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German Pages 428 [430] Year 2020
utb 5348
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Phänomenologische Metaphysik Konturen eines Problems seit Husserl
herausgegeben von Tobias Keiling
Mohr Siebeck
Tobias Keiling ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Bonn; 2019/2020 Feodor Lynen-Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am Somerville College der Universität Oxford.
ISBN 978-3-8252-5348-6 (UTB Band 5348) Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Minion gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.
Schließlich möchte ich, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, darauf hinweisen, daß die Phänomenologie nur jede naive Metaphysik ausschließt, nicht aber Metaphysik überhaupt … Edmund Husserl
Vorwort
Mein erster Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, die sich auf die spezifische Konzeption dieses Kompendiums eingelassen haben. Der Band ist aus der Arbeit des Forschungsnetzwerks Phänomenologie und Metaphysik der Welt hervorgegangen, das in den Jahren 2018 bis 2020 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde und zuletzt am Institut für Philosophie der Universtität Bonn angebunden war. Der DFG danke ich für diese finanzielle Unterstützung, ohne die es dieses Buch nicht geben würde. Dem Human Dynamics Centre der Universität Würzburg, besonders Dr. Andreas Rauh, gilt mein Dank für die organisatorische Unterstützung bei der Durchführung des Projekts. Die Arbeitstreffen des Netzwerks, auf denen Textentwürfe für diesen Band vorgestellt wurden, fanden an den Universitäten Freiburg, Würzburg, Wuppertal und Koblenz-Landau statt, denen ich für ihre Gastfreundschaft danke. Für die Bereitschaft, auf diesen Treffen mit den Mitgliedern des Forschungsnetzwerks zu diskutieren, danke ich Ralf Becker, Christian Bermes, Günter Figal, Klaus Held, Karl Mertens, Alexander Schnell, Hans-Rainer Sepp und Nicolas de Warren. Sonja Feger hat den Band mit Sorgfalt Korrektur gelesen. Dem Verlag Mohr Siebeck danke ich für die Begleitung und Unterstützung des Projekts. Bonn, im März 2020
Tobias Keiling
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Tobias Keiling/Thomas Arnold Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Arnold/Diego D’A ngelo 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Giovanna Caruso 2. Hedwig Conrad-Martius – Phänomenologie und Realismus . . . . . . . . . . . . . 60 Mette Lebech 3. Edith Stein – Phänomenologische Metaphysik als Aufstieg zum Sinn des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Yohei Kageyama 4. Kitarō Nishida – Das Weltproblem im Verhältnis zur Phänomenologie . 84 Peter Gaitsch 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Rico Gutschmidt/Stefan W. Schmidt 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Christopher Erhard 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? Prolegomena einer phänomenologischen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Annika Schlitte 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Simone Neuber 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik in Das Sein und das Nichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
X Inhalt Sandra Lehmann 10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Michela Summa 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 236 Robert Hugo Ziegler 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Christian Hauck 13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . 287 Grégori Jean 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Ferdinando G. Menga 15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden und unhintergehbare Kontingenz von Weltordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Philip Flock 16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Tobias Keiling 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Alexander Schnell 18. Marc Richir – Phänomenalität und Phänomenalisierung . . . . . . . . . . . . . . . 364 Claudia Serban 19. Jean-Luc Marion – Phänomenologie reiner Gegebenheit . . . . . . . . . . . . . . . 376 Annika Schlitte 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion und Reflexion des Raumes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Inga Römer 21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? Tobias Keiling/Thomas Arnold
‚Phänomenologische Metaphysik‘ ist ein Problemtitel. Denn weder ist die philosophische Schule oder der philosophische Diskurs der Phänomenologie so einheitlich, dass phänomenologisches Denken ohne Weiteres von anderem zu unterscheiden wäre, noch gibt es offenbar einen selbstverständlichen Begriff von Metaphysik, auf den sich eine Diskussion ohne Rückfragen gründen könnte. Zugleich können wir feststellen, dass phänomenologische AutorInnen sich (positiv wie kritisch) mit Fragen beschäftigt haben, die sie entweder selbst als metaphysische ausgezeichnet haben oder die aus anderer Perspektive als metaphysische verstanden werden. Wir verbinden dementsprechend im Folgenden mit dem Ausdruck ‚phänomenologische Metaphysik‘ zwei unterschiedliche Fragen oder Fragerichtungen: 1. Was tragen phänomenologische Ansätze zur Metaphysik bei? ‚Phänomenologische Metaphysik‘ referiert in diesem Sinn auf Metaphysik, insofern sie phänomenologisch betrieben wird. Gemeint sind hier Positionierungen gegenüber einer Reihe von Problemen oder Themen aus phänomenologischer Perspektive. ‚Phänomenologische Metaphysik‘ in diesem ersten Sinn ist also Metaphysik, betrieben mit phänomenologischen Mitteln. 2. Wie wird Metaphysik phänomenologisch begriffen? Hier geht es um Auffassungen davon, was als Metaphysik gelten soll und wie sie zu betreiben ist – oder warum wir sie nicht weiterverfolgen oder sogar überwinden sollten. Die Frage zielt also auf Begriffe von Metaphysik als einer Form von Philosophie, wie sie innerhalb der phänomenologischen Tradition entwickelt wurden. ‚Phänomenologische Metaphysik‘ in diesem zweiten Sinn ist also Phänomenologie insoweit und insofern sie ein Verständnis von Metaphysik entwickelt. Beide Fragerichtungen sollen in diesem Kompendium entfaltet werden. Ziel dieser Einleitung ist es, einen Problemhorizont aufzuspannen und einige grundsätzliche Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung von Phänomenologie und Metaphysik zu skizzieren. Wie die beiden Fragerichtungen bereits deutlich machen, markiert das Syntagma ‚phänomenologische Metaphysik‘ nach unserer Überzeugung keinen einheitlichen Gegenstand von Theorie, sei er durch eine bestimmte Tradition in der Philosophiegeschichte (historisch) oder thematisch oder problematisch (und damit systematisch) bestimmt. Vielmehr handelt es
2 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? sich im Folgenden um den Versuch, die Bedeutungsdimensionen des Ausdrucks in sachlich-systematischer und historischer Hinsicht in der Interpretation verschiedener AutorInnen als eine Heuristik fruchtbar zu machen. Entsprechend erhebt dieses Sammelwerk nicht den Anspruch, eine (einzige, bestimmte) phänomenologische Metaphysik zu rekonstruieren oder zu entwickeln. Vielmehr zeigen die hier versammelten Texte nur auf, dass Metaphysik in der phänomenologischen Philosophie kontinuierlich relevant war und ist – und zwar im oben skizzierten Doppelsinn. In den Kapiteln dieses Bandes werden also sowohl der Beitrag der Phänomenologie zu metaphysischen Problemen oder Themen diskutiert als auch die Auffassungen von Metaphysik, die sich innerhalb der Phänomenologie als einer philosophiegeschichtlichen Konstellation nach Husserl entwickeln.
Was ist Metaphysik? Wie vielfältig die Bestimmungen von Metaphysik innerhalb der Phänomenologie ausfallen, lässt sich kursorisch an drei Beispielen zeigen, nämlich an den Metaphysik-Begriffen, wie sie bei Husserl, Heidegger und Levinas auftauchen. Bereits Husserl bietet verschiedene Begriffe von Metaphysik an und setzt sich dazu jeweils dezidiert in ein Verhältnis. Metaphysik als leere Begriffsscholastik, die traditionelle Fragestellungen unhinterfragt übernimmt und dann durch spekulative Setzungen zu beantworten sucht, lehnt er mit seinem Ruf zu den ‚Sachen selbst‘ explizit ab. (→ 1.1) Versteht man Metaphysik in diesem negativen Sinn, ist Phänomenologie radikal metaphysik-kritisch, sogar anti-metaphysisch. Metaphysik im Sinne der Untersuchung der tiefsten und letzten Fragen dagegen ist auch für die Phänomenologie, wie Husserl sie versteht, von besonderer Bedeutung. So kann Husserl in den Cartesianischen Meditationen festhalten, dass „die Phänomenologie […] nur jede naive und mit widersinnigen Dingen an sich operierende Metaphysik ausschließt, nicht aber Metaphysik überhaupt“. (Hua I, 192) Vielmehr müssen die „echten metaphysischen Probleme als die höchststufigen innerhalb einer Phänomenologie“ (Hua I, 193) angesehen werden. Zu solchen echten metaphysischen Problemen gehören für Husserl etwa die Fragen nach dem Sinn des Lebens, der Geschichte und der Möglichkeit menschlicher Freiheit. Hier soll die Phänomenologie durchaus zu positiven „metaphysischen Ergebnissen“ (Hua I, 166) führen, insofern sie alte Fragen so beantworten soll, dass dabei nicht auf Konstruktionen, sondern auf Anschauungen rekurriert wird. Diese interne Bestimmung der Aufgabe von Metaphysik ist insofern bemerkenswert, als nach dem Wechsel in eine externe Perspektive auffallen muss, dass sie mehr und andere Themen umfasst als die Themen, die gegenwärtig als zentrale metaphysische Problemzusammenhänge diskutiert werden. (Van Inwagen/Sullivan 2018)
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Anders als Husserl setzt sich Heidegger ausgiebig mit Texten der Theorietradition der Metaphysik auseinander und entwickelt auf dieser Grundlage einen differenzierten Metaphysik-Begriff. Auch hier ist es deshalb wichtig, interne und externe Perspektive auseinanderzuhalten, also ‚Metaphysik‘ als Selbstverständigung über das eigene Philosophieren von ‚Metaphysik‘ als Bezeichnung für bestimmte Positionierungen zu unterscheiden. Seine eigene Philosophie sieht Heidegger zeitweilig als „Metaphysik des Daseins“, (GA 26, 199) verwendet den Metaphysik-Begriff also affirmativ, fordert später dagegen eine „Überwindung“ oder „Verwindung der Metaphysik“, (GA 7, 67–98; GA 9, 416) die dadurch motiviert ist, dass Metaphysik zu treiben eo ipso Verpflichtungen auf eine problematische Verknüpfung von Ontologie und Theologie mit sich bringe. (→ 6.11) Ob diesen verschiedenen Selbstverortungen auch relevante Unterschiede in den Lösungsvorschlägen für metaphysische Probleme entsprechen, ist damit jedoch noch nicht gesagt. Denn Themen der Ontologie, allen voran der Existenz- oder Seinsbegriff, machen für Heidegger relativ konstant das zentrale Thema der Metaphysik aus. Die programmatische Verwendung des Begriffs für die Beschreibung eines spezifischen Modus des Philosophierens dagegen variiert werkgeschichtlich deutlich. Diese Begriffsbelegung macht darauf aufmerksam, dass das Metaphysikverständnis als Medium philosophischer Kritik fungieren kann: Wenn es um Metaphysik geht, geht es auch um die Frage, wie Metaphysik richtig zu verstehen ist. Aber diese Regel gilt keineswegs ausnahmslos, sobald man in den Blick nimmt, welche Probleme und Theoreme jeweils gemeint sind. Levinas etwa verwendet den Begriff der Metaphysik affirmativ, unterscheidet ihn aber von ‚Ontologie‘ als einem totalisierenden Denken, in dem Freiheit und ethische Erfahrung keinen Platz finden. (→ 12.6) Hier wird Metaphysik gerade nicht als philosophisches Programm oder philosophiegeschichtliche Tradition problematisiert. Auch der umgekehrte Fall ist möglich: es werden Themen bearbeitet, die aus einer externen oder systematischen Perspektive üblicherweise als metaphysische identifiziert werden, ohne dass dies so genannt wird. Bereits diese Beispiele zeigen, dass Phänomenologie in unterschiedlichen Hinsichten ein affirmatives oder ein kritisches Verhältnis zu Metaphysik haben kann; sie ist – je nachdem – Metaphysik und/oder Metaphysik-Kritik. Phänomenologie und Metaphysik stehen mithin in Verhältnissen des Gegeneinander, Miteinander, Nebeneinander und Durcheinander, nicht aber im Verhältnis der durchgehenden Indifferenz oder einer gegenseitig zugeschriebenen Irrelevanz. Es könnte sogar durchaus sein, dass Phänomenologie sich „metaphysisch neutral“ (Zahavi 2018, 30–40) verhält und letztlich keine eigenen metaphysischen Positionen bezieht. Aber das zu behaupten bedeutet nicht, die Phänomenologie sei metaphysisch blind oder taub und könne letztlich zu Beschreibung, Analyse und Lösung metaphysischer Probleme nichts beitragen. Vielmehr macht gerade die kritische interne Verwendung des Metaphysik-Begriffs darauf aufmerksam, dass die Frage nach dem
4 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? richtigen Modus des Philosophierens in phänomenologischen Diskursen immer wieder – und gerade angesichts der typisch metaphysischen Themen – relevant geworden und das Ziel der Methodenreflexion und einer kritischen Grundhaltung zu bisherigen metaphysischen Entwürfen für phänomenologische AutorInnen charakteristisch ist. Tatsächlich können wir für einige AutorInnen sogar eine regelrechte Dialektik von metaphysischen Themen und phänomenologischer Modalität ausmachen. In Husserls Fall etwa werden gewisse metaphysische Probleme, die er entdeckt, zu Triebfedern methodologischer Revisionen. Seine späte Einführung „rekonstruktiver“ Vorgehensweisen etwa, die er einer phänomenologischen „Archäologie“ zuschreibt, (Mat VIII, 356; → 1.8) ist eine Reaktion auf die Einsicht, dass sich Themen wie das phänomenologische Absolute, Faktizität, Freiheit oder der Sinn der Geschichte nicht einfach in direkter Beschreibung angehen, aber genauso wenig ignorieren lassen. In dieser Ambivalenz zwischen Kritik und Affirmation hat die Phänomenologie unter anderem ein interessantes Verhältnis zur Philosophie Kants. Denn die Phänomenologie ist die doppelte Erbin Kants: Wie Kant kritisiert sie zwar bestimmte Formen von Metaphysik, will aber dennoch Metaphysik– zumindest teilweise – neu justieren oder wenigstens kritisch fundieren. Auch der transzendentale Einsatz der Phänomenologie verbindet sie mit Kant. Als kritische Transzendentalphilosophie in diesem Sinne ist die Phänomenologie durchaus als Nachfolgerin des kantischen Ansatzes zu verstehen; zumindest gibt es klar erkennbare Kontinuitäten zwischen beiden. Allerdings setzt sie sich methodisch und inhaltlich mehr oder weniger deutlich von Kant und dem Neu-Kantianismus ab, indem sie etwa auf eine kategoriale Anschauung rekurriert, in der Husserl ein eidetisches oder intuitives Erkenntnismoment zu rehabilitieren sucht. Außerdem lehnen phänomenologische Positionen typischerweise strikte Dualismen, wie sie bei Kant auftauchen, ab; es ist kein Zufall, dass es gerade die „widersinnigen Dinge an sich“ sind, an deren Ablehnung sich Husserls Metaphysik-Kritik in dem oben angeführten Zitat festmacht. Wenn in Hinblick auf diese beiden Punkte eine Diskontinuität zu konstatieren ist, kann Kant hier aus phänomenologischer Perspektive geradezu selbst als unkritischer Metaphysiker gelten, insofern intuitive Erkenntnis vernachlässigt wird und seine Philosophie an rigiden begrifflichen Strukturen orientiert bleibt, so dass der Maßstab einer möglichst getreuen Deskription und Zuwendung zu den Sachen selbst vernachlässigt wird. Soweit sich solche Verallgemeinerungen plausibilisieren lassen, radikalisiert die Phänomenologie Husserls mithin die kantische Kritik der Metaphysik, indem sie sich gegen Momente von Kants positiver Philosophie richtet. Indem sie an metaphysischen Fragen festhält, erneuert sie die positive Möglichkeit kritischer Metaphysik.
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Welche Phänomenologie? Wir haben bisher verschiedene Möglichkeiten umrissen, Metaphysik zu begreifen. Aber was zählt dabei als Phänomenologie? Da ‚die Phänomenologie‘ eher eine Strömung, eine Konstellation oder ein Netzwerk von DenkerInnen, eher eine familienähnliche Haltung als eine Schule oder Disziplin darstellt, gibt der vorliegende Band auch auf diese Frage nur eine operative Antwort. Alle AutorInnen, deren Positionen hier dargestellt werden, wurden in der Rezeption als phänomenologische bezeichnet und haben sich größtenteils auch selbst explizit so genannt. Dabei haben wir Wert darauf gelegt, nicht nur die Klassiker – wie Husserl (→ 1), Heidegger (→ 6), Merleau-Ponty (→ 11) und Levinas (→ 12) – zu besprechen, sondern diesen Kanon in drei Richtungen zu erweitern: Zum einen um einige der sogenannten frühen PhänomenologInnen, die sich vor allem dadurch auszeichnen, Husserls philosophische Entwicklung kritisch begleitet zu haben. Ohne die verschiedenen Schülerkreise in Göttingen, München und Freiburg hier vollständig abbilden zu können, wurden AutorInnen ausgewählt, die für verschiedene Formen der Weiterführung von Husserls Projekt exemplarisch und für unser Thema einschlägig sind: Hedwig Conrad-Martius, (→ 2) Edith Stein, (→ 3) Kitarō Nishida, (→ 4) Max Scheler (→ 5) und Roman Ingarden. (→ 7) Auffällig ist, wie heftig hier um programmatische metaphysische Grundentscheidungen, etwa zugunsten eines Idealismus oder Realismus, gerungen wird und welche grundsätzlichen Klärungen etwa zum Seinsbegriff man sich von der Phänomenologie erwartet. Unabhängig davon, wie ertragreich diese Arbeiten aus heutiger Sicht sind, die metaphysischen Themen sind bei den frühen Phänomenologen in besonderer Weise präsent, was ideengeschichtlich nicht zuletzt mit der Nähe einiger ihrer ProtagonistInnen zum Katholizismus zusammenhängen dürfte. (Baring 2019) Eine zweite Entwicklungsrichtung, die wir abzubilden suchen, ist die vor allem an Husserl und Heidegger anschließende französischsprachige Diskussion. Die oft unter dem Schlagwort der „Phänomenologie in Frankreich“ (Waldenfels 1983; Gondek/Tengelyi 2011) zusammengefassten Diskurse werden in diesem Band durch Beiträge zu Michel Henry (→ 14), Marc Richir (→ 18) und Jean-Luc Marion (→ 19) berücksichtigt. Auch hier werden metaphysische Fragen teils im religionsphilosophischen Kontext behandelt, so dass die These einer „theologischen Wende der französischen Phänomenologie“ (Janicaud 2014) für einige AutorInnen nicht von der Hand zu weisen ist. In jedem Fall definiert für die in diesem Kontext untersuchten AutorInnen die Bestimmung des Ursprungs oder der Möglichkeit der Phänomene oder der Phänomenalität als solcher typischerweise die Grundfrage phänomenologischer Metaphysik. Schließlich suchen wir die Diskussion in eine dritte Richtung zu erweitern, indem exemplarisch auch gegenwärtig arbeitende AutorInnen vorgestellt werden, die Beiträge zum Problemzusammenhang einer phänomenologischen Me-
6 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? taphysik geleistet haben, oft mit dem expliziten Ziel einer eigenen Positionierung. Denn dadurch wird deutlich, dass phänomenologische Metaphysik in unserem Sinn nicht nur seit ihrer Stiftung durch Husserl immer schon Bestandteil der Phänomenologie war, sondern auch weiterhin ist, und, so vermuten wir, auch bleiben wird. Dabei war es uns wichtig, auch einen Ansatz wie jenen von Bernhard Waldenfels, (→ 15) dessen Schwerpunkt eher in der praktischen Philosophie zu verorten ist, auf seine Implikationen für Themen der Metaphysik hin zu untersuchen. Die von uns getroffene Auswahl schließt natürlich mitnichten aus, dass es weitere Ansätze gibt, in denen sich die skizzierten Verhältnisse finden lassen, auf die hier aber nicht eingegangen wird. Im Gegenteil, wir gehen fest davon aus, dass sich Beiträge zur phänomenologischen Metaphysik in dem beschriebenen Doppelsinn in Texten anderer PhänomenologInnen finden, die aus unterschiedlichen Gründen nicht aufgenommen werden konnten. Moritz Geiger, Oskar Becker, Xavier Zubiri, Ludwig Landgrebe, Werner Marx, Walter Biemel, Heinrich Rombach, Hermann Schmitz, Jean-Toussaint Desanti oder im weiteren Sinn auch Hannah Arendt, Paul Ricœur, Reiner Schürmann, Jacques Derrida und Jean-Luc Nancy haben alle aus phänomenologischer Perspektive oder in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Metaphysik thematisiert. (Moran 2000) Zudem können wir nur exemplarisch die weltumspannende Wirkung thematisieren, welche die Phänomenologie seit Husserl etwa in Südostasien und Lateinamerika entfaltet hat. (Tani/Lee/Liangkang/X ianghong 2015; Tani 2019; De Oliveira 2013) Ziel dieses Kompendiums ist jedenfalls nicht Vollständigkeit, sondern der Versuch, einen bestimmten historisch-systematischen Diskurs- und Problemzusammenhang in den Blick zu bringen. Dieses Ziel lässt sich jedoch nur dadurch erreichen, dass man auch eine systematische Zuspitzung vornimmt und zumindest im Ansatz die Frage beantwortet, was Phänomenologie als solche ausmacht oder ausmachen sollte. Dazu lässt sich bei der Beobachtung ansetzen, dass sich die Phänomenologie als eigene Tradition oder eigener Diskursstrang durch ein Pathos des Neuanfangs auszeichnet, dem auch eine genuin phänomenologische Interpretation der Phänomenologie in ihrer historischen Gestalt gerecht werden müsste: Nimmt man die maßgeblichen Formulierungen etwa bei Husserl ernst, dann setzt sie bei der Erfahrung an, dass selbst die beste bisherige Theoriebildung wieder zum bloßen Vorurteil geworden ist. Der Wunsch, nicht alte Theorie fortzuschreiben oder zu korrigieren, sondern mit der unvoreingenommenen Beschreibung der unverstellten Erfahrung neu anzusetzen, macht nicht nur den historischen Anlass, sondern auch ein systematisch zentrales Anliegen der Phänomenologie aus. Besonders deutlich wird dies in Husserls wirkmächtiger Ansage, die Philosophie müsse wieder „von den Sachen und Problemen“ ausgehen, da er „genug der verkehrten Theorien“ habe. (Hua III/1, 51) Heidegger übersetzt dieses Programm nicht nur in Termini der Ontologie, sondern erweitert es auf die gesamte Phi-
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losophiegeschichte, die er mit dem Vorwurf der Seinsvergessenheit und dem Programm der Destruktion konfrontiert und einen anderen Anfang des Denkens in Aussicht stellt. Selbst wenn der späte Heidegger sich nicht mehr affirmativ zur Phänomenologie verhält, wird gerade der Slogan Zu den Sachen! noch als „Prinzip der Phänomenologie“ (Heidegger 1995; GA 14, 77) anerkannt. Auch bei Merleau-Ponty findet sich die gleiche programmatische Überzeugung, Phänomenologie müsse falsche theoretische Vorannahmen, vor allem die falschen Dualismen von Natur und Geist, Leib und Bewusstsein überwinden. (→ 11.1) Dass „die wichtigste Lehre der Reduktion die Unmöglichkeit der vollständigen Reduktion“ (Merleau-Ponty 1966, 11) ist, wird sowohl zum Kerngedanken seiner Neubestimmung der Metaphysik als Methode als auch zum Ausgangspunkt seines eigenen Entwurfs, der Alternativen zu den genannten Dualismen sucht. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der phänomenologischen Methode wird in diesen kanonischen Fällen der für die Phänomenologie typische oder zumindest stilbildende Anspruch artikuliert, die genuin phänomenologische Behandlung philosophischer Probleme müsse von den Sachen ausgehen, so dass ihr vorrangiger Maßstab die deskriptive Plausibilität der Theoriebildung und die Vermeidung theorieinduzierter Verzerrungen ist. Dieses Ausgangsproblem wurde dabei durchaus auch außerhalb der Phänomenologie wahrgenommen. Alfred North Whitehead (1925, 52) etwa spricht von der „fallacy of misplaced concreteness“, der falschen Zuschreibung von Konkretion durch wissenschaftliche Theorien, welche diese nicht vorfinden und beschreiben, sondern schlicht supponieren oder konstruieren. Im Falle der Phänomenologie ist dieses Problem und die programmatische Wendung zur Deskription mit Husserl zum Ausgangspunkt eines eigenen Diskurses geworden. Es würde ‚die Phänomenologie‘ zu sehr historisieren, wollte man diesen Anspruch auf größere Voraussetzungslosigkeit ignorieren. Will man diesem Anspruch aber gerecht werden, muss die Antwort auf die Frage, was phänomenologische Metaphysik ist, in irgendeiner Weise auch die Sachen einbeziehen, an denen sie sich zu orientieren hat.
Gibt es metaphysische Phänomene? Im Problembereich der phänomenologischen Metaphysik stößt ein Ansatz bei den ‚Sachen selbst‘ jedoch auf besondere Schwierigkeiten. Denn ist überhaupt sinnvoll davon auszugehen, es gebe genuin metaphysische Phänomene? Zu sagen, was die Sachen sind, mit denen sich etwa eine Phänomenologie der Wahrnehmung beschäftigen und welche sie als Gegenstand ihrer Deskription und als primären Maßstab ihrer Gültigkeit annehmen sollte, ist vergleichsweise einfach, da es sowohl ein intuitiv starkes Vorverständnis davon gibt, was Wahrnehmung ist, als auch einzelwissenschaftliche Diskurse, die das Thema auf diese
8 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? oder jene Weise begrenzen. Es gibt eine relativ distinkte Bestimmung, welche Phänomene dabei überhaupt phänomenologisch eingeholt werden sollten. Sieht man von der Klärung von Grenzfällen ab, kann das Hauptaugenmerk deshalb darauf liegen, eine plausible Beschreibung der Phänomene der Wahrnehmung vorzulegen und sie, auf diese Beschreibungen aufbauend, durch schlüssige Theoriebildung zu fassen. Die Frage ist hier eher, wie man diese Phänomene auf eine genuin phänomenologische Weise zum Thema macht, weniger, was eigentlich zum Thema werden soll. Das ist jedoch anders, wenn man sagen soll, worum es der Phänomenologie als solcher und erst recht einer phänomenologischen Metaphysik geht. Geht man von den hier diskutierten AutorInnen aus, ergibt sich vielmehr eine Reihe rekurrierender Themen, die sich in unterschiedlicher Ausprägung finden lassen und die Phänomenologie in Kontinuität mit der Philosophiegeschichte und anderen Theoriesträngen stellen. Zu diesen Themen zählen der Streit zwischen Idealismus und Realismus; das Wesen der Wirklichkeit und des Seins; Raum und Zeit; die Beschreibung von Kausalität; die Verfasstheit und Konstitutionsleistung von Subjektivität und ihre Verkörperung; auch religionsphilosophische Fragen spielen bei vielen AutorInnen eine Rolle. Diese und andere Themen oder Probleme, welche die Phänomenologie mit ihren philosophischen Vorgängern und anderen Diskursen innerhalb der Gegenwartsphilosophie teilt, bilden eine lose Matrix, mit Bezug auf welche sich jeweils Verhältnisbestimmungen von Phänomenologie und Metaphysik vornehmen lassen. Innerhalb dieser Themenmatrix wird deutlich, was phänomenologische Ansätze konkret zu bestehenden metaphysischen Debatten beitragen können. Die einzelnen Kapitel dieses Bandes sind daher so gegliedert, dass die Unterabschnitte eines Kapitels verschiedenen Themen zugeordnet sind. Wer sich nur für eines dieser Themen interessiert, kann sich entsprechend an den Zwischenüberschriften orientieren und dieses Buch gewissermaßen querlesen. Eine Liste typischerweise der Metaphysik als philosophischer Disziplin zugehöriger Themen zu erstellen, vermeidet das Problem, den systematischen Ausgangspunkt einer phänomenologischen Metaphysik zu benennen jedoch eher, als dass es dieses Problem löst. Zwar verbinden sich einige der genannten Themen recht direkt mit Phänomenen: Der Frage nach dem metaphysischen Status und dem Verhältnis von Raum und Zeit etwa lassen sich mit geringen Schwierigkeiten Phänomene zuordnen, die zum Maßstab einer phänomenologischen Beschreibung werden können. Auch mit Themen wie dem Status von Subjektivität, Substanzialität oder Kausalität verbinden sich nicht nur einschlägige Diskurse in der Geschichte der Philosophie und der Gegenwartsphilosophie, sondern auch ausgearbeitete Überlegungen dazu, an welchen Phänomenen man ansetzen sollte, um diese Themen zu diskutieren. Die genaue Beschreibung mag dann im Detail so schwierig sein, wie die ausgedehnten Debatten es vermuten lassen. Aber zumindest ist der phänomenologische Ansatz bei der Sachbeschreibung of-
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fenbar grundsätzlich operationalisierbar, weil vergleichsweise unstrittig ist, was etwa die Sache einer Phänomenologie des Subjekts ist. Eine solche Rückführung auf die Phänomene ist dagegen ungleich schwieriger, sobald neben das Ziel der adäquaten Sachbeschreibung die Zielsetzung tritt, die genannten Themen und Einzelprobleme in einem einheitlichen positiven Entwurf phänomenologischer Metaphysik zusammenzuführen. Sollen die Behandlungen dieser Themen und Probleme in einer Zusammenstellung verschiedener Theoreme verbunden sein, die selbst den Anspruch erhebt, ein phänomenologisch ausweisbares System zu sein, dann muss diese Verbindung über historische Kontinuitäten und eine systematische Familienähnlichkeit hinausgehen. AutorInnen, die neben dem Ideal der adäquaten Deskription auch annehmen, es gebe eine genuin phänomenologische, also an die Sachen rückgebundene systematische Einheit dessen, was dann ‚phänomenologische Metaphysik‘ heißen soll, müssen mithin auch einen phänomenalen Sachzusammenhang annehmen, der für die metaphysischen Fragen oder Themen verbindlich ist oder zumindest eine Art paradigmatische Funktion übernimmt. Im Falle Husserls und Heideggers sollen offenbar Begriffe wie ‚Bewusstsein‘ und ‚Sein‘ eine solche systematisierende Funktion übernehmen. Die Frage nach den metaphysischen Phänomenen mag deshalb zwar auf den ersten Blick aus der Programmatik der Phänomenologie folgen, insofern diese eben immer beschreibend von bestimmten Phänomenen ausgehen will. Sie ist aber insofern falsch gestellt, als sie die für eine systematische Metaphysik konstitutive Entscheidung übersieht, die darin liegt, welche Phänomene als die Sache der Metaphysik benannt werden. Schaut man sich die Diversität phänomenologischer Diskurse und Probleme an, die umso größer wird, je länger ihre Geschichte wird, zeigt sich im Gegenteil, dass es einen genuin metaphysischen Phänomenbestand nicht gibt. Genau das erklärt die eingangs gemachten Beobachtungen und die Tatsache, dass Phänomenologie nicht umstandslos Beiträge zur Metaphysik als philosophischer Disziplin liefern kann. Ein metaphysischer Sinn der Phänomene ergibt sich vielmehr als eine bestimmte Behandlungsart, die man mit Merleau-Ponty (2000, 127) „metaphysisches Bewusstsein“ nennen kann, womit die Frage unvermeidlich wird, was eine solche Form der Erfahrung und Thematisierung von Phänomenen auszeichnet. Metaphysik als Modus des Philosophierens wird, so unsere Vermutung, gerade deshalb immer wieder und derart nachdrücklich zum Thema und zum eigenen philosophischen Problem, weil die phänomenologische Methodik auf die Abwesenheit metaphysischer Phänomene reagieren und zugleich angeben muss, worin eine metaphysische Thematisierung der Phänomene besteht. Würde man diese Frage allerdings allein dadurch beantworten wollen, dass man auf überlieferte Themen und Probleme zurückgeht, dann ist der Anspruch eines Rückgangs auf die Sachen und einer kritischen Erneuerung der Metaphysik nicht zu halten, welcher in der Programmatik der Phänomenologie nicht weniger wich-
10 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? tig ist. Der Anspruch auf Neuanfang und Voraussetzungslosigkeit einerseits und die Angewiesenheit auf die philosophische Tradition andererseits definieren ein Dilemma, das sich aus der historischen Tiefe metaphysischer Themen und Probleme ergibt. (Keiling 2018) Der nächste Abschnitt stellt einige Ansätze in der gegenwärtigen Forschungslandschaft vor, die man als Versuche verstehen kann, auf die skizzierten Schwierigkeiten einer phänomenologischen Metaphysik zu reagieren. Im Anschluss daran argumentieren wir für den historisch-systematischen Ausgangspunkt dieses Bandes in einem spezifischen Leitbegriff, nämlich dem der ‚Welt‘.
Forschungsansätze Wenn die gerade vorgetragenen Überlegungen plausibel sind, steckt in der historischen Diversität phänomenologischen Philosophierens ein systematisch relevantes Problem, das mit der Frage zusammenhängt, was die Sache einer genuin phänomenologischen Metaphysik sein soll. Es lassen sich nach unserer Einschätzung in der Forschung der letzten Jahre verschiedene Ansätze unterscheiden, sich zu dieser Schwierigkeit zu verhalten. Wir stellen im Folgenden vier aktuell diskutierte Theorieoptionen vor, ohne uns auf einen von ihnen zu verpflichten. Die erste hier einschlägige Strategie versucht in der Nachfolge Fichtes, des mittleren Heidegger (→ 6.9) und Eugen Finks (→ 8.2) den Gedanken einer phänomenologischen Konstruktion zu verteidigen. Gerade weil es keine metaphysischen Phänomene und insbesondere kein beschreibbares Erscheinen der Phänomenalität als solcher gibt, muss die Phänomenologie in eine Form von Spekulation übergehen, die mit den genannten Autoren als eine „Konstruktion“ bezeichnet wird. Diese führt zu einer Position, die Alexander Schnell (2019, 162) einen „phänomenologischen spekulativen Idealismus“ nennt, der die Grundlage dafür darstellen soll, weitere metaphysische Themen oder Probleme zu behandeln. Schnell entwickelt damit die Versuche Marc Richirs (→ 18) weiter, die Emergenz phänomenaler Strukturen aus Strukturbeschreibungen dynamischer Sinnbildungsprozesse zu begreifen, die sich nur indirekt artikulieren lassen. Ein zweiter Ansatz bevorzugt im Anschluss an die Arbeiten von László Tengelyi (→ 21) eine stärkere Ausrichtung an der praktischen Philosophie nach dem systematischen Vorbild Kants. Inga Römer (2017, 129) hat in diesem Sinne erwogen, die „Lücke des nicht mehr Gebbaren“ lasse sich nur durch „praktische Verantwortung“ schließen, so dass sich die Phänomenologie „in die Richtung einer die theoretischen Grenzfragen beantwortenden praktischen Metaphysik“ entwickeln lasse. Folgt man diesem zweiten, von Levinas (→ 12) nicht weniger als Kant inspirierten Ansatz, wird die mehr oder weniger kritische Beschäfti-
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gung mit der Metaphysik insbesondere in ihren praktischen Konsequenzen phänomenologisch. Dieser Vorschlag lässt sich als der Versuch einer praktischen Transformation der Metaphysik bezeichnen. Eine solche Transformation steht offenbar sowohl im Kontext jener „Topographie des Fremden“, wie sie Waldenfels (1997, → 15) entwickelt hat, als auch von Klaus Helds (→ 16) Beschreibungen religiöser und kultureller Lebenswelten, welche die Kulturgeschichte in das phänomenologische Projekt zu integrieren sucht. Während diese beiden Strategien eher den Sinn einer phänomenologischen Metaphysik als eigenständiger Disziplin ergänzen, modifizieren oder deren Zielsetzung verändern, sucht eine dritte Gruppe von Ansätzen einen bestimmten phänomenalen Zusammenhang mehr oder weniger explizit zum Leitfaden der Behandlung von Problemen zu machen, die als genuin metaphysische zu verstehen sind. Deren Innovation liegt dabei vor allem in der Ausrichtung auf zuvor vernachlässigte Phänomenbereiche: Wird nicht nur in Husserls Überlegungen zum Absoluten, sondern auch in Heideggers Ontologie die Zeit zum Leitphänomen der Metaphysik, haben John Sallis (→ 17) und Günter Figal (→ 20) im Anschluss an Überlegungen des späten Heidegger (→6.7) versucht, die Grundstrukturen des Phänomenalen als solche des Raums zu beschreiben. Der Raum sowie verschiedene eminent räumliche Formen des Erscheinens werden damit nicht zu einem beliebigen Gegenstand der Phänomenologie, sondern zu denjenigen Phänomenen, an denen sich nicht nur die Fragen der ersten Philosophie klären lassen, sondern die Phänomenologie auch ihre eigene Möglichkeit einholt. Sie ist das „räumliche Denken“ (Figal 2009, 258–266) räumlicher Phänomene. Unabhängig davon, als wie erfolgreich man den Versuch beurteilt, diesen oder jenen Phänomenkreis als für die phänomenologische Metaphysik maßgeblich zu exponieren, ist für diese Positionen eine Strategie typisch, die man als eine der metaphysischen Nobilitierung bezeichnen kann: bestimmte Phänomenbereiche werden zu Paradigmen der Metaphysik im Ganzen. Von dieser Strategie lässt sich der Versuch unterscheiden, Metaphysik ausgehend von einer Theorie der reinen Phänomenalität zu betreiben. Dieser Versuch ist etwa für den Ansatz Marions (→ 19) kennzeichnend, der Sein und Subjektivität als maßgebliche Erklärungsgründe für das Wesen der Phänomene hinter sich lassen will. Motiviert ist dieser Versuch durch die Beobachtung des „Prinzips“, (Marion 2015, 38–43) dass jede phänomenologische Reduktion zu einem Mehr an reiner Gegebenheit führe, so dass die bestimmungslose Gegebenheit zum metaphysisch maßgeblichen Thema werden muss. Marions Bestimmung changiert jedoch zwischen dem Versuch, die reine, „saturierte“ (Marion 2001) Phänomenalität als solche zu fassen, und seinem Rekurs auf die für Gegebenheit (donation) wesentliche Struktur der Gabe (don). Daher lässt sich auch hier festhalten, dass es ein gewissermaßen empirisches oder ontisches Phänomen gibt, dessen Strukturen für die Beschreibung von Phänomenalität zumindest in Marions frühen Theorieentwürfen eine paradigmatische Funktion
12 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? übernehmen. Auch diese vierte Strategie, die Probleme phänomenologischer Metaphysik anhand einer Bestimmung von Phänomenalität als solcher diskutieren zu wollen, enthält mithin noch mindestens metaphorische Spuren der Orientierung an einem paradigmatischen Phänomen, wie sie für die dritte Strategie typisch ist. Im Anschluss an diese Beobachtung an Grundoptionen der gegenwärtigen Theoriebildung ließe sich daher auch die allgemeinere heuristische Frage formulieren, was paradigmatische Beschreibungsmuster eines metaphysischen Entwurfs sein sollen. Dass hierin eine theoretische Grundentscheidung liegt, macht darauf aufmerksam, dass eine genuin metaphysische Bedeutung der Phänomene erst durch eine spezifische Form der Thematisierung zugänglich wird. Dass der Sinn der Phänomene jedenfalls nicht so eindeutig ist, dass ein Phänomen eine Metaphysik erzwingt, lässt sich dabei ebenfalls im Rückgang auf die Geschichte der Phänomenologie lernen. So entwickeln Merleau-Ponty (→ 11) und Henry (→ 14) beide Phänomenologien des Leibes und der Affektivität und messen diesen paradigmatische Bedeutung zu, bauen auf diese Beschreibungen aber unterschiedliche metaphysische Systeme auf. Diese Autoren kommen in der Auswahl der Ausgangsphänomene also überein, deuten ihren metaphysischen Sinn jedoch verschieden. Auch deshalb kann es nicht das Ziel dieses Kompendiums sein, Theorieentscheidungen hinsichtlich der spezifisch phänomenologischen Methode und der spezifischen Leitphänomene einer phänomenologischen Metaphysik einfach mitzumachen. Die Absicht geht vielmehr darauf, im Dickicht der phänomenologischen Theoriediskussion derartige methodische und sachliche Festlegungen als solche zu erkennen und zu reflektieren.
Phänomenologie(n) der Welt Als besonders hilfreich kann sich dabei ein Begriff erweisen, der in den Kapiteln dieses Bandes jeweils als Einstieg dient: der Begriff der Welt. Selbst da, wo nicht ausdrücklich von einem „Weltphänomen“ (Fink 1988, 204; → 8) die Rede ist und es explizit zum Leitfaden der Untersuchung gemacht wird, findet sich typischerweise eine Diskussion oder operative Verwendung des Begriffs. Der mit dem Weltbegriff aufgerufene Phänomenbestand – so unklar sein und bleiben mag, worin dieser besteht – taucht auffällig oft im Zusammenhang der Frage nach dem richtigen Ausgangspunkt der phänomenologischen Metaphysik auf. Dabei lassen sich, wie zu erwarten, sehr verschiedene Wertungen finden. So kann der Weltbegriff zur positiven Bestimmung dessen dienen, womit sich die Phänomenologie (unter anderem) zu beschäftigen habe, wie etwa bei Husserl (→ 1) oder Heidegger. (→ 6) Oder er kann als Kontrastbegriff aufgerufen werden, wie bei Marion (→ 19) oder Henry. (→ 14) Der Weltbegriff hat jedenfalls nicht nur innerhalb der Forschung zur Phänomenologie einige Aufmerksamkeit auf sich ge-
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zogen, (Biemel 1950; Bermes 2004; Overgaard 2004; Jacobs 2018) sondern ist auch darüber hinaus als zentraler Problembegriff der Metaphysikgeschichte beschrieben worden. (Brague 2006) Auch ein Ansatz wie jener Hans Blumenbergs (→ 13), der sich nicht umstandslos als Beitrag zur Metaphysik verstehen lässt, schließt nicht ohne Grund an den Begriff der Lebenswelt an, um die Geschichtsgebundenheit menschlicher Erfahrung zu thematisieren. Mit diesem Kompendium soll daher auch die Hypothese überprüft werden, dass sich der Begriff der Welt und das damit womöglich angezeigte Phänomen anbietet, um die Frage nach der komplexen Ambiguität phänomenologischer Metaphysik in der Interpretation phänomenologischer AutorInnen zu operationalisieren. Damit ist das Forschungsdesign dieses Bandes umrissen: Die einzelnen Kapitel, jeweils einer Autorin oder einem Autor gewidmet, setzen bei dem spezifischen Verständnis von ‚Welt‘ einen gewissen Schwerpunkt. Von hier aus lassen sich die oben genannten ‚metaphysischen‘ Themen diskutieren, und es lässt sich so umreißen, zu welchen positiven Thesen dieser Ansatz führt und was dabei jeweils unter phänomenologischer Metaphysik verstanden wird. Beginnen die Kapitel mit einem Abschnitt zum Weltbegriff, ist diesem Verständnis von Metaphysik als Methode jeweils der letzte Abschnitt eines Kapitels gewidmet. Um zu zeigen, dass der Ansatz beim Weltbegriff produktiv sein kann, möchten wir abschließend einige Hinsichten diskutieren, unter denen ‚Welt‘ als orientierendes Phänomen von Themen phänomenologischer Metaphysik verstanden werden kann. Diese Explorationen sollen in einem ersten Zugriff zeigen, dass und wie sich vom Weltbegriff oder Weltphänomen her metaphysische Probleme diskutieren lassen und so weiter plausibilisieren, dass die folgenden Kapitel hier einen Schwerpunkt setzen. Forschungsgeschichtlich entwickelt dieser Ansatz vor allem Arbeiten Helds (1989, 1992, 2012) zum Weltbegriff bei Husserl und Heidegger weiter, nimmt aber einen größeren Ausschnitt phänomenologischer Diskurse in der Philosophie in den Blick. Damit soll nicht behauptet sein, dass alle AutorInnen der phänomenologischen Tradition das Weltphänomen auf ein und dieselbe Weise oder aus denselben Gründen thematisieren. Allerdings gibt es eine wiederholte und durchaus produktive Annäherung. ‚Welt‘ lässt sich dabei zunächst als ein anzeigender Begriff verstehen, der auf das hinweist, was in umfassender Weise Subjekte und Objekte gleichermaßen phänomenal umgibt. Eine minimale Phänomenologie der Welt würde vermutlich genau diesen Umstand hervorheben, dass es Erfahrungen solchen UmfasstWerdens, Zugehörens oder eben In-der-Welt-Seins gibt, die sich nicht mehr als Selbstbezug des Subjekts, als Beziehungen zwischen Subjekten oder als deren momentane intentionale Bezogenheit auf einzelne Objekte oder Gruppen von Gegenständen bestimmen lassen. ‚Welt‘ wäre dann Bezeichnung für eine Erscheinungsform und erfahrungsmäßige Bestätigung dessen, was Husserl das „universale Korrelationsapriori“ (Hua VI, 161) genannt hat. Dabei kommt es eben darauf an, dass spezifische Korrelationen zwischen einzelnen Subjekten
14 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? und Objekten sich als in einen größeren Erfahrungszusammenhang eingebettet erweisen. Dieser ist nicht nur umfassender als einzelne Korrelationsverhältnisse. Darüber hinaus lässt sich kein typischer Modus der Korrelation mehr identifizieren, wie es für verschiedene Formen intentionalen Gewahrseins gilt, die typischerweise durch Kontraste wie etwa jenen zwischen Wahrnehmen und Erinnern als unterscheidbare Varianten der phänomenologischen Korrelation beschrieben werden. Vielmehr geht es um Intentionalität vor ihrer Modalisierung und Formatierung. Die Beobachtung, dass die Phänomenalität der Welt nicht innerhalb von, sondern selbst gerade im Kontrast zu einzelnen Korrelationen und ihren intentionalen Modi erscheint, kann dazu Anlass geben, sie als deren Möglichkeitsbedingung und in diesem Sinne als deren Grund zu bestimmen. Dies ist eine erste Hinsicht, in der Welt sich als metaphysisch thematisiertes Phänomen erweisen kann: Welt ist der Ermöglichungsgrund einzelner Phänomene, auf den deshalb in deren Erforschung letztlich immer – mindestens implizit – Bezug genommen wird. So lässt sich etwa die Erläuterung der „Welt als Wahrnehmungswelt“ (Hua VI, 165) verstehen, durch die der Gedanke, dass Wahrnehmung die fundierende Schicht in der Konstitution aller möglichen Phänomene ist, in einer Weise reformuliert wird, die sich auf ihre metaphysischen Implikationen hin beschreiben lässt. Explizit geschieht eine solche Umdeutung eines phänomenalen Grundes in eine ontologische Bestimmung, wenn Merleau-Ponty (2007, 249) vom „rohen Sein“ (être brut) an der Grenze phänomenologischer Beschreibbarkeit spricht. Eine ähnliche Deutung erfährt die Welt als Möglichkeitsbedingung von Phänomenen, wenn Heidegger betont, eine solche Ermöglichung lasse sich nur im Modus des Entzugs fassen und müsse deshalb als Ungrund oder Abgrund verstanden werden. (GA 65, 293 f.) Husserls einflussreiche Beschreibungen der Welt stellen dagegen auf einen anderen Aspekt ab, wenn er feststellt, dass die Welt als selbst ungegenständlicher und unthematischer horizontintentional präfigurierter „Außenhorizont“ (Hua VI, 165) von Gegenständen mit diesen miterscheint. Dadurch, dass Husserl Welt auch als „Universalhorizont“ (Hua VI, 147) bestimmt, ist jedoch die Frage aufgeworfen, ob sich das so umschlossene Universum als geschlossene Totalität verstehen lassen muss oder ob es sich doch, wie Husserl beansprucht, um einen paradoxerweise „offenen Horizont“ (Hua VI, 166) handelt. In dieser Hinsicht kann ‚Welt‘ als Phänomen zur phänomenologischen Beantwortung einer genuin metaphysischen Frage herangezogen werden, die typischerweise ontologisch formuliert wird: Formt das Seiende im Ganzen auch selbst ein Ganzes? Heidegger greift in wiederholten Anläufen gerade den Weltbegriff auf, um diese Frage nach dem Ganzen oder der Totalität zu diskutieren und dadurch zu beantworten, die Welt dürfe nicht als riesige Summe von Entitäten, sondern müsse als Erscheinungsmodus, als „Wie des Seins“ (GA 26, 221) verstanden werden. Sartre verknüpft ebenfalls den Weltbegriff unter anderem mit dem Gedanken der
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Totalität, freilich nicht ohne hervorzuheben, dass die Totalität des Seins durch die mit dem Bewusstsein einhergehenden Formen der Negativität immer schon „detotalisierte Totalität“ (Sartre 2001, 341) ist. Unabhängig davon, ob man eine Beschreibung des Ganzen für möglich hält oder den Einwand von Levinas oder Waldenfels teilt, die ontologische Beschreibung von Totalität habe problematische Konsequenzen für die Ethik: Will man diese Frage phänomenologisch beantworten, bietet sich ‚Welt‘ als Bezeichnung für den Phänomenkreis an, der für ontologische Diskussionen maßgeblich ist. Eine dritte Hinsicht, in der das Welt-Phänomen metaphysisch gedeutet werden kann, betrifft die spezifische Struktur des Wirklichen. Hier geht es nicht darum, ob zwischen konkreten Erscheinungen und einer sie ermöglichenden oder begründenden Erfahrungsform unterschieden werden muss oder ob Entitäten durch ihr weltmäßiges Erscheinen ein Ganzes bilden, sondern welches das primäre Strukturmoment von Erfahrung ist. Es wird also gewissermaßen der Versuch gemacht, das In-Korrelation-Sein genauer denn als typischerweise bewusste und intentionale Bezugnahme zu beschreiben. Ein Beispiel hierfür ist nicht nur Husserls Diskussion der Intentionalität der Wahrnehmung, die gerade die horizontintentionale Verschränkung des Erscheinens von Gegenständen aufdeckt und ‚Welt‘ mit dem einstimmigen Fortgang der Erfahrung verbindet. (→ 1.2–1.5) Auch Merleau-Pontys Verweis auf die spezifisch chiastische Struktur der Erfahrung, welche die Unterscheidung von Wahrnehmen und Wahrgenommenem dynamisiert, lässt sich als Positionierung hinsichtlich der Frage verstehen, was die Struktur der Welt im Ganzen ist. Eine andere Belegung dieser Hinsicht ist die für den frühen Heidegger typische Bestimmung von „Weltbildung“ (GA 29/30, 507) als eminent zeitlichem Prozess der Projektion von Möglichkeiten, in Zukunft als Dasein zu existieren. Wieder andere Beispiele bieten Marions Phänomenologie der Gabe mit der Dreiheit von Gegebenem (don), Geber (donateur) und demjenigen, dem gegeben wird (adonné, Marion 2015, §§ 9–11), Richirs (1970, 9) Metapher des „sichtbaren Aufschäumens“ (écume visible) des Seins oder Sallis’ Rede von der konstitutiven Bildlichkeit phänomenalen Sinns. (→ 17.1) Hier von unterschiedlichen Interpretationen eines nicht trivialen Moments des Erscheinens von Welt zu sprechen, macht es möglich, diese verschiedenen, teils auch metaphorischen oder poetischen Beschreibungsmuster als genuin systematische Alternativen zu erörtern. Vor allem aber können unterschiedliche Stellungnahmen erläutern, auf welche Beschreibungen der Phänomene AutorInnen zurückgehen, um Festlegungen zu explizit metaphysischen Themen zu erläutern, etwa der Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit: Unterschied und Übergang zwischen diesen Kategorien müssen sich als Momente einer Beschreibung der Welt als einer Struktur ergeben, die Phänomene beider Modalitäten umfasst. In dieser dritten Hinsicht ist der Weltbegriff interpretatorisch und systematisch vielleicht am produktivsten zu gebrauchen.
16 Einleitung – Phänomenologische Metaphysik? Eine vierte Hinsicht ergibt sich aus der für die Phänomenologie vermutlich zuerst von Heidegger in radikaler Weise aufgeworfenen Frage, was Phänomenalität als solche ausmacht. ‚Welt‘ wird hier nicht als Anzeichen für ihre Funktion als Grund, als Beschreibung der Totalität des Seienden oder der Struktur des Phänomenalen verstanden, sondern als das bloße, bestimmungslose Erscheinen selbst in Anspruch genommen. Diese Perspektivnahme auf das Dass des Erscheinens hängt mit den drei anderen Hinsichten offenbar zusammen, lässt sich von diesen aber auch unterscheiden. Der späte Heidegger etwa unternimmt explizit den Versuch, „das Sein ohne das Seiende zu denken“, (GA 14, 29) was auf eine Beschreibung von Phänomenalität als solcher hinausläuft. (Figal 2009) Wenn auch in anderer Terminologie geht Marions oben erwähnter Versuch, reine Phänomenalität als gesättigte Gegebenheit zu erläutern, strukturell ähnlich vor. Auch Tengelyi (2014, 190; → 21.2) versteht es als Aufgabe der metaphysica generalis, die „Urtatsache des Erscheinens selbst“ zu beschreiben. Anders als die Vorstellung einer Totalität des Seienden sei dazu der Weltbegriff in besonderer Weise geeignet, da dieser sich mit der Idee einer absoluten Unendlichkeit verbinden lasse. Aber wo auch immer man ansetzt, um eine Beschreibung des Erscheinens als solchen zu generieren, diese Fragerichtung lässt sich von den anderen genannten Fragen unterscheiden. Eine minimale Phänomenologie der Welt sollte deshalb neben den Hinsichten von Grund, Totalität und Struktur des Phänomenalen die Möglichkeit im Blick behalten, dass unter dem Stichwort ‚Welt‘ auch das Erscheinen selbst verhandelt werden kann.
Kritische Metaphysik der Welt Wollte man diese vier heuristisch unterschiedenen Hinsichten als Ansatz der Position der Phänomenologie nehmen, wäre man über das hier gesteckte Ziel hinausgeschossen. Allerdings dürften diese Vorüberlegungen gezeigt haben, dass sich der Weltbegriff bzw. Diskussionen des Erscheinens von Welt als eine Art heuristischer Schlüssel eignen, um verschiedene metaphysische Themen in Verbindung mit ihrer genuin phänomenologischen Behandlungsart zu untersuchen und so über die rein historische Rekonstruktion hinaus auch einen systematischen Zugriff auf die Konstellation phänomenologischer Positionen zu Fragen der Metaphysik zu versuchen. Wenn sich der Begriff der Welt ein Stück weit klärt und sich abzeichnet, welche Phänomene damit auf welche Weise thematisiert werden können, dann dürfte klarer geworden sein, was mit dem oft wie selbstverständlich geäußerten Gedanken gemeint ist, metaphysisches Wissen sei Wissen über die Welt. Die Frage danach, was phänomenologische Metaphysik ist oder sein kann, würde dann in komplexerer Weise zu bestimmen suchen, wie wir über die Welt nachdenken können.
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Denn mit dem Versuch, die metaphysische Thematisierung von Phänomenen am Leitfaden des Weltbegriffs aufzuklären, verfolgt der Forschungsansatz dieses Bandes eine Fragestellung, die auch in ganz anderen Diskursen verhandelt wird. Peter Strawson etwa eröffnet Individuals mit einer Unterscheidung von Formen metaphysischen Denkens, die ganz selbstverständlich mit dem Weltbegriff als Anzeige für den Phänomenbereich der Metaphysik operiert. So beschreibt Strawson den Typus einer deskriptiven Metaphysik (descriptive metaphysics) dadurch, dass diese bemüht sei, die „actual structures of our thought about the world“ (1959, 9) zu erfassen. Auch wenn eine solche Reflexion auf Formen des Nachdenkens über Welt nicht mit der programmatischen Rückkehr zu den Sachen und dem Ziel der adäquaten Deskription gleichzusetzen ist, die bei phänomenologischen AutorInnen typischerweise besondere Bedeutung besitzen, ist es nach den oben angestellten Überlegungen für phänomenologische AutorInnen charakteristisch, dass sie das Ideal der deskriptiven Plausibilität mit Momenten dessen zu kombinieren suchen, was Strawson eine revisionäre Metaphysik (revisionary metaphysics) nennt. Wenn dieser Typ von Metaphysik versucht, an die Stelle der gegenwärtigen Strukturen des Denkens über die Welt eine neue, bessere zu setzen („to produce a better structure“), dann steht dies offenbar in Beziehung zur Funktion des Metaphysik-Begriffs als Fokus einer kritischen Reflexion, wie er sich bei phänomenologischen AutorInnen immer wieder findet. Sobald metaphysische Verpflichtungen Gegenstand philosophischer Reflexion werden, dann stellt sich auch die Frage, welches die wahre Metaphysik ist. Daraus folgt nicht zwangsläufig, dass Wahrheit das eigentliche Ausgangsthema der Metaphysik ist. (Figal 2019) Doch es macht darauf aufmerksam, dass in Formulierungen wie jener von Strawson unklar bleibt, welche Voraussetzungen im Begriff jener Welt enthalten sind, über die wir nachdenken und die es richtig zu beschreiben gilt. Gerade im Blick auf die Positionierungen phänomenologischer Metaphysik ist auffällig, dass der Wunsch nach Revision oft gerade durch die Beobachtung motiviert ist, dass unter ‚Welt‘ etwas Falsches verstanden wird und dieser Irrtum auf andere metaphysische Themen ausstrahlt. Andere AutorInnen lehnen aus ähnlichen Gründen ‚Welt‘ als Gegenstand der Metaphysik rundweg ab und bieten andere Leitbegriffe an. Aber unabhängig davon, wie die verschiedenen AutorInnen die Denkstile der Deskription und der Revision, der Metaphysik und Metaphysikkritik kombinieren und sich zu diesen Themen positionieren, es geschieht typischerweise in Auseinandersetzung mit dem Weltbegriff. Hier erreichen sie eine kritische Durchsicht der Strukturen unseres Denkens über metaphysische Probleme. Daher bietet sich dieser Begriff an, um Zugang zu den Grundfragen einer der zentralen Konstellationen der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu erhalten.
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1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? Thomas Arnold/Diego D’Angelo
Wie das Verhältnis von Phänomenologie und Metaphysik zu verstehen ist, hängt im Wesentlichen davon ab, was wir unter „Phänomenologie“ und „Metaphysik“ verstehen. Je nachdem ist Phänomenologie anti-metaphysisch, nicht-metaphysisch oder sie gibt Auskunft über metaphysische Fragen. Husserl selbst verwendet den Ausdruck „Metaphysik“ in verschiedenen Bedeutungen. (Römer 2017) In negativer Bedeutung ist damit eine akademisch-traditionelle Art des Philosophierens gemeint, die sich der richtigen Methode nicht versichert hat und die sachfern und nur mit Worthülsen – leeren „Substruktionen“ (Hua XXXII, 216) – operiert oder sich ihre Inhalte freischwebend zurechtkonstruiert. Wenn das so ist, verfährt Metaphysik in einer unzulässigen Abstraktion von der konkreten Erfahrung der Welt. Ein positiver Metaphysikbegriff für die husserlsche Phänomenologie lässt sich erst dann in Anspruch nehmen, wenn diesem Boden der konkreten Welterfahrung Rechnung getragen wird. Möchte man den metaphysischen Ertrag der husserlschen Phänomenologie messen, bietet sich gerade die Welt und ihre Erfahrung als möglicher Zugang zu dieser Thematik an. Wie später der Aufruf zur „Erneuerung“ und die Diagnose der Krise zur Austreibung der erfahrungsfremden Konstruktionen aus dem ethisch-politischen Bereich und den Wissenschaften auffordern, so zielt der phänomenologische Schlachtruf ‚Zu den Sachen selbst!‘ gerade darauf, weltfremde „Irrgänge“ (Hua XIX /1, 129) zu vermeiden. Auf phänomenologische Weise bei den Sachen selbst zu sein, bedeutet, ihr Erscheinen genau zu beschreiben, statt sie zu konstruieren; bedeutet auch, die eigene Terminologie nie zu verabsolutieren, sondern immer offen zu halten; bedeutet schließlich, bewusst den phänomenologischen Einstellungswechsel durch die Reduktionen vollzogen zu haben, statt einfach planlos und methodenfrei zu sprechen. In diesem Sinne ist Phänomenologie genau dann anti-metaphysisch, wenn sie sich gegen Ansätze, welche die Erfahrung der Welt vernachlässigen, als „bodenlose Metaphysik“ (Hua VII, 362) wendet. Das lässt sich mit Husserl auf den Punkt bringen: „Phänomenologische Auslegung ist also wirklich nichts dergleichen wie metaphysische Konstruktion, und nicht, weder offen noch versteckt, ein Theoretisieren mit übernommenen Voraussetzungen oder Hilfsgedanken aus der historischen metaphysischen Tradition“. (Hua I, 177)
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Die Metaphysik im schlechten Sinne wird uns im Folgenden nicht weiter thematisch beschäftigen. Die folgenden Ausführungen werden sich dagegen auf Husserls positives Verständnis der Metaphysik und seinen Versuch konzentrieren, metaphysische Themen unter phänomenologischen Vorzeichen anzusprechen. Ins Zentrum rückt dabei die Idee, phänomenologische Metaphysik sei eine Metaphysik der Welt. Hieraus ergibt sich auch die Gliederung dieses Beitrags. Nach einem Überblick über Husserls positiven Metaphysikbegriff (→ 1.1) werden zunächst das phänomenologische Konzept der Subjektivität (→ 1.2) und das Verhältnis von Phänomenologie und Ontologie (→ 1.3) besprochen. Im Anschluss (→ 1.4–1.14) zeigen wir, inwiefern sich in Husserls Werk Thematisierungen von verschiedenen metaphysischen Fragen finden lassen, die dann gerade in die Thematik der Welt münden.
1.1 Husserls positiver Metaphysikbegriff Positiv verwendet Husserl den Begriff ‚Metaphysik‘, um verschiedene Themenkomplexe zu beschreiben. Zunächst versteht er darunter – in Anlehnung an den Sprachgebrauch der Tradition, die er kannte – eine Gruppe von Problemen, die mit bestimmten Grundbegriffen der Wissenschaften zusammenhängen, z. B. ‚Außenwelt‘, ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ oder ‚Kausalität‘. Ausgreifender bedeutet ‚Metaphysik‘ dann auch die vollständig philosophisch reflektierte Gesamtheit der Wissenschaften, also die systematische Erkenntnis der Welt, die auch ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen mitbedenkt. ‚Metaphysik‘ in diesem Sinn betrifft Fragen, die für die Wissenschaften ihrem Ursprungssinn nach relevant sind, aber von ihnen nicht beantwortet werden können. Das phänomenologische Wissenschaftsideal des Ursprungssinnes wie auch die Problemstellung findet Husserl explizit bei Platon vorgezeichnet, (Arnold 2018) insofern dieser zum ersten Mal insistiert, dass echte Wissenschaft wesentlich eine „selbst von vollkommenster Einsicht erfüllte Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt“ (Mat IX, 32) impliziere, wobei die Wissenschaften in ihren methodisch ausdifferenzierten Einzeldisziplinen nicht von sich aus imstande sind, dieser Forderung gerecht zu werden. Solange diesem philosophischen Engpass der Einzelwissenschaften nicht abgeholfen ist, geht ihnen nach Husserl der Charakter der Wissenschaft ab, wie er etwa in Formale in transzendentale Logik (1929) ausführt: in „Wahrheit sind Wissenschaften, […] die mit Grundbegriffen operieren, die nicht aus der Arbeit der Ursprungserklärung und Kritik geschaffen sind, überhaupt keine Wissenschaften, sondern bei aller ingeniösen Leistung bloß theoretische Techniken“. (Hua XVII, 189; Hua VI, 201) Bereits in den Logischen Untersuchungen aus den Jahren 1900/01 postuliert Husserl zu Beginn der Prolegomena, dass für die abschließende Klärung der Wissenschaften eine „Klasse von Untersuchungen herangezogen werden muss,
22 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? die in das Reich der Metaphysik gehören“. (Hua XVIII, 26) Dabei muss überprüft werden, welche Voraussetzungen allen Wissenschaften, die sich mit der Wirklichkeit beschäftigen, zugrunde liegen, beispielsweise die Annahme der Existenz einer Außenwelt mit stabilen Kausalgesetzen. Das Außenweltproblem, das Wesen von Raum, Zeit und Kausalität gehören für den Husserl der Logischen Untersuchungen also allesamt zur Metaphysik, und wir werden im dritten Teil dieses Beitrags näher darauf eingehen. Zunächst muss man aber feststellen, dass solche Untersuchungen für Husserl nur dann möglich sind, wenn zuvor eine Wissenschaftslehre etabliert ist. Darin besteht die Aufgabe der reinen Logik, wie Husserl sie konzipiert. In den Logischen Untersuchungen werden solche Fragen von Husserl jedoch explizit ausgeschlossen. (Hua XIX /6, 27 f.) Die Logischen Untersuchungen haben daher keinen positiven metaphysischen (etwa realistischen) Anspruch. Ihre phänomenologischen Beschreibungen stehen „vor aller Metaphysik und an der Pforte der Erkenntnistheorie“. (Hua XIX /1, 401) In der Tat schreibt Husserl: „metaphysische Fragen gehen uns hier nicht an“, sie werden lediglich erwähnt, „um gleich von vornherein der Vermengung zwischen metaphysischem und logisch-noetischem Skeptizismus zu begegnen“. (Hua XVIII, 122) Der Punkt der Vorgängigkeit der Erkenntnistheorie bzw. -kritik wird auch in den Vorlesungen 1907 zur Idee der Phänomenologie wieder aufgegriffen: Eine metaphysische Auseinandersetzung mit den Einzelwissenschaften ist nur möglich auf Grundlage einer radikalen Erkenntniskritik auf phänomenologischem Boden. (Hua II, 14; 22) Damit wird der Sinn einer echten Metaphysik aber keineswegs geleugnet: Metaphysik ist hier Ontologie als „Wissenschaft vom Seienden im absoluten Sinne“, (Hua II, 23) baut aber explizit auf Erkenntniskritik oder Erkenntniswissenschaft auf: „Von dem Glücken dieser Wissenschaft hängt offenbar die Möglichkeit einer Metaphysik ab, einer Seinswissenschaft im absoluten und letzten Sinn“. (Hua II, 32) Mit den Ideen I, erschienen 1913, erweitert sich dann der Kreis desjenigen, das für Metaphysik notwendig ist – denn insofern auch die Metaphysik auf Wesenserkenntnisse abzielt, muss die systematische Erforschung von „Wesensnotwendigkeit“ (Hua III/1, 348) die notwendige Grundlage jeder Metaphysik sein, die „als Wissenschaft wird auftreten können“, (Hua III/1, 8; Hua V, 159) wie Husserl in Anlehnung an Kant schreibt. Die Theorie der begrifflichen Grundlagen der Wissenschaften bedarf also auch einer Theorie der Theoriebildung über jene Grundlagen, wozu u. a. eine Theorie der Erkenntnismodalitäten gehört. Nach dem Erscheinen von Ideen I bezeichnet ‚Metaphysik‘ dann zunehmend nicht nur die beschränkte Gruppe der oben genannten Probleme, sondern die Gesamtheit der phänomenologisch fundierten Wissenschaften. Metaphysik in diesem umfassenden Sinn wäre mithin die vollständige und kritisch gesicherte Erkenntnis der Wirklichkeit oder des Universums der Fakten. (Hua IX, 298) Auch jetzt stellt Husserl fest, „die bisherigen Wissenschaften genügen nicht –
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in der Naivität ihrer positiven Wahrheitsbegründung. Die transzendentale Subjektivität […] bleibt anonym. Vollkommene Wissenschaft muss auch Wissenschaft der transzendentalen Ursprünge sein.“ (Hua VIII, 356) – So formuliert er es in den 1923/24 gehaltenen Vorlesungen zur ersten Philosophie. Damit ist das Kernthema jener Reflexionen angesprochen, derer die Wissenschaften nach Husserl zu ihrer Vervollständigung bedürfen: die transzendentale Subjektivität, also die Gesamtheit von Strukturen und Leistungen des Subjekts bzw. der Subjekt-Gemeinschaft, die die Möglichkeit von Wissenschaft begründen. (Bernet 1994) Husserl versteht ‚Metaphysik‘ nun nicht mehr nur als eine Art von universaler Wissenschaftstheorie, sondern auch als philosophische Theorie der Faktizität, also als Erforschung der Tatsache, dass überhaupt transzendentalen Subjekten etwas auf bestimmte Weise erscheint. Dazu gehört auch die Frage, wie sich dieses Erscheinen entwickelt bzw. weiter entwickeln soll. In seiner 1936 (teilweise) erschienenen Krisis-Schrift nennt Husserl Metaphysik in diesem Sinn daher auch „Wissenschaft von den höchsten und letzten Fragen“, die alle „Probleme der Vernunft“ behandelt, die wiederum Fragen nach wahrer Erkenntnis, echter Wertung, ethischer Handlung, nach dem Menschen als „Vernunftwesen“, der „Vernunft in der Geschichte“, der „Unsterblichkeit“ und schließlich das „Gottesproblem“ umfassen. (Hua VI, 7; Moran 2012) Metaphysik in diesem letzten Sinn einer Theorie der Faktizität behandelt also nach Husserl normative und teleologische Fragen, inklusive der brennenden Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit des Lebens. Obwohl bei Husserl der Sprachgebrauch schwankt und nicht immer ganz klar ist, wie der jeweils mit „Metaphysik“ bezeichnete Problemkreis verstanden ist, unterscheiden wir nach dieser kurzen Skizze zwei positive Grundbedeutungen von „Metaphysik“ bei Husserl: Zum einen Metaphysik als philosophischer Bestandteil einer vollständigen Weltwissenschaft bzw. als diese Weltwissenschaft selbst und zum anderen Metaphysik als Theorie der Faktizität. Neben diesen husserlschen Metaphysik-Begriffen lassen sich natürlich auch traditionelle wie aktuelle Auslegungen von ‚Metaphysik‘ in Anschlag bringen, um dann zu sehen, ob und wie Husserl zu metaphysischen Fragen Stellung nimmt. Nimmt man etwa die Unterteilung in alte und neue metaphysische Themen zur Hand, die der Eintrag „Metaphysics“ der Stanford Encyclopedia anbietet (‚Sein als solches, erste Ursachen‘, ‚Kategorien und Universalien‘, ‚Substanz‘, ‚Modalität‘, ‚Raum und Zeit‘, ‚Persistenz‘, ‚Kausation, Freiheit und Determinismus‘, ‚das Mentale und das Physische‘), so zeigt sich im Blick auf sein Gesamtwerk, dass Husserl durchaus auch zu allen so bestimmten metaphysischen Fragen beiträgt. Insofern Husserl nach Erscheinen seiner Logischen Untersuchungen die Phänomenologie als Transzendentalphilosophie entwickelt, erhalten jedoch alle husserlschen Antworten auf metaphysische Fragen ein transzendentales Vorzeichen, so dass sich wiederum die Frage stellen lässt, ob Husserl metaphysische Fragen in diesem
24 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? Sinn überhaupt beantwortet oder sie vielmehr selbst transformiert. Um dieser Lage einigermaßen gerecht zu werden, werden wir im Folgenden die spezielle transzendentale Anlage der husserlschen Phänomenologie skizzieren, um dann Husserls transzendental-phänomenologische Beiträge zu verschiedenen (und auf verschiedene Weise) metaphysischen Fragen vorzustellen.
