts anderes als eine „Täuschung“ dar: Denn sie sind nicht nur – wie alle Bilder – symbolisch, sondern stellen noch weit abstraktere Symbolkomplexe dar als die traditionellen Bilder. Sie sind Metacodes von Texten, die […] nicht die Welt dort draußen bedeuten, sondern Texte. Die Imagination, die sie herstellt, ist die Fähigkeit, Begriffe aus Texten in Bilder umzucodieren; und wenn wir sie betrachten, sehen wir neuartig verschlüsselte Begriffe von der Welt dort draußen. (Ebd.: 14)
Nicht nur das: „Denn was in der Fotografie erscheint, sind die Kategorien des Fotoapparates, die wie ein Netz die Kulturbedingungen umhüllen und die Sicht nur durch die Maschen des Netzes freigeben.“ (Ebd.: 31-32) Deshalb veranlasst der Fotoapparat auch zu einer Geste des Fotografierens, die ihrerseits versucht, wieder erkennbare, bekannte Strukturen zu reproduzieren. Durch diese untrennbare Verknüpfung von Subjekt und Objekt kann der Akt des Photographierens auch nicht als kreativer Schöpfungsakt eines freien und selbstbestimmten Photographen betrachtet werden, denn in letzter Konsequenz bedeutet diese Verbindung ja auch, dass selbst das Subjekt des Photographierenden immer schon aufgenommen, vorprogrammiert ist. Dennoch versucht das Subjekt, sich über diesen „Ordnungsakt“ zu konstituieren. Hierin liegt auch die Sogwirkung der geradezu zwanghaften Geste des Photographierens begründet, der quasi kaum jemand widerstehen kann, was wiederum die Omnipräsenz technischer Bilder erklärt (vgl. ebd.: 18). Damit versteht Flusser die Photographie als ein Schwellenmedium, das sich im Zwischenbereich von industriellen Gegenständen und postindustriellen Objekten der reinen Information befindet, und dessen Wert „nicht im Ding, sondern in der Information an seiner Oberfläche“ (ebd.: 36) zu suchen ist.102 102 Im Kontext seines Konzeptes von Moderne und Postmoderne gelangt Lyotard auf den ersten Blick zu einer ähnlich kritischen Betrachtung der Photographie als „unfreies“ Reproduktionsmedium. Bei der Frage nach dem ästhetischen Potenzial des Mediums konstatiert er: „Eine […] Fotografie appeliert nicht an das Schöne des Gefühls, sondern ans Schöne von Verstand und Begrifflichkeit. Sie besitzt die Unfehlbarkeit dessen, was vollkommen geplant ist, ihre Schönheit ist die des zweiten Blicks. Der Verlust der Aura ist der negative Aspekt jener Härte, jener hardware, die der Apparat zum Fotografieren enthält. Dem Amateur bleibt die Wahl des Sujets, doch die Machart ist die des Fabrikanten, d.h. sie entspricht dem Stand industrieller Technowissenschaft.“ (Lyotard 1985: 94;
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Während Vilém Flusser seinen 1983 entstandenen Essay noch als ein Plädoyer für die philosophische Medienreflexion formuliert, konzipierte der bis heute weniger bekannte belgische Anthropologe und Semiologe Henri Vanlier mit Philosophie de la photographie bereits 1981 eine Abhandlung ähnlichen Titels.103 Im Gegensatz zu den gängigen Phototheorien ersetzt Vanlier den Begriff des ,Referenten‘ durch die Bezeichnung ,imprégnant photographique‘, um so den Unterschied zwischen dem photographierten Objekt und dessen photographischem Abbild bzw. Abdruck zu verdeutlichen: „elle [la photo; M.O.H.] n’a donc pas de désignés, de référents, mais des imprégnants.“ (Vanlier 1982a, 15; Herv. i. O.) Einer der wesentlichsten Aspekte seines Konzeptes liegt jedoch darin, dass er zwischen Zeichen im engeren Sinne und Signalen bzw. Indizien unterscheidet. Während Zeichen für ihn stets intentional, konventionalisiert und systematisiert sind, handelt es sich beim Indiz um einen nicht-intentionalen physikalisch hervorgerufenen Effekt: „Les indices ne sont pas des signes, ce sont des effets physiques d’une cause qui signalent physiquement cette cause.“ (Vanlier 1983, 22; Herv. i. O.) In Bezug auf die Photographie muss laut Vanlier insbesondere zwischen dem Index und dem Indiz differenziert werden. Aus chemophysikalischer Sicht entstehen Textur und Struktur einer photographischen Aufnahme dadurch, dass einzelne Photonen Flecken auf der lichtempfindlichen Substanz generieren. Da es sich beim photographischen Entstehungsprozess im Gegensatz zur Graphie im eigentlichen Sinne gerade nicht um einen bewusst gesteuerten menschlichen Handlungsakt handelt, bezeichnet er die Photographie auch als „action physico-chimique“ (Vanlier 1982b, 28; Herv. i. O.) und spricht vom „non-acte photographique“ (ebd.). Photographische Bilder sind demzufolge Abdrücke, die auf ihre Ursache verweisen, sind also Indizien. Zugleich können photographische Indizien (imprégnants) unterschiedliche Grade der Indexikalität im Sinne eines intentionalen Zeigegestus annehmen, Vanlier spricht in diesen Fällen von „imprégnants indexés“ (Vanlier 1982a, 15; Herv. i. O.). Als indexikalische Zeichen wirken Vanlier zufolge die vom Photographen bewusst gewählten bzw. eingestellten photographischen Parameter wie Brennweite, Fokussierung, Kadrage oder aber nachträgliche Retusche, da sie bestimmte Teile des Bildes hervorheben und auf sie verweisen. Herv. i. O.). Im Gegensatz zu Flusser ist es dem Photographen jedoch möglich, in Form einer – wie er es ausdrückt – „ethnologischen Untersuchung“ (ebd.: 93), Unerwartetes zu dokumentieren. 103 Vanliers Philosophie de la photographie stellt die Synthese einer Vortragsreihe zum Thema dar. Zunächst erschienen die Einzelbeiträge als Aufsätze in den Cahiers de la Photographie. Eine kritische Lektüre von Vanliers Konzept liefert Sonesson (1989: 49-61). Auch Burgin (1982) setzt sich in Thinking Photography dafür ein, über Photographie als philosophische und theoretische Kategorie zu reflektieren. Einen stärker an der photogeschichtlichen Entwicklung orientierten Beitrag zum „photographischen Denken“ liefert Maynard (1997).
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Eine der Stärken seiner Annäherung, bei der er semiotische, psychoanalytische, anthropologische und physikalische Aspekte berücksichtigt und zu einer Einheit zu verbinden sucht, liegt mitunter darin, dass er bemüht ist, das Medium in all seinen materiellen und ästhetischen Facetten sowie seinen unterschiedlichsten Erscheinungs-, Gebrauchs- und Wirkungsweisen zu untersuchen. Gegenstand seiner Reflexionen sind daher private wie öffentliche Photos: Familienphotos, Amateurphotographien, Schnappschüsse, professionelle Werbe-, Dokumentar-, Kunstphotographien und pornographische Photographien.104
1.6 D IE (ANALOG -)P HOTOGRAPHIE IM S PEKTRUM DER VISUELLEN M EDIEN In den vorangegangenen Kapiteln ist an unterschiedlichen Stellen bereits auf einige grundlegende Unterschiede zwischen den visuellen Medien Photographie, Malerei105 und Film eingegangen worden, die in diesem Kapitel noch einmal kurz resümiert werden sollen, um die Photographie von anderen Bildmedien abzugrenzen. Die Semiotikerin Lucia Santaella Braga untergliedert die Bildmedien in drei sehr weit gefasste Kategorien und unterscheidet prä-photographische, photographische und post-photographische Bilder.106 Ausgangspunkt ihrer Einteilung ist der Bildproduktionsprozess: „[...] in the first paradigm are the artisanal processes of image creation, in the second, the automatic processes of image capture, and in the third paradigm, the mathematical processes of image generation.“ (Santaella Braga 1997: 122; Herv. i. O.)107 Im Gegensatz 104 Wenngleich Vanliers semiotische Argumentationsweise nicht immer stringent und zuweilen auch nur schwer nachvollziehbar ist, dürfte die Lektüre seiner vielschichtigen Studie gerade für interdisziplinäre Fragestellungen noch einige interessante Anknüpfungspunkte bieten. 105 Zum Wechselverhältnis von bildender Kunst und Photographie siehe u.a. Billeter (1979), Marx (2001: 132-159) und Stelzer (1978). 106 Der Begriff ,Post-Photographie‘ wird vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum verwendet und gewann durch Mitchells The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era (1992) an Popularität (vgl. Hüsch 2004). 107 Grundsätzlich gilt es, durch Einscannen analoger Medien generierte digitalisierte Daten (sampling) von virtuellen zu differenzieren. Es besteht daher ein Unterschied zwischen digitalisierten Photographien und Digitalphotos bzw. zwischen digitalisierter und digitaler Literatur (vgl. z.B. Schnell 2007: 168-169). Folgt man Hüsch (2004), so sollte die digitale von der post-photographischen Photographie abgegrenzt werden. Sie begründet dies damit, dass der Bezug zur jeweils abgebildeten Realität ein komplett anderer ist: So basiert die digitale Photographie nach wie vor auf einem Belichtungsprozess, der einen vergange-
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zu den älteren Bildmedien Malerei, Graphik und Plastik, die aufgrund ihrer Authentizität und Einmaligkeit sowie ihres monadischen und potenziell unendlich veränderbaren Charakters als prä-photographische Bilder bezeichnet werden, fasst Santaella Braga analoge optische Bilder wie Photographie, Film, Video, Fernsehen oder Holographie unter der Bezeichnung ,photographische Bilder‘ zusammen. Das photographische Einzelbild ist mit dem Auslösevorgang abgeschlossen, kann aber jederzeit vervielfältigt werden, was es zum charakteristischen Bild des Zeitalters der Massenkommunikation werden lässt. Damit ist das photographische Bild in jeglicher Hinsicht dyadisch und vornehmlich indexikalisch. Bei der PostPhotographie verkompliziert sich die Bestimmung des Verhältnisses von Zeichen und Referenten. So sieht etwa W. J. Mitchell (1992: 8) die Referenzialität aufgrund der Aufhebung der indexikalischen Beziehung zwischen digital generierter Photographie und Gegenstand, die die chemophysikalische und mit Einschränkungen auch die digitale Photographie prägt, generell in einer Krise, die schließlich zum Zusammenbruch des Weltbezugs im post-photographischen Zeitalter führen wird. Da die gestalterische Freiheit und Kreativität des Photographen relativ limitiert ist und sich weitgehend auf die Auswahl des Motivs und die Wahl bestimmter phototechnischer Parameter beschränkt, sind photographische Bilder genuin ,unpersönlicher‘ als prä-photographische und zugleich ,indexikalischer‘ als post-photographische Bildmedien. Bezüglich ihres Abstraktionsgrades sind die rein reproduzierenden, chemotechnisch erzeugten Apparat-Medien Photographie und Film also mimetischer als die symbolisch-gestalterisch völlig freie Malerei, bei der die Handschrift des Künstlers erkennbar wird:108 Fotografie, die eine besondere Art von Film ist – Standbild statt bewegtes Bild –, befindet sich natürlicherweise im visuellen Teil des Spektrums, aber sie kann Funktionen übernehmen, die links davon in den praktischen und umweltbezogenen Bereichen liegen. Film erstreckt sich in bedeutender Breite vom praktischen Bereich
nen Moment der Wirklichkeit speichert. Anders hingegen bei der Post-Photographie, bei der das vermeintliche Abbild nicht notwendigerweise auf photographische Speicherprozesse zurückgeht, sondern auch völlig unabhängig davon aus digitalen Bilddaten zu einem rein elektronisch entworfenem Kompositbild generiert werden kann. Weitere definitorische Bestimmungen und Differenzierungen der Termini finden sich bei Wolf (2002a) und (2003). 108 Die gesellschaftliche Stellung der Photographie unterscheidet sich von derjenigen der Malerei vor allem darin, dass jeder Betrachter einer Photographie auch oft selbst als (Amateur-)Photograph agiert oder sich in der Position des Photomodells wiederfindet, aber „nicht jeder ist Maler, und nicht jeder wird gemalt“ (Groys 1998: 33). Erst der technische Realismus der Photographie ermöglicht es dem Photographen, „den Inszenierungscharakter zu dissimulieren, quasi die Maskerade zu maskieren.“ (Bolz 1996: 36)
110 | E RSTER T EIL : THEORETISCHE GRUNDLAGEN (als technische Erfindung ist der Film ein wichtiges wissenschaftliches Hilfsmittel) über den umweltbezogenen Bereich und die visuellen, dramatischen und narrativen Bereiche bis hin zur Musik. (Monaco 2007: 23)
Einerseits verfügt die Photographie zwar über ein hohes Maß an Schärfe und Detailtreue, andererseits ist sie jedoch „eine Leinwand für die Projektion der Gefühle, Wünsche und Gedanken des Betrachters: ein Trugbild für das freie Spiel der Imagination.“ (Wackerbarth 1996: 193) Gemeinsam ist den beiden älteren visuellen Medien, dass es sich um statische Bilder handelt, die allein auf der Senderseite bei der Zeichenproduktion technische Hilfsmittel erfordern und gemäß der von Pross (1972) eingeführten systematischen Medienklassifizierung beide zu den sekundären Medien zählen. Die Photographie „ist ein stilles Bild, eine zweidimensionale Fläche, meist begrenzt von vier Ecken und Außenlinien. Sie ist eine Wiedergabe, die dem Auge über Perspektive Raum suggeriert.“ (Wackerbarth 1996: 193) Im Gegensatz dazu erfordert das photographische Bildmedium Film als tertiäres Medium sowohl bei der Produktion (Sender) als auch bei der Rezeption (Empfänger) technische Einrichtungen, um so mit Hilfe von technischen Projektionsverfahren die Illusion dynamisch-bewegter Bilder entstehen zu lassen.109 Ein wesentliches Merkmal der Photographie ist die Ausschnitthaftigkeit, die durch den Rahmen entsteht, der das Abgebildete von der unbegrenzten Realität isoliert, „[d]ie Bildhaftigkeit ist durch die Bildgrenze und die Bildfläche bestimmt.“ (Hickethier 2001: 46) Die Kadrierung, also die Begrenzung des Bildausschnittes, betont die Bildhaftigkeit des Photos und weist so auf die Medialität und den Abbildungscharakter hin: Was in der Wirklichkeit zufällig und ungeordnet erscheint, erhält durch die Begrenzung des Bildfeldausschnittes räumliche Bezugspunkte und bringt das Abgebildete in eine innere, „unnatürlich“ geometrische Ordnung. Für Bazin (1994: 187-189) bildet die zentripetale Bildorganisation statischer Bilder, deren Rahmen sie fest eingrenzen und auf den Bildmittelpunkt beziehen, ein medienspezifisches Unterscheidungskriterium zum zentrifugalen Bild des Films, das beständig den Rahmen überschreitet und im Austausch mit dem Außenbildraum steht.110 Demnach kennzeichnet sich das filmische Bildfeld gegenüber statischen Bildmedien durch seine Dynamik: 109 Neben den bereits vorgestellten Analysen von Kracauer, Bazin und Benjamin beschäftigen sich auch neuere Untersuchungen mit der Abgrenzung der Medien Photographie und Film, so z.B. Paech (1998), der einen intermedialen Ansatz verfolgt und auf den an dieser Stelle erneut verwiesen sei. 110 Für Gilles Deleuze (1989: 32) hingegen stellt die Dichotomie von zentripetaler respektive zentrifugaler Bildorganisation kein ontologisch begründetes Differenzkriterium dar, vielmehr geht er davon aus, dass filmische und gemalte Bilder beide sowohl zentripetal als auch zentrifugal organisiert sein können. Vgl. auch Spielmann (1993: 57).
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[…] paintings, photographs, comic strips, and other sorts of […] framed images furnish instances of aspect ratios, in-frame and out-of-frame relations, angle, height, level, and distance of the frame’s vantage point. But there is one resource of framing that is specific to cinema (and video). In film it is possible for the frame to move with respect to the framed material. ,Mobile framing‘ means that within the confines of the image we see, the framing of the object changes. (Bordwell/Thompson 1997: 243; Herv. i. O.)111
Allerdings zeigt auch der Film nicht zwangsläufig dynamische Bilder: Zu nennen sind hier zwischenmediale Verfahrensweisen wie z.B. das eingefrorene Filmbild (frozen), das den Eindruck eines Standbildes vermittelt oder die time-lapse photography, ein Verfahren der Einzelbild-Aufnahme, bei dem die Filmkamera mittels der extremen kameratechnischen Zeitrafferfunktion einzelne Phasenbilder unabhängig voneinander aufnimmt. Angefangen von Hitchcocks Rear Window (1954) über Antoninis Blow up (1966) oder Truffauts L’amour en fuite (1979) beschäftigen sich Filme bis heute mit dem alten Medium des Stillstands und taxieren das enge mediale Verhältnis von Photographie und Filmbild(ern) auf mannigfaltigste Weise immer wieder neu aus.112 Insbesondere seit den neunziger Jahren wenden sich viele preisgekrönte Filme verstärkt dem Kontingenten und Zufälligen zu und setzen dazu mitunter filmverfremdende, bildarretierende Verfahren ein, die das filmische Wesensmerkmal der Bewegtheit unterlaufen, indem sie die sonst im Film unsichtbare Materialität der photographischen Einzelbilder sichtbar machen:113 „Auf diese Weise rückt der Film an die Fotografie heran und schließt sie mit ein.“ (Barck 2006: 204) So gelangt das Dynamische des Films beispielsweise in Chris Markers La jetée (1962), in 111 Dieses Kriterium gilt freilich auch für die digitalen Bildern des Computers. Siehe hierzu Mitchell (1992: 117-136) und Schröter (1998). 112 Wie Joanna Barck (2006) sehr schön herausgearbeitet hat, ist beispielsweise das gesamte Werk Truffauts von seiner Leidenschaft für die Photographie geprägt: In fast allen seiner Filme experimentiert er mit photographischen Filmverfahren bzw. thematisiert die Photographie oder den Akt des Photographierens auf der Inhaltsebene. Die Bedeutung des Motivs der Photographie bzw. des photographischen Voyeurismus sowie photographischer Filmstrukturen bei Hitchcock untersucht z.B. Diers (2006: insbesondere 140-173). Zu anderen intermedialen Phänomenen zwischen Film und Photographie siehe beispielsweise Mielke (2004), Ochsner (2001) und insbesondere Scheid (2005), der die Konzeption des Photographischen im Film u.a. in Blow up herausarbeitet. Le Maître (2004) liefert indes eine psychoanalytische Untersuchung der photo-filmischen Wechselwirkungen. Zur terminologischen Differenzierung der Begriffe ,freeze frame‘ und ,film still‘ siehe Mielke (2003). 113 Hierzu merkt Kloepfer (1996: 90) an: „Der Film ist eine Art Lehre, wie man durch den Film zum Photo kommt, über das Artificium zum Zufall. Es ist – sozusagen – ein Blow-up-Effekt in der Zeit [...].“
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Wayne Wangs und Paul Austers Smoke (1995)114 oder aber in Jean-Luc Godards Notre musique (2004) stellenweise zum Stillstand und lässt „den Film für eine bestimmte Zeit zur Abfolge von Photos werden.“ (Kloepfer 1996: 84)115 Eine weitere Wechselbeziehung zwischen Film und Photographie besteht bei einzelnen Filmbildern. Zu differenzieren sind hierbei das film still und das action still. Beim Filmstill handelt es sich um eigens von einem Photographen angefertigte Standaufnahmen von re-inszenierten Szenen oder einzelnen Schauspielern, die während der oder nach den Dreharbeiten zu Werbezwecken (Plakate) gemacht werden. Zuweilen versteht man darunter auch Arbeits- und Probeaufnahmen. Das Wesentliche der Bildlichkeit eines Standbildes liegt nach Roland Barthes in seiner Palimpsestbeziehung zu dem Film, aus dem es eine Einstellung wiederzugeben vorgibt (vgl. Barthes 1982c).116 Das action still, das auch Photogramm117 genannt wird, ist hingegen wirklich ein Film-Abbild. Gemeint ist damit eine als Einzelbild extrapolierte und entwickelte Vergrößerung einer der 24 pro Minute geschossenen Momentaufnahmen der Filmkamera, die bei der Filmprojektion im bewegten Bild verschwinden.118
114 Zur Bedeutung der Photographie in Austers Verfilmung seiner Kurzgeschichte „Auggie Wren’s Christmas Story“ siehe Strom (1998: 87-90). 115 Die fast schon unheimliche und befremdliche Wirkung einer dazwischenmontierten Standphotographie beschreibt bereits Arnheim (1932: 139-140). 116 Vgl. auch Krüger (2007: 137-140). 117 Der Begriff ,Photogramm‘ weist Doppelbedeutung auf und birgt daher eine gewisse Distinktionsunschärfe in sich. Neben der Bezeichnung eines Einzelphotos aus einem Film etwa bei Barthes (1982c), steht er auch für das künstlerische Verfahren der kameralosen Photographie (vgl. Spielmann 1998: 11), bei dem „Bilder ohne Kamera erzeugt [werden], indem Gegenstände auf lichtempfindliches Papier gelegt und belichtet werden.“ (Baatz 2000: 97) Ab Mitte der zwanziger Jahre nahm das Photogramm eine Schlüsselposition zwischen Malerei und Photographie ein. Laszló Moholy-Nagy zählt zu den frühen Vertretern dieser Bildtechnik (vgl. Moholy-Nagy 1925), gegenwärtig beschäftigt sich vor allem Floris Neusüß mit den Ausdrucksmöglichkeiten des Photogramms (Honnef 1997). 118 Vgl. hierzu Paech (1998: 22).
2. Photographie und Literatur Mediale, semiotische und kognitive Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Im Anschluss an die Annäherung an das photographische Medium, geht es in diesem Kapitel um einen Vergleich der Medien Photographie und Sprache/Literatur, um so strukturelle Gemeinsamkeiten, aber gerade auch Differenzen herauszuarbeiten, die das intermediale Zusammenwirken erst ermöglichen und prägen. Da einige, der bereits in den vorangegangenen Kapiteln zur Phototheorie angesprochenen Themen im Hinblick auf intermediale Erzählverfahren von besonderer Bedeutung sind, werden im Folgenden ausgewählte Aspekte von Neuem aufgegriffen und in einer vergleichenden Darstellung von Photographie und Literatur noch einmal vertieft behandelt.
2.1 P HOTOGRAPHISCHE UND SPRACHLICHE V ISUALITÄT : M EDIALITÄTSMERKAMALE VON P HOTOGRAPHIE UND L ITERATUR Visualität ist ein medienübergreifendes und damit medienverbindendes Phänomen.1 Folglich repräsentiert die Ikonizität eine der wichtigsten intermedialen Schnittstellen zwischen Photographie und (literarischem) Text. Im weitesten Sinne handelt es sich also in beiden Fällen um Bildmedien. Zu fragen ist dabei aber freilich nach dem Bildbegriff selbst, denn dieser umfasst ein Bedeutungsspektrum, das vom materiellen Bild (meist in Form eines visuellen Ikons eines Objekts), über das sprachliche Bild bis hin zum geistigen Bild, dem Vorstellungsbild, reicht.2 W. J. Mitchell (1990: 19-24)
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Eine eingehende, medienkomparatistische Untersuchung des Themas „Visualität in Literatur und Film“ legt Sandra Poppe (2007) vor. Auf eine ausführliche Diskussion von Theorie und Begriff des Bildes muss hier verzichtet werden. Verwiesen sei beispielsweise auf Böhme (1999), Boehm (1994), Mitchell (1990) und (1994), Sauerbier (1985) sowie Stöckl (2004). Einen
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untergliedert das Bild, das er mit den Begriffen ,Ähnlichkeit‘ und ,Ebenbild‘ erläutert, sogar in fünf Teilbereiche: Er unterscheidet graphische, optische, perzeptuelle, geistige und sprachliche Bilder. Ausgehend von dieser begrifflichen Bedeutungsaufgliederung beleuchten die Untersuchungen der Aspekte des Bildes die folgenden vier Gebiete: die visuelle Kommunikation, die Semantik, die philosophische sowie die psychologische Erkenntnis- und Wahrnehmungsforschung. Bekanntermaßen setzte Lessing der These von der Verwandtschaft der so genannten Schwesterkünste – wie sie in dem Horazschen ut pictura (ut) poesis zum Ausdruck kommt – in seiner Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) dadurch ein Ende, dass er als erster auf das Differenzpotenzial der Medien und dem daraus erwachsenden Dilemma eines jeden Versuchs von Ekphrasis hinwies. In seiner These der Unvergleichbarkeit der Repräsentationsmedien unterscheidet Lessing zwischen der sukzessiv-temporären Dichtung und Poesie und der synchronräumlichen Malerei und Plastik. Nach der allgemein gängigen Lesart ist diese strikte Trennung der Medien Ausdruck der für das europäische Abendland prägenden logozentristischen Ideologie, die auf eine Erhöhung der Sprache über die visuellen Künste abzielt.3 Auch Mitchell geht von der These aus, dass Sprache und Bild unterschiedliche Zeichensysteme darstellen, allerdings vertritt er die Überzeugung, dass sie in einem engen und gleichberechtigten dialogischen Interdependenzverhältnis stehen, so dass sie „nur miteinander verwoben zu Sinn und Bedeutung gelangen.“ (Brosch 2004b: 70) Bevor es also darum gehen kann, Bedingungen herauszukristallisieren, unter denen die beiden Medien in literarischen Narrationen zusammentreten und sich aufeinander beziehen können, d.h. welche Konkretisierungsformen des Phänomens der Intermedialität in Bezug auf verschiedene Aspekte der Photographie im literarischen Kontext des gedruckten Buches möglich sind,
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Überblick über diverse theoretische und praktische Fragestellungen der Bildwissenschaften gibt Sachs-Hombach (2005). Begründet wird diese Annahme damit, dass für Lessing der vornehmste Gegenstand der Kunst die menschliche Handlung ist, die sich jedoch nur im sukzessiven epischen Erzählen, also der Dichtung entfalten kann (vgl. Lessing 1987: 2226 und 114-121). Folgt man allerdings Beate Allert, die unter dem Blickwinkel der visual culture eine Neubewertung von Horaz, Lessing und Mitchell versucht, so liest man Lessing falsch, wenn man ihm strikten Logozentrismus oder sogar wie Mitchell (1994) regelrechte „Iconophobie“ vorhält. Schließlich sei Lessing keineswegs ein Feind des Visuellen gewesen. Vielmehr, so betont sie weiter, vertritt er eine ungewöhnlich moderne Auffassung, indem er die Poesie in einem dynamischen Spannungsfeld zwischen den Raumkünsten (Malerei, Plastik) und der Zeitkunst (Musik) ansiedelt (vgl. Allert 2008: 38). Vgl. auch Fischer-Lichte (2004), die in ihrem kunstkomparatistischen Beitrag Lessings Thesen im Zusammenhang mit Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks diskutiert.
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müssen zunächst einmal die jeweiligen spezifischen medialen Strukturen, die Funktionen und Wirkungsweisen der betreffenden Zeichensysteme in Abgrenzung zueinander näher beleuchtet werden.4 Als besonders aufschlussreich erweisen sich dabei bestimmte Themenkreise wie das Verhältnis von Zeichen und Referent bzw. die Mimesis-Problematik, die Frage nach rezeptorischen Prozessen der Wahrnehmung, Vorstellung und Imagination, die Raum-Zeit-Dimension sowie Fragen des Gedächtnisses und der Erinnerung in Photographie und Literatur. Bei der Betrachtung werden insbesondere deskriptiv-systematische Bestimmungsansätze der Semiotik, der Kommunikations- und Medientheorie, der Rezeptionspsychologie5 und der Wirkungsästhetik berücksichtigt, wobei natürlich jeweils nur eine kleine Zahl theoretischer Überlegungen skizzenhaft dargelegt werden kann und soll. Trotz der bestehenden Heterogenität der Definition des Medienbegriffs in den verschiedenen Disziplinen, stimmt das Begriffsverständnis entsprechend seiner Etymologie zumindest darüber überein, „dass die vom lateinischen medium (Mittleres, Mitte) abgeleitete Bedeutung des Mittels und zu Vermittelnden in die verschiedenen Modelle eingearbeitet ist.“ (Spielmann 1998: 23-24; Herv. i. O.) Als erste Kategorie eines medialen Vergleichs bietet sich daher die Betrachtung des Kanal-/Kodemodells an. Literatur besteht aus schriftlich fixierten, konventionalisierten Zeichenkodes, deren Sinneswahrnehmung über den optischen Kanal erfolgt. Entsprechend der Aufzeichnungstechnik ihres bedeutsamsten materiellen Übermittlungsträgers, der bedruckten Buchseite, ist Literatur ein vorrangig typographisches Medium. Die Ausdrucksübermittlung der Photographie erfolgt ebenfalls über den optischen Kanal. Abgesehen von Diabildträgern und Digitalphotos, ist auch im Falle der Photographie das Papier der wichtigste materielle Übermittlungsträger.6 Das ursprüngliche Objekt, das in der Realität ein Seinskontinuum darstellt und nicht etwa aus distinktiven Einzelsegmenten aufgebaut ist, wird dabei mit Hilfe photochemischer Umsetzungsprozesse in einen binären Rasterkode übertragen. Was bei der Schrift das Graphem ist, ist bei der Photographie das einzelne (Farb-) Pigment. Bei einer hohen Auflösung wird das Raster der unzähligen Pigmentpunkte kontinuierlich als Bildeinheit wahrgenommen. 4
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Hierin wird Muckenhaupt (1986: 5; Herv. i. O.) gefolgt, der für die gemeinsame Betrachtung von Bild und Text ein „methodisches Verfahren für eine kontrastive Analyse“ vorschlägt, die „besondere Eigenschaften der Sprache sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen sprachlichen Ausdrücken und Bildern deutlich machen soll.“ Einen knappen und leicht verständlichen Einstieg in die Thematik aus neuropsychologischer Perspektive liefert Zimbardo/Gerrig (1999). Zu den psychologischen Aspekten des Photographischen siehe Schuster (1996). In der Medienwissenschaft bezeichnet man bereits die äußere Erscheinungsform des Signifikanten als Medium.
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Da beim Informationstransport zwischen Sender und Empfänger keine weiteren Geräte benötigt werden, zählt man schriftliche Texte wie auch die Photographie zu den Sekundärmedien (Pross 1972). Die Materialität der Kommunikationsmittel ist in beiden Fällen homogen. Der schriftliche Text verfügt allerdings zugleich immer auch noch über die weitere Kategorie der „stummen“ Sprache, die jederzeit in akustische Reize transferierbar ist, er nimmt also eine Art mediale Zwischenposition ein.7 Im Unterschied zu der stets monomedialen bzw. richtiger monokodalen Photographie trägt der literarische Text immer auch eine latent bimediale bzw. bikodale Komponente in sich. Ein mit visuellen Zeichenträgern illustrierter Text kann ebenfalls als bimedial eingestuft werden.8 Im Falle einer Kombination von materiellem Photo und Text in einem Gesamttextgefüge handelt es sich tatsächlich um ein bimedial konzipiertes Ganzes, das sich aus dem monokodalen Medium Photographie und dem latent bikodalen Medium Sprachtext zusammensetzt. Bilden phonetischer Text und Bild eine Einheit, so spricht man von einer audiovisuell übermittelten Nachricht. Treten nun aber Photographie und graphematischer Text in eine intermediale Einheit, so handelt es sich um eine im skriptovisuellen Sinne „photo&graphische“ Nachricht. Da Wort und Bild jedoch beide gleichsam visuell kodiert sind, ist eine solche Kombination „also in bezug auf den übermittelnden Kanal immer noch monomedial.“ (Tschilschke 2000: 56) Um dennoch eine genaue mediale Differenzanalyse zu ermöglichen, wird der optische Kanal weiter in Zeichen mit einerseits sprachlichem und andererseits außersprachlichem Kodetypus untergliedert. Durch diese Feingliederung wird allerdings auch nur eine relative, keineswegs aber absolute Unterscheidung der beiden Medien möglich. Das Dominanzverhältnis integrierter Zeichenträger und Kodes ist jedoch unterschiedlich verteilt, im literarischen Text dominiert tendenziell das Wort, im Photo das Bild: „Die jeweilige Dominante ist zugleich die Conditio sine qua non des betreffenden Mediums.“ (Ebd.: 57)
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Mitchell (1980: 565) hebt diesbezüglich das synästhetische Potenzial des Textes hervor: „Literature most naturally seems placed at some median point between music and the visual arts, participating in the former’s temporal, aural aspect, in the latter’s spatial, visual aspect.“ Auf die terminologische Unschärfe der Bezeichnung ,bimedial‘ verweist auch Stöckl (2004: 249-250 Fn 5) und schlägt mit Einschränkungen die Alternativen ,bikodal‘ respektive ,bimodal‘ vor.
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2.2 D IE U NMÖGLICHKEIT MIMETISCH - OBJEKTIVEN ABBILDENS UND V ERMITTELNS IN P HOTOGRAPHIE UND L ITERATUR 9 2.2.1 Photographischer und literarischer Realitätseffekt Historisch wie theoretisch steht die Realismusproblematik seit jeher im Mittelpunkt literatur- und photographietheoretischer Diskussionen: ,Wirklichkeit‘ ist ein Vermittlungsgefüge, das sich für eine Gemeinschaft als günstig, nützlich, tragfähig etc. erwiesen hat, eine ,Konstruktion‘, die sich in der Geschichte verfestigte. Das Metaphernfeld des Wirkens, Strukturerstellens, Vertextens ist nicht zufällig eines der wirkungsvollsten unserer Geschichte. Unmittelbar erscheint etwas, dessen Vermittlung selbstverständlich gegeben ist, gänzlich habitualisiert, unbewußt, spontan, automatisiert, vielleicht sogar als Reflex, aufgrund vorgegebener Apperzeptionsbedingungen. Was unmittelbar erscheint, ist im Grunde oft extrem vermittelt. (Kloepfer 1988: 75; Herv. i. O.)