1.2 Das phänomenologische Konzept der Subjektivität Husserl bezeichnet seine eigene Philosophie nach den Logischen Untersuchungen eine Zeit lang als transzendentalen „Idealismus“ und als „idealistisch“ – und dann wieder als maximal realistisch: „Kein gewöhnlicher ‚Realist‘ ist je so realistisch und so concret gewesen als ich, der phänomenologische ‚Idealist‘ (ein Wort, das ich übrigens nicht mehr gebrauche).“ (Brief an Abbe Baudin 1934, Hua Dok III/7, 16) Diese Selbstinterpretation zeigt erstens, dass Husserls Wortgebrauch auch in dieser Frage schwankt und zweitens, dass sich für Husserl Realismus und Idealismus offenbar nicht gegenseitig ausschließen. Die Termini ‚Realismus‘ und ‚Idealismus‘ müssen in jedem Fall vorsichtig und textnah expliziert werden. Mindestens zwei Problemfelder lassen sich mithilfe dieses Wortpaares bei Husserl beschreiben: einerseits die Frage nach der Charakterisierung des Logischen, Idealen oder Abstrakten, andererseits die Frage nach dem Ursprung von Sinn, Sein oder Wirklichkeit. Uns interessiert zunächst der Idealismus im letzteren Sinn, der sogenannte transzendentale Idealismus. (Jansen 2017) Hier geht es um die Frage, wie das Verhältnis von Objektivem und Subjektivem überhaupt zu denken ist, (Willard 1984) wobei das Objektive sowohl Reales wie Ideales umfasst. Husserl wählt zur Beschreibung dieses Verhältnisses die Ausdrücke „Korrelation“, „Intentionalität“ und „Konstitution“: Subjekt und Objekt sind korreliert, d. h. Subjekt-Sein und Objekt-Sein sind zueinander relativ; das Subjekt intendiert das Objekt, d. h. das Subjekt bezieht sich auf das Objekt (erkennend, wertend, wollend); das Subjekt konstituiert das Objekt, d. h. Subjektivität lässt Gegenstände erst erscheinen, die Subjektivität entdeckt Gegenstände und umgekehrt gehört zum Wesen der Gegenständlichkeit die Möglichkeit des Erscheinens und der Erkenntnis. Das Subjekt ist der „Urstand“, (Hua XXXIII, 277) gegen den alle Gegenstände erst zum Stehen kommen und der die Gegenständlichkeit aller Gegenstände bedingt, ohne dass es die Gegenstände aus sich hervorbringt oder verfertigt. Den merkwürdigen Begriff „Urstand“ muss man daher terminologisch in dem Sinne fassen, dass die Subjektivität das Stehen der Dinge bedingt: Dinge ‚stehen‘, weil das Subjekt sie erscheinen lässt. (→ 1.8) ‚Konstitution‘ heißt also nicht, wie oftmals fälschlich angenommen, Produktion. Die ganze Phänomenologie ist Konstitutionsforschung, insofern sie fragt, wie Dinge erscheinen. Die Mittel, mit denen Husserl diese Fragestellung eröffnet,
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sind Epoché und transzendentale Reduktion. Mit der Epoché, also der Enthaltung von ‚natürlichen‘ Urteilen, soll verhindert werden, dass wir einfach weiter über die Dinge, die Welt und uns selbst sprechen, wie wir sie in der natürlichen Einstellung, also vor jeder Philosophie erfahren, nämlich als reale Gegenstände, die einfach selbstverständlich da sind und die sich z. B. ebenso selbstverständlich handwerklich benutzen oder wissenschaftlich erforschen lassen. Wollen wir Philosophie betreiben, müssen wir diese Diskurse aussetzen und die Selbstverständlichkeiten einklammern. Die transzendentale Reduktion lenkt dann die Aufmerksamkeit darauf, dass das Erscheinen der Dinge (als Dinge, als real, als sinnvoll, als geltend etc.) bestimmte Bedingungen der Möglichkeit hat, die im Subjekt liegen. Die Selbstverständlichkeiten sollen in Verständlichkeiten überführt werden. Husserl positioniert sich damit an einer Schwelle, an der man nicht mehr einfach von ‚Idealismus‘ oder ‚Realismus‘ sprechen kann, sondern versucht, diese Polarisierung aufzuheben. (Zahavi 2008) Wenn ‚Idealismus‘ also so viel besagen soll wie die Herstellung von Gegenständen durch ein Subjekt, dann ist Husserl in diesem Sinn kein Idealist. Selbst nach seiner sogenannten transzendentalen Wende und noch in Formale und transzendentale Logik beharrt er darauf, dass sowohl idealen wie realen Gegenständen „ihr aktuelles Erkannt-werden, originär Gegeben-, logisch Bestimmt-, in theoretischen Zusammenhängen Gedacht-werden […] außerwesentlich“ (Hua XVII, 388; 392) ist. Die Naturobjekte haben wahres Sein, sind wirklich-real. (→ 1.12) Obwohl das Subjekt seine Objekte also nicht herstellt oder sie bloß halluziniert, bedingt es sie auf näher bestimmbare Weise. Dieses Bedingungsverhältnis ist eines der Sinngebung und des In-Geltung-Setzens: Jenseits der sinngebenden Akte ist jede Rede von Sein oder Realität sinnlos, der transzendentale Realismus daher „prinzipiell widersinnig“, (Hua V, 151) Gegenstände außerhalb aller möglichen Korrelation mit einem Subjekt sind laut Husserl „ein Nonsens“, (Hua XVII, 458) genau wie die Ansetzung einer „Welt an sich“ unsinnig ist. (Hua XXXIX, 722) Gegenständlichkeit wie Welthaftigkeit sind also nicht identisch mit Intendiertheit, wohl aber implizieren sie (ideale) Intendierbarkeit. Husserl setzt sich damit auch von Descartes’ „transzendentale[m] Realismus“ (Hua I, 9; 63) ab. In der fünften Cartesianischen Meditation (1931) stellt Husserl fest, dass es diesem Realismus an „phänomenologischer Grundlegung“ fehlt, eine Grundlegung wiederum, die nur im transzendentalen Idealismus gefunden werden kann. Es handelt sich bei Husserls Phänomenologie um einen „Idealismus, der nichts weiter ist als in Form systematisch egologischer Wissenschaft konsequent durchgeführte Selbstauslegung meines Ego als Subjektes jeder möglichen Erkenntnis, und zwar in Hinsicht auf jeden Sinn von Seiendem, mit dem es für mich, das Ego, eben soll Sinn haben können“, so ist Idealismus die „systematische Enthüllung der konstituierenden Intentionalität selbst“: (Hua I, 118) „der Erweis dieses Idealismus ist die Phänomenologie selbst. Nur wer den tiefsten Sinn der intentionalen Methode oder den der transzendentalen Reduk-
26 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? tion oder gar beide missversteht, kann Phänomenologie und transzendentalen Idealismus trennen wollen“. (Hua I, 119) Husserls transzendental-philosophischer Idealismus nimmt daher historisch und systematisch eine eigene Stellung ein und koinzidiert mit dem Leitgedanken der Phänomenologie, nach dem Gegenstände immer nur für das Bewusstsein Sinn und Geltung haben: Wahrheit und wahres Sein realisieren sich im Bewusstsein. (Hua VIII, 182) Insofern kann Husserl das Bewusstsein bzw. die transzendentale Subjektivität als absolute ansprechen: gerade im Rekurs auf den Begriff des Absoluten liegt ein – in bestimmtem Sinne – metaphysisches Moment der husserlschen Subjektivitätskonzeption. Während die Welt als die eine Seite der Korrelation durch die Subjektivität bedingt ist, ist diese ihrerseits un-bedingt und daher absolut. Als letzter Boden, der das Erscheinen ermöglicht, ist Subjektivität durch nichts anderes ermöglicht und ‚steht‘ für sich selbst da – daher kann Husserl von „Urstand“ reden, wie oben erwähnt. „Alles Seiende (das je für uns Sinn hatte und Sinn haben kann) steht als intentional konstituiert in einer Stufenfolge intentionaler Funktionen […] Alles Seiende ist […] relativ auf die transzendentale Subjektivität. Sie aber ist allein ‚in sich und für sich‘.“ (Hua XVII, 279) Die transzendentale Subjektivität konstituiert sich mithin selbst, sie gibt sich ihren Sinn selbst. (→ 1.8) Ungeachtet dieser Absolutheit des konstituierenden Subjekts beharrt Husserl, wie gesehen, darauf, dass sein transzendentaler Idealismus zugleich maximal realistisch ist: Er geht von der Selbstverständlichkeit aus, dass ich dessen gewiss bin, Mensch zu sein, in einer Welt zu leben und mit anderen Menschen zu existieren, bemüht sich aber gleichzeitig um die Klärung dieser Selbstverständlichkeit. (Hua IV, 190 f.) Damit ist zugleich Husserls epistemische Grundabsicht ausgesprochen, diese Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, um sie verstehen zu können. Ein Beweis der Objektivität ist nicht notwendig, denn sie ist eben selbstverständlich. Was Objektivität aber bedeutet, ist und bleibt ein Rätsel. (Hua VI, 193) Als Transzendentalphilosophie ist Phänomenologie weder realistisch noch idealistisch im traditionellen Sinn, insofern das Subjekt die Welt weder bloß vorfindet noch produziert. Subjekt und Welt stehen sich korrelativ gegenüber, das Subjekt konstituiert die Welt, aber die Phänomenologie ist dadurch nicht subjektivistisch – sie beschreibt und erforscht die Korrelation, die Formen der Intentionalität und die Weisen der Konstitution, ohne sich metaphysisch auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Husserl bekämpft daher schon in den Prolegomena (1900) explizit Formen des Subjektivismus, nach denen konkrete psychische Vorgänge die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis sein sollen. Diese Bedingungen sind nicht „reale Bedingungen, die im einzelnen Urteilssubjekt [Psychologismus, T. A./D. D.] oder in der wechselnden Spezies urteilender Wesen (z. B. der menschlichen) wurzeln [Anthropologismus, T. A./D. D.], sondern ideale Bedingungen, die in der Form der Subjektivität überhaupt und in deren Beziehung zur Erkenntnis
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wurzeln.“ (Hua XVIII, 119) Unter ‚Subjektivität‘ versteht Husserl hier das Bewusstsein, dem die ganze fünfte Logische Untersuchung gewidmet ist. In dieser Untersuchung wird die Haupteigenschaft des Bewusstseins herausgearbeitet, nämlich seine Intentionalität: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Bewusstsein so verstanden ist das Feld der Erscheinungen und als solches Hauptthema der Phänomenologie. Bewusstsein hat dabei einerseits die Bedeutung der Gesamtheit der psychischen Erlebnisse in ihrer Verwobenheit miteinander. Andererseits hat das Bewusstsein aber auch den Sinn eines „innere[n] Gewahrwerden[s] von eigenen psychischen Erlebnissen“. Bewusstsein ist somit eine „zusammenfassende Bezeichnung“ für alle psychischen Akte und intentionalen Erlebnisse. (Hua XIX /1, 356) Ein reines Ego taucht, etwa als subjektiver Pol des Bewusstseins, der diese Akte bündelt, in der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen nicht auf: „Nun muss ich freilich gestehen, dass ich dieses primitive Ich als notwendiges Beziehungszentrum schlechterdings nicht zu finden vermag“, (Hua XIX /1, 374; Lohmar 2009) schreibt Husserl. In den Logischen Untersuchungen ist das Ich hauptsächlich empirisches Ich. (Hua XIX /1, 355 f.) Wenn es um das „reine Ich“ geht, (Hua XIX /1, 372) dann nur in Abgrenzung von Paul Natorp. Dazu bemerkt Husserl jedoch in der zweiten Auflage des Werkes (zeitgleich mit dem Erscheinen der Ideen I überarbeitet): „Inzwischen habe ich es zu finden gelernt, bzw. gelernt, mich durch Besorgnisse vor den Ausartungen der Ichmetaphysik in dem reinen Erfassen des Gegebenen nicht beirren zu lassen“. (Hua XIX /1, 372) Die Hinzunahme des Ichbegriffs in der zweiten Auflage markiert den Übergang zur idealistisch-transzendentalen Phänomenologie. Weiter ausgearbeitet wird diese zentrale Stellung des Ich vor allem in den Vorlesungen zur Idee der Phänomenologie 1907 in Rückblick auf Descartes’ ego cogito. So „bietet uns einen Anfang die Cartesianische Zweifelsbetrachtung: Das Sein der cogitatio, des Erlebnisses während des Erlebens und in schlichter Reflexion darauf, ist unzweifelhaft“. (Hua II, 4) Damit eröffnet sich eine „Sphäre der absoluten Gegebenheiten“, (Hua II, 31) nämlich die Sphäre des reinen Bewusstseins. (Hua II, 46) Das reine Bewusstsein ist, wie oben schon betont, weder mit dem einzelnen, empirischen Menschen noch mit einer Struktur der Spezies Mensch identisch. Husserl konstatiert vielmehr eine Einheits-Funktion des Ich, die darin besteht, dass der „Ichpol als fungierendes Ich“ die Akte des gesamten Bewusstseins- bzw. Zeitstromes auf allen Ebenen einer „sie polarisierenden Synthese“ (Mat VIII, 190) unterzieht und ihnen dadurch überhaupt erst Zusammenhang, Ordnung und gemeinsame Beziehung auf ihre intentionalen Objekte verleiht. Das Ich ist so „das identische Zentrum, der Pol, auf den der gesamte Gehalt des Erlebnisstroms bezogen ist“, (Hua XXXIV, 277) „Ureinheit“, (Hua VIII, 224) „notwendig dabei als numerisch einziger Subjektpol von Ichaffektionen und Ichverhaltungsweisen“. (Hua XXXIV, 286) Diese Einheit und die Identität des Ich unterscheiden sich radikal von allen anderen Einheiten und Identitäten, da sie „nicht durch eine
28 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? aktive Identifikation“ (Mat VIII, 190) konstituiert sind: „die Identität des Ich ist nicht bloße Identität des Dauernden, sondern die Identität des Vollziehers, und wenn schon sich auch eine Dauereinheit konstituiert, so bleibt es ein einzigartiges Eigenes, was da Identität des Vollziehers heißt“. (Mat VIII, 202) Das Ur-Ich ist also nicht einfach nur mit sich identisch wie jeder andere Gegenstand, sondern es ist mit sich identisch als dasjenige, was die Identifizierungen vornimmt. Es ist sich selbst prä-reflexiv in seinen Akten bekannt. Im Verlauf seiner Forschungen unterscheidet Husserl dann verschiedene Stufen und Dimensionen der Subjektivität, je nach Abstraktionsebene und Interesse. So ist z. B. das Subjekt als Person nicht dasselbe wie das Ur-Ich, das sich auf der untersten Analyse-Stufe als Einheitsquell des Zeitbewusstseins zeigt und das keine personalen Merkmale aufweist – der Urstand hat keine Charakterzüge; das empirische Subjekt als Seele betrachtet ist nicht dasselbe wie das transzendentale Subjekt als Monade genommen. (Altobrando 2011) Außerdem stellt er fest, dass Subjektivität nicht in jedem Fall als sozusagen leeres Aktionszentrum oder bloßes „Subjekt von Vermögen“ (Hua IV, 253) zu denken ist, sondern eine innere Geschichte hat, Angewohnheiten entwickelt, einen Stil (der Konstitution) ausprägt und dauernde Eigenschaften erhält, die durch seine eigenen Akte gestiftet sind. Husserls Subjektivitätsbegriff entwickelt sich also. In der Phase der ersten Auflagen der Logischen Untersuchungen ist Subjektivität mit Bewusstsein, und zwar einem (noch) nicht transzendental gedachten Bewusstsein, äquivalent: Subjektivität ist ein Bündel von Bewusstseinsakten. Dagegen lässt sich mit der transzendentalen Wende eine Reihe von Ich-Begriffen unterscheiden, die Husserl je nach Funktion und Beschreibungsebene anwendet: das Ich, das reine Ego, das kinästhetische, habitualisierte, affektive Ich, die Seele, die Person, die Monade – um nur einige zu nennen. (Marbach 1974) Im Folgenden gehen wir auf einige dieser Begriffe näher ein, schicken aber eine allgemeine Klärung der transzendentalen Rolle der Subjektivität im Hinblick auf die Welterfahrung voraus. Die Subjektivität ist insofern transzendental, als die Konstitution der Welt auf ihr basiert; (Hua I, 58) sie ist Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens, die Phänomenologie wiederum ist Wissenschaft „der konkreten transzendentalen Subjektivität“. (Hua I, 68) Insofern sie sich selbst konstituiert, ist, wie gesehen, die transzendentale Subjektivität auch das Absolute: „Das einzig absolute Sein ist aber Subjektsein, als für sich selbst ursprünglich Konstituiertsein“. (Hua VIII, 190) Daher kann Husserl die Phänomenologie qua Erforschung der transzendentalen Subjektivität auch „Wissenschaft vom Absoluten“ (Hua XLII, 248 u. ö.) nennen – und auch als Selbstentfaltung des Absoluten begreifen: „Philosophie selbst [ist] nur systematische Entfaltung der transzendentalen Subjektivität in Form systematischer transzendentaler Selbsttheoretisierung“. (Hua VIII, 167) Das reine Ego, das nach der Epoché bleibt, ist dabei kein „Endchen der Welt“: (Hua I, 63) Das Ich, das im alltäglichen Leben immer ein interessiertes Subjekt ist, das am Weltgeschehen teilnimmt, wird durch phänomenologische Reduk-
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tion zu einem „uninteressierte[n] Zuschauer“, (Hua I, 73) der keine weltlichen Interessen (weder praktische noch theoretische) mehr hat, der das Phänomen ‚Welt‘ aber reflexiv betrachten und die Bedingungen und Strukturen deren Erscheinens beschreiben kann. Dieser phänomenologisch reduzierte Zuschauer ist als methodologische Metapher zu verstehen; ansonsten ist das Subjekt der Phänomenologie immer interessiert und in der Welt engagiert. Indem das Ich als identischer Pol seiner Erlebnisse ebendiese Erlebnisse betrachtet, tritt es in eine eigentümliche Dynamik der Selbstkonstitution ein. (Hua I, 100) Das Ich erfasst sich nämlich selbst als Pol seiner Erlebnisse: Eine „Art der Synthese“ übergreift die Mannigfaltigkeit der cogitationes. (Hua I, 100; Micali 2008) Dieser Pol bleibt aber nicht leer und unbestimmt: Bei jedem neuen Akt werden Habitualitäten gestiftet, nämlich so-und-so zu urteilen, wahrzunehmen etc. Daher ist das Ego nicht nur reines Ego, sondern auch – je nach Funktion – als „Substrat von Habitualitäten“ zu begreifen. (Hua I, 100) Von diesem Ego als Pol und Substrat lässt sich die konkrete Subjektivität abgrenzen, die das ganze intentionale Leben miteinbezieht. Diese wird von Husserl in Anlehnung an Leibniz „Monade“ genannt. (Hua I, 102; Hua XIII, 191) „Monade“ ist die konkreteste Bezeichnung der Subjektivität, über die Husserl verfügt: Der Begriff der Monade umfasst den Einzelmenschen mitsamt all seinen Bewusstseinsakten und -inhalten, Dispositionen, Habitualitäten usw. Die Monaden sind jedoch nicht alleine; wir sind vergemeinschaftet und beziehen uns zusammen auf die Welt. Die transzendentale Subjektivität wird daher zu einer „transzendentalen Intersubjektivität“ erweitert. (Hua I, 69; Zahavi 1996) Die Analyse der Selbstkonstitution der Monade zusammen mit der Untersuchung der Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität deckt sich mit der Phänomenologie überhaupt. (Hua I, 103) War das Ich absolut im Sinne der Selbst-Konstitution, ist die Totalität der intersubjektiv verknüpften Monaden insofern absolut, als sich in ihr alle Konstitution abspielt – sie ist daher das einzig angemessene Korrelat von Welt: „Ich als fungierendes Ich – das eben als Ich, als Bewusstseinsubjekt – in Konnex mit anderen fungierenden Ich“ konstituiere die Welt. Es gibt einen „Konnex im Fungieren. […] Das Universum der kommunizierenden ichlichen Subjektivität (das Monadenall, Ichall), als Korrelat das weltliche Universum“. (Hua XV, 409) Die Gemeinschaft der Subjekte ist der Träger der objektiven Welt; aber die Möglichkeit der Gemeinschaft ist ihrerseits auf das Ur-Ich als „Quellpunkt“, (Mat VIII, 404) Einheits-Pol oder „Einheitsgrund“ (Hua VIII, 29) allen konstituierenden Bewusstseins zurückgeführt. Das „gesamte absolute Sein ist das des Universums transzendentaler Subjekte, die miteinander in wirklicher und möglicher Gemeinschaft stehen. So führt die Phänomenologie auf die von Leibniz in genialem aperçu antizipierte Monadologie.“ (Hua VIII, 190) Das Absolute in diesem Sinne ist nicht mehr je meine Subjektivität, sondern die transzendentale Intersubjektivität. Sie ist absolut insofern das konkrete Monadenall alles enthält –
30 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? dem entspricht die epistemologische Absolutheit als Universalität. In diesem All ist die ganze Welt als Korrelat der Leistungen der transzendentalen Gemeinschaft beschlossen, nichts liegt außerhalb dieser Totalität aller vergemeinschafteten Subjekte.
1.3 Phänomenologische Ontologie Innerhalb des eben skizzierten transzendentalen Rahmens, den Husserl bald nach den Logischen Untersuchungen zu entwickeln beginnt, taucht die Verbindung von Erkenntnistheorie und Metaphysik wieder auf, allerdings in sozusagen transzendentalisierter Form. Das bedeutet, dass die sachhaltigen Probleme, die vorher unter dem Titel ‚Metaphysik‘ firmierten (Außenwelt, Raum, Zeit, Kausalität etc.), nun einer Seite der Konstitutions-Korrelation zugerechnet werden, die immer nach beiden Seiten untersucht werden muss. So soll etwa Räumlichkeit, wie sie jeweils an den Dingen erscheint, untersucht werden, aber auch die Weise, wie sie erkannt bzw. konstituiert wird. Die Untersuchungen zu den Merkmalen der Objekt-Seite der Korrelation nennt Husserl nun „Ontologie“; die Untersuchungen zu den korrelativen, sie konstituierenden Akten gehören zur Transzendentalphänomenologie im engeren Sinn. Nachdem wir soeben den ersten Beziehungspol der Korrelation, die transzendentale Subjektivität als zentrales Konzept des transzendentalen Idealismus analysiert haben, wenden wir uns nun der Objekt-Seite zu und versuchen, den Sinn einer phänomenologischen Ontologie anhand exemplarisch ausgewählter Begriffe zu veranschaulichen. Ontologie als Analyse der Welt gliedert sich für Husserl in regionale oder materiale sowie in formale apriorische Disziplinen. Regional sind Ontologien, wenn sie nicht für alle Gegenstände gültig sind, also nur für eine bestimmte Region des Seienden gelten. Fragen der Kausalität betreffen ideale Gegenstände zum Beispiel nicht. Zu jeder regional abschließbaren Sphäre individuellen Seins, im weitesten logischen Sinne, gehört eine Ontologie, z. B. zur physischen Natur eine Ontologie der Natur, zur Animalität eine Ontologie der Animalität […]. Den materialen Ontologien steht gegenüber die ‚formale‘ Ontologie (in eins mit der formalen Logik der Denkbedeutungen), ihr zugehörig die Quasi-Region ‚Gegenstand überhaupt‘. (Hua III/1, 126)
Was die ontologische Fragerichtung angeht, sieht Husserl die „alte durch den Kantianismus und Empirismus so verpönte Idee einer apriorischen Ontologie“ (Hua XVII, 90) gerade durch seine Logischen Untersuchungen rehabilitiert, in denen er tatsächlich nicht nur „die formale Logik zugleich als eine Apophantik und als eine apriorische formale Gegenstandslehre charakterisiert“, (Hua XVII, 93) sondern mit der dritten Untersuchung auch konkrete ontologische Analysen vorlegt, nämlich eine detaillierte formale Mereologie. Als Beispiele für regionale
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Ontologien kann man eine Ontologie der Natur (Hua III/1, 24 ff.) oder eine Ontologie der Werte (Hua III/1, 343) anführen. Generell sind die unterschiedlichen Klassen von Akten, die ihre Gegenstände originär geben (Wahrnehmung, Wert-Nehmung, Urteil etc.), „notwendige Quellen verschiedener Seinsregionen und damit auch zugehöriger Ontologien“. (Hua III/1, 272) Diese Regionen sind „Leitfaden für eine eigene geschlossene Untersuchungsgruppe“. (Hua III/1, 344; 358 f.) Husserl denkt hier an eine doppelte Forschungsrichtung: Einerseits können wir auf die Akte reflektieren, in denen verschiedene Arten von Gegenständen gegeben werden, andererseits können wir untersuchen, welche allgemeinen Merkmale die erscheinenden Gegenstände haben, die den unterschiedlichen Akt-Arten zugehören. Wir fragen dann korrelativ: ‚Was macht Akte der Wahrnehmung als solche aus?‘ – ‚Was macht Wahrgenommenes als solches aus?‘ Die Ontologien sind dabei, wie schon erwähnt, in gewisser Hinsicht nicht Teil der Transzendentalphänomenologie. (Hua XIII, 131) Die Differenz zwischen apriorischer Ontologie und transzendentaler Phänomenologie liegt darin, dass für den Phänomenologen „alles Sein, transzendental betrachtet, in einer universalen subjektiven Genesis steht“. (Hua VIII, 225) Die Ontologie fällt daher nicht mit der Phänomenologie zusammen, wohl aber steht sie zu ihr in einem Verhältnis der „Einbezogenheit“. (Hua V, 77) Die apriorischen Gesetze der Ontologie „stehen nur als Indices für noematische Zusammenhänge“, (Hua V, 92) die „ontologische Wahrheit indiziert noematische Regeln für synthetisch-einstimmige Erfahrungen“. (Hua VIII, 109) Anders ausgedrückt: Wahrheiten über das Sein eines Dings verweisen darauf, wie dieses Ding als erscheinendes (Noema) sich zeigen muss. Aufgabe der Phänomenologie ist, die Regeln des Erscheinens zu explizieren, worin sich die Möglichkeit einer Ontologie erfüllt. Insofern all diese ontologischen und prä-ontologischen Untersuchungen im Ausgang vom transzendentalen Bewusstsein verfolgt werden, lässt sich jedoch auch umgekehrt die Phänomenologie als „die wahre und echte universale Ontologie“ (Hua I, 181) verstehen; Husserls Terminologie ist hier nicht immer ganz eindeutig. Vor der Einbindung in die korrelativen Untersuchungen der transzendentalen Phänomenologie sind die formale Ontologie sowie die regionalen Ontologien jedenfalls nur „Einseitigkeiten des Apriori“, (Hua VIII, 224) die ausschließlich durch die phänomenologische Reduktion zu einer „konkreten Ontologie“ ausgebaut werden können, „die alle zum Seienden gehörigen Korrelationen des Apriori systematisch umspannt“ (Hua VIII, 214). Dadurch werden die Fragen der einseitigen Ontologie in das transzendental-phänomenologische Register transponiert. Jede Ontologie oder Logik, die nicht transzendental-phänomenologisch in den Akten der Subjektivität gegründet ist, zieht sich in Husserls Augen den Vorwurf der „Selbstvergessenheit“, (Hua VIII, 227) der Naivität und des Dogmatismus zu. Eine Ontologie, die ihr Ziel (vollständiges Verständnis des Seins und der Seienden) erfüllt, ist daher für Husserl nur in
32 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? phänomenologischer Einstellung und d. h. nach Vollzug der transzendentalen Reflexion möglich: „Alle philosophischen Ontologien sind transzendental-idealistische Ontologien“. (Hua VIII, 482) Wenn wir ‚Metaphysik‘ aristotelisch als Untersuchung des Seienden qua Seienden, also als Ontologie verstehen, dann ist die Metaphysik auf diese Weise ein Moment der Phänomenologie im weiten Sinne geworden, kann sich aber nicht selbst fundieren, sondern bedarf noch der phänomenologischen Grundlegung. Obwohl die formale Logik und die formale Ontologie korrelative phänomenologische Untersuchungen zu ihrer letzten Fundierung erfordern, lassen sie sich zugleich durch keine phänomenologische Reduktion ausschalten, (Hua III/1, 126 f.) insofern die Phänomenologie selbst es noch mit Gegenständen zu tun hat, über die sie urteilt; dagegen wird eine Ausschaltung der regionalen Ontologien, die zu „transzendent-eidetischen“ (Hua III/1, 129) Gebieten gehören, von Husserl durchaus vollzogen. Sie verfallen der Epoché. Transzendentale Formalontologie ist dagegen eine Wesenswissenschaft, die durch Eidetik Geltung in der Phänomenologie beanspruchen kann, sofern sie transzendental fundiert ist. (Smith 2000) Gleiches gilt für die Mereologie, also die Lehre von Teil und Ganzem und den möglichen Varianten dieses Verhältnisses. (Fine 1995; Sokolowski 1968) Der Mereologie hat Husserl eine eingehende Diskussion in der dritten Logischen Untersuchung (Zur Lehre von den Ganzen und Teilen) gewidmet, auf die er sich auch in späteren Werken immer wieder bezieht. (Hua III/1, 27) Das Hauptergebnis der Diskussion besteht in der Unterscheidung zwischen Teilen eines Ganzen, die selbstständig sind („Stücke“), und Teilen, die unselbständig sind. („Momente“, Hua XIX /1, 272) Beispielsweise lässt sich eine Farbe nicht separat von einer farbigen Ausdehnung denken (Moment), während wir uns ein Auto ohne Räder vorstellen können (Stücke). Daher rührt auch Husserls Begriff der Fundierung, (Nenon 1997) die für das Verhältnis unterschiedlicher intentionaler Akte bzw. Gegenstände von Bedeutung ist. „Ein Inhalt der Art α sei in einem Inhalt der Art β fundiert, wenn ein α seinem Wesen nach (d. i. gesetzlich, aufgrund seiner spezifischen Eigenart) nicht bestehen kann, ohne dass auch ein β besteht“. (Hua XIX /1, 281 f.) Beispielsweise impliziert die Bedeutung ‚Vater‘ die Bedeutung ‚Kind‘ (und umgekehrt), also die erste Bedeutung ist durch die zweite fundiert (und umgekehrt). Der Begriff der Fundierung nimmt bei Husserl eine besondere Stellung ein, weil er erlaubt, solche notwendigen Wesensbeziehungen zwischen Akten, Bedeutungen und Konstitutionsschichten (aber auch zwischen ihren Teilen) zu beschreiben. Fundierungsverhältnisse sind apriorische Relationen, die dem Wesen des Gegenstandes selbst entsprechen. Beispielsweise lässt sich sagen, dass die Erfassung der Schönheit eines Gegenstandes in einfacheren Akten fundiert ist, in denen dieser Gegenstand einfach als raumzeitlicher Gegenstand aufgefasst ist. Die Explizierung solcher Schichtungen in den Fundierungsverhältnissen ist die phänomenologische Analyse der Konstitution von
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Gegenständen: Das Erscheinen wird auf seine Bedingungen der Möglichkeit in der Subjektivität zurückgeführt. Zentral ist für das Folgende, dass alle wie auch immer verstandenen metaphysischen Fragen innerhalb dieses transzendentalen Rahmens beantwortet werden: Sie betreffen entweder das konstituierte Objekt oder das konstituierende Subjekt oder deren Korrelation.
1.4 Metaphysische Themen Bisher haben wir unser Augenmerk darauf gerichtet, die transzendentale Anlage von Husserls Phänomenologie zu erläutern. Im Folgenden wollen wir anhand einiger exemplarisch ausgewählter Themen zeigen, inwiefern Husserl aus seiner transzendentalen Perspektive Fragen behandelt, die sowohl von ihm selbst als auch innerhalb der philosophischen Tradition (bis heute) als metaphysische angesehen werden. Dabei werden wir zugleich unsere Arbeitshypothese bestätigen, dass Phänomenologie eine Metaphysik am Leitfaden der Erfahrung der Welt entwickelt. Wir beginnen unsere Exposition metaphysischer Themen daher mit Husserls Weltbegriff, auf den alle weiteren metaphysischen Fragestellungen mehr oder weniger bezogen bleiben. Auf das Thema Welt (→ 1.5) folgen Diskussionen zu idealen Gegenständen, (→ 1.6) Kategorien, (→ 1.7) Raum und Zeit, (→ 1.8) Modalitäten, (→ 1.9–1.12) Kausalität und zum Leib-Seele-Problem (→ 1.13) und zu Faktizität und Gott. (→ 1.14) Es handelt sich hierbei offensichtlich um klassische Themen der metaphysica specialis, die Husserl innerhalb des Korrelationsapriori von (Inter-)Subjektivität und Welt theoretisch fassen will. Die Orientierung an der Welt ist daher kein Zufall oder bloße Setzung: Husserl kann als Phänomenologe auch metaphysische Themen nur im kritisch-deskriptiven Rückbezug auf die konkrete Erfahrung explizieren – und die ist eine Erfahrung des Subjekts in der Welt.
1.5 Welt Insofern Metaphysik als Ausgreifen auf das Ganze zu verstehen ist, ist die Phänomenologie schließlich dann Metaphysik, wenn sie über die Welt spricht. Da die Welt sich in der späten Denkentwicklung Husserls als irreduzibles Korrelat des Ich und als unhintergehbarer Horizont aller Gegenstände erweist, kann sie als ein Kernthema der Phänomenologie gelten. Sie ist auch im Sinne der Tradition ein eminent metaphysisches Thema, insofern in ihr das Ganze des Seienden (wie es erscheint) erfragt und befragt wird. (Bermes 2004; Tengelyi 2015) Wie viele andere technische Vokabeln auch tritt ‚Welt‘ bei Husserl in verschiedenen Bedeutungen und Kombinationen auf. Zentral ist dabei einerseits die Bestimmung der Welt als „Horizont aller Horizonte“, (Hua VI, 141) die Husserl vor allem in
34 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? Anlehnung an seine phänomenologische Beschreibung der Wahrnehmung entwickelt, sowie andererseits der Begriff der Lebenswelt als „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“. (Hua VI, 77; Blumenberg 2010) Als Universum der Selbstverständlichkeit ist die Lebenswelt auch der Anfangspunkt der Philosophie (und somit auch jeder metaphysischen Untersuchung). Der Begriff der Lebenswelt ist und bleibt aber letztendlich zweideutig: Denn die Lebenswelt ist gleichzeitig vorgegeben (als Substrat der Erfahrung), andererseits kommt sie zustande erst durch die Leistungen der transzendentalen Subjektivität. (Hua VI, 148) Als Horizont aller Horizonte bezeichnet der Weltbegriff den Rahmen, innerhalb dessen sich die Erfahrung abspielt. Zeichnet sich jede Erfahrung dadurch aus, dass das unmittelbar Gegebene Innen- und Außenhorizonte des Mitgegebenen umfasst, so sind diese Mitgegebenheiten Komponenten eines Horizontes, in dem jede Erfahrung wesentlich eingebettet ist. Am Beispiel der Dingwahrnehmung lässt sich dieser Gedanke am einfachsten veranschaulichen: Wird ein vor dem Betrachter stehender Tisch wahrgenommen, so kommt die Vorderseite zu unmittelbarer Gegebenheit, aber die Rückseite des Tisches, obwohl unsichtbar, ist mit-apperzipiert (z. B. als etwas, das bei Ortswechsel zur Ansicht kommen kann) – andernfalls könnten wir es gar nicht mit einem dreidimensional ausgedehnten Gegenstand zu tun haben. Nun ist jede Erfahrung aber nicht nur Erfahrung eines einzelnen Dinges mit seinem jeweiligen Innenhorizont, sondern auch Erfahrung einer Pluralität von Gegenständen, die sich in Horizonten ausdehnt; der Tisch steht in einem Zimmer mit Stühlen, vor Fenstern etc., die selbst wieder Innen- und Außenhorizonte haben; dieses Ineinander von Horizonten geschieht im Horizont aller Horizonte, der Welt. (D’Angelo 2019) Diese phänomenologische Weltkonzeption hebt Husserl einerseits von einem natürlichen und wissenschaftlichen, andererseits von einem kulturphilosophischen Weltbegriff ab. Zur Zeit seines ersten Hauptwerkes, der Logischen Untersuchungen, sieht Husserl die physische Welt als die „gesamte gegenständliche Einheit, welche dem idealen System aller Tatsachenwahrheit entspricht und von ihm untrennbar ist“. (Hua XVIII, 128) Die physische Welt ist bereits hier, vor der transzendentalen Wende, schon gedacht als das „intentionale Korrelat“ vom „System aller solcher Wahrnehmungen und Urteile“, nämlich solcher, die auf Gegenstände gerichtet sind. (Hua XIX /1, 370) Daher ist Welt „nimmermehr Erlebnis des Denkenden“, denn „Erlebnis ist das Die-Welt-Meinen, die Welt selbst ist der intendierte Gegenstand“. (Hua XIX /1, 401) Besonders klar fasst Husserl seine Position in der sechsten Logischen Untersuchung zusammen: Die Welt konstituiert sich als eine sinnliche Einheit: ihrem Sinne nach ist sie Einheit der wirklichen und möglichen schlichten Wahrnehmungen. Nach ihrem wahren Sein ist sie uns aber in keinem abgeschlossenen Wahrnehmungsprozesse je vorbehaltlos oder gar adäquat gegeben. Sie ist für uns jederzeit nur eine ganz inadäquat, partiell durch schlichte und kategoriale Intuition, partiell durch Signifikation vermeinte Einheit des theoretischen Forschens. (Hua XIX /2, 729)
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Die Welt als Horizont aller Horizonte ist daher nicht reduzierbar auf ein Moment des Bewusstseins; auch außerhalb des theoretischen Forschens erstreckt sich die Welt der Wahrnehmung „ins Unbestimmte und Unbekannte“. (Hua II, 17) Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften sind „Wissenschaften von der Welt“. (Hua III/1, 11) Hier heißt Welt „der Gesamtinbegriff von Gegenständen möglicher Erfahrung und Erfahrungserkenntnis, von Gegenständen, die auf Grund aktueller Erfahrungen in richtigem theoretischen Denken erkennbar sind“. (Hua III/1, 11) Diese Weltkonzeption basiert aber auf unserer natürlichen Umwelt als der „Welt, in der ich mich finde“ (Hua III/1, 58) und die ein offener unendlicher Horizont ist. Diese Umwelt ist Erfahrungswelt (Hua III/1, 96) und Erscheinungswelt. (Hua III/1, 83) Die Existenz dieser Umwelt wird ständig in der Erfahrung gesetzt und Husserl fasst diese Setzung als „Generalthesis der natürlichen Einstellung“ (Hua III/1, 60) auf. Durch phänomenologische Epoché wird gerade diese Thesis außer Kraft gesetzt, ohne jedoch das Dasein der Welt zu „negieren“ (Hua III/1, 61): Die Gültigkeit der Setzung ist einfach suspendiert. Durch Reduktion und Epoché tritt das phänomenologische Apriori der Konstitution hervor, nämlich die Tatsache, dass „die Region der absoluten oder transzendentalen Subjektivität […] das reale Weltall bzw. alle möglichen realen Welten, in sich trägt‘“. (Hua III/1, 73) Die natürliche Welt ist somit Bewusstseinskorrelat: unser Bewusstsein ist eines, das auf Welt bezogen ist, das Welt konstituiert. Welt ist unter dieser Perspektive ein „Titel für gewisse gültige Sinneseinheiten“, (Hua III/1, 120) sodass die Welt „ihr ganzes Sein als einen gewissen ‚Sinn‘ hat“. (Hua III/1, 121) Gerade so „umspannt die Phänomenologie wirklich die ganze natürliche Welt und alle die idealen Welten, die sie ausschaltet: sie umspannt sie als ‚Weltsinn‘“. (Hua III/1, 336) Die Setzung der Welt als physikalische könnte dabei auch falsch sein: „Vielmehr ist es auch denkbar, dass unsere anschauliche Welt die letzte wäre, ‚hinter‘ der es eine physikalische überhaupt nicht gäbe“. (Hua III/1, 100) Im berühmt-berüchtigten § 49 der Ideen I erwägt Husserl schließlich auch die Möglichkeit, dass es ein Bewusstsein ganz ohne (wahre oder falsche) Weltsetzung geben könnte. Das Ergebnis dieses Gedankenexperiments zur Weltvernichtung lautet, dass ein derartig weltloses Bewusstsein für Husserl zwar denkbar wäre, aber völlig anders erscheinen müsste als unseres. Wie er später positiv formuliert: „Solange ich mich in Selbstwahrnehmung als menschliche Person vorfinde […] habe ich in diesem Bewusstsein Welt bewusst und ständig in Seinsgewissheit“, (Hua XXXIX, 246) sodass menschliches Bewusstsein und Welt als Korrelate wesentlich zueinander gehören. Wenn durch den cartesianischen Zweifel die Existenz der Welt insofern nicht mehr vorausgesetzt werden kann, als sie dem Bewusstsein „transzendent“ (Hua I, 64) und deswegen „nicht apodiktisch“ (Hua I, 57) gegeben ist, so lässt sich eben doch phänomenologisch an der Evidenz der Welterfahrung festhalten. (Hua I, 96) Unser Bewusstsein ist offenbar faktisch so strukturiert, dass es auf eine Welt zielt. Terminologisch kann man sagen: Die objektive Welt ist ein-
36 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? geklammert, (Hua I, 60) bleibt aber in Geltung als „Wirklichkeitsphänomen“, (Hua I, 71) also als Erscheinendes, „qua cogitatum“. (Hua I, 75) Tatsächlich finden sich in den späten Forschungsmanuskripten zur Lebenswelt Überlegungen Husserls, in denen er – entgegen früherer Überlegungen – zu dem Schluss kommt, dass das Sein der Welt sogar ebenso apodiktisch ist wie das des Ego, insofern nämlich „der Rekurs auf Zweifelsmöglichkeiten, als Möglichkeiten des Nichtseins, das Sein der Welt voraussetzt.“ (Hua XXXIX, 254) Die Welt ist hier apodiktisch gewiss als „Frage-Boden“. (Hua XXXIX, 254) Husserl thematisiert die Welt als Horizont der Horizonte in verschiedenen Anläufen. Durch die in der fünften Cartesianischen Meditation entwickelte Reduktion auf die sogenannte „primordiale“ Sphäre, in der alles fremde Bewusstsein ausgeschaltet ist, wird die Freilegung der ersten Sinnschicht der Welt möglich: „die primordiale Welt“, (Hua I, 137) in der alles nur auf das denkende Ich zurückbezogen ist. Diese primordiale Welt ist um meinen Leib als Zentrum orientiert, (Hua I, 148) sie ist eine Umwelt mit offenen, faktischen Horizonten, (Hua I, 167) aber nicht die Welt im Sinne der objektiven Wirklichkeit. Objektivität ist auf der primordialen Ebene nicht konstituierbar, sondern es kann sie erst als Korrelat einer „Harmonie der Monaden“ (Hua I, 138) geben. Auf dieser höheren Stufe ist dann auch die Konstitution einer Kulturwelt als Menschenwelt und damit von Welten im Plural, beispielsweise als Weltanschauungen, möglich. (Hua I, 160) In ihrem vollen Sinn als objektiver Horizont aller Horizonte, in dem wir alle gemeinsam leben, ist Welt mithin nur als „intersubjektiv konstituiert“ (Hua I, 118) zu denken: „Zum Seinssinn der Welt und im besonderen der Natur als objektiver gehört ja, wie wir oben schon berührt haben, das Fürjedermann-da“. (Hua I, 124) In der Reflexion auf die Möglichkeiten, wie die Welt als Horizont aller Horizonte aufzufassen ist, stößt Husserl bereits in seiner Zeit in Göttingen darauf, dass es innerhalb der natürlichen Einstellung sehr unterschiedliche Weisen gibt, Welt zu konstituieren. Besonders deutlich unterscheiden sich die naturalistische Einstellung der Naturwissenschaften und die personale Einstellung der Geisteswissenschaften voneinander. So ist die Welt der Naturwissenschaften frei von allen subjektiv-relativen Strukturen, etwa Werten und Bedeutungen, während die Geisteswissenschaften gerade mit diesen zu tun haben. (Hua IV ) Unterhalb dieser unterschiedlichen wissenschaftlich-theoretischen Welten bzw. Weltauffassungen liegt jedoch, als ihr Geltungsboden, die vorwissenschaftliche Welt: die Lebenswelt. Seine bekannteste Ausarbeitung erhält das Lebenswelt-Thema im dritten Teil der Krisis. Hier erscheint die Geltung der Lebenswelt zunächst als eine der „unbefragten Voraussetzungen“ (Hua VI, 105) der Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie Kants, die sich im Verlauf der Untersuchung jedoch als Grundproblem der Phänomenologie herausstellt. Die Lebenswelt wird dabei verstanden als Universum der Selbstverständlichkeiten, als fraglos geltender Erfahrungsboden, auf den die (positiven) Wissenschaften sich nicht
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nur ständig verlassen (etwa in der Wahrnehmung beim experimentellen Hantieren), sondern von dessen vager Endlichkeit und relativer Wahrheit sie sich zugleich absetzen. Schließlich wirken die Wissenschaften jedoch auch wieder auf die Lebenswelt zurück, da ihre Ergebnisse zugleich Geltung innerhalb und für die Lebenswelt beanspruchen. Die objektive Welt, wie sie die Wissenschaften erforschen, und die intersubjektive Lebenswelt sind paradox aufeinander bezogen: Die Welt der Wissenschaft erscheint innerhalb der Lebenswelt, die Wissenschaften als eine mögliche lebensweltliche, d. h. subjektive Praxis – und die Lebenswelt erscheint wiederum als bloßer Teil der von den objektiven Wissenschaften erforschten wahren Welt. Zum philosophischen „Universalproblem“ (Hua VI, 135) wird die Lebenswelt also, weil sie eine in aller bisherigen Theorie und Praxis vorausgesetzte Sphäre der Anschauung und der in ihr erzeugten Geltungen ist: Nicht nur die Wissenschaften gründen in ihr, auch alle anderen menschlichen Aktivitäten erhalten letztlich aus den lebensweltlich-anschaulichen Vorgegebenheiten und Vollzügen ihre Geltung und ihren Sinn. Jeder konstitutive Akt, jedes Gegenstandsbewusstsein ist letztlich auf die Welt oder auf Weltliches bezogen. Während dies für reale Gegenstände trivial ist, argumentiert Husserl auch dafür, dass selbst die abstrakten, idealen Gegenstände der traditionellen formalen Logik und der Mathematik auf die Welt zurückverweisen, nämlich als Formen möglicher Wahrheit weltlichen Seins, als Möglichkeitsabwandlungen der wirklichen Welt. (Hua XVII, § 92) Letzteres gilt auch für die Gegenstände der Phantasie, die zwar nicht in der realen Welt verortet werden, aber in ihr ihre Vorbilder und Ursprünge, also ihre Genese haben. Aus dieser genetischen Perspektive ist die Lebenswelt daher letztlich „die einzig wahre Welt“. (Hua XXIX, 140) Erkenntnistheoretisch gilt dasselbe, insofern für Husserl Wahrheit nur durch Anschauung gegeben ist und nur die Lebenswelt wirklich direkt angeschaut wird – im Unterschied zur Welt, wie sie in den Wissenschaften erscheint, die nur durch Theoriebildung zugänglich ist. Die Lebenswelt ist der letzte Boden aller theoretischen Praxis – und somit auch der Philosophie und der Metaphysik selbst. Obwohl der Begriff zweideutig bleibt (wie oben kurz angedeutet), wurde er von anderen Autoren wieder aufgegriffen und weitergedacht. (→ 11; → 13) Eine phänomenologische Metaphysik, die in den Weltbegriff mündet, impliziert somit auch, die Metaphysik selbst als eine Praxis des Denkens aufzufassen, welche die Welt voraussetzt und gleichzeitig immer weiter expliziert, ihre eigene Voraussetzung reflektierend.
1.6 Ideale Gegenstände Auch die Frage nach der Existenzweise idealer Gegenstände lässt sich am Leitfaden der Welt weiterverfolgen. Gehören Idealität und Wesen (also das, worauf die phänomenologische Reduktion abzielt) zur Welt oder sind sie Teile einer plato-
38 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? nischen Überwelt? In den Logischen Untersuchungen etwa setzt sich Husserl mit zwei Spielarten des Realismus in Bezug auf die Frage nach dem, was er „Spezies“ (also Idealitäten) nennt, auseinander: mit dem sogenannten platonischen und dem psychologisierenden Realismus. Der Erstere ist die „Annahme einer realen Existenz von Spezies außerhalb des Denkens“, der Zweite die „Annahme einer realen Existenz von Spezies im Denken“. (Hua XIX /1, 127) Spezies sind aber laut Husserl „nichts Reales“ und auch „nichts im Denken“, (Hua XIX /2, 128) sondern gehören einem dritten Bereich an, eben dem der Idealitäten. Real ist nicht das Ideale, sondern das „Individuum mit all seinen Bestandstücken; es ist ein Hier und Jetzt. Als charakteristisches Merkmal der Realität genügt uns die Zeitlichkeit“. Reales Sein und zeitliches Sein sind somit zwar nicht identische, aber umfangsgleiche Begriffe, „denn worauf es hier allein ankommt, das ist der Gegensatz zum unzeitlichen ‚Sein‘ des Idealen“. (Hua XIX /1, 129) ‚Idealismus‘ besagt hier also die Zurückweisung einer Reduktion des Idealen (der Wesen, Ideen, Zahlen etc.) auf Reales; in den Ideen spricht Husserl auch von der Wahrung des „Eigenrechts des Eidetischen“. (Hua III, 146) So stellt er dem relativistischen und empirischen Psychologismus den Idealismus gegenüber, um zu einer einstimmigen Erkenntnistheorie zu gelangen. Mit diesem Idealismus ist keine metaphysische Verwerfung der Existenz der Außenwelt gemeint. Vielmehr ist darin eine Position bezogen, die das Ideale „als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis überhaupt anerkennt und nicht psychologisch wegdeutet“. (Hua III, 146) Phänomenologie ist demnach eine apriorische „Idealwissenschaft“. (Hua XVIII, 181) Die Leugnung dieses Idealismus charakterisiert Husserl als Ideenblindheit: Die Ideenblindheit ist eine Art Seelenblindheit, man ist durch Vorurteile unfähig geworden, was man in seinem Anschauungsfelde hat, in das Urteilsfeld zu bringen. In Wahrheit sehen alle und sozusagen immerfort ‚Ideen‘, ‚Wesen‘, sie operieren mit ihnen im Denken, vollziehen auch Wesensurteile – nur dass sie dieselben von ihrem erkenntnistheoretischen ‚Standpunkte‘ aus wegdeuten. (Hua III, 49)
Dabei ist dieser Idealismus für Husserl gerade keine elaborierte Position: Ich behaupte sogar, dass ideale Gegenstände keineswegs etwas besonders Hohes sind, womit man paradieren könnte, sondern das Allergemeinste, so gemein wie die Steine auf der Straße. Alle Leute kennen sie in einer gewissen naiven Weise, da sie ja von Zahlen und Tönen u. dgl. in idealer Weise reden. Nur die Philosophen wollen sie nicht kennen. Sie tun sie mit dem Wort ab: Platonische Ideen. Zugestanden, sage ich! (Hua XXX, 34)
Für Platon gilt daher in Husserls Augen, „dass er Recht hatte, Ideen und Dinge der Erfahrungswelt gegenüberzustellen und Ideen als ein eigenes Reich von seienden Gegenständen zu bezeichnen und zu erforschen.“ (Mat IX, 43) Idealitäten haben für Husserl schon ab den Logischen Untersuchungen den Sinn gleichbleibender, objektiver Entitäten. Für das newtonsche Gravitationsgesetz zum Beispiel gehört „die unbedingte Geltung für alle Zeit mit zur Intenti-
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on seiner Behauptung“. (Hua XVIII, 134) Aber schon im ersten Band der Ideen ist die Gewinnung objektiver Geltung erst durch Intersubjektivität möglich. Wir verständigen „uns mit den Nebenmenschen und setzen gemeinsam eine objektive räumlich-zeitliche Wirklichkeit, als unser aller daseiende Umwelt, derer wir selbst doch angehören“. (Hua III/1, 60) Das objektive Ding, das identisch für alle Subjekte ist, ist in seiner Konstitution „bezogen auf eine offene Mehrheit im Verhältnis des ‚Einverständnisses‘ stehender Subjekte. Die intersubjektive Objektivität [bzw. Allgemeingültigkeit] ist das Korrelat der intersubjektiven, d. h. der durch ‚Einfühlung‘ vermittelten Erfahrung“. (Hua III/1, 352; Hua IV, 79–84) Zu zeigen, wie Objektivität und Gegenständlichkeit genau erscheinen, stellt für Husserl ein zentrales Anliegen phänomenologischer Forschung dar. (Arnold 2020) In einer postum veröffentlichten Beilage zum zweiten Band der Ideen lässt sich eine besonders prägnante Definition des Objektivitätsbegriffs finden: „Was besagt das, ‚Objektivität‘? Im weitesten Sinne besagt es […] ein Sein, das in einem offen personalen Verband so bestimmbar bzw. so bestimmt gedacht ist, dass es prinzipiell von jedem Ichsubjekt des Verbandes als möglichem forschenden Subjekt in absolut identischer Weise bestimmbar ist und jederzeit“. (Hua IV, 389) Für diesen phänomenologischen Begriff der Objektivität, der sich durch Allgemeingültigkeit auszeichnet und anhand der Intersubjektivität gewonnen wird, ist der entscheidende Kontext die fünfte Cartesianische Meditation. „Mittels der in meinem eigenen Selbst konstituierten fremden Konstitutionen konstituiert sich für mich […] die für ‚uns‘ alle gemeinsame Welt“. (Hua I, 120) Damit erschließt sich die „erste Form der Objektivität“, (Hua I, 149) nämlich die der intersubjektiven Natur. Auf dieser Basis ist dann auch innerhalb „der objektiven Welt“ die Konstitution der „verschiedenen Typen sozialer Gemeinschaft […], darunter die ausgezeichneten Typen, die den Charakter von ‚Personalität höherer Ordnung‘ haben“, möglich. (Hua I, 160) Zusammenfassend kann Husserl daher Folgendes festhalten: „Das an sich erste Sein, das jeder weltlichen Objektivität vorangehende und sie tragende, ist die transzendentale Intersubjektivität, das in verschiedenen Formen sich vergemeinschaftende All der Monaden“. (Hua I, 182) Dies gilt für ideale wie reale Gegenstände gleichermaßen.
1.7 Kategorien Für eine Phänomenologie der Kategorien ist zentral, dass – noch bevor eine Kategorientafel erstellt werden kann – ihr Ursprung aus der Erfahrung der Welt geklärt wird. (De Palma 2010) Auf dieses Problem der Kategorien geht schon das Schlusskapitel der Prolegomena zu den Logischen Untersuchungen ein. Die erste Aufgabe einer reinen Logik besteht laut Husserl darin, reine Bedeutungskategorien und reine gegenständliche Kategorien zu „fixieren“, (Hua XVIII, 244) und zwar so, dass, „ihr Ursprung […] einzelweise zu erforschen“ (Hua XVIII, 246) ist.
40 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? Das wiederum impliziert „Einsicht in das Wesen der bezüglichen Begriffe und in methodischer Hinsicht […] Fixierung eindeutiger, scharf unterschiedener Wortbedeutungen“. (Hua XVIII, 246) Dabei lassen sich drei Gruppen unterscheiden: die primitiven Begriffe, die am Grunde jeder Erkenntnisbeziehung liegen (etwa Begriff, Satz, Wahrheit usw., Hua XVIII, 245). Zweitens werden diese Begriffe verknüpft (etwa durch Disjunktion, Konjunktion, Hypothesen usw.). Sind beide Gruppen Bedeutungskategorien, so lassen sich davon gegenständliche Kategorien trennen: Gegenstand, Sachverhalt, Einheit, Vielheit, Anzahl usw. Der gesuchte Ursprung der Kategorien liegt dabei in der ideierenden Abstraktion (Hua XVIII, 246) und vor allem in der kategorialen Anschauung, der sich Husserl vor allem in der sechsten Logischen Untersuchung nähert. Die ideierende Abstraktion und die kategoriale Anschauung finden statt im Erfahren der Welt, woraus im ersten Falle allgemeine Kategorien abstrahiert werden, und worauf im zweiten Falle Akte aufbauen, welche die kategoriale Bedeutung bestimmter Elemente der Erfahrung zum Gegenstand haben. Die Erkenntnis vollzieht sich „nicht auf dem bloßen Grund schlichter, sondern in der Regel auf dem Grunde kategorialer Akte“. (Hua XIX /2, 695) Das lässt sich folgendermaßen verstehen: Bei jeder Anschauung eines singulären Gegenstandes sind einfache und fundierte Akte zusammen präsent, und kategoriale Repräsentanten (als fundierte Repräsentanten) können „in Ansehung des fundierten Aktes als uneigentliche aufgefasst werden“. (Hua XIX /2, 700) In einer Anschauung kommt somit auch das Sein (hier als oberste Gegenstandskategorie verstanden) zur Darstellung. Sehe ich weißes Papier, dann kann ich dieses Sehen so ausdrücken, dass ich sage: „dieses Papier ist weiß“. (Hua XIX /2, 659) Sind das Papier und seine Eigenschaft, weiß zu sein, in der sinnlichen Anschauung zugänglich, so ist das ‚ist‘ durch kategoriale Anschauung gegeben – ich sehe das Sein nicht mit meinen Augen, aber es ist mir direkt präsent aufgrund dessen, was ich mit den Augen sehe und begrifflich auslege. Dasselbe gilt für „Formworte wie das, ein, einige, viele, wenige, zwei, nicht, welches, und, oder usw.“, ferner auch für „die substantivische und adjektivische, singuläre und plurale Bildungsform der Worte“. (Hua XIX /2, 658) Eine weitere Auflistung findet sich auch in Die Idee der Phänomenologie und bezeugt, dass Husserl über Jahre hinweg an seiner Position diesbezüglich festgehalten hat: „ist und nicht, dasselbe und anderes, eines und mehrere, und und oder usw.“ (Hua II, 71) Diese konstituieren sich in Akten, die auf dem „Untergrunde synthetisch zu verknüpfender Elementarakte“ aufbauen, (Hua XIX /2, 658) also auf Akten, in denen einzelne Gegenstände zur sinnlichen Gegebenheit kommen. Die Kategorienlehre bleibt dann auch ein wichtiger Bestandteil der Phänomenologie in den Ideen I: Alle fundamentalen Scheidungen, welche die formale Ontologie und die sich ihr anschließende Kategorienlehre macht – die Lehre von der Aufteilung der Seinsregionen und ihren Seinskategorien, sowie von der Konstitution ihnen angemessener sachhaltiger
Thomas Arnold/Diego D’Angelo 41 Ontologien – sind […] Haupttitel für phänomenologische Untersuchungen. (Hua III/1, 312) Wir merken hier noch an, dass wir unter Kategorien einerseits die Begriffe im Sinne von Bedeutungen verstehen können, andererseits aber auch und noch besser die formalen Wesen selbst, die in diesen Bedeutungen ihren Ausdruck finden. Z. B. die ‚Kategorie‘ Sachverhalt, Vielheit u. dgl. besagt im letzteren Sinne das formale Eidos Sachverhalt überhaupt, Vielheit überhaupt usw. (Hua III/1, 28)
Diese formalen Wesen sind je durch eigene Akte gegeben: Jeder Region und Kategorie prätendierter Gegenstände entspricht phänomenologisch nicht nur eine Grundart von Sinnen, bzw. Sätzen, sondern auch eine Grundart von originär gebendem Bewusstsein solcher Sinne und ihr zugehörig ein Grundtypus originärer Evidenz, die wesensmäßig durch so geartete originäre Gegebenheit motiviert ist. (Hua III/1, 321)
Diese Zuordnung entspricht der phänomenologischen Theorie der Korrelation von Akten und Objekten, (→ 1.3) nur diesmal bezogen auf Akttypen und ganze (regionale) Ontologien. Das transzendentale Bewusstsein ist dabei natürlich auch eine Region: Die konstituierenden Akte können selbst Objekte von Akten werden, nämlich in der Phänomenologie selbst. Eine genaue Theorie der Fundierung kategorialer Akte entwickelt Husserl in einer genetischen Logik, wie sie sich etwa in den 1939 von Landgrebe unter dem Titel Erfahrung und Urteil veröffentlichten Texten finden. Hier geht Husserl der Frage nach, wie aus der vor-prädikativen, bloß assoziativen Anschauung kategoriale, logische Akte hervorgehen können, z. B. wie die Negation auf der Enttäuschung anschaulicher Erwartungen beruht. Husserls Kategorienlehre hat also statische wie genetische Ausarbeitungen erfahren. Bei alldem ist zu betonen, dass die Kategorien von Husserl nicht, wie bei Kant, auf der Seite des Verstandes lokalisiert werden, sondern aufseiten der Gegenstände. Kategorien sind gegenständliche Formen, denen bestimmte Akttypen korrelieren. Eine apriorische Ontologie der realen Welt besteht somit in der Herausstellung des Bewusstseinsapriori, das Kategorien, Bedeutungen und Idealitäten trägt. Phänomenologie in diesem Sinne wäre dann eo ipso die wahre und echte universale Ontologie; aber nicht bloß eine leer formale, sondern zugleich eine solche, die alle regionalen Seinsmöglichkeiten in sich schlösse, und nach allen zu ihnen gehörigen Korrelationen. Diese universale konkrete Ontologie (oder auch universale und konkrete Wissenschaftslehre, diese konkrete Logik des Seins) wäre also das an sich erste Wissenschaftsuniversum aus absoluter Begründung. (Hua I, 181)
Die Welt bleibt somit der Boden der regionalen Ontologie und somit die Ursprungstätte der Kategorien.
42 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik?
1.8 Raum und Zeit Zeitlichkeit und Räumlichkeit sind offenbar relevante Hinsichten für die Untersuchung der Erfahrung von Welt. Zeit ist eines der Kernthemen Husserls, da das Bewusstsein, der Arbeitsboden der Phänomenologie, zeitlich strukturiert ist: Zeit ist eine Bedingung der Möglichkeit von Erscheinungen und damit zentral für Husserls transzendental-phänomenologischen Ansatz. (DeWarren 2009; Kortooms 2002; Zahavi 2004) Husserls Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit beginnt dabei mit den Vorlesungen über die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (Hua X) von 1905. Ausgehend von einer Kritik an Brentano unterscheidet Husserl hier bereits die objektive Zeit, die „eingeklammert“ wird, von der immanenten Zeit des inneren Zeitbewusstseins und dem absoluten Bewusstseinsfluss, in dem diese sich konstituiert. Am Beispiel einer Melodie erläutert Husserl, welche Bedingungen der Möglichkeit das Erscheinen der objektiven Zeit und der Objekte in ihr hat: In einer sogenannten Urimpression erscheint uns der aktuelle Ton der Melodie (zunächst der erste), er ist uns anschaulich gegeben; erklingt der nächste Ton, verschwindet der erste Ton jedoch nicht einfach aus dem Bewusstsein, sondern er bleibt in der Retention bewusst als soeben gehörter („Retention“ nennt Husserl auch „primäre Erinnerung“). Zugleich erwarten wir mit dem aktuellen Ton auch bereits einen nächsten Ton (oder überhaupt irgendetwas) in der Protention (was Husserl auch „primäre Erwartung“ nennt). Ohne Retention und Protention hätten wir kein Bewusstsein von zeitlichen Zusammenhängen. Der minimale temporale Hof von Retention und Protention wird erweitert durch Reproduktion, also Vergegenwärtigung, Erinnerung im üblichen Sinn (was er auch „sekundäre Erinnerung“ nennt) und Erwartung im üblichen Sinn (oder „sekundäre Erwartung“, Hua X, 33, 38, 49). Die Unterscheidung zwischen immanenter Zeit und objektiver Zeit (Hua IV, 178) wie auch die untersuchten temporalen Strukturen spielen zwar immer wieder eine wichtige Rolle in den Jahren nach 1905, aber die bedeutendsten Analysen der Zeitproblematik finden sich in den sogenannten Bernauer Manuskripten von 1917/18 (Hua XXXIII) und den späten C‑Manuskripten. (Hua Mat VIII) In ihnen wird Zeitlichkeit in vielen verschiedenen Hinsichten untersucht; aber grob lässt sich sagen, dass für die Bernauer Manuskripte vor allem eine genetische Analyse einer Reihe von Regressproblemen zentral ist, während in den C‑Manuskripten Zeit-Themen wie Hyle (Materie der Zeitkonstitution), lebendige Gegenwart, Schlaf und Tod im Mittelpunkt stehen, aber auch methodologische Fragen, die wiederum auf die in Bernau behandelten Regresse Bezug nehmen. Ein Regress ergibt sich dann, wenn wir die immanente Zeit auch wieder als objekthaft-konstituierte betrachten, denn daraus folgt mit Notwendigkeit eine tieferliegende Schicht von Erlebnissen, die diese immanenten Zeitobjekte konstituieren. Wenn diese Zeitobjekt-konstituierenden Erlebnisse selbst im selben Sinne Zeitobjekte sind, müssten auch sie wieder von noch tiefer liegenden
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Erlebnissen konstituiert sein – und so weiter. Husserl selbst scheint nicht der Meinung zu sein, diese Regresse in den Bernauer Studien in den Griff bekommen zu haben, da er sich in den C‑Manuskripten erneut damit auseinandersetzt. Trotzdem wird in einigen der Bernauer Manuskripte die Richtung deutlich, die eine solche Lösung nehmen müsste, nämlich die Aufgabe der Objekthaftigkeit des Ursprungs der Zeit. Das Ur-Ich, das den inneren Strom erlebt, kann nicht als Gegenstand beschrieben werden, sonst wäre es wieder in einer weiteren Schicht konstituiert: „In diesem Sinn ist es also nicht ‚Seiendes‘, sondern Gegenstück für alles Seiende, nicht ein Gegenstand, sondern ein Urstand für alle Gegenständlichkeit.“ (Hua XXXIII, 277) Der hyletische Urprozess, der von diesem Urstand erfahren und aufgefasst wird, kann ebenso wenig ein Objekt sein: der Fluss muss vor aller Objektivierung da und (selbst-)bewusst sein. Ein eng damit verknüpfter Regress betrifft die phänomenologische Reflexion selbst, wie Husserl in den C‑Manuskripten erläutert; denn ich kann zwar Reflexion vollziehen, d. h. ich kann mich ja auf mich selbst richten. Dann ist aber wieder gespalten das Gegenüber, in dem das Ich auftritt mitsamt dem, was ihm gegenüber war, also ihm gegenüber das gegenüber auftretende Ich und sein Gegenüber. Dabei bin ich, das ‚Subjekt‘ dieses neuen Gegenüber, ‚anonym‘. Dass dem aber so ist, das sehe ich eben durch diese gleiche Reflexion, mit deren Vollzug ich zugleich mir gegenüber finden kann das Ich, das soeben anonym war, mit seinem Gegenüber. So reflektierend und immer wieder reflektierend finde ich immer wieder Gegenüber-Seiendes und Ich, finde dasselbe Ich in diesen Reflexionen, finde das Immer-Wieder des Reflektierens und Reflektieren-Könnens selbst als Gegenüber des Ich, das ein und dasselbe ist, wie es auch immer gegenüber gesetzt sein und zu dem dabei anonymen Ich reflektiert werden mag. (Mat VIII, 2)
Die erste Reflexion bringt das bezugnehmende Ich und seinen Bezugsgegenstand in den Blick. Die Iteration der Reflexion bringt ein weiteres, vormals anonym-fungierendes Ich in den Blick, also jenes Ich, welches das erste bezugnehmende Ich und seinen Gegenstand konstituiert hat usw. Jedes Mal, wenn ich mich auf mich beziehe, mache ich mich zum Objekt, konstituiere ich mich als mein eigenes Objekt; zugleich muss ich aber Subjekt dieser Bezugnahme sein und bleiben, wobei das beobachtete Ich und das beobachtende Ich indes nicht einfach zusammenfallen, da sie unterschiedliche Eigenschaften haben, obwohl sie zugleich identisch sein sollen (denn ich beobachte mich ja selbst). Indem ich diese Unterscheidung eingeführt habe, habe ich das vormals beobachtende Ich jedoch selbst unter Beobachtung gestellt, die ich selbst nicht wieder im selben Sinne miterfasst habe. Jede weitere Reflexionswendung erfolgt nur von einem nicht objektivierten („anonymen“) Ich aus. Noch 1931 notiert Husserl dazu: „Also die Selbstkonstitution der transzendentalen Subjektivität führt auf die schönen unendlichen Regresse, mit denen ich schon in Bernau fertig zu werden versuchte.“ (Mat VIII, 189) Die rätselhafte Struktur der (Selbst-)Zeitigung des Bewusstseins nennt Husserl „lebendige Gegenwart“. (Held 1966) In ihr ist das Ich sich selbst bewusst
44 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? und bekannt, es steht als Funktionspol und strömt zugleich, es muss – als zeitkonstituierendes – vor-zeitlich sein, ist aber immer in einem Jetzt erfassbar. Mit dem Rückgang auf die lebendige Gegenwart ist zugleich die letzte Stufe des phänomenologisch Erforschbaren erreicht: „Die Reduktion auf die lebendige Gegenwart ist die radikalste Reduktion auf diejenige Subjektivität, in der alles Mir-Gelten sich ursprünglich vollzieht […] Es ist die Reduktion auf die Sphäre der Urzeitigung, in der der erste und urquellenmäßige Sinn von Zeit auftritt“. (Hua XXXIV, 187) Es gibt dabei zwei fundamentale Strukturen, die zur lebendigen Gegenwart gehören: die Hyle einerseits und das Ich andererseits, beide mit ihrer jeweiligen Zeitlichkeit. (Mat VIII, 107–110) Die Anonymität und Un-Gegenständlichkeit der Ur-Sphäre der untersten Stufe der Zeitkonstitution führen Husserl schließlich auch zu einer methodologischen Erweiterung. Da die Urstufe nicht mehr ohne Weiteres direkt erfasst und angeschaut werden kann, führt Husserl hier das Konzept der phänomenologischen (Re-)Konstruktion ein: „In der genetischen Rückfrage konstruieren wir das noch weltlose Vorfeld und Vor-Ich, das schon Zentrum ist, aber noch nicht ‚Person‘“. (Mat VIII, 352) Phänomenologie der Ur-Sphäre geschieht deshalb in Bewegungen des „Abbaus“ und „Aufstiegs“, die den Konstitutionsstufen folgen. Diese Bewegungen des regressiven Abbaus und progressiven Aufbaus (Mat VIII, 187) beschreibt Husserl mit den folgenden Stichworten: Phänomenologische Archäologie, das Aufgraben der in ihren Baugliedern verborgenen konstitutiven Bauten, der Bauten apperzeptiver Sinnesleistungen, die uns fertig vorliegen als Erfahrungswelt. Das Zurückfragen und dann Bloßlegen der Seinssinn schaffenden Einzelleistungen bis zu den letzten, den [grch.] archai, um von diesen aufwärts wieder im Geist erstehen zu lassen die selbstverständliche Einheit der so vielfach fundierten Seinsgeltungen mit ihren relativ Seienden. Wie bei der gewöhnlichen Archäologie: Rekonstruktion, Verstehen im ‚Zick-Zack‘. (Mat VIII, 356 f.)
Diese Zick-Zack-Bewegung besteht in einem kontinuierlichen Abbauen und Rekonstruieren von basalen intentionalen Verhältnissen und ist eine prinzipiell offene Bewegung: Husserl selbst nahm nicht an, die Untersuchung dieses rätselhaften und fundamentalsten Themenfeldes der Zeitkonstitution zu einem Abschluss gebracht zu haben, und tatsächlich bleiben viele die phänomenologische Archäologie betreffende Fragen offen, etwa, ob die darin vollzogenen „Rekonstruktionen“ nicht entweder empirische Schlüsse auf die beste Erklärung sind oder klassische transzendentalphilosophische Schlüsse darstellen; ebenfalls fraglich bleibt, ob es möglich ist, den husserlschen Gedanken eines objektivierenden Zugriffs auf die angeblich nicht objektivierbare Quelle des Zeitbewusstseins konsistent zu denken; denn was nicht objektivierbar ist, ist eigentlich auch nicht thematisierbar und kann damit kein Thema einer Wissenschaft abgeben. Hier nähert sich das husserlsche Denken folglich auf überraschende Weise Paradoxien der Bezugnahme auf das Absolute, wie sie aus der Tradition der Metaphysik bekannt sind, vor allem aus der Geschichte des Platonismus und den
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Arbeiten von Fichte und Schelling, der zum Beispiel den Terminus „Urstand“ ebenfalls für die nicht-objektivierbare Subjektivität verwendet. (Schelling 1969, 29; Arnold 2019) Ähnlich wie beim Thema der Zeitlichkeit möchte Husserl die Konstitution des objektiven Raums auf die erlebte Räumlichkeit zurückführen. (Claesges 1964; Pradelle 2000) Der Raum ist in der Fundierungsfolge weniger fundamental als die Zeit, aber nichtsdestoweniger phänomenologisch zentral, insofern er die Form der Dinglichkeit ist; damit setzt sich Husserl auch von Kants transzendentaler Ästhetik ab: (Summa 2014) „Der Raum […] ist die notwendige Form der Dinglichkeit und nicht die Form der Erlebnisse […]. Anschauungsform ist ein grundfalscher Ausdruck und impliziert auch bei Kant eine verhängnisvolle Irrmeinung.“ (Hua XVI, 43) Anders als Kant ist Husserl vor allem daran interessiert, die Erscheinungsweise von Räumlichkeit zu untersuchen. Dabei geht es auch darum, zu klären, wie Raum „den mathematischen Charakter einer dreidimensionalen Euklidischen, die Zeit den einer eindimentionalen orthoiden Mannigfaltigkeit“ (Hua XVIII, 27) haben kann. Geht aus dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeitsanalyse jedes Bewusstseins-Jetzt in eine Retention ein und stiftet gleichzeitig eine Protention auf die Zukunft, so lässt sich eine ähnliche Bewegung auch im Falle der erlebten Räumlichkeit thematisieren, denn Raumphänomene sind nach Husserl wesentlich mit-bedingt durch die Möglichkeit von Kinästhesen, also die Empfindungen unserer Körperbewegungen: „Alle Räumlichkeit konstituiert sich, kommt zur Gegebenheit, in der Bewegung, in der Bewegung des Objekts selbst und in der Bewegung des ‚Ich‘, mit dem dadurch gegebenen Wechsel der Orientierung.“ (Hua XVI, 154) Stellen wir uns vor, wir hätten selbst keinerlei Empfindung unserer Eigenbewegung: Die in unserem visuellen Feld angeordneten Daten („Empfindungen“) könnten dann nicht von sich aus Tiefendarstellung ermöglichen, da das Feld als Ausdehnung von Farbdaten selbst „flach“ wäre. Tiefen- und Lageverhältnisse können nur dadurch dargestellt werden, dass der Übergang von einem Zustand zum anderen die Bedeutung einer Näherung oder Entfernung erhält, was wiederum nur dadurch möglich wird, dass der Wechsel der visuellen Empfindungen begleitet wird von kinästhetischem Bewusstsein, etwa des Gehens oder Drehens. Die zu solchen Kinästhesen gehörigen Modifikationen des visuellen Feldes sind Dehnung und Wendung. So konstituiert sich die bestimmte Lage eines unbewegten Gegenstandes etwa dadurch, dass durch Umkehrung gewisser kinästhetischer Abläufe die gleichen ihn darstellenden Empfindungen auftauchen. (Hua XVI, 201) Analoges gilt für Lagekonstellationen: erst die kinästhetische Vermittlung der Seh-Empfindungen konstituiert objektive räumliche Verhältnisse zwischen Gegenständen, indem sie den Übergang von einer Darstellung zur anderen motiviert. Bloß visuelle Abläufe, d. h. Wechsel visueller Daten, reichen nicht aus, um Ruhe und Bewegung eindeutig aufzufassen, weil Bewegung und Ruhe im visuellen Feld zweideutig sind: Derselbe visuelle Emp-
46 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? findungsinhalt kann z. B. ein ruhendes Objekt bei Eigenbewegung oder ein bewegtes Objekt bei Eigenruhe darstellen. Erst die Verbindung der visuellen Daten mit kinästhetischer Empfindung erlaubt eindeutiges Bewusstsein von Ruhe und Bewegung im Raum. (Hua XVI, 175 f.; 216 f.) Ein spezieller Fall von Räumlichkeit liegt für das Phantasie-Bewusstsein vor. Im Bewusstsein „perzeptiver Fikta“ z. B. im Bildbewusstsein, haben wir es mit einer echten Raum-Pluralität zu tun, während zugleich alle erscheinenden Räume ihren Anschauungscharakter behalten. Die phänomenologische Sachlage sieht dabei folgendermaßen aus: Hinsichtlich der perzeptiven Fikta ist […] klar […], dass sie immer den Charakter durchgestrichener Wirklichkeiten haben, das ‚Bild‘ hat seinen Bildraum, aber dieser perzeptive Raum stößt irgendwo […] an den wirklichen Raum mit den Wirklichkeiten der augenblicklichen Wahrnehmung; der unsichtige Teil des zum Bild gehörigen Raums steht da im Widerstreit mit Teilen des Erfahrungsraums, und von da aus erhält das Bild selbst seine Bestrittenheit und bei der ‚Standfestigkeit‘ des Erfahrenen auch seine Nichtigkeit. (Hua XXIII, 509)
Trotz seiner Nichtigkeit ist die Erscheinung des Bildfiktums (und mit ihr die des Bildraums als die Form der fiktiven Dinge) „perzeptiv: sofern sie Empfindungssinnlichkeit hat, die Auffassung erfährt“. (Hua XXIII, 489) Wir sehen eine fiktive räumliche Ordnung, selbst wenn wir sie nicht wahrnehmen. Hier liegen mithin nicht zwei Teilräume nebeneinander, sondern es befinden sich zwei ganz eigene Raumordnungen im Widerstreit; dass dadurch der eine Raum den Charakter der Nichtigkeit erhält, ändert nichts daran, dass er als perzipierter eine „Form der Erscheinungen“ und damit eine „Form der Sinnlichkeit“ ausmacht – Nichtigkeit ist ein logischer Charakter, kein sinnlicher, so dass der spezifische Anschauungscharakter des Raumes auch in der Phantasie nicht verlorengeht.
1.9 Modalitäten Modalitäten und Modalisierungen spielen in Husserls Phänomenologie an verschiedenen Stellen eine wichtige Rolle. (Belussi 1990) Noetisch betrachtet sind Modalitäten Aktcharaktere im Sinne von Variationen einer Glaubensthese. (Hua III/1, 269) Ein zentraler Fall ist dabei der Glauben an die Existenz der äußeren Welt, welcher – durch Reduktion und Epoché eingeklammert – nicht negiert, sondern nur suspendiert wird und weiter bestehen bleibt für alle phänomenologischen Analysen. Husserl nennt diese Glaubensmodalitäten auch doxische Modalitäten. Das Bewusstsein ist thetisches, d. h. setzendes Bewusstsein, sei es aktuell oder potentiell. (Hua III/1, 270) Nicht nur die Existenz der Welt, sondern in einzelnen Akten auch das jeweilige gegenständliche Korrelat wird immer auf irgendeine Art und Weise (nämlich: in irgendeiner Modalität) gesetzt. Diese Modalitäten sind: Gewisssein, Angemutetsein, Möglichsein, Zwei-
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felhaftsein, Fraglichsein; Deutlichkeit und Verworrenheit sind „Modalitäten des Vollzugs“. (Hua III/1, 283 f.; 288–290) Die Glaubensgewissheit hat die Rolle der „‚unmodalisierten‘ Urform der Glaubensweise“ (Hua III/1, 240) und wird deswegen auch „Urdoxa“ oder „Urglaube“ genannt. (Hua III/1, 241) Die völlige Aufhebung und Entkräftung jeder doxischen Modalität nennt Husserl „Neutralitätsmodifikation“ (Hua III/1, 247) und sie ist die modaltheoretische Basis der phänomenologischen Reduktion. Neben der Reduktion ist auch die zweite Achse des phänomenologischen Vorgehens modaltheoretisch fundiert, nämlich die eidetische Variation, deren Aufgabe es ist, „das im empirischen Gegebenen zunächst sich abhebende Allgemeine […] von seinem Charakter der Zufälligkeit“ zu befreien, denn „Begriffe des natürlichen Lebens führen, unbeschadet ihrer Idealität, die Mitsetzung einer empirischen Sphäre mit sich, in der sie die Stätte ihrer möglichen Verwirklichung in Einzelheiten haben. Sprechen wir von Tieren, von Pflanzen, von Städten, Häusern usw., so meinen wir damit von vorneherein Dinge der Welt, und zwar der Welt unserer wirklichen, faktischen Erfahrung“, weshalb empirische Allgemeinbegriffe immer nur „einen Umfang von wirklichen und real möglichen Dingen in der gegebenen Welt“ haben. (1985, 398) Natürliche Begriffe denotieren deswegen auch ausschließlich „Spielräume der Erfahrung“ (1985, 443) und nicht, wie von Husserl für philosophische Begriffe gefordert, „Notwendigkeiten für Möglichkeiten“. (Hua XLI, 226) Unmodifizierte weltliche, d. h. faktische Erfahrung, auch in typisierter Form, kann niemals „apriorische Notwendigkeit“ (1985, 409) begründen. Da der philosophische Begriff aber gerade einen „Umfang reiner Möglichkeiten“ (1985, 426) (bzw. reiner Notwendigkeiten reiner Möglichkeiten) haben soll, muss der Übergang zum echt Allgemeinen vollzogen werden. Die eidetische Variation leistet genau diese „Entbindung“ unserer Begriffe von empirischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten, aus der sie stammen und auf die sie bezogen sind. Als Erstes muss das Exempel desjenigen Wesens, dessen reiner Begriff gewonnen werden soll, also das Vor- oder Urbild der Variation, als reine Möglichkeit, als rein mögliche Instanz des zu klärenden Wesens aufgefasst werden. Der Erfahrungsglaube ist in der eidetischen Variation folglich funktionslos, denn die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit des Ausgangsexempels soll gerade keine Rolle spielen; eine Phantasie kann ebenso gut exemplarisch fungieren. Im zweiten Schritt werden nun Varianten des Ausgangsexempels gebildet; die Variantenbildung muss dabei ihrerseits eine „Beliebigkeitsgestalt“ (1985, 412) aufweisen, in meinen (endlich vielen) Abwandlungen erzeuge ich also keine „faktische Reihe“ (1985, 413) von realen oder phantasierten Gegenständen, sondern nur einen exemplarischen Auszug der offen unendlichen Mannigfaltigkeit aller Beispiele – andernfalls hätten wir es nur wieder zu tun mit „Allgemeinheiten in bezug auf empirische Umfänge“. (1985, 422) Erst in der wirklich beliebigen, potentiell endlosen Variation des Exempels zeigt sich schließlich das reine Wesen als „ens
48 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? similitudinis“, (Hua XLI, 214) nämlich als Gemeinsames aller in „synthetischer Identifikation“ (Hua XLI, 213) stehenden Varianten: Es zeigt sich dann, dass durch diese Mannigfaltigkeit von Nachgestaltungen eine Einheit hindurchgeht, dass bei solchen freien Variationen eines Urbildes, z. B. eines Dinges, in Notwendigkeit eine Invariante erhalten bleibt als die notwendige allgemeine Form, ohne die ein derartiges wie dieses Ding, als Exempel seiner Art, überhaupt undenkbar wäre. Sie hebt sich in der Übung willkürlicher Variation, und während uns das Differierende der Variationen gleichgültig ist, als ein absolut identischer Gehalt, ein invariables Was heraus, nach dem hin sich alle Varianten decken: ein allgemeines Wesen. […] Dieses allgemeine Wesen ist das Eidos, die [grch.] idea im platonischen Sinne, aber rein gefasst und frei von allen metaphysischen Interpretationen, also genau so genommen, wie es in der auf solchem Wege entspringenden Ideenschau uns unmittelbar intuitiv zur Gegebenheit kommt. (1985, 411)
Obgleich die Resultate der eidetischen Variation durch die Ausschaltung des Wirklichkeitsbezugs der Ausgangsexempel und durch die Willkürlichkeit der Variation ihre Geltung nicht aus der Empirie erhalten, ist die Wesenserkenntnis trotzdem genetisch auf diese zurückbezogen. Denn der „Substratgegenstand“ (Hua XLI, 390) der Variation ist vor seiner Abwandlung notwendigerweise empirisch begriffen, nämlich „typisch apperzipiert“, d. h. als Instanz des noch zu begreifenden Allgemeinen. Diese typische Apperzeption konstituiert einen „Möglichkeitshorizont von Ähnlichen, von typisch Gleichen“, der den „Explikationshorizont“ des zugehörigen Begriffs bildet. (Hua XLI, 388) Dieser Horizont wird in der Variation abgeschritten; er darf offensichtlich nicht mit-variieren, sonst würde die freie Variation von der Erkundung des idealen Gehalts eines Begriffs zur wahl- und regellosen Reihung irgendwelcher Gegenstände, wodurch sich nicht der oben bereits erwähnte Spielraum der „Notwendigkeiten für Möglichkeiten“ zeigen würde. Was genau aber heißt hier „Notwendigkeit“, „Möglichkeit“ und „Wirklichkeit“?
1.10 Notwendigkeit Gesetze gelten generell und daher notwendig. (Hua XVIII, 142; 176; Fernández 2013) Notwendigkeit „als objektives Prädikat einer Wahrheit (die dann notwendige Wahrheit heißt) bedeutet soviel wie gesetzliche Gültigkeit des bezüglichen Sachverhaltes“, (Hua XVIII, 233) und das ist weder ein „subjektive[r], psychologische[r] Charakter des […] Urteils, mitnichten ein ‚Gefühl des Genötigtseins‘“. (Hua XVIII, 233) Es gilt vielmehr, „einen Sachverhalt als gesetzmäßigen oder seine Wahrheit als notwendig geltende einsehen, und Erkenntnis vom Grunde des Sachverhaltes bzw. seiner Wahrheit haben, das sind äquivalente Ausdrücke“. (Hua XVIII, 233 f.) Analytisch notwendige Sätze sind dann solche Sätze, welche eine Wahrheit haben, die von der Eigenart der Gegenständlich-
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keit, von der Faktizität des Falles und vor der eventuellen Daseinssetzung völlig unabhängig ist. (Hua XIX /1, 259) Notwendig apriori gesetzt wird insbesondere das eigene Ich: „Der Thesis der Welt, die eine ‚zufällige‘ ist, steht gegenüber die Thesis meines reinen Ich und Ichlebens, die eine notwendige, schlechthin zweifellose ist“. (Hua III/1, 98) Das hängt damit zusammen, dass „individuelles Sein jeder Art […] ganz allgemein gesprochen, ‚zufällig‘ ist“, jede Zufälligkeit aber wiederum „korrelativ bezogen auf eine Notwendigkeit“ ist, welche „den Charakter der Wesensnotwendigkeit und damit Beziehung auf Wesensallgemeinheit hat“. (Hua III/1, 12) Einerseits zufällige Tatsachen, andererseits notwendige Wesen – mit dieser Unterscheidung heben die Ideen I an. In der Sphäre der Wesen gibt es keine Zufälle. (Hua III/1, 216) Beispielweise kann man bei einem Wahrnehmungsakt den zufälligen Tisch, den ich hier und jetzt wahrnehme, vom Tisch überhaupt und vor allem vom Wesen eines Wahrnehmungsaktes unterscheiden; dieses Wesen bleibt immer sich selbst gleich, ungeachtet der jeweiligen weltlichen Konkreta, mit denen wir im Einzelfall konfrontiert sind.
1.11 Möglichkeit Husserl versteht seine Diskussion der Modalität der Möglichkeit als epistemologische Diskussion der Denkbarkeit oder Vorstellbarkeit von etwas als ‚möglich‘ mit ontologischen Implikationen. Methodisch ist dies das Ergebnis der strikten Orientierung an der Anschauung: „Eine letzte phänomenologische Klärung der Begriffe Möglichkeit und Unmöglichkeit“ ist für Husserl im Zusammenhang mit der Untersuchung der „Angemessenheit der Intention an das sich ihr in der Erkenntnis als Erfüllung anschmelzende Anschauungserlebnis“ anzustreben. (Hua XIX /2, 540) Die Realität von Bedeutungen ist die Möglichkeit, dass dieser Bedeutung „in der Sphäre der objektivierenden Akte in specie eine angemessene Essenz entspricht […] oder, was dasselbe ist, dass sie einen erfüllenden Sinn hat […] Dies ‚es gibt‘ hat hier denselben idealen Sinn wie in der Mathematik“, es heißt nämlich, „es auf die Möglichkeit entsprechender Einzelheiten“ zurückzuführen. (Hua XIX /1, 633) Möglichkeit heißt in der Sphäre der Bedeutungen Verträglichkeit, Unmöglichkeit heißt Unverträglichkeit. (Hua XIX /1, 646) Diese Überlegungen versteht Husserl als Umdeutung, aber keineswegs als radikalen Bruch mit der bisherigen Metaphysik. „Die alte ontologische Lehre, dass die Erkenntnis der ‚Möglichkeiten‘ der der Wirklichkeit vorhergehen müsse, ist m. E., wofern sie recht verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine große Wahrheit“. (Hua III/1, 178) Das liegt darin begründet, dass echte Wesenswissenschaften sich nicht auf Wirklichkeiten, sondern auf „ideale Möglichkeiten“ (Hua III/1, 21) gründen. Der Begriff von Möglichkeit, der dabei im Spiel ist, ist der einer „bloßen Erdenklichkeit“. (Hua I, 94)
50 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? Für die Phänomenologie von noch größerer Wichtigkeit als die Gleichsetzung von Möglichkeit mit Denkbarkeit ist Potenzialität als reale Möglichkeit. (Wiegerling 1984) In jedem Akt (beispielsweise dem Wahrnehmungsakt) können wir zwischen aktuell Gesetztem (etwa der aktuell gesehenen Seite dieses Buches) und potentiell Gesetztem (etwa dem Cover auf der Rückseite, das ich potentiell durch einen anderen Akt wahrnehmen kann) unterscheiden; unser Bewusstsein von Dingen enthält stets das Bewusstsein, dass es am Gegenstand noch mehr zu entdecken gäbe als das, was wir jeweils aktuell sehen. Allgemein gilt: „Jedes Erlebnis hat einen im Wandel seines Bewusstseinszusammenhangs und im Wandel seiner Stromphasen wechselnden Horizont – einen intentionalen Horizont der Verweisung auf ihm selbst zugehörige Potentialitäten des Bewusstseins.“ (Hua I, 82) Die wichtigste Ausformulierung der Potenzialität in diesem Sinn ist das „Ich kann“, mit dem Husserl unter anderem unser kinästhetisch konstituiertes Raum- und Gestaltbewusstsein beschreibt. (→ 1.8) Der Raum und die Dinge in ihm sind gerade das, was ich in bestimmten Bewegungen erfahren kann, was diese ermöglicht oder verhindert. Die Potenzialitäten des Subjekts sind dabei reale Möglichkeiten, denn „Vermöglichkeit ist ein Modus der Aktivität“, (Ms D 10 III, 42) also der Realisierung oder Aktualisierung. (Mohanty 1984)
1.12 Wirklichkeit Wie bereits oben (→ 1.2) gesehen, ist die Konstitution von Wirklichkeit ein Zentralthema der Phänomenologie und die Fragen danach, wann ein intentionaler Akt triftig sei, also sich erfolgreich auf etwas Wirkliches beziehe, wann und wie sich in ihm Wirklichkeit ausweisen kann, sind die „großen Probleme der Vernunft“. (Hua III/1, 315) Sie fallen zusammen mit dem Problembereich der Evidenz, (Hefernan 1998; 2009) in der sich Wirklichkeit bewährt oder nicht bewährt; insofern die Vernunft das Vermögen evidenter Bewährung darstellt, ist sie also das Korrelat der Wirklichkeit. (Hua I, § 26) Wirklichkeit im spezifischen Sinne der physischen Realität ist dann vor allem kausal (→ 1.13) zu verstehen: „Realität und Kausalität gehören untrennbar zusammen. Reale Eigenschaften sind eo ipso kausale.“ (Hua IV, 45) Im Kontrast dazu sind vor allem zwei Seinssphären zu unterscheiden: einerseits ist ‚kausale Wirklichkeit‘ der Kontrastbegriff zu Unwirklichkeit im Sinne von Fikta, andererseits zur geistigen Wirklichkeit. Auf einen zentralen Anwendungsfall dieser Unterscheidungen, das Leib-Seele-Problem geht der folgende Paragraph ein.