Es gibt nach Kloepfer immer nur einen zeichenvermittelten, medialisierten Zugang zur Wirklichkeit.10 Dies bedeutet zum einen, dass ein Medium nie im absoluten Sinne mimetisch sein kann und zum anderen, dass auch die Wirklichkeit selbst nicht absolut betrachtet wird, sondern als konstruiert und konventionalisiert aufgefasst wird. Die Frage nach dem Realismusgehalt von Wirklichkeitsrepräsentationen in Photographie und Literatur wird unter dem Begriff ,Realitätseffekt‘ diskutiert. Ursprünglich wurde der Begriff ,effet de réel‘ von Barthes (1994) für die Literatur geprägt und wird hier in Anlehnung an Christian von Tschilschke (vgl. 2000: 71), der den Ausdruck Eco folgend mit Bezug auf den Film verwendet, auf die Photographie übertragen.11 Aufgrund der unterschiedlichen Struktur der primären Signifikanten von ikonischen und verbalen Zeichensystemen, weisen diese auch eine grund9
Zur Theorie des photographischen Realitätsbezuges siehe die umfassende Studie zu diesem Thema von Riedel (2002). Siehe auch Bernhardt (2001). 10 Mit Bezug auf die Photographie konstatiert Baudrillard (1999a: 179; Herv. i. O.): „Dans la photo, on ne voit rien. Seul l’objectif ,voit‘, mais il est caché. Ce n’est donc pas l’Autre que saisit le photographe, mais ce qui reste de l’Autre quand lui n’est pas là. Nous ne sommes jamais en présence réelle de l’objet. Entre la réalité et son image, l’échange est impossible, il y a au mieux une corrélation figurative. La réalité ,pure‘, si cela existe reste une question sans réponse. Et la photo est elle aussi une question posée à la realité pure, une question à l’Autre, qui n’attend pas de réponse.“ 11 Angesichts des häufigen Vorwurfs, die Literatur der Postmoderne bediene sich einer Form des neo-realistischen Schreibens, erscheint die Beleuchtung des Realitätseffektes für diese Untersuchung besonderes relevant.
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sätzlich verschiedene Bedeutungsstruktur auf, was in ihren jeweils unterschiedlichen Möglichkeiten bei der Abbildung von realen oder möglichen, konkreten oder fiktiven Welten deutlich wird: Die Photographie bildet stets eine konkrete, singuläre, mögliche Welt in der Vollständigkeit aller optisch erfassbaren Elemente ab. Anders als die Sprache verfügt das Photo allerdings über keine Metasprache, kann also nicht wirklich selbstreflexiv sein. Die Signifikate der Photographie sind immer mittelbar und indirekt gegeben. Der literarische Text liefert hingegen mehr oder weniger abstrakte, unvollständige fiktionale Darstellungen der Wirklichkeit und charakterisiert sich gerade durch seine Unbestimmtheitsstellen (Ingarden) respektive Leerstellen (Iser). Zudem kann er, im Gegensatz zur Photographie, generalisierende Aussagen über die dargestellte Wirklichkeit machen (vgl. Titzmann 1990: 379-380). Die unvergleichliche Konkretheit der Photographie hat immer wieder dazu geführt, Signifikant und Signifikat in eine Einheit vermeintlicher Realitätswiedergabe zu setzen.12 Inhaltlich beruht die photographische Abbildung nicht auf dem Prinzip des Weglassens, denn sie verwendet naturgemäß das in der Realität vorgefundene Formen- und Farbrepertoire. Und dennoch weisen auch Photographien in gewisser Weise „photographische“ Leerstellen auf: Anders als literarische Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen beziehen sich diese jedoch nicht auf das Gezeigte an sich, sondern auf die im Photo „verflachten“ bzw. „stillgelegten“ Dimensionen von Raum und Zeit.13 Trotzdem gestaltet der Photograph sein Photo natürlich nicht selbst aus dem Nichts bzw. aus seiner Imagination heraus – so wie der Autor zunächst vor einem leeren Blatt Papier sitzt. Vielmehr macht er sich auf die Suche nach „seinem“, mental bereits „prä-visualisierten“ Bild, das normalerweise zufällig gefunden wird.14 Im Falle der Kunstphotographie ist das Photo dann mitunter das in der Wirklichkeit gefundene Vorstellungsbild. Wiegand (1981: 10; Herv. i. O.) bringt dies pointiert zum Ausdruck: „Jedes Photo ist ein déjà vu“ und „jedes Photo ist ein objet trouvé.“ Der suchende Photograph bewertet zu diesem Zweck, er konstruiert und komponiert sein Bild mit den ihm zur Verfügung stehenden photographischen Verfahrenstechniken. Doch freilich hält dieses photographische Momentbild auch all jene Zufälligkeiten fest, die der Photograph vielleicht gar nicht wahrgenom12 Vgl. Kracauer und Bazin, die insbesondere die große Wirklichkeitsnähe betonen. Zwar unterstreicht Kracauer (1963: 21-27), dass die Photographie sich auf das Aussehen der Gegenstände bezieht, und dass man, aufgrund der abgebildeten Ähnlichkeit, den Referenten, der in seinem bloßen Oberflächenzusammenhang dargestellt wird, lediglich durch ergänzende Vorstellung „sieht“, jedoch bezeichnet er die Photographie dennoch als einen „wahren Spiegel“. 13 Daher betrachtet Baudrillard (1999b: insbesondere 80, 89-91) die Photographie auch als die „reinste“ Bildform, die sich mit ihrer artifiziellen Augenblicklichkeit an den stengsten Irrealismus hält und den härtesten Bruch mit dem Realen markiert. 14 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Ruchatz (2004: 89).
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men hat. Die Photographie bringt die Realität allerdings nur scheinbar näher, indem sie sie in ihrer Vorhandenheit exponiert,15 […] aber sie entzieht sich in dieser oszillierenden Nähe auch wieder jeglichem Zugriff. Ihre Botschaft ist das reine ,es gibt‘ einer Vorhandenheit, aber dadurch, daß sie uns die pure Existenz von Dingen mitteilt, ist sie dienlich. Als Metonomie steht sie mit dem, was sie abbildet, nicht in einer Relation der Ähnlichkeit, sondern der Kontiguität. Mit ihren Techniken der Perspektivierung, der Montage, des Ausschnitts etc. bricht die Photographie, wie nach ihr der Film, in die Vertrautheit der Wahrnehmung ein und taucht die Dinge in das Zwielicht von Verweisung und Verschwinden. (Wetzel 1991: 138; Herv. i. O.)
Das Medium bedingt demnach das Paradoxon vom Eingreifen des Realen mittels der durch Transformierung erzielten Materialisierung der Wiedergabe einerseits und der Derealisierung derselben andererseits. Dies läuft entgegen der in unzähligen Realismusdebatten immer wieder verwendeten Spiegelmetapher, die – wie bereits Kracauer feststellte – das mediale Wesen der Photographie jedoch verfehlt:16 Während der Spiegel die räumliche Tiefe zu einer zweidimensionalen Reflexion glättet, also eine Reduktion des Raumes auf das zeitliche Moment des Spiegelblicks bewirkt, vermag das Echo im Gegenteil dem Moment eine räumliche und damit auch zeitliche Tiefe zu geben. Im Sprung, so ließe sich behaupten, hallt im Augenblick des Aufkommens der Absprung wider. In der Photographie, im Sprung, werden die räumlichen Eingrenzungen in eine Schwingung versetzt, der Sprung verbindet und dissoziiert diese zwei Momente – das Echo unterbricht die Signifikantenkette, das Gesagte, und rekonstruiert sie zeitlich versetzt und in ihrer Silbenfolge reduziert in der Wiederholung. Der Widerhall ist Fragment und in ihm ertönt das Gesagte als Abwesenheit. [...] Die Photographie setzt einer Bewegung im Licht ein Ende, ihre genuine Leistung als Medium besteht darin, dieses Ende sichtbar zu machen und die Abwesenheit zu markieren. Sie zitiert zum Bilde hin, was nicht mehr ist, und statuiert die Abwesenheit. Die Spiegelmetapher nimmt nicht nur den Raum, sie ist auch weiterhin einem mimetischen Impuls verpflichtet, der uns die Photographie an einem Realen messen läßt. Das Echo hingegen öffnet den Raum und entlarvt das Gehörte als Täuschung: ,Kein Echo hat je eine Frage beantwortet‘, schreibt Paul de Man, ,es sei denn vermöge einer Irreführung durch den Signifikanten – aber sicher ist es so, daß ein Echo wie eine Antwort klingt und daß diese Ähnlichkeit unendlich suggestiv ist‘. (Amelunxen 1992b: 33; Herv. i. O.)
15 Hierzu formuliert Barthes (1980: 52; Herv.i. O.): „Comme la photographie est contingence pure et ne peut être que cela (c’est toujours quelque chose qui est représenté) – contrairement au texte qui, par l’action soudaine d’un seul mot, peut faire passer une phrase de la description à la réflexion –, elle livre tout de suite ces ,détails‘ qui font le matériau même du savoir ethnologique.“ 16 Diese Auffassung wird etwa auch von Wetzel (1990: 269) hervorgehoben.
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Freund hebt zwar einerseits die Beweiskraft der Photographie in der Justiz hervor,17 doch andererseits konstatiert sie: „[d]ie Objektivität des Bildes ist nur eine Illusion“ (1976: 173). Ihr Hauptinteresse liegt also eigentlich vor allem darin, genau den gegenteiligen Aspekt der Photographie zu betonen, nämlich die gesellschaftliche Gefährdung, die von der Dominanz und Einflusskraft des Photos ausgeht (ebd.: 228). Sie weist das Posenhafte und die Manipulierbarkeit des vermeintlich authentischen Bildes, kurz das Fiktionale als eines der bedeutendsten Wesensmerkmale des Mediums aus und lässt damit zugleich das Medienverständnis eines Bazin, der im Gegensatz zu Freund ja gerade den Realitätsgehalt als das dominante Medienmerkmal herausstellt, geradezu naiv erscheinen. Obwohl Barthes das Photo grundsätzlich als Analogon der Realität versteht, geht doch auch er davon aus, dass das photographische Bild keine 1:1-Kopie der Wirklichkeit darstellt: „[…] sans doute la photographie implique un certain aménagement de la scène (cadrage, réduction, aplatissement), mais ce passage n’est pas une transformation (comme peut l’être un codage); il y a ici perte de l’équivalence (propre aux vrais systèmes de signes) et position d’une quasi-identité.“ (Barthes 1982b: 28; Herv. i. O.)18 Ferner, so Barthes, kann dem photographischen Bild auch eine geradezu halluzinatorische Kraft19 innewohnen und so stellt sich für ihn das Paradoxon der Photographie ein, das sich in der Gleichzeitigkeit von Realitätsbekundung und einer Fom der „irréalité réelle“ (ebd.: 36) manifestiert. Insofern das Photo auf etwas Materielles verweist, die abgebildete Sache jedoch nicht selbst ist, sondern nur die photochemisch materialisierte Aufnahmespur des real immateriellen Lichtreflexes zeigt, und insofern es aufgrund der zeit-räumlichen Distanz von Aufnahme-, 17 Das aufgrund seiner Kontrastschärfe vorzugsweise schwarzweiße photographische Abbild wird als Garant der dokumentarischen Authentizität instrumentalisiert und gilt auch im Zeitalter digitaler Photographie selbst vor Gericht noch als unbestrittener Authentizitätsgarant und Beweismedium. Die Bevorzugung des Schwarzweißphotos hängt aber auch mit der kulturellen Koppelung von fehlender bzw. stark eingeschränkter Farbigkeit und objektiver Sachlichkeit zusammen (vgl. Diers 2006: 58-59). An dieser Stelle sei auf Wittgenstein verwiesen, der in seinen Bemerkungen über die Farben (1950) u.a. der Frage nachgeht, was Grau zu einer neutralen Farbe macht (vgl. 1979: 60). 18 Barthes vertritt hier gewissermaßen eine Gegenposition zur naturwissenschaftlichen Definition der photographischen Erzeugung perspektivischer Bilder (vgl. Martino 1985). 19 Vgl. Barthes (1980: 177). Auch Schaeffer spricht von einem „Restanteil des Irrationalen“ (1987: 159) im Photographischen, das für den prekären Status der Photographie verantwortlich ist. Sontag (2006: 54-56) thematisiert das Irreale und Phantastische der Photographie im Zusammenhang mit der surrealistischen Photographie. Mit Rekurs auf Koppen verweist Blazejewski (2002: 63-66) auf literarische Beispiele motivischer Verarbeitung einer irreal-phantastisch verstandenen Photographie.
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Materialisierungs- und Rezeptionsprozess nichts über die gegenwärtige Existenz des Referenten auszusagen vermag, weist das Photo, wie Schaeffer sagt, einen semiotisch prekären Status auf.20 Im Kontext seiner Kritik am naiven Glauben an den Realismus findet sich auch bei Baudrillard ein ähnlicher Gedanke: „Durch all das irrealistische Spiel mit der Technik sowie durch seinen Schnitt, seine Unbeweglichkeit, sein Schweigen, seine phänomenologische Reduktion der Bewegung drängt sich das Photo als das reinste und künstlichste Bild auf“ (2000: 189) und damit ist „[d]as Bild […] gewissermaßen die materielle Übersetzung der Abwesenheit dieser Realität.“ (Ebd.: 191) „Das Wunder des Photos, dieses sogenannt ,objektiven‘ Bildes“, so schlussfolgert Baudrillard, „besteht darin, daß sich die Welt durch es als vollkommen nicht-objektiv erweist.“ (Ebd.: 189; Herv. i. O.) Ähnlich hatte bereits der frühe Arnheim (1932: 40) hervorgehoben, dass die Reduktion von Raum und Zeit in der Photographie eine derart starke Abstraktion nach sich zieht, dass die photographische Bildfläche den abgebildeten Raum nur „bedeutet“ und „uns der Bildraum in keiner Weise die Illusion eines realen [dreidimensionalen; M.O.H.] Raums vermittelt.“ Folgt man dem dekonstruktivistischen Ansatz von Michael Wetzel, der seinerseits auf Derrida rekurriert, so lässt sich dieser Sachverhalt damit beschreiben, dass das Photo das Reale selbst in direkter Manipulation derealisiert. Dadurch tritt der Seinsgehalt des Realen zunehmend hinter seine Simulation, ein mediales Simulakrum, und läuft somit zugleich Gefahr, gänzlich zu verschwinden (vgl. Wetzel 1991: 128). Die Simulationen, die so zu real gewordenen Einbildungen mutieren, offenbaren auf welch unwirklichen Grund das Reale aufbaut und lassen vermuten, dass die vorgestellte Wirklichkeit eng mit der Vorstellung des Unwirklichen zusammenhängt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich der photographische Realitätseffekt wie die Photographie selbst nur über eine Doppelbestimmung definieren lässt: Einerseits kennzeichnet er sich durch einen gewissen Illusionsanteil, andererseits besteht aufgrund des maschinell-apparativen Aufzeichnungsprozesses und des ikonischen bzw. indexikalischen Zeichenmaterials tatsächlich eine mehr oder weniger enge Relation zur Realität.
20 Diesen Aspekt des Photographischen betonen Ansätze, die zur Charakterisierung der Photographie die bereits aus der Antike kommende Metapher des Schattens verwenden: „Im technischen Medium Fotografie“, so Spielmann (1998: 24), „ist der Schatten mit der Schrift gebunden.“ Dies erinnert an Ferdinand de Saussures Definition der Schrift als Schatten der ursprünglichen Rede und an seinen Vergleich des Versprachlichungsprozesses mit dem photographischen Fixierungsvorgang in seinem phonozentristisch geprägten Cours de lingustique générale (vgl. Amelunxen 1996: 104-105). Vgl. hierzu auch die frühe Definition des analogen Aufzeichnungsmediums Photographie durch Talbot: Ihm zufolge dient der „photogenetische oder skiagraphische Prozeß“ der „dauerhaften Fixierung der Schattenbilder“ (Amelunxen 1988a: 26).
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Seit die formalistische und strukturalistische Literaturtheorie mit dem Konzept einer vorgängigen realen Welt, die im literarischen Kunstwerk mimetisch widergespiegelt wird, aufräumten und allen voran Roland Barthes die fundamentale Andersartigkeit von wirklicher und literarisch dargestellter Welt postulierte, wird allgemein davon ausgegangen, dass das als „real“ Bezeichnete aufgrund des abstrakten und arbiträren Referentenbezugs des sprachlichen Zeichensystems, nie mehr als ein spezifischer Repräsentationsbzw. Bedeutungskode sein kann.21 Literatur hat demzufolge keinen Zugang zur „reinen Realität“, zur Wirklichkeit an sich. Der Realitätseffekt ist also nicht mehr als eine bestimmte Kategorie der Künstlichkeit: Was die Literatur im Rezipienten mittels ihrer Botschaft hervorruft, ist allein die mental erzeugte, visuelle Vorstellung, Wirklichkeit unmittelbar zu erleben – folglich also nicht mehr als eine ästhetische Illusion oder, wie Barthes sagt, eine „illusion référentielle“ (1994: 484). Diegese kann also nie wirklich Mimese im eigentlichen Sinne eines direkten Abbildens der Natur sein, sie kann immer nur Mimesisillusion sein. Literatur vermag lediglich über den narrativen Realitätseffekt „realistisch“ zu sein, denn im Rahmen des Erzählten wird immer nur eine mögliche Welt zitiert, die freilich extrem große Ähnlichkeit mit der realen Welt aufweisen kann, in der der Autor und der Rezipient existieren, identisch werden sie allerdings nicht, denn das Geschriebene selbst ist ja stets nur Teil der Realität.22 Nicht unerwähnt bleiben sollte allerdings die Tatsache, dass die begriffliche Erfassung des Realitätseffektes in der Literaturwissenschaft gewisse Probleme in sich birgt, da das Begriffsverständnis stark epochenspezifisch ist und erhebliche Definitions- und Ausformungsunterschiede vorliegen. Die meisten Bedeutungsbestimmungen orientieren sich jedoch an dem Verhältnis von récit und discours als gültigem Kriterium narrativer Systeme. Schließlich enthält jede Erzählung ebenso wie jede Abbildungsdarstellung unabhängig von der jeweiligen medienspezifischen Realisierung diese beiden grundsätzlichen narrativen Ebenen: Auf der Ebene der Geschichte stehen die erzählerischen Inhalte im Vordergrund. In scheinbarer Unkodiertheit wird der Eindruck vermittelt, sie ließe sich gänzlich von der Realität leiten. Auf der Diskursebene hingegen liegt die Betonung des Erzähl-
21 Allerdings kritisierte Roman Jakobson bereits lange vor dem so genannten linguistic turn in seinem Aufsatz „Über den Realismus in der Kunst“ (1921) die unkritische Verwendung des Realismusbegriffes. Er entwickelt den Begriff der „künstlerischen Wahrscheinlichkeit“ (1971: 375) und meint damit die künstlerisch erzeugte Realismus-Illusion. 22 Einige neuere literaturtheoretische Ansätze entwickeln aus diesen Überlegungen heraus und mit Bezug auf Leibniz’ Monadenlehre textanalytische Verfahren zur Unterscheidung von verschiedenen Realitäts- und Fiktionalitätsebenen innerhalb der literarisch-gestalterischen Künste, so z.B. Eco, Ryan und Vaina. Eine einführende Darstellung bietet Ronen (1994).
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vorgangs und der medialen Ausdrucksmittel auf der ostentativen Kodiertheit (vgl. Tschilschke 2000: 73). Roman Jakobson bezeichnet die scheinbare Unkodiertheit in seiner Erzähltheorie als referenzielle Funktion und die der hervorgehobenen Kodiertheit als poetische Funktion der sprachlichen Darstellung. Rekurrierend auf Barthes betont auch Gérard Genette, dass das Reale im literarischen Text stets nur als Illusion vermeintlicher Mimese verwirklicht werden kann. Durch das Zurücktreten des erzählerischen Vermittlers, eine möglichst ausführliche Detaildarstellung sowie durch die Verarbeitung historischer, nicht-fiktionaler Personen, Orte und Ereignisse kann ein besonders starker Realismuseffekt, ein wie Barthes sagt „effet superlatif de réel“ (1970: 109) erzeugt werden, bei dem ein besonders hoher Grad an vraisemblance erreicht wird:23 „Détail inutile et contingent, c’est le médium par excellence de l’illusion référentielle, et donc de l’effet mimétique, c’est un connotateur de mimésis.“ (Genette 1972: 186; Herv. i. O.) Das mehr oder weniger funktionslose Detail, so Genette (vgl. ebd.), dient allein dazu, deutlich zu machen, dass es nur aufgrund seiner Anwesenheit erwähnt wird, wodurch eben gerade die Illusion der Unkodiertheit und der Unmittelbarkeit erlangt werden soll. Zwar wird in der Literatur die narrative Darstellung von Gegenständen immer wieder als Kriterium für eine realistische Erzählweise aufgeführt, jedoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Details je nach literarischem Kode zwischen Autor, Rezipient und Realität vermitteln. Während in den narrativen Werken der literarischen Epoche des Realismus zwischen den Objekten und den Protagonisten eine symbolisch aufgeladene Analogbeziehung etabliert wurde, bei der Gegenstände Charakterzüge einzelner Figuren widerspiegelten, wurden im nouveau roman zwar auch Details beschrieben, doch trugen sie keine metaphorisch-symbolische Bedeutung hinsichtlich der Psychologie der Romanfiguren mehr. Im zeitgenössischen Roman der französischen Postmoderne erhalten die Details hingegen erneut Bedeutung und beziehen sich zuweilen auch wieder auf Personen. Diese Renaissance der Objekte erfolgt allerdings gerade nicht auf „realistische“ Weise, denn oftmals erfahren diese eine Disfunktionalisierung, indem sie zu Objekten eines kritiklosen subversiven Spiels diverser literarischer Kodes werden. Sie werden also weder einfach nur aufgrund ihrer zufälligen Anwesenheit mitabgebildet, noch charakterisieren sie die Figuren; auch wenn dies – wie etwa in den Werken von Patrick Deville oder Jean Echenoz – geriert wird; die beschriebenen Detailobjekte dienen nur oberflächlich der Charakterisierung und unterlaufen damit das realistische Verfahren auf subversive Weise. Hier gilt also, was für die Photographie bereits in ganz ähnlicher Form gesagt wurde: In der zeitgenössischen Literatur wird der Realitätsbegriff und mit ihm die Abbildung der Objekte der Wirklichkeit quasi in Anführungszeichen gesetzt, wird als Mimesis23 Zur Bedeutung der Wahrscheinlichkeit siehe Genette (1969).
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verfahren nurmehr anzitiert und nimmt dadurch selbst den Charakter eines intramedialen (bzw. intertextuellen) Verweises an. Wirklichkeit wird folglich häufig nicht als wahrer unmittelbarer Referent aufgefasst, sondern als immer schon fiktional vermittelt, wodurch wiederum die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Imagination unscharf werden: „Gerade dieses ästhetische Merkmal legt es nahe, die postavantgardistische Kunst als realistische Spiegelung zeitgenössischer Wahrnehmungsverhältnisse zu betrachten.“ (Tschilschke 2000: 75) Der Vergleich des photographischen mit dem literarischen Realitätseffekt verdeutlicht, dass beide Formen insofern nur Wirklichkeitsillusionen sind, als sie keinen wörtlich zu verstehenden unmittelbaren und direkten Zugang zur Wirklichkeit eröffnen. Allerdings unterscheiden sich Photographie und Sprache hinsichtlich ihrer semiotischen Zeichenstruktur. Während sich der photographische Realitätseffekt trotz der oben angestellten Einschränkungen quasi obligatorisch einstellt und aufgrund des ikonisch-indexikalischen Zeichenmaterials immer auch eine tatsächliche Verbindung zur gewesenen Realität besteht, sind literarische Erzählungen nie Mimese im Sinne des photographischen Zeigens, Abbildens oder Reproduzierens, sondern vermögen immer nur mit Hilfe der stofflich-thematischen und der darstellungstechnischen Festlegung „realistisch“ zu wirken. Der literarische „Realitätsillusionseffekt“ ist daher auch nur fakultativ. Die Photographie kann den Realismuseffekt hingegen durch die Möglichkeiten des literarischen Realismuseffektes (beispielsweise durch die Wahl eines bestimmten Sujets oder durch die Einstellung) sogar noch verstärken.24 2.2.2 Photographie: Ein Medium zwischen Wahrheit, Lüge und Fiktion In dieser Studie wird von der Prämisse ausgegangen, dass der photographische Realitätseffekt auf einer ikonisch-indexikalischen Relation zwischen photographischem Zeichen und dem abgelichteten Objekt, dem Referenten beruht. Aber sind Photographien deshalb auch wahr? Oder anders gefragt: Können Photographien lügen?25 Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Photographien beim Produktionsprozess auf unterschiedlichste Weise verändert werden können, bejaht Eco (1984: 223) diese Frage und konstatiert: „A photograph can lie.“ Daher hält er es auch für unerlässlich, bei der Untersuchung einer Photographie 24 So wirken z.B. mikrophotographische Aufnahmen aufgrund der perspektivischen Differenz zu den alltäglichen Sehgewohnheiten meist abstrakt und „unrealistischer“ als „gewöhnliche“ Photographien. 25 Mit der Frage, wie sich Photographie und Wirklichkeit zueinander verhalten und welche Bedeutung Inszenierung(en) und damit Fiktion und Täuschung in der Photographie zukommt, beschäftigen sich zahlreiche Beiträge in dem von Lars Blunke herausgegebenen Sammelband Die fotografische Wirklichkeit (2010).
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jeweils die kulturellen Herstellungs- und Nutzungsbedingungen sowie die vermeintliche „Unschuld“ der indexikalisch-ikonischen Relation von Referent und Zeichen kritisch zu hinterfragen bzw. sogar in Frage zu stellen (vgl. ebd.: 226). Hier liegen allerdings nach Eco auch die Grenzen der Semiotik, die nur in der Lage sei, bestimmte Aspekte der Beziehung zwischen den photographischen Zeichen und der Realität als Referenten zu klären: „Die Semiotik interessiert sich für die Zeichen als gesellschaftliche Kräfte. Das Problem der Lüge (oder der Falschheit), das [nicht nur; M.O.H.] für die Logiker von Bedeutung ist, ist prä- oder post-semiotisch.“ (Ebd.: 73) Zur Beantwortung der Frage nach der Wahrheit der Photographie müssen daher, so Eco, ergänzende Methoden anderer Disziplinen herangezogen werden (vgl. Dörfler 2000: 41). Begreift man die eingangs gestellte Frage allerdings mit dem bereits oben genannten John Berger (1984a: 96), so ist sie zu verneinen: „Weil die Photographie keine eigene Sprache hat, weil sie vielmehr zitiert als übersetzt, spricht man davon, daß die Kamera nicht lügen kann. Sie kann nicht lügen, weil sie unmittelbar wiedergibt.“ Photographien können grundsätzlich nur zeigen, also lediglich Aussagen treffen. Daraus folgt konsequenterweise, dass sie per se nichts behaupten und damit in semantischer Hinsicht auch nicht lügen können.26 Photographien werden natürlich dennoch dazu eingesetzt, Lügen bzw. unwahre und falsche Tatsachen zu verbreiten: „Die Tatsache, daß es gefälschte Photographien gab und gibt, ist paradoxerweise ein Beweis dafür. Eine Photographie läßt sich nur durch Retouche, Collage und Um-Photographieren zum Lügen bringen.“ (Ebd.) Gerade in der Werbung rührt die „Falschheit“ der Aussage daher, dass der indexikalischikonischen Spur der Photographie ein „unwahrer“ Referent zu Grunde gelegt wurde, der auf einer Inszenierung einer möglichen, aber eben nicht unmittelbar vorgefundenen und damit fingierten Wirklichkeit beruht.27 Auch in diesem Fall ist es nicht die Kamera, die lügt, wird sie doch lediglich dazu benutzt, „[…] eine Lüge zu zitieren. Und das läßt die Lüge umso wahrer erscheinen. Das photographische Zitat ist innerhalb seiner Grenzen unbezweifelbar. Dennoch kann das Zitat, wenn es wie eine Tatsache – explizite oder implicite – einer Begründung eingeführt wird, falsch informieren.“ (Ebd.: 96-97; Herv. i. O.) Einer der häufigsten Gründe dafür, dass Photographien „unwahr“ erscheinen, ist sicher jener der verbalen Kontextualisierung. Gemeint ist damit die quasi „syntaktische“ Verbindung des Bildes mit einem sprachlichen Kommentar, der zu einer Verengung der relativen Bedeutungsoffenheit der
26 Zum Thema der Lüge in der Photographie siehe auch Nöth (1997) und (2000a: 482). Zur Geschichte, die gefälschte Photos machten, siehe Jaubert (1989). 27 Siehe hierzu auch den Exkurs zum photographischen Simulakrum im Anschluss an dieses Kapitel.
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Photographie führt und dem Bild eine bestimmte Bedeutung unterstellt.28 Die Lüge entsteht dann also erst durch die Diskrepanz zwischen photographischer Aussage und sprachlicher Behauptung. Ferner sind die stark konventionalisierten Rezeptionsgewohnheiten und die sich daraus ableitende Erwartungshaltung des Rezipienten bei der Betrachtung der Frage nach der Wahrheit von Photographie und Literatur ausschlaggebend: Während literarische Texte durch paratextuelle Rezeptionssteuerung beispielsweise in Form des Zusatzes „Roman“ oder durch textimmanente Fiktionssignale als fiktionale Texte gelesen werden,29 wird das photographische Bild zunächst einmal in erster Linie als Analogon der Wirklichkeit und damit als faktionaler, dokumentarischer Garant des Realen rezipiert.30 Diese beinahe archaisch anmutende Erwartungshaltung stellt sich – wenn auch unterbewusst – fast automatisch ein, obwohl sie doch in vehementem Gegensatz zur allgemein betriebenen Photopraxis steht, man denke nur an die Werbephotographie. Mit Nöth liegt der Unterschied zwischen der „wahren Lüge“, die den Betrachter „betrügt“, und der als „Täuschung“ erkannten, fingierten Photographie wesentlich auf der pragmatischen Ebene verankert, hängt damit also – wie gezeigt – entscheidend vom Rezeptionskontext ab.31 Die Frage nach der Lüge ist, so ließe sich folgern, an die Angemessenheit bzw. Unangemessenheit der Rezeptionserwartung gekoppelt. Die postmoderne Lösung der Frage nach Lüge bzw. Unwahrheit der Photographie liegt im Gegensatz dazu in der Definition des photographi-
28 Auf die grundsätzliche Bedeutungsvielfalt eines Bildes, die durch verbale Kommentierung in eine semantische Richtung gelenkt werden kann, hat bereits Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen hingewiesen (vgl. 1989: 249). 29 Diese Darstellung beruht freilich auf einer starken Vereinfachung, denn die Fiktionalitätsdebatten in Geschichte und Gegenwart, insbesondere um autobiographische oder dokufiktionale Texte, zeigen, dass Gattungen und Genres im Zwischenbereich von Faktion und Fiktion immer wieder Anlass von heftigen Debatten sind. 30 Dies lässt sich unabhängig von paratextuellen Hinweisen bzw. der Kontextualisierung des Photos beobachten: Befindet sich das Bild etwa in einer Zeitung, einem Ausweis oder in einem Photokunstband? Verkompliziert wird die Unterscheidbarkeit von Kunstphotos, die einen maximalen Anteil künstlerischer Gestaltung (gestellte Szene, Retuschen etc.) aufweisen, und Gebrauchsphotos mit einem (allgemein) minimalen Gestaltungsanteil durch die Tatsache, dass die postmoderne ,Autorenphotographie‘ diese Grenzen bewusst durchbricht. Der Begriff ‚Autorenphotographie‘ wurde 1979 von Klaus Honnef eingeführt, um so – in Anlehnung an den Terminus des ,Autorenkinos‘ – Photos mit künstlerischem Anspruch von kommerziell und privat gebrauchten Photographien abzugrenzen (vgl. Honnef 1983). 31 Siehe hierzu auch Nöth (1997: 136 und 2004: 20-21).
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schen Bildes als Fiktion:32 „L’image photographique n’est pas une repésentation, elle est une fiction.“ (Baudrillard 1999a: 179)33 Nimmt man an, die Photographie sei grundsätzlich fiktionaler Natur,34 so lügen Photos konsequenterweise ebenso wenig wie fiktionale Texte, die ja auf einem „Fiktionsvertrag“ zwischen Autor und Leser beruhen. Doch auch wenn sich die Frage nach der photographischen Wahrheit auf der Grundlage dieses Postulats auf den ersten Blick problemlos auflösen lässt, so stößt diese Definition doch schnell an ihre Grenzen: Denn folgt man ihr mit aller Konsequenz bis ins Letzte, dann verliert die Photographie jeden Anspruch auf Authentizität und einhergehend damit jedwede Beweiskraft und dies hieße gleichsam, dass man die photographischen Zeitdokumente all der Kriegsgräuel und Genozide der Geschichte von vornherein als fingiert, imaginiert und konstruiert interpretierte. Die daraus resultierende ethisch-moralische wie politischideologische Gefahr liegt auf der Hand. 2.2.3 Exkurs: Das Photo als Simulakrum In seiner Ideenlehre untergliedert Platon die mimetische Nachahmung eines Nachbildes, dem die eigentliche und ursprüngliche Idee zu Grunde liegt, in zwei Arten: Einerseits in das Ebenbild, das eikon, dessen Abbild als wahrheitsgetreue Kopie erscheint und andererseits in das trügerische Simulakrum. Anders als das eikon hält das Trugbild einer genauen Prüfung nicht stand, denn durch seine Entstellung und perspektivische Verzerrung des ursprünglichen Modells, steht das Simulakrum zu ihm in einem Verhältnis der Unähnlichkeit. Die massenhafte technische Reproduzierbarkeit ermöglicht die beliebige Verfügbarkeit des Realen als Reproduktion. Das genaue und unmittelbare Hinsehen wird durch die Anschauung von archivierten Photographien ersetzt. In der Frühphase der Photographie – in diesem Falle handelte es sich 32 Für Baudrillard zielt diese Form der Fiktion moderner Medien-Bilder jedoch nicht mehr auf Sinnproduktion. Da die Bilder lediglich vorgeben, einen realen Referenten realitätsgetreu abzubilden, kanzelt er sie als „unmoralisch und pervers“ ab und wirft Photographien einen geradezu „hinterlistigen Geist“ (1986: 265-266) vor. Mit ihrer „fatalen Strategie der Verleugnung des Realen und des Realitätsprinzips“ (ebd.: 268) sind Photographien seiner Auffassung nach also alles andere als „Bruchstücke der Welt“ oder „Miniaturen der Realität“ (Sontag 2006: 10). Blazjewski (2002: 63) weist darauf hin, dass die Infragestellung der authentischen Realitätsreproduktion und damit die unumgängliche Fiktionalisierung und Verzerrung der Wirklichkeit in der Photographie im Diskurs der Postmoderne vorangetrieben und ins Zentrum des Nachdenkens über das photographische Medium rückte. 33 Vgl. auch Baudrillard (1999c: 98). 34 Diesem Ansatz folgt beispielsweise Christoph Ribbat in seiner Studie zu amerikanischen Photo-Texten (2003: 20, 321).