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1.13 Kausalität und das Leib-Seele-Problem Kausalgesetze sind ein typisch metaphysisches Problem, (Hua XVIII, 27) das die Welt und unser Verständnis von ihr betrifft, denn die Naturwissenschaften gehen davon aus, dass die Welt, in der wir leben, von kausalen Abläufen bestimmt ist. Die logischen Gesetze, um die es in den Logischen Untersuchungen geht, sind dagegen gerade keine Kausalgesetze. (Hua XVIII, 77) Falsch wäre es auch, eine Kausalverbindung zwischen Sinnending (Erscheinung) und physikalischem Ding „an sich“ (Hua III/1, 114) zu supponieren. Kausalität ist in der Tat ein Wesensmerkmal der physischen Realität, steht aber als solche außerhalb des eigentlichen Rahmens der phänomenologischen Methode, insofern phänomenologische Reduktion geübt wird: Phänomenologie erklärt keine Kausalzusammenhänge, sondern untersucht, wie diese uns erscheinen (können). An die Stelle der Kausalität tritt im phänomenologischen Bereich das Thema der Motivation. (Rang 1973) Das lässt sich am besten am Beispiel der Eingebundenheit des Menschen in die Welt veranschaulichen: Der Mensch hat auch Teil am Kausalgeschehen, und zwar, weil sein Leibkörper selbstverständlich „Glied des Kausalzusammenhangs“ ist. Im Bereich dessen aber, was in den Ideen II die „geistige Welt“ genannt wird, ist das Grundgesetz eben die Motivation, welche zwar eine ähnliche Struktur wie die Kausalität aufweist, nämlich das „Wenn – So“, (Hua IV, 229) von dieser dennoch grundverschieden ist. Die Wesensgesetze der Kompossibilität (im Faktum Regeln des Miteinander-zugleichoder-folgend-zu-Sein und sein-zu-Können) sind in einem weitesten Sinne Gesetze der Kausalität – Gesetze für ein Wenn und So. Doch ist es hier besser, den vorurteilsbelasteten Ausdruck ‚Kausalität‘ zu vermeiden und in der transzendentalen Sphäre (wie in der ‚rein‘-psychologischen) von Motivation zu sprechen. (Hua I, 109)
Der Unterschied besteht darin, dass motivationale Zusammenhänge intentional, kausale Zusammenhänge materiell sind. Dass das Stück Kuchen lecker aussieht, ist eine Motivation, ein (möglicher) Grund, es zu essen – in diesem Register beschrieben, finden die Begriffe Ursache und Wirkung keinen Anhalt. Der Unterschied zwischen Kausalität und Motivation spielt in Husserls Adaption des traditionellen Leib-Seele-Problems eine entscheidende Rolle. (Bernet 2009) Dazu findet man in den Logischen Untersuchungen nichts: der Ichleib wird prinzipiell unabhängig vom Ich betrachtet; (Hua XIX /1, 363) anders in den Ideen I, wo Bewusstsein und Dinglichkeit als ein „verbundenes Ganzes“ (Hua III/1, 80) angesehen werden. Die sinnliche Erfahrung ist die „letzte Quelle“ dafür, dass ich mir einen Leib „zuschreibe“. (Hua III/1, 80) Wahrnehmendes Bewusstsein ist „Bewusstsein der leibhaftigen Selbstgegenwart eines individuellen Objektes“, und auch unser Leib ist immer „wahrnehmungsmäßig da“. (Hua III/1, 81) In der „Erfahrungsbeziehung“ zum Leib gewinnt das Bewusstsein auch „Stellung im Raum der Natur und in der Zeit der Natur“: „Erschei-
52 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? nungsmässig konstituiert sich so die psychophysische Natureinheit Mensch oder Tier als leiblich fundierte Einheit“. (Hua III/1, 116 f.) „Animalische Realitäten“ werden in den Ideen II dann als „beseelte Leiber“ charakterisiert. (Hua IV, 32) Es handelt sich um eine fundierte Konstitutionsschicht insofern, als materielle Leiber (Körper) dabei vorausgesetzt sind. Menschen und Tiere als „konkrete Ganze“ sind „räumlich lokalisiert“, obwohl das Psychische nicht „im eigentlichen Sinne ausgedehnt“ erscheint. (Hua IV, 33) Der beseelte Leib (Leib im engeren Sinn) ist jedoch wiederum entscheidend für die Konstitution materieller Eigenschaften der Dinge. (Hua IV, 55 ff.) Der beseelte Leib ist nämlich „das Mittel aller Wahrnehmung, er ist das Wahrnehmungsorgan, er ist bei aller Wahrnehmung notwendig dabei“. (Hua IV, 56) Dabei ist der Leib als „freibewegtes Ganzes der Sinnesorgane zu verstehen“, weil in ihm die „kinästhetische Empfindungen“ lokalisiert sind; er ist somit auch Träger „der Orientierungspunkte Null …, des Hier und Jetzt“. (Hua IV, 56) Die Seele ist wesentlich als eine „mit der Leibesrealität verbundene oder in ihr verflochtene Realität“. (Hua IV, 93; Meixner 2011) konstituiert. Die Seele ist indes für Husserl nicht dasselbe wir das reine Ich, das von seinem Leib als Empirischem verschieden ist. (Hua IV, 97 ff.) Das seelische Subjekt ist nämlich „real“, (Hua IV, 120) während das Ich rein transzendental ist. Terminologisch kann man weiter spezifizieren, dass ‚Seele‘ weder das reine Ich noch das Ganze des Bewusstseinsstroms (die Monade) bezeichnet. Es ist damit vielmehr eine „auf ihn [diesen Strom] wesentlich bezogene, aber ihm in gewissem Sinne transzendente Einheit“ gemeint; die Seele ist somit „Substrat“ für „persönliche Eigenschaften“: (Hua IV, 121) der intellektuelle Charakter des Menschen und die sämtlichen zu ihm gehörigen intellektuellen Dispositionen, der Gemütscharakter, der praktische Charakter, jedweder seiner geistigen Fähigkeiten, Fertigkeiten, seine mathematische Begabung, sein logischer Scharfsinn, seine Großherzigkeit, Freundlichkeit, Selbstverleugnung […]. Auch seine Sinne und die ihm eigenen, für ihn charakteristischen Dispositionen in dem sinnlichen Verhalten, seine Phantasiedispositionen und dergl. sind seelische Eigenschaften. (Hua IV, 122)
Husserl denkt die Seele explizit in einer Analogie zum materiellen Ding als Träger von Eigenschaften. Schon die Konstitution des Leibes als materielles Ding ist ebenfalls als eine Analogie gemeint, denn der Leib ist Träger von bestimmten Eigenschaften, die Husserl „Empfindnisse“ (Hua IV, 144) nennt. Damit sind leibliche Empfindungen gemeint, und der Leib ist eben die Substanz, an der diese leiblichen Empfindungen lokalisiert sind. Hinzu kommt, dass der Leib auch „Willensorgan und Träger freier Bewegung“ (Hua IV, 151) ist. Durch alle Formen der Reduktion hindurch findet sich das philosophierende Ich immer als „psychophysische Einheit“ (Hua I, 128; Waldenfels 2000) von Leib und Seele vor. Vor allem in der fünften Cartesianischen Meditation unterscheidet Husserl jedoch weiter zwischen Körper und Leib. Ist der Leib immer
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ein lebendiges, erfahren(d)es Organ, so wird dieser zu einem bloßen Körper, wenn er primär nicht als Träger oder Medium einer Subjektivität, sondern als weltliches Objekt aufgefasst wird. Mit der Unterscheidung zwischen Körper und Leib wird das Leib-Seele-Problem wenn nicht überflüssig, so doch wesentlich anders konzipiert. Das Verhältnis stellt sich nicht mehr zwischen physischer und psychischer Realität ein, sondern durchläuft mehrere Stadien, so dass eine Analyse menschlicher Leiblichkeit in ihrer Funktionalität das metaphysische Problem abschwächen kann.
1.14 Faktizität und Gott Schließlich bezeichnet Husserl auch die philosophische Theorie der Faktizität selbst als „Metaphysik in einem neuen Sinn“. (Hua VII, 188 FN) Dazu gehören, wie oben (→ 1.1) angedeutet, vor allem Fragen nach der Faktizität der Korrelation und ihrer Relata, des Ich und der Welt. Diese Fragen lassen sich zusammenführen als Fragen nach der Irrationalität des transzendentalen Faktums, dass es überhaupt Subjekte gibt, die eine Welt konstituieren. Insbesondere umfasst eine solche Fragestellung die Problematiken der Geburt, des Todes und der (möglichen) Unsterblichkeit; ebenso aber auch Fragen nach der Teleologie der Monadengemeinschaft, der Theologie, der Werte und – eng damit verbunden – der Freiheit, also Fragen, die traditionell als „metaphysische“ ausgezeichnet wurden. (Strasser 1979) In der Einleitung zur Krisis zeichnet Husserl diese Fragen als Problematik der Vernunft aus und erklärt sie zu den „höchsten und letzten Fragen“. (Hua VI, 6 f.) Damit wird ersichtlich, dass beim späten Husserl das Verhältnis zur Metaphysik anders gefasst ist als beim frühen Husserl. Es geht jetzt nicht mehr darum, eine von aller Metaphysik befreite Methode zu konzipieren oder die Grundbegriffe und Bedingungen der Wissenschaften zu reflektieren, sondern um das Eingeständnis, dass die phänomenologische Methode, wenn in aller Konsequenz durchgeführt, einen ganz eigenen Einblick in die klassischen Fragen der Geschichte der Philosophie freigibt. Insofern es sich dabei um Fragen handelt, die Husserl im Rahmen der Phänomenologie stellt und sie auch offenbar nur dort für zu beantworten hält, lassen sich hier Phänomenologie und Metaphysik identifizieren. Ob und wie sich von diesem Anspruch aus auch eine Neubestimmung der Phänomenologie ergibt, bleibt genauer zu prüfen. Die Faktizität, um die es dabei als ein Leitthema dieser phänomenologischen Metaphysik geht, ist nicht identisch mit der weltlichen Wirklichkeit, d. h. der Wirklichkeit oder Realität weltlicher Gegenstände, denn sie betrifft die Beschreibungsebene unterhalb der Welt, die wir oben als Urstufe oder Ur-Sphäre kennengelernt haben. Der Fluss der hyletischen Daten ist einfach da, aber nicht an einem weltlichen Ort; das Ur-Ich, das die Einheiten des Flusses polarisiert, ist
54 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? ebenso einfach da. Sie sind in (erweiterter) phänomenologischer Methode aufweisbar, aber nicht weiter begründbar. Obwohl Subjektivität sich selbst konstituiert, ist sie nicht letztverantwortlich für ihr eigenes Vorkommen oder das Vorkommen der Welt, diese sind vielmehr Urtatsachen: „Ich bin, ich lebe in meine Welt hinein. Das Faktum kann ich nicht durchstreichen. Alle Möglichkeiten, die ich erdenken kann, sind Abwandlungen dieses Faktums, also auf es zurückbezogen.“ (Hua XLI, 338) Diese Subjektivität ist nicht nur faktisch da, sondern auch intersubjektiv und so ist es möglich, auch aus der phänomenologischen Begründung der Fremderfahrung „metaphysische Ergebnisse“ (Hua I, 166) zu ziehen: Sie sind metaphysisch, wenn es wahr ist, dass letzte Seinserkenntnisse metaphysische zu nennen sind. Aber nichts weniger als Metaphysik im gewohnten Sinne ist hier in Frage, als welche eine historisch entartete Metaphysik ist, die nichts weniger als dem Sinn gemäß ist, mit dem Metaphysik als Erste Philosophie ursprünglich gestiftet worden war. Die rein intuitive, konkrete und zudem apodiktische Ausweisungsart der Phänomenologie schließt alle metaphysischen Abenteuer, alle spekulativen Überschwenglichkeiten aus. (Hua I, 166)
Metaphysisch, so lässt sich somit festhalten, kommt die Phänomenologie in Bezug auf die Intersubjektivität zu folgenden Ergebnissen: das Ego ist das einzig apodiktisch Gegebene und alle anderen Gegebenheiten hängen davon ab; die Möglichkeit, dass „miteinander nicht vergemeinschaftete Monadenvielheiten koexistieren“, (Hua I, 166) und dass jede Vielheit eine eigene Welt konstituiere, ist ein „purer Widersinn“: (Hua I, 167) Es kann also nur eine einzige Monadengemeinschaft, die aller koexistierenden Monaden, in Wirklichkeit geben, demnach nur eine einzige objektive Welt, nur eine einzige objektive Zeit, nur einen objektiven Raum, nur eine Natur, und es muss, wenn überhaupt in mir Strukturen angelegt sind, die das Mit-sein der anderen Monaden implizieren, diese eine einzige Natur geben. (Hua I, 171)
Durch diese Ergebnisse wird eine transzendentale Metaphysik im vollen Sinne möglich. Sie hat vor allem Fragen zu beantworten, welche die Entwicklung dieser einzigartig-faktischen Monadengemeinschaft betreffen, für welche die Welt erscheint. Deswegen kann Husserl die Cartesianischen Meditationen damit schließen, dass „die Phänomenologie, wie wir schon früher ausgeführt haben, nur jede naive und mit widersinnigen Dingen an sich operierende Metaphysik ausschließt, nicht aber Metaphysik überhaupt“; vielmehr müssen die „echten metaphysischen Probleme als die höchststufigen innerhalb einer Phänomenologie“ angesehen werden. (Hua I, 192 f.) Obwohl Husserl diese phänomenologische oder transzendentale Metaphysik nie zur Veröffentlichungsreife gebracht hat, lassen sich verschiedene ihrer Momente finden; wir konzentrieren uns im Folgenden noch auf die husserlsche Theologie und Teleologie, da sie verschiedene Fragen, die er der Metaphysik in diesem letzten Sinne zuordnet, mitbetreffen.
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Das Verhältnis von Husserls Phänomenologie zur Theologie ist komplex. (Held 2010) Einerseits lehnt Husserl theologische Argumentationen scharf ab, während er das religiöse Erlebnis anerkennt und ernst nimmt: „Tolerance then for religions, but intolerance for theologies.“ (Cairns 1976, 52, 57) In diesem Sinne gibt es bei Husserl keine phänomenologische Theologie und Gott taucht in den veröffentlichten Schriften wenn überhaupt nur als Grenzkonzept innerhalb von phänomenologischen Debatten auf. So steht selbst Gott nicht über Wesensgesetzen; (Hua III/1, 92) auch ihm müssen Wahrnehmungsgegenstände perspektivisch erscheinen (Hua III/1, 351; Hua IV, 85) – weil es eben zum Wesen von Wahrnehmungsdingen gehört, perspektivisch zu erscheinen. Aber Gott spielt für Husserl nicht nur eine erkenntnistheoretische Rolle, sondern auch, wie die Veröffentlichung neuer Manuskripte (Hua XLII) gezeigt hat, eine bisher nicht untersuchte Rolle im Bereich der Ethik. Husserl lehnt die Berufung auf Gott in der Philosophie jedoch streng ab, sie stört ihn bei den Cambridge Platonists in demselben Maße wie bei Descartes: Die Erkenntnistheorie als die Wissenschaft von der Aufklärung der theoretischen Vernunft als Quelle aller theoretischer Geltung, und ebenso alle Vernunfttheorie überhaupt, bewegt sich in ihrer ganzen Entwicklung bis zur reinen Phänomenologie zwischen der Scylla des Theologismus, in die der Rationalismus immer wieder hineingerät, und der Charybdis des Anthropologismus und Biologismus, welcher der Abgrund ist, in den aller Empirismus verfällt. (Hua XXXVI, 132)
Dass die Wendung zu Gott philosophisch nicht hilft, erläutert Husserl folgendermaßen: „Dass die Flucht in die Theologie nur zu einer Scheinbegründung der Theorie der Erkenntnisgeltung und ebenso der Theorie der ethischen Verbindlichkeit führen kann, das wird sofort klar, wenn wir die Frage aufwerfen, wie es mit der Quelle des Rechts für unseren Glauben an Gott stehe.“ (Hua XXXVI, 131) Auch die Interpretations-Mode, „die hinter jedem philosophischen Busch (das) ‚selbstverständlich‘ sich versteckende säkularisierte Christentum hervorsucht“, (Ms K III 28, 7) schätzt Husserl nicht. Andererseits ist, wie Husserl in einem Brief an Gustav Albrecht formuliert, „die Philosophie mein a-religiöser Weg zur Religion, mein a-theistischer Weg zu Gott“. (Dok III/9, 124) Denn eine „autonome Philosophie, wie es die aristotelische war und wie sie eine ewige Forderung bleibt, kommt notwendig zu einer philosophischen Teleologie und Theologie – als inkonfessioneller Weg zu Gott.“ (Hua XLII, 259) ‚Gott‘ hat entsprechend ebenfalls mehrere Bedeutungen bei Husserl, wird aber vornehmlich teleologisch gedacht: „Gott als Entelechie, Gott als [grch.] energeia“ (Hua XLII, 168) – und dies in zweifachem Sinne, einerseits als Ziel des Monadenalls, andererseits als ethisch-persönliches Ideal. Gott in der Gestalt von Jesus Christus tritt hier als verleiblichtes Paradigma oder Ideal für ein erfülltes persönliches Leben auf: „Lese ich die Evangelien, so bewegen mich die Wunder gar nicht. Aber die Gestalt Christi, so unbestimmt legendarisch sie ver-
56 1. Edmund Husserl – Ein Weg in die Metaphysik? bleibt […], wie sie sich in ihren ethischen Grundrichtungen bekundet durch mancherlei Aussprüche und Gleichnisse, weckt in mir ein Reich vollkommener Güte. Ich habe die Evidenz, dass so geartetes Tun […] ein rein gutes ist, dass so sein zu können Seligkeit wäre.“ Christus ist für Husserl entsprechend die „Verkörperung der reinen Menschengüte“; er liest „die Evangelien wie einen Roman, wie eine Legende, ich fühle mich ein, und ich werde mit unendlicher Liebe zu dieser überempirischen Gestalt, dieser Verkörperung einer reinen Idee erfüllt“, (Hua XXVII, 100) wobei die Verkörperung des Gottes zugleich der Verweltlichung des transzendentalen Ego entspricht. (Cairns 1976, 25) Kein empirisches Ich, keine Person, die diese Tatsache begriffen hat, kann sich – so Husserl – der Personalisierung des Telos mehr entziehen: Die personale Auffassung ist unvermeidlich. Das ideale absolute Ich ist als Korrelat zum idealen absoluten System der Wahrheit (aller Formen) ein Identisches gegenüber allen empirischen Einzel-Ich, ein Seiendes, Gültiges, Absolutes, das sie in sich aufnehmen, das sich in ihnen offenbart als das ewige Über-Sein personaler Form, das sich in allen empirischen Ich „abschattet“, aber eigentlich nur, sofern sie schon freie Ich sind, die dem absoluten Sollen zuhören. (Hua XLII, 177)
Was für Husserl im Christentum zählt, ist mithin nicht der Glaube an bestimmte Sachverhalte oder Dogmen, denn für ihn bleibt die wissenschaftliche, d. h. die freie (griechische) Vernunft dominant in allen Fragen der Wahrheit. Entscheidend ist vielmehr für Husserl, wie er sagt, das christliche „Tun“, an dem sich – als an einem inkorporierten Ideal – der Mensch ausrichten soll. Ideal zu handeln, ist göttlich, göttlich aber ist absolute, (richtig verstandene) autonome Rationalität. So verschränkt sich in Husserls Theo-Teleologie das platonische Motiv der Angleichung an Gott als nous mit der christlichen „Abschattung“ Christi in allen freien Ich, „die dem absoluten Sollen zuhören“. Dem absoluten Sollen hörig, d. h. vernünftig zu werden, ist wiederum gerade das Ziel der von Husserl in den K aizo-Artikeln so vehement für jeden Einzelnen und die menschliche Kultur geforderten „Erneuerung“: Das ideale Subjekt eines absolut vollkommenen Lebens projiziert sich ins Metaphysische als Idee der Gottheit, die, wie sie für jede strebende Menschenseele als Leitstern fungiert und teleologisch ihre edlen Tätigkeiten regelt, so gedacht wird als der teleologische Pol, der das Weltall, seinen gesamten Werdens- und Entwicklungsgang regiert und so die ganze Welt als idealer göttlicher Sinn beseelt. (Mat IX, 29)
Diese Projektion ist für Husserl ein notwendiger Bestandteil eines guten Lebens, denn der Mensch soll auf ein absolut vollkommenes Wesen hin leben und es zu verwirklichen versuchen. (Hua XLII, 175) Diese Theo-Teleologie verquickt sich in Husserls Axiologie außerdem mit mathematischer Metaphorik: „Der absolute Limes, der über alle Endlichkeit hinausliegende Pol, auf den alles echt humane Streben gerichtet ist, ist die Gottesidee. Sie selbst ist das ‚echte und wahre Ich‘“.
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(Hua XXVII, 33) Die „Gottesrealisation“ (Hua XLII, 168) ist daher das Ziel alles vernünftigen, authentischen Handelns. Edmund Husserl Geboren 1859 und 1938 verstorben. Gründervater der Phänomenologie. Studium der Mathematik, Physik, Astronomie und Philosophie in Leipzig unter anderem mit Wilhelm Wundt. Ab 1878 Studium der Mathematik bei Karl Weierstrass. 1883 Promotion im Fach Mathematik an der Universität Wien. 1884 Begegnung mit Franz Brentano. 1887 Habilitation im Fach Philosophie an der Universität Halle-Wittenberg bei Carl Stumpf. Im selben Jahr heiratet Husserl Malvine Steinschneider, die ihn sein Leben lang begleitet. Sein „Durchbruchwerk“, die Logischen Untersuchungen, erscheinen 1900/01 und sorgen für eine Berufung in Göttingen. Den Göttinger Jahren gehören auch die Schriften Philosophie als strenge Wissenschaft (1911) und der erste Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) an. 1916 Berufung nach Freiburg als Nachfolger Heinrich Rickerts. 1928 erscheinen, herausgegeben von Edith Stein und Martin Heidegger, die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, 1929 Formale und transzendentale Logik. 1928 Emeritierung. Ab 1933 Repressionen aufgrund von Husserls jüdischer Herkunft. Zu den Spätwerken zählen die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie sowie die Cartesianischen Meditationen. Kurz vor Husserls Tod werden seine Manuskripte von dem franziskanischen Pater Leo van Breda unter abenteuerlichen Umständen nach Leuven (Belgien) gerettet. Mit der Gründung des dortigen Husserl-Archivs beginnt die Edition der Manuskripte in der Reihe Husserliana, die heute noch fortgesetzt wird und mittlerweile über fünfzig Bände umfasst.
Literatur Husserl wird nach den Husserliana sowie den Reihen Husserliana-Dokumente und Husserliana-Materialien zitiert. Husserl, Edmund (1985), Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, hg. v. Ludwig Landgrebe, 6. Aufl., Hamburg. Cairns, Dorion (1976), Conversations with Husserl and Fink, Nijhoff. Altobrando, Andrea (2011), „Monadische Subjektivität bei Husserl“, in: Gert-Jan van der Heiden u. a. (Hg.), Investigating Subjectivity. Classical and New Perspectives, Leiden, 145–164. Arnold, Thomas (2017), Phänomenologie als Platonismus. Zu den Platonischen Wesensmomenten der Philosophie Edmund Husserls, Berlin/Boston.
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2. Hedwig Conrad-Martius – Phänomenologie und Realismus Giovanna Caruso
Als Unterstützerin der Phänomenologie Husserls und zugleich Kritikerin seiner transzendentalen Wende ist Hedwig Conrad-Martius eine der wichtigsten ProtagonistInnen der phänomenologischen Bewegung. Als Schülerin Husserls strebt sie eine phänomenologische Wesensschau aller Gegenstände an, vor allem aber der Naturgegenstände. Anders als Husserl ist sie aber Vertreterin eines radikalen Realismus, der seine Wurzeln im christlichen Glauben hat. Weil die physische Welt in ihrer Vielfalt an Substanzen und Erscheinungsweisen nach Conrad-Martius eine geschaffene Welt ist, zweifelt sie nicht an ihrer Realität. Diese Überzeugung veranlasst die Philosophin vielmehr dazu, eine „ontologische Phänomenologie“ (1958a) zu entwickeln, die sie der transzendentalen Phänomenologie Husserls entgegensetzt. In der ontologischen Phänomenologie wird das Sein der Welt – anstatt eingeklammert zu werden – zum primären Forschungsgegenstand. Auch ihr Verhältnis zu Heidegger ist kritisch. Einerseits schätzt sie die Rolle, die die Verbundenheit des Daseins mit der Welt in seiner existenzialen Ontologie spielt. Andererseits sieht sie auch in der Phänomenologie Heideggers – wie in jener Husserls – eine Zurückführung der Welt auf das Subjekt, die dem Sein der Welt nicht gerecht wird. Die ‚ontologische Phänomenologie‘ soll daher eine dritte Art von Phänomenologie darstellen, die sich als Alternative sowohl zur ‚ersten‘ transzendentalen Phänomenologie Husserls als auch zur ‚zweiten‘ existenzialen Phänomenologie Heideggers versteht. Durch das Adjektiv ‚ontologisch‘ will Conrad-Martius klarstellen, dass alle Formen des Seienden gleichermaßen zu betrachten sind. (1956, 378) Und in der Tat richten sich ihre Forschungsinteressen auf alle möglichen Formen von Seiendem, nehmen etwa das Verhältnis zwischen belebter und unbelebter Natur, das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Stufen der organischen Natur, zwischen Leib und Seele in den Blick; nicht zuletzt untersucht sie die Phänomene von Zeit und Raum. Diese naturphilosophischen Themen gehören zu Conrad-Martius’ Phänomenologie der Welt und – da die Welt von Gott geschaffen ist und von sich aus über sich hinausweist – zur Frage nach der Metaphysik. Der vorliegende Beitrag schlägt einen Weg in fünf Schritten vor, der ausgehend vom Weltbegriff die Metaphysikauffassung Conrad-Martius’ darstellen will: Die Notwendigkeit der Seinssetzung der Welt, die sie in Abgrenzung zur
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transzendentalen Phänomenologie Husserls behauptet, wird zum Thema des einleitenden Teils. In einem zweiten Teil werden die Seinsformen der Realität veranschaulicht, wodurch unter anderem die Stellung Conrad-Martius’ zum klassischen Kontrast zwischen Idealismus und Realismus deutlich wird. In Hinblick auf die Seinsformen der Realität wird es im dritten Teil möglich, den Stufenbau der Natur zu beschreiben. Der vierte Abschnitt wird sich mit Conrad-Martius’ Konzeption von Raum und Zeit auseinandersetzen. Schließlich widmet sich der fünfte Teil dem systematischen Verhältnis von Ontologie, Metaphysik und Theologie. Diese Struktur, die von der Setzung der Realität der Welt zu Conrad-Martius’ theologischer Auffassung der Metaphysik führt, will außerdem dazu auffordern, den phänomenologischen Gedankengang der Philosophin nachzuvollziehen, nach welchem die Existenz der realen Welt alleiniger Ausgangspunkt jeder ernsthaften philosophischen Forschung sein kann.
2.1 Die Realität der Welt Der Weltbegriff spielt eine grundlegende Rolle in Conrad-Martius’ Denken. In kritischer Auseinandersetzung mit der Philosophie Husserls und Heideggers vertritt sie eine realistische, materialistische Auffassung der Welt, die sie durch die neue Physik ihrer Zeit bestätigt sieht und die zugleich auf ihrem christlichen Glauben beruht. Obwohl Conrad-Martius die phänomenologische Wesensschau für die einzig richtige Methode zur Beschreibung der Welt und der Dinge hält, distanziert sie sich von Husserls transzendentaler Phänomenologie. Denn diese konzentriere sich nur auf die Analyse der Konstitutionsleistungen des Bewusstseins. (1958a) Der zentrale Punkt ihrer Kritik besteht in dem Vorwurf, durch Husserls transzendentale Reduktion werde das Sein des Seienden ‚umgewertet‘, (1931a, 25) indem die Welt eingeklammert und auf die Ebene des Bewusstseins zurückgeführt werde. Ihr Gegenvorschlag in der Realontologie besteht darin, Bewusstsein und Welt zwei getrennten Seinsrealitäten zuzuordnen: Das Bewusstsein existiert nicht in der Weise, in der das Seiende – und daher auch die seiende Welt – existiert. Auch wenn die Einklammerung der Realität der Welt die „universale Durchforschung auf einem in Richtung auf tatsächliche Vorhandenheit evidentermaßen absolut gesicherten Boden [des Bewußtseins]“ (1931a, 20) ermöglicht, verfehlt die transzendentale Reduktion eben dadurch die Faktizität der Welt. Denn die transzendentale Reduktion „führt […] nicht und kann nicht führen an das Grundproblem des Seins und der Faktizität“. (1931a, 22) Obwohl sie in Einklang mit Husserl der Meinung ist, dass die phänomenologische Wesensschau nicht über die reale Existenz der Welt entscheiden kann, argumentiert sie – im Gegensatz zu Husserl – für die Notwendigkeit, das Sein der Welt als hypothetisch zu setzen. (1958a, 398) Denn erst dadurch wird es Con-
62 2. Hedwig Conrad-Martius – Phänomenologie und Realismus rad-Martius zufolge möglich, Dinge und Welt als vom Bewusstsein unabhängige Gegenstände zu betrachten und somit den Weltphänomenen gerecht zu werden. (1956, 370) Denn reale Existenz ist nicht ausschließlich eine Sache des erkennenden Subjekts oder des Bewusstseins oder dessen, worauf sich die Intentionalität des Bewusstseins bezieht. Vielmehr ist reale Existenz aus dem Erscheinen der Welt selbst bestimmt, insofern sie als real eine Existenz besitzt, die vom Bewusstsein und jeder Form von Ich unabhängig ist. Als reale besteht die Welt vielmehr aus unterschiedlichen Substanzen. (1949a, 26) Worin besteht aber die Realität dieser Substanzen? Was zeichnet das Reale aus? Was unterscheidet es vom ‚Unrealen‘? Diese Fragen finden ihre komplexen Antworten vor allem in zwei Werken der Philosophin, in Realontologie und Das Sein.
2.2 Das reale Sein und die Seinsformen Durch zahlreiche Gedankenexperimente, die ideelle und reelle Gebilde einander gegenüberstellen, erschließt Conrad-Martius in ihrer Realontologie die „wesensmäßigen Grundkonstituentien des realen Seins“. (1923, 173) „Reales Sein ist“ – so liest man in Das Sein, das den Hauptgedanken aus Conrad-Martius’ Realontologie aufgreift – „ein solches, das selber ‚ist‘, das seine Existenz und sein Wesen selber kann, das in der selbsteigenen Potenz zu seinem Sein und Sosein steht“. (1957, 102) Diese Definition lässt sich im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen ‚Washeit‘ und ‚Träger‘, die Conrad-Martius in Realontologie ausmacht, verdeutlichen. Anders als ideelle Gebilde zeichnen sich reelle Gebilde durch eine Dualität zwischen ‚Washeit‘ und ‚Träger‘ aus. Realität entsteht nach Conrad-Martius dadurch, dass sich Washeiten – die sie auch als ‚Gehalte‘ bezeichnet (1923, 218) – in Materie verkörpern. Trägerschaft ist daher das konstitutive Gestaltungsmoment der Realität, aus dem sich die anderen drei Gestaltungsmomente Eigenposition, Tangierbarkeit und Leiblichkeit ergeben. (1923, 159–190) Erst durch diesen Prozess der Verkörperung oder Substanzialisierung von Washeiten entsteht Materie. Das primäre Ziel der Realontologie besteht daher darin, den Entstehungsprozess von Materie zu erschließen: Und es ist ja in der Tat der besondere Sinn dieser ganzen Analyse, zu zeigen, daß materielle Setzung eine prägnante Erfüllung wahrhafter Substanzialisierung und damit Realisierung oder Leibhaftwerdung darstellt, ja, daß sie wirklich zunächst die Form der Substanzialisierung in diesem sinnlich-gebundenen Dasein ist. (1923, 200)
Realität entsteht demzufolge dadurch, dass Washeiten sich selbst setzen. Es lässt sich daraus schließen, dass Realität ein Selbstsetzungsprozess ist. Dies bedeutet, dass die Welt durch einen immanenten Prozess entsteht, wodurch sich die Washeiten setzen, und dieser Prozess ist von keiner der Welt äußeren Instanz abhängig. In diesem Sinne behauptet Conrad-Martius im Gegensatz zu Heidegger,
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dass das Sein-Können nicht nur das Sein des Daseins ausmacht. Vielmehr sei „die ganze geschöpfliche Welt“ als „sich selbst könnende“ zu verstehen. (1956, 373) Darüber hinaus unterscheidet Conrad-Martius zwischen dem, was sie ‚immanente‘, und dem, was sie ‚transzendente‘ Autonomie nennt. Die Autonomie, die die Materie auszeichnet, ist eine der Materie immanente. Nur das Reich des Geistes bzw. das Reich Gottes besitzt dagegen jene transzendente Autonomie, aufgrund derer es in sich selbst fundiert ist und causa sui sein kann. Weil sie von Gott geschaffen ist, besitzt die materielle Welt dagegen nur immanente Autonomie. Sie bedarf „einer Stütze, um in […] [ihrer] Selbstherrlichkeit und Daseinsautonomie, die […] [sie] nicht aus sich selbst zu erzeugen […] [vermag], bewahrt und fixiert zu bleiben“. (1923, 186) Obwohl sie also einen letztlich transzendenten Ursprung der Realität annimmt, betont Conrad-Martius, der Prozess der Verleiblichung von Washeiten dürfe nicht im Sinne eines platonisierenden Idealismus verstanden werden. Denn anders als die platonischen Ideen existierten die von ihr beschriebenen Washeiten nicht unabhängig von ihren jeweiligen Trägern. (1951b, 281) „Das Wesen [das in der Sprache der Realontologie der Washeit entspricht, G. C.] geht also in das Sein des Etwas ein, dessen Wesen es ist, und hat auf solche Weise ‚teil‘ an diesen Sein“. (1957, 57) Es wird sich später zeigen, dass diese reziproke Zugehörigkeit von Washeit und Träger eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Natur spielt. (→ 2.3) Bevor der Stufenaufbau der Natur dargestellt werden kann, sollen die Seinsformen der materiellen Realität angesprochen werden, die die ontologischen sowie die methodischen Grundlagen für die Erschließung der natürlichen Welt aufweisen. Denn die unterschiedlichen Substanzen der natürlichen Welt entstehen aus einem jeder Substanz immanenten, teleologisch ausgerichteten Zusammenwirken der Seinsformen des materiellen Seins, in welchem sie ihre materielle Realität gewinnen. Realität darf dabei nicht mit Materialität verwechselt werden. Denn es gibt nicht nur Substanzen, die - wie etwa Stoff und Leib - reell und materiell sind, sondern auch Substanzen, die - wie etwa Kraft und Seele reell sind aber nicht materiell. Dies spricht dennoch nicht gegen ihre Realität, sondern macht vielmehr ihren höheren Seinsrang aus. (1923, 232; 250) Ausgehend von der Objektivität der Natur, welche als materielle Natur die Materialität paradigmatisch zum Ausdruck bringt, (1923, 191) entwickelt ConradMartius ihre Auffassung der Materialität der realen Welt in enger Verbindung mit dem Raum. Welche Rolle der Raum im Substanzialisierungsprozess konkret spielt, wird sich im vierten Teil klären. Um die Entfaltung der Vielfältigkeit der Materie verstehen zu können, ist hier jedoch vorwegzunehmen, dass ConradMartius die Materie als substanzielle Fülle im Raum versteht. (1923, 246 f.) Die wesenhaften Unterschiede zwischen den einzelnen die Welt konstituierenden, materiellen Substanzen erklärt sie entsprechend als unterschiedliche Arten und Weisen, wie sich Washeiten ‚verräumlichen‘ bzw. selbst setzen. Aus den unterschiedlichen Möglichkeiten der Selbstsetzung der Materie leitet Conrad-Martius
64 2. Hedwig Conrad-Martius – Phänomenologie und Realismus drei verschiedene Zustandsmöglichkeiten des materiellen Seins ab: feste, flüssige und gasförmige Materie. (1923, 247) Diese Seinsformen machen die Stufen des materiellen Seins aus, auf deren Basis sie drei weitere Formen möglicher realer Setzung als höhere Stufen des Seins im Allgemeinen (materiell und immateriell) unterscheidet: die leibliche, die seelische und die geistige. (1923, 251) Durch die Interaktion dieser die substanzielle Wirklichkeit gestaltenden Grundkategorien, die zugleich die stufenmäßig miteinander verbundenen Reiche des Seins darstellen (das Reich der Leiblichkeit ist das der Natur oder das irdische Reich; das Reich des Geistes ist das des Überirdischen und das Reich der Seele ist das des Unterirdischen), entsteht die Vielfalt der reellen und wesensverschiedenen Substanzen, die die Welt ausmachen. (1923, 251 f.)
2.3 Die Morphologie der anorganischen und organischen Natur Die stufenmäßige Gliederung des Realen, die Conrad-Martius durch diese unterschiedlichen Reiche des Seins aufmacht, erlaubt eine Beschreibung der geschaffenen Natur der irdischen Welt. Der vielsagende Titel Der Selbstaufbau der Natur, Entelechie und Energien enthält bereits den Kern der Naturphilosophie Conrad-Martius’, denn er verweist auf den zentralen Gedanken, dass die Natursubstanzen in einem Selbsterstellungsprozess entstehen. Jedoch nicht nur die organischen, auch die anorganischen Substanzen entstehen durch einen Prozess der Selbstsetzung: „Natur ist als solche ‚selbstschöpferisch‘“. (1954b, 175) Dies erklärt Conrad-Martius mit Hilfe des von Aristoteles entliehenen Begriffs der Entelechie. Entelechie kann im Sinne Conrad-Martius’ ursprünglich als „Wesensentelechie“ (1951a, 259) bzw. als nicht-physikalische, auf ihr immanentes Ziel hingerichtete Kraft verstanden werden, die im metaphysischen Bereich auf eine materielle Substanzialisierung hindrängt. (1944, 75) Diese Substanzialisierung kann aber nur in Wechselwirkung mit einem Wesensstoff (materia prima) geschehen. Aus der sich auf metaphysischer Ebene vollziehenden Synthese von Wesensentelechie und Wesensstoff entstehen die Bildungsentelechien, die – wie die Wesensentelechie – auf Verwirklichung hindrängen und nicht physikalisch sind. Sie sind aber nicht metaphysischer Natur. Anders als die Wesensentelechie gehören sie zur Natur, können aber nicht empirisch erfahren werden. Deshalb verortet Conrad-Martius die Bildungsentelechien in einem transphysischen Bereich. (1951a, 275; 1949, 138) Die verschiedenen Bildungsentelechien sind dabei hierarchisch wohlgeordnet und teleologisch auf bestimmte Formen materieller Verwirklichung ausgerichtet. Durch die Verwirklichung einer Bildungsentelechie entsteht die Materie, wodurch sich der physische, empirisch untersuchbare Bereich der Manifestation der Entelechie bildet. Mit der Entstehung der Materie ist die Morphogenese der anorganischen Natur abgeschlossen. Wenn aber bereits die anorgani-
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sche Natur selbstschöpferisch ist, worin besteht dann der Unterschied zwischen belebter und unbelebter Natur? Conrad-Martius entwickelt ein Kriterium mit Hilfe des Gedankens, dass die lebendige Natur nicht nur wie die anorganische Natur auf meta- und transphysischer Ebene selbstschöpferisch ist, sondern auch auf der empirischen Ebene in Raum und Zeit. Dies zeigt sich darin, dass Lebendiges zur Fortpflanzung, zum Wachstum und Stoffwechsel fähig ist: „Nicht nur die Gestaltung, sondern die Selbstgestaltung macht das Leben aus“. (1934, 60 f.) Aufgrund dieser Fähigkeit zur kontinuierlichen, in Raum und Zeit erfahrbaren Selbstgestaltung nennt Conrad-Martius die entelechiale Kraft, die das Lebendige auszeichnet, Seele, die somit zum Lebensprinzip überhaupt wird. (1949a, 83– 85; 1932, 226 f.) Die Natur der unterschiedlichen Seelenformen bestimmt den dreistufigen Aufbau der Welt des Lebendigen: Die vegetative Seele verwirklicht sich in ihrer reinen Form in den Pflanzen, welche die niedrigste Stufe des Lebendigen darstellen; auf einer höheren Stufe befinden sich die Tiere, bei denen zur vegetativen Seele die Tierseele hinzukommt bzw. die Empfindungsfähigkeit und das Vermögen zur Eigenbewegung; auf der dritten und höchsten Stufe des Lebendigen befindet sich der Mensch, der eine Geistseele und damit die Vernunft als rationales Vermögen besitzt. (1944; 1949) Durch diese Morphologie der Materie, die ihren letzten Grund im Verhältnis von Wesensentelechie und Wesensstoff hat, glaubt Conrad-Martius die Entstehung der Materie in einem Bereich jenseits der empirischen Physik verorten zu müssen. Ihre Konzeption von Zeit und Raum entfaltet diesen der realen Welt vorausliegenden metaphysischen Bereich weiter, vollständig einsichtig gemacht werden kann er jedoch erst durch die Rückführung der Ontologie auf die Theologie. (→ 2.5)
2.4 Raum und Zeit als grundlegende Weltstrukturen Bereits die Definition von Raum und Zeit als „grundlegende Weltstrukturen“ (1955, 322) macht die Rolle dieser beiden Begriffe in Bezug auf die Welt deutlich. Conrad-Martius expliziert diese Verbindung mit folgenden Worten: „Die Zeit folgt als notwendige Dimension der Art und Weise des Existierenden der Welt. Der Raum folgt als notwendige Dimension der grundlegenden Konstitutionsweise dieser existierenden Weltbestände“. (1955, 322; 1928, 101 f.) Zeit und Raum sind daher nur mit der realen Welt gegeben, beide ‚folgen‘ dem Existieren von Welt und Weltbeständen nach und sind nicht ursprünglicher als die Welt. In diesem Sinne ist die physische Welt Bedingung der Möglichkeit von Raum und Zeit, insofern ‚unsere‘ Welt nur als raumzeitliche Dimension real ist. Diese These lässt sich jedoch nur vertreten, solange Raum und Zeit als physische, extensive Größeneinheiten verstanden werden. Conrad-Martius behauptet jedoch in Anlehnung an die zeitgenössischen Entdeckungen der Quanten- und der Relativitätstheorie, welche die absolute Gültigkeit der Dimensionen von Raum und
66 2. Hedwig Conrad-Martius – Phänomenologie und Realismus Zeit fraglich werden ließen, die Existenz einer Überzeit und eines Überraumes. (1952, 318 f.) Diese sind gewissermaßen Bedingung der Möglichkeit der physischen Welt und daher auch der physikalisch messbaren Zeit und des physikalisch messbaren Raums. Durch die Klärung des Verhältnisses dieser beiden Dimensionen von Zeit und Raum erschließt sich im Folgenden die Rolle, die Raum und Zeit im Denken Conrad-Martius’ für die Konstitution der Welt und für ihre Metaphysik einnehmen. Conrad-Martius verfasst 1958 eine Monographie zum Thema ‚Raum‘, zahlreiche frühere kleine Werke zeigen aber, dass die Frage nach dem Raum von Anfang an jene nach dem Sein und seiner Realität begleitet hat. Grundlegend für ihre Raumauffassung ist die Verbindung des Raums mit der Materie bzw. mit dem Selbstentstehungsprozess der materiellen Welt, da Conrad-Martius die Materie als substanzielle Fülle im Raum versteht. (1923, 246 f.) Sie unterscheidet weiter zwei Dimensionen des Raums, die zu zwei unterschiedlichen Seinsarten gehören: zur physischen und zur transphysischen. Der physische Raum wird von Conrad-Martius „metrischer Raum“ (1955, 334) genannt und „als die in bleibender Aktualität aus sich heraus erstreckte Grunddimension der Welt“ (1955, 334) definiert. Denn dieser Raum ist „gar nichts seinshaft für sich Setzbares. Er folgt nur dem ‚räumlich Seienden‘ als dessen Dimension“. (1955, 339) Der metrische Raum entsteht also nur infolge des Selbstsetzungsprozesses der Materie: „[I]ndem Materie wird oder ist, wird oder ist auch der Raum als ihre – formale – Dimension“. (1955, 336; 1923, 214–219) „Der gegebene Raum ist zunächst dasjenige, in dem jedes ‚räumliche‘ Seiende seine bestimmte Ortsstelle und abmeßbare Ausdehnung hat und der selber von ‚punktueller‘ Ortstelle zu ‚punktueller‘ Ortsstelle abmeßbar ist. Ausdehnung und Meßbarkeit setzen fixierbare Grenzen voraus, deren Abstand gemessen wird“. (1955, 330) Ortsstellen und messbare Ausdehnung fordern jedoch, dass der Raum von der Materie getrennt werden kann, denn sonst könnten Dinge ihre Position im Raum nicht wechseln. Der Raum, oder besser: die Räumlichkeit, die übrig bleibt, nachdem die Materie vom Raum abgezogen wird, wird von Conrad-Martius als chaotisches Aperion oder Un-Raum bezeichnet. (1955, 331) Dieser apeirische Raum lässt sich dabei nur im Gegensatz zum metrischen Raum als maß- und grenzlos definieren, (1955, 330–343) obwohl er durch natürliche Tendenzen innerhalb des Prozesses der materiellen Setzung in einem gewissen Sinne bereits vorstrukturiert ist. (1958b, 70–85; 221–227) Conrad-Martius sieht diesen Raum vor allem als Ermöglichungsgrund des physischen, metrischen Raums, insofern der metrische Raum den apeirischen, maßlosen Raum erscheinen lässt. (1955, 338) Der Raum an sich wird somit von Conrad-Marius als Prozess gedacht, wodurch eine raumhaft maßlose Verborgenheit in Erscheinung tritt und in einen metrischen Raum übergeht. Der Raum an sich kann jedoch keinen Prozess in Gang setzen: „Eine ‚Räumlichkeit‘ kann ja als solche nicht ‚wirken‘“. (1955, 334) Um den Entbergungsprozess, der vom maßlosen Apeiron zum metrischen Raum führt,
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zu klären, verweist die Philosophin auf eine apeirische „‚Stofflichkeit‘, die die Kraft in sich birgt (besser noch, […] die ‚Kraft‘ darstellt), die Materie (und damit auch den Raum) erst zu dem zu machen, was sie ist: dem aus sich Herausgesetzten, zur Manifestation und Erscheinung Gelangenden schlechthin“. (1955, 343) Diese apeirische Stofflichkeit, die selbst Kraft ist, ist die Entelechie. (→ 2.3) Ihre Konzeption der Zeit erarbeitet Conrad-Martius in Anlehnung an Aristoteles, die Quantenphysik und in kritischer Auseinandersetzung mit Heidegger. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Zeitlichkeit nicht nur das Dasein (also das seiende Ich) auszeichnet – wie Heidegger in Sein und Zeit behauptet –, sondern dass das Seiende im Ganzen durch Zeitlichkeit ausgezeichnet ist, (1931b, 89–100) übernimmt Conrad-Martius von Aristoteles die Definition, dass „die Zeit […] die Zahl der Bewegung nach ihrem Früher und Später [ist]“ (Phys. 21b; 1952, 307), und deutet sie metaphysisch um. Diese Bewegung bezeichnet bei Conrad-Martius eine Seinsbewegung, „in der das gesamte Dasein der Welt von einer Seins-, Aktualitäts-, Anwesenheitsstelle zur anderen rückt“. (1952, 314) Doch anders als bei Aristoteles ist diese Seinsbewegung nicht mit dem Naturprozess identisch: [Das Werden des Seins] vollzieht sich nicht auf der Oberfläche der raumzeitlichen Wirklichkeit. Dieses ‚Werden‘ […] ist ein ontisches Werden. Es ist ein Seinsprozeß. Der Seinsprozeß kommt aus realen Ermöglichungsgründen, die der Natur vorausliegen und sie, wenn man so will, metaphysisch begründen. Ich sage lieber: sie ‚transphysisch‘ begründen, genauer ‚über-‘ und ‚unterphysisch‘. (1952, 317)
Zeitlichkeit bezeichnet somit primär das Wesen des Prozesses der Selbstsetzung des Seins, wodurch erst die physische Natur und somit die empirische, messbare Zeit entstehen kann. Auch in Bezug auf die Zeit behauptet Conrad-Martius somit die Existenz von zwei Dimensionen: eine physische, messbare und eine transphysische, welche die Bedingung der Möglichkeit der physischen Zeit ist. Wie auch der Überraum wird diese Überzeit ‚apeirisch‘ genannt und aufgrund der natürlichen Bewegung der Materie als vorstrukturiert dargestellt. (1958b, 217–227) Conrad-Martius spricht jedoch auch von einer dritten Zeitform, die sie „äonische Zeit“ (1954a, 95) nennt und in Anlehnung an die aristotelische Zeitauffassung als „eine mächtigere Zeit“ beschreibt, „die sowohl das Sein alles Vergänglichen wie auch die messende Zeit selber überragt“. (1954a, 192) Diese Zeit ist die Zeit des „‚immer Seienden‘“, (1954a, 192) „die kategorial mit dem Raum unabtrennbar verbunden ist – als Raumzeit, um die äußere kosmische Peripherie zu bilden, in der die entelechialen Grundlagen der Welt liegen“. (1958, 217) Die äonische Zeit stellt somit im Denken Conrad-Martius’ jene Dimension dar, die als Bedingung ihrer Möglichkeit die Verwirklichung der realen Welt überhaupt gewissermaßen trägt. (1954a, 257)
68 2. Hedwig Conrad-Martius – Phänomenologie und Realismus
2.5 Von der Ontologie zur Metaphysik als Theologie Der bisher gegebene Überblick über die Grundannahmen von Conrad-Martius’ Denken und ihre Metaphysik von Raum und Zeit ermöglicht in einem abschließenden Schritt die Konzeption von Metaphysik nachzuzeichnen, die sich im Denken Conrad-Martius’ ergibt. Denn ihren Analysen von Welt, Materie, organischen und anorganischen Substanzen, Raum und Zeit ist eine spezifische Struktur gemein: Ausgehend von einer physischen Gegebenheit führen sie zu einer Dimension, die diese Gegebenheit transzendiert und ermöglicht. Es wird im Folgenden gezeigt, dass Conrad-Martius diesen Übergang als den Übergang – oder besser den Sprung – von der Ontologie zur Metaphysik und damit als einen Wechsel in der Theorieform versteht. Conrad-Martius versteht Ontologie als „Wesenswissenschaft“, welche die „Welt gewissermaßen auf ihr Sein hin an[sieht]“. (1932a, 80) Das ontologische Ziel, das Conrad-Martius in ihrer Realontologie verfolgt, besteht in einer „positiven ontologischen Wesensanalyse des realen Seins (der Existenz, der Wirklichkeit)“. (1932a, 81) Die Ontologie beschreibt mithin das Sein, wie es sich in seiner Vielfältigkeit in der Welt zeigt. Daher fällt die Ontologie mit der Phänomenologie zusammen, weswegen Conrad-Martius ihr Denken eben als ‚ontologische Phänomenologie‘ bezeichnet. Ontologie ist zudem Wissenschaft der physischen Welt – man könnte auch sagen: Wissenschaft des Physischen. Als solche stellt die Ontologie die Basis für die Metaphysik dar, die Conrad-Martius wortwörtlich als Meta-Physik – über die Physik hinaus – verstanden wissen möchte, „denn zur Idee der Metaphysik gehört wesentlich die Relativität des meta, gehört als wesentlich der völlige Bruch zwischen der sich irgendwo selbst abschließenden Erfahrungserkenntnis […] und einer darüber hinausliegenden absoluten Erkenntnis“. (1932a, 52) Während es in der Ontologie um die Beschreibung der Vielfältigkeit des Seienden geht, fragt die Metaphysik – jedoch auf Basis der durch die Ontologie erschlossenen Seinstypen und -stufen – nach der Begründung des Daseins: „Daß überhaupt etwas ist, daß das ist, was ist, daß es so ist (existiert!), wie es ist – das sind die metaphysischen Urfragen“. (1932a, 83; 1931b, 39 f.) Entscheidend für das Verhältnis von Ontologie und Metaphysik ist dabei das Fehlen jeglichen Übergangs zwischen beiden. In kritischer Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann zeigt Conrad-Martius, dass Ontologie und Metaphysik weder zusammenfallen noch rationale Übergänge zulassen. Ihre Verbindung lässt sich nur als ein irrationaler Sprung von der physischen zur meta-physischen Dimension verdeutlichen. Doch die Ontologie bleibt zugleich Voraussetzung der Metaphysik, weil die ontologische Seinsforschung eine Grenzsituation erkennen lässt, die mit der Faktizität des endlichen Seins mitgegeben ist. Denn als endliches hat das reale Sein seinen Grund nicht in sich und verlangt somit nach einem äußeren Existenzgrund. (1932a, 83–88) In diesem Sinne sagt die
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Philosophin, „daß die metaphysische Problematik angesichts der Tatsache des endlichen Seins aufbricht“, (1932a, 87) und definiert Faktizität als „metaphysische Pforte“. (1931c, 48) Gegenstand der Metaphysik ist daher nicht das endliche, sondern das unendliche, absolute Sein bzw. das Sein, das seinen Existenzgrund in sich selbst hat und das endliche Sein begründet: „Echte Metaphysik hat ihren Sinn darin, daß sie die ‚Wege‘ und die ‚Zugänge‘ aufweist, auf welchen und durch welche wir uns erkenntnismäßig (wenn auch nicht mehr in streng rationalem Sinne) von der Faktizität des ‚absoluten Seins‘ überzeugen können“. (1932a, 83) Entsprechend bezeichnet Conrad-Martius die Metaphysik als eine Faktizitätswissenschaft eines Absoluten. (1932a, 49–59; 82 f.) In der Idee, dass Metaphysik eine Wissenschaft des Absoluten ist, verbinden sich Theologie und Metaphysik und fallen zusammen. Denn das Absolute, Unbedingte, Begründende und selbst nicht mehr Begründbare, zu dem die Metaphysik „Wege“ und „Zugänge“ sucht, ist nach Conrad-Martius Gott. Gott ist das einzige Seiende, das nicht im Nichts (wie das endliche Sein), sondern in sich selbst steht und als solches das Problem der Entstehung des Seins aus dem Nichts gar nicht aufwirft. (1931b) Conrad-Martius führt so die Existenz der Welt auf Gott zurück; auf einen Gott, der nach Conrad-Martius mit dem Gott der christlichen Religion zusammenfällt. Die Rückführung des Entstehungsgrundes des Seins der Welt auf Gott und die daraus entstehende Identität von Metaphysik und Theologie sind die biblischen Ecksteine der Philosophin, die ihren radikalen Realismus begründen. Denn als Phänomenologin, die Wesensschau betreibt, kann Conrad-Martius die Realität der Welt nur als hypothetische setzen. Durch die Phänomenologie allein kann diese Realität nicht bewiesen werden. Entsprechend ihrem religiösen Glauben ist die Welt für sie eine von Gott geschaffene Welt, die auf „heiligem Boden“ steht und daher „wahrhaft real“ ist. (1949b, 27) Die Realität der Welt und die Realität der unterschiedlichen Substanzen, aus denen die Welt besteht, sowie ihr stufenförmiger Aufbau sind deshalb durch Gott verbürgt, insofern er sich durch unterschiedliche materielle und immaterielle und doch reelle Arten und Weisen offenbart. Aufgrund der Begründung der Realität der Welt in Gott kann Conrad-Martius außerdem ihr erkenntnistheoretisches Anliegen einholen. Denn die Rückführung des Seins der Welt auf das Sein Gottes begründet auch die Möglichkeit, dass der Mensch die Welt wahrhaft erkennen kann. Denn Mensch und Welt als Geschöpfe Gottes gehören zum selben Offenbarungsprozess: Insofern Welt und Mensch zueinander hin geschaffen sind (so wie Welt und Mensch zu Gott hin), offenbart sich die Welt mitsamt ihren idealen Wesensgliederungen dem Menschen durch ihre sinnliche Erscheinung und kann der Mensch entsprechend durch seine Sinne und seinen Verstand diese sich offenbare Welt wahrnehmen und erkennen. (1949b, 27)
70 2. Hedwig Conrad-Martius – Phänomenologie und Realismus Die Entsprechung zwischen sich zeigenden Dingen und menschlichem Erkenntnisvermögen, die durch Gott verbürgt ist, ermöglicht daher Conrad-Martius zufolge die wahrheitsgemäße Erkenntnis von Dingen und Welt. Unter dieser Bedingung weist sie auch die Phänomenologie als einzig adäquate philosophische Forschungsmethode aus. Hedwig Conrad‑Martius Geboren in Berlin 1888, gestorben 1966 in Starnberg. Studium der Literatur und Geschichte in Rostock und Freiburg im Breisgau. 1909/10 Studium der Philosophie in München bei Moritz Geiger, anschließend in Göttingen. Dort wird sie in den Schulkreis Husserls aufgenommen. Leitung der ‚München-GöttingerPhänomenologenschule‘. 1912 Promotion bei Alexander Pfänder und Ehe mit Theodor Conrad. In den 1920er Jahren gründet sie mit ihrem Mann den ‚Bergzaberner Kreis‘. 1937 Umzug nach München. 1949 wird sie Dozentin für Naturphilosophie und 1955 Honorarprofessorin in München. In dieser Zeit verfasst sie viele Monographien und macht durch Rundfunkvorträge und Zeitschriftenartikel auf sich aufmerksam. 1966 stirbt Conrad-Martius in Starnberg, wo sie die letzten Jahre ihres Lebens verbrachte.
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3. Edith Stein – Phänomenologische Metaphysik als Aufstieg zum Sinn des Seins Mette Lebech
Deutet man das Lebenswerk Edith Steins als ein Ganzes, lässt sich auch von ihrer metaphysischen Position sprechen. Denn obwohl das Gesamtwerk sich so entfaltet, dass man auch von einer Entwicklung von der Phänomenologie zur Metaphysik sprechen könnte, findet man darin keine einander ausschließenden Positionen. Es handelt sich vielmehr um eine ‚Ausfüllung‘ im phänomenologischen Sinn: Die frühen phänomenologischen Abhandlungen führen zu den späteren metaphysischen Stellungnahmen, und die spätere Metaphysik begründet die phänomenologischen Analysen des Frühwerks, in dem Sinne, dass die Metaphysik für sie Kontext und Hintergrund ist, und die Metaphysik umgekehrt auf den Ergebnissen der Phänomenologie beruht. Erst die Metaphysik bringt die phänomenologischen Ergebnisse in ihrer konkreten Fülle und ihrem Gesamtsinn zur Darstellung. Dieses Verhältnis ergibt sich, weil einerseits ihre phänomenologischen Analysen bereits auf eine formale und materiale Ontologie ausgerichtet sind, und andererseits, weil die Metaphysik mit Konstitutionsfragen rechnet, sie aber offenlässt. Am Anfang wie am Ende ihrer philosophischen Tätigkeit sieht Stein Phänomenologie und Metaphysik daher als einander ergänzende philosophische Vorgehensweisen: Die Phänomenologie betrachtet sie als voraussetzungslos und folglich nicht auf einer Metaphysik beruhend, wohingegen sie Metaphysik als eine begründete Auffassung vom Ganzen versteht, welche die phänomenologische Vorgehensweise zwar benutzen kann, muss und soll, letztlich aber nur durch den Glauben vollendet werden kann. Stein akzeptiert also die husserlsche Unterscheidung von Ontologie (auf apriorische Einsicht gegründet) und Metaphysik (die empirische Erfahrung einbeziehend), so dass, für sie auch in diesem Fall wie für Husserl, das Apriori und das Wesen für ihr Verständnis von Ontologie von entscheidender Bedeutung sind. So schreibt sie zum Beispiel 1920 in Einführung in die Philosophie: „unsere ganze Methode ist nichts anderes als das Erwägen idealer Möglichkeiten, das Aufsuchen einsichtige[r] Notwendigkeits- und Möglichkeitszusammenhänge“. (ESGA 8, 74) Weil Sein aber nicht nur Gegenstand der formalen Ontologie, sondern auch der materiellen Ontologie ist, und weil das Sein als Ganzes nur von Gott aus (eigentlich in Ihm) zu fassen ist, lässt die Metaphysik auch den Glauben zu, um durch ihn vermittelt, obwohl dunkel, das ganze Sein in den Blick zu bekommen.
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Metaphysik ist deshalb für Stein, explizit oder implizit, gläubige Philosophie; sie beantwortet die Fragen, die für eine phänomenologische Untersuchung offenbleiben müssen. Wir können nicht auf Erlebnisse zurückgreifen, um die Fragen zu beantworten, ob Sein unabhängig von Bewusstsein ist, (ESGA 8, 76) ob reiner Geist existiert, (1917, Kap. IV, § 9) oder wovon und wozu der Mensch ist (ESGA 14, 159–162). Steins phänomenologische Beschreibung der Gnade erklärt, warum der christliche Glaube die auf diese Fragen passende Antwort ist: Gnade wird nicht rein passiv erlebt, sondern vielmehr erlebt die Person ein ‚Befreitsein‘ in geistiger Fülle, weil sie sich dieses Erleben selbst zugesteht und aneignet. Damit geht die Einsicht in den gefallenen Zustand der Natur und die Notwendigkeit des Erlösers als jener Instanz einher, die das Reich der Höhe, die Sphäre Gottes, wiedereröffnet – trotz des Widerstands, den die gefallene Natur bietet. (ESGA 9, 10–12) Steins Metaphysik ist daher auf eine Art und Weise christlich, die selbst für einen Nichtgläubigen nachvollziehbar sein dürfte. (ESGA 9, 11–12; 20–36) Im Folgenden werden wir Edith Steins Gesamtwerk betrachten und auch Werke einbeziehen, die nicht während Steins Lebzeiten zur Veröffentlichung bestimmt waren, bspw. Einführung in die Philosophie und Potenz und Akt, da diese Werke wichtig sind für Steins Verständnis des Verhältnisses zwischen Phänomenologie und Metaphysik. Betrachtungen in Bezug auf Welt, Realismus bzw. Idealismus, Objektivität, Ontologie und Modalitäten werden behandelt, um dieses Verhältnis zu beleuchten. Das Erleben von Welt bietet einen Anlass, sich mit diesem zu beschäftigen, sofern es in der Welt für jeden um den Sinn des Seins geht.
3.1 Welt und Weltanschauung Die Einheit der Philosophie, d. h. von allen philosophischen Disziplinen, ergibt sich für Stein aus ihrem gemeinsamen „Ziel, die Welt zu verstehen“. (ESGA 8, 14) Deshalb dienen sie „letzten Endes dem Zweck, eine Weltanschauung im ursprünglichen Sinne des Wortes möglich zu machen“, (ESGA 8, 15) d. h. die Welt in ihrem Wesen zur Anschauung zu bringen. Unter „Weltanschauung“ kann man deshalb „ein geschlossenes [fertiges] Weltbild verstehen: einen Überblick über alles, was ist, die Ordnungen und Zusammenhänge, worin alles steht, vor allem über die Stellung des Menschen in der Welt, sein Woher? und Wohin?“. (ESGA 9, 143) Dass das Verständnis der Welt als eines Ganzes die Aufgabe der Philosophie ist, heißt auch, dass die Philosophie wesentlich nach ihrer Verwirklichung in der Metaphysik strebt, und dass sie sich für die „jenseitige Überwelt […] die […] überhaupt erst aller wirklichen Welt Sinnfülle verleiht“ (ESGA 11– 12, 100; Raschke 2017, 399) öffnen muss. Eine ‚fertige‘ Weltanschauung kommt nur zustande, wenn ein außerweltlicher Standort aufgesucht wird, von welchem aus die Welt als ganze überschaut und deshalb angeschaut werden kann. Es ist
74 3. Edith Stein – Phänomenologische Metaphysik als Aufstieg zum Sinn des Seins die Gnade, die derart von der Welt befreit (ESGA 9, 11) und die Seele in das Reich Gottes aufnimmt, so dass sie darin Fuß fasst und von jenseits der Welt, in der Sphäre des Geistes Gottes, in die Welt hineinblicken kann. Die Welt wird dann im Licht ihres Sinnes, im Lichte des Logos betrachtet, (ESGA 11–12, 100) denn der Logos, obwohl in die Welt gekommen, ist nicht von der Welt. Die Welt ist also nicht alles, was ist, denn auch Gott existiert, und das nicht nur als Sinn der Welt. Was sich als Sinn der Welt zeigt, ist vielmehr allein der Sinn von Sein. Eine Weltanschauung ist dabei nicht immer ein geschlossenes oder vollendetes Weltbild, wie das des katholischen Glaubens: „jeder [Mensch] hat eine bestimmte Art, die Welt anzuschauen“. (ESGA 9, 145; 143) Das Unvollendetsein einer solchen Weltauffassung lässt zu, dass verschiedene Weltanschauungen in verschiedenen Weisen auf unsere eigene (und auf eine fremde) Weltanschauung Einfluss ausüben und dadurch einen ‚Zeitgeist‘ prägen. Die prinzipiell eine Welt unserer Weltanschauung muss außerdem von verschiedenen Welten im Plural unterschieden werden: von einer natürlichen, einer psychischen, einer geistigen, einer wirklichen, einer äußeren, einer inneren Welt (die alle transzendente sind), von einer Welt der Phänomene (die immanent ist), und von einer Überwelt (die, als Sinn, immanent und transzendent ist, ESGA 9, 145). Alle diese ‚Welten‘ sind verschiedene, einander überschneidende Teilbereiche der einen Welt, sie werden aber ‚Welten‘ genannt, weil sie, wenn auch aus einem besonderen Blickwinkel, das Ganze erfassen. Geistige Sphären oder Reiche (Reich Gottes, Reich des Bösen) sind dagegen nicht Welten in diesem Sinne; sie sind nicht geschaffen, sondern „ström[en] von einer Person (evtl. von einer Mehrheit von Personen) aus und ha[ben] notwendig darin ihr Zentrum“. (ESGA 9, 18) Solche Reiche bilden sich nicht außerhalb der Welt, vielmehr beherrschen sie sie zunehmend, da andere Personen, die sich dem Herren einer Sphäre verschreiben, in diese Sphären aufgenommen werden: „‚Sich einem Geist verschreiben‘ […] heißt, sich in eine geistige Sphäre hineingeben und davon erfüllen lassen. Und es heißt damit zugleich, sich der Person, die das Zentrum dieser Sphäre ist, [zu] unterwerfen“. (ESGA 9, 18) Weil diese Reiche die Wertehierarchie der Personen, die über sie herrschen, widerspiegeln, wird für jemanden, der in sie hineingezogen wird, die geistige Sphäre zu jenem Sinn, demgemäß die Welt aufgefasst wird. Die Konstitution der Welt ist durch diesen Sinn motiviert, und so übt die geistige Sphäre nicht nur Einfluss auf die Weltauffassung der Einzelnen aus, sondern prägt auch jene der intersubjektiven Gemeinschaft. Das reine Ich ist dabei ebensowenig wie die Person auf ein geistiges Reich notwendig festgelegt; die „Sphäre“ der Freiheit allein verleiht der Person keine geistige Fülle, sie ist keine echte „Sphäre“. (ESGA 9, 13) Das Ich bzw. die Person ist nicht ein Stück der realen Welt wie das psychische Individuum, sondern steht der Welt gegenüber. Entsprechend ist das „reduzierte“ Erlebnis, das die Phänomenologie
Mette Lebech 75 beschreibt, keine Zuständlichkeit eines realen Individuums, sie steht nicht unter realen Bedingungen, wie sie notwendig zu jeder psychischen Zuständlichkeit gehören: diese Bedingungen fallen mit der [phänomenologischen] Ausschaltung der Welt fort. […] Die Phänomenologie ist Wissenschaft vom reinen Bewusstsein, das nicht Glied, sondern Korrelat der Welt ist und das Gebiet, auf dem in reiner und getreuer Beschreibung absolute Erkenntnisse zu gewinnen sind. (ESGA 9, 21)
Obwohl damit die Beschreibung der Welt als das Ziel aller philosophischen Disziplinen gesetzt ist, ist das, was die Phänomenologie beschreibt, nicht die Welt, sondern (nur) das (phänomenologisch) reduzierte Erlebnis der Welt. Dieses Erleben ist zwar von dem geistigen Reich, dem sich die erlebende Person verschrieben hat, tief geprägt; es ist aber auch jenen nicht völlig unzugänglich, die dieser Sphäre nicht angehören, und gehört deshalb zur intersubjektiven Konstitution der gemeinsamen Welt. Verschiedene Wertehierarchien drücken vielmehr verschiedene Ansichten der einen Wertewelt aus und tragen deshalb für den Einzelnen zu seinem Verständnis dieser Wertewelt bei. Solange unser Welterleben kein Erlebnis von etwas vollständig Verständlichem ist, und wir folglich kein völlig geschlossenes, fertiges Weltbild haben, sind wir auf die phänomenologische Sichtweise und Methode angewiesen, um die Erfahrung und Auffassung der Welt zu beschreiben und zu klären – sowohl für uns als auch für andere. Obwohl der Gläubige das fertige Weltbild seines Glaubens im Glauben annimmt, kann er doch darauf abzielen, dieses Weltbild für sich selbst und für andere phänomenologisch zu beschreiben, die Annahme dieses Weltbilds und dessen Integrität phänomenologisch überprüfen und begründen.
3.2 Realismus und Idealismus Steins erste Formulierung des metaphysischen Problems ist in Einführung im Kontext der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Rechtsgrund der Erkenntnis zu finden, und zwar als die Frage, „ob die Gegenstände unsere[r] Erfahrung eine von alle[m] Bewusstsein unabhängige Existenz haben […] anders gewendet: ob wir eine Erkenntnis von ‚Dingen an sich‘ haben oder ob ihr Dasein und ihre Struktur durch das Dasein und die Struktur eines Bewusstseins bedingt ist“. (ESGA 8, 69) Dieses metaphysische Problem wird später durch eine Differenzierung in endliches (menschliches) und ewiges (göttliches) Bewusstsein insofern gelöst, als die Dinge zwar unabhängig vom menschlichen Bewusstsein sind, aber nicht von dem Gottes, und deshalb nicht von allem Bewusstsein. Was das menschliche Bewusstsein, metaphysisch gesehen, von den Dingen weiß, erkennt es durch die Wesenheiten, (ESGA 11–12, 64) die nur insofern als ‚Dinge an sich‘ in Kants Sinne bezeichnet werden können, als damit gemeint ist, dass es sie gibt, und dass das Subjekt von diesen ‚affiziert‘ wird. Die so verstandenen ‚Dinge an sich‘ haben mit den Wesenheiten (unter anderem) gemein, dass
76 3. Edith Stein – Phänomenologische Metaphysik als Aufstieg zum Sinn des Seins wir von ihnen keine begriffliche Erkenntnis haben, obwohl wir mittels ihrer die Dinge (im engeren Sinn) erkennen. Die Erkenntnis von Gegenständen ist zudem von der Existenz und von der Struktur des menschlichen Bewusstseins abhängig, weil Dinge nur von einer geistigen Person erkannt werden können. Obwohl z. B. Tiere von Dingen eine sinnliche Erfahrung haben, erkennen andere Seiende keine Gegenstände. In einem tieferen Sinn sind Entitäten ferner vom göttlichen Bewusstsein abhängig, da dieses Bewusstsein schöpferisch ist. Solche und andere offenbar metaphysische Erwägungen lösen Probleme, die von einem phänomenologischen Standpunkt keine Berücksichtigung finden können, wenn darunter nur die Beschreibung des Erlebens verstanden wird. Zur „Idealismusfrage“ findet sich im Frühwerk noch keine Stellungnahme, obwohl diese dort als „lösbares Problem“ charakterisiert ist und als solches für eine spätere Bearbeitung bewusst aufgeschoben wird. (ESGA 8, 71; 76) Was zur Lösung beitragen soll, ist eine genauere Analyse zweier Bereiche: der Empfindungsdaten, die den Sinnen gegeben sind, und der Fremderfahrung, die nur ein schweigender Solipsist konsistent als bewusstseinsabhängig ansehen könnte. In der Erfahrung des Anderen liegt für Stein dagegen „eine Erfahrung vor, die sich selbst transzendiert“, (ESGA 8, 79) die wiederum die Grundlage der Intersubjektivität ist. Die intersubjektive Welt wird daher schon als relativ unabhängig von individuellen Subjekten erlebt und gewinnt so eine erste Objektivität. Im Ergebnis bleibt daher fraglich, ob Steins Lösung im Spätwerk eher dem Realismus oder dem Idealismus zuzurechnen ist. Ihre Differenzierung von Sein in wirkliches und wesenhaftes macht es unmöglich, die Wesenheiten, die als wesenhaftes Sein bezeichnet werden, auch als wirkliche schlechthin anzusehen. Stein ist eher geneigt, „sie als un-wirkliche denn als ur-wirkliche Gegenstände zu bezeichnen“. (ESGA 11–12, 92) Umgekehrt schließt ihr Verständnis des wirklichen Seins als Realisierung von wesenhaftem Sein aus, dass man das Wirkliche als Begründung des Wesenhaften ansieht. Beide sind vielmehr jeweils eine Form des Seins unter anderen, deren Verhältnis sich nur in Bezug auf Gott klären lässt. In Ihm, dessen Wesen Sein ist, sind sie eins; im Geschöpflichen fallen sie auseinander und bilden folglich die analogia entis. Stein kritisiert mit dieser Konzeption zwei Positionen: einerseits Platon, der Ideen als wirklich ansieht, und andererseits Aristoteles, der das Sein der Wesenheiten leugnet. Beide begreifen Stein zufolge deshalb das Wesen und besonders das individuelle Wesen nicht adäquat. Beide erfassen die konkrete Welt unzureichend, weil sie diese nicht als von Gott im Logos geschaffen begreifen. Zusammenfassend können wir deshalb sagen, dass Stein weder einen Realismus noch einen Idealismus vertritt, ihre metaphysische Position vielmehr zugleich eine christliche und transzendentalphänomenologische ist. Diese Position ist insofern von ihrem Weltbegriff geprägt, als sie die Welt im Ganzen von einem Ort der befreiten Freiheit aus zu überschauen sucht, einer Freiheit, die eine Freiheit von der Welt ist.
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3.3 Objektivität und Wissenschaft Objektivität bedeutet für Stein allgemein ‚Objektmäßigkeit‘, und für die Phänomenologen, die Bewusstsein als intentionales Erleben auffassen, bedeutet sie die volle Konstitution des Gegenstands in den dazugehörenden Akten. (Hua XIX /2, 377–440) Entsprechend gründet Objektivität im Gegenstand, besonders im realen Ding, und im Sachverhalt; sie entfaltet sich in der Sacherfahrung des Subjekts und in der Wissenschaft, in der diese Sachorientierung der Erkenntnis von einer Gemeinschaft systematisch praktiziert wird. Zunächst muss daher geklärt werden, wie Stein Gegenstand und Ding versteht, um danach die sachgemäße Haltung und Tätigkeit zu untersuchen: Von dem was ist, sagen wir, was es ist und dass es ist. Wir nennen es den ‚Gegenstand‘ und brauchen dieses Wort in einem weiteren und in einem engeren Sinn. Im weiteren Sinn bedeutet es Etwas überhaupt, d. h. alles, was erkannt und wovon etwas ausgesagt werden kann, d. i. Seiendes überhaupt, gleichgültig ob es wirklich oder nicht wirklich, selbständig oder nicht selbständig ist. […] Im engsten Sinne ist Gegenstand das, was für sich steht, was ein Selbständiges und Eigenständiges ist. (ESGA 11–12, 182)
Selbständig oder eigenständig in diesem Sinne ist ein Ding oder Einzelding, das diesen Sinn hat, weil es Grundlage (ὑποκείμενον) und Träger (ὑπόστασις) ist, der mit und durch seine Wesensform sein volles Sein (Formen, Stoff, Eigenschaften) annimmt. (ESGA 11–12, 184; 189) Das Trägersein macht das Ding Lebewesen und Personen ähnlich und rückt es zugleich in die Nähe desjenigen, was Aristoteles mit seinen Begriff von οὐσία zu fassen versuchte. Als von sich selbst getragen ist das Ding wirklich, und Grundform des wirklichen Seins. Zusammen mit seinem Wesen und seiner Kraft ist der Träger des Dinges zudem Abbild des dreieinigen Gottes. (ESGA 11–12, 357) Die Dingkonstitution in der Erfahrung baut sich jedoch aus Empfindungsdaten auf: Sollen Objekte zur Gegebenheit kommen, so muss das Empfindungsmaterial eine Auffassung erfahren; ein waches Ich, das nicht bloß passiv dem ‚Gewühl der Empfindungen‘ hingegeben ist, muss es als Bekundung eines sich in ihm darstellenden Seins nehmen und seinen Blick auf eben dieses Sein richten. […] In der Auffassung der realen Welt ist das Subjekt [aber] nicht frei. Es ist einmal eine bestimmte Struktur des sinnlichen Materials erforderlich, damit sich auf seinem Grunde ein intentionales Erlebnis, eine Gegenstandsauffassung aufbauen könne. Andererseits stellt sich – wenn ein so und so gearteter Verlauf sinnlicher Daten auftritt – die Gegenstandsauffassung ein, ohne dass das Subjekt die Freiheit hätte, sie zu unterlassen. Eine feste Gesetzlichkeit beherrscht die Konstitution der Gegenständlichkeiten, d. h. ihren Aufbau für das Bewusstsein. (ESGA 8, 67)
Im Fließen des Bewusstseins bauen sich also Erlebniseinheiten auf, „und je nach dem Gehalt der kontinuierlich ineinander übergreifenden Erlebnisphasen entscheidet es sich, welche von ihnen sich zur Einheit eines dauernden Erlebnisses beitragen“. (ESGA 8, 68)
78 3. Edith Stein – Phänomenologische Metaphysik als Aufstieg zum Sinn des Seins Auf dieser untersten Stufe handelt es sich also um ein Geschehen, in welchem sich Empfindungen zu Erlebniseinheiten im Wettlauf mit anderen Erlebniseinheiten (z. B. Gefühle) aufbauen. Wenn die Empfindungsdaten eine bestimmte Struktur und Abfolge zeigen, so bilden sie das Fundament einer Gegenstandsauffassung. „Diese besteht darin, dass die sinnlichen Daten eine bestimmte Deutung erfahren […], die vor allen logischen Operationen liegt“ und bei denen eine „einfache Auffassung von Qualitäten […] in ein gegenständliches Schema eingetragen erscheinen. Ein solches Schema ist das, was wir als ‚materielles Ding‘ bezeichnet haben.“ Die Deutung vollzieht sich also in einem kategorialen Akt und das Schema, nach welchem sie geschieht, ist eine Leerform, die ein Objekt der formalen Ontologie bildet. Die Dingkonstitution läuft also, wie jede Konstitution, sozusagen ‚automatisch‘ ab. Zur Erkenntnis von Dingen, welche die Grundlage bildet, „auf der wir zum Seienden Stellung nehmen und in der Welt wirken“, gehört im Gegensatz dazu auch die Bedeutung der Dinge, die sich in unserem Inneren „in einem lebendigen Werterfassen“ spürbar macht. (ESGA 11– 12, 335) Als Sinn motiviert die Leerform, die unaufhebbar zum Aufbau des Dinges gehört, Denkprozesse. In einer „ontologischen Betrachtung“ lässt sich das wesensnotwendige Schema „herausfinden, in dem wir das Wesen des Erfahrungsgegenstandes erforschen“. (ESGA 8, 68 f.) Stein scheint jedoch nicht die kategoriale Deutung der Erfahrung selbst als motiviert zu betrachten. Die Konstitutionsfunktion des Ichs ist in die motivierte Person aufgenommen, löst sich aber darin nicht auf. So finden wir die Konstitutionsfunktion des Ichs auch in Tieren (offenbar in höheren Tieren), obwohl wir in ihnen keiner freien Person begegnen. Für jedes Ich, sowohl für jenes der Tiere als auch für jenes der Menschen, bauen sich Empfindungen zu Erlebniseinheiten auf. Diese stehen jedoch in Konkurrenz mit Gefühlsempfindungen, und Letztere können die Empfindungen gewissermaßen übertrumpfen, bevor sich ein Dingerlebnis eingestellt hat und somit die Dingkonstitution unterbrechen oder verhindern. Sachverhalte haben die Konstitution von Gegenständen im engeren Sinn zur Voraussetzung und sind daher nur als solche für Personen fassbar und zugänglich: Die eigentümliche Gliederung der Sachverhalte beruht darauf, dass in ihnen auseinandergefaltet wird, was in den zu Grunde liegenden Gegenständen beschlossen ist […]. Die Sachverhalte haben ihr Gegenspiel in einem Geist, dessen Erkennen sich in abgesetzten Denkschritten vollzieht, sie sind aber nicht als vom Geist ‚gebildet‘ anzusehen. ‚Gebildet‘ wird das Urteil, das sich dem Sachverhalt anmisst. (ESGA 11–12, 114) Gegenstände, Sachverhalte, Sachverhaltszusammenhänge sind das ursprünglichere Seiende, worauf die gedanklichen Gebilde – die Begriffe, Urteile, Schlüsse – bezogen und wonach sie ‚gebildet‘ sind. (ESGA 11–12, 183)
Eine Orientierung an der Sache, die Stein Sachlichkeit nennt, und Wissenschaft sind mithin nur möglich, weil Sachverhalte ihr Gegenspiel in einem Geist
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haben: Soweit die Begriffe adäquat, die Urteile wahr und die Schlüsse richtig sind, bildet sich eine der Sache gemäße Auffassung. Die Einstellung auf Sachlichkeit ist dabei Voraussetzung der Wissenschaft, die phänomenologische Methode ist darüber hinaus nicht nur sachlich, sondern auch sachgemäß, weil sie Klarheit über Konstitutions- und Motivationszusammenhänge, Wesen und Wesenszusammenhänge schafft. Die Phänomenologie bietet daher nicht nur eine kritische Absicherung wissenschaftlicher Begriffsbildung, sondern kann auch selbst das Fundament jeglicher Wissenschaft werden. Wissenschaftliche Objektivität ist intersubjektiv, sie ist von einer Gemeinschaft überprüft und wiederholt revidiert worden und entwickelt sich deshalb mit der Gemeinschaft. Die klare Herausarbeitung des Objekts einer Wissenschaft ist also nicht nur für die einzelne Person notwendig und bedingt ihre Kenntnis eines Gegenstands, sie ist auch Möglichkeitsbedingung der gemeinsamen Arbeit und Wissenschaft als sozialer Praxis. Darüber hinaus gibt es Wissenschaften, deren Objekt ebenfalls wesentlich intersubjektiv ist (die Geisteswissenschaften), weil Geist wesentlich jeder Person offensteht. Im Falle anderer Wissenschaften erscheint deren Objekt umso klarer als intersubjektiv konstituiert (Psychologie, Sozialwissenschaften, Ökonomie, Jura oder Politik), weil sie Phänomene angehen, die durch psychische oder soziale Kausalität geprägt oder bedingt sind. Denn dem Erlebenden werden kausal bedingte Erlebnisse deutlicher bewusst, wenn sie mit ähnlichen Erlebnissen anderer verglichen werden. Die Naturwissenschaften sind dagegen nicht im selben Sinne von intersubjektiven Leistungen abhängig, was die Konstitution ihres Gegenstands (Natur) angeht. Sie werden dennoch intersubjektiv betrieben und sind deshalb von der Motivation jener Personen geprägt, die sie betreiben. Diese intersubjektive Dimension der Wissenschaft erklärt auch ihre Irrwege: Persönlicher oder ideologischer Wettbewerb verstärkt Motive, die der Sachlichkeit fremd sind und deshalb wissenschaftliche Zusammenarbeit erschweren, manipulieren oder zerstören. Politische und finanzielle Interessen von Individuen oder Gruppen spielen hier ebenfalls eine Rolle, wenn politische Strömungen und Institutionen unterstützt werden. Fällt die Sachlichkeit als Hauptmotiv weg, kann man nicht mehr von wissenschaftlicher Arbeit sprechen, auch wenn das geistige Leben noch an verschiedene Institutionen gebunden bleibt und in seinen Motivationen verstanden werden kann. Kreuzeswissenschaft, Steins letztes Werk, zeichnet sich dadurch aus, dieses Verständnis von Wissenschaft durch den Glauben zu vertiefen. Das Werk fasst die mystische Vermählung der Seele mit Gott im Zeichen des Kreuzes als sachgemäße Haltung zu Gott, der Seele und der Welt auf. Den Hintergrund dieser Haltung bildet das Bewusstsein von Sünde und Übel, das nach Sühne verlangt und das Leiden Gottes hervorruft. Diese sachgemäße Haltung beeinflusst den Sinn von Wissenschaft in einem solchen Maß, dass
80 3. Edith Stein – Phänomenologische Metaphysik als Aufstieg zum Sinn des Seins wenn wir von ‚Kreuzeswissenschaft‘ sprechen, […] das nicht im üblichen Sinn von ‚Wissenschaft‘ zu verstehen [ist]: sie ist keine bloße Theorie, d. h. kein reiner Zusammenhang von – wirklich oder vermeintlich – wahren Sätzen, kein in gesetzmäßigen Denkschritten ausgeführtes ideales Gebäude. Sie ist wohlerkannte Wahrheit – eine Theologie des Kreuzes –, aber lebendige, wirkliche und wirksame Wahrheit: einem Samenkorn gleich wird sie in die Seele gesenkt, schlägt darin Wurzeln und wächst, gibt der Seele ein bestimmtes Gepräge und bestimmt sie in ihrem Tun und Lassen, so dass sie aus diesem Tun und Lassen hervorstrahlt und erkennbar wird. (ESGA 18, 5)
Aus dieser Perspektive ist der „übliche Sinn von Wissenschaft“ oberflächlich und unzulänglich. Das Kreuz, weil es der vom Logos selbst gewählte Lebensweg ist, der die Erlösung des Menschengeschlechts erreicht, ist auch der Weg unserer einfühlenden oder nachfolgenden Erkenntnis von Ihm, der Maß alles Wissens ist. Die Kreuzeswissenschaft ist „heilige Sachlichkeit: die ursprüngliche innere Empfänglichkeit der aus dem Heiligen Geist wiedergeborenen Seele; was an sie herantritt, das nimmt sie in der angemessenen Weise und in der entsprechenden Tiefe auf “. (ESGA 18, 6) Die Kreuzeswissenschaft ist daher auch Gegengift zu der „Unfähigkeit, Tatbestände entsprechend ihrem wahren Wert innerlich aufzunehmen und zu beantworten“, (ESGA 18, 6) die wir als unsachgemäß empfinden. Steins Kreuzeswissenschaft ist also eine Weise der Sachlichkeit, die zwar über das übliche Verständnis von Wissenschaft hinausgeht, nach Steins Verständnis aber trotzdem noch immer Wissenschaft ist, sofern diese eine sachgemäße Wertantwort enthält. Wenn Phänomenologie die fundamentale Schicht von Wissenschaft ist, so ist die Kreuzeswissenschaft wohl die oberste, oder besser: die innerlichste Wissenschaft, weil sie Wissenschaft durch Glauben ist. Deshalb lässt sich fragen, wie sich nach Stein Wissenschaft und Glaube als zwei verschiedene, aber gleichermaßen sachgemäße Haltungen zueinander verhalten. Der Metaphysik kommt jedoch in jedem Fall die Aufgabe zu, beide zu kombinieren. Wenn der Glaube nicht sachgemäß ist, d. h. wenn die Phänomenologie nicht durch die Kreuzeswissenschaft gereift ist, dann spiegelt auch die Metaphysik, die sich darauf aufbaut, unbewusste Voraussetzungen wider und bleibt von ihnen abhängig. Die Gründung in das Leben des Logos kann nur durch Teilnahme am Werk der Erlösung geschehen.
3.4 Ontologie und Metaphysik Steins Ontologie ist eine klassisch phänomenologische, die von der Metaphysik unterschieden wird und in formale und materiale Ontologien gegliedert ist. Die formale Ontologie ist durch und durch a priori und wird bestimmt durch die höchste oder einfachste Leerform des Seienden als etwas, das ist. (ESGA 10, 68) Für die materialen Ontologien ist dies anders,
Mette Lebech 81 weil Sein im vollen, nicht formal reduzierten Sinn eine Fülle in sich schließt, die nur materialer Anschauung zugänglich ist. Demnach bedeutet materiale Ontologie zugleich Lehre vom Sein in seiner Fülle und Lehre vom Seienden in seinen verschiedenen Gattungen. Eine getrennte Behandlung wird kaum nötig und wohl auch gar nicht möglich sein, weil die verschiedenen Seinsmodi den verschiedenen Gattungen des Seienden entsprechen und in ihrer Fülle nicht losgelöst von dem, was auf diese oder jene Weise ist, zu erfassen sind. (ESGA 10, 68)
Die materialen Ontologien haben also mit der Metaphysik die Beschäftigung mit dem Sein in seiner Fülle gemeinsam. Soweit das Apriori sich in das Erfahrene hineinstreckt, gehören formale und materiale Ontologien noch zu den phänomenologischen Disziplinen, die keine Metaphysik voraussetzen, einbeziehen oder benötigen. Sogar das Wirkliche ist eine Leerform, über welche die formale Ontologie etwas zu sagen hat, z. B. dass es sich vom wesenhaften Sein unterscheidet. (ESGA 11–12, 62–113) Im Gegensatz zur wesentlichen Unabhängigkeit der Ontologie von der Metaphysik, ist Ontologie Teil der Metaphysik. Eine Metaphysik, die selbst ‚von Grund auf ‘ Begriffe schafft, ohne Untersuchungen a priori einzubeziehen, scheint willkürlich und lässt sich von Seiten der Ontologie her angreifen. Metaphysik kann deshalb durch phänomenologische Untersuchungen geklärt werden, und insofern sie sich um das Seiende im Ganzen bemüht, ist sie darauf angelegt, derart phänomenologisch zu werden. Wie die Metaphysik die formale und materiale Ontologie überschreitet, arbeitet Stein in Potenz und Akt. Studien zu einer Philosophie des Seins (1931) heraus. Soweit dieses Werk einen Versuch darstellt, dasjenige, was als ‚Potenz‘ und ‚Akt‘ begriffen wird, phänomenologisch zur Anschauung zu bringen, scheitert es. Es ist kein Zufall, dass ein ganz anderes Buch entstand, als Stein diese Problematik ein weiteres Mal aufgriff, um es zur Veröffentlichung vorzubereiten: Endliches und ewiges Sein. Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins (1938). Potenz und Akt zwang Stein dazu, die Grenzen der Ontologie auszuloten und sie in einer ‚Philosophie des Seins‘ zu überschreiten, weil Potenz und Akt, Sein und damit auch das wirkliche Seiende, sich rein formalontologisch nicht fassen lassen. Darin unterscheiden sie sich von logischen Modalitäten wie Möglichkeit und Notwendigkeit, die im Wesen gründen. Was sie während der Umarbeitung lernt, ist, dass „mit diesem Begriffspaar der ganze Umfang des Seienden zu umspannen ist. Aber […] dass die Ausdrücke nicht eindeutig sind, sondern eine Mannigfaltigkeit des Sinnes umschließen“. (ESGA 11–12, 37) Eine dieser Bedeutungen ordnet Akt und Wirklichkeit einander gleich und identifiziert Potenz mit einer Vorstufe wirklichen Seins, denn „wäre es nicht so, dass schon das mögliche Sein selbst eine Art des Seins wäre, so hätte es keinen Sinn, von ‚Graden‘ der ‚Potentialität‘ zu sprechen.“ (ESAG 11–12, 39) Dennoch ist es nicht möglich, Sein und Akt gänzlich zu identifizieren, denn wenn man nur einen, überall gleichen Sinn von ‚Sein‘ annehmen dürfte und wenn Akt und Sein schlechthin zusammenfielen, dann wäre es auch unmöglich, zu sagen, dass es
82 3. Edith Stein – Phänomenologische Metaphysik als Aufstieg zum Sinn des Seins etwas gebe, was mehr oder minder Akt wäre und dem Ersten Sein entsprechend näher oder ferner stünde. So kommen wir dazu, Abstufungen des Seins zu unterscheiden und Akt und Potenz als Weisen des Seins zu verstehen. (ESGA 11–12, 39)
Als Seinsmodalitäten weisen Potenz und Akt also wesentlich über die Formalontologie hinaus, so dass diese als wesentlich unabgeschlossen oder unfertig aufgefasst werden muss. Materialontologien können lediglich bedingt zum Seinsverständnis beitragen, aber als Verständnis des Seins im Ganzen kann das Seinsverständnis nur von der Metaphysik vollzogen werden. Das Sein überschreitet seinem Wesen nach die apriorischen formal- und materialontologischen Wissenschaften, (ESGA 8, 30) was die Notwendigkeit der Metaphysik begründet. Einerseits ist Steins Verständnis von Metaphysik damit ein klassisch husserlsches und baut auf die Unterscheidung von Formal- und Materialontologie auf. Anderseits beruht es auf einer Legitimität des Glaubens, vielleicht im Kontrast zu Husserl. Dieser Glaube muss, um sachgemäß zu sein, am mysterium crucis teilnehmen und dadurch Kreuzeswissenschaft werden. Die Metaphysik annulliert aber keineswegs die Gültigkeit der Phänomenologie mit ihren formalen und materialen Ontologien: Sie baut weiterhin auf Wissenschaft auf. Wie die Phänomenologie als Grundlage der Wissenschaft bezeichnet werden kann, so kann in gleicher Weise die Kreuzeswissenschaft als innerste Schicht der Wissenschaft verstanden werden. Beide tragen zu einer adäquaten Metaphysik wesentlich bei. Edith Stein Edith Stein wurde 1891 in Breslau in eine jüdisch-orthodoxe Familie geboren. Studium der Philosophie in Breslau und Freiburg, 1916 Promotion in Freiburg mit der Arbeit Zum Problem der Einfühlung, danach Wissenschaftliche Assistentin bei Husserl. Vier Habilitationsgesuche an den Universitäten Freiburg, Göttingen und Breslau scheitern aufgrund der Benachteiligung ihres Geschlechts. Stein arbeitet daraufhin als Lehrerin an einer katholischen Privatschule. Vorträge zu Frauenrechten und Mädchenbildung. 1922 Taufe und Übertritt zum Katholizismus, Aufenthalte in der Erzabtei Beuron, 1933 Eintritt in den Orden der Karmelitinnen. Im Nationalisozialismus Verfolgung als konvertierte Jüdin, 1942 Verhaftung, Deportation und Ermordung in Auschwitz. Ihr Hauptwerk Ewiges und unendliches Sein konnte erst 1950 veröffentlicht werden. Die Autorin dankt Luisa Bechtloff und Tobias Keiling für die Unterstützung bei der Überarbeitung des Textes.
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4. Kitarō Nishida – Das Weltproblem im Verhältnis zur Phänomenologie Yohei Kageyama
Kitarō Nishida, der Begründer der sogenannten Kyoto-Schule, gilt weithin als der größte moderne japanische Philosoph. Nishida bildet ein eigenes philosophisches System aus, indem er sich sowohl in einen intensiven Dialog mit der abendländischen Philosophie begibt als auch von der ostasiatischen Zen-Meditation motivieren lässt. Auch seine Kollegen und Schüler wie Hajime Tanabe (1885–1962), Shūzō Kuki (1888–1941), Tetsurō Watsuji (1889–1960) und Kiyoshi Miki (1897–1945) spielen eine wichtige Rolle in der ostasiatischen Geistesgeschichte, die sich eng mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der beiden Weltkriege verwebt. Von früh an interessiert sich Nishida auch für Husserls Phänomenologie, er schätzt insbesondere die Logischen Untersuchungen und Ideen. In seinem Werk Selbstbewußte Bestimmung des Nichts (1932) nimmt er, obwohl recht freihändig, sogar Husserls Termini Noesis und Noema (→ 1.3) auf. Eine derart positive Bewertung mag seine Schüler in der Kaiserlichen Universität Kyoto, etwa Tokuryū Yamauchi (1890–1982) und Risaku Mutai (1890– 1974), zu einem Studium in Freiburg motiviert haben. Nishidas Verhältnis zu Heidegger ist dagegen eher ablehnend. Nishida hält Heidegger nur für einen Nachfolger Husserls, Heidegger seinerseits sieht in Nishida nur einen Epigonen Hegels. Andere wirkmächtige Philosophen wie Watsuji und Tanabe sind wiederum gleichermaßen von Nishida wie von Heidegger geprägt worden. Dem Begriff der Welt widmet Nishida zeitlebens seine zentrale philosophische Anstrengung. In der Einleitung für die 1936 erschienene Neuausgabe seiner Erstlingsarbeit Über das Gute fasst er seinen Denkweg zusammen, indem er sagt, dieser habe in „der Welt der reinen Erfahrung“ angefangen und habe über „den Ort“ und „das dialektische Allgemeine“ schließlich „die Welt der geschichtlichen Wirklichkeit“ erreicht. (KNGA 1, 3) Wie in der philosophischen Tradition besagt der Weltbegriff für Nishida, dass Welt in gewissem Sinne allumfassend ist, was zur Folge hat, dass der Begriff der Pluralität des Seienden entgegensteht. Hier geht es aber nicht etwa um die Welt als das größte Feld, das in sich die Sinnfelder aller Dinge beinhalten würde. Bei Nishida ist einzig und allein von der Welt als der Faktizität der jeweiligen Erfahrung des Seienden die Rede. Damit wird die Welt nicht etwa als etwas Unsagbares wegdiskutiert, sondern Nishida vollzieht immer wieder eine Art Selbstauslegung, geht immer wieder vom Problem der Welt aus. Der Grundzug seiner Beschäftigung lässt sich
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dadurch charakterisieren, dass er die Welt von allem Seienden abhebt, das in ihr erscheint. Die Welt ist das, was über das in ihr erscheinende Seiende hinausgeht. Durch diesen Beitrag zum Verständnis des Weltbegriffs gehört Nishida in die Genealogie phänomenologischer Metaphysik. Im Folgenden werde ich einen Überblick über Nishidas Weltbegriff geben, soweit sich Nishida auf die Phänomenologie bezieht, und dann seine mit diesem Begriff zusammenhängende Auffassung der Subjektivität als „handelnder Anschauung [Kōi-teki Chokkan]“ und seine Konzeption von Metaphysik kurz skizzieren. Während Nishida ontologisch den pluralen Realismus vertritt und keinen privilegierten Bereich des Seienden, etwa die physikalische Natur, anerkennt, hält er an der Annahme einer einen und einzigen Welt im Sinne der Faktizität der Erfahrung fest, auf welche die verschiedenen Bereiche des Seienden bezogen sind. In der Spannung zwischen dieser Pluralität des Seienden und der einen Faktizität der Welt entwickelt sich Nishidas Weltbegriff von der frühen „reinen Erfahrung“ bis zum späten „dialektischen Allgemeinen“. (→ 4.1) Das menschliche Verstehen der Welt entwickelt sich in diesem Spannungsverhältnis zwischen Pluralität des Seienden und Faktizität der Welt. Nishida arbeitet dies in einer Konzeption von Subjektivität aus, derzufolge Subjektivität durch die Interaktion der Individuen immer wieder neu entsteht. Damit wird ein einzigartiger Standpunkt beschrieben, von dem aus die Welt weder von Subjektivität abhängt noch von ihr getrennt wird. (→ 4.2) Letztlich ist die Einheit der Welt auf ambige Weise mit dem Seienden verwoben, obschon sie sich dennoch von ihm unterscheiden lässt. Nishida nennt diese Einheit der Welt „Gott“, so dass auch der Gottesbegriff zum zentralen Thema seiner Metaphysik wird. (→ 4.3)
4.1 Die Entwicklung von Nishidas Weltbegriff Den Ausgangspunk von Nishidas Philosophie bildet der Begriff der „reinen Erfahrung [Junsui Keiken]“ in Über das Gute (1911), der für ihn zeitlebens richtungsweisend bleibt. Unter reiner Erfahrung versteht Nishida die vor-repräsentative Einheit des Geistes und der Welt, die als „Faktum“ vor aller epistemischen Skepsis immer schon vorausgesetzt wird. Hierin lässt sich die Nähe zum von Heidegger geprägten Begriff der Faktizität (→ 6.1; → 6.4) in der phänomenologischen Metaphysik erkennen. Dabei lehnt sich Nishida terminologisch an William James an, der den klassischen Empirismus kritisiert und auf die Dimension der pure experience hinweist, in welcher der Zusammenhang der Erfahrungen selbst erfahren wird. Er wendet jedoch ein, dass James „die Einheit“ der spontanen Synthesis der Erfahrung übersieht. (KNGA 13) Nishidas Originalität in der philosophischen Beschreibung von Faktizität liegt nun gerade im Charakter dieser „Einheit“. In der reinen Erfahrung, so Nishida, lassen sich das erfahrende Selbst und das erfahrene Seiende überhaupt
86 4. Kitarō Nishida – Das Weltproblem im Verhältnis zur Phänomenologie nicht unterscheiden. „Das Selbst und das Ding […] stimmen nämlich da völlig überein“. (KNGA 1, 86) Im Unterschied zu Heidegger, der innerweltliches Seiendes und die Existenz des Daseins strikt unterscheidet, (→ 6.5) und im Unterschied zu Merleau-Ponty, (→ 11.2) der auf einen Chiasmus von Subjekt und Objekt hinweist, gibt es für Nishida „nur die Aktion der einen und einzigen kosmologischen Realität, in der das Ding und das Ich nicht unterschieden sind“. (KNGA 1, 125) Wenn man z. B. ein Kliff besteigt oder als Musiker ein tief vertrautes Stück spielt, wird man so selbstversunken, dass es in diesen Erfahrungen auch die von Heidegger so genannte eigentliche Existenz des Selbst, die dem Verfallen abgerungen werden soll, nicht gibt. (KNGA 1, 11) Um mit James’ Beispiel für knowledge by acquaintance zu sprechen, findet man sich mit vertrauten Menschen und Dingen so untrennbar verbunden, dass man von dieser faktischen Situation im Ganzen nicht abstrahieren kann. Die Welt der reinen Erfahrung zeigt sich also letztlich nicht im Subjekt, das das Sein der Welt versteht, sondern durch die Manifestation der Welt selbst. Innerhalb der Einheit der reinen Erfahrung vollzieht sich jedoch ein Wandel oder eine Veränderung des Dings, das durch „Widerspruch und Zusammenstoß“ in die mannigfaltigen Dimensionen „sich differenziert“. (KNGA 1, 20 f.) Auch wenn man in der jeweiligen Erfahrung aufgeht, bleibt deren gegenwärtiger Inhalt nicht selbstgenügsam in sich, sondern hängt mit vergangener Erfahrung zusammen und lässt sich nur in einem Kontext artikulieren. Eigen ist reiner Erfahrung dann eine solche im Grunde zeitliche Pluralität der konkurrierenden Momente, die man von der Erfahrung reiner Dauer ohne Verräumlichung im Sinne von Bergson unterscheiden muss. Auch traditionelle Dichotomien wie die von Natur und Geist oder Denken und Wollen gründen in einer derartigen Spannung. (KNGA 1, 144 f.) Diese Dichotomien setzen jedoch immer schon Einheit voraus, weil die zeitlich artikulierte Erfahrung jeweils in die größere Gegenwart, in der sie erscheint, zurückgenommen wird. Dementsprechend macht Nishida sogar geltend, dass es nicht nur „diese unsere Welt“, sondern auch „unendlich viele Welten“ gibt, die aber nur in Bezug auf die Einheit der reinen Erfahrung bestehen können. (KNGA 1, 152 f.) Wenn man Nishida mit den modernen deutschen Philosophen vergleicht, ist sein Ansatz darin dem Husserls näher als dem Kants, dass die Einheit der reinen Erfahrung nicht regulativ, sondern direkt gegeben ist. Während die Idee bei Husserl die Einstimmigkeit des unendlichen Erscheinungskontinuums eines Dings fordert, und eine Totalität der Einstimmigkeit Husserls Weltbegriff ausmacht, (→ 1.5) müsste für Nishida die Einheit der reinen Erfahrung einem solchen Anspruch auf Einstimmigkeit immer schon zugrunde liegen. In Der Ort (1926) des mittleren Nishida wird das Wesen dieser Einheit jedoch noch einmal anders verstanden, wenn Nishida anstatt reiner Erfahrung nun der Begriff „Ort“ ins Zentrum seiner Philosophie stellt. Der Terminus wird zwar von Platons χώρα im Timaios übernommen, von Nishida aber inhalt-
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lich unabhängig davon konzipiert. Nishidas Punkt ist hier, dass die Einheit der Welt nunmehr als „das Nichts“, bzw. als sich jedem Realen entziehend aufgefasst wird, um die Erkenntnisart der Einheit sachgemäßer als in Über das Gute zu beschreiben. In Über das Gute sollte die Einheit durch die „intellektuelle Anschauung“, die Subjekt und Objekt vereinigt, erkannt werden. (KNGA 1, 34 f.) Im Gegensatz dazu sieht Nishida in Der Ort ein, dass eine solche vermeintlich unmittelbare Anschauung de facto die Vermitteltheit von Subjekt und Objekt voraussetzt, und deshalb bloß imstande ist, den das subjektive Bewusstsein transzendierenden Gegenstand (z. B. das erwähnte Kliff ) zu erreichen, nicht aber die Einheit als solche. (KNGA 3, 426) Nishida versucht daher eine alternative Beschreibung zu geben, wie sich das faktische Dasein eines solchen Gegenstandes ohne Subjekt-Objekt-Spaltung zeigt, und erreicht dadurch den Begriff des „Orts des Nichts“, der wie ein Spiegel Gegenstände „in sich“ „spiegelt“, aber selbst keineswegs existiert. (KNGA 3, 426) Nishida illustriert diesen Gedanken anhand der Metapher von Josiah Royce, dass eine Hand, die innerhalb Großbritanniens dessen vollständige Landkarte zeichnet, sich selbst dem gezeichneten Schema entzieht, obschon das ganze Land von ihr gewissermaßen gespiegelt wird. (KNGA 2, 13 f.) Gleichermaßen kann man vom Faktum des Erscheinens des Gegenstandes nicht sagen, dass es existiert, obwohl es „der Ort“ ist, worin der Gegenstand existiert. Man könnte hierin eine gewisse Ähnlichkeit zu Heideggers Auffassung vom Sein als dem Geschehen des Seienden im Ganzen erkennen. (→ 6.3–6.4) Der Unterschied der beiden Philosophen liegt jedoch darin, dass Nishida das Seiende als das Spiegelbild des Orts bestimmt, dank dessen der Ort sich selbst gewahren kann. Wenn man z. B. die zeichnende Hand selbst in die Landkarte zu zeichnen versucht, muss man dieses aktuelle Zeichnen selbst wieder darstellen, was allerdings ad infinitum fortschreitet. In gleicher Weise verleiblicht jedes Seiende, das Nishida „das Individuum [Kobutsu]“ nennt, jeweilig erneut das Erscheinen des Seienden und legt dadurch dessen Einmaligkeit unendlich vielfach übereinander. Eine solche dynamische Konstitution der Vielheit des Seienden entspricht dem, was der späte Husserl mit der Thematik von Selbstzeitigung und Konstitution der Transzendenz, d. h. des immanenten Zeitbewußtseins und der objektiven Welt analysiert. (Sakakibara 2017) In concreto wird bei Nishida die Vielheit des Seienden wie folgt erläutert. (1) Das einmalige Erscheinen des Orts wird zum einen als „diskontinuierliche Kontinuität [Hi-Renzoku no Renzoku]“ charakterisiert, weil es sich spontan vervielfacht und so einen Zusammenhang bildet. In diesem Umstand sieht Nishida die Stiftung des zeitlichen Ablaufs und der räumlichen Ausdehnung, welche Stiftung er „Selbstbestimmung des ewigen Jetzt“ (KNGA 5, 267 f.) nennt. Bei ihm wird meistens der Raum als das Verhältnis des Nebeneinander im Fundierungsverhältnis als grundlegender als die Zeit gekennzeichnet, weshalb er auch auf der Pluralität zeitlicher Präsenz im Augenblick besteht. (KNGA 5, 270)
88 4. Kitarō Nishida – Das Weltproblem im Verhältnis zur Phänomenologie (2) Nach dem Zeitmodus des Individuums wird zweitens das Seiende nach den Regionen ‚Natur‘ und ‚Geist‘ unterschieden. (KNGA 5, 268) Die Natur in einem weiten Sinne bindet demnach als gewesene Tatsache die Gegenwart, worin sich der Ort des Nichts gegenständlich – „noematisch“ oder „ausdrucksmäßig“ – reflexiv zeigt. (KNGA 5, 2) Der Geist ist andererseits das sich künftiger Möglichkeit öffnende Seiende, (KNGA 5, 286 f.) durch das sich das Selbstverhältnis des Ortes auch „noetisch“ oder „handlungsmäßig“ vollziehen lässt. (KNGA 5, 4) (3) Schließlich interpretiert Nishida das handelnde Seiende wiederum als „das persönliche Selbst“, das Natur und Geist zugrunde liegt, weil eine leibhaft existierende Person ambig im Sinne von Merleau-Ponty (→ 11.5) ist, sie die Natur sowohl aktiv umgestaltet wie an sie gebunden bleibt. (KNGA 5, 287) Die Person ist ferner im Miteinandersein mit dem „Du“ einer anderen Person verwoben. (KNGA 5, 324 f.) Nishida sieht das tiefste Selbstverhältnis des nichtigen Orts darin, dass das Ich mit dem in seinem Sein völlig abgeschiedenen Du sprachlich kommuniziert. (KNGA 5, 325) Im Hauptwerk seiner späten Philosophie Die Welt als das dialektische Allgemeine (1934) vereinigt Nishida am Ende den Ort des Nichts und das Individuum, vor allem die Person, im Begriff des „dialektischen Allgemeinen [Benshōhō-teki Ippan-sha]“. Dadurch wird die Einheit des Orts, als „der Vermittler“ zwischen Individuen, untrennbar mit der Pluralität der Individuen verwoben. (KNGA 6, 252 f.) Der entscheidende Punkt dieser Auffassung liegt darin, dass Nishida den Ort als solchen nicht mehr isoliert thematisiert, weil sein Schüler Hajime Tanabe auf die Gefahr einer Verdinglichung des Ortes hingewiesen hat, die damit einhergehen könnte. Analysiert wird nunmehr die Weise, wie das Individuum erscheint, was bedeutet zu beschreiben, wie das Einzelne, obwohl es für sich genommen einzigartig ist, mit anderen Individuen zusammenhängt. Ein Individuum kann die Möglichkeit anderer Individuen nur durch Negation seines eigenen Seins verstehen und umgekehrt nur durch das Sein des Anderen sich seiner selbst positiv bewusst werden. Dieses zweiseitige Ereignis („diskontinuierliche Kontinuität“), in dem das jeweilig Eine doch in Pluralität erscheint, ist „das dialektische Allgemeine“. (KNGA 6, 243) Damit ist aber nicht etwa eine singuläre Totalität wie die verschiedenen Modi zugrundeliegende Substanz oder die Einheit des Bewusstseins gemeint, sondern einzig und allein die Welt als „Einheit zugleich Vielheit [Ichi soku Ta]“. (KNGA 6, 252) Diesen Gedanken formuliert Nishida später in logischen Termini als „absolut widersprüchliche Selbstidentität [Zettai Mujun teki Jiko-Dōitsu]“, womit er den für seine Philosophie letztlich maßgeblichen Ausdruck findet. Es liegt in der Konsequenz dieser Konzeption, dass sich der Weltbegriff vom ontischen Konkretum dieses dialektischen Verhältnisses nicht mehr strikt trennen lässt. Nishida führt deshalb den Begriff der „Art [Shu]“ als die Verhältnisstruktur zwischen den Individuen ein, nach der das einzigartige Individuum
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mit den Anderen einer gemeinsamen Gruppe zugehört. (KNGA 8, 330) Eine Biene z. B. gehört deshalb ihrer Art an, weil sie gemäß den gewissen Strukturen ihres Verhaltens mit ihrer Umwelt interagiert. Nishida unterscheidet ferner die Grundtypen der Art in „Stoff “, „Leben“ und „Mensch“ (KNGA 8, 208) und weist mit Bezug auf den Menschen auf die Entwicklung von der primitiven Gemeinschaft des „Volks“ zum „Staat“ hin, der sich in seinen Institutionen zeigt. (KNGA 8, 364) Diese anthropologische Beschreibung könnte an Max Scheler (→ 5) erinnern. Bei Nishida wird jedoch jede Instanz der Art lediglich durch das Verhältnis der Individuen zueinander bestimmt. Während ein stoffliches Wesen von anderen Individuen rein äußerlich determiniert wird, hat das Lebedinge in sich die interne Ordnung des Stoffwechsels. (KNGA 8, 184; 208) Der Mensch ist wiederum unabhängig von diesem rein biologischen Stoffwechsel, weil er in einer sozialen Lebensform Werkzeuge herstellt. (KNGA 8, 209) Während die Sozialform des „Volks“ noch gewissermaßen vom menschlichen Organismus bedingt wird, wird der „Staat“, wie bei Hegel, als die Instanz bestimmt, in der sich die Einzigartigkeit der Person entfaltet. (KNGA 8, 364)
4.2.
Handelnde Anschauung: Nishidas Begriff der Subjektivität
Die „handelnde Anschauung [Kōi-teki Chokkan]“, die Nishida in seinen späten Schriften mehrfach diskutiert, ist sein Begriff für die der Welt als einem dialektischen Allgemeinen entsprechende Konzeption der Subjektivität. (KNGA 10, 330 f.) Demnach wird Subjektivität als das ständige und immer neue Erscheinen eines Individuums aufgefasst, das durch dialektische Interaktion stattfindet. Die Dynamik dieses Erscheinens ist der phänomenologische Ausweis der Existenz der Welt. Die Evidenz der Welt gibt sich also Nishida zufolge weder vom sie konstituierenden Bewusstsein her, wie für Husserl, noch vom entwerfend-geworfenen Dasein, wie für Heidegger, sondern von der wechselseitigen Handlung unzähliger Individuen, zu denen auch die leblose Materie und die Tiere zählen. Diesen Handlungsbegriff könnte man mit dem Hannah Arendts vergleichen, der den Erscheinungsraum der Pluralität ins Werk setzt: In der Dynamik der handelnden Anschauung verhält sich ein Individuum gemäß seiner Art zur Umwelt und erfährt dadurch eine Verwandlung seines „Leibes“, wodurch ein neues Individuum entsteht, das arttypische Ordnungsgefüge überschreitet. (KNGA 8, 219 f.) Diese Dynamik beschreibt Nishida als Bewegung „vom Geschaffenen zum Schaffenden“. (KNGA 8, 222) Damit zeigt sich die Welt als das dialektische Allgemeine so, dass das Zentrum der Perspektive – ähnlich Pascals unendlicher Kugel – nicht vereinzelt, sondern omnipräsent ist. Beschreiben wir die Erscheinungsweise der handelnden Anschauung genauer. Eine anschauliche Beschreibung übernimmt Nishida aus der Gestaltung von Kunstwerken. (KNGA 9, 272 f.) Stellen wir uns vor, dass ein Bildhauer selbst-
90 4. Kitarō Nishida – Das Weltproblem im Verhältnis zur Phänomenologie vergessen eine Figur schnitzt. Dabei lässt er seine leiblichen Fähigkeiten – die Art – auf das Gestein einwirken und lässt sich von der Härte oder dem Glanz des Materials beeinflussen. In dieser Interaktion zeigt sich jeden Augenblick und allmählich eine neue Gestalt der Figur – ein Geschehen, das sich nur zwischen dem Bildhauer und dem Gestein ereignen kann. Diesen Prozess des Erscheinens charakterisiert Nishida so, dass „das Ding sich selbst spiegelt und sieht“. (KNGA 7, 121 f.) Der Punkt hier ist das Erscheinen dieses „Spiegelns“ und „Sehens“. Hier gibt es keine zeitliche Reflexivität der zeitlichen Einheit des Erscheinens, wie Heidegger sie im Kantbuch (GA 3) als Selbstaffektion beschreibt, denn sofern das Erscheinen eines Individuums in der handelnden Anschauung jeweilig neu stattfindet, kann es zwar die Reflexivität des Erscheinens fundieren, aber nicht umgekehrt. Deshalb ist es für Nishida auch nicht entscheidend, im Prozess des Erscheinens eine Ausgesetztheit gegenüber radikaler Alterität nachzuweisen. Vielmehr geht es im Beispiel der künstlerischen Gestaltung um radikale Neuheit, die selbst dem Unterschied zwischen dem Ich und dem Anderen vorausgeht und dann diesen von Grund aus wieder stiftet. Denn im Geschehen der neuen Gestalt lässt sich weder der Bildhauer noch das Gestein als solches finden. Vielmehr hängen die beiden dank dieser Gestalt auf eine neue Weise miteinander zusammen und werden selbst verwandelt. Wenn handelnde Anschauung so beschaffen ist, kann man nicht mehr von einer Korrelation mit der Welt sprechen, sei es als Bewusstsein oder als Existenz. Denn gerade im Werden des neuen Individuums zeigt sich die Welt schon als dialektisches Verhältnis der Individuen, bevor sich das bewusste Ich einem Objekt zuwenden kann. Subjektivität ist also bei Nishida nicht das, was sich auf die Welt bezieht, sondern die indefinite Manifestation der Welt selbst. (KNGA 10, 320) Dieses Ereignis nennt Nishida „Selbstbestimmung des dialektischen Allgemeinen“. (KNGA 6, 306 f.) Die Welt ist damit nichts, zu dem das Subjekt erst spekulativ Zugang gewinnen müsste. Da sich die Welt vielmehr als das Werden des Individuums phänomenalisiert, gibt es keine Welt ohne Subjektivität.
4.3 Gott als das absolute Nichts: Nishidas Metaphysik In der kurz vor seinem Tode vollendeten Schrift Ortslogik und religiöse Weltanschauung (1945) bestimmt Nishida „Metaphysik“ als die Untersuchung des Absoluten, d. h. „Gottes“. (KNGA 10, 360) Dessen Wesen liegt darin, durch Negation jeweilig ein Individuum geschehen zu lassen. Das einzigartige Individuum erscheint, wie gezeigt, paradoxerweise in Pluralität durch vermittelnde Negation des dialektischen Allgemeinen. Auf dieses Negieren, auf die „Posi tion absoluter Negation“ hin wird die Welt als das Eine verstanden, und damit erreicht Nishidas Philosophie ihren Gipfel. (KNGA 6, 165) Die Modalität der Existenz Gottes ist dabei für Nishida, im Unterschied zur traditionellen Meta-
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physik, nicht die des notwendigen Seins, denn seine Absolutheit liegt nicht in einer Art Autarkie, sondern darin, dass sich „das absolute Sein“ von sich aus in „das absolute Nichts“ verwandeln kann, um das faktische Werden des Individuums in seiner Grundlosigkeit zu ermöglichen. (KNGA 10, 315 f.) Gott ist also gerade insofern absolut, als er sich nichtig macht. Dementsprechend fasst Nishida auch den Grundcharakter Gottes nicht als creatio, sondern als „Kenosis“, die das ständige Werden des Individuums in der handelnden Anschauung zulässt. (KNGA 10, 317 f.) Die Annahme einer solchen Art Anarchie Gottes könnte in gedankliche Nähe etwa zu Lévinas’ Gottesbegriff gerückt werden, (→ 12.5) jedoch ist ein Individuum Nishida zufolge nicht passivisch einer göttlichen Instanz ausgeliefert, sondern vielmehr eingebunden in eine das Miteinander und das Werden der Individuen umgreifende Leere. Diesen Standpunkt nennt er „Panentheismus“. (KNGA 10, 317) Das Verhältnis des Individuums zu Gott wird ferner als „das Zeichen [Hyōgen]“ Gottes charakterisiert. (KNGA 10, 319 f.) Obschon sich Gott aller menschlichen Erschließung, sei es durch Analogie oder Univozität des Seins, entzieht, deutet die Kreativität des werdenden Individuums auf ihn, der er selbst nie anwesend wird. Hierin kann man die letzte Konsequenz der im ersten Abschnitt (→ 4.1) diskutierten These sehen, „der Ort“ „spiegele sich“ im Seienden. Interessant ist, dass Nishida ferner mit Hilfe der mathematischen Mengentheorie dieses „Zeichenverhältnis“ als „inverse Korrespondenz [Gyaku-Taiō]“ charakterisiert. (KNGA 10, 325) Eine Gruppe in der Mathematik besteht aus einer Menge und einer Verknüpfung, die folgende drei Bedingungen erfüllt: (1) das Assoziativgesetz, demzufolge die Reihenfolge der Verknüpfung keine Rolle spielt: 1 + (2 + 3) = (1 + 2) + 3; (2) ein neutrales Element, das alle Elemente der Menge unverändert lässt: Die Zahl Eins bei der Multiplikation reeller Zahlen; (3) ein inverses Element, dessen Verknüpfung mit einem beliebigen Element der Menge ein neutrales Element ergibt: 1/x für die reelle Zahl x. Nishida vergleicht nun die beiden Seiten des Assoziativgesetzes mit den Perspektiven jedes Individuums, das neutrale Element mit dem jeweilig werdenden Individuum, und das inverse Element mit der Negativität des ständig das Individuum verwandelnden Gottes. (KNGA 10, 205; 210; 204) Diese Theorie erinnert an László Tengelyis Ausführungen zur Mengentheorie, die die Gegebenheit des Unendlichen gewährt. (Tengelyi 2014; → 21) Mit dem Begriff des neutralen und des inversen Elements versucht Nishida jedoch auszudrücken, dass jedes die Welt konstituierende Individuum bzw. jedes Mitglied einer unendlichen Menge wie zwei Seiten einer Münze die selbst entzogene Unendlichkeit repräsentiert. Diesen Umstand nennt Nishida mit einem Wort des Zen-Buddhismus auch die „Tiefe der Alltäglichkeit [Byōjō-Tei]“, insofern dieser dem menschlichem Leben in dessen Selbstverständlichkeit von Grund aus Halt gibt. (KNGA 10, 357) Aus dem Zeichenverhältnis zwischen Gott und Menschen als dem innerlichen Wesen des Urfaktums der Welt ergibt sich zum Schluss Nishidas Metaphy-
92 4. Kitarō Nishida – Das Weltproblem im Verhältnis zur Phänomenologie sik der Sprache. Die Sprache ist deswegen „die Vermittlung zwischen Gott und Menschen“, (KNGA 10, 349) weil die inverse negative Korrespondenz der beiden nur durch das auf das Abwesende referierende Bedeuten der Sprache möglich ist. Hierin ähnelt Nishida gewissermaßen dem späten Heidegger, (→ 6.12) der die Sprache als den versammelnden Grundbezug des Menschen zur Zwiefalt von Anwesen und Anwesendem auffasst. (GA 12, 118) Wie Heidegger seine Seinsgeschichte mit den jeweiligen Grundwörtern des λόγος, wie ἕν (GA 7, 225) oder „Apperzeption“ (GA 9, 462) beschreibt, spricht Nishida von „gestaltender Sprache“, die dem „jeweiligem Weltalter […] die wahre geschichtliche Aufgabe“ stellt. (KNGA 10, 349) Während Heidegger die Sprache im Kontext des Nihilismus der Seinsvergessenheit thematisiert, kommt bei Nishida ein solches geschichtliches Krisenbewusstsein nur beiläufig auf, was seine positive Einstellung zu Metaphysik zur Folge hat. Dementsprechend behandelt Nishida den Namen des abwesenden Gottes anders als Heidegger. „Der Name Buddhas [Myō-Gō]“, der im Amitabha-Buddhismus in alltäglicher Praxis rezitiert wird, bezieht sich für Nishida nämlich nicht auf das Ausbleiben des Heiligen wie bei Heidegger, (GA 13, 235) sondern auf die umgreifende Leere, mit der der Mensch, obschon invers, doch immer und unbezweifelbar korrespondiert. (KNGA 10, 350 f.) Kitarō Nishida Geboren 1870 in der Präfektur Ishikawa, gestorben 1945 in Kamakura. Studium der Philosophie an der Kaiserlichen Universität Tokio. Um 1899 Beginn der Zen-Meditation. 1910 Berufung zum Professor an die Kaiserliche Universität Kyoto, zuvor Hochschullehrer in Kanazawa und Tokio. 1911 erscheint das erste Buch Über das Gute, das von den damaligen Studenten als das erste originale philosophische Werk Japans angesehen wird. Ab 1919 Gründung der Kyoto-Schule. 1927 Mitglied der Kaiserlichen Akademie. 1928 Emeritierung. 1943 Abfassung von Das Prinzip der neuen Weltordnung im Auftrag des Forschungsinstituts für Staatspolitik. 1945 Tod kurz nach Fertigstellung der letzten Schrift Ortslogik und Weltanschauung.
Literatur Nishida, Kitarō (1909/2005), „Über Zusammenhang und Kommunikation zwischen reinen Erfahrungen“, Nisihida Kitarō Zenshū: Gesamtausgabe (= KNGA; auf Japanisch) 13, Tokyo, 33–42. – (1911/2003), Über das Gute, KNGA 1. – (1917/2004), Anschauung und Reflexion im Selbstbewusstsein, KNGA 2. – (1926/2003), „Der Ort“, KNGA 3, 415–478. – (1932/2002), „Ich und Du“, KNGA 5, 267–334. – (1934/2003), „Die Welt als das dialektische Allgemeine“, KNGA 6, 239–334. – (1935/2003), „Der Standpunkt handelnder Anschauung“, KNGA 7, 83–168.
Yohei Kageyama 93 – (1937/2003), „Handelnde Anschauung“, KNGA 8, 215–238. – (1938/2003), „Der Standpunkt des Individuums in der geschichtlichen Welt“, KNGA 8, 307–366. – (1941/2004), „Künstlerische Schöpfung als geschichtliche Gestaltung“, KNGA 9, 233– 300. – (1945a/2004), „Ortslogik und religiöse Weltanschauung“, KNGA 10, 295–368. – (1945b/2004), „Philosophische Grundlegung der Mathematik“, KNGA 10, 189–226. Sakakibara, Tetsuya (2017), „Kitarōo Nishida“, in: Sebastian Luft/Maren Wehrle (Hg.), Husserl-Handbuch, Stuttgart, 244–246. Tengelyi, László (2014), Welt und Unendlichekit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, München.
5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik Peter Gaitsch
Neben Heidegger zählt Max Scheler zu denjenigen, die die von Husserl begründete phänomenologische Forschung am produktivsten fortführten. Wie auch bei Heidegger ist diese Produktivität mit einer kritischen Distanzierung zum bewusstseinsidealistischen Rahmen von Husserls Projekt verbunden. Schelers heute als klassisch geltende Arbeiten zur materialen Wertethik und zur Phänomenologie der Gefühle (des „intentionalen Fühlens“), der Intersubjektivität und der Sozialität aus den 1910er-Jahren operieren noch ganz auf der Grundlage von Husserls eidetischer Phänomenologie vor dessen transzendentaler Wende. 1921 legt Scheler in Vom Ewigen im Menschen einen religionsphilosophischen Entwurf vor, der in seinem Kern eine originelle Phänomenologie der Offenbarung enthält, die für die katholische Theologie höchst einflussreich war und bis heute als einer der gründlichsten systematischen Versuche gelten kann, mit der Idee einer Religionsphänomenologie in posthusserlscher Tradition Ernst zu machen. Die weitere Entwicklung zeigt Scheler als einen vielfältigen und wandlungsfähigen Denker, der mit hoher Intensität unterwegs zu etwas Neuem ist. Nicht nur verfasst er wichtige Arbeiten zur Formierung der Wissenssoziologie, sondern er wird mit seiner Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos von 1928 neben Helmuth Plessner auch zum Mitbegründer der Philosophischen Anthropologie. Im Zentrum seiner späten Arbeiten steht jedoch ein metaphysischer Gesamtentwurf, der sich vom theistischen Korsett seiner früheren Religionsphilosophie befreit, der aber aufgrund seines frühen Todes 1928 unvollendet bleibt und nur in kleineren Arbeiten und in einigen Fragmenten in den nachgelassenen Schriften Gestalt gewinnt. Schelers Arbeit an der Metaphysik wurde von den Zeitgenossen kontrovers aufgenommen. Während Schelers Entwicklung im katholischen Milieu Enttäuschung auslöste, („Schelers Philosophie nach 1922 war nichts anderes als eine Konstruktion zur Rechtfertigung seiner Fehler“, Fries 1949, 116) bezeichnete Heidegger in einem Nachruf Scheler als „die stärkste philosophische Kraft im heutigen Deutschland, nein, im heutigen Europa und sogar in der gegenwärtigen Philosophie überhaupt“. (GA 26, 62) Schelers späte Metaphysik, deren Umrisse der vorliegende Beitrag zeichnen möchte, ist nicht ausdrücklich „phänomenologisch“. Dieser Umstand erklärt sich daraus, dass Scheler in seiner Denkentwicklung nach 1921 weitestgehend auf den Titel „Phänomenologie“ verzichtet, da er ihm zu stark mit Husserls abso-
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lutem Idealismus des Bewusstseins assoziiert scheint, der ihm problematisch geworden war. „Ich persönlich vermeide das Wort überhaupt“, (GW IX, 285) heißt es dementsprechend in einer Randnotiz in den nachgelassenen Schriften. Unbeschadet dessen kann gezeigt werden, dass Scheler eine in ihrem Kern phänomenologische Metaphysik entwickelt, die alle klassischen Themen der Metaphysik (Sein, Seele, Welt, Gott) umfasst. Besonders beachtenswert ist, wie Scheler der Phänomenologie als Methodenbegriff (oder genauer: als Begriff einer technê, wie Scheler präferiert) eine begrenzte Begründungsfunktion für die Metaphysik zuschreibt, sie aber durch spekulative Verfahren ergänzt. Scheler ist also kein ausschließlicher Verfechter der phänomenologischen Methode in der Philosophie demgemäß es jenseits des phänomenologischen Evidenzaufweises nur Unsinn gebe. In seinem Verständnis der phänomenologischen Methode bleibt er der Eidetik des vortranszendentalen Husserl der Logischen Untersuchungen verpflichtet. Weil Scheler die Eidetik jedoch in ein (Husserl fremdes) metaphysisches Projekt integriert, weicht sie auf charakteristische Weise von Husserls Verständnis ab.
5.1 Metaphysik als setzende Weltanschauungslehre 1922 greift Scheler die Idee einer nicht-setzenden deskriptiven, psychologischsoziologischen verstehenden Weltanschauungslehre auf, wie sie unter anderem von Wilhelm Dilthey, Max Weber und Karl Jaspers etabliert wurde, um auf dieser Basis die Umrisse seiner Programmatik der Metaphysik als setzender Weltanschauungslehre zu zeichnen, die er in den Folgejahren in Teilen ausarbeiten wird. Er führt dabei die wichtige Unterscheidung zwischen absolut natürlicher Weltanschauung, relativ natürlicher Weltanschauung und Bildungsweltanschauung ein. (GW VI, 15 f.) Die absolut natürliche Weltanschauung entspricht dem, was Husserl später als „lebensweltliches Apriori“ (Hua VI, 143) zum Ausgangspunkt seiner späten Phänomenologie machen wird. Eine relativ natürliche Weltanschauung ist die kulturell gewachsene Konkretion einer geschichtlich kontingenten Lebenswelt, die in einem interkulturellen Spannungsverhältnis zu anderen Ausformungen der Lebenswelt steht. Eine Bildungsweltanschauung schließlich ist das Produkt explizit geistiger Tätigkeit (Religion, Kunst, Ethos, Wissenschaft, Philosophie). Die philosophische Metaphysik bestimmt Scheler als setzende Bildungsweltanschauung, die sich auf drei Erkenntnisquellen stützt, die je einen verschiedenen Beitrag zur Metaphysik leisten: (1) die absolut natürliche Weltanschauung, von der her die Daseinsformen zu gewinnen sind (was man heute als „Lebensweltontologie“ bezeichnen würde); (2) die phänomenologische Eidetik („Eidologie“), die das materiale Apriori der Wesensprädikate zur Verfügung stellt; (3) die positiven Wissenschaften, die auf ihrem jeweiligen historischen Erkenntnisstand den empirischen Ausgangspunkt (das Urteils-
96 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik subjekt) metaphysischer Aussagen bilden. (GW VI, 20; XI, 45) Die Metaphysik hat die Aufgabe, ausgehend von diesen drei Erkenntnisquellen ein integratives Wissen auszubilden und dabei die daseinsrelativen (in heutiger Terminologie: „korrelationistischen“) Weltgehalte auf den daseinsabsoluten Weltgehalt hin zu übersteigen. (→ 5.4) Metaphysik ist „Realerkenntnis katexochen“, (GW XI, 25) wie es Scheler in seinen späteren nachgelassenen Manuskripten zur metaphysischen Weltanschauungslehre ausdrückt. Aus der falliblen historisch-empirischen Komponente der Metaphysik folgt, dass die auszubildende Metaphysik immer einen hypothetischen Charakter behält und daher als offenes System zu konzipieren ist; und aus der faktischen Verwobenheit von absolut natürlicher mit je relativ natürlicher Weltanschauung folgt, dass eine adäquate Metaphysik nur auf dem Wege einer „kosmopolitischen und überhistorischen Durchdringung und Ergänzung aller Weltanschauungen“ (GW VI, 22) zu erreichen ist – was Scheler später unter dem Titel des „Weltalters des Ausgleichs“ zeithistorisch auswertet. (→ 5.9) Es ist bemerkenswert, wie Scheler seine frühere Wesensontologie der Werte („eidetische Axiologie“, GW XI, 62) – die in Gestalt seiner materialen Wertethik (GW II) noch immer als sein Hauptwerk gilt – in den neuen metaphysischen Kontext eingemeindet. Der Wertobjektivismus der materialen Wertethik, der für sich genommen noch kein Wertrealismus ist, wird nun in seinen ontologischen Verhältnissen ergründet. Bereichsspezifische (bezogen z. B. auf ethische oder auf ästhetische Werte) eidetische Axiologien können und müssen zwar unabhängig von Metaphysik begründet und durchgeführt werden, aber sie haben als letztlich unvollständig zu gelten, da sie die Wesensmöglichkeiten des Wertes noch nicht auf das realisierte Dasein des Wertes beziehen. Denn nun hält Scheler fest: „Nicht das Wert-sein fundiert ontisch das Dasein, sondern das Dasein das Wertsein.“ (GW XI, 59) Daraus erwächst die spezifische Aufgabe der Metaphysik. Sie muss erstens den Wert als eigene Seinsart betrachten („Wertsein ist als letzte Grundart des Seins ebenso elementar wie Dasein und Sosein“, GW XI, 60). Sie muss zweitens das Wertsein im Verhältnis zu seiner Realität im Dasein betrachten. Für Letzteres formuliert Scheler den Grundsatz omne ens est aestimativum („werthaft“), der von der antik-mittelalterlichen Überzeugung (omne ens est bonum) darin abweicht, dass die positive oder negative Werthaftigkeit des Daseins noch geschichtlich unentschieden ist. Die Metaphysik muss drittens die enthüllte Grundrealität des Wertes auf die absolute Daseinsstufe des Weltgrundes heben. Das bedeutet, dass die erwähnte Unentschiedenheit nicht nur alles relativ Seiende tangiert, sondern auch das Absolute, das daher nicht als summum bonum, sondern nur als summum aestimativum (mit offenem geschichtlichen Ausgang) zu denken ist. (GW XI, 60) In den Worten Schelers: „[D]ie objektive Seinswelt des Herzens, die Welt der Werte und das Herz als Erfassungsvermögen dieser Werte, bilden eine Art letzter Tatsachen für die Metaphysik, die sie aus dem Weltgrunde verständlich zu machen hat.“ (GW XI, 62)
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Inhalt und Methode dieser Metaphysik werden im Folgenden näher dargestellt und rekonstruiert.
5.2 Welt als konkrete Totalität und die Rolle des formalen Gottesbewusstseins Bezüglich des Weltbegriffs führt Scheler bereits im Kontext seiner Wertethik eine interessante Unterscheidung zwischen „Welt“ und „Gegenstandsbereich“ ein, die auch für die spätere Entwicklung leitend bleibt. „Welt“ ist die konkrete Totalität, während jede Bestimmung eines Gegenstandsbereichs auf einem Vorgang der Abstraktion beruht. Die Welt ist keine bloße Idee, sondern „absolutseiendes, überall konkretes, individuelles Sein“. (GW II, 404) Für Scheler zeigt sich darin ein Wesenszusammenhang der Welt mit der Person, d. h. dem Zentrum eines Gefüges von geistigen Akten: Die Welt ist immer Korrelat einer Person und daher so konkret wie diese. Dies ist der Grund dafür, dass die Welt, genauso wie Personen, eine allgemeingültige Bestimmung wesenhaft von sich ausschließt. Streng genommen gibt es also keinen „Weltbegriff “, sondern allein das Weltphänomen. Da aber das Weltphänomen zugleich die endlichen Kapazitäten von menschlichen Personen übersteigt, folgt aus dem korrelativen Wesenszusammenhang von Person und Welt ein mit der Welt gegebenes formales Gottesbewusstsein. Denn da der Makrokosmos, d. h. die eine und einzige Welt, nicht mit einer endlichen Geistperson, wie sie der Mensch verkörpert, korreliert, muss für ein dem unendlichen Weltgehalt entsprechendes personales Korrelat die Idee einer „unendlichen und vollkommenden Geistesperson“ (GW II, 406) angenommen werden. An diesem mit dem Weltphänomen gegebenen formalen Gottesbewusstsein – das im Übrigen nicht mit einem Beweis, dass dieser Idee eine Wirklichkeit entspricht, zusammenfällt – hält Scheler auch noch in der Spätphase seines Denkens fest, (GW IX, 68) modifiziert diese Idee aber so, dass sie von den Implikationen eines personalistischen Theismus frei wird. „Gott“ steht zwar weiterhin für das absolute und konkrete geistige Aktkorrelat des Makrokosmos, aber er wird nun nicht mehr als ein sich selbständig vollziehendes personales Zentrum gedacht. (→ 5.9)
5.3 Seinsregionen oder Sphären des Soseins der Welt Scheler unterscheidet vier Weltregionen oder „Sphären des Soseins“, (GW XI, 103) die aufeinander irreduzibel sind und gegenüber dem jeweils in ihnen Erscheinenden vorgegeben sind: Innenwelt (Ich), Außenwelt (Natur), Umwelt (Sphäre des Leiblich-Lebendigen), Mitwelt (Du- und Wir-Sphäre). (GW VIII,
98 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik 374 f.; IX, 194) Hinzu kommt noch die mit der Welt gegebene, aber sie transzendierende Absolutsphäre (Sphäre des ens a se, d. h. dessen, was von sich her, also unbedingt, existiert), auf die sich das formale Gottesbewusstsein bezieht. Damit gibt es nach Scheler insgesamt fünf Seinsregionen, (GW XI, 105) durch welche die formalen ontologischen Kategorien (Seinsformen) sich spezifizieren. Zum Beispiel bedeutet „Substanzialität“ etwas Verschiedenes, je nach dem diese Kategorie auf Seele, Körper, Organismus oder auf das Absolute bezogen wird. Die Frage der Zugehörigkeit zu einer Sphäre ist von der Frage der Realität oder Idealität einer Gegebenheit zu unterscheiden. So sind etwa die fiktiven Gefühle einer Romanfigur genauso Teil der Innenweltsphäre wie die realen Gefühle eines wirklichen Menschen. (GW XI, 105) Was jedoch die Erfahrung der „Sphärenrealität“ (GW VIII, 374) betrifft, gibt es unbeschadet ihrer Irreduzibilität ein Fundierungsverhältnis zwischen den Sphären, die dem cartesianisch-neuzeitlichen Verständnis diametral entgegengesetzt ist: (1) Die Realität in der Absolutsphäre geht aller anderen Sphärenrealität voraus; (2) die Realität der sozialen Mitwelt geht der Natur und dem Ich voraus; (3) die Realität des Leiblich-Lebendigen geht der „toten“ Natur voraus; (4) die Realität der Außenwelt geht der Innenwelt voraus. Auf Basis dieser Unterscheidung verschiedener Seinssphären identifiziert Scheler eine Art Kategorienfehler, den er metaphysische Täuschung nennt. (GW XI, 106) Eine metaphysische Täuschung kommt zustande, wenn ein Gegenstand in eine Sphäre versetzt wird, der er nicht zugehört. Der klassische Fall besteht darin, dass ein endliches Gut (Besitz, Nation, die/der Geliebte usw.) in die Absolutsphäre versetzt und damit zum „Götzen“ (GW V, 261) wird.
5.4 Stufen der Daseinsrelativität der Welt Quer zu den Seinsregionen verlaufen die Stufen der Daseinsrelativität als ein weiteres Differenzierungsmoment in der Weltkonstitution. (GW IX, 196) „Daseinsrelativ“ existiert ein Seiendes, das zwar außerhalb des Bewusstseins existiert, aber in seinem Sosein von einem realen Träger des Wissens, d. h. von den realen Eigenschaften des jeweiligen existierenden Wissenssubjekts, abhängig ist. (GW XI, 109) Zum Beispiel gehört die Sonne als ein Gegenstand der Außenweltsphäre verschiedenen Stufen der Daseinsrelativität an und erscheint unter anderem daseinsrelativ auf Lebewesen auf der Erde als Umweltding „roter Sonnenball“ und daseinsrelativ auf Körper überhaupt, ohne besonderen Standort im Universum, als Inbegriff unserer astronomischen Erkenntnisse. (GW IX, 197) Dabei ist „daseinsrelativ“ nicht mit „bewusstseinsrelativ“ im Sinne einer rein epistemologischen Relation zu verwechseln. Denn „Wissen“ definiert Scheler als ein Seinsverhältnis, (GW VIII, 203) und zwar als eine auf einem intentionalen Akt beruhende Teilhabe eines Seienden am Sosein eines anderen Seienden,
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bei der dieses andere Seiende durch diese Teilhabe keinerlei Änderung erleidet. (GW IX, 188) Bei der Daseinsrelativität in Bezug auf einen realen Träger des Wissens handelt es sich folglich um eine ontologische Teilhabe-Beziehung. Eine Pointe Schelers besteht dabei darin, dass der Mensch bzw. das Bewusstsein nur ein besonderer Fall für einen solchen realen Träger des Wissens darstellt. Der entscheidende reale Träger von Wissen ist vielmehr das Lebewesen überhaupt, da von dieser generellen vitalen Stufe der Daseinsrelativität die Konstitution der naturwissenschaftlichen Gegenstandswelt abhängig ist, die im Rahmen des Herrschaftswissens stattfindet. (GW XI, 428) Mit der Theorie der Stufen der Daseinsrelativität zeichnen sich bei Scheler die Konturen einer relationalen Ontologie (eines ontischen Perspektivismus, GW IX, 200) ab, in der sich die Korrelationsbeziehungen vervielfältigen – da nicht nur der Mensch als Subjekt der Daseinsrelation in Frage kommt, sondern auch Tiere (GW XI, 109) –, in der jedoch die Korrelationsbeziehung nicht zu einer Relation zwischen beliebigen Seienden nivelliert und formalisiert wird, da als Subjekt der Daseinsrelation nur wissensfähige Akteure in Frage kommen. Des Wissens fähig sind für Scheler nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, da Scheler eine vorbewusste und nicht-reflexive Grundstufe des Wissens (ekstatisches Wissen als „einfaches Haben von Dingen, ohne Wissen des Habens“) vom selbstbewussten/reflexiven Wissen unterscheidet. (GW IX, 189) Angesichts der Theorie der Daseinsrelativität stellt sich allerdings die Frage, ob die oben (→ 5.2) zitierte Bestimmung der Absolutheit der Welt („absolutseiend“, GW II, 404) noch zu halten ist. Die Erscheinung der Welt ist nicht absolut, sondern sie ist vielmehr, wenn nicht daseinsrelativ in Bezug auf die unendliche geistige Person, so doch daseinsrelativ in Bezug auf den unendlichen Geist. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Theorie der Daseinsrelativität jede Möglichkeit von absolutem Sein ausschließt. Denn mit der Vorgegebenheit der Absolutsphäre wird gerade ein „auf nichts mehr daseinsrelatives Sein“, (GW XI, 105) die „absolute Seinsstufe“ (GW IX, 118) als Grenzfall der daseinsrelativen Stufen gedacht. In diesem Zusammenhang knüpft Scheler an Kant an, der von drei Schichten von Daseinsrelativitäten (subjektive Bewusstseinserscheinung – objektive Erscheinung – erscheinendes, aber unbestimmbares Ding an sich) ausgeht. Scheler wendet sich damit unter anderem gegen Husserls Streichung der Ding-an-sich-Sphäre. Laut Scheler geht es nicht darum, die Vielfalt von Daseinsrelativitäten zu reduzieren, wie dies in der Idealismus-RealismusDebatte geschieht (gemäß dieser Debatte wäre etwas entweder Bewusstseinserscheinung oder absolute Realität), sondern darum, die kantische Reihung der Daseinsrelativitäten erstens zu ent-subjektivieren (denn die Daseinsrelativitäten betreffen nicht allein subjektive Bewusstseinserscheinungen, sondern auch davon unterscheidbare objektive Erscheinungen) und zweitens „zu vervollständigen und zu ergänzen“. (GW XI, 108) Im Kontext der Theorie der Daseinsrela-
100 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik tivität definiert Scheler zudem eine zweite Art metaphysischer Täuschung, die dadurch zustande kommt, dass ein Gegenstand einer anderen Stufe zugeordnet wird, als er eigentlich angehört. Das Beispiel ist ein theoretischer Physiker, der sich trotz vollständiger mathematisch-physikalischer Naturerkenntnis in vollständiger metaphysischer Täuschung über seinen Gegenstand befinden kann, (GW IX, 199) und zwar dann, wenn er die vital-relative Konstitution des naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs im Modus des Herrschaftswissens unbeachtet lässt.
5.5 Voluntativer Realismus In der Realismus-Idealismus-Debatte wendet sich Scheler gegen eine Voraussetzung, die Bewusstseinsidealismus und kritischer Realismus teilen und die in der Verkennung der Trennbarkeit von Dasein (Realität) und Sosein (Wesen bzw. zufälliges Sosein) besteht. Denn beide Positionen behandeln die Frage der Bewusstseinsabhängigkeit oder -unabhängigkeit des Gegenstandes ohne Rücksicht auf diesen Unterschied. Der Bewusstseinsidealist geht von der richtigen Einsicht der Bewusstseinsimmanenz des Soseins aus und gelangt zum falschen Schluss, dass alles Dasein bewusstseinsabhängig sei. Der kritische Realist geht von der richtigen Einsicht der Bewusstseinsunabhängigkeit des Daseins aus und gelangt zum falschen Schluss, dass alles Sosein bewusstseinstranszendent ist. Im Gegensatz zu diesen beiden Positionen vertritt Scheler auf Basis seiner ontologischen Bestimmung des Wissens (→ 5.4) erstens, dass das Sosein des erkannten Gegenstandes in das Bewusstsein eingeht (wissensimmanent ist), zugleich aber transzendent bleibt (da es sich um ein Teilhabe-Verhältnis handelt), und zweitens, dass das Dasein des erkannten Gegenstandes wesensnotwendig wissenstranszendent bleibt. (GW IX, 186) In diesem Zusammenhang mahnt Scheler, dass man das Prädikat „bewusstseinsunabhängig“, mit dem das reale Sein charakterisiert wird, nicht überzogen als die Teilhabe des Wissens am Sosein ausschließend definieren sollte, sondern lediglich als ihr gegenüber gleichgültig. Denn das reale Sein hat keinen „Speer in der Hand“, mit dem es alle Erkenntnis von sich abwehrt. (GW IX, 203 f.) Wie Dasein trotz seiner Wissenstranszendenz gegeben sein kann, klärt sich für Scheler durch eine Phänomenologie der Realitätsgegebenheit, die ihn zur Position des voluntativen Realismus führt. (GW VIII, 372) Das wichtigste Resultat von Schelers Analyse ist, dass Realsein nicht im „Gegenstandsein“ (Soseinskorrelat), sondern im „Widerstandsein“ eines soseinsunbestimmten X besteht. (GW VIII, 363) Schelers „Widerstandstheorie der Realitätsgegebenheit“ (GW IX, 209) besagt genauer, dass uns Realität ursprünglich nicht, wie beispielsweise Husserl annimmt, in perzeptiven Akten gegeben ist, sondern auf der dynamisch-praktischen Ebene eines vorbewussten triebhaft-voluntativen
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Verhaltens angesiedelt ist, und zwar dann, wenn dieser Vollzug auf Widerstand stößt. (GW IX, 209) Die Realitätsgegebenheit ist somit vital-relativ, sie setzt ein triebhaftes Lebenszentrum voraus. (GW IX, 211) Die ursprüngliche Realitätsgegebenheit ist die u nvermittelte Erfahrung eines Widerstands, die in allen möglichen Seinsregionen, nicht nur in der Außenweltsphäre, gemacht werden kann. (GW IX, 215) In diesem Zusammenhang setzt sich Scheler in einem Fragment – dem zu Lebzeiten unveröffentlichten fünften Teil von Idealismus – Realismus (GW IX, 254–293) – ausführlich mit Heideggers Sein und Zeit auseinander. Er geht aus von Heideggers Einwand, dass der voluntative Realismus die existenzialanalytischen Fundamente der Erfahrung von Widerständigkeit (also menschliches Dasein als „In-der-Welt-sein“ und dessen Struktur der „Sorge“) unbedacht lasse. (GA 2, 278) In seiner Replik bezweifelt Scheler, dass es eine solche „einfache positive Urstruktur des Seins“ (GW IX, 275) gibt, wie sie Heidegger unter dem Titel der „Sorge“ anvisiert. (→ 6.4) Für Scheler scheitert Heideggers Versuch, eine spezifische Seinsweise des menschlichen Daseins als Schlüssel zu allen Seinsfragen plausibel zu machen. Stattdessen ist für Scheler das menschliche Dasein die mikrokosmische „Totalität aller Seinsweisen überhaupt“, (GW IX, 276) weshalb die klassischen ontologischen Begriffe und Unterscheidungen („Leben“, „Leib“, „Geist“, „Person“, etc.) im Prinzip ihren Sinn und ihr Recht behalten: „das bisherige Verfahren [ist] das rechte“. (GW IX, 276; → 5.11) Scheler diagnostiziert, dass Heideggers Gedanke der Welterschlossenheit seinerseits keine Erklärung des Realseins enthält und mit der Angst letztlich auf ein Vitalgefühl rekurriert, das das Realitätserlebnis des Widerstandes voraussetzt. (GW IX, 271) Überdies ordne Heideggers Daseinsanalytik in ihrer uneingestandenen lebensphilosophischen Schlagseite alle Phänomene der Seinsart „des sich selbst erlebenden Lebens“ (GW IX, 282) unter, weshalb ihr ein Verständnis für das Eigensein des Geistes abgehe. In der Auseinandersetzung mit Heidegger wird insgesamt deutlich, dass Schelers voluntativer Realismus nicht eine zirkelhafte ontische Erklärung des Realseins durch Rekurs auf den Widerstand von etwas Realem beinhaltet – diese dem kritischen Realismus zugeschriebene Erklärungsstrategie bezeichnet Scheler selbst als „lächerlich“ (GW IX, 267) –, sondern auf eine Ontologie des „Widerstands der Welt“ (GW IX, 278) als der „Sphäre möglichen Widerstandes“ (GW IX, 271) abzielt, die an Heideggers Bestimmung des menschlichen Daseins als „In-der-Welt-sein“ kritisch, aber auch produktiv anknüpft. Denn auf dieser Grundlage wird klarer, dass die Widerstandstheorie der Realitätsgegebenheit weder die Realität des Widerständigen noch die Realität des Subjekts des Widerstandserlebnisses voraussetzt. Das vom voluntativem Realismus erklärte Realsein als eine spezifische Art gegenstandsfähigen Seins ist nur eine Seinsart unter anderen.
102 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik
5.6 Vitale Subjektivität und geistige Personalität Schelers voluntativer Realismus führt zu einer Theorie der vitalen Subjektivität, die eine genetische Erklärung des Bewusstseins beinhaltet. Denn weder ist die ursprüngliche Realitätsgegebenheit bewusstseinsimmanent noch ist das Triebleben, das mit der Realitätsgegebenheit korreliert, ursprünglich ein Triebbewusstsein: Nicht ein Triebbewußtsein führt zum erlebten Widerstande, oder ein Hemmungsbewußtsein des gehemmten Triebimpulses, sondern der primär ekstatisch erlebte Widerstand ist es, der den actus der Re-flexio erst herbeiführt, durch den der Triebimpuls erst bewußtseinsfähig wird. Das Bewußtwerden (und der mit ihm verknüpfte Ich-Bezug) ist […] immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstands der Welt. (GW IX, 214)
Das ursprüngliche Subjekt der Realitätsgegebenheit ist weder Bewusstsein noch Geist oder Person, sondern Trieb und Drang. Zu beachten ist allerdings, dass Scheler unter „Bewusstsein“ hier immer ein höherstufiges reflexives Bewusstsein versteht (wobei „Reflexion“ die perzeptive Rückmeldung an ein Zentrum ist), dass aber das ekstatische Erlebnis des Widerstands, von dem Scheler spricht, ein minimales präreflexives Bewusstsein impliziert, für das bei Scheler die Ausdrücke „Fürsichsein“ und „Innesein“ stehen. (GW VIII, 337; IX, 13) Das Innesein ist nicht perzeptiv (durch innere Wahrnehmung), sondern durch Dranggefühl konstituiert und bildet das psychische Urphänomen des Lebens. Dies schließt ein, dass allem Lebendigen (also zum Beispiel auch Pflanzen) ein minimales präreflexives Bewusstsein zuzuschreiben ist. Dem Drang schreibt Scheler zudem eine ursprüngliche, d. h. nicht von Wahrnehmungstätigkeit abhängige, Phantasietätigkeit zu. Sie ist „die ursprünglichste, spontane, durch Triebe in Atem gehaltene Perzeptionstätigkeit der Vitalseele“. (GW VIII, 346) Diese Drangphantasie ist ein wichtiger Ausgangspunkt für Schelers Ontologie der Außenweltsphäre. (→ 5.8) Für das Leib-Seele-Problem ergibt sich aus der ursprünglichen Stellung des vitalen Subjekts ein psychophysischer Parallelismus, der allerdings nicht in einem neutralen, sondern in einem vitalistischen Monismus gründet: Das Leben des jeweiligen Lebewesens (unter anderem des Menschen) ist ein psychophysisch indifferenter Prozess, der parallel in zwei verschiedenen „Korridoren“ (GW IX, 60) verläuft, dem psychischen Korridor des Inneseins eines Drangs und dem physischen Korridor des Ausdrucks in spontaner Bewegung (Selbstbewegung). (GW VIII, 334) Diese Beschreibung hat eine vitalistische Schlagseite dadurch, dass nicht nur die psychische, sondern auch die physiologische Seite des Lebensprozesses sich einer mechanistischen Erklärung prinzipiell entzieht. (GW IX, 58) Über seinen psychophysischen Parallelismus und vitalistischen Monismus hinaus vertritt Scheler jedoch auch eine (nicht substanzdualistisch zu verstehende) Dualität von Leben und Geist. Die Phänomenbasis für diese Dualität
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liegt darin, dass die Sinnbestände und Gesetzlichkeiten des Geistes nicht von den Lebensprozessen ableitbar sind. (GW IX, 65) Hilfreich für die Explikation dieser Dualität scheint weniger der Rekurs auf Nicolai Hartmanns Theorie von kategorialen Gesetzen verschiedener ontologischer Schichten, (Wunsch 2011) sondern mehr der Hinweis, dass Scheler eine spinozistische Theorie der Attribute vertritt. Leben und Geist sind die beiden „Tätigkeitsattribute“, (GW IX, 81) d. h. die beiden Elemente oder Medien, in denen sich der Mensch vollzieht. Im attributionstheoretischen Kontext hat sowohl der Geist als auch das Leben als „übersingulär“ zu gelten, d. h. als etwas, das nicht einfach nur als abstraktes Prinzip der Erklärung fungiert, sondern eine konkrete Totalität (als medial verstandenes Attribut: All-Geist bzw. All-Leben) bildet, die aber nicht für sich als eine existiert und in diesem Sinne über-singulär ist. Der Mensch hat als „übervitales“ (GW VIII, 335) weltoffenes Lebewesen Anteil nicht nur am Leben, sondern auch am Geist, von woher er sich als Person, d. h. als Sammlung oder Konzentration von geistigen Akten, vollziehen kann. (GW IX, 39) Parallel dazu gibt es auf vitaler Seite beim Menschen einen unerfüllbaren „Triebphantasieüberschuss“ (GW IX, 224) – Scheler nennt ihn auch „die Leere des Herzens“ (GW IX, 37) –, der die Motivationsbasis für die geistige Öffnung dieses Lebewesens bildet.
5.7 Raum und Zeit In der Beschreibung von Raum und Zeit knüpft Scheler an Kants Lehre der Formen der Anschauung an. Die Erfahrung von Raum und Zeit als Leerformen beruht jedoch nach Scheler auf dem „Leerphänomen“ des ungestillten Triebhungers und somit auf der Leere des Herzens, die allein ein geistiges Wesen verspürt. (GW IX, 37; 219) Die im Anschluss an Kant konzipierte Raum- und Zeiterfahrung ist somit daseinsrelativ auf den Menschen. Der Raum als Form der Außenweltsphäre ist nicht real, da er nicht wirkfähig im Sinne der Widerstandstheorie ist. (GW IX, 194; 215) Die Erfahrung von Raum und Zeit als Leerformen ist jedoch nicht die ursprüngliche Erfahrung von Raum und Zeit. In einer genetischen Betrachtung führt Scheler Raum und Zeit daher auf die Urerlebnisse von Räumlichkeit und Zeitlichkeit auf der vitalen Ebene des Trieblebens zurück. Räumlichkeit ist „gleichzeitiges Auseinander-Sein“; (GW IX, 216) Zeitlichkeit ist „Auseinandersein des Werdeseins, d. h. des Überganges vom Sosein in Dasein, ferner von Sosein in Anderssein“. (GW IX, 227) Diese beiden Urerlebnisse sieht er in den Urphänomenen des Wechsels, der Bewegung und der Veränderung verankert. „Wechsel“ ist das Raum und Zeit zugrundeliegende Grundphänomen eines Auseinanders, das noch nicht in ein zeithaftes Nacheinander und ein raumhaftes Nebeneinander geschieden ist. Wird ein Wechsel als umkehrbar erfahren, dann wird der Wechsel raumhaft als „Bewegung“ interpretiert. Wird ein Wechsel als
104 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik unumkehrbar erfahren, wird ein Wechsel zeithaft als „Veränderung“ interpretiert. Das Urerlebnis der Räumlichkeit bzw. der Zeitlichkeit besteht dann im vitalen Erlebnis der Macht, sich auf Basis des Trieblebens selbst bewegen bzw. selbst verändern zu können. (GW IX, 221; 227) Diese Urerlebnisse der Räumlichkeit und Zeitlichkeit gehen der Realitätsgegebenheit insofern voraus, als sie bereits mit dem „Könnenserlebnis eines Lebewesens“, nicht erst mit der Erfahrung eines Widerstands gegeben sind. Erst die Objektivationen von Raum und Zeit sind durch die Erfahrung des Widerstands vermittelt. Auf dieser Basis wendet Scheler gegen Kants Lehre von den Anschauungsformen ein, dass Räumlichkeit und Zeitlichkeit primär nicht perzeptive Gebilde sind, sondern in einer praktischen Dynamik „erspielt“ werden. (GW IX, 218) Raum und Zeit sind somit „daseinsrelativ auf das Lebewesen im Menschen“, (GW IX, 225) nicht aber bewusstseins-, anschauungs- oder erkenntnisrelativ. Die in dieser Analyse gemachte Einschränkung auf das menschliche Leben darf wegfallen, wenn sich die Annahme eines übersingulären All-Lebens, das sich in der absoluten vitalen Zeit eines „organismusartigen“ (GW IX, 227; 235) Werdens der Welt entfaltet, metaphysisch rechtfertigen lässt, wie es Scheler in der Tat annimmt. (→ 5.11) Erst aus ihrem Bezug zum Leben ergibt sich auch der maßgebliche Unterschied zwischen Raum und Zeit: Während der (immer relative) Raum daseinsrelativ auf Leben ist, ist die (absolute) Zeit die Werdeform des Lebens selbst. (GW IX, 236)
5.8 Ontologie der Außenweltsphäre Eine zentrale Stellung in Schelers Ontologie der Außenweltsphäre hat seine Theorie des Körperdings als wahrnehmbares Bild, das „vital seinsrelativ“ nicht auf das menschliche Bewusstsein, sondern auf das All-Leben ist. (GW VIII, 269) Körperdinge als „Bilder“ sind nicht phänomenale Wahrnehmungsinhalte oder Bewusstseinsphänomene, sondern transbewusste objektive und ideale Erscheinungen (die soseinsbestimmt sind: Gestalt und Qualität haben), denen die dynamische Gegebenheit von Kraftzentren (Physik), Vitalzentren (Biologie) und Personzentren (Anthropologie) zugrunde liegt. (GW VIII, 359) Die Bildproduktion führt Scheler auf die Vitalzentren, und zwar auf die produktive Einbildungskraft der Drang- und Triebphantasie des All-Lebens zurück. Sie ist die „Urform des perzipierenden Lebens selbst“, die der Unterscheidung von Wahrnehmung und (bloßer) Vorstellung vorausliegt. Wahrnehmung beruht somit nicht auf der Assoziation von Sinnesdaten, sondern auf der Dissoziation der durch die Triebphantasie vorgegebenen Bildgestalten in eine Reihe von Aspekten, die den Triebstrukturen des jeweiligen Lebewesens entsprechen. (GW VIII, 313) Die vitale Daseinsrelativität der Körperbilder hat zur Folge, dass Scheler eine deterministische Deutung des Naturzusammenhangs der Bilder ablehnt: Die formal-mechanische Gesetzlichkeit ist nur eine neben anderen Gesetzlich-
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keiten des kausalen Wirkens; sie gilt nur daseinsrelativ auf Lebewesen und hat daher „keinerlei Gültigkeit für den Lebensprozeß selber“. (GW IX, 241) In einem vollen und konkreten Verständnis ist Natur das „Ausdrucksfeld des bilderschaffenden Allebens“, (GW VIII, 274) in dem nicht nur verschiedene Gesetzlichkeiten, sondern auch Freiheitsgrade der Natur zum Vorschein kommen. (GW VIII, 277) Scheler vertritt somit eine organizistische Naturmetaphysik. (GW VIII, 377) Mit ihr ist eine vitalistische Ursprungsklärung von Kausalität verknüpft: Das Urphänomen des Kausalen liegt nicht in der Handlungsmacht einer geistigen Person, sondern „in der Auswirkung des Vitalzentrums eines Lebewesens auf die Umwelt“. (GW IX, 237) Es ist also die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, die ein Lebewesen in seiner ekstatischen (d. h. ohne reflexive Ichbeziehung stattfindenden) Triebhandlung macht, die die Grundlage für die ontologische Kategorie der Kausalität bildet.