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genau genommen noch um die Daguerreotypie – wurde eine Äußerung des Schriftstellers Jules Janin von 1839 berühmt, in der er die Differenzierung zwischen realem Gegenstand und dessen Abbild für aufgehoben erklärte, da das photographische Abbild das Objekt als Simulakrum vollständig substituiere (vgl. Janin 1999: 49).35 Die Photographie zitiert nun aber nicht grundsätzlich nur objektive Fragmente des Wirklichen, sondern produziert zugleich Stereotypen und klischeehafte Vorstellungen des Realen, das selbst zum Trugbild des zu beherrschenden und verfügbaren Klischees wird – ein Sachverhalt, der dem die Wirklichkeit abbildenden Charakter der Photographie diametral entgegensteht. Indem ein Photo z.B. in den bereits erwähnten tableaux photographiques des 19. Jahrhunderts zu einer dreifachen Kopie wird, wird es zur „unphotographischen“ Aneigung, zum Simulakrum. Das Photo kann in diesem Falle immer nur weniger sein als das zu Grunde gelegte Gemälde, denn durch die Missachtung seiner medialen Autonomie fehlt es ihm an Ausdruck, an Tiefe. Hinsichtlich des Realitätsbezugs verliert sich die Reproduktion einer nachgestellten malerischen Wirklichkeitsabbildung im Leeren.36 In der aktuellen Medientheorie wurde der Begriff des ,Simulakrums‘ durch die geradezu „fatalistische Medientheologie“ (Griem 2001: 586) des Soziologen und Kulturkritikers Jean Baudrillard geprägt. Im Kontext seiner, aber auch Lyotards kulturtheoretischer Reflexionen ist das Simulakrum Ausdruck einer vom Simulationsprinzip komplett dominierten ästhetischen Lebenswelt, in der das Photo der Welt der Erscheinungen am nächsten kommt:37 Was man radikal in Zweifel ziehen muß, ist das Prinzip der Referenz des Bildes, jene strategische List, mit der es immer wieder den Anschein erweckt, sich auf eine reale Welt, auf reale Objekte zu beziehen, etwas zu reproduzieren, was ihm logisch und chronologisch vorausliegt. Nichts von alledem ist wahr. Als Simulakrum geht das Bild dem Realen vielmehr voraus, insofern die logische, die kausale Abfolge von Realen und Reproduktion umkehrt. (Baudrillard 1986: 265)
Das Simulakrum ist also eine Kopie ohne Original, eine Abbildung, die sich als mulitmedial vervielfältigte Reproduktion scheinbar auf einen real existierenden Referenten bezieht, diese Referenz jedoch nur noch simuliert:38 „Durch die Medialisierung der Wahrnehmung verwandelt sich die 35 Eine ähnlich radikal realistische Position vertritt Oliver Wendell Holmes (vgl. Dörfler 2000: 15). 36 Hierauf verweist auch Kracauer (1963: 28). 37 Siehe auch Baudrillard (1981) und (1986: 266), Klettke (2001: 221) und Krauss (1998b: 34). So konstatiert Baudrillard (1999b: 82): „C’est la photo qui nous rapproche le plus d’un univers sans image, c’est-à-dire de l’apparence pure.“ 38 Gerade darin, dass das Bild das Reale und zwar das photographierende Subjekt wie auch das photographierte Objekt zum Verschwinden bringt, sie substituiert,
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Wirklichkeit in eine stets schon reproduzierte, ästhetisierte und damit nach Baudrillard hyperreale Wirklichkeit der Simulation.“ (Klettke 2001: 221)39 Im Rahmen einer Revision der marxistischen Wertetheorie40 beschreibt Baudrillard in seinen soziokulturellen und ideologischen Betrachtungen drei Ordnungen der Simulakren: Baudrillard deutet die Simulakren der dritten Ordnung als unterschieden von der Imitation des Originals wie auch von der seriellen Reproduktion im Hochkapitalismus. In der dritten Ordnung ist das Simulakrum im Verhältnis zu Modellen definiert, ,aus denen alle Formen durch eine leichte Modulation von Differenzen hervorgehen.‘ Daß [sic!] heißt: ,Nur die Zugehörigkeit zum Modell ergibt einen Sinn, nichts mehr
sieht Baudrillard das „Unmoralische“ des Bildes. Im Bereich der zeitgenössischen Photographie spiegelt sich das Simulakrenhafte der mediengeprägten Lebenswelt in Baudrillards eigenen Photographien (siehe Weibel 1999), in Cindy Shermans Untitled Film Stills und vor allem in Nancy Bursons und Keith Cottinghams digitalen Kompositphotos ohne realem Modell. Siehe hierzu Hüsch (2004) und Krüger (2007: 145). Zu nennen ist ferner der Photoband Simulacres (2002) von Anne-Marie Garat und Gilbert Garcin. Auch Sophie Calle spielt mit falschen, photographisch inszenierten Identitäten und Täuschungen (vgl. z.B. Calle 1983 und 1994). Zum Simukralen in der Photographie siehe auch Krauss (1998a: 210-223). 39 Baudrillard (1976: 111-112) beschreibt das Hyperreale folgendermaßen: „C’est aussi l’effondrement de la réalité dans l’hyperréalisme, dans la réduplication minutieuse du réel, de préférence à partir d’un autre medium reproductif – publicité, photo, etc. – de medium en medium le réel se volatise, il devient allégogie de la mort, mais il se renforce aussi par sa destruction même, il devient réel pour le réel, fétichisme de l’objet perdu – non plus objet de repésentation, mais extase de dénégation et de sa propre extermination rituelle: hyperréel.“ Die beschleunigte Reproduktion von Bildern führt dazu, dass der Rezipient nicht mehr zwischen Massenbild und unmittelbarer, authentischer Realität zu differenzieren vermag, mehr noch – die Realität scheint hinter ihnen zu verschwinden: „In this sense, images have no finality, they are no more than object-fetiches that, far from representing any reality, reproduce only more images. Images, then, become more real than the real and operate within their own logic, thus leaving behind the world of signification and propelling bodies into a hyperspace where they lose all meaning.“ (Wilkerson-Barker 2003: 94) Eine der Konsequenzen sei, so Baudrillard (1981: 36), die Unmöglichkeit zur Illusionsbildung, denn das Verschwinden des Referenten lässt die Illusion, den Schein zum pseudo- oder eben hyperrealen werden: „Du même ordre que l’impossibilité de retrouver un niveau absolu du réel est l’impossibilité de mettre en scène l’illusion. L’illusion n’est plus possible, parce que le réel n’est plus possible.“ 40 Baudrillard geht von der These aus, dass Dinge und Zeichen ihre Funktion und somit ihren Gebrauchswert zu Gunsten des reinen Tauschwertes eingebüßt haben.
130 | E RSTER T EIL : THEORETISCHE GRUNDLAGEN geht einem Ziel entsprechend vor, alles geht aus dem Modell hervor, dem ReferenzSignifikanten, auf den sich alles bezieht, der eine Art vorweggenommener Finalität und die einzige Wahrscheinlichkeit hat.‘ (Amelunxen 1995a: o. S.; Herv. i. O.)
Folglich muss jede Ästhetik, jeder ideologische Wert der im Mittelpunkt der Realität stehenden Künstlichkeit weichen. Wie realistisch die Simulakren auch wirken mögen, sie simulieren Realitätseffekte doch immer nur mit Hilfe von Modellen und Kodes und machen sie auf diese Weise operationalisierbar. Als ambivalenter Bildtyp enthält das Simulakrum sowohl eine Komponente der Vortäuschung (Simulation) als auch eine des Trugbildes (Dissimulation), ergänzt wird dies zudem noch durch die Funktion der Negation, d.h. die der referenzlosen Dissimulation.41 Lachmann (1990: 31; Herv. i. O.) fasst dies wie folgt zusammen: „In der simulatio tritt das Simulakrum in seiner Ambivalenzfigur zutage. [...] Mehr noch: als anderes verläßt das Simulakrum die Zeichenordnung, wird zum absoluten Signifikanten, der auf nichts mehr referiert.“
2.3 D AS W ECHSELSPIEL VON W AHRNEHMUNG UND V ORSTELLUNG IN P HOTOGRAPHIE UND L ITERATUR In diesem Kapitel geht es darum, die medialen Differenzen der Rezeptionsvorgänge bezüglich der Bewusstseinsaktivitäten von Wahrnehmung und Vorstellung näher darzustellen.42 Im Falle eines real vorliegenden Bildes handelt es sich um einen Wahrnehmungsakt, bei dem das Abgebildete mit denselben Erkennungskodes wahrgenommen wird wie die umgebende und unmittelbar erlebte Realität, allerdings wird nur die Photographie als solche inklusive der Betrachtungsdauer als Gegenstand der Realität frei und selbst gesteuert wahrgenommen. Der Inhalt der Photographie hingegen kann nur als Wahrnehmung einer fremden, bereits abgeschlossenen Wirklichkeitswahrnehmung erfolgen, denn Fixierungsauswahl bezüglich des Gegenstandes, Blickperspektive, Eingrenzung und Ausrichtung des Blickfeldes sowie dessen Ausgestaltung sind bereits festgelegt. Das Photo ist also „kein Medium natürlicher Wahrnehmung, sondern eines, das [erst; M.O.H.] von der Kultur als ,natürlich‘ institutionalisiert wird.“ (Bickenbach 2005: 179; Herv. i. O.) Das Vorstellungsbild eines Photos entsteht erst im Nachhinein beim Erin-
41 Vgl. auch die Ausführungen von Spielmann (1998: 125-127). 42 Eine gut lesbare Einführung in die gegenwärtigen neuropsychologischen Modelle bzw. neurophysiologischen Erkenntnisse zur visuellen Wahrnehmung finden sich bei Zschocke (2006: 47-59). Zum Zusammenhang von Rezeptionsprozessen und gesellschaftlichem Habitus im Sinne Bourdieus siehe Michel (2006).
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nerungsakt.43 Dabei wird das Abgebildete im Vorstellungsbewusstsein nicht völlig frei generiert, sondern wird als optischer Wahrnehmungsreiz konkret vorgegeben. Dies bedeutet allerdings keinesfalls, dass der Betrachter beim Dekodierungsprozess passiv bleibt: „Wir sehen, aber wir schauen nicht, wir registrieren, doch wir erkennen nicht, wir nehmen auf – aber nicht wahr.“ (Schnell 2000: 13) Denn der rein mechanische Sehvorgang, d.h. die physikalische Reizaufnahme über die Netzhaut allein bringt noch kein Verständnis des sensorisch enkodierten und neuronal umgesetzten Reizes. Hierin liegt auch der entscheidende Unterschied „zwischen der selektiven wie konstruktiven Dynamik visueller Wahrnehmung und der ausschließlich perzeptiven Statik photographischer Aufzeichnungsverfahren.“ (Mergenthaler 2002: 387) Diese Differenz wurde allerdings selbst in der Ophtamologie lange nicht anerkannt und so erklärt sich auch, dass die Auffassung, die Optik des menschlichen Auges sei ein dominant rezeptiver Sehvorgang bis weit in das 19. Jahrhundert vertreten wurde (vgl. ebd.).44 Heute weiß man jedoch, dass Wahrnehmung über den Vergleich und die Verifikation der neuen Information mit bereits Bekanntem erfolgt. Daraus folgt, dass nur die registrierten Reize auch tatsächlich verarbeitet werden, die zugeordnet werden können. Folglich ist der Seh- und Wahrnehmungsprozess insofern zugleich immer auch schon Interpretation. Das Vorwissen spielt beim Abtastungsvorgang zur Identifikation eines visuellen Reizes also eine entscheidende Rolle. Die konkrete strukturelle Merkmalskombination braucht noch nicht bereits als Wissenseinheit (Proposition) vorhanden sein, muss sich aber aus Vorwissenseinheiten generieren lassen. Zwar geht man in der Psychoneurophysiologie heute davon aus, dass visuelles Wissen in Form von gespeicherten mentalen Bildern existiert, doch entsprechen diesen Wissenseinheiten immer auch verbal kodierte Wissenspropositionen. In Maurice Merleau-Pontys posthum veröffentlichem Le visible et l’invisible (1964b) nimmt die Struktur des Chiasmus zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem eine zentrale Stellung bei seiner Reflexion über die aisthesis, die sinnliche Wahrnehmung, und die (Un-) Mittelbarkeit des Sehens ein. Für ihn gilt die Wahrheit der Wahrnehmung nur in der Gegenwart, in dem also, was sich dem Betrachter hier und jetzt unmittelbar zeigt. Da das Wesen einer Sache in einem Moment der Gegenwart jedoch nie vollständig zu Tage tritt, die Präsenz folglich stets einen gewissen Anteil der Absenz einschließt, kann die Wahrheit der Wahrnehmung immer nur relativ bzw. perspektivisch sein. Beim sprachlichen Ausdruck des Wahrgenomme43 Das perzeptuelle Bild befindet sich in Mitchells „Genealogie“ der Bilder in einem Grenzgebiet, „auf dem Physiologen, Neurologen, Psychologen, Kunsthistoriker und solche, die sich mit der Optik befassen, mit Philosophen und Literaturwissenschaftlern gemeinsam arbeiten.“ (Mitchell 1990: 20) 44 Vgl. hierzu auch Busch (1995). Solange dies die vorherrschende Meinung darstellte, war die Metapher, das menschliche Auge sei ein Photoapparat, noch adäquat.
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nen erfolgt dann eine Verkreuzung mit dem Imaginären, so dass man immer mehr sagt, als man tatsächlich sieht. Merleau-Pontys Überlegungen zur visuellen Wahrnehmung lassen sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Sehen ist vielmehr ein schöpferischer Akt, eine poetische Leistung unseres Auges. Die cartesianische Arbeitsteilung zwischen Auge (Kamera) und Intellekt (das Geistige hinter der Kamera) wird abgelöst von der produktiven Tätigkeit des Auges. Wahrnehmung ist nicht einfach ein Zeitpunkt, an dem das Wahrgenommene (die Dinge, der Andere) mit dem Wahrnehmenden zusammenfällt, ist nicht zeitliches Zusammentreffen der Dinge mit einem Subjekt. Diese Sichtweise bedeutet eine Abkehr vom Konzept des Sehens als Hilfsapparat für das Denken: Sehen ist – ähnlich der Sprache – Ausreifung einer Anschauung. (Stemmler 2008: 52-53)
Indem Merleau-Ponty Sehen als aktiven, komplexen Wahrnehmungsvorgang, als „maturation d’une vision“ (1964a: 18), versteht, weist sein phänomenologischer Ansatz bereits gewisse Parallelen zu neueren Erkenntnissen der Wahrnehmungstheorie auf. Zurück zur Bildperzeption. Man geht davon aus, dass bei dieser eine Transkodierung identifizierbarer Signifikate des Bildes erfolgt: „Diese projektive Strukturierung geht von wahrgenommenen Merkmalen des Bildes aus, sucht wissens- und sprachbedingte Beschreibungskategorien als mögliche Signifikate [...] und zerlegt das Bildkontinuum in Abhängigkeit von diesen Signifikaten in Signifikanten.“ (Titzmann 1990: 378) So vollzieht sich bei der begrifflichen Erfassung eine weitere wesentliche Reduktion der abgebildeten Realität: „Wie das photographische Bild nur das Dargestellte als ein Vergangenes, als einen Verlust bedeuten kann, so bedeutet die sprachliche Übersetzung nur ihr eigenes ,Verfehlen‘ dem Original gegenüber.“ (Amelunxen 1995b: 221; Herv. i. O.) Kurzum, es verbinden sich stets tatsächlich rezipierte Elemente mit Assoziationen, Konnotationen, Stereotypen und selbst generierten Deutungsversuchen. In seinen Bemerkungen über die Farben beschreibt Wittgenstein diesen Rezeptionsmechanismus in Bezug auf die Semantisierung der „Farbigkeit“ der Grauwerte in Schwarzweißphotographien: Ich sehe auf einer (nicht färbigen) Photographie einen Mann mit dunklem Haar und einen Buben mit glatt zurückgekämmtem blonden Haar vor einer Drehbank stehen […] Sehe ich wirklich die Haare des Jungen auf der Photographie blond?! – Seh ich sie grau? Schließe ich nur, daß, was auf dem Bild so ausschaut, in Wirklichkeit blond sein muß? In einem Sinne sehe ich sie blond, in einem andern heller und dunkler grau. [...] So würde ich die Photographie beschreiben, und wenn einer sagte, das beschreibe sie nicht, sondern die Objekte, die wahrscheinlich photographiert wurden, so könnte ich nur sagen, das Bild sieht so aus als wären die Haare von dieser Farbe gewesen. (Wittgenstein 1979: 25 und 109-110; Herv. i. O.).