5.9 Vom personalistischen Theismus zum Panentheismus des werdenden Gottes Was „Metaphysik“ im engeren Sinne betrifft, die Bestimmung des göttlichen Weltgrundes, d. h. des ens a se der Absolutsphäre, vertritt Scheler in seiner Frühzeit einen personalistischen Theismus und in seiner Spätzeit eine Form von Panentheismus („Panentheismus des werdenden Gottes“, Henckmann 1998, 226), der sich sowohl von pantheistischen als auch von zeitgenössischen panentheistischen Vorstellungen kritisch abhebt. In seiner theistischen Religionsphilosophie von 1921 (GW V, 101–354) geht Scheler noch von der Möglichkeit einer natürlichen Offenbarung als besonderer Gegebenheitsweise des Göttlichen in genuin religiösen Akten aus, auf deren Basis eine Phänomenologie der Offenbarung konzipiert werden kann, die Scheler zu diesem Zeitpunkt von einer rationalistisch schlussfolgernden „Metaphysik“ noch streng unterschieden wissen möchte. Das Göttliche erscheint als „Urgegebenes“, (GW V, 252) als sich selbst Mitteilendes, (GW V, 143) das die Absolutsphäre allererst eröffnet, denn es ist „die wirksame Ursache des Vollzugs dieser Aktbewegung selbst“. (GW V, 277) Entsprechend formuliert Scheler den Grundsatz religiöser Erkenntnis: „Alles Wissen über Gott ist Wissen durch Gott.“ (GW V, 245) Noetisch ist der religiöse Akt daher essentiell dadurch charakterisiert, dass er sich als rezeptiv-responsiver Erfahrungsakt versteht. (GW V, 248) Noematisch sind es drei „formale“ Attribute, die für das Göttliche gegenstandskonstitutiv sind: (1) Es existiert von sich her, also unbedingt (ens a se); (2) es ist „allwirksam“, also allmächtig; (3) und es ist in einem höchsten Sinne wertvoll, also heilig (summum bonum). (GW V, 169) Darüber hinaus schreibt Scheler dem Göttlichen aber auch die weiteren klassischen theistischen Attribute wie Personalität, Allgüte und Allwissenheit zu. (GW V, 172; 190)
106 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik Nach 1922 kommt Scheler sowohl vom theistischen Inhalt als auch von der phänomenologischen Methode dieser Gotteslehre ab. Inhaltlich gelangt er nun dazu, dem göttlichen Weltgrund zwei „gegenstandsunfähige“ (d. h. nur im Vollzug gegebene) Hauptattribute zuzuschreiben, die sich in einer Grundspannung befinden und auf charakteristische Weise von der theistischen Sicht abweichen: (1) den „gotthaften“ Drang des All-Lebens, den Scheler – mit einem Anklang an Schellings Freiheitsschrift – als die weltschöpferische (d. h. in Drangphantasie bilderproduzierende) „dämonische“ Natur in Gott (natura naturans) versteht; (GW IX, 55) (2) den Geist, den Scheler als die Göttlichkeit in Gott (deitas) versteht. Der Geist ist im Gegensatz zur theistischen Sicht ursprünglich ohnmächtig, d. h. er hat „keine ursprüngliche Eigenenergie“ (GW IX, 46) und kann den aus dem Drang hervorquellenden Weltprozess nur durch hemmende/enthemmende Vorstellungsregulation und Vorhalten von Ideen in die Richtung einer kosmischen Sublimierung und einer gegenseitigen Durchdringung (einer Vergeistigung des Dranges bzw. einer Verlebendigung des Geistes) lenken und leiten. (GW IX, 49; 54) Der späte Scheler kennt also wie der späte Husserl (→ 1.14) eine Teleologie des Weltprozesses, insofern die vom Geist vorgegebene Ideenordnung dem Drang als Zielvorstellung vorgehalten wird. Im Gegensatz zu Husserl denkt Scheler diesen teleologischen Sinn der Weltgeschichte jedoch nicht als durch die Vernunft realisiert. Der realisierende Faktor des weltgeschichtlichen Prozesses bleibt stets der unberechenbare Drang, weshalb die Weltgeschichte auch vor den Einseitigkeiten einer Hyper-Sublimierung bzw. umgekehrt einer übermäßigen De-Sublimierung nicht gefeit ist. (GW IX, 155) Der Ausgang des Weltprozesses bleibt sinnoffen und ist von der radikalen Verantwortung des Menschen (als zentralem Akteur des weltgeschichtlichen Prozesses) abhängig. Scheler spricht bevorzugt von „teleoklin“ (gr. klínein, „sich neigen“) statt von „teleologisch“, wenn er die spezifische Zielgerichtetheit von Lebensprozessen meint, in denen das im Drang erstrebte Ziel der Bewegung nicht durch eine perzeptive Vorstellung antizipiert ist. (GW IX, 58; XI, 182) Auch die Ideenordnung des Geistes muss sich von daher in die Teleoklinie des Lebensprozesses integrieren, um etwas zu bewirken. Ein weiterer Unterschied zu Husserl besteht überdies darin, dass sich Scheler nicht mit einer eurozentrisch verengten Perspektive begnügt. Der Ausgleich, der weltgeschichtlich aufgegeben ist, ist nicht nur der zwischen Geist und Drang, sondern auch der zwischen westlichem und östlichem Geist, er hat also auch eine interkulturelle Komponente. (GW IX, 159) Der All-Geist ist für sich genommen nicht-personal, da es keine personale Konzentration des göttlichen Geistes unabhängig von den Personzentren der endlichen geistigen Lebewesen (menschlicher Individuen) gibt. Eine andere Interpretation in diesem Punkt vertritt Cusinato, (2012, 85 f.) demgemäß Scheler auch in seiner späten Metaphysik implizit am Personbegriff für den übersingulären Geist festhalte. Der Mensch steht dank seiner „Doppelteilhabe“ (GW XI, 90)
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an beiden göttlichen Attributen jedenfalls in der kosmischen Verantwortung, durch seinen Mitvollzug den Ausgleich zwischen den beiden Attributen herbeizuführen und damit die Welt zu deifizieren. Der neue Grundsatz metaphysischer Erkenntnis enthält demgemäß gegenüber dem früheren Grundsatz religiöser Erkenntnis eine vollständige Umkehrung des Verantwortungsverhältnisses: Alles Wissen ist letztlich Wissen über die Gottheit und für die Gottheit (GW IX, 119) – also nicht mehr Wissen durch die Gottheit (in Form der natürlichen Offenbarung). Darin wird Schelers Abkehr von der Möglichkeit einer phänomenologischen Gotteslehre sichtbar: Gott wird nicht als sich interpersonal offenbarende Urgegebenheit gegenwärtig, sondern nur im persönlichen Einsatz für Gott, im tätigen Mitvollzug der Gottwerdung. (GW IX, 83) Methodisch kommt Scheler am Ende seines Denkweges somit zur Überzeugung, dass das Göttliche kein Urphänomen ist und nur in einem bestimmten praktischen Vollzug des Menschen mitgegeben ist. Die Erkenntnis des Göttlichen als Geist und Drang muss daher auf einer nicht-phänomenologischen Methode beruhen. (→ 5.11)
5.10 Die doppelte Begründungsfunktion der Phänomenologie für die Ontologie Die Abkehr von einer Phänomenologie der Offenbarung bedeutet jedoch nicht, dass die Phänomenologie in Schelers Spätwerk ohne Funktion bliebe. Die Phänomenologie taucht in zweifacher Gestalt auf. Zunächst in der Gestalt dessen, was Scheler „phänomenologische Reduktion“ nennt, wobei es sich um eine (von Husserls Verständnis im Detail abweichende) eidetische Reduktion handelt: die Entwirklichung der Bilderwelt, um in ihr die geistigen Wesenheiten (Urphänomene, Ideen) zu erschließen. (GW VIII, 362) Die phänomenologische Epoché führt demnach zur Verwesentlichung der Welt, die mit einem Verlust der voluntativ gegebenen Realsphäre einhergeht. (GW XI, 94 f.) Im Unterschied zu Husserl ist die Epoché für Scheler daher nicht allein eine Methode der Urteilsenthaltung, sondern vor allem eine technê der Aufhebung des Realitätsmoments. Scheler wendet sich auch gegen Husserls idealistisch-erkenntnistheoretische Deutung des Sinns der eidetischen Reduktion: Aus dem Vollzug der Reduktion folgt nicht die idealistische These, dass die ideale Wesenswelt nur bewusstseinsimmanent wäre. (GW IX, 208) Vielmehr führt die Reduktion zu absolutem Sosein, indem sie mehrere Schichten von Daseinsrelativitäten (darunter auch den Bezug auf das Ego) auflöst. (GW XI, 99 f.) Die Wesensontologie ist zudem ein „Fenster ins Absolute“, d. h. sie enthält Bestimmungen, die auch für die Metaphysik des Göttlichen gelten. (GW IX, 80) Die eidetische Reduktion hat also primär einen ontologischen und metaphysischen Sinn und erst sekundär, bei stufenweiser Aufhebung der Reduktion, eine erkenntnistheoretische Bedeutung. (GW X, 396) Sie verschafft dem Menschen die vollzugsmäßige Teilhabe an der
108 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik geistigen „Wesensstruktur der Welt“ (GW IX, 247) und hat somit die zentrale Begründungsfunktion für Schelers wesensontologische Aussagen. Scheler kritisiert an Husserl ferner, dass dessen Deutung der Wesensschau zu sehr am Modell der Wahrnehmung orientiert sei und daher den produktiven Charakter dieses Schauens als eines wesenschaffenden Erschauens verkenne. (GW XI, 256) In diesem Sinne diagnostiziert er bei Husserl einen problematischen Intuitivismus. (GW XI, 85) Das primäre Ziel der phänomenologischen Reduktion, wie Scheler sie versteht, ist es, Urphänomene zu entdecken. Urphänomene sind solche Phänomene, die nie beobachtet, sondern nur erschaut werden können, da der Anschauungsgehalt des Urphänomens (z. B. des Urphänomens des Lebendigen: der alles Leben kennzeichnende Drang, der sich Ausdruck verschafft in Selbstbewegung) in der Beobachtung eines soseienden Gegenstandes schon vorausgesetzt ist. (GW XI, 87) Das nicht symbolisch vermittelbare Einleuchten von Urphänomenen (ihre Evidenz durch Selbstgebung) kann nicht andemonstriert werden. Ein Kriterium für ein echtes Urphänomen besteht darin, dass jeder Versuch es zu definieren in einen Zirkel gerät und also scheitern muss, da das Urphänomen allen einschlägigen Begriffen eines Sachgebiets zugrunde liegt. (GW IX, 246) Die wesensontologische Begründung ist nicht die einzige Gestalt, in der die Phänomenologie bei Scheler eine Begründungsfunktion erhält. Dass Schelers Verständnis der Phänomenologie de facto über die eidetische Reduktion hinausgeht, wird darin ersichtlich, dass Scheler nicht nur von wesensontologischen Evidenzen, sondern, wie gesehen, auch von einer Phänomenologie der ursprünglichen Realitätsgegebenheit spricht und diese mit Überlegungen anreichert, die der Problemdimension, die man anknüpfend an Husserl als Problemdimension der „genetischen Phänomenologie“ (des Bewusstseins, des Raumes und der Zeit usw.) bezeichnen kann, zuzurechnen sind. Die Rede von einer „Phänomenologie“ der Realitätsgegebenheit muss man in diesem Kontext wohl so interpretieren: Die Gegebenheit des Realen im Widerstandserlebnis ist eine Grenzerfahrung, die es erlaubt, das Realitätsmoment als unanschauliches Grenzphänomen in die Reichweite phänomenologischer Analyse zu rücken. Zudem impliziert dies, dass die Phänomenologie nicht auf die Sphäre des (korrelationalen) Sinns begrenzt ist, insofern das als Grenze meiner vitalen Tätigkeit erfahrbare Reale der Nicht-Sinn par excellence ist. Der zentrale methodische Baustein, um diesen nicht-eidetischen Zug in Schelers phänomenologischem Vorgehen zu verstehen, ist das, was er in einigen Schriften als dionysischen Weg (GW IX, 83) und in nachgelassenen Überlegungen als dionysische Reduktion bezeichnet. (GW XI, 251) Sie ist das Komplement der eidetischen Reduktion. Während die eidetische Reduktion die Teilhabe an den Wesenheiten des Geistes eröffnet, eröffnet die dionysische Reduktion die Teilhabe an der Drangphantasie des All-Lebens. Die „dionysische Hingabe in Einsfühlung und Einswerdung mit dem Drange“ (GW VIII, 362) ist neben der
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Verwesentlichung die andere Richtung, die die Entwirklichung der Bilderwelt einschlagen muss, um zu einer vollständigen phänomenologischen Erkenntnis zu gelangen. Auf dem (impliziten) Vollzug dieser zweiten Reduktion scheinen alle in Schelers voluntativem Realismus beanspruchten Einsichten in Realitätsgegebenheiten zu beruhen. Zugleich eröffnet sich mit der Diskrepanz zwischen triebhaftem, vorbewusstem, bildergenerierendem Dasein und geistigem, wahrnehmbarem Sosein das Problemfeld einer spezifisch genetischen Phänomenologie: die Rekonstruktion der Genese der Phänomene der Wirklichkeit (Bewusstsein, Wahrnehmung, Raum und Zeit etc.) aus den beiden phänomenologischen Quellen – dem erlebenden Drang und dem erschauenden Geist.
5.11 Die zwei Stufen der Metaphysik und ihre Methode Methodologisch unterscheidet Scheler zwei Stufen der Metaphysik. Auf der ersten Stufe („Metaphysik erster Ordnung“) geht es um die „Grenzprobleme“ positiver Wissenschaften (z. B. die Frage „Was ist Materie?“ für die Physik, oder die Frage „Was ist Leben?“ für die Biologie), die Scheler in den sogenannten Metaszienzien (z. B. Meta-Physik, Meta-Biologie) behandelt. (GW XI, 125–184) Erst auf der zweiten Stufe („Metaphysik zweiter Ordnung“) geht es um die Bestimmung des Absoluten (ens a se) als des Weltgrundes. Die Metaszienzien verfahren phänomenologisch, indem sie die materialen Grundbegriffe der positiven Wissenschaften auf Urphänomene zurückführen. Auf dieser Basis wird zum Beispiel die Methode hinter den meta-biologischen Grundaussagen, die Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos (GW IX, 7–71) präsentiert, verständlich. Scheler geht vom Drang als dem psychischen Moment des Urphänomens des Lebendigen aus. In der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Stand der biologischen Forschung gelangt er zu einer Ausdifferenzierung dieses Urphänomens in verschiedene Wesensstufen (Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, praktische Intelligenz), die der empirischen Verhaltensanalyse von Pflanzen und Tieren zugrunde zu legen sind. Parallel dazu entwickelt Scheler in den philosophisch-anthropologischen Ausführungen des genannten Werks einige zentrale Aspekte des Geistes (Weltoffenheit, Sachlichkeit, Ideierung, u. a.) als dem Urphänomen des Menschlichen. Das philosophisch-anthropologische Hauptergebnis ist jedoch, dass sich im Menschen die beiden Urphänomene Drang und Geist kreuzen. (GW IX, 70) Für sich genommen führen solche Überlegungen noch nicht zu einer Bestimmung der Attribute des Absoluten, da das Absolute nicht als Urphänomen, sondern nur als Idee der Absolutsphäre gegeben ist, deren Näherbestimmung der Spekulation (als „Nacherzeugung der Wesenheit“, GW XI, 90) obliegt. Der Sprung auf die zweite Stufe der Metaphysik, der Bestimmung des Absoluten, geschieht daher erst durch einen transzendentalen Schluss, (GW IX, 82) d. h. per
110 5. Max Scheler – Phänomenologie und Metaphysik „Rückverlängerung“ der in der menschlichen Selbsterfahrung gegebenen Urphänomene auf die Idee des Urgrundes. Eine Theorie des Absoluten ist daher nur mit Blick auf den Menschen zu entwickeln: „Die metaphysische Anthropologie ist der Mittelpunkt der Metaszienzien.“ (GW XI, 53) Die Bestimmung der beiden göttlichen Attribute auf der Basis der am Menschen gewonnenen Urphänomene ist also in methodischer Hinsicht ein Akt der Meta-Anthropologie oder Metanthropologie, wie Scheler sagt. (GW IX, 83) Der Mensch ist sowohl Mikrokosmos („der Mensch faßt alle Wesensstufen des Daseins überhaupt, insbesondere des Lebens in sich zusammen“, GW IX, 54) als auch Mikrotheos (im Menschen konzentriert sich der Geist und begegnet dem Drang). Als solcher eignet er sich für eine spekulative Erweiterung der Resultate der phänomenologischen Analyse im Sinne der oben angeführten panentheistischen Lehre. Zudem ergibt sich aus der anthropologischen Erfahrungsbasis, dass die Metaphysik primär nicht Gegenstandsmetaphysik, sondern Aktmetaphysik sein muss. (GW IX, 83) Denn aus dem Umstand, dass die Urphänomene Drang und Geist Vollzüge sind, folgt, dass auch die beiden dem Göttlichen zuzuschreibenden gleichnamigen (Tätigkeits-)Attribute nur im teilnehmenden Mitvollzug adäquat gegeben sind.
5.12 Schelers phänomenologische Metaphysik? Scheler wird gelegentlich beschieden, ein eher unsystematischer Denker zu sein, der Husserls phänomenologische Reduktion nicht richtig verstanden habe und sich bei Methodenfragen nicht lange aufhalte. (Zahavi 2010, 175; 186) Im Gegensatz dazu ist festzuhalten, dass Scheler in den letzten Jahren bis zu seinem vorzeitigen Tod intensiv an einer systematischen Gesamtschau der Philosophie arbeitete, in der eine mehrfach angekündigte, aber zu Lebzeiten nicht publizierte „Metaphysik“ – die von seiner vormaligen metaphysischen Grundüberzeugung eines personalistischen Theismus deutlich abweicht – im Zentrum stehen sollte. In diesem Zusammenhang hat sich Scheler auch wiederholt Methodenfragen und dabei insbesondere der Klärung des Sinns und der Funktion der phänomenologischen Reduktion gewidmet. Diese Elemente von Schelers Denken, die sich aus einigen nach 1921 publizierten Texten (insbesondere GW IX; GW VIII) und nachgelassenen Manuskripten (insbesondere GW XI) näher erschließen lassen, sind bisher kaum ausführlich untersucht und in einem größeren systematischen Zusammenhang ausreichend gewürdigt worden. Wie gesehen, steht vor allem die Auffassung, dass Schelers späte Arbeiten mit einer Abkehr von der Phänomenologie Hand in Hand gehen, zur Revision an. Max Scheler Geboren 1874 in eine jüdische Familie in München, gestorben 1928 in Frankfurt. Studium der Medizin, der Psychologie und der Philosophie in München
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und Berlin. Promotion bei Rudolf Eucken in Jena. 1899 Habilitation an der Universität Jena und Konversion zum Katholizismus. 1902 erste Begegnung mit E. Husserl. Ab 1906 Umhabilitation an die Universität München und enge Kontakte zum Münchener und Göttinger PhänomenologInnenkreis. Ab 1910 freier Schriftsteller, nachdem er wegen einer öffentlichen Skandalisierung seines unbürgerlichen Lebenswandels die Stelle an der Universität verliert. Ab 1913 Mitherausgeber von Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. In der Zeit des Ersten Weltkrieges und in den ersten Aufbaujahren ist Scheler eine zentrale Figur unter den politisch engagierten katholischen Intellektuellen. 1919 Rückkehr an die Universität als Professor für Philosophie in Köln. Im Wintersemester 1920/21 erste Vorlesung über Metaphysik. 1924 öffentliche Distanzierung von der katholischen Kirche. 1928 Berufung zum Professor für Philosophie und Soziologie an die Universität Frankfurt.
Literatur Scheler, Max (1954–85 bzw. 1985–97), Gesammelte Werke I–XV, hg. v. Maria Scheler (bis 1969) bzw. Manfred S. Frings, Bern/München bzw. Bonn. Cusinato, Guido (2012), Person und Selbsttranszendenz. Ekstase und Epoché des Ego als Individuationsprozesse bei Schelling und Scheler, Würzburg. Fries, Heinrich (1949), Die katholische Religionsphilosophie der Gegenwart, Heidelberg. Frings, Manfred S. (1997), The Mind of Max Scheler. The First Comprehensive Guide Based on the Complete Works, Milwaukee. Gaitsch, Peter (2018), „Vom Bedürfnis zu glauben zum religiösen Grundakt. Eine ‚schwache‘ Wesensanalyse des postsäkularen religiösen Bewusstseins“, Cahiers d’Études Germaniques 74, 25–35. Henckmann, Wolfhart (1998), Max Scheler, München. Sandmeyer, Robert (2012), „Life and Spirit in Max Scheler’s Philosophy“, Philosophy Compass 7/1, 23–32. Sepp, Hans Rainer (2003), „Max Scheler“, in: Kühn, Rolf/Staudigl, Michael (Hg.), Epoché und Reduktion. Formen und Praxis der Reduktion in der Phänomenologie, Würzburg, 243–248. Wunsch, Matthias (2011): „Zur Standardkritik an Max Schelers Anthropologie und ihren Grenzen. Ein Plädoyer für Nicolai Hartmanns Kategorienlehre.“ XXII. Deutscher Kongress für Philosophie 11.–15.09.2011, München, DOI: https://doi.org/10.5282/ ubm/epub.12502 (13.5.2019). Zaborowski, Holger (2003), „Jenseits von Scholastik und Moderne. Anmerkungen zu Max Schelers Phänomenologie der Religion“, Jahrbuch für Religionsphilosophie 2, 221–254. Zahavi, Dan (2010), „Max Scheler“, in: Ansell-Pearson, Keith/Schrift, Alan D. (Hg.), The History of Continental Philosophy 3: The New Century. Bergsonism, Phenomenology and Responses to Modern Science, Chicago, IL 171–186.
6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein Rico Gutschmidt/Stefan W. Schmidt
Heideggers Philosophie setzt sich immer wieder mit klassischen Fragen der Metaphysik auseinander, versteht sich aber, abgesehen von einer kurzen Phase Ende der 1920er Jahre, selbst nicht als Metaphysik. Sie lässt sich vielmehr als ein nicht endender Denkvollzug beschreiben, der sich an metaphysischen Problemen, allen voran der Frage nach dem Sein, abarbeitet, dabei aber kein metaphysisches System anstrebt, sondern im Gegenteil die traditionelle Metaphysik kritisiert. Die zentrale Motivation für Heideggers Kritik am metaphysischen Denken ist die Frage, wie die Stellung des Menschen im Ganzen der Welt zu verstehen ist. Das betrifft insbesondere auch die Frage nach der Freiheit, die auf das Verhältnis von Mensch und Welt bezogen ist, wie es sich etwa auch bei Kant findet, der die Möglichkeit der Freiheit des Menschen als ein zunächst kosmologisches Problem ansieht. (KrV A444/B472–A451/B479; A532/B560–A558/B586) Die entscheidende Schwäche bisheriger Metaphysik besteht für Heidegger darin, dass sie kein plausibles Verständnis der Welt hervorgebracht habe. Insbesondere dürfe die Welt laut Heidegger nicht als geschlossene Totalität und Inbegriff der seienden Dinge begriffen werden. In der Welt zu sein bedeutet nicht, dass wir uns etwa in einem großen Behälter befinden, den wir uns dann kognitiv erschließen. Die Welt erscheint vielmehr als ein unhintergehbarer Horizont vorgängigen Sinns, der zwar alles Verstehen ermöglicht, den wir aber verstehend nicht einholen können. Das hat nicht nur Konsequenzen für unser Verständnis als frei handelnde Menschen. Der Versuch, sich über die eigene Position in der Welt klar zu werden, kann sich nicht (mehr) auf ein System metaphysischen Wissens oder metaphysischer Gewissheiten stützen. Im Ausgang von dieser Metaphysikkritik entwirft Heidegger in verschiedenen Anläufen eine besondere existenzielle Haltung (die der Inständigkeit oder des Wohnens), die positiv auf die Unmöglichkeit einer systematischen Metaphysik bezogen ist. Heideggers Werk lässt sich so als der Versuch verstehen, die Kritik an einem metaphysischen Weltverständnis auszuführen und eine Alternativkonzeption zu entwickeln. Dies geschieht in verschiedenen Problemzusammenhängen jedoch auf sehr unterschiedliche Weise. Die verschiedenen Kontexte, in denen Heidegger in immer neuen Anläufen und mit wechselnden Begriffen das Phänomen der Welt zu fassen versucht, bietet sich daher als Einstieg an, (→ 6.1–
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6.3) um die Diskussion verschiedener metaphysischer Probleme zu beschreiben, etwa das Verständnis von Sein, (→ 6.4) die Konzeption von Subjektivität (→ 6.5) oder Heideggers philosophische Theologie. (→ 6.8) Bis zu seinen letzten Schriften hält Heidegger dabei an dem Gedanken fest, dass eine kritische Metaphysik nur phänomenologisch möglich sei, wobei er sich zwar immer mehr von Husserls Verständnis der Phänomenologie absetzt, dem phänomenologischen Ansatz der „Sache nach“ aber treu bleibt. (Held 1988, 116; 128; Held 1999, 31) In den verschiedenen Problem- und Werkkontexten ist die Diskussion metaphysischer Probleme daher oft mit einer Diskussion der phänomenologischen ‚Methode‘ der Metaphysik verschränkt, was sich als eine „Ontologisierung der Phänomenologie“ bzw. „Phänomenologisierung der Ontologie“ (Figal 2009, 47) beschreiben lässt. Abschließend werden wir darlegen, dass Heidegger mit seiner phänomenologischen Methode keine eigene Metaphysik entwickelt, sondern Entzugserfahrungen thematisiert, die auf metaphysische Probleme bezogen sind. (→ 6.12) Dies zeigt sich vor allem in der „Phänomenologie des Unscheinbaren“, (→ 6.4; → 6.12) die er in seinen späten Seminaren entwickelt.
6.1 Der Weltbegriff in der Frühphase von Heideggers Denken Der Begriff der Welt wird in Heideggers Denken nicht einheitlich verwendet, sondern in immer neuen Konzeptionen entfaltet. Heidegger experimentiert mit verschiedenen sprachlichen Fassungen, angefangen vom Begriff der Lebenswelt, über seine Konzeption des In-der-Welt-seins, des Weltens bis zuletzt in seiner Spätphase mit der Welt als Geviert. Bei allen Unterschieden im Detail sind diese Konzeptionen durch den Verweis auf die Unhintergehbarkeit und den Geschehenscharakter der Welt miteinander verbunden. So entspricht der Versuch, die Welt zu beschreiben, ohne sie zu einem Gegenstand zu machen, sowohl der frühen Methode, sich mit der formalen Anzeige auf die faktische Lebenserfahrung zu beziehen, als auch der späteren Auffassung der Welt als eines Ereignisses. Außerdem denkt Heidegger die Welt dynamisch und wendet sich damit gegen die Vorstellung der Welt als eine Form der Allheit, als die Summe des Seienden, oder als der Inbegriff der existierenden Dinge. Das Geschehen der Welt ist dabei stets auch auf den Menschen bezogen, den Heidegger mit dem Begriff des Daseins erfasst. Die Rolle, die das Dasein in Bezug auf die dynamisch gedachte Welt spielt, ist jedoch nicht immer klar. Zu fragen ist etwa, ob Welt als eine konstituierende Leistung des Daseins verstanden werden kann oder ob das Dasein diesem Geschehen nicht vielmehr ausgeliefert ist. Das Verhältnis zwischen Dasein und Welt bewegt sich somit in einem Spannungsfeld zwischen zwei Polen: Zum einen hat Welt „die Seinsart des Daseins“ im Sinne der von Heidegger entwickelten Fundamentalontologie, zum anderen wird „Welten“ als ein ontologisches Geschehen verstanden, bei dem Dasein nur noch als „die Sterblichen“ in
114 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein der Konstellation des Gevierts beteiligt ist. Die werkgeschichtlichen Stationen von Heideggers Weltbegriff werden im Folgenden kurz dargestellt. In seiner ersten Vorlesung im Kriegsnotsemester von 1919 (GA 56/57) macht Heidegger geltend, dass man in der Wahrnehmung der Welt nicht zuerst objektive Gegenstände erfasst, die dann mit einer Bedeutung versehen werden, sondern dass man vielmehr bereits über solche Bedeutungen verfügt, die der vergegenständlichenden Perspektive vorausgehen. Dies erläutert Heidegger am Beispiel eines Katheders, der nicht zunächst als Kasten aus Holz wahrgenommen, sondern unmittelbar in seiner Funktion als Katheder erlebt wird. (GA 56/57, 71 f.) Die Unmöglichkeit eines Verständnisses der Welt als Gegenstand akzentuiert Heidegger an dieser Stelle mit der Redeweise „es weltet“, (GA 56/57, 73) mit der die Welt außerdem nicht statisch gedacht wird, sondern als ein stets neues Geschehen. Für eine entsprechende nichtgegenständliche Beschreibung der Welt knüpft Heidegger dann in weiteren Vorlesungen an den husserlschen Begriff der Lebenswelt an, (GA 58, §§ 15; 17) der in den Begriffen von Umwelt, Mitwelt und Selbstwelt analysiert wird. (GA 61, 94–98) In diesen frühen Freiburger Vorlesungen wendet sich Heidegger aber auch gegen die husserlsche Konzeption der phänomenologischen Reduktion, die letztlich doch dazu führen würde, dass ein weltloses transzendentales Subjekt der Welt als Gegenstand gegenübersteht. Stattdessen betont Heidegger, dass der Mensch immer in die Welt verstrickt ist, aus der er nicht heraustreten und zum externen Zuschauer werden kann: „Ich bin nicht der Zuschauer und am allerwenigsten gar der theoretisierend Wissende meiner selbst und meines Lebens in der Welt“. (GA 58, 39) Welt und Subjekt sind keine voneinander isolierbaren Gegenstände, sondern von einer Welt kann nur in dem Sinne gesprochen werden, dass man sich in vorgängigen Sinnstrukturen bewegt: „In Bedeutsamkeitszusammenhängen lebend erfahre ich die Welt. Sie bekundet sich als wirkliche in jenen“. (GA 58, 107; Overgaard 2004) Aufgabe der Philosophie ist es daher, diese Sinnstrukturen hermeneutisch zu erfassen, womit Heidegger die Phänomenologie zu einer phänomenologischen Hermeneutik erweitert, (GA 56/57, 131; GA 61, 187) die mit der Methode der sogenannten formalen Anzeige auf die faktische Lebenserfahrung bezogen ist, weshalb Heidegger auch von einer phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität spricht. (GA 62, 365; Sallis 1964; Trawny 1997; Lambert 2002) In Sein und Zeit entwickelt Heidegger den Begriff der Lebenswelt der frühen Vorlesungen zum Konzept des In-der-Welt-seins weiter. Mit der Bindestrichstruktur des In-der-Welt-seins verdeutlicht Heidegger die Vorgängigkeit der Bedeutungsstrukturen der Welt, in denen wir uns als Dasein immer schon vorfinden. Diese vorgängigen Sinnstrukturen werden hier mit den Begriffen der Bewandtnis (GA 2, 111 ff.) und der Bewandtnisganzheit (GA 2, 112) bezeichnet, welche den Begriff der Bedeutsamkeit (GA 61, 90) aus den frühen Freiburger Vorlesungen aufnehmen. Analog werden die Begriffe des Verweisungsbezugs, (GA 2, 41) der Verweisungsmannig faltigkeit, (GA 2, 92) der Verweisungsganzheit
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(GA 2, 94) und des Verweisungszusammenhangs (GA 2, 94) verwendet. Diese Strukturen erläutert Heidegger schließlich als das genuine Phänomen der „Weltlichkeit der Welt“: Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem in der Seinsart der Bewandtnis ist das Phänomen der Welt. Und die Struktur dessen, woraufhin das Dasein sich verweist, ist das, was die Weltlichkeit der Welt ausmacht. (GA 2, 115 f.; GA 2, § 14 ff.)
Was unter dieser „Weltlichkeit der Welt“ zu verstehen ist, lässt sich anhand der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (GA 20) aus dem Sommersemester 1925 genauer verstehen, in der sich Heidegger gegen die Vorstellung wendet, man könne die Welt durch die Aufzählung der in ihr befindlichen Gegenstände erfassen. Denn dadurch würde die Welt selbst zu einem ‚Weltding‘, wie Heidegger diese innerweltlichen Gegenstände bezeichnet. (GA 20, 228) Der Vorstellung der Welt als eines Dinges wird die Rede von der Weltlichkeit der Welt entgegengesetzt, (GA 20, 229) die in Sein und Zeit als „vorontologisch-existenzielle“ Bedeutung von Welt genauer bestimmt wird. Damit kritisiert Heidegger ein „ontisches“ Weltverständnis, das die Welt als das All des Seienden, also als die Gesamtheit der seienden Dinge auffassen würde. (GA 2, 87 f.) Dies bringt Klaus Held (1992, 323) wie folgt auf den Punkt: „Um die Welt als Gegenstand auffassen zu können, müssen wir uns darüber hinwegsetzen, daß die Welt von Hause aus kein Gegenstand, sondern vorgegenständliche Erscheinungsdimension ist.“ Aus diesem Grund kritisiert Heidegger auch die antiskeptische Zielsetzung, die Existenz der Welt beweisen zu wollen, die einem weltlosen cartesischen Subjekt abhandengekommen wäre. Laut Heidegger gibt es weder weltlose Subjekte noch eine gegenständlich existierende Welt, sondern nur Dasein, das sich immer schon in einer Welt vorfindet. (GA 2, 269) Nicht zuletzt setzt sich Heidegger in dieser Vorlesung intensiv mit Husserls Verständnis der Phänomenologie auseinander, insbesondere mit dem Prinzip der selbstgebenden Anschauung oder Evidenz, das zu einer Dimension transsubjektiver Gegebenheit, nämlich zur Welt führt. (Held 1988, 111–113) Insgesamt beschreibt Heidegger die Welt in Sein und Zeit mit dem Begriff der Weltlichkeit als den Horizont vorgängigen Sinns in konkreten Lebensvollzügen, (Thomas 2006) wobei er diesen Aspekt der Sinneröffnung schließlich auch als die Transzendenz der Welt bezeichnet. (GA 2, 484)
6.2 Heideggers metaphysischer Weltbegriff Der Begriff Transzendenz wird in der sogenannten metaphysischen Periode von Heideggers Denken (→ 6.10) nach Sein und Zeit zum Schlüsselbegriff für das Verständnis des In-der-Welt-Seins. Transzendenz meint dabei keine über die
116 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein Welt hinausführende Erfahrung. Transzendenz bezeichnet vielmehr den Umstand, dass menschliches Dasein kein isoliertes Seiendes ist, sondern konstitutiv in die Welt ausgreift, was Heidegger als ‚transzendieren‘ bezeichnet. Die Verbindung zwischen Transzendenz und Welt erläutert Heidegger anhand der Begriffe Weltentwurf, Weltanschauung und Weltbildung. Das Konzept des Weltentwurfs wird von Heidegger vor allem in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik vom Sommersemester 1928 (GA 26) und im 1929 gehaltenen Vortrag Vom Wesen des Grundes (GA 9, 123–176) entwickelt. Weltentwurf zeichnet sich nach diesen Schriften durch drei konstitutive Momente aus: Zunächst gibt es das Moment des Entwurfs, welches das Aufspannen einer Welt in Hinsicht auf ein Umwillen als einer teleologischen Perspektive bezeichnet. Umwillen bzw. Worumwillen, die Heidegger bereits in Sein und Zeit diskutiert hatte (GA 2, 193–197) verweisen auf die weltkonstitutive Rolle des Daseins, die in der genannten Vorlesung nun direkt auf die Welt bezogen wird und die die Erfahrung von Seiendem überhaupt ermöglicht und vorzeichnet. (GA 9, 165–168) Dies führt unmittelbar zum zweiten Moment des Entzugs, denn sobald Seiendes erfahren wird, begegnet es uns auch in seiner Eigentümlichkeit bzw. Widerständigkeit und entzieht sich so dem Umwillen. Aus dem Widerstreit der Momente des Entwurfs und des Entzugs (GA 26, 278 f.) entspringt das dritte Moment der Auseinandersetzung des Daseins mit Seiendem, das auf unsere Praxis des Begründens bezogen ist. So vermittelt der Begriff des Grundes laut Heidegger zwischen Entwurf und Entzug, wobei die Suche nach Gründen für den Versuch des Daseins steht, das widerständige Seiende in einen Gesamtzusammenhang zu integrieren. Dieser Gesamtzusammenhang, den Heidegger in Sein und Zeit unter dem Begriff der Bewandtnisganzheit analysiert hatte, (GA 2, 112 f.; GA 9, 157) wird hier nun unter dem Begriff der Welt erläutert, wobei er insbesondere die Struktur der drei Momente im Konzept des Weltentwurfs bündelt. Dabei steht das Moment des Umwillens für die Verbindung von Transzendenz und Welt, da das Dasein im Entwurf des Umwillens das Seiende auf den Gesamtzusammenhang der Welt hin übersteigt, d. h. transzendiert: Der Grundcharakter von Welt, wodurch die Ganzheit ihre spezifisch transzendentale Organisationsform erhält, ist das Umwillen. Welt als das, woraufhin Dasein transzendiert, ist primär bestimmt durch das Umwillen. (GA 26, 238)
In diesem Sinne transzendiert Dasein als In-der-Welt-sein zur Welt: „Transzendenz ist In-der-Welt-sein.“ (GA 26, 218) Im weiteren Verlauf der Vorlesung identifiziert Heidegger Transzendenz auch mit Freiheit. (GA 26, 238; 246 f.; Figal 2013; Schmidt 2013; 2016) Den Begriff einer ‚transzendentalen Freiheit‘ kontrastiert Heidegger dann mit dem transzendentalen Freiheitsbegriff Kants im kosmologischen Sinne, d. h. in Bezug auf das Problem von Kausalität. (GA 31, 299–304)
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Den Begriff der Weltanschauung bringt Heidegger in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie (GA 27) ins Spiel, die direkt an Metaphysische Anfangsgründe der Logik anschließt. Die im Entzug erlebte Widerständigkeit des Seienden wird nun so beschrieben, dass das Dasein dem Seienden ausgesetzt ist, was nicht einfach in der bloßen Vorhandenheit des Seienden begründet sei, sondern „eine innere Bestimmung des In-der-Welt-seins als solchen“ (GA 27, 328) darstellt. Dieses Ausgesetztsein bedeutet nicht, dass das Seiende dem Dasein lediglich gegenübersteht, sondern dass es vom Seienden „durchwaltet“ ist. Dies zeigt sich laut Heidegger zum Beispiel darin, dass Natur nicht nur ein Gegenstand der Betrachtung ist, sondern dass Dasein, insofern es Körper, Leib und Leben ist, auch selbst Natur ist und in diesem Sinne von ihr durchdrungen wird. Dasein findet sich immer schon in dieser „Durchwaltung“ vor, es „ist in das Seiende geworfen“. (GA 27, 329) Wie bereits in Sein und Zeit erläutert, entzieht sich diese Geworfenheit insofern, als das Dasein das Faktum seines Seins nicht von sich aus, in irgendeiner Form von Intentionalität, begründen kann. Diese Ohnmacht fasst Heidegger in der Einleitung in die Philosophie als „Haltlosigkeit“ des Daseins. Mit der als Transzendenz aufgefassten Freiheit kann sich das Dasein jedoch selbst einen Halt geben, indem es bestimmte Seinsmöglichkeiten wählt, die nun als Haltemöglichkeiten in der Welt angesehen werden. Dieses Sichhalten im In-der-Welt-sein ist es, was Heidegger als „Weltanschauung“ (GA 27, 337–343) bezeichnet. In der Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik aus dem Wintersemester 1929/30 führt Heidegger schließlich den Begriff der Weltbildung ein. Zunächst greift er auf den Begriff der physis zurück, um den Begriff der Welt näher zu bestimmen. Laut Heidegger bezeichnet physis spätestens seit Aristoteles dasjenige, was das Prinzip der Veränderung in sich begreift und welches im Lateinischen mit natura übersetzt wird. So bezeichne der Begriff der physis zum einen das Wachstum und zum anderen „das in solchem Wachstum Gewachsene selbst“. (GA 29/30, 38) Wachstum versteht Heidegger jedoch nicht in einem biologischen Sinne, sondern allgemeiner als das „sich selbst bildende Walten des Seienden im Ganzen“. (GA 29/30, 38 f.; Beelmann 1994) Wie bereits in den vorhergehenden Vorlesungen ausgeführt, ist der Mensch von diesem Walten umschlungen und durchwaltet. (GA 29/30, 39) Obwohl der Mensch auf der einen Seite diesem Walten ausgeliefert ist, versteht Heidegger ihn auf der anderen Seite als weltbildend, da „das Wesen des Menschen, das Dasein in ihm, durch den Entwurfscharakter bestimmt ist. Der Entwurf als Urstruktur des genannten Geschehens ist die Grundstruktur der Weltbildung. […] Entwurf ist Weltentwurf!“ (GA 29/30, 526 f.) Diese dreigestaltige Transzendenzstruktur des Daseins und die Zentralität des Entwerfens innerhalb dieser Struktur hat Konsequenzen für den Begriff der Welt, in die ‚hinein‘ Dasein transzendiert. Als zentrales Merkmal der Welt erläutert Heidegger hier deren Ungegenständlichkeit. So heißt es etwa in Vom
118 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein Wesen des Grundes, dass die Welt nicht einmal etwas Seiendes ist, sondern nur im Sinne der Bedeutungsstrukturen verstanden werden kann, auf die hin das Dasein transzendiert: „Welt als Ganzheit ‚ist‘ kein Seiendes, sondern das, aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden und wie es sich dazu verhalten kann“. (GA 9, 157) An dieser Stelle greift Heidegger seine frühere Formulierung vom verbal verstandenen Welten wieder auf, indem er geltend macht, dass die Welt nicht ist, sondern weltet. (GA 9, 164; GA 26, 219) Damit hat die Rede von der Welt bei Heidegger einen ähnlichen Status wie die Rede vom Sein, das ebenfalls nichts Seiendes bezeichnen soll. Man könnte sagen, dass das Sein bei Heidegger für die Unhintergehbarkeit des Dass des Seienden, für die Faktizität seines Erscheinens steht (GA 9, 307; → 6.4) und die Welt für die ebenso unhintergehbare sinnhafte Offenbarkeit des Seienden, die überdies einem ständigen Wandel unterliegt, in Bewegung ist und in diesem Sinne ‚weltet‘. Diese Bedeutung der Welt als „Offenbarkeitsdimension“ wurde immer wieder von Held (1988; 1992; 1999; → 16) hervorgehoben: Der Mensch lebt zwar immer in Seins- und Sinnbezügen, jedoch sind ihm Sein und Sinn nicht verfügbar, und Heidegger macht etwa in Einleitung in die Philosophie auf eine entsprechende Nähe der Begriffe von Sein und Welt aufmerksam: Seinsproblem entrollt sich zum Weltproblem, Weltproblem bohrt sich zurück in das Seinsproblem, – das sagt, beide machen die in sich einheitliche Problematik der Philosophie aus. (GA 27, 394)
Diese Nähe ist aber nicht so zu verstehen, dass die Welt „das gleichzeitige Offenbarsein von vielerlei Seienden“ (GA 29/30, 505) wäre, da man dann gewissermaßen die Welt vor lauter Seienden nicht mehr sehen würde. (GA 29/30, 504) Auch in Die Grundbegriffe der Metaphysik wird hervorgehoben, dass mit dem Begriff der Welt nicht die Gesamtheit des Seienden gemeint ist, sondern die „Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen“. (GA 29/30, § 68)
6.3 Der Weltbegriff in der Spätphilosophie Heideggers Die Bestimmung der Welt als Offenbarkeit des Seienden führt schließlich zur Offenheit des Seins, als die die Welt im Humanismusbrief erläutert wird. (GA 9, 350) Ebenfalls als Offenheit des Seins kann der Begriff der Welt im Kunstwerkaufsatz (1935/36) verstanden werden, in dem Heidegger nicht nur erneut vom Welten der Welt spricht, (GA 5, 30 f.) sondern dem Begriff der Welt den der Erde entgegensetzt und das Erscheinen von Welt und Erde als eminenten Streit beider Momente beschreibt. (GA 5, 35) Dies leitet die Konzeptionen des Spätwerks ein, wobei dieser Streit zunächst in den Beiträgen zur Philosophie als die „Augenblicksstätte des Ereignisses“ (GA 65, 371) angesehen und dieses Ereignis grafisch mit der Gegenüberstellung von Welt gegen Erde und Mensch gegen
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Götter (GA 65, 310) dargestellt wird. Diese Gegenüberstellung wird schließlich als das Geviert (GA 7, 151 f.) aus Erde und Himmel, Sterblichen und Göttlichen aufgefasst, in dem der Himmel die Rolle des Offenen der Welt übernimmt, und dieses als Ganzes wiederum zum „Geviert der Welt“ (GA 12, 20) bzw. „Welt-Geviert“ (GA 12, 21) verbunden wird. Besonders kritisch erläutert Heidegger die Vergegenständlichung der Welt in dem Vortrag über Die Zeit des Weltbildes (1938), in dem er dem Begriff des Weltbildes die spezielle Bedeutung zuweist, dass sich der Mensch als Subjekt die Welt als Objekt gegenüberstellt, um sich der Welt in der Vorstellung, die Heidegger wörtlich in dem Sinne versteht, dass man etwas vor sich hinstellt, zu vergewissern. (GA 5, 87) In diesem Sinne wird die Welt zu einem Bild gemacht, was er der Philosophie seit der Neuzeit vorwirft. (→ 6.6) In den Nietzsche-Texten aus der zweiten Hälfte der 30er Jahre kritisiert Heidegger ganz analog den Willen zur Macht als ein Streben nach Erkenntnis, dem es unter anderem um die Welt im Ganzen gehe. (GA 6.1, 510) Allerdings liege diesem Streben ein verfehlter Weltentwurf (GA 6.1, 511) zugrunde. Hier schließt er sich Nietzsches Kritik an der Vorstellung eines Weltganzen an, (GA 6.1, 315) die Nietzsche laut Heidegger im Sinne einer negativen Theologie abwehrt, da das Weltganze genauso unsagbar sei wie das Absolute. Aus der Zeit der Nietzsche-Vorlesungen stammt auch Heideggers Konzeption des Ereignisses, die er vor allem in den Beiträgen zur Philosophie entwickelt. In diesem Werk wird das Ereignis als die Unhintergehbarkeit vorgängiger Sinnstrukturen thematisiert, welches dabei selbst nicht gegenständlich zu denken ist. (GA 65, 3) In Zeit und Sein (1962) bestimmt Heidegger das Ereignis explizit analog zum Welten der Welt tautologisch so, dass es sich ereigne. (GA 14, 29) Heidegger variiert unter verschiedenen Leitbegriffen den Gedanken, dass Welt kein statisches Ganzes, sondern ein dynamisches Geschehen meint. In den späten Vorträgen und Aufsätzen wird die ereignishafte Vorgängigkeit der bedeutungshaft strukturierten Welt als Geviert näher bestimmt, das Heidegger in einer eigenwilligen mythologischen Konzeption als Gegenüber von Erde und Himmel bzw. Sterblichen und Göttlichen ausbuchstabiert. (Bohrmann 1983) Die Kontinuität mit den Begriffen der Welt und des Ereignisses wurde oben bereits angedeutet und wird im Seminar zu Zeit und Sein weiter erläutert, in welchem Heidegger die Welt mit dem Ereignis und dem Geviert verbindet. (GA 14, 51) Auch in dem Vortrag Das Ding (1950) wird das Welten von Welt mit dem Geviert verbunden, (GA 7, 181) was in dem Vortrag Die Sprache (ebenfalls 1950) noch akzentuiert wird, wenn Heidegger davon spricht, dass das „Dingen des Dings“ im „Welten der Welt“ (GA 12, 26) beruhe und zur Ruhe des Gevierts gehöre. Dies kann man insofern mit der frühen Philosophie (→ 6.1) verbinden, als auch die unmittelbare Wahrnehmung des Katheders mit Heideggers später Terminologie als Dingen des Dings und das Geviert als eine phänomenologische Analyse der ereignishaften Lebenswelt betrachtet werden kann. Wie bereits
120 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein im Ereignisdenken der 1930er Jahre, versucht Heidegger mit dem Geviert das Sein des Menschen in der Welt zu erfassen, ohne letztere zu einem Gegenstand zu machen. Das Konzept der vier Weltgegenden übernimmt Heidegger dabei von Hölderlin, was er 1959 im Vortrag Hölderlins Erde und Himmel erläutert. (GA 4, 170 ff.) Laut Walter Bröcker findet sich die Konzeption der vier Weltgegenden bereits bei Homer und das besondere Verhältnis zwischen Himmel und Erde bei Hesiod. (Bröcker 1977, 75) Als Versuch einer nicht nur vorwissenschaftlichen, sondern explizit nicht-metaphysischen Beschreibung der Welt ist ‚das Geviert‘ aber eine begriffliche Neuschöpfung Heideggers, die er an den oben angeführten Stellen auf den Begriff der Welt bezieht. (Bröcker 1977, 73) Die entsprechende Begriffsverschiebung von der Welt zum Geviert erläutert Heidegger im Colloquium über Dialektik (1952, GA 86, 752); beide werden nicht zuletzt mit dem Begriff des Weltgevierts verbunden, der zum Beispiel in Das Wesen der Sprache verwendet wird. (1957/58, GA 12, 203) Etwas ausführlicher wird der Zusammenhang von Welt und Geviert im Vortrag Das Ding erläutert: Wir nennen das ereignende Spiegel-Spiel der Einfalt von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen die Welt. Welt west, indem sie weltet. Dies sagt: das Welten von Welt ist weder durch anderes erklärbar noch aus anderem ergründbar. (GA 7, 181; Mattéi 2001; Mitchell 2015)
Wie die Verbindung von Welt, Sein, Ereignis und Geviert aber im Einzelnen zu verstehen ist, ist allein deshalb schwer zu rekonstruieren, weil Heideggers begriffliche Konzeptionen einem ständigen Wandel unterliegen. Dennoch gibt es eine klare Kontinuität, in der Heidegger die Grundlosigkeit und Vorgängigkeit von Welt und Sein mit wechselnden Begriffen immer neu thematisiert. In diesem Sinne kann Crowe Recht darin gegeben werden, dass das Geviert die spätere Fassung desjenigen ist, was Heidegger in Sein und Zeit mit dem vorgängigen In-der-Welt-sein bezeichnet. (Crowe 2008, 124; 131) Es geht Heidegger mithin seit seinen philosophischen Anfängen um die Vorgängigkeit des Dass des Seienden und des zugehörigen In-der-Welt-seins, das insbesondere immer schon bedeutungshaft strukturiert ist. Das Welten von Welt und das Ereignis, das sich ereignet, bringen genau diese Vorgängigkeit und Unerklärbarkeit zum Ausdruck. Sie wird mit der Rede vom Geviert wieder auf die konkrete Lebenswelt bezogen, die bereits in den frühen Freiburger Vorlesungen in einem ganz ähnlichen Sinne thematisiert wurde. Im Unterschied zu Husserls Ideal methodischer Strenge und Nüchternheit beschreibt Heidegger Erde, Himmel, Sterbliche und Göttliche in einer poetischen Sprache, die den Anspruch erhebt, phänomenologisch die Lebenswelt zu beschreiben, ohne sie zu einem metaphysischen Großgegenstand zu machen. (GA 7, 151 f.; 179 f.)
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6.4 Ontologie Die Ontologie beschäftigt sich klassischerweise mit dem Seienden, insofern es ist, d. h. mit dem Seienden als Seiendem (Aristoteles, Met. IV ), wobei Heidegger die verschiedenen Seinsweisen des Seienden in den Blick nimmt als Vorbereitung für sein eigentliches Unterfangen, der Frage nach dem Sein. Bei dieser Frage handelt es sich streng genommen nicht mehr um Ontologie im klassischen Sinne, was Heidegger zum Beispiel in der 1949 verfassten Einleitung zu Was ist Metaphysik? explizit festhält. (GA 9, 380) Diese Abgrenzung erläutert Heidegger auch in den Beiträgen zur Philosophie, wo er zwischen Leit- und Grundfrage unterscheidet. Die verschiedenen Weisen, nach dem Sein des Seienden zu fragen, bezeichnet Heidegger als Leitfrage. Von dieser unterscheidet er die Frage nach dem Sein als solchen, die er als Grundfrage bezeichnet. (GA 65, 76 f.) Die Grundfrage wird auch deshalb so genannt, weil sie nach dem Grund – und das meint hier sowohl das Warum als auch den Ursprung – für die Vielfalt der Antworten auf die Leitfrage fragt. Diese Vielfalt der Antworten auf die Frage nach dem Sein des Seienden in der Metaphysikgeschichte, d. h. „das Ganze der Leitfragengeschichte“ (GA 65, 77) untersucht Heidegger in seinem Theorieansatz der Seinsgeschichte. (→ 6.11) Dabei entspricht den verschiedenen Antworten auf die Leitfrage die Vielfalt, in der sich Sein uns zeigt und wodurch es für uns begreifbar wird. Bisherige Antworten auf die Leitfrage sind Heidegger zufolge beispielsweise die Ideen Platons, die Kategorien, Begriffe von Substanz oder auch die Unterscheidung von Geist und Materie. Im Laufe seines beinahe fünf Jahrzehnte währenden Denkweges seit Sein und Zeit hat Heidegger die Seinsfrage unter Zuhilfenahme verschiedener Begriffe – etwa Seyn, Ereignis, Seinsgeschichte und Geviert – neu und in anderer Weise gestellt. Zu seinem Vorgehen gehört eine immer wieder durchgeführte Selbstinterpretation seiner vorangegangenen Ansätze und Begriffe. Werkgeschichtlich bildet Sein und Zeit dabei einen kontinuierlichen Bezugspunkt (GA 82, Teil I) – entweder um positiv daran anzuknüpfen oder um sich davon abzusetzen –, der sich durch das Werk Heideggers hindurchzieht, was es trotz seines Status als Fragment zu seinem Hauptwerk macht. Sachlich entwickelt sich Heideggers Ontologie dabei parallel zur Abgrenzung von einem metaphysischen Weltbegriff: Wie die Welt nicht aus isoliertem Seienden ‚zusammengesetzt‘ ist, darf auch das Sein nicht lediglich als etwas Seiendes begriffen werden, auch wenn Heidegger immer wieder in einer hypostasierenden Sprache wie von einem Seienden spricht. Heideggers Fragen nach dem Sein lässt sich deshalb in einer kritischen Rekonstruktion auch als Verweis auf das unhintergehbare Dass des Seienden auffassen. Die Philosophie des Seins leistet gegen den äußeren Anschein nicht eine metaphysische Grundlegung der Welt als eines Ganzen, sondern, im Gegenteil, den Aufweis der Grundlosigkeit ihrer Faktizität.
122 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein Ein solcher Verweis auf das Dass des Seienden findet sich bereits in Heideggers erster Vorlesung aus dem Kriegsnotsemester von 1919, in der er nach der Existenz von „etwas überhaupt“ fragt, (GA 56/57, 67 f.) was als Vorläufer der fundamentalontologischen Frage nach dem Sinn von Sein in Sein und Zeit gelten kann. In der Ontologie-Vorlesung aus dem Sommersemester 1923 grenzt Heidegger seinen Begriff von Ontologie als Frage nach dem Sein zum ersten Mal explizit von dem überlieferten Begriff der Ontologie ab, die sich nicht mit der allgemeinen Bestimmung des Seins beschäftigt, sondern stets nur mit einem bestimmten Seinsbezirk. Als eine der Seinsweisen des Seienden identifiziert Heidegger das Gegenstandsein. (GA 63, 3) Das Sein wird in diesem Fall als Gegenständlichkeit gedacht und die Ontologie verwandelt sich in eine „formale Gegenstandstheorie“. (GA 63, 2) Diesen Ansatz entdeckt Heidegger unter anderem bei Husserl. Seine Kritik stützt sich hierbei auf Husserls eigene Auffassung, dass der Inhalt eines intentionalen Aktes, das Noema, gegenständlicher Art ist. (→ 1.3; Hua III/1, 200 f.; Hua XIX /2, 617; Hua XIX /1, 429 f.) Als wichtigen Schritt auf dem Weg zu Sein und Zeit bestimmt Heidegger in diesem Zusammenhang Ontologie als Hermeneutik der Faktizität, wobei er unter Faktizität das Sein des menschlichen Daseins „in seinem jeweiligen ‚Da‘“ (GA 63, 29) versteht, dessen phänomenologische Analyse damit zum Ausgangspunkt für die Frage nach dem Sein wird. (GA 63, Kap. 2) Sein und Zeit macht diese Fragerichtung explizit, wenn Heidegger in den ersten Paragraphen mit der Frage nach dem Sinn von Sein anhebt und zwischen dem Seienden, dem Sein des Seienden und dem Sein selbst unterscheidet. (GA 2, 6 ff.) Um den Sinn dieses Seins selbst geht es im weiteren Verlauf in seiner als Fundamentalontologie bezeichneten Untersuchung, die er mit einer existenzialen Analytik des Daseins durchzuführen versucht. (GA 2, 18) Heidegger geht davon aus, dass sich die Frage nach dem Sinn von Sein nur aus dem Sein des Daseins, d. h. des Menschen, heraus beantworten lässt, da dieses einen besonderen Bezug zum Sein und mit diesem Seinsverständnis einen Vorrang unter allen Seienden habe. Aus diesem Grund konzentriert Heidegger seine Analysen auf die Seinsweise des Daseins, die er „Existenz“ nennt. Die Strukturmerkmale des Seins des Daseins heißen entsprechend „Existenzialien“, die des nichtdaseinsmäßigen Seienden „Kategorien“. (GA 2, 59) Mit den Existenzialien untersucht er das Sein des Daseins in seinem Vollzug, wozu das In-der-Welt-sein und die dieses konstituierenden Momente, wie Befindlichkeit, Verstehen und Rede gehören. (GA 2, §§ 28– 38) In der Weise des In-der-Welt-seins versteht das Dasein laut Heidegger nicht nur sein eigenes Sein, sondern ineins damit auch das Sein des Seienden. Das Seinsverständnis des Daseins stellt in diesem Sinne auch das Fundament für Regionen des Seienden dar, die selbst wieder Gegenstand von Regionalontologien sind. Den Begriff der Regionalontologie verwendet Heidegger zwar nicht, seine Fundamentalontologie tritt aber offenbar mit dem Anspruch auf, eine Basis für
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das zu bilden, was Husserl „regionale Ontologien“ genannt hat, nämlich für apriorische Untersuchungen eines jeweiligen Gegenstandsbereichs, die selbst jeweils wieder Fundament einer auf denselben Gegenstandsbereich ausgerichteten empirischen Wissenschaft sind. (Hua III/1, §§ 9–10; → 1.3) Eine Sonderrolle nimmt dabei das Dasein ein, da es gerade dasjenige Seiende ist, dem es in seinem Sein um eben dieses Sein geht. (GA 2, 16) Im Sein des Daseins liegt damit eine Selbstbezüglichkeit, die Heidegger mit dem Begriff der Sorge thematisiert. In dieser Selbstbezüglichkeit jedoch begreift das Dasein nicht nur sich, sondern auch alles andere Seiende. Das Dasein wird dadurch als Instanz des ontologischen Verstehens begriffen. Diesen Zusammenhang expliziert Heidegger am Begriff der Sorge, (GA 2, §§ 39–41; 65) dem in Sein und Zeit eine systematisch zentrale Rolle zukommt, da Heidegger die Analyse der Alltäglichkeit des Daseins über den Begriff der Sorge mit den horizontalen Schemata der Weltlichkeit der Welt (GA 2, §§ 12–21; 69c) und mit den Ekstasen der Zeitlichkeit (GA 2, 65–69) verbindet. Der Ansatz, den Sinn von Sein, d. h. das Verstehen von Sein überhaupt, vor allem über die Zeitlichkeit des Daseins zu erläutern, wird jedoch nicht zu einem Abschluss gebracht, und die entsprechende offene Frage beendet Sein und Zeit. (GA 2, 577; → 6.7; → 6.10) Das Scheitern der Fundamentalontologie führt zu dem negativen Ergebnis, dass sich die Erfahrung von Welt nicht auf die Erfahrung von Zeitlichkeit reduzieren lässt, so dass die Seinsfrage nicht durch den Verweis auf die Zeit beantwortet werden kann. In den Texten nach Sein und Zeit expliziert Heidegger die Unterscheidung zwischen Seiendem und Sein unter dem Begriff der ontologischen Differenz, den er zum ersten Mal in der Vorlesung über die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927 verwendet (GA 24, § 22) und in seinem Aufsatz Vom Wesen des Grundes (GA 9, 123–176) sowie in der parallel entstandenen Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? (GA 9, 103–122) weiter entfaltet. In dieser Antrittsvorlesung bezieht Heidegger die ontologische Differenz auf das Dass des Seienden, indem er dem Sein das Nichts gegenübergestellt. Das Nichts sei zwar nicht logisch kohärent denkbar, (GA 9, 109) wird aber in der Stimmung der Angst zusammen mit dem Dass des Seienden erfahren. (GA 9, 114) In seinem Nachwort von 1943 verbindet Heidegger die Rede vom Nichts über das Dass des Seienden und über die Stimmung der Angst explizit mit dem Sein. (GA 9, 107) Auch in der Parmenides-Vorlesung aus dem Wintersemester 1942/43 wird das Sein mit der Erfahrung des Dass des Seienden in Verbindung gebracht. (GA 54, 222) Der Status des zwar offenbar nicht begrifflich, aber dennoch erfahrungsmäßig zugänglichen Seins bleibt für Heidegger aber fraglich. Es soll der klassischen Ontologie vorausgehen und explizit kein Seiendes sein, kann aber sprachlich nur objektivierend und damit gewissermaßen als Seiendes erfasst werden. Dennoch erprobt Heidegger zahlreiche Strategien, vom Sein zu sprechen, ohne es zu einem Seienden zu machen, indem er etwa die Wendung „das Sein ist“ durch „das Sein
124 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein west“ (GA 9, 306) ersetzt oder auf die Variante „es gibt das Sein“ (GA 9, 334) ausweicht. In den Beiträgen zur Philosophie findet sich als entsprechender Versuch die Verfremdung des Ausdrucks „Sein“ zu „Seyn“. (GA 65, 436 und passim) Im Rückblick auf Sein und Zeit hält Heidegger hier fest, dass der Versuch, die Frage nach dem Sinn von Sein aus der Zeitlichkeit des Daseins zu beantworten, zu dessen Vergegenständlichung führen würde, die er mit der Rede vom Seyn zu vermeiden sucht. (GA 65, 451) Dieses Seyn soll jetzt nicht mehr vom Seienden her verstanden, sondern vom Seyn selbst her „erdacht“ werden, (GA 65, 428) wobei es letztlich wieder um eine Erfahrung des Seyns geht: „Die völlige Ungewöhnlichkeit des Seyns gegenüber allem Seienden muß der Mensch ‚erfahren‘, von ihr in die Wahrheit des Seyns er-eignet werden.“ (GA 65, 480) Einen weiteren Versuch, den hypostasierenden Charakter des Sprechens vom Sein zu umgehen, unternimmt Heidegger in der kleinen Schrift Zur Seinsfrage (GA 9, 411) von 1955, in der das Wort „Sein“ mit einem Andreaskreuz durchgestrichen wird. In seinen späteren Texten gibt Heidegger die Rede vom Sein auf und spricht stattdessen vom Ereignis bzw. Geviert. Bereits in den Beiträgen verbindet Heidegger das Seyn mit dem Ereignis, (GA 65, 260) was er in Zeit und Sein von 1962 nochmals bestätigt. (GA 14, 26; GA 12, 248 f.) In Zur Seinsfrage setzt Heidegger das Sein über das Andreaskreuz mit den vier Gegenden des Gevierts in Beziehung, (GA 9, 411) distanziert sich aber zuletzt immer mehr von der ontologischen Differenz und der Rede vom Sein. Im Seminar zu Zeit und Sein möchte er „dem Denken die ontologische Differenz erlassen“ (GA 14, 46) und im Heraklit-Seminar von 1966/67 (GA 15, 20) wird vom Sein nur noch mit Vorbehalt gesprochen. Im Seminar in Le Thor von 1969 wird die Konzeption der ontologischen Differenz schließlich als Holzweg abgetan. (GA 15, 366) Die sukzessive Ablehnung der ontologischen Differenz kann als die Entwicklung einer Sprache verstanden werden, die versucht, der Unsagbarkeit des Seins bzw. des Seyns gerecht zu werden. Das Sein, wie es Gegenstand der Grundfrage ist, wird zwar erfahren, kann aber nicht direkt durch Begriffe, sondern nur indirekt, über Verweise, d. h. anzeigend erfasst werden. Insofern es um die Erfahrung von Sein und Dass des Seienden geht, gewinnt auch der Begriff der Phänomenologie wieder an Bedeutung. Spätestens seit seiner Vorlesung über Hegels Phänomenologie des Geistes (GA 32, 40) aus dem Wintersemester 1930/31 hatte Heidegger den Namen „Phänomenologie“ für seinen eigenen Denkansatz zurückgewiesen und hielt lange an dieser Ablehnung fest. Erst im Zähringer Seminar von 1973 und im Vorfeld der Vorbereitungen spricht er vom „phänomenologischen ‚Sehen‘“, (GA 15, 416 f.) wobei das Seinsdenken, das mit dem Unsagbaren ringt, die Gestalt einer „Phänomenologie des Unscheinbaren“ (GA 15, 399) annimmt. (Held 1999, 38) Sie lässt das, was sich nicht „be-greifen“ lässt, sehen, sie bringt es gewissermaßen zur Erscheinung und deckt es auf diese Weise auf. „So verstanden ist die Phänomenologie ein Weg, der hinführt vor […] und sich das zeigen läßt, wovor er geführt wird.“ (GA 15,
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399; → 6.9–6.11) War Heidegger im Rahmen der Fundamentalontologie davon ausgegangen, aus der Verkopplung von Sein und Zeit ließe sich eine Phänomenologie der Welt und damit eine Antwort auf die Seinsfrage geben, ist die Frage, was als Leitphänomen der Ontologie gelten kann, mit dem Gedanken der „Phänomenologie des Unscheinbaren“ wieder offen. (Figal 2015, 15 f.)
6.5 Subjektivität Der Begriff der Subjektivität selbst spielt keine größere positive Rolle für das Denken Heideggers, die Auseinandersetzung damit jedoch schon, da dieser Begriff für eine Form von Philosophie steht, die Heidegger problematisiert und von der er sich abzusetzen versucht. Heideggers kritische Betrachtung des Subjektbegriffs beginnt bereits vor Sein und Zeit. Sie speist sich zum einen aus seiner Kritik an Husserls „verkehrte[r] Subjektivierung der Intentionalität“ (GA 24, 89) und zum anderen aus dem Einfluss von Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen. In seinem Kommentar zu dieser Schrift konstatiert Heidegger, „daß das volle Erfahren in seinem eigentlich faktischen Vollzugszusammenhang im historisch existierenden Selbst gesehen wird, um welches Selbst es sich letztlich in der Philosophie irgendwie handelt“. (GA 9, 35) Die Kritik am Subjektbegriff drückt sich bei Heidegger in einer „Wendung zum ‚Selbst‘“ (Thomä 1990, 132) aus, d. h. dem Begriff des Subjekts stellt Heidegger den des Selbst entgegen. Seine Kritik des Subjektbegriffs in Sein und Zeit entzündet sich am ego cogito sum Descartes’ und dessen Erkenntnistheorie. Für Heidegger stellt das ego als weltlose res cogitans Descartes’ Konzeption eines Subjekts dar, das sich mittels Vorstellungen auf Objekte bezieht. (GA 2, 280) Erkenntnis wird hier als Subjekt-Objekt-Beziehung verstanden, (GA 2, 79) das Problem dieser Konzeption besteht für Heidegger jedoch darin, dass in dieser Beziehung das ego cogito als ein Seiendes, als Substanz gedacht wird. Dieses Verständnis stellt aus der Sicht Heideggers eine ontologische Erblast des Subjektbegriffs dar: Jede Idee von ‚Subjekt‘ macht noch – falls sie nicht durch eine vorgängige ontologische Grundbestimmung geläutert ist – den Ansatz des subjectum ([hypokeímenon]) ontologisch mit, so lebhaft man sich auch ontisch gegen die ‚Seelensubstanz‘ oder die ‚Verdinglichung des Bewußtseins‘ zur Wehr setzen mag. (GA 2, 62; Tugendhat 1967, 262 ff.)
Heideggers Lösung dieses ontologischen Problems besteht in der „Umwendung“ und der damit einhergehenden Neuinterpretation der cartesianischen Formel cogito sum. In dieser Umwendung wird das sum, ich bin, nicht als Evidenz des cogito, ich denke, verstanden, sondern als „ich-bin-in-einer-Welt“, (GA 2, 280) wodurch sich die Bedeutung der Formel von einer vermeintlich ‚weltlos‘ vorhandenen res cogitans hin zum In-der-Welt-sein verschiebt. Dabei wird das In-derWelt-sein nicht als objektive Bestimmung eines bereits Vorhandenen gedacht,
126 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein sondern, wie oben (→ 6.1–6.3) erläutert, als Vollzug eines unhintergehbaren Geschehens. Heideggers Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs arbeitet so eine Konsequenz heraus, die sich aus dem veränderten Verständnis von Welt als Geschehen ergibt. Der Vollzug von ‚Subjektivität‘ als In-der-Welt-sein hat dabei zugleich eine reflexive Komponente. Dasein zeichnet sich ontologisch dadurch aus, dass es ihm „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“. (GA 2, 16) Verstand Husserl in den Cartesianischen Mediationen das cogito sum noch als „lebendige Selbstgegenwart“ (Hua I, 62) und damit letztlich als eine Bewusstseinserkenntnis, muss Heideggers Begriff des Selbst vor allem praktisch aus den Handlungsvollzügen des Daseins verstanden werden, die jeder Bewusstseinserkenntnis vorgelagert sind. Das Leben des Daseins ist um seiner selbst willen vollzogene Tätigkeit bzw. Praxis. (Tugendhat 1979, 176 ff.) Das „Da“ im Ausdruck „Dasein“ verweist auf diese praktische, selbstreferentielle Seinsweise des Daseins, die Heidegger als Erschlossenheit bezeichnet. Das Dasein erschließt sich selbst in seiner Praxis. „Der Ausdruck ‚Da‘ meint diese wesenhafte Erschlossenheit. Durch sie ist dieses Seiende (das Dasein) in eins mit dem Da-sein von Welt für es selbst ‚da‘.“ (GA 2, 176 f.) Auf diese praktisch-reflexive Vollzugskomponente verweist Heideggers Begriff des Selbst und dessen „Selbstständigkeit“. (GA 2, 402; 496) Der Subjektbegriff vermag diesen vollzugsmäßigen Charakter des In-der-Welt-seins und des Selbst dagegen nicht zu fassen, weil er substanzontologisch an einem zuvor schon Zugrundeliegenden, d. h. am Vorhandenen orientiert ist. Wodurch aber zeichnet sich nun Heideggers Begriff des Selbst aus? Dazu heißt es in Sein und Zeit: Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein. […] Die Möglichkeit als Existenzial […] ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins; […] Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit. Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen. (GA 2, 191)
„Freisein“ bzw. „Freiheit“ wird damit zur wichtigsten existenzialen Bestimmung des Daseins und bezeichnet zum einen das Dasein als Möglichsein (1) und zum anderen die selbstreflexive Möglichkeit (2) des Daseins, sich selbst als Möglichsein durchsichtig zu werden und sich vor dem Hintergrund der Gewissheit, dass es anders als möglich nicht sein kann, zu bestimmen, d. h. seine Möglichkeiten zu verwirklichen. (von Hermann 2007; Schmidt 2013; 2016) Das Möglichsein des Daseins ist dabei wesentlich gekennzeichnet durch Unbestimmtheit und Offenheit: Zum Seinkönnen des Daseins gehört das Sich-Bestimmen aus dieser Offenheit. Wie Günter Figal erläutert, sind Möglichkeiten als solche dadurch charakterisiert, dass sie niemals vollständig ergriffen werden können: „Die Freiheit im Dasein besteht nicht nur und nicht wesentlich darin, die Wahl zwischen vernommenen Möglichkeiten zu haben. Eine ergriffene Möglichkeit ist ein Projekt, und jedes Projekt ist eine Antwort auf das bevor-
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stehende und unbestimmte Sein.“ (Figal 2013, 212) In der phänomenologischen Hermeneutik des Daseins, wie sie Heidegger in Sein und Zeit entwirft, geht es demnach „nicht nur um das Verstehen des Bestimmten und Bestimmbaren, sondern wesentlich um die Darstellung von Verstehen im Horizont des Unbestimmten und Unbestimmbaren.“ (Figal 1982, 92) Ob wir um diese wesentliche Unbestimmtheit wissen und sie im Handeln berücksichtigen oder nicht, macht für Heidegger die Alternative zwischen einer authentischen, eigentlichen und einer uneigentlichen Existenz aus. (GA 2, 57; 393–397) Statt eines autonomen Subjekts finden wir bei Heidegger mithin das durch Möglichsein bestimmte Selbst. „Möglichkeit“ bezeichnet hier nicht Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Entscheidungen oder Handlungen, sondern Seinsmöglichkeiten, auf die hin sich Dasein aus der Geworfenheit heraus entwirft. Diese Charakterisierung wird wiederum im Zusammenhang von Heideggers Weltbegriff verständlich: Zur Geworfenheit des Daseins gehört nicht nur, dass wir uns immer schon in einer Welt vorfinden (was Heidegger als Befindlichkeit bezeichnet), sondern auch, dass wir unser Sein als stets neu gestellte Aufgabe zu übernehmen haben. Die Geworfenheit besagt, dass das Dasein „nicht von ihm selbst in sein Da gebracht“ (GA 2, 377) wird. Dasein ist Seinkönnen, „das sich selbst gehört und doch nicht als es selbst sich zu eigen gegeben hat. Existierend kommt es nie hinter seine Geworfenheit zurück […]“. (GA 2, 377) Das Selbst kann seines Grundes „nie mächtig“ werden und doch hat es „existierend das Grundsein zu übernehmen“. (GA 2, 377) Daher kann das Selbst nicht als zugrundeliegendes Vorhandenes Grund (d. h. ontologisches Fundament) seiner selbst sein, sondern einzig im Vollzug seines In-der-Welt-seins, und damit in einer Art Überlassung an das Geschehen, das die Welt ist. Auch wenn dieses Verständnis der Welt deutlicher erst Ende der 1920er Jahre ausgeführt und in veränderter Weise in den folgenden Jahrzehnten immer wieder aufgegriffen wird, ist es doch bereits in Sein und Zeit angelegt und hat damit eine entscheidende Bedeutung für Heideggers Verständnis des Selbst. Dieses Verständnis bleibt auch in den folgenden Jahrzehnten prägend.