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Im Vergleich zu anderen visuell vermittelnden Medien „ist erkennbar, dass durch diesen Kommunikationsträger dem Rezipienten die deutlich weitestgehenden Initiativen der Bearbeitung durch autokreative Involvierung offengelassen werden.“ (Domisch 1991: 26) Bei der perzeptiv-mentalen Beund Verarbeitung von Photographien stehen grundsätzlich zwei Varianten offen, die einander allerdings bedingen und selten isoliert auftreten. Zum einen ist der Mensch von einer Vielzahl bestimmter kulturell konventionalisierter Bildzeichen geprägt, die automatisch mit einer festgelegten symbolischen Interpretation verbunden und „gelesen“ werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, Bildobjekte mit persönlichen Assoziationen und individuell geprägten mentalen Bildern der Vorstellungswelt zu verbinden bzw. die konventionalisierte Interpretation um diese zu erweitern oder sie zu modifizieren. Von der stimulierenden Photographie ausgehend wird dann eine Serie privater, zusammengefügter, autarker Bildfragmente gebildet, die zu einem mentalen bzw. fiktiven Gesamtbild verschmelzen oder eine Kette fiktiver Bildblöcke erzeugen, damit narrative Qualität erhalten und Ähnlichkeit mit Sprachbildern aufweisen.45 „Die einzige Zeit, die die Photographie enthält, ist der isolierte Augenblick dessen, was sie zeigt“ (Berger 1984a: 95) – nun stellt jedoch Aron Kibédi Varga in Anlehnung an Gombrich ganz richtig fest, dass Augenblicke nie isolierbar, sondern immer „Teile einer länger währenden mentalen Perzeption“ (1990a: 357) sind. Daher, so folgert er, führt die punctumtemporis-Theorie geradewegs zu Zenons Traum von einem paradoxen Bild eines in voller Bewegung erstarrten Gegenstandes.46 Ein Sachverhalt, den indes auch schon Merleau-Ponty (1964a: 78) im Zusammenhang mit der Photographie erkannt und thematisiert hatte: […] les vues instantanées, les attitudes instables pétrifient le mouvement – comme le montrent tant de photographies où l’athlèthe est à jamais figé. On ne le délègerait pas en multipliant les vues. Les photographies de Marey […] ne bougent pas: elles donnent une rêverie zénonienne sur le mouvement. On voit un corps rigide comme une amure qui fait jouer ses ses articulations, il est ici et il est là, magiquement, mais il ne va pas d’ici à là.
Anders formuliert bedeutet dies, dass nicht nur der Verstehensprozess eines Sprachtextes auf einem zurück- und vorausdeutenden Gedächtnisprozess beruht und damit in der Zeit erfolgt, sondern auch der eines statischen 45 Siehe hierzu auch Domisch (1991: 27). Trotz aller Differenzen gilt medienunabhängig, dass die Abstufungen unterschiedlicher Rezipientenanforderung hauptsächlich von der strukturellen Beschaffenheit und durch das Vorwissen des Rezipienten abhängig sind. Burgin (1982: 144) beschreibt die Rezeption von Photographien daher als individuellen Prozess komplexer „intertextueller“ Sinnkonstruktion. 46 Vgl. auch Gombrich (1964: 296-297).
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Bildes.47 Auch wenn es nach der Lessingschen Tradition unmöglich erscheint, die zeitliche Kategorie der Sprachkunst auf eine Raumkunst wie die Photographie anzuwenden, scheint die Erfahrung etwas anderes zu beweisen, denn „[…] it is far from true that all snapshots look frozen to us.“ (Gombrich 1964: 296)48 In ihrer beredten Stummheit „erzählen“ Photographien durch das Zeigen von bruchstückhaften Miniaturen einen sequenziellen Teil von Handlung(en) (vgl. Geschke 2010: 176). Unterstützt wird dieser Eindruck von der Tatsache, dass dem an für sich statischen photographischen Bild indirekt auch Bewegungen eingeschrieben sein können: Gewisse Körperhaltungen – die Photopsychologie spricht von „Intentionsposen“ (Schuster 1996: 130) – lassen etwa Bewegungsabläufe assoziieren und kompositorische Proportionsungleichgewichte können beim Betrachter Veränderungserwartungen evozieren (vgl. Hickethier 2001: 50). Es stellt sich, so könnte man sagen, ein „Bewegungseffekt“ ein, der freilich nur auf einer Illusion basiert „[…] there are instantaneous photographs which do give us the perfect illusion of a coherent action.“ (Gombrich 1964: 297) Dass es selbst einem Medium statischen Zeigens möglich ist, eine gewisse Form narrativer Dynamik zu entwickeln49 und damit – metaphorisch gesprochen – zu „leben“ zu beginnen, beruht auf der untrennbaren Koppe47 Interessant ist an dieser Stelle, dass Merleau-Ponty mit seiner Argumentation – in Anlehnung an Rodins ablehnenden Vorwurf (Rodin meint die Photographie lüge, da Zeit in Wirklichkeit nicht stillstehe) – der Photographie eigentlich gerade die Zeitlichkeit abzuerkennen beabsichtigt. Stattdessen benennt er jedoch eine ganz wesentliche Zeitdimension, denn „[e]s ist das Offenhalten, das Suspendieren der Sukzession, was dennoch gerade die Dauer nicht ausschließt. Das stillstellende Moment der Arretierung gehört der Belichtungszeit an, die mit der Blitzhaftigkeit des Öffnens und Schließens der Blende den ,Film‘ der linear laufenden Ereignisse reißen läßt. Es öffnet damit eine gleichsam vertikale Potentialität von Zeit, ein In-der-Zeit-außerhalb-der Zeit-Sein der Entwicklung, das nur vor dem Hintergrund chronologischer Abfolge zu Unzeitigem wird.“ (Wetzel 1990: 273; Herv. i. O.). 48 Vgl. auch Amelunxen (1992b: 29). 49 Photographen vertraten schon früh diese Auffassung: „a photo is a literary narrative“, konstatierte Gary Winogrand (zit. nach Barrett 2003: 83) und Walker Evans betonte, dass die Photographie die literarischste aller graphischen Künste sei. Aber auch Photohistoriker wie der französische Georges Potonniée fassten die Photographie als eine „literarische“ Form auf: „[La photographie; M.O.H.] est devenue un procédé littéraire“ (Potonniée zit. nach Olcay 2001: 55-56). Später betrachtete vor allen Gisèle Freund das Medium als „literarische Gattung“ (Olcay 2001: 55). Hinzugefügt sei jedoch, dass Einzelphotos trotz ihres immer wieder hervorgehobenen Narrativitätspotenzials „selbst nicht narrativ im Sinne von geschichtsdarstellend sein [können], sondern bestenfalls Geschichten an Hand einer Plot-Phase andeuten.“ (Wolf 2002b: 73). Zum Narrativitätspotenzial von Photographie und Literatur siehe auch 2. Teil, Kap. 3.2.1.
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lung von Bildwahrnehmung und Vorstellung – mit anderen Worten auf der menschlichen Fähigkeit, photographische Leerstellen imaginativ zu ergänzen.50 Damit, so stellt auch Barthes (1975: 6) fest, eignet sowohl literarischen Texten als auch Photographien etwas Imaginäres.51 Auch die Photographie kann folglich als „Seinsbereich des Imaginären“ (Wetzel 1997: 12; Herv. i. O.) betrachtet werden. Genau genommen evozieren die statischen Photozeichen jedoch lediglich das Imaginäre. Während sie in der Vorstellung des Betrachters ein beschränktes Maß an Zeitlichkeit erhalten, verbleiben die Zeichen an sich statisch. Ein erneuter Blick auf das unverändert immobile Bild ruft dann, so Barthes (1980: 140-141), das schmerzlich empfundene Gefühl des Abwesenden nur umso stärker hervor. „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben“, so 50 Der menschliche Wahrnehmungssynkretismus, d.h. der Mechanismus der synästhetischen Polysensibilität ermöglicht aufgrund seines kompensatorischen Potenzials (mittels des Prinzips der Ergänzung und des Ersatzes) die Absicherung von Kommunikationsprozessen; er ist aber auch die Voraussetzung zeichenhaften Umgangs mit der Wirklichkeit und damit auch der Kunst. Laut Kloepfer (vgl. 1988: 76) wiederholt sich das kompensatorische Vermögen auf semiotischer Ebene in dem Phänomen der Polysemiosis. Vgl. hierzu Geschke (2010). Auch Kibédi Varga hebt das absolute bzw. partiell verdeckte, kreative Wechsel- und Zusammenspiel der Sinne bei den Wahrnehmungsprozessen des Sehens und Lesens hervor, das im Sinne einer ars combinatoria (inter-)medialer Literaturrezeption auch als „Intermediale Synästhesie“ bezeichnet werden kann (vgl. Mecke/Roloff 1999: 13-14). Mit Bezug auf filmische Referenzen im Text vgl. auch Poppe (2007: 23-30). Zur Differenzierung der Begriffe ,Intermedialität‘ und ,Synästhesie‘ vgl. Rieger (2008). 51 Im Zusammenhang mit den immer neuen Möglichkeiten der Digitalphotographie untersucht die gegenwärtige Medientheorie verstärkt die Verzahnung von Medialität und Imaginärem. Michel Foucault, der sich nur sporadisch mit der Photographie auseinandersetzt, hebt die funktionale Neubestimmung der Photographie in der zeitgenössischen Kunstphotographie am Beispiel der Photographien von Duane Michals hervor. Die aktuelle Photographie bildet nicht mehr zwangsläufig das Sichtbare ab, sondern sucht gerade im Gegenteil vielfach das Imaginäre und Traumhafte photographisch zu zeigen: „das Objektiv [lässt] das Sichtbare immer wieder entkommen, während das Unsichtbare in ungehöriger Weise auftaucht, vorübergeht und seine Spur auf dem Film zurücklässt.“ (Foucault 2005: 297) Kittler (1986: 22) merkt diesbezüglich an: „Eine Reproduktion, die der Gegenstand selber beglaubigt, ist von physikalischer Genauigkeit. Sie betrifft das Reale von Körpern, wie sie mit aller Notwendigkeit durch alle symbolischen Gitter fallen. Medien liefern immer schon Gespenstererscheinungen. Denn für Reales ist, nach Lacan, noch das Wort Leiche ein Euphemismus.“ Eine medienanthropologische Diskussion der Beziehung von Medialem und Imaginärem liefert Pfeiffer (1999).
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Lessing (1987: 23) zur Übertragung eines pikturalen in einen pysiologisch erfahrbaren Augenblick – in vergleichbarer Weise versucht die Transponierung eines wahrgenommenen Photos in den sprachlichen Zeichenkode, den in seiner Unvollendetheit zur Vergangenheit gewordenen Moment durch dessen „Wiederholung“ erneut zu vergegenwärtigen: „Diese Zeit aber wiederzuholen bedeutet der Gestus, die Bewegung des Schreibens, das sich mit seinem Gegenstand unvereint weiß und in dem Versprechen, das Gemeinte in die Sprache zu holen, diese unübersetzbare Differenz immer wieder aufs neue markiert.“ (Amelunxen 1995b: 216-217) Beim literarischen Text wird allein das materiell Gegenständliche, also das Buch, die bedruckte Seite, das Schriftbild, kurzum die Textoberfläche über die Sinnesorgane wahrgenommen und abgetastet. Die Bedeutung der linear angeordneten symbolischen Schriftzeichen, der Signifikanten wird hingegen erst in ihrem Zusammenwirken durch die „Übersetzung“ der textuellen Sprachbilder in mentale Bilder erschlossen. Beim Lesevorgang schwenkt der linear fortlaufende Blick des Rezipienten von Signifikant zu Signifikant, von Vorstellungsbild zu Vorstellungsbild. Aus dem verbal kodierten Bild eines Textes entsteht also erst im Kopf des Lesers ein mehr oder minder individuelles „visuelles“ Vorstellungsbild, wobei inner- und außertextuelle52 Informationseinheiten wie auch beim Wahrnehmungsprozess miteinander verschmelzen. An diesem Punkt setzen Theorien der leserorientierten Wirkungs- und Rezeptionsästhetik an.53 In den unterschiedlichen Ansätzen dieser Ausrichtung wird der Rolle aktiver Leserbeteiligung am Verstehensprozess eine wesentliche Bedeutung beigemessen. Generell wird von einem bestimmten Erwartungshorizont des Lesers ausgegangen, der von den jeweils gültigen, gesellschaftlichen und literarischen Normen und Konventionen sowie vom individuellen Vorwissen des Rezipenten beeinflusst wird. Beim Leseprozess, so wird angenommen, leiten sich die jeweils gebildeten Vorstellungsbilder sowie die Interpretation bestimmter Zeichensysteme dann von der entsprechenden Erwartungshaltung ab. Immer dann, wenn die Aufmerksamkeit durch Deautomatisierungsverfahren auf das sprachliche Zeichen an sich gelenkt wird, tritt die poetische Funktion sprachlicher
52 Hiermit sind – wie bei den Vorstellungsbildern der Bildrezeption – Vorerfahrungen, Assoziationen und Stereotype gemeint. 53 In der affektiven Stilistik Stanley Fishs, die durchaus provokant gemeint und in der Literaturtheorie nicht unumstritten ist, erhält der aktive und informierte Leser eine herausragende Stellung, ja er wird sogar zum entscheidenden Faktor bei der Sinnkonstruktion eines Textes überhaupt. Denn laut Fish weist jeder Leser – als Mitglied einer bestimmten „Interpretationsgesellschaft“ – den Text-/Bildzeichen gemäß der für ihn geltenden Bedeutungskonventionen einen bestimmten Sinngehalt zu. Die wahrgenommenen Zeichen lösen also nur bestimmte Leserreaktionen aus, tragen selbst aber keine objektiv gültige Bedeutung – jeder Leser generiert demnach seinen eigenen Text (vgl. Antor 2001: 184-185).
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Kommunikation ein.54 Konkret in Bezug auf die Evokation visueller Vorstellungsbilder durch den Sprachtext spricht Caraion (2003: 161) von der Bedeutung der rhetorischen Figur der Hypotypose:55 „L’hypotypose requiert la bonne volonté du lecteur: celui-ci doit accepter le rôle de spectateur enthousiaste que l’auteur lui attribue, et se persuader de voir alors qu’il lit. L’hypotypose n’est efficace que lorsque le lecteur se l’approprie, c’est en quelque sorte une figure de réception.“ Trotz ihrer unterschiedlichen Vorgehensweisen beschäftigen sich Autoren wie Roman Ingarden, Wolfgang Iser aber auch schon Jean-Paul Sartre in ihren phänomenolgischen Analyseversuchen mit dem Lese- und Rezeptionsprozess und heben dabei die herausragende Rolle des Vorstellungsvorgangs und damit die Interaktion von Leser und Text hervor. Laut Ingarden, der seinen Schwerpunkt stärker auf die Struktur des literarischen Textes setzt als etwa Iser, führt die Eigenart sprachlicher Zeichen, die darzustellenden Objekte der Wirklichkeit nie in lückenloser Anschaulichkeit zu repräsentieren, zwangsläufig zu unvollständigen und selektiven Schematisierungen. Wie bereits angedeutet weist ein literarisches Werk folglich zahlreiche „Unbestimmtheitsstellen“ auf, die der Rezipient in seiner Imagination selbst konkretisieren muss. Insofern vollzieht sich die Textwahrnehmung als eine Art Wahrnehmungsillusion in analoger Weise, nämlich sprunghaft auftretend, zur Wirklichkeitswahrnehmung (vgl. Ingarden 1968: 55-63). Bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen betont Iser hingegen in Der Akt des Lesens (1976), dass beim Lesevorgang wohl weniger optisch konkrete Vorstellungsbilder generiert werden, als schemenhafte mentale Bilder, um die – wie er sagt – Leerstellen des Textes auszufüllen. Und gerade hierin liegt für Iser, der auf Sartres Theorie der Einbildungskraft rekurriert, die besondere Wirkung und Andersartigkeit textuell evozierter Vorstellungsbilder:
54 Aufgrund der Automatisierung der Lesefertigkeit durch die so genannte Wissenskompilation wird im Allgemeinen nicht jeder Einzelbuchstabe erfasst; stattdessen fixiert das Auge ganze Wort- bzw. Sinneinheiten. Wahrnehmung und Dekodierung der einzelnen Graphemketten bzw. sogar ganzer Syntagmen erfolgt zeitgleich und läuft automatisiert und unbewusst ab. Das Auge springt dabei ruckartig von einem zum nächsten Fixationspunkt. Zwischen diesen liegen die so genannten Saccaden, minimale Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen der Augen. Der kontinuierliche Verlauf des Lesevorgangs erfolgt also diskontinuierlich und auch die Abfolge der einzelnen Fixationen entspricht nicht immer der Textfolge. Damit bestätigt die kognitive Leseforschung zumindest teilweise die rezeptionsästhetischen Theorien der russischen Formalisten (vgl. Groß 1990: 237). Gemäß Viktor Šklovskijs Deviationspoetik beruht die Poetizität literarischer Texte gerade auf Deautomatisierungsverfahren (vgl. Erlich 1973: 210). 55 Vgl. hierzu auch Spieker (2008: 90-91).
138 | E RSTER T EIL : THEORETISCHE GRUNDLAGEN Das Bildersehen der Einbildungskraft ist folglich […] kein optisches Sehen im eigentlichen Sinne, sondern gerade der Versuch, sich das vorzustellen, was man als solches niemals sehen kann. Der eigentümliche Charakter solcher Bilder besteht darin, daß in ihnen Ansichten zur Erscheinung kommen, die sich im unmittelbaren Wahrnehmen des Gegenstandes nicht hätten einstellen können. So setzt das Bildersehen die faktische Abwesenheit dessen voraus, was in den Bildern zur Anschauung gelangt. (Iser 1994: 222)
Damit gelangt Iser wie schon Sartre in L’imaginaire (1940) zu der fundamentalen Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung als zwei grundsätzlichen Haltungen des Bewusstseins (vgl. 1967: 110-114). Während sich das Bild der Wahrnehmung, das image-signe bei Sartre, auf real gesehene, materiell präsente Personen und Gegenstände bezieht, fehlt dem Bild der Vorstellung dieser natürliche und unmittelbare Bezug zur realen Welt. Vielmehr bezieht sich Sartres image mentale auf irreale, nicht präsente und möglicherweise immaterielle „Pseudo-Referenten“, die der Vorstellung des Autors entsprungen und von ihm in sprachlichen Ausdruck „übersetzt“ wurden, um dann vom Leser erneut in mentale Bilder übertragen zu werden. Im Gegensatz zu Ingarden und Iser, die annehmen, das sich die Vorstellungsbilder simultan zum Lesprozess einstellen (vgl. Ingarden 1968: 100 und Iser 1994: 219-225), ist Sartre überzeugt, dass Bildvorstellungen zwar einen notwendigen Bestandteil des Lektürevorgangs darstellen, dass bei einem konzentrierten, intensiven Lesevorgang jedoch kaum Vorstellungsbilder generiert werden. Diese entstehen, so behauptet er, erst durch die Erinnerung an das Gelesene, d.h. an die bedeutungsmäßig dekodierten Zeichen und stellen sich somit überhaupt erst bei einer Unterbrechung des Lektüreprozesses ein (Sartre 1967: 156-158, 229-230). Wenngleich Sartres Argumentation nicht grundsätzlich abzustreiten ist, so bleibt doch zu betonen, dass der Gesamtkomplex von Lesen und Verarbeiten letztlich zu vielschichtig ist, um diesen Prozess auf definitive und allgemein gültige Aussagen herunterzubrechen. Abschließend kann festgehalten werden, dass es sich sowohl beim Wahrnehmungs- als auch beim Vorstellungsprozess um aktive, kognitive Vorgänge handelt, und dass bei der Rezeption von Photographien und literarischen Texten Prozesse der Wahrnehmung und Vorstellung erfolgen. In beiden Fällen wird der Rezipient also „gefordert“. Das jeweilige Ausmaß der Rezipientenbeteiligung ist dabei beim literarischen Werk allerdings größer als bei der Photographie. Während bei der Rezeption eines Photos der Wahrnehmungsakt gegenüber dem der Vorstellung dominant ist, überwiegt bei der Lektüre die Hervorbringung von Vorstellungsbildern. Damit weisen die beiden Medien diesbezüglich zwar einige Gemeinsamkeiten auf, tendenziell überwiegen jedoch auch hier die Unterschiede.
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2.4 D IE R AUM -Z EIT -D IMENSION Nicht das figurativ Bildhafte, die photographische Ikonographie, bestimmt […] das Verhältnis von Photographie und Literatur, sondern der dem Medium Photographie technisch bzw. pysikalisch-optisch inhärente Bezug zu der Zeit – sein indexikalischer Bezug zum Zeit-Punkt des Referenten. Jede vergleichende Annäherung an diese beiden Medien wird sich die Zeit zum Gegenstand machen müssen. (Amelunxen 1995b: 213)
Um Amelunxens richtiger Feststellung Rechnung zu tragen, fasst dieses Kapitel unter Berücksichtigung der größtenteils bereits in einem allgemeineren Rahmen vorgestellten phototheoretischen Überlegungen zu den Dimensionen Raum und Zeit in Photographie und Literatur zusammen, wobei insbesondere den „Zeit(-räum-)en“ der Photographie nachgegangen wird. Daneben erscheint es – insbesondere im Hinblick auf die im dritten Teil angestellten Überlegungen zum photographischen Schreiben in den auto- und dokufiktionalen Erzähltexten Patrick Devilles – hilfreich, einige Aspekte von Ricœurs Auseinandersetzung mit dem Themen Zeit, Gedächtnis und Erinnerung aufzugreifen und nach der Übertragbarkeit auf die Photographie zu fragen.56 2.4.1 Photo-Zeit(en) und photographische Zeit Ob man nun mit Kant (1998) davon ausgeht, dass alle äußeren Erscheinungen a priori nach den Verhältnissen im Raum bestimmt sind und daher immer auch a priori in den Verhältnissen der Zeit stehen, Raum und Zeit damit also allein Formen subjektiver Anschauung sind, oder ob man Raum und Zeit im Sinne der Einsteinschen Relativitätstheorie als Eigenschaften der Dinge bzw. als Strukturmerkmale von Materie und Energieverhältnissen be56 Die paradoxe Zeitstruktur des Photos stellt eine der Facetten des Mediums dar, die literarische Werke vielfach aufgreifen und durch die Inbezugsetzung zur literarischen Darstellung und Problematisierung von Zeit(lichkeit) einen spannenden Wirkungszusammenhang herstellen. Die Verwendung der Photographie als Motiv und materiell mitgelieferter, integraler Textbestandteil gehört nicht erst seit Barthes zu einem wesentlichen Bestandteil eines Großteils von autobiographischen bzw. autofiktionalen „Gedächtnisromanen“ (Erll 2003), siehe hierzu z.B. Roche (2009). Einen Überblick über Funktion und Gebrauch der Photographie als individuelles und kollektives Gedächtnis- und Erinnerungsmedium liefert Holm (2010). Das Zusammenspiel von Photographie und autobiographischer Literatur untersuchen u.a. Blazejewski (2002) und Kawashima (2011). Die wohl umfassendste Untersuchung wechselseitiger Beeinflussung von Photographien und der (Re-)Konstruktion individueller und kollektiver Erinnerung liefert Hirsch (1997). Zur literarischen Funktionaliserung der Photographie in deutschen Erinnerungsromanen siehe Horstkotte (2009).
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trachtet,57 so sind Raum und Zeit in beiden Fällen als Aprioris der Photographie anzusehen. Die Dimensionen von Raum und Zeit zählen aber nicht nur zu den wesentlichsten, sondern auch zu den spannendsten und zugleich schwierigsten definitorischen Kategorien des Mediums. Betrachtet man nur den materiellen Abzug eines Photos, so ist eine Aussage wie „[d]ie einzige Zeit, die eine Photographie enthält, ist der isolierte Augenblick dessen, was sie zeigt“ (Berger 1984a: 95) zwar prinzipiell richtig, greift aber im Bezug auf den Gesamtkomplex der Photographie viel zu kurz. Dies liegt vor allem daran, dass das photographische Dispositiv eine mitunter paradoxe, äußerst komplizierte und vielschichtige Zeitlichkeit aufweist, die sich auch nie ohne das Konzept des Räumlichen denken lässt. Ein Photo ist nie das Resultat allein eines einzigen Zeitvektors:58 Es enthält neben dem historischen Zeitpunkt, zu dem es entstanden ist, die Mikround Makrobewegungen des dargestellten Anblicks, den Abdruck der Geschwindigkeit des zur Belichtung dienenden Lichtes, die in der Emulsion des Negativs vor sich gehenden chemischen Veränderungen, die Dauer der Entwicklung des vom Negativ angefertigten Positivs sowie die Zeit des jeweiligen Betrachters, wobei neben der Retina-, Nerven- und Bewußtseinsfunktion auch die zur Abtastung benötigten Mikrobewegungen der Augen einkalkuliert werden müssen (von der Alterung des Materials des Photos erst gar nicht zu reden). (Beke 1992: 23)
Aufgrund der dynamisch-prozessualen Genese und Rezeption der Zeichen ist von einer triadischen Raum- und Zeitstruktur des photographischen Abzugs auszugehen. Im Wesentlichen kann zwischen den Kategorien Raum/Zeit des abgebildeten Objektes,59 Raum/Zeit der Belichtung und Entwicklung sowie Raum/Zeit der Rezeption unterschieden werden. Jede der drei genannten Raum/Zeit-Ebenen muss weiter spezifiziert werden, weisen sie doch bezüglich der Grundkategorien Dauer, Frequenz und Homo- bzw. Heterogenität des Raumes verschiedene Merkmale auf. Abgesehen vom Aufnahmezeitpunkt an einem bestimmten Ort, handelt es sich jeweils um mehr oder weniger lange Zeitspannen, die in unterschiedlich großen Zeitabständen und an geographisch beliebig weit auseinander 57 Es gilt anzumerken, dass die Relativitätstheorie die Vorstellung eines kontinuierlich verfließenden Raum-Zeitkontinuums stark erschütterte und – spätestens in der Postmoderne – von der Annahme einer diskontinuierlichen, aus Sprüngen und Schnitten bestehenden Zeitlichkeit abgelöst wurde. 58 Darauf weist auch Wetzel (1990: 268) hin: „[d]ie Zeitlichkeit der Photographie muß […] immer aus dem Gesamtprozeß ihrer Entstehung heraus begriffen werden, also als Verschränkung der Zeit der Belichtung und der Zeit der Entwicklung.“ 59 Eine Differenzierung zwischen photographiertem Gegenstand und photographierter Person erscheint an dieser Stelle nicht notwendig und wird daher zu Gunsten des Begriffs ,Objekt‘ unterlassen.
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liegenden Räumen ablaufen können.60 Eine Photographie zeigt ein materielles Objekt, das sich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort in der physischen Wirklichkeit aufhielt. Es handelt sich also um einen einmaligen Zeitpunkt, der in einer ebenfalls einmalig abgelaufenen Zeitspanne, die unmittelbar vor dem dann auf dem Abzug „sichtbar“ gewordenen Zeitpunkt einsetzt und je nach gewählter Belichtungsdauer im Inneren eines Photoapparates aufgenommen wird.61 Die weiteren Komponenten der „Photo-Zeit“ – also der Entwicklungs- und Bearbeitungsprozess sowie der Rezeptionsprozess – sind, zumindest solange es die Materialität des Negativstreifens (type) bzw. des konkreten Photoabzugs (token) erlauben, unendlich oft wiederholbar. Der technische bzw. photographische Aufschreibeprozess beansprucht selbst schon eine gewisse Zeit, wodurch die Gegenwart aufgeschoben wird und im Bild als vergangen erscheint. Damisch (2004: 80) spricht deshalb 60 Unter Berücksichtigung der Dimensionen Raum und Zeit unterscheidet sich die Photo-Spur, d.h. die photographische Indexikalität, wesentlich vom raum-zeitlichen Näheverhältnis anderer indexikalischer Zeichen wie etwa der Fußspur (vgl. Sonesson 1993: 153-154). 61 Spätestens an dieser Stelle scheint es unablässig, kurz auf die hier verwendeten Begriffe ,Zeitpunkt‘, ,Moment‘ und ,Augenblick‘ einzugehen. Neurophysiologische Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gehirn den Verlauf von drei Sekunden zu einer Einheit komprimiert, die dann als Zeitpunkt, Augenblick bzw. Moment wahrgenommen wird (Großklaus 1995: 15). Auch die Physik zeigt, dass Photographien „nicht Wiedergabe oder Abbildung unabhängig existierender, punktuell gedachter Augenblicke“ (Oeder 1990: 258) sind, „sondern ,Erscheinungsbild‘ von Geschwindigkeitsverhältnissen jeweiliger Aufnahmesituationen. Eine Fotografie – das im Aufnahme-Akt synchronisierte Zusammenspiel von Kamera und Motiv – ist simultane Darstellung von Geschwindigkeiten. Das fotografisch Sichtbare ist das Synchronisierte […]. Dementsprechend nehmen wir mit Fotoapparaten keine Momente auf, sondern exponieren technisch definierte Zeitspannen, die in bestimmten Lichtsituationen jeweilige Objekte verschiedener Geschwindigkeiten sichtbar machen.“ (Ebd.: 255 und 258; Herv. i. O.). Anders formuliert bedeutet dies, dass Photographien immer auch spatialisierte MinimalBewegungen abbilden, die Dimension Zeit stellt also auch aus dieser Perspektive ein Apriori der Photographie dar. Zur verräumlichten Speicherung photographischer Zeit-Zeichen schreibt Virilio (1986: 271-272; Herv. i. O.): „Da jede Bild(auf)nahme (ob mental oder instrumental) auch eine Zeitnahme ist, wie klein sie auch sein mag, hat diese ,Belichtungszeit‘ eine bewußte oder unbewußte Einprägung entsprechend der Geschwindigkeit der Aufnahme zur Folge.“ In Die Sehmaschine (1989) räumt Virilio der Zeitdimension schließlich insofern eine zentrale Stellung ein, als sie das vorphotographische Realitätsprinzip in Form der Belichtungszeit auf die kurze Zeitspanne des direkten (zeiträumlichen) Kontaktes von Bild und Referent reduziert und damit zugleich durch einen nunmehr bloßen Effekt des Realen ersetzt wird (vgl. 1989: 138-139).
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auch von der „Verzögerungs-Momentaufnahme“ und betont die Besonderheit photographischer „Zeitentiefe (in dem Sinne, in dem man von räumlicher Tiefenschärfe spricht)“ (ebd.): Der Moment der Aufnahme selbst ist zum Zeitpunkt seiner Fixierung bereits längst vergangen und wird durch seine indexikalische „Aufhebung“ in dem Trägermaterial ersetzt. Die Bildzeichen des entwickelten Photos präsentieren sich „als geordnete Menge simultan gegebener Elemente“ (Titzmann 1990: 379), die bei dem Rezeptionsprozess prinzipiell simultan und holistisch wahrgenommen werden, selbst wenn es sich von selbst versteht, dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters nicht sofort auf alle Details gleichermaßen richtet (vgl. Nöth 2000a: 481). Nach dem ersten Gesamteindruck erfolgt jedoch – je nach Informationsgehalt der Zeichen und individueller Dispositionen des Rezipienten – eine Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungslenkung, so dass auch Bilder in einem chronologischen, jedoch a-linaren Dekodierungsprozess „gelesen“ werden, die „Leserichtung“ wird dabei allerdings vom Betrachter selbst gewählt. Da der Rezeptionsvorgang von Photographien insgesamt sehr viel schneller erfolgt als der von Sprachzeichen, bezeichnet Monaco Bildzeichen auch als „Kurzschluß-Zeichen“ (2007: 158). Ausgehend von der Zeit der Rezeption entwickelt Berger sein Konzept von der „Länge“ des photographischen Zitates. Er meint damit jedoch keine chronometrische Zeit im Sinne einer Dauer wie beispielsweise der Belichtungszeit, sondern versteht den Begriff vielmehr metaphorisch im Sinne der „Bedeutungstiefe“, die das Photo für einen Betrachter aufweist (vgl. Berger 1984a: 119-122). Mit anderen Worten beschreibt er damit das, was weiter oben als photographische Leerstelle bzw. als das narrative Potenzial einer Photographie bezeichnet wurde. Bezogen auf die Dimension Zeit ist damit die Menge der photographisch vermittelten Informationen gemeint, die den Betrachter in die Lage versetzen, in den stillgelegten Augenblick eine Dauer hineinzulesen, die über diesen hinausführt, und die es ihm ermöglichen, die Aufhebung der Zeit in der Photographie imaginativ rückgängig zu machen, aufzuheben. Berger verdeutlicht dies, indem er die zeitliche Dimension des Photos kreisförmig darstellt:
Abbildung 1: Reichweite und Dichte des Narrativitätspotenzials einer Photographie (nach Berger 1984a: 121)
Je größer der Durchmesser, desto mehr Hypothesen bezüglich der Vor- und Nachzeitigkeit des im Bild arretierten Momentes lassen sich bilden und desto länger wird sich ein Betrachter auch in die photographisch dargestellte „Geschichte“ hineinversetzen können:
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Die Photographie schneidet quer durch die Zeit und zeigt einen Querschnitt der Ereignisse, die sich während dieses Augenblicks entwickelten. […] der Querschnitt erlaubt uns, wenn er weit genug reicht und in Muße beobachtet werden kann, das Miteinanderverbundensein und die beziehungsvolle Gleichzeitigkeit von Ereignissen zu erkennen. Übereinstimmungen, die sich letztlich aus der Einheit der Erscheinungen ableiten lassen, kompensieren das Fehlen der zeitlichen Abfolge. (Ebd.: 120)
Wie bereits gesehen liegt für Barthes die mediale Besonderheit, das Noema der Photographie, in seiner paradoxen Zeitverfasstheit, in dem ça-a-été, d.h. darin, dass das Abgebildete zum Zeitpunkt der Entstehung der Photographie präsent gewesen sein muss (vgl. 1980: 120). Die Photographie sagt also nichts über die Gegenwart aus, d.h. sie sagt nichts darüber, ob das Abgebildete noch existiert oder nicht. Daher weckt der Anblick einer Photographie laut Barthes auch nicht zwangsläufig nostalgische Erinnerungen. Da das sicher Gewesene dem Betrachter aber nicht real greifbar vorliegt, sondern lediglich als fixierter Lichtreflex des Referenten, versteht Barthes die Photographie als „Emanation des Referenten“ (1985: 90): Die photographierte, immortalisierte Gegenwart ist in der photographischen Re-Präsentation abwesend. Wie bereits im Zusammenhang mit Dubois’ Konzept der coupe spatio-temporelle erläutert, ist es gerade jenes Fehlen der Präsenz, der Unmittelbarkeit und der Kontingenz der Echtzeit, welche die Differenz zwischen dem allein im Zeitkontinuum Seienden, real Existierenden und dessen photographischer Reproduktion bildet und diese unweigerlich voneinander trennt.62 Nach Barthes wird dieser Zeit-Raum-Spalt, dieser „Riß im Sein“ (Böhme 1999: 7),63 insbesondere bei der Betrachtung von Photos der eigenen Vergangenheit deutlich. So schreibt er in Roland Barthes par Roland Barthes (1975: 5-6; Herv. i. O.): „[…] je vois la fissure du sujet (cela même dont il ne peut dire rien). Il s’ensuit que la photographie de jeunesse est à la fois très indiscrète (c’est mon corps du dessous qui s’y donne à lire) et très discrète (ce n’est pas de ,moi‘ qu’elle parle).“ Die geradezu „magische“ Bezeugung des Dagewesenen bringt die Photographie für Barthes in ontologische Nähe zum Tod (vgl. 1980: 123124).64 Jede Photographie ist daher „eine Art memento mori“ (Sontag 2006: 22; Herv. i. O.). Der Aspekt der Wiederholbarkeit des Widerspruchs der Vergegenwärtigung des Vergangenen macht deutlich, was Barthes mit der medialen Besonderheit des „Todes“ meint – er spricht vom eidos der Photo62 In der paradoxen Vereinigung der Präsenz des Vergangenen in der Photographie manifestiert sich, was Lacan – in Anlehnung an das von Freud beschriebene „Fort-Da-Spiel“ – als Kluft bzw. als „Nahtstelle“ zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären in der Konstitution des Realen bezeichnet (vgl. Lacan 1978: 125). 63 Das Bild des Zeitrisses findet sich ebenso bei Wetzel (1990: 272-273). 64 Die Nähe von Photographie und Tod betont auch Dubois, der von der Photographie als einer Thanatographie spricht (1982: insbesondere 62-66 und 1983).