6.6 Objektivität, Realismus, Idealismus Einer der wesentlichen Aspekte von Heideggers philosophischem Ansatz besteht in dem Aufweis, dass wir mit der Welt und den Dingen in der Welt derart verwoben sind, dass sie uns nicht als bloße Objekte gegenüberstehen. Die Konsequenzen dieser Auffassung für das metaphysische Problem der Objektivität und für das Verständnis von Realismus und Idealismus werden im Folgenden genauer erläutert. So macht Heidegger bereits am Katheder-Beispiel von 1919 geltend, dass dieses im Kontext einer Vorlesung unmittelbar in seiner Funktion als Katheder und nicht zuerst als abstraktes Objekt wahrgenommen wird. (GA
128 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein 56/57, 71; → 6.1) Der objektivierende, ‚theoretische‘ Blick der Naturwissenschaften auf die Welt und die Dinge in der Welt wird entsprechend kritisch als „Prozeß der Ent-lebung“ (GA 56/57, 91) beschrieben. Zwar kann man eine theoretische Perspektive durchaus einnehmen, darf diese aber nicht absolut setzen und ihre Abhängigkeit vom Leben in seiner Verwobenheit mit der Welt übersehen. (GA 56/57, 91) In der Vorlesung aus dem Wintersemester 1921/22 heißt es dazu weiter, die in der faktischen Lebenserfahrung erlebte Welt könne kein Objekt sein, da man in einem Objekt nicht leben könne, (GA 60, 11) und in den Vorlesungen von 1925 und 1927 kritisiert Heidegger ganz allgemein eine entsprechende Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. (GA 20, 225; GA 24, 227) Eine präzisere Analyse des Verhältnisses unserer Verwobenheit mit der Welt zu einem objektivierenden Blick findet sich in Sein und Zeit in den Begriffen von Zuhandenheit und Vorhandenheit. Zunächst sind uns die Dinge der Welt praktisch vertraut und wir gehen mit ihnen in jeweils spezifischen Kontexten um, sie sind uns in den Worten Heideggers „zuhanden“. (GA 2, 93) Das Vorhandensein der Dinge außerhalb dieser Funktion fällt uns dagegen für gewöhnlich erst dann auf, wenn sie einmal nicht funktionieren oder uns im Wege sind. (GA 2, 99) Der entscheidende Punkt dabei ist, dass die Dinge nicht zunächst vorhanden sind und dann von uns als zuhandene Dinge behandelt werden, sondern dass wir primär mit ihnen als zuhandene Dinge umgehen und sie nur in defizienten Modi des Zuhandenseins als vorhandene Dinge betrachten. (GA 2, 96) In einem eigenen Abschnitt diskutiert Heidegger auch den theoretisch-objektivierenden Blick der Wissenschaften auf die Dinge in ihrer Vorhandenheit (GA 2, § 69b) und spricht dabei von einem Umschlagen vom praktischen Umgang mit den Dingen hin zu ihrer theoretischen Erforschung. Der Umschlag zur theoretischen Erforschung bestehe allerdings nicht darin, sich des praktischen Umgangs zu enthalten, da auch die Wissenschaften praktisch mit zum Beispiel Experimentieranordnungen umgehen würden. (GA 2, 473) Stattdessen handelt es sich um einen neuen Blick auf das Zuhandene als Vorhandenes, (GA 2, 477) was man auch mit dem Wittgenstein’schen Begriff des Gestaltwechsels erläutern könnte. Dazu gehört insbesondere, dass sich der Ort des Vorhandenen nicht mehr über den Platz im Kontext seines Gebrauchs bestimmt, sondern als bloße Stelle in der Raum-Zeit aufgefasst wird. (GA 2, 478) Heidegger betont hier ein weiteres Mal, dass dieser objektivierende Zugriff auf die Welt unser Leben bzw. hier genauer „die Grundverfassung des Daseins, das In-der-Welt-sein, zur Voraussetzung hat“. (GA 2, 481) Für das Problemfeld des Realismus bedeutet dies, dass ein nicht an der Welt orientierter Begriff der Realität (lat. res: Ding, Sache) den Modus des Zuhandenen übersieht bzw. überspringt und versucht, die Wirklichkeit anhand der „Naturdinglichkeit“ und der „Dingvorhandenheit“ (GA 2, 280) überhaupt zu begreifen. Realität stellt daher für Heidegger eine Weise dar, Sein zu verstehen, „Realität“ ist im Seinsverständnis des Daseins fundiert. (GA 2, 266) Unter die Frage des Realismus fällt dabei etwa das Problem, ob es ein „bewusstseinstrans-
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zendentes“ Seiendes gibt, was zu den Fragen führt, ob die „Realität“ der Außenwelt bewiesen, ob diese Außenwelt in ihrem An-sich-Sein erkannt werden kann und was Realität überhaupt bedeutet. Diese Fragen zeugen jedoch laut Heidegger von einem ontologischen Irrweg, der im Verständnis des Erkennens selbst begründet ist, da einzig das anschauende Erkennen als genuine Erfassungsart des Realen konzipiert wird. Das Erkennen jedoch ist lediglich ein fundierter Modus des Zugangs zum Realen. Dieses ist wesenhaft nur als innerweltliches Seiendes zugänglich. Aller Zugang zu solchem Seienden ist ontologisch fundiert in der Grundverfassung des Daseins, dem In-der-Welt-sein. Dieses hat die ursprünglichere Seinsverfassung der Sorge (Sich vorweg – schon sein in einer Welt – als Sein bei innerweltlichem Seienden). (GA 2, 268; → 6.4; → 6.7)
Die Frage nach einer zu beweisenden Außenwelt ist für Heidegger daher sinnlos und zeugt vielmehr davon, dass in der Frage nach der Realität der Außenwelt das Weltphänomen überhaupt nicht geklärt wird. Das ursprüngliche Phänomen des In-der-Welt-seins wird stattdessen gleichsam zerlegt, um dann das auf solche Art isolierte Subjekt und die Dinge zu einer Welt zusammenzufügen. Gegenüber dem so verstandenen Realismus hat der Idealismus Heidegger zufolge zumindest den Vorteil, dass in ihm zum Ausdruck kommt, dass „Sein nicht durch Seiendes erklärt werden kann“. (GA 2, 275) Jedoch fokussiert sich der Idealismus dafür auf die Abhängigkeit des Seins und der Realität vom Bewusstsein, die Heidegger vor dem Hintergrund seiner Überlegungen zum Seinsverständnis und zum In-der-Welt-sein des Daseins als naiv zurückweist. (GA 2, 275 f.) Insofern Realität als „pure Dingvorhandenheit“ verstanden wird und damit ontologisch am innerweltlich Seienden orientiert ist, erweist sie sich wie alle Seinsmodi des innerweltlichen Seienden „ontologisch in der Weltlichkeit der Welt und damit im Phänomen des In-der-Welt-sein fundiert“. (GA 2, 280) Der Realität kommt damit ontologisch kein Vorrang zu. „Realität“ zeigt sich für Heidegger vielmehr in unserem Umgang mit dem Seienden, den er im Begriff der Sorge analysiert. Noch bevor wir von Realität sprechen, hat sich die Welt bereits in der Sorge konkretisiert. Darin steckt jedoch nicht unbedingt ein Votum für eine Form des metaphysischen Idealismus. (Blattner 1999) Vielmehr besteht das Potential des gegenüber der traditionellen Metaphysik veränderten Weltbegriffs darin, die Alternativen von Realismus und Idealismus in einer Analyse verschiedener Weisen des In-der-Welt-seins einzuholen. Auch die Erfahrung von Transzendenz, die für Heideggers Weltbegriff Ende der 1920er Jahre in seiner metaphysischen Übergangsperiode entscheidend ist, lässt sich in diesem Zusammenhang deuten. (→ 6.2) Innerhalb eines Weltentwurfes kann Seiendes nun in einer Entzugs- und Kontingenzerfahrung für uns begegnen. In der Auseinandersetzung mit dem sich derart entziehenden Seienden differenziert sich ein Weltentwurf aus und ergibt sich ein Verständnis von Realität. Realität muss daher als konstitutiv auf diese Auseinandersetzung mit dem Seienden verstan-
130 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein den werden, welche die Gestalt der Etablierung von Begründungszusammenhängen annimmt. (Schmidt 2016, 86–89) Darin, dass auch der Weltentwurf von einer Auseinandersetzung mit dem Realen abhängig ist, lässt sich eine realistische Tendenz in Heideggers metaphysischer Periode entdecken. Diese Tendenz zum Realismus verstärkt sich in Heideggers Versuch, einen emphatischen Begriff des Dings zu prägen, mit dem eine Reduktion des Realen auf bloße Gegenstände verhindert werden soll, wie sie für die theoretische Einstellung der Naturwissenschaften typisch ist. Charakteristisch für diesen Kontrast ist die Kant-Vorlesung von 1935/36 mit dem Titel Die Frage nach dem Ding, in der Heidegger einfache Dinge, wie ein „Stein, ein Stück Holz, Zange, Uhr, ein Apfel, ein Stück Brot“ (GA 41, 6) sozusagen zu den paradigmatischen Gegenständen der Metaphysik machen will. Die alltägliche und die wissenschaftliche Dingerfahrung unterscheiden sich jedoch radikal voneinander, (GA 41, 13) und das in problematischer Weise: In einem eigenen Abschnitt wird ausführlich die Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft diskutiert, (GA 41, § 18) in der die Dinge aus der Perspektive eines mathematischen Entwurfs der Natur untersucht werden. (GA 41, 92 ff.) Innerhalb dieses Entwurfs werden die Dinge zu Objekten oder Gegenständen, die dem Subjekt gegenüberstehen und diesem vorliegen, was Heidegger an Descartes zu zeigen versucht. (GA 41, 105 f.) Diese Überlegungen greift Heidegger in seinem wenige Jahre später gehaltenen Vortrag Die Zeit des Weltbildes (1938) auf, in dem er nicht nur behauptet, die Wissenschaften würden das Seiende vergegenständlichen, (GA 5, 87) sondern dem gesamten Denken seit der Neuzeit unterstellt, das Ganze des Seienden als Gegenstand zu denken und die Welt in diesem Sinne zu einem Bild, zum Weltbild der Neuzeit zu machen. (GA 5, 89 f.) In seiner späteren Technikkritik spitzt Heidegger diese Großthese kulturpessimistisch so zu, dass das Seiende für die moderne Technik nicht nur zum Gegenstand wird, sondern zum verfügbaren Bestand, (GA 7, 17 ff.) womit sich die Gegenständlichkeit zur „Beständlichkeit“ (GA 15, 367 f.) wandele. Gegen diese Tendenz bringt Heidegger einen besonderen Zugang zu den Dingen ins Spiel, den er in seinen späteren Vorträgen im Zusammenhang mit dem Wohnen im Geviert erläutert. So macht er insbesondere in seinem ersten Bremer Vortrag von 1949 mit dem Titel Das Ding geltend, dass uns das Wesentliche – oder, in seinen Worten: das Dinghafte des Dinges – entgehen würde, wenn wir es als Gegenstand betrachteten. (GA 79, 6) Stattdessen entwirft er eine Art des unmittelbaren Gegebenseins von Dingen, die er diesmal nicht anhand eines Katheders erläutert, sondern am Beispiel des Krugs, den er über die Funktionalität dessen Gebrauchs bestimmt. (GA 79, 10 f.) Diese ist jedoch ihrerseits eingebettet in die als Geviert beschriebene Lebenswelt, (GA 79, 11 f.) die als Welt durch das „Dingen des Dings“ (GA 79, 20) eröffnet wird. Demnach beruht nicht nur unser Verständnis der Dinge auf unserem Umgang mit ihnen, auf der Verwobenheit in die Welt, sondern die Welt wird auch durch unseren Umgang mit den Dingen mit konstituiert. Diese
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Konstitution geht dabei nicht mehr wie beim frühen Heidegger vom Menschen aus, sondern von den Dingen – „Das Ding dingt Welt“ (GA 79, 20) –, was als Grundlage für eine Lesart Heideggers im Sinne eines „phänomenologischen Realismus“ dienen kann: „Phänomenologischer Realismus lässt sich als die Überzeugung definieren, dass Sinnerfahrung und Sinnkonstitution nicht beschrieben werden können, ohne in dieser Beschreibung auf lebensweltliche Gegenstände oder Dinge, auf reale Korrelate von Sinn, Bezug zu nehmen.“ (Keiling 2015, 60)
Dies markiert gewissermaßen eine Verschiebung vom In-der-Welt-sein hin zu einem ‚Inmitten-der-Dinge-sein‘. Ausschlaggebende Texte Heideggers für diesen Theorieentwurf sind der „Vorbereitende Teil“ der Vorlesung Die Frage nach dem Ding, (GA 41, 1–53) der Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks (GA 5, 1–74) und Ausführungen zum Ding in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie. (GA 24) Dieses Realismusverständnis hängt eng mit Heideggers Konzept der Seinsgeschichte (→ 6.11) zusammen. Die Epochen der Seinsgeschichte beschreiben nicht nur die Paradigmenwechsel in unserem Denken von Sein, sondern auch „die geschichtliche Fülle explanatorischer Zusammenhänge, in denen Dinge thematisiert werden“. (Keiling 2015, 62) So betrachtet erweisen sich die Dinge als realer Kondensationskern der verschiedenen Epochen der Seinsgeschichte, bzw. die Seinsepochen stellen sich dann dar als Explikationsmöglichkeiten von Dinglichkeit. (Keiling 2015, 76) Umgekehrt zeugen sie damit auch von der seinsgeschichtlichen Pluralität und der Unabgeschlossenheit des Seinsverstehens. Innerhalb dieser Dingtheorie zeigt sich Dinglichkeit als ein Fokus ganz verschiedener Zusammenhänge. Die Realität eines Dinges liegt darin, dass es in mehr als einer Erscheinungsweise auftritt und diese phänomenal werden lässt. Entscheidend dabei ist – und darin zeichnet sich der Realitätscharakter des Dinges aus –, dass sich in den verschiedenen Einstellungen „dasselbe Ding als Ding identifizieren lässt und aus einem explanatorischen und deskriptiven Zusammenhang in den anderen gewissermaßen mitnehmen lässt“. (Keiling 2014, 87; GA 41, 13) Diese realistische Dingtheorie ist darüber hinaus insofern phänomenologisch, als sie zeigt, dass sich „Phänomenalität als solche nicht mehr ohne Bezugnahme auf die in Phänomenen präsenten Dinge denken [lässt], weil es eben diese sind, die phänomenale Präsenz und (ontologische) Repräsentation vermitteln“. (Keiling 2014, 103)
6.7 Zeit und Raum Der Begriff der Zeit ist im Denken Heideggers eng mit dem des Seins verknüpft. Die Zeit nimmt deshalb eine Schlüsselrolle für Heidegger ein, weil seine Kritik
132 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein an der Ontologie seit der Antike darin besteht, dass sie das Sein von der Präsenz, d. h. von der ständigen Anwesenheit her verstehe. (GA 2, 34; Tugendhat 1992, 129) Noch schwerer wiegt, dass der temporale Charakter des Seins überhaupt nicht bemerkt und eigens bedacht worden ist. Demgemäß besteht die Grundidee von Heideggers Ansatz darin, dass das Erscheinen von Sein nicht länger in der aristotelischen Tradition mittels des Logos, d. h. aufgrund der Aussage verstanden werden soll, sondern mittels der Zeit als entscheidender Konstitutionsform von Erfahrung. Mit der Zeit soll derjenige Phänomenbereich ausgemacht werden, in dem sich die Formen der Erfahrung des Seins einstellen. Dies umfasst sowohl die Zeit als auch den Raum, die gerade nicht, wie etwa bei Kant, als reine Formen der Anschauung verstanden werden. Es geht Heidegger nicht um die Bedingungen der Möglichkeit für das Erscheinen von etwas, sondern um die Bedingung der Möglichkeit für Erscheinen überhaupt. Heideggers Untersuchungen zum Zeitproblem beginnen bereits 1916 mit seinem Habilitationsvortrag Der Zeitbegriff in den Geschichtswissenschaften. (GA 1, 413–433) Zur vollen Entfaltung kommen die Zeitanalysen jedoch erst in Sein und Zeit, dessen erklärtes vorläufiges Ziel die „Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt“ (GA 2, 1) ist. Im Zuge seiner vorherigen Beschäftigung mit der Zukunftsgerichtetheit christlichen Lebens in Form der Eschatologie, d. h. das von Gott her erfolgende Ende der Welt des irdischen Menschen, (GA 60, 98–105) und mit dem Werk von Paul Yorck von Wartenburg, (1956) der wiederum die Geschichtlichkeit als einen ausgezeichneten Seinscharakter des menschlichen Lebens analysierte, nehmen Heideggers eigene Analysen der Zeitlichkeit des Daseins Gestalt an. Für diese ist die Sorgestruktur des Daseins zentral, die Heidegger in seinen Analysen der alltäglichen Lebensvollzüge aufgewiesen hat. Die Sorge bildet den Angelpunkt, der Heideggers Analysen des In-der-Welt-seins systematisch mit seinen Zeitlichkeitsanalysen verbindet. Die Sorgestruktur des Daseins drückt Heidegger in der Formel „Sich-vorweg-schon-sein- in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ (GA 2, 256) aus. Die Einheit und Ganzheit von Existenzialität (über sich selbst hinaus, vorweg), die Faktizität (im-schon-sein-in) und das Verfallen (Sein-bei) finden in der strukturellen Einheit der Sorge ihren Ausdruck. Auf den Strukturzusammenhang der Sorge bezieht Heidegger seinen ursprünglichen Zeitbegriff. Den drei Seinsarten, die in Sein und Zeit diskutiert werden, Existenz (Sein des Daseins), Zuhandenheit (Sein des Zeugs/Zuhandenen) und Vorhandenheit (Sein des Vorhandenen), wird dabei je ein Zeitmodus zugeordnet: ursprüngliche Zeitlichkeit, Weltzeit und vulgäre Zeit. Zwischen den drei Zeitmodi besteht ein Fundierungsverhältnis. Die vulgäre Zeit ist eine pure anfangs- und endlose Folge von Jetztpunkten (GA 2, 435) und fundiert in der Weltzeit. Diese ist die in der Welt „veröffentlichte Zeit“, der eine Bedeutsamkeit zukommt. Heidegger bezeichnet sie auch als „besorgte Zeit“: „sie ist datierbar, gespannt, öffentlich und gehört als so strukturierte zur Welt selbst.“ (GA 2, 548)
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Die Weltzeit liegt auch dem Verständnis der Zeit als der Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugrunde. Dieser traditionellen Einteilung der Zeit setzt Heidegger seine sehr ähnlich klingenden Ekstasen (Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart) entgegen. Die Ekstasen sind „Entrückungen“, d. h. sie beschreiben ein „Aus-sich-Heraustreten“ des Daseins und kennzeichnen Heideggers Begriff der ursprünglichen Zeitlichkeit. Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ‚Auf-sichzu‘, des ‚Zurück auf ‘, des ‚Begegnenlassens von‘. Die Phänomene des zu …‚ auf …, bei … offenbaren die Zeitlichkeit als das [ekstatikón] schlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ‚ Außer-sich‘ an und für sich selbst. Wir nennen daher die charakterisierten Phänomene Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart die Ekstasen der Zeitlichkeit. (GA 2, 435)
Diese einheitliche reflexive „Bewegung“ des Heraustretens und wieder auf sich selbst Zurückkommens konkretisiert sich in der Sorge. „Die Zeitlichkeit enthüllt sich als der Sinn der eigentlichen Sorge“. (GA 2, 432) Die ursprüngliche Zeit wird aus der Sicht Heideggers im vulgären Zeitverständnis nivelliert und im Zuge dessen berechenbar, weshalb Heidegger sich von diesem Zeitverständnis absetzen und dessen Abgeleitetheit aufzeigen möchte. Die Zeit selbst bzw. die Zeitlichkeit des Daseins muss demnach als ekstatisch-dynamisch verstanden werden. Die ursprüngliche Zeitlichkeit ist keine Anhäufung oder Abfolge der Ekstasen und obwohl alle drei als gleichursprünglich anzusehen sind, weist Heidegger der Ekstase der Zukunft einen Vorrang zu. In diesem Punkt unterscheidet er sich von Husserl, der in seinen Zeitanalysen einen Fokus auf die Gegenwart legt. (→ 1.8; Hua X; Hua XXXIII) In der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit ist die Welt durch die Transzendenz in dem Sinne fundiert, dass dem Aufspannen einer Welt in ihrer Ganzheit und damit der Erschlossenheit des Daseins die ekstatische Zeit zugrunde liegt, (GA 2, § 69c) die Heidegger auch als „Zeitigung der Zeitlichkeit“ (GA 2, 463) bezeichnet. Sinn bestimmt Heidegger als das, „worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält“, (GA 2, 428 f.) und die Zeit als den Sinn von Sein zu bestimmen, bedeutet mithin auszuweisen, dass Zeit „dasjenige“ ist, worin sich die Verstehbarkeit von Sein hält, d. h. die Zeit ist das, worin wir Sein verstehen. Damit erweist sich die Zeitigung der ursprünglichen Zeit (die Ekstasen in ihrer Einheit) als der Ursprung für Zugänglichkeit zu Seiendem, und zwar sowohl zu uns selbst als Dasein als auch zu nicht daseinsmäßigem Seienden. (Figal 2013, 248 f.) Der Schluss von Sein und Zeit mündet entsprechend in der Frage, ob sich die Zeit selbst als Horizont des Seins offenbart. Zeit spielt also deswegen eine zentrale Rolle im Denken Heideggers, weil sie einen Zugang zum Sein gewährt. Dennoch greift Heidegger die Frage, ob die Zeit sich als Horizont des Seins offenbart, in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie wieder auf, die er selbst als die Ausarbeitung des dritten Abschnittes des ersten Teils von Sein und Zeit versteht. (GA 24, 1) Zunächst werden die Zeitlichkeitsanalysen aus
134 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein Sein und Zeit teilweise wiederholt. Gegenüber dem zweiten Abschnitt von Sein und Zeit soll jedoch im zweiten Teil der Vorlesung „über das Sein des Daseins hinaus das Sein überhaupt aus der Zeit bestimmt werden“. (Römer 2010, 206; GA 24, 388) Um diesen Unterschied zu markieren, unterscheidet Heidegger die Zeitlichkeit des Daseins von der Zeitlichkeit des Seins selbst, welche er Temporalität nennt, und die noch ‚vor‘ der Zeitlichkeit des Daseins liegen soll. Diese Überbietungsfigur findet ihren Ausdruck darin, dass Heidegger nun versucht, zu jeder der drei Ekstasen der Zeitlichkeit – Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart – die Horizonte der Temporalität – Futurum, Praeteritum und Praesenz – aufzudecken. (GA 24, 433–435; Römer 2010, 209–213; 234) Jedoch kommt Heidegger über die Analyse der Praesenz nicht hinaus und auch die Zeituntersuchungen in der Vorlesung brechen ab. Die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Zeit ist damit wieder offen, und entsprechend untersucht Heidegger in der Spätphase seines Denkens das Verhältnis zwischen Sein und Zeit erneut und gelangt zu einer Revision seiner früheren Analysen. In seinem Vortrag Zeit und Sein von 1962 spielen weder die Zeitlichkeit (des Daseins) noch die Temporalität (des Seins) eine Rolle. Ebenso will er Sein und Zeit nicht länger in Beziehung zum Seienden denken. (GA 14, 7) Diese Beziehung drückt sich grammatisch in den rudimentären Sätzen ‚Sein ist‘ und ‚Zeit ist‘ aus, wobei die Kopula ‚ist‘ im Sinne einer Existenzaussage verwendet wird. Stattdessen stellt Heidegger hier die Frage nach dem Verhältnis zwischen „Es gibt Zeit“ und „Es gibt Sein“. (GA 14, 9) Diese „Es gibt …“-Ausdrücke verweisen nach Heidegger auf ein diesen vorgeordnetes „Geben“: „Das Sein eigens denken, verlangt, das Sein als den Grund des Seienden fahren zu lassen zugunsten des im Entbergen verborgen spielenden Gebens, d. h. des Es gibt. Sein gehört als die Gabe dieses Es gibt in das Geben.“ (GA 14, 10) Diese „Gabe“ betrachtet Heidegger als ein „Schicken“ und im Schicken liegt ein Verweis auf eine spezifische Form von Zeit, denn das „Es“ in dem Ausdruck „Es gibt“ interpretiert Heidegger als die Zeit. „Somit erscheint die eigentliche Zeit als das Es, das wir nennen im Sagen: Es gibt Sein. Das Geschick, darin es Sein gibt, beruht im Reichen von Zeit.“ (GA 14, 22) Die Zeit erreicht uns als eine Gabe, wobei sich der Geber in diesem Schicken zurückhält und entzieht. Bemerkenswerterweise nähert sich Heidegger in Zeit und Sein den Zeitanalysen Husserls an, wenn er nicht länger die Zukunft präferiert, sondern die Gegenwart stärker in den Mittelpunkt rückt – jedoch nur insofern, als sich in der Gegenwart Anwesen bekundet, womit ein Verweilen und ein Zur-ErscheinungKommen gemeint ist (GA 14, 9 f.; 14 f.) Die Zukunft ist ein Ankommen desjenigen, was noch nicht Gegenwart ist, das Gewesen bezeichnet die nicht mehr Gegenwart. „Der Wechselbezug beider reicht und erbringt zugleich Gegenwart.“ (GA 14, 18) Statt von Ekstase spricht Heidegger nun in kritischer Anlehnung an Kant (KrV B47/A31) von den drei Dimensionen (d. h. Erstreckungen) der Zeit. Das Verhältnis der drei Zeitdimensionen Zukunft, Gewesen, Gegenwart cha-
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rakterisiert Heidegger als Nähe. (GA 14, 20 f.) Dies deswegen, weil im Begriff der Nähe eine Ambivalenz liegt, die auch für das Verhältnis der drei Dimensionen gilt: Nähe ist auf der einen Seite ein Annähern, dieses ist aber nur möglich, wenn zugleich auch ein Abstand gewahrt bleibt. Nähe bezeichnet demnach die Zusammengehörigkeit der drei Dimensionen, wobei sie aber nicht zusammenfallen. Dieser Wechselbezug ist zugleich ein Oszillieren von Anwesenheit und Abwesenheit. Hierin drückt sich ein fundamentaler Zug des Zeitlichen aus. Der Sinn zeitlicher Ausdrücke wird erst verständlich vor dem Hintergrund des Zusammenspiels von Anwesen und Entzug, „denn alles in der Zeit Anwesende ist in sich nicht nur durch Präsenz, sondern auch durch Absenz charakterisiert: wäre es nur präsent, wäre es unzeitlich, und nur Absentes ist überhaupt nicht“. (Figal 2013, 307) Das eigentliche – gerade nicht am Seienden orientierte – Verständnis von Zeit besteht für Heidegger in diesem ‚Sich-einander-Reichen‘ von Zukunft, Gewesen und Gegenwart. Die Einheit dieses Zuspiels, d. h. des Reichens (so wie wir von ‚etwas anreichen‘ oder ‚zureichen‘ sprechen), ist es, die „Zeit“ genannt werden muss. „Denn Zeit ist selbst nichts Zeitliches, so wenig wie sie etwas Seiendes ist.“ (GA 14, 18) Dieses Zuspiel erweist sich als die „vierte Dimension“ der Zeit, (GA 14, 20) welche entsprechend der Dimensionalität der Zeit den „Zeit-Raum“ eröffnet. „Nähe“, „Zeit-Raum“ und „vierte Dimension“ verweisen auf den Charakter der Zeit als des Eröffnenden, d. h. als die Zugänglichkeit jedes Geschehens; wobei jedoch der Ausdruck „vierte Dimension“ missverständlich ist, da er ein Nebeneinander der Dimensionen impliziert. Die drei Ausdrücke dienen vielmehr dazu, das Verhältnis der drei genannten Dimensionen zu beschreiben. (Kettering 1987, 301) Da die eigentliche Zeit gerade nicht mehr in Bezug zum Seienden gedacht werden soll, ist mit Zeit-Raum nicht das messbare Zeitintervall gemeint. „Zeit-Raum nennt jetzt das Offene, das im Einandersich-reichen von Ankunft, Gewesenheit und Gegenwart sich lichtet.“ (GA 14, 18 f.) Das Stiften dieses Offenen ist das Ereignis, was Heidegger hier nur mit dem Hinweis erläutert, das „Es gibt“ in den beiden Ausdrücken „Es gibt Zeit“ und „Es gibt Sein“ verweise eben auf das Ereignis. Die konzeptionelle Verschiebung gegenüber den früheren Zeitanalysen kulminiert in der These, dass nicht länger die Zeit selbst, sondern das Ereignis der Ursprung von Zeit und Sein ist und sie in ihrem Zusammengehören bestimmt. Auch wenn Heidegger in der Frühphase seines Denkens aufgrund seiner temporalen Interpretation des Seins einen Fokus auf die Zeit legt, bedeutet dies keineswegs, dass der Raum eine unbedeutende Rolle spielt. Im Gegenteil wird deutlich, dass der Raum in Begriffen wie Lichtung, Wohnen und Ort im Spätwerk seines Denkens zunehmend an Bedeutung gewinnt, und damit auch für Heideggers neues Verständnis von Sein und Welt relevant wird. Die Beziehung zwischen Zeit und Raum spielte bereits eine Rolle in Sein und Zeit im Rahmen der Existenzialanalyse, d. h. der Untersuchung der Seinsweisen des Daseins.
136 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein Raum bzw. Räumlichkeit sind für Heidegger fundiert in der Welt, genauer gesagt im In-der-Welt-sein des Daseins. Die Räumlichkeit, das „Sein im Raum“, muss aus der Seinsart des Daseins begriffen werden. (GA 2, 140) Diese existenziale Räumlichkeit zeichnet sich durch zwei Aspekte aus: Ent-fernung und Ausrichtung. ‚Ent-fernung‘ ist hier sozusagen wörtlich zu nehmen und besagt „Verschwindenmachen der Ferne“. (GA 2, 140) Dass das Dasein wesenhaft entfernend ist, bedeutet, dass es Seiendes in der Nähe begegnen lässt. Das Begegnenlassen geschieht dabei im Rahmen der Bewandtnisganzheit. Die Räume und Orte, die im Umgang mit Seiendem eine integrale Rolle einnehmen, nennt Heidegger „Gegenden“. „Das Besorgen des Daseins, dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht, entdeckt vorgängig die Gegenden, bei denen es je ein entscheidendes Bewenden hat. Die vorgängige Entdeckung der Gegenden ist durch die Bewandtnisganzheit mitbestimmt, auf die das Zuhandene als Begegnendes freigegeben wird.“ (GA 2, 139)
Als ent-fernendes In-sein hat das Dasein zugleich den Charakter der Ausrichtung. „Jede Näherung hat vorweg schon eine Richtung in eine Gegend aufgenommen, aus der her das Ent-fernte sich nähert, um so hinsichtlich seines Platzes vorfindlich zu werden. Das umsichtige Besorgen ist ausrichtendes Entfernen.“ (GA 2, 144 f.) Erst aus der Ausrichtung entspringen dann die basalen Raumdimensionen rechts/links. Das bedeutet, dass die basale räumliche Orientierung für Heidegger im Gegensatz zu anderen phänomenologischen Denkern des Raumes wie Husserl (→ 1.8) und Merleau-Ponty (→ 11.3) nicht leiblichintentional und kinästhetisch, sondern vorrangig „besorgend“, d. h. im Umgang und Begegnenlassen des Seienden, fundiert ist. In Sein und Zeit der Raum durch die Räumlichkeit des Daseins, die phänomenologisch-hermeneutisch freigelegt wird, miterschlossen: „Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr ‚in‘ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat.“ (GA 2, 149) Insofern nun aber die Welt über die Struktur der Sorge auf die Ekstasen der Zeitlichkeit zurückgeführt wird, (GA 2, § 69; → 6.1–6.3) erweist sich auch die Räumlichkeit als in der ekstatischen Zeitlichkeit fundiert. (GA 2, § 70; 485; 488) Obwohl Sein und Zeit genau darauf hinausläuft, weist Heidegger in seinem späteren Vortrag Zeit und Sein diesen Versuch, die Räumlichkeit aus der Zeitlichkeit zu bestimmen, als unhaltbar zurück. (GA 14, 29) Diese späte Kritik basiert auf Heideggers neuer Konzeption des Raums, die er in der Zwischenzeit in der Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst, der Architektur und dem Wohnen des Menschen entwickelt hat. Für dieses neue Raumverständnis greift Heidegger Aristoteles’ Unterscheidung von tópos (Ort) und chóra (Raum) aus der Physik (Buch IV ) auf. Trotz der Unterschiede in ihren Denkweisen konstatiert Heidegger, dass der Raum vom antiken bis zum neuzeitlichen Denken vom ausgedehnten Körper her vorgestellt wurde. (1996,
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11) Demgegenüber möchte Heidegger den Raum in seiner Eigentümlichkeit begreifen und geht dazu auf den etymologischen Ursprung des Wortes „Raum“ bzw. „Räumen“ zurück. Räumen bedeutet demnach freimachen, landschaftlich ‚Ordnung schaffen, aufräumen‘ (roden). Der Raum als das Eingeräumte ist das Offene, Freie. (GA 7, 156; GA 13, 206 f.; 1996, 13) In diesem „Einräumen“ unterscheidet Heidegger zwei Aspekte: Zum einen lässt es Offenes walten, das unter anderem das Erscheinen anwesender Dinge zuläßt, an die menschliches Wohnen sich verwiesen sieht. Zum anderen bereitet das Einräumen den Dingen die Möglichkeit, an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören. (GA 13, 207)
Dieses Einräumen und Freigeben geschieht Heidegger zufolge durch den Ort. „Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d. h. versammelt durch einen Ort […]. Demnach empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus ‚dem‘ Raum.“ (GA 7, 156) Orte sind für Heidegger also nicht „im Raum“, sondern der Ort ist umgekehrt dasjenige, was versammelt, und d. h. das Eingeräumte „gestattet und fügt“ und damit den Raum allererst eröffnet. Hier zeigt sich zugleich die Verbindung zum Begriff des Dings. Denn „Ding“ leitet sich von „thing“ ab, was ebenfalls Versammlung bedeute. (GA 7, 155) Ort und Ding gehören also unter dem Aspekt der Versammlung zusammen. „Der Ort öffnet jeweils eine Gegend, indem er die Dinge auf das Zusammengehören in ihr versammelt.“ (GA 13, 207) Diese Zusammengehörigkeit geht so weit, dass Heidegger den Ort mit Ding identifiziert. Die Dinge gehören nicht bloß an einen Ort, sondern sie selbst sind die Orte. (GA 13, 208) Heidegger erläutert diesen Zusammenhang anhand von zwei ausgezeichneten Arten von Dingen: Bauten (Architektur) und Plastiken (bildende Kunst). Zurückgehend auf das althochdeutsche Wort „buan“ bzw. „buwan“ für „bauen“ zeigt Heidegger, dass ‚bauen‘ auch die Bedeutung ‚wohnen, d. h. bleiben, sich aufhalten‘ besitzt. (GA 7, 148) Der Begriff des Wohnens löst deshalb Heideggers Begriff des In-der-Welt-seins (→ 6.1) in den 1950er Jahren weitgehend ab. ‚Wohnen‘ bezeichnet den Aufenthalt des Menschen in der Welt, diese jedoch nun verstanden als Geviert. (GA 7, 151 f.; → 6.3) Die besondere Bedeutung der Bauten besteht darin, dass sie die Welt, verstanden als Geviert, eröffnen. Die Bauten als Dinge sind die Versammlung des Gevierts. (GA 7, 155 f.) Kunstwerken und der Skulptur im Besonderen kommt insofern eine ausgezeichnete Bedeutung zu, als Heidegger die Plastik als „Verkörperung von Orten“ begreift. „Die Plastik: ein verkörperndes Ins-Werk-Bringen von Orten und mit diesen ein Eröffnen von Gegenden möglichen Wohnens der Menschen, möglichen Verweilens der sie umgebenden, sie angehenden Dinge.“ (GA 13, 209) Die Plastik vermag dies aber nur, weil sie „die Verkörperung der Wahrheit des Seins in ihrem Orte stiftenden Werk“ (GA 13, 210) ist. Der Orte versammelnde und dadurch Raum eröffnende Charakter der Plastik liegt darüber hinaus jedoch letztlich in der Wahr-
138 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein heit des Seins, verstanden als ein das Offene stiftendes Geschehen. (→ 6.11) Den Übergang von der Frage nach der Wahrheit des Seins zur Frage nach dem Ort bzw. nach der Ortschaft des Seins fasst Heidegger im Begriff der „Topologie des Seyns“. (GA 15, 335; 344; GA 13, 84; GA 9, 412) „Ort“ bezeichnet auch hier das Versammelnde, jedoch das Versammelnde im Sinne der Lichtung. Mit der Topologie des Seins wird das Themengebiet der Räumlichkeit zuletzt jedoch ironischerweise verlassen: Heidegger ist nur insofern am Thema Räumlichkeit und Raum interessiert, als der Raum eine weitere Form darstellt, in dem sich Sein zeigt, sich zuschickt bzw. lichtet. „Infolgedessen beschäftigt sich die Topologie des Seins grundsätzlich mit drei Themenkreisen: den geschichtlichen Ausprägungen des Seins, der Lichtung und dem Ereignis.“ (Kettering 1987, 222)
6.8 Theologie Heideggers Philosophie steht in einem ausgesprochen engen Verhältnis zur Theologie, was Heidegger selbst mit Verweis auf seine religiös geprägte Herkunft geltend macht. (GA 12, 91; GA 66, 415) Aufgewachsen als Sohn des Mesners im provinziellen katholischen Milieu Meßkirchs, hat Heidegger zunächst eine geistliche Ausbildung begonnen, und zwar, unterstützt durch kirchliche Stipendien, erst im Jesuitenorden und dann als Student der Theologie in Freiburg. Dieses Studium gab er recht bald zugunsten der Philosophie auf und wandte sich im weiteren Verlauf seines Studiums immer mehr vom Katholizismus und schließlich ganz vom Christentum ab, um in seinen späteren Texten den Status der griechischen Götter und den griechisch-christlichen Synkretismus Hölderlins zu diskutieren. Seine Philosophie ist dennoch bis zum Schluss stark von theologischen Fragen geprägt und beeinflusst. (Vedder 2007; Fischer/von Hermann 2011) So hat er in seinen frühen Vorlesungen theologische Figuren in der Phänomenologie fruchtbar gemacht und später selbst zu theologischen Fragen beigetragen, indem er sich etwa mit dem Gottesbegriff auseinandersetzt und diesen vor allem mit Bezug auf die religiöse Erfahrung erläutert. Zu Heideggers ersten Vorlesungen gehört eine Einleitung in die Phänomenologie der Religion (Wintersemester 1920/21, GA 60, 1–156) und eine Vorlesung über Augustinus und den Neuplatonismus, (Sommersemester 1921, GA 60, 157–299) außerdem hat er eine Vorlesung über die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik vorbereitet, aber nicht gehalten. (GA 60, 301–337) In diesen frühen religionsphänomenologischen Arbeiten betont er vor allem den Aspekt des religiösen Erlebens, den er gegen einen dogmatisch verfassten Glauben ausspielt. Damit schließt er nicht nur an die zeitgenössische Debatte um Rudolf Otto, Ernst Troeltsch und Karl Barth an, sondern orientiert sich auch am pragmatischen Religionsverständnis von William James. (Jung 1990; Fischer 2013) Diese Ansätze verbindet Heidegger mit seiner Methode der formalen An-
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zeige, mit der er, vereinfacht gesagt, gegen den theoretischen und objektivierenden Zugriff der Philosophie bestimmte Denkerfahrungen erlebbar machen möchte. Unter dem Schlagwort der phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität setzt er diese Methode ein, um in seinen Analysen der Paulusbriefe die faktische Lebenserfahrung des Urchristentums freizulegen. (GA 60, 87–125) In diesen Analysen entwickelt er aber auch die Methode selbst weiter, weshalb die Arbeit an seinem phänomenologischen Ansatz von dessen Anwendung am Beispiel des religiösen Lebens nicht vollständig getrennt werden kann. Dies gipfelt darin, dass Heidegger aus den Briefen des Paulus seine eigenen Überlegungen zum Primat des Lebensvollzugs gegenüber der Tendenz zur Objektivierung herausliest. (GA 60, 112–115; 121–125) Außerdem entwickelt er in der Auseinandersetzung mit Paulus zentrale Überlegungen zur Zeitlichkeit und zur „abfallenden Lebenstendenz“, die sich später in Sein und Zeit unter den Begriffen des Verfallens und der Uneigentlichkeit wiederfinden. Die enge Zusammenarbeit mit dem protestantischen Theologen Rudolf Bultmann in Marburg lässt vermuten, Heidegger habe im Sinne von dessen Entmythologisierungsprogramm die Ergebnisse seiner frühen religionsphilosophischen Studien in säkularisierter Gestalt in die Existenzialanalysen von Sein und Zeit übernommen. Dagegen verwahrt sich Heidegger jedoch ausdrücklich (GA 9, 332) und verwirft die Idee einer entsprechenden christlichen Philosophie als „hölzernes Eisen“ (GA 40, 9) bzw. „viereckigen Kreis“. (GA 48, 163 f.) In dem 1927 in Tübingen und 1928 in Marburg gehaltenen Vortrag Phänomenologie und Theologie grenzt er die Theologie als positive Wissenschaft besonders deutlich von seiner Philosophie ab. (GA 9, 49) Allerdings räumt Heidegger bereits Ende 1928 in Briefen an Elisabeth Blochmann und Bultmann ein, dass auch die Theologie keine Wissenschaft sei, (Storck 1989, 25; Großmann/Landmesser 2009, 87) was er bei der späten Publikation dieses Vortrags im Jahre 1970 bestätigt. (GA 9, 77) In Sein und Zeit verweist er mit Luther auf die Bedeutung des religiösen Erlebens für die Theologie, (GA 2, 13 f.) womit er letztere doch in eine gewisse Nähe zu seiner Philosophie des konkreten Lebensvollzugs rückt. In seinen späteren Texten bringt Heidegger die Rede von Gott im Kontext der metaphysischen Frage nach einem ersten Grund ins Spiel. Dabei unterstellt er der gesamten abendländischen Philosophie pauschal, auf die ontologische Frage nach dem Sein des Seienden im Ganzen und vor allem auf die Frage nach dessen Grund theologisch mit dem Verweis auf einen das Sein tragenden Gott als causa prima, der entweder grundlos ist oder sich selbst als causa sui verursacht, zu antworten. Dieser Vorwurf wird von Heidegger erst seit den 1930er Jahren entwickelt und in letztgültiger Fassung im Text Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik (GA 11, 51–79) von 1957 vorgestellt. (→ 6.11; Fehér 2000; Barrón 2010) Heidegger macht auch im Kontext der Frage nach dem Grund den bereits in den frühen Schriften hervorgehobenen Erlebnischarakter des Glaubens geltend, wenn er wie Pascal den Unterschied zwischen dem Gott der Väter und
140 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein dem Gott der Philosophen hervorhebt. (GA 11, 77) Er übersieht hier freilich mit Pascal, dass die Vertreter der klassischen Gottesbeweise den philosophischen Gott durchaus mit ihrer gelebten Religiosität zu verbinden wussten. Dennoch bringt Heidegger den wesentlichen systematischen Punkt ins Spiel, dass die philosophische Kritik an einem ontotheologisch verstandenen prima-causa-Gott und die mit dieser Kritik einhergehende Einsicht in die Grundlosigkeit des Seienden zu einer Haltung des grundlosen Vertrauens führt, die als eine Form des Glaubens verstanden werden kann. Heidegger spricht zwar selbst nicht von Glaube in diesem Zusammenhang, deutet aber mit dem Konzept des göttlichen Gottes eine entsprechende religiöse Dimension zumindest an. (GA 11, 77) Insofern Heideggers zentrale Konzepte des Seins und des Ereignisses ebenfalls auf die Grundlosigkeit des Seienden verweisen, lassen sich auch diese Begriffe religiös interpretieren. Insbesondere dürfte es sich bei den Haltungen der Inständigkeit und der Gelassenheit um religiöse Einstellungen handeln, in denen man sich grundlos vertrauend zu der Grundlosigkeit des Seienden verhält. (von Herrmann 1995) So kann auch die Rede vom letzten Gott (GA 65, 406) auf die Grundlosigkeit von Sein und Ereignis bezogen und damit als ein mythisches Sprechen rekonstruiert werden, das den religiösen Charakter dieser Grundlosigkeit herausstellen soll. Heidegger spricht dabei genauer vom Vorbeigang des letzten Gottes im Moment der Verweigerung des Ereignisses, (GA 65, 406) was sich als metaphorische Beschreibung der existenziellen Erfahrung der Grundlosigkeit verstehen lässt. Schließlich lässt sich auch das Wohnen im Geviert (GA 7, 152) als eine positive Haltung angesichts der Grundlosigkeit und Unhintergehbarkeit des Seienden und der Welt betrachten, was mit der oben erläuterten Faktizität des Dass des Seienden und der Unmöglichkeit, die Welt als Gegenstand zu denken, einhergeht. Damit macht Heidegger geltend, dass Religiosität und die Rede von Gott nicht als theoretische Antwort auf metaphysische Fragestellungen, sondern als ein positiv-praktischer Umgang mit der Unbeantwortbarkeit solcher Fragen verstanden werden sollten. Heideggers vielzitierter Satz „Nur noch ein Gott kann uns retten“ (GA 16, 671) aus dem Spiegel-Interview von 1966, das als Vermächtnis erst nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte, betont nach dieser Lesart, dass ohne einen solchen positiv-praktischen Umgang etwas Entscheidendes fehlt. Mit dieser Unbeantwortbarkeit metaphysischer Fragen bleibt zuletzt doch noch ein Bezug zur Metaphysik bestehen, mit dem es sich trotz der Betonung des Erlebnischarakters des Religiösen um mehr als eine nonkognitivistische Position handelt. (Gutschmidt 2016)
6.9 Heideggers erste Begegnungen mit der Metaphysik Folgt man Aristoteles, dessen Werke einen maßgeblichen Einfluss auf Heideggers Denken hatten, beschäftigt sich die Metaphysik mit dem Seienden in zwei-
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facher Weise: Einmal in Hinsicht auf dessen allgemeinste Bestimmungen, zum anderen im Sinne eines höchsten bzw. absoluten und darum göttlichen Seienden. Innerhalb der scholastischen Aufteilung der Metaphysik entspricht dies der Ontologie (Sein des Seienden) als metaphysica generalis und der rationalen Theologie (Gott) als Teil der metaphysica specialis neben der rationalen Psychologie (Seele) und der rationalen Kosmologie (Welt). Zweifellos nimmt der Begriff der Metaphysik daher neben dem des Seins eine bedeutende Stellung im Denken Heideggers ein. Während Heidegger aber in den Jahren 1928 bis 1931 ein positives Verständnis von Metaphysik hat und versucht, eine eigene Metaphysik des Daseins zu entwickeln, nimmt er ab Mitte der 1930er Jahre eine kritische Haltung gegenüber der Metaphysik ein. Dies gipfelt schließlich in seinem Versuch einer Überwindung bzw. „Verwindung“ der Metaphysik – wobei der Begriff „Verwindung“ andeutet, „dass etwas nur durch längere andauernde Beschäftigung zum Verschwinden gebracht werden kann“. (Trawny 2016, 124) Der Phänomenologie kommt in diesen verschiedenen Phasen die methodische Funktion des Sichtbarmachens zu, selbst auf den Strecken seines Denkweges, in denen sie im Hintergrund bleibt. (Cosmus 2001) Schon in seinen frühen Freiburger Vorlesungen gewinnt die Phänomenologie für Heidegger eine ontologische Akzentuierung, denn die phänomenologische Aufgabe sieht er darin, das Sein als Phänomen, d. h. als Gegenstand der phänomenologischen Philosophie freizulegen, gegen die dem Sein innewohnende und die Geschichte der Philosophie beherrschende Tendenz der Verdeckung. (GA 63, 76; GA 2, 47) In Sein und Zeit betrachtet Heidegger den Ausdruck „Phänomenologie“ und unterscheidet die Bestandteile „Phänomen“, das von sich selbst her Zeigende, und „Logos“ als die sichtbarmachende Rede (bzw. Sprache). Phänomenologie bestimmt Heidegger dann als: „Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen.“ (GA 2, 46) Das, was in seinem SichZeigen offengelegt werden soll, wird dabei jedoch unmittelbar als das Sein bestimmt. Dies stellt bereits eine gravierende Abweichung gegenüber Husserls Verständnis von Phänomenologie dar, in dessen Zentrum die Intentionalität und das transzendentale Bewusstsein stehen. Diesen Unterschied zu Husserl in seinem Verständnis von Phänomenologie als Methode macht Heidegger in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Sommersemester 1927 deutlich, wenn er drei Grundaspekte seiner phänomenologischen Methode voneinander unterscheidet: 1. Die phänomenologische Reduktion, die Heidegger nicht als Rückgang von der natürlichen Einstellung zum transzendentalen Bewusstseinsleben versteht, sondern als „Rückführung des untersuchenden Blickes vom naiv erfaßten Seienden zum Sein“. (GA 24, 29) 2. Die phänomenologische Konstruktion, welche das „Entwerfen des vorgegebenen Seienden auf sein Sein und dessen Strukturen“ (GA 24, 29 f.) bezeichnet. Während die Reduktion eine Abwendung vom Seienden darstellt, handelt es sich bei der Konstruktion um die Hinführung zum Sein, das ge-
142 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein rade nicht einfach so zugänglich ist wie Seiendes, gleichwohl aber am Seienden sich zeigt und dort freigelegt werden kann. 3. Die phänomenologische Destruktion als kritische Prüfung der Geschichte der Ontologie, (GA 2, 27–36) „d. h. ein kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind“. (GA 24, 31) – Diese drei methodischen Aspekte in ihrer Einheit zeichnen für Heidegger phänomenologische Forschung aus. Dabei ist insbesondere der dritte Punkt der wichtigste Anlass für Heidegger, sich in seiner Kritik an der Metaphysik immer wieder mit den zentralen metaphysischen Begriffen und d. h. auch mit der Metaphysikgeschichte zu beschäftigen. Metaphysikkritik gehört zu einem phänomenologischen Verständnis von Metaphysik für Heidegger also eminent dazu. Werkgeschichtlich stößt Heidegger bereits in seiner Jugend durch Aristoteles auf die Frage der Metaphysik; genauer gesagt wird er mittels der Dissertation Franz Brentanos Von der mannig fachen Bedeutung Seienden nach Aristoteles (Brentano 1862) in das metaphysische Problem des Seins eingeführt. Zudem erhält er bereits als Gymnasiast die Schrift Vom Sein. Abriß der Ontologie (1896) des Freiburger Professors für Dogmatik Carl Braig, bei dem er später auch studieren wird. Mit den Werken Aristoteles’, unter anderem mit der Metaphysik, setzt sich Heidegger immer wieder in seinen Schriften und Vorlesungen auseinander. In der Metaphysik entwirft Aristoteles eine Wissenschaft, die er próte philosophía oder auch sophía nennt. Diese Wissenschaft nimmt eine Doppelgestalt an, in deren Zentrum der Begriff des Seienden steht. Seine Untersuchungen drehen sich zum einen um das Seiende als Seiendes (òn hê ón), d. h. um die Bestimmungen, die das Seiende wesentlich auszeichnen: das Sein. Diese Bestimmungen sind Gegenstand der Ontologie. (Met. IV 1–3) Zum anderen nimmt die Metaphysik die Gestalt einer rationalen Theologie an, die nach dem höchsten Seienden, d. h. Gott (theós), fragt. (Met. VI 1) Dieser Doppelcharakter spielt auch im metaphysischen Denken Heideggers eine entscheidende Rolle. Zunächst jedoch konzentriert sich Heidegger auf die Ontologie. Mit Blick auf Heideggers Werk zeigt sich, dass die Frage nach dem Sinn von Sein und die Frage nach dem Wesen der Metaphysik miteinander verschränkt sind. Im Grunde sind sie als eine identische Frage zu behandeln. (Haeffner 1981, 4; 16) In seinem eigenen Werk zeigt sich Heideggers Interesse an der Metaphysik das erste Mal in seiner Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. (1915) Im Schlussabschnitt schreibt er dort: „Die Philosophie kann ihre eigentliche Optik, die Metaphysik, auf die Dauer nicht entbehren.“ (GA 1, 406) Die folgenden Jahre 1916–1927 sind geprägt durch intensive Auseinandersetzungen mit dem Werk Aristoteles’ und insbesondere Husserls, weshalb Theodor Kisiel auch von der „phänomenologischen Dekade“ Heideggers spricht. (Kisiel 1993, 59; Crowell 2001a) Die Metaphysik spielt für Heidegger in dieser Zeit nur noch eine untergeordnete Rolle. Mit dem Projekt Sein und Zeit, dessen Vorarbeiten Heidegger bereits verstreut in seinen Vorlesungen in den
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Jahren 1921–1927 vorstellte, (GA 17; 18; 20; 23; 24; 61; 62; 63) gewinnt auch der Begriff der Metaphysik wieder an Bedeutung, jedoch nur insofern, als der metaphysische Gegenstand „Sein“ vollends das Denken Heideggers bestimmt. Heidegger sieht die Metaphysikkonzeptionen seiner Zeitgenossen äußerst kritisch und distanziert sich von diesen, (Haeffner 1981, 24; 132; Grondin 2003, 45) weshalb er in Sein und Zeit das Wort „Metaphysik“ auch nur in Anführungszeichen verwendet. Den zeitgenössischen Metaphysikkonzeptionen, aber auch den Ontologie-Entwürfen der Philosophiegeschichte setzt er seine Fundamentalontologie entgegen. (→ 6.4)
6.10 Unterwegs zu einer Metaphysik des Daseins Sein und Zeit ist unvollendet geblieben, und mit diesem Scheitern wird auch die Konzeption von Metaphysik bzw. die Aufgabe einer phänomenologischen Ausführung von Metaphysik wieder problematisch. Die Zeit nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit ist entsprechend von Heideggers Bemühungen geprägt, mit diesem Abbruch zurechtzukommen. (Kisiel 2001) Die Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie ist der Versuch einer Ausarbeitung des dritten Abschnitts des ersten Teils von Sein und Zeit, der ebenfalls unvollständig blieb. (GA 24, 1; von Herrmann 1991; Kisiel 2001, 259–262; Schmidt 2016, 70– 75) Gleichzeitig gehen die Ergebnisse der Analysen Heideggers in dieser Vorlesung über die Zielsetzung von Sein und Zeit jedoch auch hinaus und deuten auf ein neues Projekt hin. Die nun folgende Zeit von 1928–1931 kann als Heideggers metaphysische Periode bezeichnet werden, weil er in diesem Zeitraum versucht, ein positives Konzept von Metaphysik zu entwickeln. Steven Crowell (2001a) spricht sogar analog zur „phänomenologischen Dekade“ von der „metaphysischen Dekade“ Heideggers, die er von 1927 bis 1937 ansetzt. Programmatisch wird dies darin deutlich, dass Heidegger im Dezember des Jahres 1927 zusammen mit Max Scheler den Entschluss fasst, dass der „Überschritt in die eigentliche Metaphysik wieder zu wagen“ (GA 26, 165) sei; die Metaphysik sei von Grund auf zu entwickeln. Für dieses neue, positive Konzept einer Metaphysik des Daseins orientiert sich Heidegger am Doppelcharakter der Metaphysik Aristoteles’, die in eine Ontologie und Theologie zerfällt. (GA 26, 202) Während Paul Natorp (1888) in dieser Doppelgestalt noch einen Widerspruch erkennt und von einer Grundaporie der aristotelischen Metaphysik spricht, sieht Heidegger hierin keineswegs einen Widerspruch. Vielmehr liegt für ihn die zweifache Ausgestaltung im Doppelcharakter der Metaphysik bzw. Philosophie selbst. (GA 26, 13; 17) Heidegger greift für sein neues Projekt diesen Doppelcharakter der Metaphysik auf, indem er die zweigestaltige Grundstruktur beibehält, sie jedoch inhaltlich anders füllt als Aristoteles: Der Gegenstand der Metaphysik als Ontologie ist das òn hê ón, das Seiende als Seiendes.
144 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein Das, was das Seiende zum Seienden macht, ist, so Heidegger, das Sein. Philosophie ist Wissenschaft vom Sein. (GA 26, 12) Dieser entspricht in der neuen metaphysischen Konzeption Heideggers die Fundamentalontologie. Gegenstand der Metaphysik als Theologie ist das theîon, das ‚Göttliche‘ oder, wie Heidegger es nennt, „Übermächtige“. Heidegger interpretiert das theîon jedoch in einer Weise, die für die Ausgestaltung des zweiten Teils der Metaphysik des Daseins aufschlussreich ist: „[Tò theîon] meint: das Seiende schlechthin – der Himmel: das Umgreifende und Überwältigende, das, worunter und woran wir geworfen, wovon wir benommen und überfallen sind, das Übermächtige. Das [theologeîn] ist ein Betrachten des [kósmos]“. (GA 26, 13) Heideggers Verständnis der Theologie ist hier also kosmologisch. Diese Wissenschaft vom Übermächtigen oder auch ‚kosmologische Theologie‘, die der Fundamentalontologie als eine neue, komplementäre ‚Disziplin‘ zugeordnet wird, nennt Heidegger Metontologie. Die Fundamentalontologie und die Metontologie bilden in ihrer Einheit Heideggers neuen Begriff der Metaphysik des Daseins. (Crowell 2001b, 2018) Mit dieser veränderten Systematik revidiert Heidegger auch sein Verständnis der Fundamentalontologie, welches er wie folgt zusammenfasst: Wir verstehen unter Fundamentalontologie die Grundlegung der Ontologie überhaupt. Dazu gehört: 1. die aufweisende Begründung der inneren Möglichkeit der Seinsfrage als des Grundproblems der Metaphysik – die Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit; 2. die Auseinanderlegung der in der Seinsfrage beschlossenen Grundprobleme – die temporale Exposition des Seinsproblems; 3. die Entwicklung des Selbstverständnisses dieser Problematik, ihre Aufgabe und Grenze – der Umschlag. (GA 26, 196)
Zwar waren auch zuvor Seinsverständnis des Daseins und dessen Verwurzelung in der Zeitlichkeit des Daseins zentrale Themen der Fundamentalontologie. In der zitierten Passage fallen jedoch zwei Modifikationen gegenüber dem Verständnis in Sein und Zeit (→ 6.4) auf: zum einen, dass die Seinsfrage als das Grundproblem der Metaphysik gefasst wird, und zum anderen der Begriff Umschlag. Heideggers positives Konzept der Metaphysik schließt einen solchen Umschlag der Fundamentalontologie mit ein, in ihr liege „latent die Tendenz zu einer metaphysischen Verwandlung“. (GA 26, 199) Dieser Umschlag bzw. diese Verwandlung betrifft für Heidegger das Dasein selbst, denn das Seinsverständnis des Daseins ist der Vollzug des Unterschieds von Sein und Seiendem, d. h. im Seinsverständnis selbst liegt immer schon eine Angewiesenheit auf das Seiende. [D]ie Möglichkeit, daß es Sein im Verstehen gibt, hat zur Voraussetzung die faktische Existenz des Daseins, und diese wiederum das faktische Vorhandensein der Natur. Gerade im Horizont des radikal gestellten Seinsproblems zeigt sich, daß all das nur sichtbar ist und als Sein verstanden werden kann, wenn eine mögliche Totalität von Seiendem schon da ist. (GA 26, 199)
Weil die Fragestellung der Ontologie von der Seinsfrage in die Frage nach der „Totalität von Seienden“ umschlägt – griechisch metabolé – nennt Heidegger
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Metaphysik, sofern sie sich mit dem Seienden im Ganzen beschäftigt, Metontologie. (GA 26, 199–201) Auch wenn sie sich wie die positiven Wissenschaften mit dem Seienden beschäftigt, unterscheidet sich die Metontologie dadurch, dass sie nicht einen Bereich, eine Region des Seienden untersucht, sondern das Seiende im Ganzen. Einerseits hält Heidegger also an dem mit Sein und Zeit etablierten Paradigma einer Erklärung des Seins aus der Zeit fest – seine Analysen zur Temporalität des Seins stehen weiterhin im Hintergrund (→ 6.7) –, andererseits soll diese Erklärung durch die Metaphysik des Daseins wieder stärker an das Seiende zurückgebunden werden: Dieses Ganze der Grundlegung und Ausarbeitung der Ontologie ist die Fundamentalontologie; sie ist 1. Analytik des Daseins und 2. Analytik der Temporalität des Seins. Diese temporale Analytik ist aber zugleich die Kehre, in der die Ontologie selbst in die metaphysische Ontik, in der sie unausdrücklich immer steht, ausdrücklich zurückläuft. (GA 26, 201)
Zu dieser metaphysischen Ontik gehört die Analyse der Zersplitterung bzw. Zerlegung der „Totalität“ der Welt in regionale Bereiche. Wie kommt es zu dieser Mannigfaltigkeit der „Weltbereiche“? Wie kommen wir zu unseren wissenschaftlichen „Weltbildern“? Dies sind leitende Fragen der Metontologie. Weil die Fundamentalontologie sie allein nicht beantworten kann, erschöpft sie auch nicht den Begriff der Metaphysik. In der Metaphysik des Daseins liegt für Heidegger demnach letztlich eine Angewiesenheit der Fundamentalontologie auf die Metontologie. Diese betrachtet die Entfaltung der Welt anhand der Auseinandersetzung mit dem Seienden, welches gerade auf die Welt hin überstiegen, d. h. transzendiert wird. (→ 6.2) Dabei differenziert sich die Transzendenz in Auseinandersetzung mit dem Seienden zu Weltentwürfen mit ihren jeweiligen Begründungszusammenhängen aus, welches zu einer Vielfalt von ‚Grund‘ führt. (Schmidt 2016)
6.11 Heideggers Versuch einer Überwindung der Metaphysik In seiner intensiven Auseinandersetzung mit Kant Ende der 1920er Jahre übernimmt Heidegger dessen metaphysik-konstruktive und zugleich metaphysikkritische Grundhaltung. Dieser Doppelaspekt kommt in Kants Formel einer „Metaphysik der Metaphysik“ zum Ausdruck, die er in dem Brief an Markus Herz vom 11.5.1781 gebraucht. (AA X, 269; Schmidt 2016, 116) Dieser kritischen Programmatik folgend bezeichnet der Begriff „Metaphysik“ bei Heidegger zweierlei: zum einen die Metaphysik des Daseins, zum anderen aber auch die Geschichte der tradierten Metaphysik, von der sich Heidegger gerade absetzen will und die er kritisiert. (Grondin 2003, 50 f.; Haeffner 1981, 36) Diese Spannung, die in Heideggers Begriff der Metaphysik selbst liegt, entwickelt sich
146 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein mehr und mehr zugunsten des metaphysik-kritischen Zugs, der dann ab den 1930er Jahren an Bedeutung gewinnt. Crowells Deutung einer „metaphysischen Dekade“ (→ 6.9) kann daher nur bedingt aufrechterhalten werden, da Heidegger bereits ab Mitte der 1930er Jahre nicht länger an einem positiven Metaphysikbegriff interessiert ist. Ausschlaggebend hierfür ist die Auseinandersetzung Heideggers mit dem Deutschen Idealismus, der für Heidegger nunmehr jene Denkbewegung darstellt, die „die letzte Konsequenz des metaphysischen Denkens sichtbar werden lässt“. (Grondin 2003, 52 f.) In seiner Vorlesung Der Deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (GA 28) im Sommersemester 1929 beschäftigt sich Heidegger erstmals intensiv mit der Klassischen Deutschen Philosophie. Die Auseinandersetzung entzündet sich am Begriff der Endlichkeit. ‚Endlichkeit‘ meint für Heidegger die Preisgegebenheit des Menschen an das Seiende. Die „Endlichkeit des Daseins“ sei „als Grundgeschehen der Metaphysik“ (GA 28, 47) zu verstehen. Demgegenüber sieht er die zentrale Absicht der Systemkonzeptionen des Deutschen Idealismus darin, der „Endlichkeit Herr [zu] werden, sie zum Verschwinden [zu] bringen, statt umgekehrt sie auszuarbeiten“. (GA 28, 47) Damit bringt er seine Metaphysik des Daseins in Opposition zu den Systemmetaphysiken des Deutschen Idealismus. Das Zwiegespräch, das Heidegger mit Fichte, Schelling und Hegel führen möchte, läuft auf den Konflikt zwischen der adäquaten Erfassung der Endlichkeit in der Metontologie und dem inadäquaten Begriff der Endlichkeit in diesen metaphysischen Systemen hinaus. (Grondin 2003, 52 f.; Schmidt 2016, 114–119) Diese Opposition verschärft sich in Heideggers Vorlesung zu Hegels Phänomenologie des Geistes. (GA 32) Hier verwendet er den Begriff der Onto-theologie, den er von Kant übernimmt (Kant 1817, 17; 34–88; KrV A632/B660) und mit dem er die System-Metaphysik Hegels bezeichnet: „Mit dem Ausdruck ‚Ontotheologie‘ sagen wir, daß die Problematik des [ón] als logische zuerst und zuletzt orientiert ist am [theós], der dabei selbst schon ‚logisch‘ begriffen ist – logisch aber im Sinne des spekulativen Denkens.“ (GA 32, 142) Hegels Metaphysik zeichnet sich aus der Sicht Heideggers daher durch eine ursprüngliche Einheit von spekulativer Theologie und Ontologie aus. Dies bedeutet aber auch, dass der lógos eine restlose Erklärung und damit auch Beherrschung des Seienden im Ganzen verspricht. Die aristotelische Doppelgestalt der Metaphysik wird so ausgearbeitet, dass die Endlichkeit des Menschen unerheblich wird. Diesem Anspruch Hegels setzt Heidegger sein neues Konzept der Ontochronie (GA 32, 143 f.) entgegen, das zum Ausdruck bringen soll, dass nicht der lógos bzw. der Begriff der gemeinsame Nenner alles Seienden ist, sondern die Zeit. Die Zeit erscheint bei Heidegger als die „Herrin des Begriffs“. (Grondin 2003, 54) Damit verbindet Heidegger den Abschluss metaphysischen Denkens und die Hoffnung auf einen Neuanfang. Hegels System bringe das abendländische Denken zu einem „großen und endgültigen Abschluß“. (GA 40, 189) Hegel voll-
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endet für Heidegger die neuzeitliche Philosophie insofern, als er Kants obersten Grundsatz aller synthetischer Urteile (KrV A158/B197) in ein Unbedingtes verwandelt. Wenn die Vernunft als die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung des Seienden identisch ist mit der Bedingung der Möglichkeit des Seienden – dies ist gerade die Aussage des obersten Grundsatzes –, dann kann sie selbst nicht als durch das Seiende bedingt gedacht werden. Sie ist „unbedingte Selbstgesetzgebung“. (GA 6.2, 269) Hegel vollzieht damit eine radikale Verwirklichung von Ansätzen, die der gesamten Metaphysik zugrunde liegen. Da Hegel sich dessen bewusst war, gehört zu dem Abschluss seines Systems auch notwendig eine Philosophie der Geschichte der Philosophie. (GA 5, 323; GA 6.1, 403 f.; 421) Heidegger folgt Hegels eigenem Anspruch also insofern, als er die Bedeutung des Systemabschlusses anerkennt und davon ausgeht, dass Hegels Denken „die metaphysische Epoche des Denkens abschließt und vollendet: in seiner Philosophie ist alle bisherige Philosophie auf eine Weise aufgehoben und er-innert, die keine weitere Aufhebung mehr zuläßt“. (Haeffner 1981, 90) Gerade deshalb führt die Auseinandersetzung mit Hegel im weiteren Verlauf dazu, dass Heidegger sich mehr und mehr von der Metaphysik distanziert. Die 1930er Jahre sind geprägt von einer Radikalisierung des Problems der Metaphysik, auch wenn er den Begriff „Metaphysik“ selbst fallen lässt. Dies wird dadurch deutlich, dass Heidegger nicht nur für die Position Hegels den Begriff der Ontotheologie gebraucht, sondern in seinem Vortrag Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik (GA 11, 51–80) auch für die gesamte Geschichte der Metaphysik. Ein zweiter für Heideggers Metaphysik-Verständnis wesentlicher Autor ist Nietzsche. Aufgrund seiner Nietzsche-Lektüre in den 1930er Jahren kommt Heidegger zu dem Ergebnis, dass die eigentliche Vollendung der abendländischen Metaphysik letztlich doch erst mit Nietzsche geschieht und Hegels System nur eine Vorstufe dieser Vollendung darstellt. Denn ausgehend von der Grunderfahrung des Nihilismus, d. h. des Vorgangs, dass die obersten Werte sich entwerten, verliert das Grundgerüst des Abendlandes, die platonisch-christliche Metaphysik, seinen Halt und damit, nach Heidegger, letztlich auch Hegels System. Während im Zentrum der hegelschen Metaphysik die unbedingte Vernunft und der sich selbst erkennende Geist steht, sieht Heidegger als das Herz der Metaphysik Nietzsches die Begriffe des „Lebens“ und des „Willens zur Macht“. (GA 6.1, 26–30; GA 6.2, 28 f.) Bei diesen Begriffen handelt es sich um Überbietungsfiguren, d. h. um Ausdrücke, die Heidegger zufolge anzeigen, wodurch Nietzsche Hegel noch überbietet, also über ihn als Metaphysiker hinausgeht. Die nietzscheanischen Überbietungsfiguren erlauben es Heidegger, sich Nietzsches Kritik an der Geist-Philosophie zu eigen zu machen und seine eigene Metaphysikkritik weiterzuentwickeln. Den Willen zur Macht versteht Heidegger daher als ein Absolutum, dessen Absolutheit gesichert ist durch seine ewige Wiederkehr: „In allem Wechsel der Werte bleibt er. Er ist das eigentliche und einzige Subjekt; das Werden selbst, das Leben, ist das einzige ‚Sein‘. Was bisher als ‚Sein‘ galt – das
148 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein ‚Ewige‘, die ‚Ideale‘ –, ist nur Vermittlung des Werdens zu sich selbst.“ (Haeffner 1981, 91) Nietzsche räumt dem Leib vor dem Geist einen Vorrang ein. Während Hegel die Herrschaft des Geistigen zu einer letzten Entfaltung bringt und damit den platonisch-aristotelischen Anfang der Metaphysik zu Ende führt, kämpft Nietzsche gegen die platonische Tradition mit ihrem Vorrang des Geistes vor dem Sinnlichen und versucht die Einheit der beiden unter der Führung des Leibes wiederherzustellen. Nietzsche, so Heidegger, denke das Leben als das Erste und damit zugleich auch als das Beständige, das sich in allem Werden durchhält. Dieser Anspruch Nietzsches weitet sich aus zur unbedingten Herrschaft der „Tierheit“, d. h. des leiblichen Lebens. (Haeffner 1981, 91) Damit gelinge es Nietzsche, noch einen Schritt weiter als Hegel zu gehen. Nietzsche ist für Heidegger der letzte Metaphysiker und das Ende der Metaphysik. (GA 6.1, 431; 593; GA 5, 209) ‚Ende‘ heißt aber nicht Abbruch, sondern Vollendung und Versammlung: „Das Ende der Philosophie ist der Ort, dasjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt. Ende als Vollendung meint diese Versammlung.“ (GA 14, 70 f.) Die beiden Vollendungsgestalten der Metaphysik bei Hegel und Nietzsche führen letztlich dazu, dass Heidegger die Metaphysik als solche zu überwinden (GA 7, 67–98; GA 67, 5–174) versucht, wobei „Überwinden bedeutet: Etwas unter sich bringen und das so unter-sich-Gelassene zugleich hinter sich bringen als dasjenige, was fortan keine bestimmende Macht mehr haben soll.“ (GA 6.2, 330) Im Zuge dieser Überwindung greift Heidegger zur Charakterisierung der Metaphysik erneut die Transzendenzbewegung als eine Überstiegsfigur auf: Das Wesen der Metaphysik liegt nach ihm im Übersteigen des Seienden auf Gründe, Ursachen usw. hin, wodurch in der Metaphysik Seiendes als begründetes, als finalisiertes usw. verstanden wird. (GA 6.2, 315; GA 9, 413) Innerhalb der Metaphysik jedoch wird dieser Überstieg selbst und dessen ermöglichender Grund gerade nicht bedacht. Heideggers Bemühen, die Metaphysik zu überwinden bzw. zu „verwinden“ (GA 9, 414–425; GA 7, 77; → 6.9), bedeutet für ihn einen Rückgang in den Grund der Metaphysik, d. h. einen Rückgang in den Ursprung, die Quelle und damit zugleich Fundament der Metaphysik. Die Verwindung der Metaphysik geschieht durch die Beantwortung der Frage, wie so etwas wie Metaphysik überhaupt möglich ist und warum sich Philosophie als Metaphysik zeigt. (GA 9, 414–425; GA 7, 88) Dieses Verständnis der Entwicklung der Metaphysik durch die Philosophiegeschichte hindurch verbindet sich mit Heideggers Ontologie dadurch, dass er die Geschichte der Philosophie als Seinsgeschichte begreift, d. h. als je verschiedene geschichtliche Gestalten, in denen sich Sein zeigt und in denen Sein gedacht wurde. (GA 6.2, VIII; IX; GA 65, 227) Dabei entsprechen den verschiedenen Bedeutungen von Sein je eine „Epoche“ der Seinsgeschichte, (Keiling 2015, 16–23, § 2) die jedoch nicht strikt linear abläuft, sondern deren Epochen sich überdecken. Die Seinsgeschichte beschreibt somit die Geschichte der Para-
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digmenwechsel der Weisen, Sein zu denken – vergleichbar dem Wandel grundlegender Rahmenbedingungen in den Naturwissenschaften, den Thomas Kuhn unter dem Begriff des Paradigmenwechsels in seiner Wissenschaftstheorie untersucht. (Kuhn 1962; Kochan 2017) Damit die Überwindung der Metaphysik gelingen kann, musste das Denken, so die These Heideggers, erst durch die Metaphysikgeschichte als Seinsgeschichte hindurchgehen. Nur so kann dasjenige aufgespürt werden, was sich in den verschiedenen Gestalten des Seins innerhalb der Metaphysikgeschichte hindurch gezeigt hat bzw. dasselbe geblieben ist. Die Überwindung der Metaphysik ist nicht so sehr ein angestrebtes Ziel, als vielmehr ein andauernder Vorgang, der eine ständige Auseinandersetzung mit der Metaphysik vollzieht. Dies führt zu dem Paradox, dass die „Überwindung der Metaphysik“ darin besteht, die Metaphysik und ihre Grundbegriffe stets aufs Neue zu thematisieren. Heidegger betrachtet seine Überlegungen daher lediglich als ein „übergängliches Denken“, als die „Vorbereitung des anderen Fragens“, (GA 65, 430) und zwar deshalb, weil die Aufgabe dieses neuen Denkens nicht länger in der Untersuchung des Seins des Seienden bestehen kann, sondern in dem Aufdecken dessen, was dieses erst ermöglicht: „So betrachtet wäre Heideggers ‚Denken‘ der ‚Überwindung der Metaphysik‘ ein Bedenken ihrer Grenze an dieser Grenze, doch niemals einfach ein ‚Denken‘ ganz außerhalb ihrer Bestimmung.“ (Trawny 2016, 125) Die Metaphysik findet überdies ihren Ausdruck in dem, was Heidegger die Machenschaft nennt. Diese bezeichnet „jenes Wesen des Seins, das alles Seiende in die Machbarkeit und Machsamkeit entscheidet.“ (GA 69, 46; GA 6.2, 14) Alles Seiende wird unter dem Gesichtspunkt des „Machens“ und der technischen Vereinnahmung betrachtet. (Trawny 2016, 145) Dazu gehört ein „planend-einrichtender Betrieb“, (GA 66, 240) für den Heidegger das Christentum verantwortlich macht, das den Schöpfergott zu einer ersten Ursache gemacht habe. (GA 66, 240) Die Kritik an der Machenschaft in den Beiträgen zur Philosophie erinnert zwar vor allem an die Institutionen des Nationalsozialismus, (GA 65, 126–143) in den Schwarzen Heften jedoch erhält dieser metaphysikkritische Zug eine gefährliche Wendung, wenn Heidegger insbesondere den Juden ein rechnendes Denken unterstellt und damit der Machenschaft zuordnet. Durch diesen Schritt entwickelt sich im Fahrwasser der Metaphysikkritik ein „seinsgeschichtlicher Antisemitismus“. (Trawny 2014, 22; 31–57) Ein anderer problematischer Zug betrifft die Fortführung des Konzeptes der Metaphysik des Daseins. Das Ende der Philosophie bzw. der Metaphysik bedeutet für Heidegger die Vorbereitung des „völlig Anderen“, das er allerdings laut seiner Aufzeichnungen in den Schwarzen Heften „Überlegungen und Winke III“, die im Herbst 1932 beginnen, als „Metapolitik“ versteht. (GA 94, 115) Sein eigenes philosophisches Projekt ordnet Heidegger diesem Vorhaben unter: „Die Metaphysik des Daseins muß sich nach ihrem innersten Gefüge vertiefen und ausweiten zur Metapolitik ‚des‘ geschichtlichen Volkes.“ (GA 94, 124) Dieser Gedanke
150 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein liegt jedoch nicht zwingend im Begriff der Metaphysik des Daseins, sondern ist der Selbstinterpretation Heideggers geschuldet. Der Gedanke der Vertiefung und Ausweitung der Metaphysik des Daseins zur Metapolitik steht zudem in direktem Zusammenhang mit Heideggers Unterscheidung eines „Vulgärnationalsozialismus“ von einem „geistigen Nationalsozialismus“, (GA 94, 135; 136; 142; 42) dessen revolutionäres Potential Heidegger durchaus begrüßt hat. Zu einem gewissen Abschluss kommt Heideggers programmatische Auseinandersetzung mit der Metaphysik in seinem Vortrag Zeit und Sein, gehalten 1962. Hier rät Heidegger schließlich dazu, sogar von der Überwindung der Metaphysik abzulassen und „die Metaphysik sich selbst zu überlassen“. (GA 14, 30) Doch trotz aller Zurückweisung der Metaphysik bleibt Heidegger letztlich auf sie bezogen, insofern er auch in der Spätphase seines Denkens die Bedingungen der Möglichkeit für Metaphysik, ihr Wesen und ihren Ursprung untersucht. Auch für sein eigenes Denken gilt deshalb, was er bereits im Schlussteil seiner Habilitationsschrift sagt: dass die Philosophie auf Dauer ihrer eigentlichen Optik, der Metaphysik, nicht entbehren kann, was freilich nicht bedeutet, dass sie einen positiven Entwurf einer Metaphysik präsentieren muss.
6.12 Phänomenologie des Unscheinbaren als Metaphysikkritik Heideggers Verständnis der Phänomenologie spielt für diese wechselnden Konzeptionen von Metaphysik insofern eine entscheidende Rolle, als es Heidegger um das Sichtbarmachen des „Vorgangs“ geht, aufgrund dessen etwas für uns überhaupt ist und nicht vielmehr nichts. (Held 1988, 116; 128) Es geht um das Aufdecken eines Vorgangs, der offenbar macht, der zur Erscheinung bringt. Dieser Vorgang bzw. dieses ‚Offenbarungsgeschehen‘ kann selbst nicht direkt begrifflich erfasst werden, weil für Heidegger „Be-greifen“ bedeutet, das, was sich im Begriff ausdrückt, in Besitz zu nehmen. Heidegger versteht sein Denken dagegen als ein „phänomenologisches Sehen“, (GA 15, 417) das in den Blick und nicht in Besitz nimmt. Heideggers Metaphysikkritik geht daher im Ergebnis einher mit einer Phänomenologie der Entzugserfahrung, einer Phänomenologie des Unscheinbaren. (GA 15, 399) Zur Phänomenologie gehört zudem wesentlich ein Bezug zur Sprache, was durch den zweiten Teil des Wortes, „-logie“ (Logos), angezeigt wird. Das, worum es der Phänomenologie geht, wird in der Sprache aufgezeigt. Um dies genauer zu fassen, können wir bei Heidegger zwischen einer operativen und einer performativen Funktion des Begriffs unterscheiden. Die operative Funktion des Begriffs meint Urteilen, d. h. die Bestimmung und damit Spezifizierung desjenigen, über das etwas in einem Urteil ausgesagt wird. Davon zu unterscheiden ist die performative Funktion des Begriffs, welche ein Aufzeigen und Ent-decken mit Hilfe von Begriffen bezeichnet und über das bloße Aussagen als Bestimmen hinausgeht.
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Gleichzeitig zeigt sich auch bereits im Kontext der Fundamentalontologie und dann insbesondere seit der Metontologie, dass eine Ausdifferenzierung dieses „Vorgangs“ bzw. Geschehens stets in Auseinandersetzung mit dem Seienden bzw. mit den Dingen geschieht, wie Heidegger in seinen Dinganalysen etwa in Die Frage nach dem Ding, Das Ding oder Bauen, Wohnen, Denken zeigt. Seiendes und Sein (Seyn, Ereignis, Geviert) sind aufeinander angewiesen. Heidegger versucht daher in seinem Denken immer wieder, beiden Seiten gerecht zu werden. Das, was sich zunächst und zumeist zeigt, ist das Seiende. Dieses kann sich jedoch nur kraft des Offenbarungsgeschehens zeigen, das Heidegger in Begriffen wie Seyn und Ereignis zu fassen versucht. Andererseits ist dieses Offenbarungsgeschehen auf das Seiende angewiesen, an dem es zur Entfaltung kommt. Heideggers Phänomenologie des Unscheinbaren ist im Sinne der performativen Funktion des Begriffs ein Aufzeigen, ein Zur-Sprache-bringen jenes „anonymen Geschehens“, (Cosmus 2001, 149) das Seiendes für uns offenbar macht; ein Aufzeigen, das zwar nicht ohne Begriffe auskommt, sich aber darüber bewusst ist, dass dieses phänomenologische Sichtbarmachen nicht in einem operativen Gebrauch von Begriffen aufgeht: „Die phänomenologische Aufweisung setzt zwar […] eine Erfahrung des Phänomens selbst voraus, aber damit ist nicht gesagt, diese Erfahrung könne in einer Aussage auch bruchlos mitgeteilt werden.“ (Figal 2013, 35 f.) Die Begriffe, die Heidegger im Laufe seines Denkwegs entwickelt, wie etwa Sinn des Seins, Transzendenz, Seyn, Seinsgeschichte, Ereignis und Geviert, haben daher vor allem eine anzeigende bzw. hinweisende Funktion. Dies ist auch der Grund für Heideggers zuweilen an der Dichtung angelehnten Stil. Sein Ziel ist es, etwas mittels Sprache sichtbar zu machen, zur Erscheinung zu bringen, was sich einem rein urteilenden Denken, insbesondere dem der Metaphysik, entzieht, weil es durch ihre überlieferten Begriffe verdeckt wird. Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass Heidegger die Phänomenologie nicht deshalb auf klassische metaphysische Fragestellungen bezieht, um eine neuartige positive Metaphysik zu entwickeln, sondern um Entzugserfahrungen zu thematisieren, die sich aus Problemen der Metaphysik ergeben. Martin Heidegger Martin Heidegger (1889–1976) wurde in Meßkirch geboren und studierte katholische Theologie und Philosophie an der Universität Freiburg. Das Theologiestudium brach er allerdings bald ab und hörte stattdessen Vorlesungen in Mathematik und Naturwissenschaften. Nach Habilitation und Wehrdienst war er zunächst Privatassistent bei Edmund Husserl in Freiburg, von 1923 bis 1928 dann Professor in Marburg. Dort arbeitete Heidegger eng mit Rudolf Bultmann zusammen, wichtige Schüler aus dieser Zeit sind Hans-Georg Gadamer, Karl Löwith, Hans Jonas und Hannah Arendt. 1928 wechselte er als Nachfolger Husserls nach Freiburg und war 1933/34 Rektor der Freiburger Universität, 1933
152 6. Martin Heidegger – Kritik der Metaphysik im Ausgang von Welt und Sein trat er in die NSDAP ein. Zu seinen Hörern zählen Herbert Marcuse, Karl Rahner, Eugen Fink, Emmanuel Levinas und Jan Patočka. Nach dem Krieg bis zur Emeritierung 1951 wurde Heidegger aufgrund seiner NS‑Verstrickung ein Lehrverbot erteilt, danach hielt er wieder vereinzelte Vorlesungen, Ernst Tugendhat zählt zu den Hörern. Von Bedeutung sind seine späten Vorträge, bis 1973 gab er Seminare unter anderem mit Eugen Fink, Medard Boss und René Char. Heideggers Philosophie hat eine kaum zu überschätzende Wirkung entfaltet. So ist die französische Nachkriegsphilosophie ohne Heidegger nicht denkbar, sowohl was den Existenzialismus (Sartre), die Phänomenologie (Merleau-Ponty, Levinas, Marion) als auch die Philosophie der Postmoderne (Derrida, Foucault, Lyotard) betrifft. Von Bedeutung ist Heidegger außerdem in der Hermeneutik (Gadamer, Ricœur), er hatte aber auch Einfluss auf die philosophische Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen) sowie auf die politische Philosophie (Arendt, Marcuse, Habermas). Nicht zuletzt strahlte Heideggers Werk auf Literatur, Kunst und Architektur aus und beeinflusste Theologie (Bultmann, Rahner, Tillich), Psychologie (Boss, Binswanger) und sogar die Kognitionswissenschaft (Dreyfus, Wheeler), was bis zu aktuellen Ansätzen einer Heidegger’schen Künstlichen Intelligenz reicht.