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graphie (vgl. 1980: 32) –, die ihm zufolge immer auch etwas mit Auferstehung zu tun hat. In seiner „Ontologie de l’image photographique“ bezeichnet Bazin die photographische Ewigkeitsillusionierung als eines der herausragendsten Potenziale des Mediums, vermag doch allein die Photographie, das Leben für einen Moment lang anzuhalten.65 Allerdings widerspricht diesem sehr positiven, aufgrund von Bazins großer Medienbegeisterung nicht ganz unvoreingenommenen Medienverständnis die bereits früh in der Geschichte der Photographie weit verbreitete Auffassung, dass die Fragmentierung des Zeitflusses und die Herauslösung eines beliebigen Momentes aus dem Vorher und Nachher dem Gedanken zeitlicher Ewigkeit gerade entgegengesetzt ist (vgl. Blazejewski 2002: 69). So stehen letztlich bis heute zwei konträre Ansichten unvereinbar nebeneinander. Folgt man Christian Metz (2000), so treffen paradoxerweise beide Positionen zu: Die Photographie, so Metz, ist ohne Zeitlichkeit – in ihr zeigt sich vielmehr die Stilllegung der Zeit und damit der Bewegung im Raum,66 denn alles Dynamische des ursprünglichen Momentes existiert auf dem Bild lediglich als Fragment, wodurch das Konstrukt Zeit erst in seiner Existenz des Unsichtbaren und Nicht-Seienden erfasst werden kann. Man glaubt einen Moment arretiert und bewahrt zu sehen, doch was man sieht ist nicht Zeit, sondern gerade deren Fehlen, denn das Photo steht für eine Leerstelle, eine Synkope und wird so gleichsam zum Inbegriff eines zeitlosen, a-chronen Mediums. Die Ränder der Photographie betonen dies nur, indem sie unterstreichen, dass es ein Außerhalb des photographisch „stillgelegten“ Momentes gibt: „Die Schnittstellen sind Passagen zu einem Vorher und Nachher, die sich nicht in eine Kontinuität einbinden lassen und die Frage nach der Unsichtbarkeit der Zeit eröffnen.“ (Schade 1993: 288)67 Lyotard (1984: 33) spricht daher auch von einer besonderen Art photographischer Zeitlichkeit, die nicht jene der objektiven Gegenstände ist, sondern die alle Möglichkeiten des Noch-nicht und Nicht-mehr zu einem großen, multiästhetischen Block kondensiert miteinander unverträglich in einer angespannten Schwebe hält.
65 Zur Affinität der Photographie zu Tod und Ewigkeit siehe beispielsweise Santaella Braga (1998) und Wetzel (1990: 273-276). 66 Dies betont auch Barthes (1980: 142): Da sich in der Photographie eine Kreisbewegung vollzieht, d.h. da sie ohne Zukunft ist und unbeweglich von der Darstellung zurück zur Bewahrung fließt, stockt die Zeit in ihr und lässt sie zum Inbegriff der stillgelegten Zeit werden. 67 Ähnlich formuliert es auch Baudrillard (1999a: 176): „Cette instantanéité est tout le contraire de la simultanéité du temps réel. Le flux d’images produites en temps réel, et qui s’évanouissent en temps réel, est indifférent à cette troisième dimension qui est celle du moment. Le flux visuel ne connaît que le changement, et l’image n’a même plus le temps d’y devenir image.“
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Diese temporale Janusköpfigkeit der Photographie,68 die Barthes mit dem Oxymeron „immobilité vive“ (1980: 81) ausdrückt und Derrida als „devenir-passé de ce qui a été présent“ (1968: 60)69 bezeichnet, bringt Amelunxen in seiner ambigen Titelformulierung Die aufgehobene Zeit auf den Punkt. Einen Augenblick immortalisierend isoliert die Photographie einen Moment aus dem Zeitkontinuum und hebt damit die Zeitlichkeit gleichsam auf, denn ohne die Referenzpunkte des Vorhers und Nachhers gibt es keine Zeit. Und dennoch eröffnet gerade die Doppelgesichtigkeit des Mediums ein weiteres Paradoxon, denn jede Photographie „zeigt“ auch Zeit, hebt sie wie ein Souvenir auf. Metaphorisch gesprochen ist die Photo-Zeit eine Zeit der Aufhebung im doppelten Sinne: Der photographische Abzug hebt Zeit durch die archivierende Einschreibung der Zeit-Spur in das Trägermaterial für die Nachwelt auf. Zugleich hebt die Photographie den Zeitfluss auf und ersetzt ihn durch eine – wie Derrida sagt – „Zeit ohne Dichte einer Null-Zeit“ (2000: 284). Die traces photographiques betonen die Bewegungsspuren, welche die Schrift mit dem Sonnenlicht auf dem Trägermaterial hinterließ und verweisen zugleich auf einen fundamental wichtigen Aspekt der Photo-Zeit, nämlich die materialisierte, untrennbare Verschmelzung von Raum und Zeit. Denn Zeit ohne Raum bzw. Raum ohne Zeit zu denken ist im Grunde unmöglich, stellen sie doch zwei aufs Engste miteinander verwobene Ordnungsmuster dar, die letztlich einander bedingen: Wandeln sich die Zeiten, so wandeln sich die Räume, verändern sich Räume, so tun sie dies zwangsläufig in der Zeit. Wie die Uhr die Spatialisierung des Konstrukts Zeit darstellt und dieses so überhaupt erst sichtbar macht, so findet auch in der Photographie eine Verräumlichung der Zeit statt, indem ein räumliches Fragment für die Dauer einer bestimmten Belichtungszeit in seinem linear-chronologischen Wandel festgehalten wird. Somit ist die dargestellte Zeit der 68 Großklaus (2004: 157) sieht in der Janusköpfigkeit der Photographie die Janusköpfigkeit der Zeit per se reproduziert. Die Photographie stellt eine Verbildlichung der normalerweise unsichtbaren Struktur der Zeit dar. Paech (1998: 20) fasst das wechselvolle Zeit-Spiel photographischer Paradoxa folgendermaßen zusammen: „Die Fotografie ist eine Zeitmaschine, deren apparative Verschlußdauer das Paradox der (ontologisch) unmöglichen Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit im fotografischen Moment verzeitlicht (entparadoxiert) und die in der Re-Präsentation des fotografischen Abbilds als unmögliche Vergegenwärtigung des Vergangenen wiederholbar wird.“ 69 Es sei angemerkt, dass Derrida im Originalkontext nicht namentlich von der Photographie spricht, sondern von der Zeitstruktur des Konzeptes der ,trace‘ im Allgemeinen. In seiner Lektüre von La chambre claire geht er explizit auf die Photographie ein und stellt eine Verbindung zwischen Gedächtnis, Tod und Referent her. Für Derrida (1987: 13) bezeugt die paradoxe Zeitlichkeit der Photographiezeichen, dass „[er] bereits in der vollendeten Zukunft und in der vollendeten Vergangenheit [s]einer Photographie gestorben [ist].“
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Photographie eine räumliche Form der Zeit.70 Die Zeitspur selbst jedoch wird im Photo „das Unsichtbare, Diaphane, ,das zu sehen gibt, ohne sich zu zeigen‘, das schlechthin Immateriale ohne Träger und Gegenständlichkeit, das dennoch wirklich ist und sich schreibt auf der Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren.“ (Wetzel 1988: 25; Herv. i. O.) 2.4.2 Literatur-Zeit(en) und die Zeit der Erzählung Die medial begründete Produktions- und Rezeptionszeit der Zeit der Sprache erstreckt sich gemäß Saussures Prinzip des Linearcharakters des Signifikanten linear-chronologisch in der Zeit. Zugleich beansprucht die Abfolge von Phonemen und Graphemen immer auch die Dimension des Raumes. Der linearsukzessiven, visuell vorgegebenen Raum-Zeit-Erstreckung des Mediums Schrift entspricht ein ebenfalls linear-sukzessiver Leseprozess. Die Textlektüre weist somit also kaum Ähnlichkeit mit der simultanen Rezeption der Bildzeichen auf, die sich dem Betrachter auf einer räumlich beschränkten Bildfläche präsentieren. Die Tatsache, dass Literatur ein Medium des raum-zeitlichen Kontinuums ist, stellt eine der Hauptvoraussetzungen für die Entfaltung einer wie auch immer gearteten narrativen Logik dar. Denn Zeit ist das Apriori jeder Bewegung im Raum und damit jedes Handlungsverlaufes (Mecke 1990: 1). Der Linearcharakter der semiotischen Zeitstruktur von Sprache ermöglicht eine Verzahnung von der chronologisch messbaren Rezeptionszeit der Signifikanten (Lesetempo) mit der Zeit „hinter den Zeichen“, also mit der über die Bedeutung der Sprachzeichen vom Leser imaginativ erschlossenen Zeit der Diegese (dargestellte bzw. erzählte Zeit oder Handlungszeit). Im Gegensatz zur Zeitlichkeit der Photographie ist es dem Schriftsteller damit möglich, auch die subjektive Zeiterfahrung einzelner Protagonisten über die ästhetische Zeitdarstellung auszudrücken und so für den Leser „nacherlebbar“ zu machen. Beim Lesebzw. Rezeptionsprozess von narrativen Texten lässt sich folglich eine triadische Zeitstruktur ausmachen, bei dem die Faktoren der zeitlichen Sequenz der Fixation, die Linearität der Textvorlage sowie die inhaltliche Zeitgestaltung zusammenwirken: 70 Auch wenn die meisten Photos tatsächlich nur einen kurzen Moment indexikalisch abbilden, ist es bei längerer Belichtungszeit tatsächlich möglich, eine begrenzte Zeitspanne, eine gewisse Dauer und damit auch Bewegung zu fixieren. Diese manifestiert sich dann auf dem Photo in Form unscharf verschwommener und verzerrter Konturen, welche die Bewegungsspuren sichtbar machen. Verzerrungen und Schärfeneffekte von Linsen und Blenden sowie die von der Verschlusszeit abhängige Bewegungsunschärfe (motion blur) kann so mitunter quasi eine verräumlichte Komprimierung, eine „Teleskopierung“ verschiedener Einzelmomente bedeuten. Der Begriff ,Teleskopierung‘ wird hier unabhängig von seinem Gebrauch in der psychoanalytischen Traumaforschung wie z.B. bei Weigel (1999) verwendet.
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Der Leser übersetzt die in der Heterochronie des Textes aufgehobene und bewahrte Zeit, das Zeitpotential des Textes, zurück in Zeitstrukturen. In der kumulativen visuellen Aufnahme und geistigen Vergegenwärtigung wird die auferlegte Sequentialität des Mediums Schrift teilweise außer Kraft gesetzt. So vollzieht sich Lesen – auf verschiedenen Ebenen – in einer Bewegung durch den Text, die die Unterwerfung unter die Zeitgebote des Mediums in ihrer Aufhebung verbindet. (Groß 1990: 238)
Die umfassendste Studie, die sich intensiv mit der narrativen Zeitmodellierung beschäftigt, hat Jochen Mecke mit seiner Darstellung zur Theorie der Roman-Zeit (1990) vorgelgt. Mit Rekurs auf Genettes Überlegungen zur Zeitformung wird hier eine systematische Untersuchung der Gestaltungskategorie Zeit auf den Ebenen der Makro- und Mikrostruktur narrativer Texte entwickelt, die im Folgenden kurz skizziert werden.71 Die narrative Zeitformung besteht im Wesentlichen darin, das Verhältnis von dem Zeitkontinuum der Handlung und dem der Erzählung zu modellieren. Hinsichtlich der narrativen Zeitordnung kann es zu Abweichungen von der chronologischen Ereignisordnung kommen: Bei der Analepse (Rückgriff) wird ein Ereignis später als an der zeitlich korrespondierenden Stelle berichtet. Die Prolepse (Vorgriff) platziert umgekehrt ein in der Chronologie der Geschichte erst später stattfindendes Ereignis auf einen früheren Zeitpunkt in der Erzählung. Einen Ausnahmefall bildet die Achronie: Hier erscheint ein Erzählsegment völlig von der kausalchronologischen Handlungsstruktur gelöst. Um die Komplexität der Zeitformung voll zu erfassen, können ferner subjektive bzw. diegetisch motivierte und objektive narrative Anachronien voneinander unterschieden werden. Im ersten Fall entsteht die Anachronie dadurch, dass einer Figur ein zu einem anderen Moment stattfindendes Ereignis ins Bewusstsein tritt, sei es durch Informierung, Erinnerung oder Entdeckung. Solche diegetisch motivierten Anachronien sind auch bei der chronologischen Erzählung möglich. Objektive Anachronien hingegen stellen eine von der Chronologie abweichende Ordnung auf der syntagmatischen Achse der Erzählung und durch den Erzähler dar. Entscheidend für die Analyse komplexer Zeitordnungen ist oftmals die Bestimmung einer primären Zeitachse (zeitlicher Bezugspunkt) zu der Anachronien und Achronien in Relation stehen. Eine weitere Gestaltungskategorie stellt die Subdimension der Frequenz dar, die nach der Häufigkeit eines Ereignisses auf der Handlungsebene im Verhältnis zu seiner Häufigkeit auf der Erzählebene fragt. Im Singulativ wird ein Ereignis ebenso oft berichtet wie es geschieht. Im Repetitiv wird ein einmalig geschehenes Ereignis mehrfach erzählt, etwa aus verschiedenen Perspektiven. Den Umkehrfall bezeichnet man als Iterativ: Ein sich wiederholendes Ereignis wird ein einziges Mal berichtet. Beim Multi-Singulativ wird n-mal erzählt, was sich n-mal ereignet hat. Der Begriff Dauer erfasst schließlich Divergenzen zwischen der zeit71 Die folgende Zusammenfassung basiert auf Genette (1972) und Mecke (1990) und erfolgt meist ohne konkrete Seitenangabe der verwendeten Quellen.
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lichen Erstreckung des erzählten Ereignisses (Handlungszeit, HZ) und der in Anspruch genommenen Zeit des Erzählens bzw. Lesens (Erzählzeit, EZ) dieses Ereignisses. Man unterscheidet hierbei zwischen Ellipse (HZ=1/EZ=0), Raffung (HZ>EZ), Szene (HZ=EZ), Dehnung (HZ