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7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? Prolegomena einer phänomenologischen Metaphysik Christopher Erhard
Roman Ingardens Philosophie steht im Zeichen einer kritischen Reflektion auf die ontologischen Grundlagen und Voraussetzungen des transzendental-phänomenologischen Idealismus seines Lehrers Edmund Husserl, dem er einen realistischen Gegenentwurf entgegensetzt. Dabei ist kennzeichnend für Ingarden, dass er konsequent eine Metaperspektive einnimmt und die Frage zu klären versucht, worum es bei der Idealismus-Realismus-Debatte eigentlich geht. Indem methodische Reflektionen auf den Sinn dieser Debatte mit umfangreichen konkreten ontologischen Analysen verbunden werden, ergibt sich ein gleichermaßen systematisches wie inhaltsreiches philosophisches Gesamtwerk. Dies zeigt sich paradigmatisch an Ingardens (unvollständig gebliebenem) Hauptwerk Der Streit um die Existenz der Welt, dessen deutsche Ausgabe sich in drei Bände gliedert: Existentialontologie (Band I, 1964), Formalontologie (Bände II/1–2, 1965) und Die kausale Struktur der Welt (Band III, 1974, postum). Für Husserls reife Position hat Ingarden einen eingängigen Terminus geprägt, nämlich den Ausdruck „idealistischer Abhängigkeitskreationismus“, (1964, 146 ff.) der auf eine mehrfache Relativität der realen Welt gegenüber der transzendentalen Subjektivität hinweist. (→ 7.1) Dem setzt Ingarden einen Realismus entgegen, den er schon 1918 in einem Brief an Husserl programmatisch umreißt: Die Realität ist nur, soweit sie etwas ‚in sich‘ ist. Das, wofür sie vermeint werden kann, ist eigentlich irrelevant. Sie ist das, was sie ‚in sich‘ ist, und als solche ist sie ein in sich jederzeit vollendetes, allseitig bestimmtes Sein. In der Welt gibt es keine Unbestimmtheit, es sei denn als Unbestimmtheit einer Potenz, die selbst voll bestimmt ist. (1998, 8)
Das Realismus-Idealismus-Problem (kurz: die Streitfrage) kann somit sowohl als agent provocateur als auch als basso continuo von Ingardens Denken angesehen werden. (Rynkiewicz 2008) Selbst seine umfangreichen Arbeiten zum Wesen von Kunstwerken, für die Ingarden auch außerhalb der Philosophie bekannt geworden ist, sind nicht um ihrer selbst willen geschrieben worden, sondern können im Kontext der Streitfrage verstanden werden. (1972, XII–XVI) Da diese Frage traditionell unter Rekurs auf den Begriff der Welt formuliert wurde, leuchtet es ein, dass sich Ingarden im Laufe seiner Überlegungen auch
156 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? explizit mit diesem Begriff befasst. (1965b, Kap. XV; 1974, § 93) In diesem Sinne definiert er im dritten Buch einen „formalen Begriff der Welt“ als ein einheitliches System höchster Stufe von vielen seinsselbständigen, aber voneinander in mancher Hinsicht seinsabhängigen (und eventuell gegenseitig seinsabhängigen) individuellen Gegenständen, die entweder selbst relativ isolierte Systeme sind oder Glieder solcher Systeme bilden. Ihrer Form nach können sie in der Zeit verharrende Gegenstände, Vorgänge oder Ereignisse sein. (1974, 140)
An dieser Bestimmung zeigt sich bereits Ingardens realistische bzw. ontische Orientierung. Denn sein Begriff der realen Welt ist offenbar – im Unterschied zu Heidegger, Merleau-Ponty oder Fink– kein transzendentaler, sondern vielmehr ein gegenständlicher Begriff. Anders gesagt: Für Ingarden ist auch die reale Welt ein seiender Gegenstand, wenngleich „höchster Stufe“. Sie ist ein „System“ bzw. „summatives Ganzes“ von selbständigen individuellen Gegenständen niederer Stufe, die partiell voneinander abhängig sind und in kausalen Relationen zueinander stehen. In der Streitfrage geht es somit im Kern darum, wie sich reines Bewusstsein und die so verstandene reale Welt zueinander verhalten. Im Folgenden wird Ingardens Metaphysik- und Weltverständnis entlang dieser Streitfrage entwickelt.
7.1 Die Streitfrage motivieren: Husserls Idealismus, reines Bewusstsein und die reale Welt Ungeachtet seiner Vorbehalte gegenüber dem husserlschen Idealismus beginnt Ingarden seine Untersuchungen mit Rückgriff auf die transzendentale Begriffsapparatur. Denn Husserls Philosophie „stellt den tiefsten und ernstesten Versuch dar, eine Entscheidung in der Streitfrage Idealismus-Realismus herbeizuführen“. (1964, 7) In diesem Sinne greift Ingarden die Unterscheidung zwischen dem konstituierenden „reinen Bewusstsein“ und der konstituierten „realen Welt“, zu der auch das empirisch-reale Subjekt gehört, auf, um die Streitfrage zu formulieren. (1964, § 2) Dazu gehört wesentlich die Idee einer epistemischen Asymmetrie zwischen Bewusstsein und Welt. Diese besteht darin, dass dem reflektierenden Subjekt das eigene Bewusstsein aufgrund von „immanenter Wahrnehmung“ adäquat (vollständig) und apodiktisch (unbezweifelbar) zugänglich ist, während die realen psychischen oder physischen Gehalte (z. B. Dinge, der eigene Körper) nur durch perspektivische „Abschattungen“ (inadäquat) gegeben sind. Daraus ergibt sich nach Husserl, dass alles Reale bezweifelbar ist. Dieser Unterschied in der „Gegebenheitsweise“ zieht dann, so Ingarden, einen grundlegenden Unterschied in der „Seinsweise“ (1964, 12) nach sich, sodass das reine Bewusstsein auf absolute Weise existiert, während die reale Welt eine auf das Bewusstsein relative Seinsweise aufweist. An dieser ontologischen Asymmetrie nimmt Ingarden An-
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stoß. Um klarer zu sehen, was es mit der Idee verschiedener Seinsweisen auf sich hat, stellt er grundsätzliche ontologische Untersuchungen an den Anfang seines Hauptwerks. Gegen Husserls Idealismus hat Ingarden (1963) in diesem Kontext auch explizite Argumente entwickelt, von denen hier drei genannt seien. (1) Es ist nicht zulässig, aufgrund der genannten epistemischen Asymmetrie auf eine ontologische Asymmetrie zu schließen: Daraus, dass das je eigene Bewusstsein in der Reflexion ohne Abschattungen erscheint und somit adäquat und apodiktisch gegeben ist, folgt nicht, dass seine Seinsweise so ist, dass es auch ohne reale Objekte existieren könnte. In diesem Sinne kritisiert Ingarden vor allem Husserls Versuch, das „reine Bewusstsein“ als „Residuum der Weltvernichtung“ zu bestimmen. (Hua III/1, § 49) Gegebenheitsweisen und Seinsweisen sind strikt zu unterscheiden. (1964, 11 f.; 1965b, 370–372) (2) Ein weiterer Kritikpunkt hebt darauf ab, dass das „reine Bewusstsein/Ich“ keinen Anspruch auf ontologische Selbstständigkeit erheben kann, sondern vielmehr Ergebnis einer methodischen Abstraktion ist. Im Rahmen seiner Überlegungen zum Leib-Seele-Problem (1965b, Kap. XVI) behauptet Ingarden in diesem Sinne, dass das reine Ich mit seinen Erlebnissen mit dem ‚realen Ich‘ (Seele, Geist, Leib) nicht bloß vermöge der intentionalen Beziehung zwischen den reinen Bewußtseinsakten und den in ihnen vermeinten seelischen Eigenschaften und Zuständlichkeiten (Vorgängen) als intentionalen Korrelaten dieser Akt ‚verbunden‘ ist, sondern daß es mit der Seele und sogar vielleicht auch mit dem Leibe ontisch verwachsen ist, daß beides nur verschiedene Seiten […] derselben Gegenständlichkeit (einer Monade) zu sein und damit auch auf dieselbe Weise zu existieren scheinen. (1965b, 370)
Sollte diese These der „ontischen Verwachsenheit“ des Ichs mit seinem Leib zutreffen, hätte das direkt zur Folge, dass die reale Welt nicht vom reinen Bewusstsein abhängig sein kann (zumindest nicht vollständig), woraus sich auch die Falschheit des „idealistischen Abhängigkeitskreationismus“ ergeben würde, den Ingarden Husserl zuschreibt. Denn das reine Bewusstsein wäre dann ein Teil bzw. Aspekt eines realen Subjekts und somit von diesem abhängig (und nicht umgekehrt). (3) Schließlich kritisiert Ingarden, dass Husserls Idealismus zur Folge hat, den Unterschied zwischen realen und „rein intentionalen Gegenständen“ (→ 7.2) zu verwischen. Wäre Husserls Idealismus wahr, gäbe es zwischen wahrgenommenen (und somit als real vermeinten) Gegenständen und frei von uns fingierten Gegenständen keine ontologischen Unterschiede mehr, sondern lediglich phänomenale Differenzen der „Gegebenheitsweise“. Realität und rein intentionales Sein sind jedoch radikal verschiedene Existenzweisen. Ingardens Deutung von Husserls Idealismus ist allerdings umstritten – Poellner (2007) und Willard (2011) beispielsweise verteidigen realistischere Lesarten von Husserl. Was die Streitfrage betrifft, so wendet Ingarden gegen Husserl ferner ein, dass dieser in Übereinstimmung mit der neuzeitlichen Tradition diese Frage einseitig als eine erkenntnistheoretische bzw. „transzendentale“ Fragestellung verstanden
158 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? hat, d. h. im Rahmen eines methodischen Cartesianismus bzw. Skeptizismus. Diesem zufolge gilt es, die Objektivität unserer Erfahrung der realen Welt im Ausgang von der unbezweifelbaren Subjektivität des reinen Bewusstseins sicherzustellen. Im Kontrast dazu behauptet Ingarden, dass die Streitfrage in erster Linie eine metaphysische und ontologische Frage sei, in die gleichwohl erkenntnistheoretische Probleme hineinspielen: (1964, §§ 1–3; Küng 1975) Indessen gründet die Bezweifelbarkeit des Seins der realen Welt in der in ihrem Wesen ontologischen Sachlage ihrer Transzendenz den Bewußtseinserlebnissen gegenüber. Infolgedessen kompliziert sich die Problemlage auf eine neue Weise: Zu Zwecken der Bestimmung und der Lösung einer metaphysischen Frage müssen neben erkenntnistheoretischen auch rein ontologische Sachlagen in Erwägung gezogen werden. (1964, 18)
Nach Ingarden kommt dabei den ontologischen Überlegungen ein methodischer Vorrang zu, denn erst wenn geklärt ist, worin reale Welt und reines Bewusstsein ihrem Wesen nach bestehen, kann die metaphysische Frage in Angriff genommen werden, ob die reale Welt, die wir Menschen tagtäglich vor Augen haben, tatsächlich existiert, und in welchem Verhältnis sie zu uns steht. Um die Streitfrage verstehen und schlussendlich beantworten zu können, müssen somit vor allem deren „Hauptglied[er]“, (1965b, 258) d. i. reale Welt und (reines) Bewusstsein sowie die Art ihrer Beziehung zueinander geklärt werden. Dies ist primär Aufgabe der Ontologie, die nach Ingarden nicht nur – wie bei Husserl (→ 1.3) – aus formal- und material- bzw. regionalontologischen Analysen besteht, sondern insbesondere die Existentialontologie, die Lehre von den Seinsweisen und „existentialen Momenten“, umfasst. Die endgültige Entscheidung der Streitfrage obliegt jedoch der Metaphysik und kann nur auf der Grundlage der Ergebnisse der Ontologie gefällt werden. (→ 7.3)
7.2 Die Streitfrage klären: Phänomenologie und Ontologie Im Kern ist die Streitfrage metaphysischer Natur, da es in ihr darum geht, ob und ggf. wie die uns faktisch durch Erfahrung gegebene reale Welt existiert. Dies ist eine metaphysische Frage, die Ingarden scharf von ontologischen Problemstellungen unterscheidet. Er schlägt folgende Arbeitsteilung vor: Ontologie ist „rein apriorische Analyse der Ideengehalte“ (1964, 45; 34): „Ontologische Analyse und Betrachtung der Ideengehalte, insbesondere der in ihnen auftretenden Notwendigkeitszusammenhänge und Möglichkeiten – das ist eines und dasselbe.“ (1964, 43) Metaphysik hingegen zielt – ähnlich wie die Naturwissenschaften – darauf ab, faktisch Existierendes zu entdecken, allerdings nicht Tatsächliches simpliciter, sondern nur solche „Wesenstatsachen“, die sich durch „Einsicht in die ideellen [ontologischen] Zusammenhänge zwischen reinen Qualitäten voll verstehen lassen“. (1964, 31) Eine solche Wesenstatsache könnte z. B. die Tatsa-
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che sein, dass es nur eine Raum-Zeit gibt, in der alles Reale seinen Ort und seine Zeit hat. Ferner gehören zur Metaphysik unbedingte Existenzurteile (bspw. „Es gibt ideale Objekte, z. B. Zahlen.“), welche die „Gesamtheit alles und jedes Seienden überhaupt betreffen“, (1964, 48) während die Natur- bzw. Einzelwissenschaften in der Regel nur bedingte Existenzaussagen treffen (bspw. „Es gibt natürliche Zahlen x, y und z, welche die Gleichung x2 + y2 = z2 erfüllen.“). Quines (1948) berühmte Definition des „ontologischen Problems“ durch die drei Worte „What is there?“ ist somit nach Ingarden gar keine Charakterisierung der Ontologie, sondern gehört bereits in die Metaphysik. Gemäß der obigen Bestimmung ist es Aufgabe der Ontologie, die „Ideengehalte“ der in der Streitfrage involvierten „Ideen“ der realen Welt und des reinen Bewusstseins zu untersuchen. Ontologische Urteile, die typischerweise die Gestalt von hypothetischen Urteilen haben, sollen metaphysisch neutral bzw. „undogmatisch“ (1964, 44) sein, d. h. aus ihrer Wahrheit dürfen keine faktischen Existenzaussagen ableitbar sein, die auf der Existenz von (realen) Individuen basieren: Da nämlich aus dem Gehalte gar keiner Idee (also auch nicht der Ideen der Idee) die Existenz der unter die betreffende Idee fallenden Gegenständlichkeiten mit Notwendigkeit folgt, so kann die Analyse des Gehaltes einer Idee – sowie in allen übrigen Fällen ontologischer Betrachtung – zu keiner existentialen Behauptung über die Ideen führen, sogar nicht zu Behauptungen, die solcherlei existentiale Behauptungen implizieren. (1964, 45)
So ist z. B. der Satz „Wenn es materielle Dinge gibt, dann sind diese raumfüllend.“ ontologischer Natur. (1964, 50) Er impliziert nicht, dass es de facto materielle Dinge gibt, sondern sagt nur aus, was der Fall wäre, wenn es sie gäbe. Da die Ontologie existenzial neutral sein soll, liegt ihr eine vergleichbare „Einklammerung“ (epoché) und Änderung der natürlichen Einstellung zugrunde, wie man sie bei Husserl findet. Auf dem Boden dieser Neutralität verfährt Ingarden in methodischer Hinsicht eidetisch-phänomenologisch, d. h. primär deskriptiv, anschaulich aufweisend und „ideierend“: Der Ontologe soll eine „getreue Wiedergabe der Sachlage“ (1965a, 99) anstreben und dabei „Akte der intuitiven Erschauung“ (1964, 69; 78; 125) vollziehen. In diesem Sinne gilt für Ingarden Heideggers Slogan, dass Ontologie nur als Phänomenologie möglich ist. (→ 6.4; → 6.9) Nach Ingarden umfasst die Ontologie sogar Husserls eidetische Phänomenologie, sofern letztere als „apriorische Lehre von den Ideengehalten der reinen Erlebnisse“ (1964, 47; vgl. Hua III/1, § 75) verstanden wird. Im Rahmen der Ingarden’schen Ontologie spielt jedoch die phänomenologische Reduktion und der Rückgang auf das reine Bewusstsein keine zentrale Rolle, da der Ontologe „rein ontisch“ (1965a, 169) eingestellt ist und somit nicht an den Konstitutionsleistungen des Subjekts interessiert ist. Allerdings nimmt die Reduktion in Ingardens reiner Erkenntnistheorie einen prominenten Platz ein. (1925) Man kann also sagen, dass Ingardens Ontologie phänomenologisch im Sinne der epoché und eidetischen Reduktion, nicht jedoch im Sinne der transzendentalen Reduktion verfährt.
160 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? Diesem methodischen Verständnis von Ontologie liegt der Sache nach die neo-aristotelische und neo-platonische These zugrunde, dass es drei ursprüngliche und irreduzible Formen des Seienden gebe, nämlich Ideen, ideale Qualitäten (Wesenheiten, Universalien) und (reale und ideale) Individuen, die Ingarden in extenso im Rahmen seiner Formalontologie (1965a; 1965b) untersucht. (Rynkiewicz 2008, Kap. IV; von Wachter 2008) Die reale Welt zeichnet sich dadurch aus, reale Individuen zu enthalten, die in kausalen Beziehungen zueinander stehen können, wobei punktuelle Ereignisse und ausgedehnte Vorgänge (Prozesse) an „in der Zeit verharrende Dinge“ (Substanzen, Kontinuanten) gebunden sind. Solche realen Einzeldinge fallen unter Ideen, die ihrerseits verschiedene ideale Qualitäten in sich vereinen. In Bezug auf alle diese drei Seinsarten (Ideen, ideale Qualitäten, reale und ideale Einzeldinge) vertritt Ingarden einen realistischen Standpunkt. Neben der formalen Ontologie gibt es noch die existentiale und materiale Ontologie, denn ein Seiendes – vorzugsweise ein Individuum (1965a, 377) – lässt sich in dreierlei Hinsicht ontologisch beschreiben: „Jeder Gegenstand (ein Etwas überhaupt) kann von drei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden: erstens hinsichtlich seiner Existenz und Existenzweise, zweitens hinsichtlich seiner Form und drittens hinsichtlich seiner materialen Ausstattung.“ (1964, 58) Während im Streitbuch die Materialontologie nur am Rande vorkommt, widmet Ingarden die Bände I und II/1–2 der Existential- bzw. Formalontologie. Für die Streitfrage sind sowohl die Existential- als auch die Formalontologie bedeutsam, allerdings kommt der Existentialontologie insofern eine besondere Bedeutung zu, als es in ihr um eine Theorie von Seinsweisen und Seinsabhängigkeiten geht, die insbesondere für das Verhältnis zwischen reinem Bewusstsein und realer Welt zentral ist. Mit Blick auf die existential-ontologische Dimension antizipiert Ingarden eine Position, die man heutzutage als ontologischen Pluralismus bezeichnen würde. (McDaniel 2009) Er selbst spricht von einem „existentialen Pluralismus“, (1964, 186; 202) den er von dem historisch dominanten „existentialen Monismus“ (1964, 83 f.) abgrenzt. Dieser Pluralismus beinhaltet sowohl eine semantische als auch eine ontologische These: Erstens wird behauptet, das existential verwendete „ist“ sei vieldeutig. (1964, 66 f.) Demnach bedeutet „existiert“ z. B. in den Sätzen „Hamlet existiert“ und „Prinz William existiert“ nicht dasselbe, weil im ersten Satz ein „rein intentionaler“ und „seinsheteronomer“, im zweiten hingegen ein „seinsautonomer“ realer Gegenstand im Spiel ist. Zweitens soll es auch verschiedene Existenzweisen (modi existentiae) geben: „‚Existenz‘ im allgemeinen ist aber nur eine allgemeine Idee, deren Vereinzelungsbesonderheiten die einzelnen Seinsweisen sind.“ (1964, 78) Eine „einfache Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein“ (1965a, 308) reicht nach Ingarden nicht aus, weil nicht alles auf die gleiche Weise existiert. Im Rahmen eines solchen Pluralismus lässt sich nicht nur das Sein oder Nicht-Sein einer Sache X konstatieren, sondern
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auch sinnvoll fragen, wie oder auf welche Weise X existiert. Ähnliches gilt für die Streitfrage, denn diese kreist nicht primär darum, ob die reale Welt überhaupt existiert, sondern vielmehr darum, wie sie existiert – insbesondere in Bezug auf das reine Bewusstsein. Selbst ein subjektiver Idealist vom Schlage Berkeleys behauptet mit seiner Formel esse est percipi ja nicht, dass es die reale Welt gar nicht gebe, sondern nur, dass deren Existenz darin bestehe, von einem Subjekt wahrgenommen zu werden. Das Sein bzw. die Seinsweise einer Entität ist ein „letzte[s] Primitive[s], obwohl noch nichts schlechthin Einfaches“. (1964, 72) Jede Entität ist durch genau eine ihr wesentliche Seinsweise bestimmt. (1964, 74) Ungeachtet ihrer „Primitivität“ gehören zu einer Seinsweise „existentiale Momente“, von denen jedes sich „erschauen und abstraktiv – sozusagen in einer Abstraktion höheren Grades – fassen lässt, sosehr es von ihr nicht ablösbar ist“. (1964, 77 f.) Existentiale (und formale) Momente sind zwar keine in einer Sache enthaltenen „Eigenschaften“ oder „Merkmale“, aber gleichwohl „in einer Gegenständlichkeit unterscheidbar“. (1964, 61) Nicht alles, was einen Gegenstand bestimmt oder konstituiert, ist eine Eigenschaft. Ingardens Ausführungen legen somit nahe, dass die Existenz(weise) einer Entität zwar keine reale (materiale) Bestimmung à la Kant, aber gleichwohl eine Bestimmung erster Stufe ist. Die existentialen Momente treten jeweils in entgegengesetzten Paarungen auf und sind untereinander kombinierbar, sodass sich eine Vielzahl möglicher Seinsweisen ergibt. Ingarden unterscheidet – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – abhängigkeitstheoretische, modale und temporale Paarungen. Mit Blick auf die Streitfrage, die üblicherweise auf eine gewisse Abhängigkeit der realen Welt vom Bewusstsein abzielt, ist es dringend nötig, die Mehrdeutigkeit der Rede von „Abhängigkeit“ aufzuzeigen, denn die „übliche Gegenüberstellung von ‚Seinsabhängigkeit‘ und ‚Seins-unabhängigkeit‘ ist […] völlig unzureichend“. (1929, 164) Ingarden schlägt eine vierfache Differenzierung vor: (1964, Kap. III) (I) Seinsselbständigkeit – Seinsunselbständigkeit (II) Seinsunabhängigkeit – Seinsabhängigkeit (Tatsächlich ist (II) eine Binnendifferenzierung der Seinsselbständigkeit.) (III) Seinsautonomie – Seinsheteronomie (IV ) Seinsursprünglichkeit – Seinsabgeleitetheit Damit knüpft Ingarden lose an Husserls Mereologie aus der III. Logischen Untersuchung (Hua XIX /1, 227–266) an, führt jedoch weitere Unterscheidungen ein. Da Ingarden ontologische Fragen eng mit abhängigkeitstheoretischen Fragen verknüpft, kann sein Ansatz als Vorläufer der aktuellen Debatte über das grounding verstanden werden. (Schaffer 2009) Der in (I) ausgedrückte Gegensatz bezieht sich auf die Frage, ob ein Seiendes X ein „in sich abgeschlossenes Ganzes“ (1964, 145) oder Teil einer anderen Ganzheit Y ist. So ist z. B. die konkrete Rotfärbung eines Apfels ein unselbständi-
162 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? ger Aspekt des „seinsselbständigen“ ganzen Apfels. (II) hat damit zu tun, ob ein selbstständiges X in seinem Fortbestand auf die Existenz einer anderen Entität angewiesen ist. So ist z. B. ein menschlicher Organismus, der seinsselbständig im Sinne von (I) ist, gleichwohl seinsabhängig, da er für seine Fortexistenz auf genügend Sauerstoff angewiesen ist. (IV ) ist relevant dafür, ob X durch eine andere Entität einmalig geschaffen werden kann oder „in sich selbst notwendig seiend“ (1964, 143) ist. Ein Buch ist z. B. ein seinsabgeleiteter Gegenstand, während Gott, sollte er existieren, seinsursprünglich wäre. Schließlich bezieht sich (III) darauf, ob X „etwas immanent Bestimmtes“ (1964, 79) ist – heute würde man von einer intrinsischen im Unterschied zu einer extrinsischen Eigenschaft sprechen –, oder ob dessen Sosein von einer anderen Entität herrührt und somit nur verliehen ist. Ausdrücklicher als Husserl unterscheidet Ingarden somit zwischen Unselbständigkeit und Abhängigkeit, da X von Y existential abhängig sein kann, ohne ein unselbständiger Teil von Y zu sein. Dies trifft laut Ingarden insbesondere auf „rein intentionale Objekte“ (z. B. Hamlet) zu, die bewusstseinsabhängig sind, ohne „reelle Teile“ des Erlebnisstroms zu sein. Zu den abhängigkeitstheoretischen Momenten kommen vier modal-zeitliche Momente hinzu: (1964, Kap. V ) (V ) Aktualität (Gegenwärtigkeit, Wirkhaftigkeit) – Post-Aktualität – Empirische Möglichkeit – Inaktualität Schließlich erwähnt Ingarden noch zwei weitere, ebenfalls zeitlich tingierte Paare, (1964, § 30; 1974, 72–76) die mit der transtemporalen Erstrecktheit und Stabilität (Kontinuität) einer Entität zu tun haben: (VI) Nicht-Spalthaftigkeit – Spalthaftigkeit (VII) Nicht-Gebrechlichkeit (Dauerhaftigkeit) – Gebrechlichkeit Spalthaftigkeit bedeutet, dass ein Gegenstand seine Wirksamkeit (Aktualität) innerhalb einer zeitlich begrenzten „Spalte“ (1964, 241) ausüben kann. Alle zeitlich bestimmten Gegenstände existieren spalthaft, allerdings haben Lebewesen, insbesondere bewusste, die Möglichkeit, ihre Spalthaftigkeit durch Retention, Erinnerung, Gewohnheit und Antizipation gewissermaßen zu überbrücken. Gebrechlichkeit bedeutet, dass sich ein Seiendes (z. B. ein Lebewesen) in einem „labilen Gleichgewicht“ (1964, 239) befindet, das gestört, unterbrochen und vernichtet werden kann. Bei der ‚Konstruktion‘ von Seinsweisen anhand der existentialen Momente ist zu beachten, dass es synthetisch-apriorische „Ausschlußgesetze“ (1964, 124) gibt, aufgrund deren nicht alle formal zulässigen Kombinationen realiter möglich sind. Man kann also nicht alle Momente beliebig miteinander kombinieren, denn nicht jeder Kombination entspricht eine kohärente Seinsweise. Im Streit diskutiert Ingarden folgende Seinsweisen, (1964, §§ 16; 33) die ein „viergliedrige[s] System des Seienden“ (1964, 263) bilden:
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(A) Absolutes Sein [selbständig, unabhängig, autonom, ursprünglich, aktual, überzeitlich, nicht-spalthaft, dauerhaft] Beispiele: Gott, Kants noumena (B) Ideales Sein [selbständig, unabhängig, autonom, ursprünglich, inaktual, außerzeitlich, nicht-spalthaft, dauerhaft] Beispiele: die ideale Qualität Röte, die Zahl 2, die Idee „Mensch überhaupt“ (C) Reales Sein [selbständig oder unselbständig, abhängig, autonom, abgeleitet, aktual, zeitlich bestimmt, spalthaft, gebrechlich] Beispiele: Angela Merkel, Bewusstseinsströme, Gewitter, konkrete Rotmomente (D) Rein intentionales Sein [selbständig, abhängig, heteronom, abgeleitet, inaktual] Beispiele: Kants phaenomena, die Figur Hamlet Jede Entität enthält somit eine existentiale Signatur, die für deren Seinsweise konstitutiv ist. Durch diese kombinatorische Vorgehensweise ist es zudem möglich, die Streitfrage auf systematische Weise zu erörtern, wobei sich eine Fülle von Möglichkeiten ergibt, die Ingarden schrittweise reduziert. Idealerweise würde sich auf rein ontologischem Wege genau eine Lösung der Streitfrage ergeben, sodass keine metaphysische „Entscheidung“ mehr erforderlich wäre. Allerdings ist es wahrscheinlicher, dass es mehrere Möglichkeiten gibt. (1964, 190) Am Ende des Streitbuchs präsentiert Ingarden keine eindeutige und endgültige Lösung. Der Gegensatz zwischen Realismus und (husserlschem) Idealismus ist primär im existentialen Moment der Seinsautonomie bzw. -heteronomie verankert, sodass die Streitfrage auch so formuliert werden kann: „Hat die reale Welt die rein intentionale Seinsweise?“ (1965a, 174) Dies ist, so Ingarden, die These Husserls, da seinem „idealistischen Abhängigkeitsidealismus“ zufolge die reale Welt heteronom, abgeleitet, selbständig und abhängig vom reinen Bewusstsein ist, während letzteres autonom, selbständig, ursprünglich und unabhängig relativ zur Welt ist. Dies ist nicht zuletzt deshalb inkohärent, weil nach Ingarden für Realität seinsautonome Zeitlichkeit wesentlich ist. Aus Husserls Idealismus würde jedoch folgen, dass die Zeitlichkeit der realen Welt seinsheteronom ist, indem sie ihr – ähnlich wie bei Kant – vom reinen Bewusstsein lediglich zugemutet wird. (1964, §§ 32–33) Die Analyse der „rein intentionalen Existenz“ (D) spielt somit eine zentrale Rolle. (1965a, Kap. IX; 1972) Sie stellt eine der innovativsten Errungenschaften von Ingardens Philosophie dar, da sich rein intentionale Gegenstände den gängigen Disjunktionen zwischen Physi(kali)schem und Psychischem bzw. Realem und Idealem entziehen. (1972, Kap. I) Während der „existentiale Monismus“ annimmt, alles Seiende existiere autonom, macht Ingarden geltend, dass es irreduzible rein intentionale Gegenständlichkeiten gibt, deren Sein und Sosein zwar
164 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? auf seinsautonome Entitäten angewiesen ist (insbesondere auf Bewusstsein), diese Fundierung jedoch nicht bedeutet, dass sie „ein völliges Nichts“ (1972, 128) wären. Auch rein intentionale Objekte existieren – wenn auch nicht auf die gleiche Weise wie seinsautonome reale oder ideale Gegenstände. Paradigmatische Beispiele sind Kunstwerke (z. B. Bücher, Sinfonien, Gemälde), sprachliche Zeichen und Bedeutungen, aber auch fiktionale Charaktere und sogar impossibilia wie runde Quadrate oder hölzerne Eisen. (1965a, 254) Im Rahmen von Ingardens Theorie der Intentionalität ist auch Husserls Noema, der intendierte Gegenstand als solcher, (→ 1.3) als ein rein intentionales Gebilde des Bewusstseins zu verstehen, (1965a, § 46) das vom realen oder idealen Bezugsobjekt zu unterscheiden ist. Denn rein intentionale Gegenstände unterscheiden sich radikal von seinsautonomen (realen oder idealen) Objekten. So gelten für rein intentionale Gegenstände weder der Satz vom ausgeschlossenen Dritten noch der Satz vom Widerspruch ausnahmslos. Ferner sind rein intentionale Gegenstände ihrer Form nach durch eine „Doppelseitigkeit“ (1965a, § 47a) aus „Gehalt“ und „Struktur“ gekennzeichnet und haben „Unbestimmtheitsstellen“, (1965a, § 47b) gewissermaßen blinde Flecken, in ihrem Gehalt. Eine solche interne Doppelseitigkeit fehlt realen Individuen, die sich durch eine „Einfachheit (Schlichtheit) des Aufbaus“ (1965b, 69) auszeichnen. Die Doppelseitigkeit hat zur Folge, dass sich über rein intentionale Objekte zwei Arten von Urteilen fällen lassen. So kann man etwa kategorisch von Hamlet sagen, er sei eine von Shakespeare geschaffene Figur („Struktur“), während man nicht im gleichen Sinne sagen kann, Hamlet sei ein melancholischer dänischer Prinz, da Prinzen (qua Menschen) seinsautonome Entitäten sind. Es gibt auch seinsheteronome Gegenstände, die nicht bewusstseinsabhängig sind, nämlich die „empirischen Möglichkeiten“, die durch die Gegenwart (Aktualität) zwar bestimmt sind, aber ebenfalls Unbestimmtheitsstellen aufweisen. (1965a, 34–38; 87) Ferner existieren auch negative Sachverhalte (anders als positive), wie z. B. „Dieser Tisch ist nicht aus Holz“, rein intentional. (1965a, § 53) Wichtig für Ingardens ontologischen Umgang mit der Streitfrage ist schließlich, dass diese sich nicht nur auf reale Individuen bezieht, sondern eben das Problem der Existenz der realen Welt und deren Verhältnis zum reinen Bewusstsein betrifft. Somit ist auch eine Analyse des Weltbegriffs erforderlich, die Ingarden im Rahmen einer detaillierten Beschreibung und Klassifikation verschiedener „Seins-“ bzw. „Gegenstandsgebiete“ vornimmt. (1965b, Kap. XV ) Dabei ist eine doppelte Strategie erkennbar: Zum einen versucht Ingarden, den in seinen Augen unklaren husserlschen Begriff der Region durch den Begriff des Seinsgebiets zu explizieren. Im Zusammenhang damit ist auch die Frage wichtig, ob das reine Bewusstsein ein individueller Gegenstand oder ein Seinsgebiet bzw. eine Region ist. (1965b, 96; 381; Kap. XVI) Ingardens Analyse ergibt, dass es ein höherstufiges Individuum von der Form eines „organischen Ganzen“ ist, dessen Teile (die Erlebnisse) unselbständige Momente bilden. Zum anderen kritisiert
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Ingarden extensionalistische klassen- bzw. typentheoretische Ansätze, die Seinsgebiete (und auch Dinge, 1965a, § 45) auf bestimmte Klassen reduzieren. Da Klassen in Ingardens Augen jedoch rein intentionale Gegenstände sind, die von uns beliebig gebildet werden können, würde die klassentheoretische Auffassung direkt zu einer idealistischen Beantwortung der Streitfrage führen. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass Seinsgebiete gar nicht als Klassen zu verstehen sind. (1965b, §§ 66; 67; 71) Insbesondere die reale Welt ist demnach nicht die Klasse oder Menge aller realen Individuen. Ingarden entwickelt eine reichhaltige Taxonomie der Seinsgebiete. So unterscheidet er z. B. kompakte und nichtkompakte (lose), abgeschlossene und offene (1965b, 122) und seinsautonome und heteronome (1965b, § 73) Gebiete. Ein Seinsgebiet wird formal als eine „Vielheit selbständiger Gegenstände“ (1965b, 98) bestimmt. Als solche ist es selbst ein seinsselbständiger „individueller Gegenstand höherer Ordnung“, der auf einem „summative[n] Ganzen“ (1965b, 375) beruht; anders als eine organische Ganzheit enthält ein Seinsgebiet „effektive“, d. h. selbständige Teile bzw. „Stücke“ (Husserl). Aber nicht jede Mannigfaltigkeit von Individuen ist ein Gebiet. So bildet z. B. die Gesamtheit der Einwohner Münchens kein eigenes Seinsgebiet. Insbesondere müssen sich die Glieder des Gebiets nach innen durch „gattungsmäßige Homogenität“ (1965b, 125) und nach außen durch „radikale Verschiedenheit“ (1965b, 102) auszeichnen. Das bedeutet, dass die (materiale) Ähnlichkeit zwischen den Elementen eines Gebietes stärker ausgeprägt sein muss als die Verwandtschaft zu Objekten, die außerhalb des Gebiets liegen. Es muss eine „natürliche Abgrenzung“ (1965b, 220) und eine „Diskontinuität mit der ganzen Umgebung“ (1965b, 158) geben, aufgrund deren objektiv feststeht, ob ein Gegenstand zum fraglichen Gebiet gehört oder nicht: Die prinzipielle Diskontinuität des Gegenstandsgebietes bei gleichzeitiger begründeter innerer Einheitlichkeit desselben – das ist das wesentliche, konstitutive Moment der Form des Gegenstandsgebietes, das mit der Mannigfaltigkeit seiner individuellen letzten Elemente eng verbunden ist. (1965b, 115)
Die für Gebiete notwendige „Homogenität“ buchstabiert Ingarden mit Hilfe seines Begriffs der „konstitutiven Natur“ eines Individuums aus. Besteht diese Natur aus endlich vielen Momenten, die sich in einer „qualitative[n] Reihe“ (1965b, 105) a1, …, an eindeutig so anordnen lassen, dass jedes ihrer Elemente, außer dem letzten, dem nächsten gegenüber eindeutig unselbständig ist und daß zugleich jedes dieser Elemente, außer dem ersten, dem vorangehenden gegenüber mehrdeutig unselbständig ist, dann bestimmt die Natur N des Gegenstandes ein System der Gattungen A1, A2, A3, …, An, [,] von welchen die Gattung An, durch das Moment an konstituiert, die material bestimmte oberste Gattung [Region] ist, unter welche der betreffende Gegenstand G(N) fällt. (1965b, 105)
Alle Glieder eines Seinsgebiets müssen aufgrund ihrer konstitutiven Natur derselben „material bestimmten obersten Gattung“ unterstehen. Das bedeutet z. B.,
166 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? dass jedes (seinsautonome) Gebiet, die veränderliche reale Welt eingeschlossen, generisch abgeschlossen ist, da in ihm keine Gegenstände einer neuen obersten Gattung auftreten können. (1965b, 252) Dies gilt nicht für rein intentionale Gebiete, etwa fiktive Welten, in denen radikal neue Objekte auftreten können. Da die reale Welt, die uns erfahrungsmäßig zugänglich ist, prima facie heterogene Gegenstände zu enthalten scheint (insbesondere belebte und unbelebte bzw. psychische und physische), ist nicht von vornherein klar, ob die reale Welt die Bedingung der gattungsmäßigen Homogenität erfüllt. (1974, 1) Zwei Möglichkeiten der Vereinheitlichung bieten sich hier an: (1) Wird ein Seinsgebiet als Vielheit ursprünglich individueller Gegenstände verstanden, besteht die Möglichkeit, die Einheit der realen Welt im Sinne einer Homogenität dieser letzten Bausteine alles Realen zu verstehen. (1965b, 206; 389 f.) Die gattungsmäßige Heterogenität zwischen Physischem und Psychischen (an der Ingarden festhält, 1965b, § 78c) entstünde dann erst auf der Ebene „abgeleiteter“ individueller Gegenstände höherer Ordnung. (2) Eine andere Möglichkeit zur ‚Rettung‘ der generischen Einheit der realen Welt besteht in der nicht-kausalen „Durchflechtung“ gattungsmäßig heterogener Gebiete. (1965b, § 74) Diese ist an zwei Bedingungen geknüpft: 1. Es gibt eine derartige Anordnung der Gegenstände der beiden Gebiete, daß mindestens zwischen manchen Elementen des Gebietes A gewisse Elemente des Gebietes B liegen. Dieses „zwischen“ bedeutet hier nur, daß man, wenn man von einem Element X(A) des Gebietes A zu einem anderen Element Y(A) desselben Gebietes gelangen will, notwendig auf dem Wege einen Gegenstand Z(B) des anderen Gebietes treffen oder mindestens an ihm vorbeigehen muß. Dann liegt Z(B) zwischen X(A) und Y(A). (1965b, 225)
2. Die Elemente der sich durchflechtenden Gebiete stehen in einem nicht-kausalen (abhängigkeitstheoretischen) „Seinszusammenhang“. Ein exemplarisches Beispiel einer solchen Durchflechtung ist die Verbindung zwischen der realen Welt und rein intentionaler Gebiete. Um z. B. vom ersten Akt von Shakespeares Hamlet zum zweiten Akt zu gelangen, muss man an realen Zwischengliedern „vorbeigehen“, etwa konkreten Vorgängen auf einer Bühne oder Seiten aus Papier. Zwischen den Akten des Schauspiels bzw. den sich darin abspielenden Vorgängen und agierenden Figuren und der realen Welt bestehen ferner vielfältige „Seinszusammenhänge“. So hat das reale Individuum Shakespeare einst ein reales „physisches Seinsfundament“ geschaffen (das Original-Manuskript), das jene Akte, Vorgänge und Figuren aufgrund seiner „Schicht der Bedeutungseinheiten“ (1972) intentional repräsentiert. Gemäß der Streitfrage steht der Begriff der (realen) Welt im Sinne eines ausgezeichneten Seinsgebiets im Zentrum des Interesses. Jede Welt ist ein Seinsgebiet, aber nicht jedes Seinsgebiet ist eine Welt. Eine Welt ist vielmehr ein Seinsgebiet, dessen „Elemente miteinander in verschiedenen Seinszusammenhängen stehen und insbesondere Glieder eines einheitlichen Systems kausaler
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Zusammenhänge sind. […] Die reale Welt aber scheint in diesem Sinne eine Welt zu sein“. (1965b, 124; 1974, 140) Anders als in einem „kompakten“ Seinsgebiet (etwa dem der natürlichen Zahlen) sind die Elemente einer Welt ‚offen‘ füreinander: Für ein ‚weltliches‘ Gegenstandsgebiet ist es wesentlich, daß infolge der in ihm vorhandenen Seinszusammenhänge zwischen den Elementen ein innerlich verbundenes Ganzes entsteht, in dem zwar die einzelnen Teile, niedrigerer oder höherer Ordnung, gegenseitig seinsselbständig, aber […] voneinander nicht mehr seinsunabhängig sind. (1965b, 131)
Ingarden bezeichnet „eine solche teilweise Seinsabhängigkeit des Gegenstandes“ als „seine ‚Empfindlichkeit‘“: „Mit anderen Worten: Die unempfindlichen (absolut verschlossenen) Gegenstände bilden kein Element einer Welt.“ (1965b, 146) Die Selbstständigkeit der Weltglieder erfordert, dass es sich bei ihnen um „relativ isolierte Systeme“ (1974, 140) handelt, die nicht „absolut geschlossen“ sind. Die Glieder einer Welt müssen mithin kausal affizierbar bzw. „empfindlich“ sein, was bedeutet, dass sie veränderbar und zwischen ihnen kausale Pfade möglich sein müssen. Eine Welt ist insofern auch kausal abgeschlossen, als die Ursache einer Veränderung an einem Element der Welt stets zu derselben Welt gehören muss. Anders als in einem kompakten Gebiet, wie z. B. den geometrischen Figuren der euklidischen Geometrie, wo die relationale Anordnung der Elemente durch deren „exaktes Wesen“ eindeutig festgelegt ist, ist eine Welt „chaotisch“ in dem Sinne, dass die Gattungszugehörigkeit eines Elements noch nicht eindeutig bestimmend ist für dessen Ort in der Welt. Da zwischen seinsheteronomen bzw. rein intentionalen Gegenständen keine kausalen Bezüge möglich sind, besteht eine Welt immer aus seinsautonomen Elementen und existiert selbst autonom. Aus Ingardens Überlegungen zu Seinsgebieten ergibt sich, dass die traditionelle Idee einer „Allheit alles Seienden“ (1965b, 253) weder mit einem Seinsgebiet noch mit der (realen) Welt gleichzusetzen ist, da es keine material bestimmte oberste Gattung gibt, der alles Existierende untersteht. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Welt nicht mit der Gesamtheit des Existierenden gleichzusetzen ist. Außerdem gehören die idealen Gegenstände (Ideen, ideale Qualitäten, ideale Individuen) nicht zur realen Welt, obwohl sie wesentlich auf diese bezogen sind. (1965a, § 51) Ein „Pluralismus der Seinsgebiete“ (1965b, 254) scheint zu folgen. Allerdings eröffnet auch hier das Phänomen der Durchflechtung die Möglichkeit einer gewissen Vereinheitlichung. Ingarden widmet der formal-ontologischen Untersuchung der „kausalen Struktur der Welt“ den dritten und letzten Band des Streits. (1964, § 13) Anders als die meisten phänomenologisch orientierten Autoren beschränkt er sich nicht auf eine schematische Abgrenzung von Kausalität und Intentionalität bzw. Motivation, sondern entwickelt eine systematische Theorie der Kausalität, die direkte Konsequenzen für den Weltbegriff hat. Ingarden grenzt sich insbesondere
168 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? von empiristischen Regularitäts- und Sukzessionstheorien ab (Mill, Hume), die eine externe Beziehung zwischen einer zeitlich früheren und einer späteren Ursache annehmen. Dagegen setzt er die Idee eines internen bzw. „notwendigen“ und schöpferisch-produktiven „Seinszusammenhangs“ zwischen Ursache und Wirkung. Wie die Empiristen behauptet Ingarden, dass nur Ereignisse bzw. Vorgänge die Relata der Kausalität bilden können, allerdings finden Ursache und (unmittelbare) Wirkung gleichzeitig statt und benötigen „in der Zeit verharrende Dinge“ als ihre Seinsfundamente. Ein kausaler Zusammenhang setzt ferner ein „System“ von seinsselbständigen Gegenständlichkeiten voraus, die eine partielle „reelle Isolierung“ (1974, 66) in Bezug auf den Rest der Welt aufweisen. Andernfalls könnte kein notwendiger Seinszusammenhang zwischen Ursache und Wirkung mehr bestehen, da ein durchgängig offenes System für alle äußeren Faktoren durchlässig wäre und es somit keine streng hinreichende bestimmte Ursache geben könnte. Eine Ursache kann ihre Wirksamkeit niemals allein entfalten, sondern nur im Zusammenspiel mit vorgegebenen „Umständen“. Eine jede Ursache stellt das „Eingreifen[] eines Störungsfaktors in ein bis dahin in gewisser Hinsicht isoliertes, im Gleichgewicht verharrendes System“ (1964, 105) dar; sie ist „der letzte in Gestalt eines Ereignisses eintretende Faktor, der die bereits bestehenden Tatbestände (die […] ‚Umstände‘) zur vollen aktiven hinreichenden Bedingung der Wirkung ergänzt“. (1974, 76) Aus Ingardens Konzeption der Kausalität ergeben sich wichtige Folgen für die formale Struktur der realen Welt. Insbesondere hebt Ingarden eine „doppelte Diskontinuität“ (1974, 76) der realen Welt hervor, die darin besteht, dass zur realen Welt relativ isolierte Systeme von substanziellen Gegenständen gehören müssen und dass die Weltzeit kein mathematisches Ereigniskontinuum darstellt. (1974, § 91) Damit ist ausgeschlossen, dass eine reale Welt ein einziges System von Ereignissen darstellt, in dem ‚alles mit allem‘ durchgängig kausal verflochten ist und es keine relativ isolierten Bereiche von Substanzen gibt, die in einigen Hinsichten kausal abgeschottet und somit ‚frei‘ sind. Anders gesagt: Der universale „radikale Determinismus“, (1974, §§ 95 ff.) wie man ihn historisch bei Deterministen wie Laplace und in der neuzeitlichen mechanistischen Naturwissenschaft findet, ist zu verneinen: Denn diese Auffassung schließt die Behauptung ein, daß alle Ereignisse der realen Welt (also auch die Willensentscheidungen) zusammen ein einziges System der kausalen Beziehungen bilden, in welchem sie als Wirkungen eindeutig und notwendig durch ihre Ursachen bestimmt sind. (1970, 99)
Diese Kritik am radikalen Determinismus spielt eine wichtige Rolle für die Möglichkeit von Freiheit und (moralischer) Verantwortung, die Ingarden im Rahmen eines gemäßigten Determinismus bzw. Kompatibilismus entwickelt. Dieser soll eine „dritte Auffassung“ (1970, 103) zwischen radikalem Determinismus und Indeterminismus ermöglichen. (1970, Kap. IX–X; 1974, 142 f.)
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Ingardens apriorische existential- und formalontologische Untersuchungen der Begriffe Bewusstsein, Realität, Welt und Kausalität spielen nur eine vorbereitende Rolle für die Streitfrage. Die endgültige Entscheidung darüber, wie sich Bewusstsein und reale Welt zueinander verhalten, ist metaphysischer Natur und kann weder von der Existential- noch von der Formalontologie gefällt werden, sondern muss Ergebnisse der Materialontologie und der empirischen Wissenschaften berücksichtigen.
7.3 Die Streitfrage entscheiden: Phänomenologische Metaphysik? Wie bereits erwähnt, unterscheidet Ingarden (in der Tradition Wolffs) Ontologie und Metaphysik. Während die Ontologie apriorische Zusammenhänge und (Un-)Möglichkeiten erforscht, die in den idealen Qualitäten der Gehalte von Ideen von Einzeldingen gründen, hat die Metaphysik die Aufgabe, ganz bestimmte Tatsachen aufgrund von Erfahrung festzustellen. Metaphysische Erkenntnis ist also Tatsachenerkenntnis. Aber nicht alle durch Erfahrung festgestellten Tatsachen sind metaphysischer Natur. Die in der Metaphysik entdeckten Tatsachen haben einen eigentümlich hybriden Charakter, den Ingarden durch Komposita wie „wesensmäßiges faktisches Sosein und Dasein“, (1929, 163) „Wesens-faktum“ (1929, 180) oder „wesensnotwendige[] Tatsachen bzw. tatsächliche[] Wesensbestände“ (1964, 48) zum Ausdruck bringt. Die Metaphysik beruht insofern auf der Ontologie, als die von ihr entdeckten Tatsachen keine rein empirischen (singulären oder generellen) Fakten sind, sondern vielmehr Tatsachen, die in engem Zusammenhang mit den Wesensanalysen der Ontologie stehen: „So stellt die Metaphysik einerseits die notwendige Ergänzung der Ontologie dar, andererseits aber hat sie in dieser ihre unentbehrliche Vorbereitung und in gewissem Sinne auch Voraussetzung.“ (1964, 51) Auf theoretischem Wege nähert sich Ingarden dem Begriff der Metaphysik primär anhand der Urteile, welche der Metaphysiker fällt: „Die Gesamtheit der auf metaphysische Fragen antwortenden wahren Urteile nennen wir ‚Metaphysik‘.“ (1964, 50) Anders als der Ontologe, dessen Kerngeschäft im Fällen hypothetischer Urteile besteht, formuliert der Metaphysiker entweder Existenzurteile oder kategorische Urteile, die Existenzurteile implizieren. Die metaphysischen Urteile „implizieren in ihrem Subjektbegriff die tatsächliche Existenz des beurteilten Gegenstandes und beziehen sich auf tatsächlich bestehende Wesensverhalte.“ (1964, 49) Aber nicht alle kategorischen bzw. existenzialen Urteile sind metaphysischer Natur. So sind z. B. die Sätze „An der Côte d’Azur gibt es feinen Sand“ (A) oder „Dieser Tisch ist aus Holz“ (B) keine metaphysischen Urteile. Denn erst wenn die Existenz eines Gegenstandes als eine solche begriffen wird, die entweder in sich selbst wesensnotwendig ist oder mindestens zu einer wesensnotwendigen, letzten Tatsache in Beziehung gesetzt werden kann, aus der sie als aus ihrem letzten Grunde ein-
170 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? sehbar erwiesen wäre, erst dann haben wir es mit einem metaphysischen Existential-Urteil zu tun. (1964, 48)
Ein metaphysischer Sachverhalt ist demnach bereits in sich „wesensnotwendig“ oder gründet in einem anderen wesensnotwendigen Sachverhalt. In der Metaphysik geht es „um die Entdeckung gewisser Tatsachen, solcher aber, die keine bloßen, uneinsehbaren Tatsachen sind, welche sich aus anderen ebenso uneinsehbaren Tatsachen ergeben, sondern Wesenstatsachen, die in der Notwendigkeit der betreffenden Gegenständlichkeiten gründen und die sich durch Einsicht in die ideellen Zusammenhänge zwischen reinen Qualitäten voll verstehen lassen“. (1964, 31) Der Satz (B) drückt deshalb keine metaphysische Tatsache aus, weil er auf keiner „Wesensnotwendigkeit“ basiert: weder scheint die faktische Existenz dieses Tisches noch die Tatsache, dass er aus Holz ist und jetzt hier vor mir steht, aus Wesensgründen notwendig zu sein. Anders steht es mit dem Satz (B*) „Dieser Tisch ist ein materielles, räumliches und farbiges Ding“. Dies ist ein metaphysisches Urteil, da ihm die faktische Existenz eines Individuums zugrunde liegt, welche mit Blick auf Wesensnotwendigkeiten verständlich gemacht wird. Denn (B*) basiert auf den ontologischen Urteilen „Tische sind materielle Dinge“, „Materielle Dinge sind räumlich“, „Tische sind farbig“, etc. Metaphysische Sätze repräsentieren somit eine Urteilsart, welche die klassische Disjunktion zwischen aposteriorischen und apriorischen Sätzen um eine dritte Möglichkeit erweitert. Auch traditionelle metaphysische Urteile wie „Gott existiert“, „Es gibt Ideen“, „Die Seele ist unsterblich“ oder „Der Mensch ist frei“ können als metaphysisch im Sinne Ingardens verstanden werden. Ersteres deshalb, weil es sich bei der Existenz Gottes traditionellerweise um eine notwendigerweise bestehende Tatsache handelt (falls sie besteht), die aus dem Wesen Gottes folgen soll; letzteres deshalb, weil es die Existenz des Menschen voraussetzt und (implizit) das Freisein mit gewissen Eigenschaften des Menschen verknüpft, die zu dessen konstitutiver Natur bzw. Wesen gehören (z. B. mit der Fähigkeit, vernünftig zu handeln). Auch eine mögliche Antwort auf die Streitfrage (etwa: „Die reale Welt existiert tatsächlich und ist seinsautonom relativ zum menschlichen Bewusstsein“) stellt ein metaphysisches Urteil dar. Die ontologischen Vorüberlegungen sind jedoch insgesamt unzureichend, um die Streitfrage definitiv zu beantworten. (1965b, 382, 38) Die Ontologie übernimmt primär eine negative Aufgabe, indem sie – neben ihren positiven Analysen – Möglichkeiten ausschließt. Eine metaphysische Entscheidung ist in jedem Fall nötig. Auch wenn sich durch rein apriorische Analyse nur eine einzige Möglichkeit des Verhältnisses zwischen reinem Bewusstsein und realer Welt ergeben würde, müsste immer noch durch faktische Erfahrung festgestellt werden, ob die reale Welt tatsächlich existiert und ob sie so ist, wie sie begrifflich bestimmt wurde. In diesem Sinne spielen erkenntnistheoretische Über-
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legungen für die Entscheidung der Streitfrage eine wichtige Rolle; somit können auch konstitutionstheoretische Überlegungen, wie man sie bei Husserl findet, für die Ingarden’sche Metaphysik fruchtbar gemacht werden. Denn metaphysische Entscheidungen basieren auf einer Erfahrung, die besonderen epistemischen Ansprüchen genügen muss. Die Erfahrung muss so geartet sein, dass man auf ihrer Grundlage feststellen kann, dass „ein bestimmter individueller Gegenstand X tatsächlich und unbezweifelbar existiert (was bereits über jede rein ontologische Erkenntnis hinausgeht), dann muß im Zusammenhang damit zugleich festgestellt werden, was seine individuelle Natur bildet, und eben damit, unter welche der vorhandenen Ideen der Gegenstand X als Individuum fällt“. (1964, 51 f.) Ob es eine von der äußeren und inneren Wahrnehmung verschiedene metaphysische Erfahrung sui generis geben könnte, in der sich uns solche Tatsachen erschließen, wird von Ingarden kritisch gesehen. (1964, 51) Eventuell lässt sich jedoch bereits die prä-reflektive „Intuition des Durchlebens“ eigener Akte und Erlebnisse, die bei Ingarden als unbezweifelbares Fundament der Erkenntnis eingeführt wird, als eine solche metaphysische Erfahrung verstehen. Durch diese würde uns die metaphysische Tatsache unserer eigenen Existenz als bewusste Subjekte offenbar werden. (1921) Ingarden deutet ferner an, dass die Streitfrage letztlich nicht ohne Rekurs auf die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften beantwortet werden kann. Metaphysik und Naturwissenschaften ähneln sich in vielerlei Hinsicht, da beide an der faktischen Existenz und dem tatsächlichen Wesen von realen Individuen interessiert sind. (1925, § 13) Auch die material-ontologischen Untersuchungen müssen empirisch informiert sein, da sie den ursprünglichen ‚Stoff ‘ bzw. die Bausteine betreffen, die dem Seinsgebiet der realen Welt zugrunde liegen und sich nicht apriorisch bestimmen lassen. (1964, § 4) Dieser interdisziplinäre Zug von Ingardens Metaphysikverständnis wird auch deutlich, wenn sich Ingarden bei der Diskussion des Kausalitäts-, Organismus- und Systembegriffs der zeitgenössischen Physik und Biologie zuwendet. (1964, § 30; 1974; 1970)
7.4 Schlussbemerkung Abschließend ist zu sagen, dass Ingarden im Streitbuch eine Entscheidung zugunsten einer nicht genau spezifizierten Form des metaphysischen Realismus bzgl. der realen (und idealen) Welt zwar getroffen, aber nicht im Detail ausbuchstabiert und begründet hat. Ein solcher Realismus, welcher insbesondere – im Kontrast zu Husserl – an der Seinsautonomie der realen Welt festhält, ergibt sich in erster Linie ex negativo aus der Unhaltbarkeit des „idealistischen Abhängigkeitskreationismus“. Allerdings bleibt die Frage offen, wie weit die Seinsunabhängigkeit der realen Welt vom Bewusstsein reicht. Erstreckt sich Ingardens Realismus z. B. auch auf Farben, Töne und andere ‚sekundäre Qualitäten‘?
172 7. Roman Ingarden – Wie existiert die reale Welt? Wie steht es mit Werten und Werteigenschaften? (1969) Zudem ist die genaue Abgrenzung zwischen metaphysischen und naturwissenschaftlichen Tatsachen nicht ganz klar. So müsste z. B. ein empirisches Urteil wie „Wasser ist H2O“ nach Ingardens Terminologie ein metaphysisches Urteil sein, da es eine „Wesenstatsache“ festzustellen scheint. Ferner behauptet Ingarden explizit, dass die reale Welt seinsabgeleitet sei, wenn auch vermutlich nicht vom reinen Bewusstsein. (1965b, 392 ff.) Damit deutet sich an, dass es einen vom reinen Bewusstsein verschiedenen Grund der realen Welt geben muss und somit die Lösung der Streitfrage nicht im Rahmen der „transzendentalen konstitutiven Betrachtung“ (1965b, 398) zu finden ist. Was es damit auf sich hat, bleibt im Streitbuch jedoch letztlich offen bzw. dunkel. Manchmal wird darauf hingewiesen, dass sich in Ingardens später Schrift Über die Verantwortung. Ihre ontischen Fundamente (1970) eine alternative, an Kants Postulatenlehre aus der Kritik der praktischen Vernunft erinnernde, ethisch-personale Rechtfertigungsstrategie in Bezug auf den metaphysischen Realismus finden lässt. (Swiderski 2005) Schon im Streitbuch fällt ja auf, dass Ingarden die Rolle der Metaphysik durch ethisches Vokabular charakterisiert, etwa wenn er von der „Entscheidung“ und „Verantwortung“ der Metaphysik spricht. (1929, § 9) Im Kontext seines Buchs über die Verantwortung wäre das so zu deuten, dass ein gewisser Realismus insbesondere mit Blick auf Personen (qua „in der Zeit verharrende“ Substanzen), Handlungen und auch Werte angenommen werden muss, um dem Phänomen der (moralischen) Verantwortung in einem robusten Sinne gerecht zu werden: Nur wenn die Existenz und Identität von Personen und Werten keine rein intentionale Seinsweise aufweist, ergibt es Sinn, Menschen für ihre Taten (moralisch) verantwortlich zu machen. Ein dritter Weg in die Metaphysik könnte sich schließlich durch die ästhetisch vermittelte „Kontemplation […] metaphysische[r] Qualitäten“ (1972, 313) eröffnen, zu denen z. B. das Erhabene, Tragische, Furchtbare, Unbegreifbare oder Groteske gehört. Damit meint Ingarden besonders eindringliche und nicht vollständig rationalisierbare Erfahrungen von atmosphärischen Situationen und Ereignissen, in denen sich uns „‚ein tieferer Sinn‘ des Lebens und des Seins überhaupt enthüllt“. (1972, 312) Solche „Kulminationspunkte des Lebens“ (1972, 311) sind im alltäglichen Leben selten, können aber durch Versenkung in ‚wahre‘ Kunstwerke herbeigeführt werden. Nach Ingarden „lebt in uns eine geheime Sehnsucht nach der Realisierung und Erschauung“ dieser Qualitäten, die auch eine „geheime Quelle vieler unserer Taten“ (1972, 311) ist. Sollte sich diese Deutung bewähren, gäbe es bei Ingarden neben dem unvollständigen theoretischen Weg des Hauptwerks auch einen ethisch und sogar einen ästhetisch motivierten Weg zum metaphysischen Realismus. Freilich wäre dann noch zu prüfen, ob alle drei Wege im Sinne eines einheitlichen Begriffs von „Metaphysik“ verstanden werden können.
Christopher Erhard 173
Roman Ingarden Roman Witold Ingarden, geboren 1893 in Krakau, ist einer der bedeutendsten polnischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, dessen Werk sich insbesondere durch seinen Fokus auf altehrwürdige ontologische Grundfragen und seine gleichermaßen systematische wie deskriptiv-analytische Vorgehensweise auszeichnet, die von der phänomenologischen Methode seines Lehrers Edmund Husserl beeinflusst ist. Im Zentrum steht dabei zeitlebens das Interesse an einer stringenten Verteidigung eines metaphysischen Realismus, der auch die Ergebnisse der Naturwissenschaften (v. a. Physik, Biologie) berücksichtigt. Besonders intensiv hat sich Ingarden darüber hinaus mit den erkenntnistheoretischen und ontologischen Grundlagen der Ästhetik beschäftigt, mit der Folge, dass er über die engeren Grenzen der Philosophie hinaus gewirkt hat und z. B. auch in der Literaturwissenschaft rezipiert wurde. Von 1911 an studierte Ingarden an den Universitäten in Lwiw (Lemberg), Göttingen, Wien und Freiburg Philosophie, Mathematik und Physik. Er promovierte 1918 bei Husserl in Freiburg mit dem Thema Intuition und Intellekt bei Henri Bergson und habilitierte sich 1924 mit der Schrift Essentiale Fragen. Ein Beitrag zum Problem des Wesens in Lwiw, wo er bis 1939 lehrte. Nach dem Krieg wurde er 1945 ordentlicher Professor in Krakau, wo er bis zu seiner Emeritierung 1963 lehrte und 1970 starb. Sein mehrbändiges Hauptwerk, Der Streit um die Existenz der Welt, blieb zu Lebzeiten unvollendet und konnte erst durch die postume Veröffentlichung des dritten Teilbandes Über die kausale Struktur der realen Welt zu einem gewissen Abschluss gebracht werden. Dieser Artikel ist im Rahmen des DFG‑Forschungsstipendiums ER 819/2–1 und ER 819/2–2 entstanden.
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8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Kosmologie Annika Schlitte
Eugen Finks philosophisches Schaffen kreist um das Weltproblem. An der Frage nach der Welt stößt er sich von der Phänomenologie Husserls ab und entwickelt in der kritischen Auseinandersetzung mit der traditionellen Metaphysik ein eigenes Denken, das nicht mehr Phänomenologie und auch nicht mehr Ontologie sein will, sondern kosmologische Spekulation mit dem Ziel, das „Unsägliche“ zu erreichen, welches alle Phänomenalität begründet und als solches nur indirekt über die Grundphänomene des menschlichen Daseins zugänglich ist. Dabei kann sein Werk in einem ersten Zugriff auch als Suche nach einer Verbindung der Positionen von Husserl und Heidegger verstanden werden, die ihn aber letztlich zu einem eigenen kosmologischen Ansatz führt. Finks Biographie ist eng mit beiden, bei denen er studierte und die auch seine Dissertationsgutachter waren, verknüpft. So war er nicht nur Husserls letzter Assistent und kongenialer Mitarbeiter an der Vollendung von dessen später Phänomenologie, er stand nach dem Krieg auch mit Heidegger in Kontakt und hat gemeinsam mit ihm im Wintersemester 1966/67 das berühmte Seminar über Heraklit (GA 15) gehalten. Doch obwohl in letzter Zeit insbesondere Finks Anteil an den späten Texten Husserls neu ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist (Bruzina 2004) und die 2006 begonnene Gesamtausgabe seiner Schriften weiter voranschreitet, (Nielsen/Sepp 2006) gibt es auch kritische Stimmen, die seine eigene systematische Bedeutung für die Phänomenologie als eher gering einschätzen. (Moran 2007; Crowell 2001) Fragt man nach Finks genuinem Beitrag zur Entwicklung der Phänomenologie, ist die Frage nach der Welt der ideale Ausgangspunkt, die ihn wie kein anderes Problem schon seit der Kooperation mit Husserl umtreibt und die er für die Grundfrage der Phänomenologie hält. (Nielsen/ Sepp 2010; Sepp 2006) Ironischerweise führt ihn die Beschäftigung mit der Welt jedoch wieder aus der Phänomenologie heraus, die er zugunsten einer spekulativen Philosophie hinter sich lässt. Auch die traditionelle Metaphysik soll dabei in Richtung einer Kosmologie überwunden werden, die nun explizit vom Weltproblem ausgeht. „Vor lauter Bäumen sehen wir den Wald nicht mehr, – vor lauter Dingen nicht mehr die Welt“ – so lautet Finks Diagnose einer „Weltvergessenheit des menschlichen Daseins“, (1977, 273) die nur ein weltoffenes Wesen überhaupt
176 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt überfallen könne. Gerade weil wir zuallererst weltliche Wesen sind, die vor allen anderen Beziehungen immer schon in einer Beziehung zur Welt stehen, fällt es uns so schwer, Welt zu denken und philosophisch einzuholen. Diesem „Unausdenklichen“ (EFGA 7, 25; EFGA 6, 29) nachzudenken, ist die Aufgabe, der sich Fink Zeit seines Lebens gewidmet hat. Finks Weg von einer „konstruktiven“ Ergänzung der husserlschen Phänomenologie zu einer dezidiert nicht-metaphysischen Kosmologie soll daher im Folgenden anhand der Veränderungen des Weltproblems nachgezeichnet werden.
8.1 Der Ursprung der Welt als Grundproblem der Phänomenologie Schon in seinen frühen Texten und Notizen, die eng an Husserl anschließen und im Kontext seiner Arbeit als Husserls Assistent und Mit-denker stehen, bildet die Frage nach der Welt den Einstieg in die Methodik und Systematik der Phänomenologie, mit denen Fink und Husserl sich zu dieser Zeit befassen. „Die Grundfrage der Phänomenologie […] läßt sich formulieren als die Frage nach dem Ursprung der Welt“, (1966a, 101) so schreibt Fink in der Kant-Studien-Abhandlung Die phänomenologische Philosophie Husserls in der gegenwärtigen Kritik von 1933, ein Text, von dem Husserl im Vorwort schreibt, „dass in derselben kein Satz ist, den ich mir nicht vollkommen zueigne, den ich nicht ausdrücklich als meine eigene Überzeugung anerkennen könnte“. (1966, VIII) In diesem Aufsatz wird in der Tat der Versuch unternommen, Husserls späte Phänomenologie im Ganzen von der Welt aus zu entwickeln, wobei die Reduktion und die Konstitution die zentralen Bezugspunkte bilden. Der Beginn von Finks eigenem Denken ist eng mit der Phänomenologie Husserls verbunden, weshalb ein Blick auf seine Interpretation der Phänomenologie Anfang der 1930er-Jahre wichtig ist, um den Ausgangspunkt seines eigenständigen Philosophierens zu verstehen. Auch das Verständnis der Beziehung von Phänomenologie und Metaphysik, von dem er zunächst ausgeht, wird in der Beschäftigung mit Husserl sichtbar. Über den metaphysischen „Ballast“, den der Begriff der Welt mit sich herumträgt, ist sich Fink jederzeit bewusst und er bemüht sich, das Spezifische und explizit Nicht-Metaphysische des phänomenologischen Umgangs mit dem Weltproblem herauszustreichen, wobei er einen kritischen Metaphysik-Begriff ansetzt, der die „dogmatische“ Metaphysik verwirft als einen Ansatz, der „Seiendes durch Seiendes erklärt, ohne überhaupt das Seiende zum Problem gemacht, d. h. nach den Bedingungen der Möglichkeit seiner Gegebenheit gefragt zu haben“. (1966a, 102) In dieser Kritik an der Metaphysik sieht Fink die Phänomenologie in Übereinstimmung mit dem Kritizismus der Neukantianer, der ebenfalls die Anwendung „ontischer“ Begriffe auf eine welttranszendente Dimension ablehnt, dabei aber davon absieht, überhaupt über die Welt hinauszufragen und den Ursprung der Welt zu einem theo-
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retischen Problem zu machen. Im Gegensatz zum Kritizismus, der sich ganz von der Frage nach einem transzendenten Weltgrund abwendet, stellt die Phänomenologie diese neu und erstrebt dabei eine „absolute Welterkenntnis […] in der Form der ‚strengen Wissenschaft‘“. (1966a, 103) Dieser Anspruch mag angesichts der Kritik der Phänomenologie an einer dogmatischen Metaphysik und ihrer Skepsis gegenüber der Spekulation zunächst überraschen, doch für Fink ergibt sich die Frage aus der phänomenologischen Methode selbst, aus einer radikalen Durchführung der Reduktion. Die Rolle des Weltproblems für die Phänomenologie beschreibt Fink nun wie folgt: Auf einer ersten Ebene stellt er zunächst heraus, wie das Grundproblem, mit dem sich die Phänomenologie befasst, erst in und durch die phänomenologische Reduktion erkennbar wird. Erst in der Haltung der Epoché, die den naiven Weltglauben der natürlichen Einstellung zunächst überhaupt erst aufdeckt, wenn sie ihn ausschaltet, wird das Ich empfänglich „für das erste aller Rätsel, für das Sein der Welt selbst“. (1966a, 116) Vorher sind wir zwar in der Welt „verfangen“, wie Fink es ausdrückt, aber so, dass diese Verfangenheit nicht thematisch wird. Fink schreibt hier, „zum Wesen der Natürlichen Einstellung gehört die Verschlossenheit gegen die Dimension des ‚Transzendentalen‘, das Verfangensein in der Welt“. (1966a, 111) Man könnte also sagen: Wo die Welt zum Problem wird, fängt die Phänomenologie an. Und doch stellt die Phänomenologie die Frage nach der Welt in einer noch spezifischeren Weise, nämlich als Frage nach dem Ursprung der Welt, die aber erst durch die phänomenologische Reduktion sichtbar wird, wenn erkannt wird, dass die Welt durch das transzendentale Bewusstsein konstituiert wird. In der sich nun eröffnenden Möglichkeit, die Frage nach dem Ursprung der Welt zu stellen, sieht Fink zu diesem Zeitpunkt das große Verdienst der Phänomenologie, welche damit sowohl der traditionellen Metaphysik als auch der kritischen Philosophie Kants überlegen sei: In einem radikalen Gegensatz zu aller glaubensmäßigen und spekulativen Metaphysik bildet die Phänomenologie eine Erkenntnismethode aus, die zum Ursprung der Welt selbst führt und ihn zum Gegenstand eines möglichen Wissens macht. (1966a, 105)
Diese Methode, die uns zum Ursprung der Welt leiten soll, ist die phänomenologische Reduktion. Diese überschreitet aber nicht die Welt auf einen jenseitigen, transzendenten Ursprung hin, sondern in Richtung der transzendentalen Subjektivität. Während in der natürlichen Einstellung die Welt als „das Universum des Seienden“ (1966a, 106) gesehen wird, erscheint sie nun als Teil eines Konstitutionszusammenhangs. Die „Einheit des Absoluten“, von der Fink hier nun spricht, meint nicht wie die traditionelle Metaphysik ein Jenseitiges, das die Welt ausschließt, sondern einen Zusammenhang, der die Welt einschließt, nämlich „das ‚konstitutive‘ Werden der Welt aus den Ursprüngen des ‚transzendentalen‘ Lebens“. (1966a, 106) Fink betont noch einmal, dass es sich hier nicht um eine
178 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Überschreitung der Phänomenologie in Richtung einer traditionellen Metaphysik oder Theologie handelt, vielmehr gehe es um eine notwendige Konsequenz, die sich aus dem theoretischen Programm der Phänomenologie ergibt: So überraschend es anmuten mag, eine Philosophie, deren Pathos durch die Absage an alle kühnen, allzu kühnen Systemkonstruktionen und durch die unerbittliche Forderung strenger Wissenschaftlichkeit bestimmt wird, zu kennzeichnen als die Erkenntnis des Weltursprungs, so bedeutet dies doch nicht den Versuch, der Phänomenologie sozusagen nachträglich einen ‚metaphysischen Charakter‘ zu vindizieren, sondern ist nur ein zusammenfassender Ausdruck für das Ganze der durch die Reduktion ermöglichten Erkenntnisse der phänomenologischen ‚Transzendentalphilosophie‘. (1966a, 109)
Das ur-eigenste Thema der Phänomenologie ist also präzise gefasst weder die Welt noch die Subjektivität, „sondern das Werden der Welt in der Konstitution der transzendentalen Subjektivität“. (1966a, 139) Fink gibt hier eine Beschreibung der Phänomenologie, mit der er sich zu diesem Zeitpunkt offenbar selbst noch weitgehend identifiziert. So kann er wenig später in Bezug auf die Frage nach der Welt schreiben, in der von „von Husserl durchgeführten Arbeit“ sei die „Möglichkeit einer wirklich gelingenden Interpretation der Welt aus dem Geiste, aus der transzendentalen Subjektivität, für immer gesichert“. (1966b, 177) Doch hat Fink bereits zu dieser Zeit an einer Weiterentwicklung der husserlschen Phänomenologie gearbeitet, die im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Phänomenologie und Metaphysik durchaus eigene Wege geht.
8.2 Phänomenologie der Phänomenologie Fink wurde 1928 Husserls Assistent, als dieser schon emeritiert war, und blieb ihm bis zu dessen Tod treu, auch wenn er dafür angesichts der politischen Situation in Deutschland vorerst auf eine Universitätskarriere verzichten musste. Husserl plante in dieser Zeit, die Ergebnisse seiner Forschung, die in unveröffentlichten Manuskripten vorlagen, in einen systematischen Zusammenhang zu bringen und zu publizieren, wobei Fink „die Rolle eines Mitdenkers und Mitgestalters“ (1988, VIII) zukam. Der oben zitierte Text aus den Kant-Studien entstand im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des Projekts einer Umarbeitung der Cartesianischen Meditationen Husserls, mit dem Fink betraut war. Neben der Arbeit an der deutschen Fassung fügte Fink 1932 mit seiner völlig neuen VI. Cartesianischen Meditation einen eigenständigen Beitrag hinzu, der von Husserl umfassend und kritisch kommentiert wurde. Die finksche Meditation, die nicht veröffentlicht wurde, kursierte unter einigen Phänomenologen und wurde nach dem Krieg 1946 als Habilitationsschrift eingereicht, wobei die Universität Freiburg Heidegger als Zweitgutachter befragte. (Kerckhoven 1996; Bruzina 2004; Fink 1988, VII–XII) In unserem Kontext ist interessant, dass Fink in den 1930erJahren, als klar wurde, dass er den Text nicht als Habilitationsschrift würde ein-
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reichen können, offenbar Überlegungen zu einem alternativen Projekt angestellt hat, welches das Weltthema behandeln sollte. (Bruzina 2004, 43) Fink orientiert sich in seinen frühen Schriften eng an Husserl, ist aber zugleich dessen Kritiker. Die Frage nach der Zusammenarbeit der beiden wurde im Zuge der Herausgabe der Nachlassdokumente durch Ronald Bruzina jedoch neu gestellt und wird unterschiedlich bewertet. (Luft 2002; Bruzina 2004; Moran 2007) Husserl selbst nennt die Arbeit der beiden ein gemeinsames Denken und beschreibt ihr Verhältnis in einer brieflichen Äußerung mit dem Bild, Fink und er seien „zwei kommunizierende Gefäße“. (Hua Dok III/7, 89) Trotz der Nähe zu Husserl hat Fink zu dieser Zeit auch Heideggers Vorlesungen (z. B. zum Deutschen Idealismus) besucht und sich im Zuge der Erarbeitung seiner eigenen späteren Positionen auch ausführlich mit ihm auseinandergesetzt. Den naheliegenden Verdacht, dass durch Finks Bearbeitung fremde, nämlich heideggersche und hegelianische Motive in seine Phänomenologie hineingetragen wurden, hat Husserl in dem bereits zitierten Brief explizit bestritten, in dem er schreibt: „Es wäre ganz verkehrt zu meinen, daß durch ihn [Eugen Fink, A. S.] neue, dem konsequenten Gedankenzuge meiner früheren Entwicklung fremde Gedankenmotive auf mich wirksam geworden seien“, (Hua Dok III/7, 89) dennoch wurden Finks frühe Arbeiten vielfach in dieser Weise wahrgenommen. (Kerckhoven 1996) Auch Fink selbst sah sich in einer Art Zwischenstellung zwischen den beiden großen Figuren, wie Bruzina auf Basis der Nachlassdokumente herausgearbeitet hat. (Bruzina 2004, 128) Die VI. Cartesianische Meditation Finks soll vor allem einen Beitrag zu einer Systematisierung der husserlschen Philosophie leisten, indem sie eine „transzendentale Methodenlehre“ für die Phänomenologie liefert. In Anlehnung an die Gliederung von Kants Kritik der reinen Vernunft entwirft Fink folgendes Programm: Nach der Untersuchung der Konstitution der Welt, die Fink als Aufgabe der bis dorthin ausgearbeiteten Phänomenologie als „Elementarlehre“ zuschreibt, soll im Rahmen einer „Methodenlehre“ der Phänomenologie versucht werden, den Vorgang des phänomenologischen Philosophierens selbst noch phänomenologisch einzuholen. Zentral dafür ist der sogenannte „Dualismus des transzendentalen Lebens“, (1988, 24) eine Spaltung innerhalb der transzendentalen Subjektivität in das konstituierende Ich einerseits und das phänomenologisierende Ich, den transzendentalen Zuschauer, andererseits. Während in der „Transzendentalen Elementarlehre“ der Phänomenologie ein transzendentaler Zuschauer die Weltkonstitution als Gegenstand untersucht, wendet sich der transzendentale Zuschauer in der „Methodenlehre“ auf sich selbst zurück. (1988, 13) Fink führt zur weiteren Gliederung der Phänomenologie innerhalb der Elementarlehre eine Unterscheidung ein zwischen „regressiver Phänomenologie (als der konstitutiven Analyse der reduktiv gegebenen und ‚intuitiv‘ ausgewiesenen transzendentalen Subjektivität) und konstruktiver Phänomenologie (als der
180 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Gesamtheit aller die intuitive Gegebenheit des transzendentalen Lebens übersteigenden motivierten Konstruktionen)“. (1988, 8) In dem letzten Teil der „Elementarlehre“, welche der transzendentalen Dialektik bei Kant entspricht, soll die Phänomenologie sich Problemen zuwenden, die als „Grenzprobleme“ (1988, 67) im Rahmen der von Fink als „regressiv“ bezeichneten Phänomenologie nicht mehr einzuholen sind. (Hua XLII) Und zwar könnten sie dort deswegen nicht mehr thematisiert werden, weil sie nicht gegeben, sondern „ungegeben“ sind. Genau in diesem Sinne möchte Fink auch die Parallele zu Kants transzendentaler Dialektik verstanden wissen, die eben darin besteht, „dass es sich in beiden Fällen um das Grundproblem des Verhältnisses des ‚Gegebenen‘ zum ‚Ungegebenen‘ handelt“. (1988, 71) Zu diesem „Ungegebenen“ zählt Fink die Frage nach Anfang und Ende der transzendentalen Zeit der Weltkonstitution und deren Verhältnis zu Geburt, Tod und frühkindlicher Entwicklung auf der Ebene der „mundanen“ (1988, 68) Erfahrung. Entspricht der Anfang des weltkonstituierenden transzendentalen Bewusstseins dem Anfang des menschlichen Lebens in der Welt oder wird dieser menschliche Anfang, die Geburt, selbst von einem transzendentalen Bewusstsein konstituiert? Wie Fink herausarbeitet, verhält sich der transzendentale Zuschauer zu diesem Un-Gegebenen anders als zum reduktiv Gegebenen. Hier kommen weltkonstituierendes Ich und phänomenologisierendes Ich nicht zu der eigentümlichen Deckung, die für die regressive Phänomenologie galt: Wenn wir phänomenologisieren, sind wir immer schon bezogen auf eine im Gang befindliche Weltkonstitution, nie und niemals aber intuitiv auf eine erst einsetzende oder eben aufhörende. In mundane Vorstellungen zurückübersetzt: Wir machen die Subjektivität, d. i. uns selbst, zum Thema nur, sofern wir schon geboren und nicht tot sind. (1988, 69)
Zur Untersuchung solcher Fragen muss die Phänomenologie den Boden der reduktiven Gegebenheit verlassen und konstruktiv werden. „Konstruktion“ heißt hier: Der ‚Gegenstand‘ – oder besser: die Gegenstände – der konstruktiven Phänomenologie sind nicht ‚gegeben‘; das darauf gerichtete Theoretisieren ist nicht ein ‚anschauliches Gegebenhaben‘, ist nicht ‚intuitiv‘, sondern als Bezogensein auf solches, was gerade durch seine transzendentale Seinsweise der ‚Gegebenheit‘ prinzipiell entzogen ist, ‚ungegeben‘ ist, konstruktiv. (1988, 62)
Die Rede von der Konstruktion findet sich aber nicht nur bei Fink, sondern schon bei Heidegger, der diese als eines der drei „Grundstücke der phänomenologischen Methode“ (GA 24, 31) bezeichnet. In zeitgenössischen Überlegungen zur Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik hat die konstruktive Phänomenologie in jüngerer Zeit eine produktive Wiederaufnahme erfahren, die aber explizit über Fink hinausgehen will. (Schnell 2015; Gaitsch 2014)
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8.3 Transzendentale Methodenlehre und Meontik Auf diese konstruktive Ebene der Phänomenologie muss für Fink die transzendentale Methodenlehre folgen, ausgehend von der folgenden Überlegung: Wenn das Sein der Welt das Ergebnis der Konstitutionsleistung des transzendentalen Subjekts ist, wie sich nach der Reduktion gezeigt hat, stellt sich die Frage nach dem Sein der transzendentalen Subjektivität, das nicht in derselben Weise als konstituiert verstanden werden kann wie das Sein der Welt und das menschliche Bewusstsein, das selbst in der Welt existiert. Das Verhältnis von transzendentaler Elementarlehre und transzendentaler Methodenlehre beschreibt Fink wie folgt: Die phänomenologische Elementarlehre ist die reduktive Enthüllung und Analytik der Weltkonstitution. Das in ihr erwachsende Verständnis des transzendentalen Lebens aber begreift nicht schon in sich eine Einsicht in das transzendentale Sein des phänomenologisierenden Lebens […]. Das letztere ist Thema der transzendentalen Methodenlehre. (1988, 27)
In der später hinzugefügten Vorbemerkung zur Habilitationsschrift macht er die Frage nach dem Sein der transzendentalen Subjektivität besonders stark. Dass Fink in dieser Frage eine Differenz zu Husserl sah, wird ersichtlich, wenn er in Bezug auf die Absicht seines Textes schreibt, „[n]icht die Iteration der philosophischen Reflexion zu einer Phänomenologie der Phänomenologie“ sei dabei „das Wesentliche, sondern die Aporie, ob und wie der Horizont, von dem her letztlich ‚Sein‘ verstanden werden soll, selbst ‚seiend‘ ist, ob und wie das Sein der Zeitigung des Seienden bestimmbar ist“. (1988, 184) Auch im Entwurf eines Vorworts zur VI. Cartesianischen Meditation stellt Fink seine „transzendentale Methodenlehre“ zwar in den Kontext der von Husserl erstrebten „Phänomenologie der Phänomenologie“, (1988, 183; Luft 2002) grenzt sich allerdings auch hier bereits von Husserl ab, wenn er schreibt, sein Entwurf sei „bei aller Nähe zu Husserls Philosophie durch einen Vorblick auf eine meontische Philosophie des absoluten Geistes bestimmt“. (1988, 183) Für Fink besteht die Lösung der Frage nach dem Sein des transzendentalen Bewusstseins nämlich darin, dass das transzendentale Bewusstsein „me-ontisch“ als VorSein verstanden werden muss. Der Begriff der „Meontik“, als die Lehre von dem, was nicht ist, stammt aus dem Umfeld der negativen Theologie und des Neuplatonismus. (Bruzina 2006; Takeuchi 2011) Er spielt in den nachgelassenen Texten von Fink eine bedeutende Rolle, taucht aber in den noch zu Husserls Lebzeiten veröffentlichten Schriften nicht auf. Bruzina vermutet den Grund dafür darin, dass Fink die Differenz zu Husserl vermeiden wollte, da „die ganze Idee der Meontik eine solche ist, die dem herrschenden Charakter der husserlschen Phänomenologie entgegensteht, nach dem alles überhaupt Thematisierte in anschaulicher Evidenz begründet werden muss“. (Bruzina 2006, 196) Mit der Meontik verweist Fink nämlich auf etwas, das nicht gegeben und auch nicht
182 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt intuititv zugänglich ist – das „Absolute“, von dem schon im Vorwort die Rede war. Gegründet seien beide, Welt und transzendentales Bewusstsein, nämlich in einem Absoluten, das Fink als „die umgriffliche Einheit von Seiendem überhaupt und Vor-Seiendem (von mundanem und ‚transzendentalem‘ Sein), von Welt und Ursprung der Welt“ (1988, 157) bezeichnet. Phänomenologie sei so schließlich „Selbsterkennen des Absoluten“. (1988, 169) Das Nachdenken über eine übergreifende Einheit von Sein der Welt und transzendentalem Bewusstsein geht aber über das, was intuitiv gegeben ist, deutlich hinaus. Steven Crowell (2001) hat diesen Zug in Finks Denken als „gnostische Phänomenologie“ bezeichnet und man kann sich sicherlich fragen, worin noch das Phänomenologische dieses Ansatzes besteht. Dennoch betont Fink, was er anstrebe, sei, „die Phänomenologie zu vollenden in der letzten transzendentalen Selbstverständigung über sich selbst“. (1988, 9) Auf diese Weise führt er die Phänomenologie an Fragen der traditionellen Metaphysik heran, die auch Husserl zu dieser Zeit beschäftigten. Denn Husserl hatte am Ende der V. Cartesianischen Meditation zwar jede „naive“ Metaphysik zurückgewiesen, aber die Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik nicht prinzipiell verneint, wenn er schreibt, dass „die Phänomenologie […] nur jede naive und mit widersinnigen Dingen an sich operierende Metaphysik ausschließt, nicht aber Metaphysik überhaupt“. (Hua I, 192) In einem Aufsatz von 1935 mit dem Titel Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie nennt Fink das Konstitutionsproblem als „durchgängige […] Ableitung des Seienden aus dem transcendentalen Seinsgrund“ auch „eine ontogonische Metaphysik“, wobei er aber am Schluss selbst offenlässt, „ob eine ontogonische Metaphysik ein Ikarusflug der spekulativen Vernunft oder eine Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit ist“. (1976a, 43)
8.4 Idealismus und Realismus Die hier skizzierte Fassung der Phänomenologie erlaubt auch eine Positionierung in Bezug auf die Frage nach der Alternative von Idealismus und Realismus. Am Ende des Kant-Studien-Aufsatzes von 1933 sowie in der VI. Cartesianischen Meditation bezieht Fink Stellung zur Frage nach der Einordnung der so beschriebenen Phänomenologie in die Alternative von Idealismus und Realismus. Fink betont beide Male, dass eine voreilige Etikettierung von Husserls Denken als „idealistisch“ den spezifischen Charakter der Phänomenologie verkenne. Der transzendentale Idealismus Husserls, der nicht mit demjenigen Kants verwechselt werden dürfe, stehe nämlich jenseits der „mundanen“ Alternative von Idealismus und Realismus, die noch der natürlichen Einstellung verhaftet bleibe, weil Idealismus und Realismus als gemeinsame Problembasis „die intramundane Subjekt-Objekt-Korrelation“ (1988, 177) teilen. Davon unterscheidet sich der
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transzendentale Idealismus prinzipiell, den Fink nun auch einen „‚konstitutiven Idealismus‘“ nennt: „Während der mundane Idealismus Seiendes durch Seiendes zu erklären versucht, stellt die ontologische Weltthese des transzendentalen Idealismus die Interpretation des Seins aus der ‚vor-seienden‘ Konstitution dar.“ (1988, 178) Auch wesentlich später, am Anfang seiner von Hegel ausgehenden Vorlesung Sein und Mensch von 1950/51, wendet sich Fink gegen ein Verständnis des Verhältnisses von Sein und Mensch, welches dieses entweder „idealistisch“ vom Menschen her oder „realistisch“ vom Sein her expliziert, und es wird deutlich, dass er selbst diese Differenz auch jetzt noch für verfehlt hält: Gerade der Bezug selbst ist das eigentlich Problematische und darf in seiner Fragwürdigkeit nicht durch eine vorschnelle Entscheidung verdeckt werden. Das Offenhalten des Problems ist vielleicht das schwerste in aller Philosophie, – der Versuchung zu einer ‚Methode‘ auszuweichen und dennoch das Denken in Bewegung zu bringen. (1977, 11)
Die kritischen Bemerkungen Husserls zu Finks VI. Cartesianischer Meditation und die Tatsache, dass diese zu Husserls – und auch zu Finks – Lebzeiten nicht mehr veröffentlicht wurde, zeugen von der problematischen Gestalt dieses Textes, der die Grenzen der phänomenologischen Methode auslotet und damit auch den Hintergrund bildet, vor dem sich Finks eigenes neuerliches Ansetzen bei der Frage nach der Welt ankündigt. Während Fink hier noch vom Rahmen der husserlschen Phänomenologie ausgeht, aber vorschlägt, diese um ein konstruktives Moment zu ergänzen, und schließlich zu einer Meontik der transzendentalen Subjektivität gelangt, wird die Kritik an Husserl, die in Finks Notizen aus den 1930er-Jahren bereits zu finden ist, nach dem Krieg deutlicher auch in den veröffentlichten Schriften artikuliert. Das Nachlassmaterial ist zum Teil bereits von Runald Bruzina für die Eugen-Fink-Gesamtausgabe (EFGA) aufgearbeitet worden. (Giubilato 2017)
8.5 Von der Phänomenologie zur Spekulation Zu seinem eigenen reifen Denken findet Fink wiederum über das Weltproblem. Schon bald nach dem Krieg zeigt er sich mit Husserls Umgang mit dem Weltthema, den er zuvor noch als zentrales Verdienst der Phänomenologie herausgestrichen hatte, höchst unzufrieden. So schreibt er in Philosophie als Überwindung der ‚Naivität‘ von 1948, die Trivialität der Welt sei das große Problem, welches die transzendentale Phänomenologie nicht zu lösen in der Lage sei: Die Trivialität der Welt ist ein großes Rätsel, eine Grundfrage der Philosophie. Indem sie in Husserls Auslegung der Natürlichen Einstellung am Rande erscheint, eben als Horizont unseres natürlichen, an die Dinge verlorenen Weltlebens, wird sie zwar als Phänomen gesichtet, zugleich aber wieder abgedrängt. Husserl läßt die Frage stehen. Wir
184 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt nehmen sie ausdrücklich auf. Aus dem Nachvollzug des Husserlschen Anfangs der Philosophie in der Verwunderung über die Selbstverständlichkeit einer ständigen Voraussetzung des Seins, die er die Generalthesis der Natürlichen Einstellung nennt, kommen wir zur Frage, was die Welt sei. Wir stellen das Weltproblem. (1976b, 106)
Zwar bleibt Fink Husserl zeitlebens verpflichtet, doch setzt er sich an vielen Stellen auch kritisch mit ihm auseinander, indem er den verdeckten, „operativen“ Begriffen seiner Phänomenologie nachspürt, die zwar das Denken leiten, aber selbst nicht thematisch werden und so, wie Fink sagt, den „Schatten einer Philosophie“ bilden. (1976f, 186) In dem Aufsatz Die intentionale Analyse und das Problem des spekulativen Denkens von 1951 fragt Fink „nach dem Recht und nach der Grenze der Phänomenologie“ (1976d, 139) und deutet einen Weg an, der von der Phänomenologie in die Spekulation führt. Das Verhältnis von intentionaler Analyse und Spekulation erscheint dabei zunächst als methodisches Problem. Fink beschreibt, wie die Phänomenologie in ihrer Hinwendung zu den Sachen selbst ursprünglich in einer „antispekulativen Stimmung“ (1976d, 140) und in kritischer Wendung gegen alle überlieferte Metaphysik sich anschickte, einen philosophischen Neuansatz zu wagen. Doch an dem so verstandenen Konzept der Phänomenologie übt Fink nun Kritik, die sich vor allem auf die folgenden Punkte bezieht: Fink kritisiert erstens, dass das Sein der transzendentalen Subjektivität im Rahmen von Husserls Denken selbst nicht thematisierbar sei. Zweitens bleibe der Status der Konstitution (rezeptiv oder produktiv) bei Husserl unklar, er schwanke „zwischen Sinnbildung und Creation“. (1976d, 152) Drittens sieht Fink bei Husserl einen „subjektivistischen“ Ansatz am Werk, den er als die Identifikation von Sein und Gegenstand-Sein beschreibt: Wie das reine Sein eines Seienden sich verhält zum Gegenstand-sein dieses Seienden, – diese Frage wird ausdrücklich als ein falsch gestelltes Problem zurückgewiesen. In Wahrheit aber ist dies das kardinalste Problem, das die Phänomenologie Husserls überspringt, weil sie vor dem spekulativen Denken zurückweicht. Sie dekretiert einfach, das Seiende ist gleich dem ‚Phänomen‘, gleich dem sich zeigenden und sich darstellenden Seienden. (1976d, 147)
Husserls Phänomenologie verkenne viertens, dass die Phänomenalität der Phänomene selbst nie anschaulich gegeben ist, dass das Erscheinen des Seienden nicht selbst erscheine: „Die Phänomenalität der Phänomene ist nie selber eine phänomenale Gegebenheit. Sie ist immer und notwendig ein Thema spekulativer Bestimmung.“ (1976d, 148) Indem sie Sein und Phänomen-Sein identifiziere, verstelle die Phänomenologie den Blick auf die eigentlich ontologischen Fragen und verbleibe damit implizit im Rahmen der neuzeitlichen Metaphysik. Um jedoch das Sein zu thematisieren, reiche die phänomenologische Methode nicht aus, „weil sie alle und jede Prüfung grundsätzlich als Ausweisung am selbstgebenden Phänomen versteht“. (1976d, 149) Dies führt ihn zu der Einschätzung: „Die anti-spekulative Haltung der Phänomenologie bedarf vielleicht einer radikalen Revision.“ (1976d, 153) Ähnlich argumentiert Fink in der Vor-
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lesung Sein und Mensch von 1950/51, die im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit Hegel darstellt und zum Plädoyer für einen spekulativen Ansatz wird. Hier heißt es: „Was Husserls unendliche Subtilität in der intentionalen Analyse eigentlich bedeutet, ist von der Spekulation noch einzuholen und anzueignen.“ (1977, 241) Dies gelte gerade für die Frage nach der Welt, denn diese habe gegenüber dem Sein nur scheinbar den Vorteil, konkret zu sein. In Wahrheit benötige das Denken der Welt eher noch mehr spekulative Kraft. Aus diesem Grund führt die Phänomenologie für das neue Denken der Welt, das Fink anstrebt, auch nicht weiter, ja, sie ist in dieser Hinsicht sogar ein „Irrweg“: Was dem heutigen Denken der Philosophie aber aufgegeben ist, bedeutet keine Weiterentwicklung der Dingontologie über den Deutschen Idealismus hinaus, nicht eine weitere Transsubstantiation der Substanz. In dieser Hinsicht ist der Versuch der ‚phänomenologischen Bewegung‘, ein neues und unmittelbares Verhältnis zu den Dingen zu gewinnen und sie, statt spekulativ zu bedenken, einfach vorbehaltlos und unvoreingenommen zu beschreiben, ein Irrweg. (1977, 241)
Letztlich vollendet sich die intentionale Analyse der husserlschen Phänomenologie nicht in einer neuen Metaphysik der Welt, sondern scheitert an der Welt, denn diese selbst erscheint nicht, bildet aber dennoch eine ganz fundamentale Bedingung unseres Daseins: „Ursprünglicher als alles Seiende, alle Objekte und Subjekte, ist die Welt. Das Denken ist seinem eigentlichen Wesen nach die Eröffnung des Menschen zur Welt.“ (1976d, 155)
8.6 Ontologische Erfahrung Fink lässt also hier die transzendentale Phänomenologie hinter sich und geht in seinen Vorlesungen nach dem Krieg ähnlich wie Heidegger von ontologischen Fragen aus, wobei er versucht, die traditionelle Metaphysik zu überwinden. In seinem Vortrag Zum Problem der ontologischen Erfahrung von 1949 bestimmt Fink die aktuelle Aufgabe der Philosophie als Rückgang in die ontologische Erfahrung, die allem Wissen vorausliege und in der Ausarbeitung eines ontologischen „Entwurfs“ bestehe. (1976c, 134) Auch die Vorlesung Sein und Mensch (1977) trägt die „ontologische Erfahrung“ im Untertitel, hier wird aber bereits ein Weg beschrieben, der von der Ontologie zur Kosmologie führen soll, womit sich andeutet, dass die Orientierung am Weltbegriff Fink auch zu einem veränderten Verständnis von Ontologie führt. Die ontologische Erfahrung soll sich nämlich nicht mehr wie in der traditionellen Metaphysik am Ding orientieren und auch nicht am Dasein, sondern sie soll als Welterfahrung bestimmt werden. Dann sei es möglich, von diesem neuen Ausgangspunkt aus die Metaphysik in eine Kosmologie zu verwandeln:
186 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Die gesuchte Seinserfahrung ist die Erfahrung von Welt; auf eine ursprüngliche Welterfahrung ist dann eine neue Interpretation des Seins zu gründen, welche den Sinn von Sein in Zeit und Raum und seinlassender Bewegung der Welt findet und von solcher Basis aus die Auseinandersetzung mit der an das Ding gebundenen Metaphysiktradition aufnimmt. (1977, 258)
Mit der gesuchten Welterfahrung ist jedoch die Frage nach der Erfahrung von etwas gestellt, das selbst nicht gegeben ist und als solches auch nicht als seiend erfahren werden kann. Der Neuansatz im Ausgang von der ontologischen Erfahrung hat darum etwas Tastendes, ist „gleichsam eine Methode ohne einen feststehenden methodischen Habitus“. (1977, 258) Damit das Denken „zur Kosmologie werden“ (1977, 233) kann, wie Fink sagt, müsste „die gesamte metaphysische Ontologie so überholt und wiederholt werden […], daß die Welt als der ‚wahre Horizont des Seins‘, […] das Erst- und Letztgedachte der Philosophie wird“. (1977, 232 f.) Dazu bedarf es aber spekulativer Elemente, welche die Phänomenologie nun ergänzen sollen: „Die Philosophie muß phänomengebundene Sachlichkeit vereinen mit spekulativer Kraft.“ (EFGA 6, 248) Fink ist also wie in seinen früheren Überlegungen an dem interessiert, was als vor-seiender Ursprung selbst nicht mehr anschaulich gegeben ist, hält aber nun die Art und Weise, wie sich die Phänomenologie Husserls der Welt nähert, für verfehlt. Bei der Ausarbeitung seines eigenen Ansatzes verlässt er darum den Weg der transzendentalen Phänomenologie und setzt sich stattdessen kritisch mit der philosophischen Tradition auseinander, wobei er Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger die größte Aufmerksamkeit schenkt. Dabei verfährt er methodisch zunächst ähnlich wie Heidegger, dessen Vorlesungen aus der Phase nach Sein und Zeit er in Freiburg ab 1928 verfolgt hatte. Heidegger widmete seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik, die er im Wintersemester 1929/30 in Freiburg gehalten hatte, Eugen Fink nach dessen Tod 1975. In der Widmung heißt es über Fink: „Er hat diese Vorlesung mit nachdenksamer Zurückhaltung gehört und dabei schon eigenes Ungedachtes erfahren, das seinen Weg bestimmte.“ (GA 29/30) In der Tat hat die Thematik dieser Vorlesung Fink zeitlebens beschäftigt, und er hielt 1949 und 1966 jeweils selbst eine Vorlesung mit dem Titel „Welt und Endlichkeit“. In dieser Vorlesung entwickelt er nun seinen eigenen Weltbegriff in kritischer Auseinandersetzung mit Kant, Husserl und Heidegger, wobei er Welt weder als Idee (wie Kant), noch als Horizont (wie Husserl), noch als Existenzial (wie der frühe Heidegger) verstanden wissen will. Auf der Basis der in dieser Vorlesung geübten Kritik an der metaphysischen Thematisierung von Welt entsteht so ein erstes Bild von Finks eigenem kosmologischen Ansatz, wenn er fragt: „Ist ein nicht-metaphysisches Weltdenken möglich?“ (EFGA 5/2, 196)
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8.7 Die kosmologische Differenz Traditionell gehört die Frage nach der Welt in die metaphysica specialis, genauer gesagt in die rationale Kosmologie, doch stellt Fink diese Behandlung der Welt als Spezialthema der Metaphysik in Frage: „Ist es denn so sicher, daß die Frage nach Welt und Endlichkeit metaphysisch sei? Ist die Weise, wie in der Metaphysik diese Problematik auftritt, schon die radikalste Gestalt der Frage?“ (EFGA 5/2, 196) Laut Fink hat weder die Wissenschaft noch die Philosophie ein angemessenes Verständnis der Welt entwickelt. Unser Weltverhältnis ist vielmehr von einer eigentümlichen Dialektik von Nähe und Distanz gekennzeichnet. Einerseits sind wir immer schon mit ihr vertraut, andererseits können wir sie selbst nie zum Gegenstand machen. Die Welt ist mitnichten nur der Inbegriff der Objekte, sie umfasst auch den Erfahrenden selbst und ist daher „ein Inbegriff, der jede Entgegensetzung von Subjekt und Objekt schon überholt hat“. (EFGA 5/2, 199) Es gibt kein weltloses Subjekt, weil wir immer schon in der Welt und auch schon mit der Welt bekannt sind. Fink spricht von der „Ur-bekanntschaft des Menschen mit dem Seienden und mit der Welt“ und nennt ihn „das seinsverstehende weltoffene Wesen“. (EFGA 5/2, 199) „Wissen um Welt“ sei „das Ur-Apriori“, (EFGA 5/2, 387) das aber eben gerade kein explizites Wissen über die Welt ist. Gleichzeitig herrscht aber auch eine große „Weltvergessenheit“, (EFGA 5/2, 208) da die Welt uns nicht als Phänomen zugänglich ist, sondern sich permanent entzieht. Die Welt „ist das Bekannteste und zugleich am wenigsten Begriffene“. (EFGA 5/2, 205) Um zur Weltfrage wirklich vorzudringen, müssen wir die Unterscheidung zwischen der Welt und dem binnenweltlich Seienden machen, die Fink in Anlehnung an Heideggers ontologische Differenz als „kosmologische Differenz“ (EFGA 5/2, 207) bezeichnet. Solange wir die Welt wie ein binnenweltlich Seiendes betrachten, stoßen wir nicht zu ihr vor. Wie aber können wir nach Fink Welt denken? In der Alltagssprache verwenden wir „Welt“ sowohl im Singular als auch im Plural – Fink unterscheidet Welt als „Inbegriff, der nichts außer sich läßt“, (EFGA 5/2, 209) und davon abgeleitet Welt als „die Weise, wie das Ganze im Modus einer bestimmten Zugänglichkeit ist“. (EFGA 5/2, 210) Die Verwendung des Plurals für die sich aus einem bestimmten Modus ergebenen relativen Einheiten – die ‚Welt des Mittelalters‘ oder die ‚Welt des Menschen‘ – ist aber eine abgeleitete, denn: „Wenn wir den Gedanken ‚Welt‘ wirklich denken, dürfen wir nie mehr pluralisch von Welten reden.“ (EFGA 5/2, 209) Die Welt ist ganz wesentlich nur eine. Fink trifft nun ausgehend von dieser Differenz im Sprachgebrauch eine Unterscheidung zwischen einem „existenziellen“ und einem „kosmischen“ Weltbegriff. Der existenzielle Weltbegriff meint nicht mehr bestimmte historische „Welten“, sondern betont die prinzipielle Abhängigkeit der Welt(en) vom Subjekt. Zum geschichtlich existierenden Menschen gehört generell „das Seiende im Raume einer Zugänglichkeit und Offenbarkeit für den Menschen“. (EFGA 5/2,
188 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt 220) Mit dem existenziellen Weltbegriff verknüpft ist die Vorstellung der Welt als „Inbegriff von ‚Erscheinungen‘“, (EFGA 5/2, 220) wobei die Phänomene in ihrem Erscheinen durch die menschliche Perspektive immer mitbedingt sind. Davon zu trennen ist der kosmische Weltbegriff, „der ein an sich seiendes Ganzes, eine vom Menschen unabhängige Allheit meint“. (EFGA 5/2, 221) Auch diesen bringt Fink mit dem Erscheinen in Verbindung, aber dergestalt, dass „Erscheinen“ nun einen anderen Sinn hat, nämlich „das Zum-Vorschein-Kommen des Seienden, das Aufgehen ins Licht, das Herauskommen aus einer verbergenden Dunkelheit“. (EFGA 5/2, 221) Dieses begriffliche Instrumentarium, die kosmologische Differenz sowie die Unterscheidung von existenziellem und kosmischem Weltbegriff, nutzt Fink nun, um seine Kritik an der Behandlung der Weltthematik durch die Metaphysik vorzutragen. Diese Metaphysikkritik ist wesentlicher Bestandteil seiner Überlegungen: „Auf die Grenze der Metaphysik hin denken, die Weltfrage aus der metaphysischen Tradition herauslösen, – das kann man nicht unmittelbar wollen. Wir müssen vielmehr durch die Metaphysik hindurch gehen.“ (EFGA 5/2, 231 f.)
8.8 Kritik am metaphysischen Weltbegriff Während in den Wissenschaften immer nur irgendwie geartetes Seiendes vorkomme, nie das Seiende als solches, ist die Metaphysik dagegen für Fink „das denkende Bestimmen des Seienden als solchen“, (EFGA 5/2, 224) welches das Seiende im Hinblick auf sein Sein bestimmt. Der abendländischen Metaphysik wirft Fink vor, den Unterschied von Welt und binnenweltlich Seiendem, die „kosmologische Differenz“, nicht angemessen berücksichtig zu haben, da sie die Frage nach der Welt falsch angeht: Sie setzt stets beim binnenweltlich Seienden an und fragt über dieses hinaus auf ein höchstes Seiendes hin, erreicht aber so nie die Welt selbst. Man erkennt hier leicht die Parallele zu Heideggers Kritik an der abendländischen Metaphysik in Bezug auf die Seinsfrage. (→ 6.11) Außerdem orientiert sich die Metaphysik zu sehr an der Dingontologie, wie Fink auch in Sein und Mensch ausführt und befindet, „die metaphysische Tradition, in der wir stehen“, kenne, eben weil sie in der Dingontologie gefangen bleibt, „das Weltproblem in einer eigentümlichen Enge“. (1977, 225) Dingontologie heißt „eine Gestalt der Seinsproblematik […], die das Sein in der Blickbahn auf endliche Dinge denkend zu bestimmen sucht: an ihnen oder auch im Abstoß von ihnen“. (1977, 227) Die Welt aus dieser Perspektive der seienden Dinge ansteuern zu wollen, ist aber ein Irrtum, dessen sich nicht nur die Vertreter einer klassischen Metaphysik schuldig machen, sondern auch Kant, Husserl und der frühe Heidegger, der die Welt vom In-der-Welt-Sein des Daseins her angeht. In seiner Auseinandersetzung mit Kants Dissertation und mit der Kritik der reinen Vernunft spricht Fink Kant nun zunächst das Verdienst zu, die neu-
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zeitliche Metaphysik überhaupt erst wieder auf die Spur der Welt gebracht zu haben. Wie Heidegger in seinem Kant-Buch liest er Kant dabei ontologisch und nicht erkenntnistheoretisch – nur, dass Fink in Welt und Endlichkeit die kosmologischen Antinomien ins Zentrum seiner Interpretation der Kritik der reinen Vernunft stellt. Dabei habe bei Kant „der Weltbegriff der Metaphysik […] seine höchste Aufgipfelung erreicht“. (EFGA 5/2, 277) Mit der Wende zur kritischen Philosophie vollzieht sich bei Kant jedoch eine Verschiebung der Fragestellung: „Die Weltfrage wird für Kant zentral als die Frage nach dem Ganzen der Erscheinungen. Als Frage nach dem Ganzen des Seienden an sich tritt sie immer mehr zurück.“ (EFGA 5/2, 278) Dies liegt an der kritischen Begrenzung der Reichweite des theoretischen Erkennens auf den Bereich möglicher Erfahrung. Nach Kant ist Welt kein Gegenstand der Erfahrung, sondern eine Idee. Die Welt ist kein Ding, sondern eine Struktur der menschlichen Erfahrung, nämlich ihre „Randstruktur“. (EFGA 5/2, 331) Welt ist die „offene Endlosigkeit des Erfahrungsprozesses“. (EFGA 5/2, 329) Damit hat Kant einerseits deutlich gesehen, so Fink, dass der Welt mit binnenweltlichen Kategorien nicht beizukommen ist, er hat die kosmologische Differenz in „negativer Form“ (EFGA 5/2, 331) vollzogen, aber andererseits auch kein positives Wissen über die Welt erreicht. Bei dem Versuch, die Welt zu denken, verstrickt sich die Vernunft in Widersprüche – das war das Ergebnis der Antinomien, die Fink hier kommentiert. Diese Widersprüche resultieren aber gerade aus dem binnenweltlichen Ansatz, den Kant verfolgt. Der Ausweg aus den Widersprüchen der Vernunft beim Denken der Welt wird für Fink aber nun mit einer Subjektivierung der Welt erkauft. Kant bleibe dem Subjekt-Objekt-Schema so stark verhaftet, dass er das Subjekt mit Charakteren belegt, die eigentlich der Welt zukommen. (EFGA 5/2, 261) Fink beschreibt Kants Modifikationen des Weltproblems daher als ein Umschlagen des „kosmischen“ Weltbegriffs in den „existenziellen“. (EFGA 5/2, 278) Die Welt ist kein Seiendes – und wird eben darum etwas Subjektives: „Die Welt wird etwas am Menschen. Das von Kant so ursprünglich gestellte Problem der Welt ist von ihm selbst in der Sackgasse des Subjektivismus zu Ende gekommen.“ (EFGA 5/2, 330 f.) Doch muss die Welt zwangsläufig subjektiv sein, wenn sie kein Objekt ist? Fink fragt kritisch: Sind das die beiden einzigen Seinsmöglichkeiten: das Objektivsein und das Subjektivsein? Oder gründen sie beide in einem vorgängigen, umgreifenden Ganzen, das erst die Differenz der beiden Seinsweisen ermöglicht? (EFGA 5/2, 333)
Bevor Fink zu Heidegger übergeht, widmet er eine kurze Passage Husserl, der hier nur noch als Vorbereitung auf jenen zur Sprache kommt. An dieser Stelle wird jetzt nicht die früher von Fink exponierte Frage nach dem Ursprung der Welt behandelt, sondern Husserls Vorstellung der Welt als Horizont, die nun aber als genauso subjektivistisch gekennzeichnet wird wie Kants Begriff der
190 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Welt als Idee – „Welt an sich“ gibt es in beiden Fällen nicht. Hier äußert Fink nun nur noch sein Erstaunen darüber, „daß eine Philosophie, die ansetzt mit der Proklamation, alles unvoreingenommen und vorurteilslos betrachten zu wollen, so wenig das eigenständige Wesen der Welt in den Griff bekommt“. (EFGA 5/2, 339) Bei Heidegger zeigt sich für Fink schließlich eine Entwicklung des Weltbegriffs, die zu derjenigen, die er bei Kant gesehen hatte, genau umgekehrt verläuft: Heidegger geht den Weg vom existenziellen Weltbegriff in Sein und Zeit, der Welt als Existenzial des Daseins (miss-)versteht, zu einem kosmischen Weltbegriff, den Fink seit dem Kunstwerk-Aufsatz und dann vor allem im Brief über den Humanismus am Werke sieht. (EFGA 5/2, 366) Heideggers Wandlung des Weltbegriffs vollzieht sich im Zuge der Überwindung der Metaphysik. Am Anfang steht der existenziale Weltbegriff, der Welt als etwas am Menschen versteht, am Ende ein „wahrhaft kosmisch[er]“ Weltbegriff, „der nicht mehr am Menschen hängt“ (EFGA 5/2, 374): „Welt ist ein Aufgang, der im Sein selbst sich ereignet: ist die Selbstentbergung des Seins“. (EFGA 5/2, 374) Fink diskutiert auch an anderer Stelle kritisch und ausführlich das In-der-Welt-Sein, das bei Heidegger fälschlich „nicht einen verdeckten Grundzug an allem Seienden überhaupt“, sondern die „Grundverfassung des menschlichen Daseins“ (EFGA 7, 63) meint. Mit dem Heidegger der Kehre (→ 6.11) kritisiert Fink den frühen Heidegger dahingehend, dass in seinem transzendentalphilosophischen Ansatz die Weltbezüglichkeit des Menschen verdeckt worden ist. (EFGA 7, 63) Fink hält für die Wiedergewinnung eines kosmischen Weltbegriffs nun eine ähnliche Wendung für nötig wie die, die der spätere Heidegger im Hinblick auf das Sein vollzieht.
8.9 Nicht-metaphysische Erörterung des Weltbegriffs: Raum, Zeit und Erscheinung Fink schlägt nun einen fundamentalen Perspektivwechsel vor – nicht mehr die Welt denken als etwas am Subjekt, aber auch nicht als etwas Objektives, sondern als Voraussetzung, welche dieser Unterscheidung noch vorausliegt, und zwar so, dass nicht nur der Mensch offen ist für die Welt, sondern auch die Welt sich öffnet für den Menschen: Die Welt ist nicht ‚bloß‘ etwas Menschliches, nicht bloß eine existenziale Struktur, nicht bloß eine bestimmte Form der menschlichen Seinsverfassung – wohl aber ist die Welt in besonderer Weise dem binnenweltlichen Menschen zugewandt und ist in solcher Zuwendung auch in einem rätselhaften Sinne ‚menschlich‘; sie ist ‚menschlich‘, weil zuvor der Mensch ‚weltlich‘ ist. (EFGA 7, 67 f.)
Was aber ist das Wesen der Welt, das sich der Metaphysik verschließt und dem sich Fink nun in spekulativer Form in einer nicht-metaphysischen Erörterung
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des Weltbegriffs zu nähern sucht? Welt wird nun sichtbar als der Zusammenhang von Raum, Zeit und Erscheinung, der durch das Sein geeint wird: „Das Sein räumt, zeitigt und bringt zum Erscheinen.“ (EFGA 5/2, 388) Angesichts der uns bekannten binnenweltlichen Formen von Raum und Zeit übersehen wir jedoch die ursprüngliche Zeitigung und das ursprüngliche Einräumen der Welt. „Welt ist, was dem Seienden Raum gibt und Zeit läßt.“ (EFGA 5/2, 203) In seinem Text Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum, Zeit und Bewegung verfolgt Fink, wie seit den Vorsokratikern Raum, Zeit und Bewegung in der Blickrichtung der Metaphysik vom Binnenweltlichen her missverstanden wurden: Wenn Raum als Ausdehnung und Zeit als Folge verstanden werden, wird ein binnenräumliches bzw. -zeitliches Moment zur Erklärung herangezogen. Fink will nun zeigen, dass Raum und Zeit weder Dinge noch Dingstrukturen sind, sondern „Weisen wie das Weltganze ist“. (EFGA 6, 22) Raum, Zeit und Bewegung müssen daher ganz neu in ihrem „Weltsinn“ gedacht werden, wenn wir zu einem nicht-metaphysischen, kosmologischen Verständnis von Welt kommen wollen. Hier wie andernorts verwendet Fink einige Mühe auf die Auseinandersetzung mit der metaphysischen Tradition, in Bezug auf diesen neu zu erarbeitenden „Weltsinn“ bleibt er jedoch oft recht vage, was aber auch als Ausdruck eines prinzipiellen Problems gedeutet werden kann. Die Wendung zur Welt zeigt sich für Fink nämlich auch als Versuch, dem nachzudenken, was sich aller sprachlichen Fixierung entzieht: Wahrheit, Welt und Zeitigung haben ihren ‚Ort‘ sozusagen nicht mehr im Menschen, sondern der Mensch hat seinen merkwürdigen und denkwürdigen, in keinem objektiven Stellensystem angebbaren ‚Ort‘ in der Entbergung und Zeitigung der Welt. Für dieses Weltverhältnis fehlen uns die treffenden Begriffe. (EFGA 7, 68)
Dabei besteht die Schwierigkeit jedoch nicht nur darin, dass unser begriffliches Instrumentarium ungenügend ist. Diese Schwierigkeiten, die Welt zu fassen, verweisen vielmehr auf den für die Welt nach Fink ganz wesentlichen Entzugscharakter, der es uns so schwermacht, sie im Denken einzuholen und philosophisch sagbar zu machen. Denn obwohl die Welt „das Entbergende“ ist, „das in ihrer Offenheit alle Dinge herausstellt, ihnen Raum gibt und Zeit läßt“, (EFGA 5/2, 213) bleibt sie selbst verborgen, und dies nicht (nur) deshalb, weil der Mensch unfähig wäre, sie zu erfassen, sondern auch, weil sie selbst sich entzieht, sich hinter dem binnenweltlich Seienden verbirgt, das sie in sich vorkommen lässt. „Sie hat die Weise des Entzugs.“ (EFGA 5/2, 387) Deswegen scheint sie den sie verfehlenden Zugang vom Binnenweltlichen von sich aus nahezulegen, so dass unsere Weltoffenheit notwendigerweise mit Weltvergessenheit einhergeht. (EFGA 5/2, 386) Zwar haben wir immer schon ein Wissen um Welt, „aber dieses Wissen um Welt ist gerade der Art, daß es kein Wissen von Welt ist“. (EFGA 5/2, 386)
192 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt In Welt und Endlichkeit und auch an anderer Stelle, in Sein, Wahrheit, Welt, bringt Fink die Welt auch mit der Vorstellung eines Mediums in Verbindung, in dem man sich bewegt, ohne dieses wahrzunehmen, so wie ein Fisch das Wasser nicht bemerkt, in dem er schwimmt und in dem ihm alle Gegenstände der Fisch-Welt begegnen und das ihm erst als Mangel bewusst wird, wenn er auf dem Trockenen landet. (EFGA 6, 280) Fink spürt hier dem Erscheinen von Seiendem nach, das eben nicht als vollständig subjektabhängig gedacht werden soll, sondern zurückgeführt wird auf eine ursprüngliche „Lichtung“, ein Hinaustreten in die Sichtbarkeit, die durch die Welt gewährleistet wird. Dazu greift er immer wieder auf die Lichtmetapher zurück. Erscheinen könne demnach als „Anschein“ oder als „Vorschein“ verstanden werden – als Anschein, wenn das Erscheinen des Seienden als ein Eintreten „in den Lichtkreis eines erkennenden Wesens“ (EFGA 6, 289) verstanden wird, und als Vorschein, wenn das Erscheinen als ein „Hervorkommen ins ‚Licht‘“ (EFGA 6, 295) interpretiert wird. „Helle“ und „Stille“ haben für Fink „weisende Kraft für das noch begriffslose An-Denken der Welt“. (EFGA 6, 326) So wie die Helle des Tageslichts die Dinge sichtbar macht, ohne sie im Sinne eines Teil-Ganzes-Verhältnisses zu beinhalten und ohne etwas an den Dingen zu sein, so lässt die Welt das Seiende erscheinen. Sie erweist sich damit als – in einer paradoxen Wendung – das „absolute Medium“ (EFGA 6, 301): Sie ist der Spielraum und die Spielzeit aller Dinge. In ihr ist alles versammelt, geeinigt und geschieden, was überhaupt ist, – sie ist das Feld des Anwesens, wo die Dinge zum Vorschein kommen und wo der Mensch das Seiende teilweise erfährt und gänzlich a priori weiß. Sie ist die universelle Gegend aller Lichtung und Erkenntnis. Sie ist das Feld des Seins. (EFGA 6, 317)
8.10 Die Dialektik von Himmel und Erde Doch es kommt noch ein Aspekt hinzu, der das Denken der Welt zusätzlich verkompliziert. Die Welt ist nämlich dualistisch strukturiert, zu ihr gehört nicht nur das Sein, sondern auch das sich entziehende Nichts, das als spekulativer Gedanke nie phänomenal aufgezeigt werden kann. (EFGA 16, 198) Dadurch ist die Welt in sich gegensätzlich – sie entbirgt das Sein und verbirgt es gleichzeitig. Hier nimmt Fink erneut Gedanken Heideggers auf, die dieser im KunstwerkAufsatz mit dem Konzept der Erde eingeführt hat. (GA 5, 32) Auch Heideggers ontologischer Wahrheitsbegriff steht hier im Hintergrund. (GA 5, 42) Fink beschreibt das Wesen der Welt nun auch als eine Dialektik, als einen „Streit“ von Himmel und Erde, wobei „Himmel“ für das Offene, Freigebende, „die gelichtete Weite des Offenen“ (1977, 217) steht und Erde für das Verborgene, Dunkle, die „die welthafte Seinsmacht der Verschlossenheit“. (1977, 216) Das Sein ist in sich widersprüchlich, und nicht erst durch die Unfähigkeit des Menschen, das
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Unendliche zu denken. Der Ursprung liegt in einer Differenz: „Der Welt-Streit von Himmel und Erde ist der Ur-Sprung. Der Ur-Sprung läßt alles, was ist, entspringen.“ (1977, 215) An Heidegger kritisiert Fink jedoch, er habe im Sinne einer Lichtmetaphysik die helle Seite dieses Streits überbetont und von den Aspekten Raum, Zeit und Bewegung eigentlich nur die Zeit wirklich ausgearbeitet. (1977, 234) So habe er die Verbergung des Seins eher wie einen Schatten gedacht, als bloße Kehrseite des Lichts und „nicht wie die lichtlose, abgründige Nacht“. (1976e, 176) Fassen wir das bisher über den nicht-metaphysischen Weltbegriff Gesagte noch einmal zusammen, so lassen sich folgende Aspekte vorläufig festhalten: Die Welt ist kein Seiendes, sondern lässt das Seiende erst hervortreten: Sie ist das „Feld des Seins“, welches das Seiende erscheinen lässt. Sie gibt dem Seienden Raum und lässt ihm Zeit, sie ist der „Zeitspielraum“, in dem das Sein aufgeht. Als solcher ist sie selbst nicht seiend, sie ist vor dem Sein, also meontisch. Deswegen entzieht sie sich dem Zugriff durch Sprache und Denken. Sie ist in sich dialektisch strukturiert, als Widerstreit zwischen einem offenen Pol (dem Himmel) und einem verbergenden (der Erde). Sie ist uns nicht unmittelbar zugänglich, weil sie als Vor-Seiendes nicht gegeben ist. Die Phänomenologie versagt bei dem Versuch, die Welt zu denken, daher ebenso wie die traditionelle Metaphysik, die mit ihren Begriffen nie aus dem Binnenweltlichen herauskommt. Erst durch ein spekulatives Moment können wir uns der Welt nähern, können wir die Metaphysik in Richtung einer Kosmologie überwinden: In Abkürzung gesagt: Spekulation ist Kennzeichnung des Wesens des Seins im Gleichnis eines Seienden, ist eine begriffliche Weltformel, die von einem innerweltlichen Modell abspringt. (EFGA 7, 28)
8.11 Spiel als Weltsymbol Das heißt aber, was wir dann erkennen, ist nicht die Welt selbst, sondern nur ein Bruchstück, ein symbolon. Fink rekurriert dabei – wie schon Heidegger in der Vorlesung über Die Grundbegriffe der Metaphysik (GA 29/30) – auf den Wortursprung des griechishen symballein, zusammenwerfen. Als symbolon wurde ein zerbrochenes Tontäfelchen bezeichnet, welches beim späteren Zusammenfügen mit dem anderen Teil die Identifikation eines Gastfreundes ermöglichen sollte. Fink nimmt für das Symbol daher die Bedeutung „Bruchstück eines Ganzen“ an, wobei das Ganze aber allein in diesem Bruchstück und daher nur negativ überhaupt zugänglich ist. Wenn uns ein binnenweltliches Ding zum Symbol wird, dann nicht, weil es im Sinne eines arbiträr zugeordneten Zeichens für etwas Anderes steht, sondern weil es als Ding seinen fragmentarischen Charakter, seine Binnenweltlichkeit und Endlichkeit enthüllt. Es ist kein Zeichen für ein Ganzes, denn die Gesamtheit des Binnenweltlichen ist selbst noch nicht das Ganze im
194 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Sinne der Welt, das uns unzugänglich ist. (EFGA 7, 123) Alle Dinge sind symbola (Bruchstücke) eines Weltganzen, das sich uns entzieht. „Im Welttiefwerden wird ein Ding zum Symbol, geschieht das symballein von Seiendem und Universum.“ (EFGA 7, 124) In seinem Buch Spiel als Weltsymbol von 1960 führt Fink nicht nur sein kosmologisches Weltverständnis noch einmal prägnant zusammen, er entwirft auch die Möglichkeit eines symbolischen Zugangs zur Welt, der paradigmatisch über das Spiel erfolgt. (Franz 2011) Der Begriff „Spiel“ war bereits an vielen Stellen angeklungen, wenn es darum ging, die Welt als „Spielraum“ oder „Spielfeld“ des Seins zu beschreiben. Gemeinsam mit Tod, Liebe, Herrschaft und Arbeit hatte Fink das Spiel bereits in der gleichnamigen Vorlesung von 1955 als eines der Grundphänomene des menschlichen Daseins beschrieben. In Spiel als Weltsymbol stellt Fink nun die zunächst ganz einfache Frage, wer oder was in diesem Spiel eigentlich der oder das Spielende ist. Hintergrund dieser Frage ist Heraklits berühmtes Fragment Nr. 52, das den Weltlauf als spielendes Kind bezeichnet und auf welches auch Heidegger hingewiesen hat. (GA 6, 280) Fink geht bei der Beantwortung dieser Frage von der Unterscheidung zwischen dem menschlichen Spiel und dem Weltspiel aus. Es wäre jedoch falsch, wenn man die Rede von einem Weltspiel als metaphorische Übertragung der Kennzeichen des menschlichen Spiels auf die Welt verstehen würde. Vielmehr zeigt sich umgekehrt im Menschenspiel die Weltlichkeit des Spiels. Methodisch zeigt sich hier erneut ein Übergang von der Beschreibung des Menschenspiels als „Grundphänomen“ zu einer Spekulation über die Weltbedeutung des Spiels, die sich wiederum zuerst an der metaphysischen Tradition abarbeitet. Fink rekapituliert in seinem Text verschiedene Deutungen des Spiels als Schein: Die Metaphysik vollzog eine Abwertung des Spiels aufgrund seines Abbildcharakters, doch Mythos und Kult werteten es aufgrund seiner Nähe zum Göttlichen auf. Beide deuten aber das Spiel als Verhältnis zum Seienden. (EFGA 7, 213 f.) Fink deutet nun schließlich das Spiel als Weltbezug des menschlichen Daseins, als ein „Spiel ohne Spieler“, (EFGA 7, 214) wobei er Elemente der mythischen Spieldeutung aufnimmt: das Menschenspiel ist eine besonders ausgezeichnete Weise, wie das Dasein verstehend sich zum ganzen dessen, was ist, verhält und wie es sich vom Ganzen durchschwingen läßt; im Spiel des Menschen scheint das Weltganze in sich selbst zurück, läßt an und in einem Innerweltlichen, und in einem Endlichen Züge der Un-Endlichkeit aufschimmern. (EFGA 7, 214)
Im Spiel wird eine zweifache Bewegung deutlich: Zum einen ist der Mensch im Spiel offen gegenüber der Welt, er „transzendiert sich selbst“, (EFGA 7, 214) zum anderen aber geht auch von der Welt etwas aus, das Spiel zeigt sich als „spielhafte Ekstase des Menschen zur Welt und als Rückschein des Weltganzen in das binnenweltliche Symbol“. (EFGA 7, 216) Diese beiden Pole bezeichnen aber ei-
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gentlich ein und dasselbe Verhältnis von Mensch und Welt. Der Mensch ist nicht erst ohne die Welt da und öffnet sich dann auf sie hin, er ist immer schon auf die Welt bezogen und sie auf ihn: „Die Welt scheint in den Menschen als in das durch verstehende Weltoffenheit ausgezeichnete Wesen zurück.“ (EFGA 7, 219) Die Welt hat keinen Grund, und ihr Spiel hat keinen Spieler. Damit lehnt Fink erneut eine metaphysisch-theologische Deutung der Welt ab: Das Spiel der Welt ist niemandes Spiel, weil es erst darin Jemande, Menschen und Götter gibt; und die Spielwelt des Weltspiels ist nicht ein ‚Schein‘, sondern die Erscheinung. (EFGA 7, 223)
8.12 Anthropologie und Sozialphilosophie Dieser Rückschein der Welt in das menschliche Dasein ist es auch, der die Grundphänomene des menschlichen Daseins – Arbeit, Kampf, Liebe, Totenkult, Spiel – in je verschiedener Weise durchzieht. Dass bestimmte Phänomene „welttief “ werden können und dadurch indirekt auf das verweisen, was selbst nicht phänomenal zugänglich ist, liegt als Idee Finks anthropologischen Untersuchungen zu den Grundphänomenen des menschlichen Daseins zugrunde, die zusammen mit der Pädagogik ein Zentrum seines späteren Denkens bilden. So kann der Tod – der Fink schon in der VI. Cartesianischen Meditation als Grenzproblem interessierte – an die Grenze der Erscheinungswelt heranführen und an die Möglichkeit des Nichts erinnern: „Der Menschentod ist der große Zeiger – auf das absolute Nichts“. (EFGA 6, 532) Zusammen mit der Geschlechtlichkeit des Menschen bildet er einen Zugang zur dunklen Seite der Welt, die sonst verborgen bleibt. In ihrem Symbolcharakter rufen die Grundphänomene dabei nicht nur das Verhältnis von Mensch und Welt in Erinnerung, sondern sie bringen auch die Menschen zusammen, welche die Welt teilen: „Dort wo Dinge plötzlich zu echten Symbolen werden, erkennen sich Menschen als Teilhaber derselben Welt“, (EFGA 16, 133) heißt es in Finks sozialphilosophischer Vorlesung von 1952/53, Existenz und Coexistenz. An der Deutung des Spiels als Weltsymbol zeigt sich auch die Verklammerung von Anthropologie und Kosmologie, die Fink noch um eine sozialphilosophische Komponente erweitert. Fundierend für seine Überlegungen über das menschliche Zusammenleben bleibt immer der Weltbezug des Menschen, das Verständnis des Menschen als „ens cosmologicum“ (1977, 273): „Das Weltverhältnis ist die fundamentale Seinsverfassung der menschlichen Existenz, in der Selbstsein, Mitsein und Sein-bei-Dingen insgesamt gründen.“ (1979, 320) Fink erteilt der traditionellen Anthropologie eine Absage, die den Menschen als animal rationale bestimmt:
196 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Vielleicht müssen wir aufhören damit, unser Selbstverständnis gewinnen zu wollen aus den bewußten Abständen zum Tier und zum Gott – müssen uns aus der ekstatischen Weltoffenheit, aus unserer Entsprechung zu ‚Himmel‘ und ‚Erde‘ begreifen und aus dem dunkleren Bezug zum Totenland. (1979, 323)
Vor dem Hintergrund des Weltspiels wird der Mensch so zum Mitspieler der Welt. Auf diesem nachbarschaftlichen Verhältnis zwischen Mensch und Welt gründet auch alles Mitsein in der menschlichen Gemeinschaft: (EFGA 16, 238) Wir teilen die Dinge, weil wir Welt teilen. „Menschliche Gemeinschaft, wie immer sie auch von der konkreten Gestalt unserer eigenen Sozialität verschieden sein mag, ist wesenhaft und notwendig immer ein Mit-Teilen als Miteinanderteilen von ‚Welt‘.“ (EFGA 16, 142) Alles Fragen nach der menschlichen Gemeinschaft gründet im Weltproblem. „Der Weltbezug ist […] das Verhältnis aller Verhältnisse […]. Die Nachbarschaft von Mensch und Welt ist der ursprünglichste ermöglichende Grund aller Formen und Gestalten zwischenmenschlicher ‚Gemeinschaft‘“; Fink spricht auch von der „Ur-Gesellung von Mensch und Welt“. (EFGA 16, 238) „Der Mensch existiert als Weltverhältnis“, (1979, 450) das nicht als Verhältnis zwischen zwei abgetrennten Dingen verstanden werden darf. Unser Bezug zum Seienden ist in diesem fundamentalen und ursprünglichen Bezug gegründet, hier sind Ontologie und Anthropologie in der Kosmologie miteinander verklammert. Fink kommt in dieser Weise auf eine Anthropologie zurück, doch gewissermaßen von der entgegengesetzten Richtung aus, von der Welt her. In dieser Rückbindung an die Kosmologie ist Finks Anthropologie eine „radikal irdische Anthropologie, die aus der Selbstauslegung menschlicher Existenz hervorgeht“, (1979, 29) und sich deutlich unterscheidet von einer traditionellen metaphysisch fundierten Anthropologie, aber auch von der Fundamentalontologie Heideggers. Der Mensch erscheint bei Fink als ein Wesen, das sich selbst immer fraglich ist, und das den Sinn seiner Existenz erst suchen muss. In diesem Sinne ist er frei, gerade auch in seiner Endlichkeit, die ihn erst nach Sinn und Ziel fragen und sich selbst eine Form geben lässt. Die Freiheit als schöpferische Kraft, die aber auf dem grundsätzlich fragmentarischen Charakter des Menschen beruht, ist es auch, die sich für Fink in der Bildung verwirklicht.
8.13 Finks Weltdenken und die Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik Blicken wir von hier aus auf den Denkweg Finks zurück, so hat sich zum einen bestätigt, dass sein Verhältnis zur transzendentalen Phänomenologie Husserls und zum ontologischen Ansatz Heideggers das Feld bildet, in dem sein eigenes Weltdenken einsetzt, aus dem es sich aber auch herausbewegt. Die Metaphysik ist dabei ein bleibender Bezugspunkt seines Denkens, er selbst würde aber wohl
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später nicht mehr für sich in Anspruch genommen haben, „phänomenologische Metaphysik“ zu betreiben. In den Nachlassdokumenten Finks findet sich eine aufschlussreiche Notiz von 1929/30, die besagt: „Wenn die Phänomenologie an die Stelle aller u. jeder M⟨e⟩t⟨a⟩ph⟨ysik⟩ treten will, wenn sie M⟨e⟩t⟨a⟩ph⟨ysik⟩ in einem neuen u. uralten Sinne sein will, dann muß sie auch auf die höchsten u. letzten Fragen, die der gemeine Menschenverstand an die Welt stellt, zu antworten vermögen“. (Fragment Nr. ZX 16a, zit. bei Bruzina 1989, 100)
Dass Fink sich selbst diesen höchsten und letzten Fragen an die Welt gestellt hat, ist im Durchgang durch sein Werk deutlich geworden, aber auch seine Zweifel, ob die Phänomenologie für diese Fragen letztlich noch der richtige Ansprechpartner ist: Aus dem Bestreben heraus, die Phänomenologie spekulativ zu erweitern und in Richtung einer Meontik des nicht-anschaulichen, nicht-gegebenen Ursprungs zu übersteigen, entwickelte er nach dem Krieg in Auseinandersetzung mit Heideggers Überwindung der Metaphysik und seiner ontologischen Abkehr von der transzendentalen Phänomenologie seine spekulative Kosmologie, die ausgehend vom Weltproblem die Frage nach dem Sein angeht. Sucht man in Finks späten Texten nun nach methodischen Reflexionen über den Status seiner Philosophie, so fällt eine deutliche Distanzierung von der Phänomenologie und von der Metaphysik ins Auge. In Existenz und Coexistenz schließt Fink sich zunächst dem an, was er die „phänomenologische Methode“ nennt, deren „methodologische[s] Prinzip“ in der „Tendenz“ bestehe, „gleichsam keine Methode sein zu wollen, nämlich nicht ein Vorgriff in einer ganz bestimmten und ausgewählten Optik, – sondern sich von der Sache sagen zu lassen, was und wie sie ist“. (EFGA 16, 49) Doch Fink äußert hier auch eine Kritik (an Husserl), denn wie man heute wisse, könne man nicht einfach aus der Geschichte heraustreten und vorbehaltlos beschreiben. Somit erweist sich die Phänomenologie hier für Fink lediglich als eine Vorstufe für ontologische Fragestellungen: die phänomenologische Methode wird überfordert, wenn man von ihr eine analytische Bewältigung des Seinsproblems erwartet, – aber sie hat große und bedeutsame Möglichkeiten in der verstehenden Aufschließung der Phänomene, sie ist gleichsam eine propädeutische Vorstufe; in ihr gewinnt das befragte Phänomen Profil, differenzierte Bestimmtheit, wird aus der Verschwommenheit unseres gewöhnlichen Verstehens herausgebracht – und solche Klärung des Gegebenen und Vorfindlichen ist gewiß eine günstige Vorbedingung für eine seinsbegriffliche Interpretation des in Frage stehenden Phänomens. (EFGA 16, 50)
Die Phänomenologie macht so zwar auf das Weltproblem aufmerksam, ihr fehlen aber die Mittel, um dieses selbst zu behandeln. Die Welt ist aber nicht einfach ein Gedanke, den wir haben können oder nicht, sondern die Voraussetzung unseres Denkens. Welt ist nie gegeben; wir wissen sie nicht, aber wir kennen sie:
198 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Der Weltgedanke ist nicht ein Gedanke unter anderen Gedanken, sondern der Gedanke, durch den wir überhaupt denken können. Die Weltoffenheit des menschlichen Daseins ist der Grund für alles menschliche Verstehen von Seiendem und für alles Selbstverhältnis des Menschen zu sich. (EFGA 6, 91)
Allerdings ist der Horizont dieser ontologischen Überlegungen durch das Erbe der metaphysischen Seinsauslegung vorgezeichnet, von der sich Fink ebenfalls lösen will: „Und dennoch machen wir den Versuch, uns den Schemata jener Metaphysik, soweit es nur geht, zu entziehen.“ (EFGA 16, 50) Was Fink dann in seiner Kosmologie betreibt, zeigt sich aber schließlich auch als der Versuch, das Unsagbare zu sagen und dem Unausdenklichen nachzudenken, das sich zwar der Erfahrung entzieht, uns aber im Fragment, im Symbol, als Weltspiel zugänglich ist, dessen Mitspieler wird sind. Dabei ist der Mensch zwar in das Spiel der Welt einbezogen, doch er hat sie nur als Fragment, nur im Entzug. Auch Finks Philosophie der Welt ist an vielen Stellen tastend und fragmentarisch geblieben, was sich aber daraus erklärt, dass die Frage nach der Welt permanent an eine Grenze führt. Diese „Grenzsituation“ ausgehalten und philosophisch ausgelotet und nicht in Richtung einer traditionellen Metaphysik übersprungen zu haben, ist wohl das große philosophische Verdienst Eugen Finks. Dass er das Rätsel der Welt dabei aber letztendlich nicht lösen konnte, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache: „Welt ‚ist‘ ein Labyrinth, ein Irrgarten der Zweideutigkeit; und auch kein Theseus des Geistes vermöchte den Minotaurus dieses Labyrinths an den Hörnern zu packen und mit einem Schwertstreich das Problem zu lösen.“ (EFGA 16, 103) Eugen Fink Geboren 1905 in Konstanz. Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Volkswirtschaft in Münster, Berlin und Freiburg. Ab 1928 Assistent bei Husserl, 1929 Promotion bei Husserl und Heidegger. Bis zu Husserls Tod 1938 intensive Zusammenarbeit mit diesem, es entstehen zahlreiche Entwürfe und Umarbeitungen zu Husserls Texten, auch die nach dem Zweiten Weltkrieg als Habilitation anerkannte VI. Cartesianische Meditation. Zumal wegen der Nähe zu Husserl eine Universitätskarriere nicht möglich war, emigrierte Fink nach dessen Tod auf Einladung Herman Leo van Bredas nach Leuven und arbeitete dort an Husserls Nachlass. Nach der Besetzung Belgiens erzwungene Rückkehr nach Freiburg. Habilitation 1946, dann zunächst Dozent, ab 1948 Ordinarius für Philosophie und Pädagogik. Gründung des Husserl-Archivs in Freiburg 1950, das er bis 1971 leitete. Fink engagierte sich auch in der Bildungspolitik und leitete lange das Studium Generale in Freiburg. Nach seiner Emeritierung 1971 starb Eugen Fink im Juli 1975 in Freiburg.
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Literatur Fink, Eugen (1966), Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag. – (1966a), „Die phänomenologische Philosophie Husserls in der gegenwärtigen Kritik“, in: Ders., Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag, 79–156. – (1966b), „Was will die Phänomenologie Edmund Husserls?“, in: Ders., Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag, 157–178. – (1976), Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. FranzAnton Schwarz, Freiburg/München. – (1976a), „Die Idee der Transzendentalphilosophie bei Kant und in der Phänomenologie“, in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München, 7–44. – (1976b), „Zum Problem der ontologischen Erfahrung“, in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz-Anton Schwarz, Freiburg/ München, 127–138. – (1976c), „Philosophie als Überwindung der ‚Naivität‘“, in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz-Anton Schwarz, Freiburg/ München, 98–126. – (1976d), „Die intentionale Analyse und das Problem des spekulativen Denkens“, in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München, 139–157. – (1976e), „Welt und Geschichte“, in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München, 158–179. – (1976f ), „Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie“, in: Ders., Nähe und Distanz. Phänomenologische Vorträge und Aufsätze, hg. v. Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München, 180–204. – (1977), Sein und Mensch. Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, Freiburg/München. – (1979), Grundphänomene des menschlichen Daseins, hg. v. Egon Schütz/Franz-Anton Schwarz, Freiburg/München. – (1988), VI. Cartesianische Meditation, hg. v. Hans Ebeling/Jann Holl/Guy van Kerckhoven, Husserliana Dokumente Bd. II, Dordrecht. Eugen Fink Gesamtausgabe (= EFGA) (2006-), hg. v. Stephan Grätzel/Cathrin Nielsen/ Hans Rainer Sepp, Freiburg/München. Bruzina, Ronald (1989), „Die Notizen Eugen Finks zur Umarbeitung von Edmund Husserls ‚Cartesianischen Meditationen‘“, Husserl Studies 6, 97–128. – (2004), Edmund Husserl and Eugen Fink. Beginnings and Ends in Phenomenology 1928–1938, New Haven. – (2006), „Hinter der ausgeschriebenen Finkschen Meditation: Meontik – Pädagogik“, in: Anselm Böhmer (Hg.), Eugen Fink. Sozialphilosophie –Anthropologie –Kosmologie – Pädagogik –Methodik, Würzburg, 193–219. Crowell, Steven Galt (2001), „Gnostic Phenomenology: Eugen Fink and the Critique of Transcendental Reason“, in: Ders., Husserl, Heidegger, and the Space of Meaning. Paths towards Transcendental Phenomenology, Evanston, IL, 244–263. Franz, Thomas (2011), „Weltspiel und Spielwelt. Eugen Finks symbolische Kosmologie“, in: Cathrin Nielsen/Hans Rainer Sepp (Hg.), Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München, 250–266.
200 8. Eugen Fink – Mitspielen im Spiel der Welt Gaitsch, Peter (2014), „Transzendenz und (Un-)Gegebenheit“, in: Michael Staudigl/ Christian Sternad (Hg.), Figuren der Transzendenz. Transformationen eines phänomenologischen Grundbegriffs, Würzburg, 67–84. Giobilato, Giovanni Jan (2017), Freiheit und Reduktion. Grundzüge einer phänomenologischen Meontik bei Eugen Fink (1927–1946), Nordhausen. van Kerckhoven, Guy (1996), „Eugen Finks Phänomenologie der VI. Cartesianischen Meditation“, Phänomenologische Forschungen 30, 88–110. Luft, Sebastian (2002), Phänomenologie der Phänomenologie. Systematik und Methodologie der Phänomenologie in der Auseinandersetzung zwischen Husserl und Fink, Dordrecht. Moran, Dermot (2007), „Fink’s Speculative Phenomenology. Between Constitution and Transcendence“, Research in Phenomenology 37, 3–31. Nielsen, Cathrin/Sepp, Hans Rainer (2006), „Das Projekt einer Gesamtausgabe der Werke Eugen Finks“, in: Anselm Böhmer (Hg.), Eugen Fink. Sozialphilosophie –Anthropologie –Kosmologie –Pädagogik – Methodik, Würzburg, 286–293. – (2011), „Welt bei Fink“, in: Dies. (Hg.), Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München, 9–24. Schnell, Alexander (2015), Wirklichkeitsbilder, Tübingen. Sepp, Hans Rainer (2006), „Totalhorizont – Zeitspielraum. Übergänge in Husserls und Finks Bestimmung von Welt“, in: Anselm Böhmer (Hg.), Eugen Fink. Sozialphilosophie –Anthropologie –Kosmologie –Pädagogik –Methodik, Würzburg, 154–172. Takeuchi, Dai (2011), „Zweideutigkeit des Meon und Kosmologie als Phänomenologie der Immanenz“, in: Cathrin Nielsen/Hans Rainer Sepp (Hg.), Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg/München, 237–249.
9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik in Das Sein und das Nichts Simone Neuber
In welchem Maße Sartre letztlich Eugen Fink zustimmen würde, dass, sobald die Welt Thema der Philosophie wird, „alle ontologischen Grundbegriffe der Metaphysik, die in der Blickbahn auf das binnenweltlich-Seiende entwickelt worden sind, erneut überprüft werden“ (Fink EFGA 5/2, 189/144) müssen und die „Ontologie der Metaphysik […] explizit kosmologisch überholt“ wird, ja überholt werden muss, muss hier offen bleiben. Zeigen lässt sich allerdings, dass Sartre in seinem Vorgehen in Das Sein und das Nichts inszeniert, dass die von ihm angestrebte Ontologie allererst durch ihren Ausgang vom In-der-Welt-Sein in rechte Bahnen geleitet wird, und zwar in Bahnen, die insofern Bahnen einer genuin phänomenologischen Ontologie sind, als diese Ontologie eine beschreibende Explikation der Strukturmomente jener ursprünglichen synthetischen Totalität zu sein hat, als welche Sartre das In-der-Welt-Sein versteht. Das heißt, wie sich gleich zeigt, zwar nicht, dass für Sartre sich eine phänomenologische Ontologie in der Explikation der wesentlichen Strukturmomente dieser ursprünglichen Totalität erschöpft. Es heißt aber, dass sie ihre Orientierung erst erhält, wenn sie einer ursprünglichen und vorauszusetzenden Totalität eingedenk ist und so das Explizierte als unselbstständige Momente dieser ursprünglichen Totalität fasst. „1. Was ist das synthetische Verhältnis, das wir In-der-Welt-Sein nennen? 2. Was müssen der Mensch und die Welt sein, damit das Verhältnis zwischen ihnen möglich ist?“ (2001, 50) sind Sartre zufolge denn auch die beiden orientierenden Hauptfragen seiner phänomenologischen Ontologie, wie er sie in seinem phänomenologischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts vorlegt. Da themenrelevante Kerngedanken von Sartres früheren phänomenologischen Arbeiten direkt in dieses Hauptwerk einfließen und Sartre hier, in kritischer Auseinandersetzung mit Husserl, Heidegger und anderen, eine philosophische Grundlegung zu einer späteren (wenn auch nur fragmentarisch und posthum veröffentlichten) Moralphilosophie und sogar zu einer anschließenden Metaphysik zu leisten beansprucht, werde ich mich im Folgenden hauptsächlich auf die Überlegungen in Sartres 1943 erschienenem magnum opus beschränken.
202 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik
9.1 Auf dem Weg zur Welt Sartre formuliert die These, dass jede Ontologie allein durch das Bedenken der ursprünglichen „Totalität“ des In-der-Welt-Seins ihre theoretische Orientierung erhalte, vergleichsweise spät, nämlich zu Beginn des ersten Kapitels von Das Sein und das Nichts und damit recht deutlich nach der gedanklich dichten Einleitung. Doch ist die Einleitung bereits mit Blick auf eben diese These verfasst, insofern sie Sartre am Ende in eine „Sackgasse“ münden lässt, die er auf eine „für unsere Nachforschung schlechte Perspektive“ (2001, 49) zurückführt: man kann festhalten, dass man die beiden Glieder eines Verhältnisses nicht erst trennen kann, um dann zu versuchen, sie wieder zusammenzubringen: das Verhältnis ist Synthese. Deshalb können sich die Ergebnisse der Analyse nicht mit den Momenten dieser Synthese decken. Laporte sagt, dass man abstrahiert, wenn man das isoliert denkt, was niemals isoliert existieren kann. Das Konkrete dagegen ist eine Totalität, die durch sich allein existieren kann […]. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Bewusstsein etwas Abstraktes, denn es enthält in sich selbst einen ontologischen Ursprung in Richtung auf das An-sich, und andererseits ist das Phänomen auch etwas Abstraktes, da es dem Bewusstsein ‚erscheinen‘ muss. Das Konkrete kann nur die synthetische Totalität sein, von der das Bewusstsein wie auch das Phänomen lediglich Momente bilden. Das Konkrete ist der Mensch in der Welt mit jener spezifischen Vereinigung des Menschen mit der Welt, die zum Beispiel Heidegger ‚In-der-Welt-sein‘ nennt. (2001, 49 f.)
In eine „Sackgasse“ gerät die Einleitung also durch das, was Sartre hier als „Ergebnisse der Analyse“ fasste; und gemeint ist damit die „Analyse“, welche mit Beginn der Einleitung anhob. Sartre ging in ihr den begrifflichen Implikationen der „Idee des Phänomens“ nach, um dabei zu versuchen, bereits den Grundstein für die realistische Stoßrichtung seiner Phänomenologie zu legen. These war, dass „das Sein des Erscheinens“ (2001, 14) noch einer Klärung bedürfe; und Sartres Beitrag zu dieser bestand zunächst in einer Unterscheidung eines deskriptiv einholbaren Seinsphänomens von einem – wie Sartre betont – transphänomenalen Sein des Phänomens, welches „obwohl dem Phänomen koextensiv, der Phänomenalität entgehen muss […] und folglich über die vom ihm gewonnenen Erkenntnis hinausgeht und sie begründet“. (2001, 17) Kernpunkt der Überlegung war dabei, dass für dieses transphänomenale Sein des Phänomens gerade nicht das Bewusstsein (bzw. Sein des Bewusstseins) in Anschlag gebracht werden könne: Denn erstens erschöpfe sich das Sein des Bewusstsein in seinem Sich-Erscheinen; zweitens indiziere der Modus der Gegebenheit des Erscheinenden hinsichtlich dessen „Passivität“ und „Relativität“ eine genuine Bewusstseinstranszendenz; (2001, 28–33) und überdies – und das ist der für ihn wesentliche Punkt – hält Sartre, wie er im fünften Teil der Einleitung ausführt, das Bewusstsein für seinerseits von diesem transphänomenalen Sein ontologisch abhängig. Es sei ein „Ruf nach Sein“: „Wir hatten bereits in der Einleitung das Bewusstsein als einen Ruf nach Sein entdeckt und gezeigt, dass das
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Cogito unmittelbar auf ein An-sich-sein als Gegenstand des Bewusstseins verwies“, so resümiert Sartre am Ende des Buches eine Quintessenz der Einleitung. (2001, 1055) Für Sartres realistische Stoßrichtung ist diese These von der ontologischen Abhängigkeit des Bewusstseins zentral. In der Tat finden wir in der Einleitung gleich zwei voneinander unabhängige Beweisversuche für die These, dass das Sein des Bewusstseins ein transphänomenales Sein voraussetze; Sartre führt diese einmal – geprüft soll ja werden, ob von besagtem Sein gilt: esse est percipi – mit Blick auf das percipere und einmal mit Blick auf das percipi aus. (2001, 28–33; 33–37) Der dichte und unklare Gedankengang müsste nun freilich argumentativ rekonstruiert werden, wofür an dieser Stelle indes nicht der Ort ist. Es genüge der Hinweis, dass Sartre vom Erfolg der Argumente überzeugt ist; und dass diese Überlegungen im Hintergrund stehen, wenn Sartre die für ihn leitenden Verständnisse der Begriffe der Transzendenz und der Intentionalität erhellt, um sich dabei, zumindest seinem Anspruch nach, deutlich von Husserl abzugrenzen, den Sartre ab den Ideen I als einen Konstitutionsidealisten liest. Während Husserl in Sartres Augen die legitime Rede von der Transzendenz des Objekts daran festmache, „dass ein Objekt prinzipiell die Reihe seiner Erscheinungen als unendlich setzt“, (2001, 12) will Sartre Transzendenz als einen Begriff fassen, dem die These von der ontologischen Abhängigkeit des Bewusstseins eingeschrieben ist. Transzendenz besagt daher für Sartre: „das Bewusstsein entsteht als auf ein Sein gerichtet, das nicht es selbst ist.“ (2001, 35) Eine ähnliche Stoßrichtung kommt in Sartres Konzeption der Intentionalität zum Tragen, die Sartre für bewusstseinskriterial hält. Die bewusstseinswesentliche theoretische Intentionalität versteht Sartre wie folgt: Wenn man sagt, das Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, so bedeutet das, dass es für das Bewusstsein kein Sein gibt außerhalb dieser präzisen Obligation, offenbarende Intuition von etwas zu sein, das heißt von einem transzendenten Sein. Nicht nur misslingt es der reinen Subjektivität, sich zu transzendieren, um das Objektive zu setzen, wenn sie zuerst gegeben ist, sondern eine ‚reine‘ Subjektivität würde auch verschwinden […]. Wer sagt, das Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, der sagt, dass es sich als erschlossene Erschließung eines Seins hervorbringen muss, das es nicht selbst ist und das sich als bereits existierend darbietet, wenn es es offenbart. (2001, 35 f.)
Es überrascht nicht, dass Sartre, im Selbstverständnis einer Replik an Husserl, noch einen weiteren topos kritisch reflektiert, nämlich den Status des Bewusstseins als eines Absoluten. Während Husserl in seinen Ideen I festhielt, „[d]as immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, daß es prinzipiell nulla ‚re‘ indiget ad existendum“, (Hua III/1, 104) will Sartre die Rede von der Absolutheit des Bewusstseins zwar nicht preisgeben; er will sie aber nicht ontologisch verstehen, sondern als Hinweis auf (a) die bewusstseinseigene Selbsttransparenz und (b) auf die ontologische Unableitbarkeit des Bewusstseins aus
204 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik dem von ihm ontologisch vorausgesetzten Sein, welche für Sartre auf die Spontaneität des Bewusstseins und seine Selbstbestimmung verweist. Sartre hält folglich fest (ad a): „Aber gerade weil es reine Erscheinung ist, weil es eine völlige Leere ist (da die ganze Welt außerhalb seiner ist), wegen dieser Identität von Erscheinung und Existenz an ihm kann es als das Absolute betrachtet werden.“ (2001, 27) Und ferner (ad b): „insofern es sich zu sich selbst macht, ist es ein Absolutes“. (2001, 1057) Wenn Sartre also oben schrieb, „dass es sich als erschlossene Erschließung eines Seins hervorbringen muss, das es nicht selbst ist“, dann barg er darin genau diesen doppelten Aspekt, um bereits zu markieren, dass Sartres „absolutes Bewusstsein“ – sofern jederzeit als auf ein Sein gerichtet entstehend – als ein „nicht-substantielles Absolutes“ (2001, 27) zu verstehen ist. Im Lichte dieser Überlegungen ergibt sich nun aber besagte „Sackgasse“, und zwar in Form von zwei am Ende der Einleitung resultierenden „Seinstypen“ (2001, 44): nämlich (i.) dem Seinstyp des Bewusstseins als dem Seinstyp desjenigen, dem etwas erscheint (und das sich dabei selbst erschlossen ist), und (ii.) dem Seinstyp desjenigen, was dem Bewusstsein erscheint und das in seinem Erscheinen auf ein (bzw. sein) transphänomenales Sein verweist. Sartre nennt letzten Seinstyp être en-soi und ersteren Seinstyp être pour-soi, was nun zwar klar nach einer Adoption hegelscher Terminologie aussieht. Doch sollte man den Doppelsinn, der Sartres être pour-soi anhaftet, nicht übersehen; denn der Ausdruck oszilliert bei Sartre zwischen einem hegelschen Für-sich-Sein und einem an Heidegger angelehnten Umwillen-seiner-selbst sein; (2001, 167 f.; Neuber 2018) und dieser Doppelsinn zeigt sich etwa schon in der Einleitung deutlich, wenn Sartre – recht unvermittelt – die Selbsttransparenz des Bewusstsein (bzw. des Für-sich-Seins) als Engagement in sein Sein fassen kann, um festzuhalten: „das Bewusstsein ist ein Sein, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, insofern dieses Sein ein Anderessein als es selbst impliziert.“ (2001, 37) Was Sartre zum Beginn des ersten Teils von einer „Sackgasse“ reden lässt, bezieht sich nun konkret auf die zum Ende der Einleitung erzielte Spezifikation der beiden Seinstypen, die als „absolut voneinander getrennte Seinsbereiche“ (2001, 39) festgehalten werden; als „zwei geschlossene Totalitäten ohne mögliche Kommunikation“. (2001, 40) Weder nämlich könne das An-sich-Sein auf das Bewusstsein einwirken (das widerspräche in Sartres Augen u. a. der Spontaneität des Bewusstseins); noch könne das Für-sich-Sein aus sich heraus das An-sich-Sein konstituieren, womit für Sartre eine bestimmte Form einer naiv realistischen Philosophie des Geistes sowie eine bestimmte Variante eines Konstitutionsidealismus als Strategien einer Ins-Verhältnis-Setzung der beiden Seinstypen – und dies ist Sartre willkommen – vom Tisch sind. (2001, 39) Dafür stellt sich nun aber die dringliche Frage nach einer alternativen „Vermittlung“: „Wenn es sowohl dem Idealismus als auch dem Realismus misslingt, die Bezüge zu erklären, die diese beiden de jure nicht kommunizierbaren Regionen de facto vereinigen, welche andere Lösung kann man diesem Problem geben?“ (2001, 44 f.) – so Sar-
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tre zu der zum Ende der Einleitung dringlich gewordenen Frage, im Rahmen von deren Antwort nun der Weltbegriff virulent wird.
9.2 „Welt“ und „In-der-Welt-Sein“ Den Weg aus der „Sackgasse“ deutet Sartre im ersten Teil des ersten Kapitels an, der mit der oben schon erwähnten Diagnose der bisherigen Problematik anhebt und diese auf eine „Abstraktheit“ zurückführt. Die Ergebnisse der „Analyse“ seien, sofern sich die Aporie abzeichnet, „abstrakt“ geblieben und nicht als Momente einer ursprünglichen Synthese und eines Konkreten gefasst worden. (2001, 49) Und genau dieses Konkrete – sprich: jene „Totalität, die durch sich allein existieren kann“ (2001, 49) – gelte es nun, als das Ursprüngliche in den Blick zu nehmen, um anhand seiner die Ergebnisse der Analyse als bloße sie bestimmende Momente zu reflektieren. Das relevante Konkrete aber ist für Sartre, wie schon zitiert, „der Mensch in der Welt mit jener spezifischen Vereinigung des Menschen mit der Welt, die zum Beispiel Heidegger ‚In-der-Welt-Sein‘ nennt“. (2001, 50) Die von Sartre nun aufgenommene Reflexion verlangt eine Revision der bis dato prävalenten Methode. Die die Einleitung dominierenden begrifflichen Spekulationen werden ersetzt bzw. supplementiert durch das, was Sartre Beschreibung und Befragung des alltäglichen In-der-Welt-Seins nennt. Da „jede der menschlichen Verhaltensweisen […] uns, da sie eine Verhaltensweise des Menschen in der Welt ist, gleichzeitig den Menschen, die Welt und das Verhältnis zwischen ihnen darbieten“ (2001, 50) könne, gelte es, sich – in einer Art theoretischer Naivität – diesen Verhaltensweisen zuzukehren: Man braucht nur die Augen aufzumachen und in aller Naivität jene Totalität zu befragen, die der Mensch-in-der-Welt ist. Durch die Beschreibung dieser Totalität werden wir folgende zwei Fragen beantworten können: Was ist das synthetische Verhältnis, das wir In-der-Welt-sein nennen? 2. Was müssen der Mensch und die Welt sein, damit das Verhältnis zwischen ihnen möglich ist? (2001, 50)
Im Lichte dieser Bemerkungen lässt sich bereits viererlei über die Rolle des Weltbegriffs in Sartres Denken festhalten. Festhalten lässt sich erstens, dass der Weltbegriff im Kontext eines Lösungsansatzes vorkommt, der einer von Sartre bemängelten Abstraktheit entgegenwirken soll. Entgegenwirken soll er der Abstraktheit, insofern das In-der-Welt-Sein als konkrete Totalität verstanden wird, bei welcher die Welt als Moment eines ursprünglichen „synthetische[n] Verhältnis[ses]“ fungiert. Eine Annäherung an die Welt als so geartetes Moment ist dabei zweitens für Sartre nur im Rahmen einer Beschreibung – und in diesem (!) Sinne: phänomenologisch – möglich. Welt kommt also als theoretischer Gegenstand in den Blick, sofern die Theorie – zumindest auch – deskriptiv verfährt.
206 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik Hatte Sartre zunächst als Aporie festgehalten, dass mit der Einleitung noch unklar ist, wie eine Beziehung zwischen Für-sich-Sein und An-sich-Sein möglich ist, so wird nun die Beziehung als je schon gegeben hypostasiert, und zwar als Beziehung von „Mensch“ (als In-der-Welt-Sein) und „Welt“. Welt erscheint dabei drittens als – um Sartres Rede aufzugreifen – ins Kommunikative gewendeter Nachfolgebegriff des An-sich-Seins, also als Begriff, der das An-sich-Sein als etwas fasst, insofern es sich als etwas gibt, zu dem sich das Bewusstsein je schon verhält. So konnte Sartre in der Einleitung im Kontext seines ontologischen Beweises auch leicht sagen, dass – sofern das An-sich-Sein je schon durch das Bewusstsein vorausgesetzt ist – „das Sein der Welt […] durch das Bewusstsein impliziert ist“. (2001, 27) Angesichts dieser Bemerkungen stellt sich die Frage nach dem genaueren Verhältnis von An-sich-Sein und Welt; konkreter stellen sich die Fragen, (i.) was am Begriff der Welt die gesuchte Kommunikativität und je schon gegebene Bewusstseins-Relationalität verbürgt, die dem An-sich-Sein fremd ist, und (ii.) wie sich hierbei das nichtkommunikative An-sich-Sein zum kommunikativen Sein der Welt verhält. Dazu gleich mehr. Ehedem ist noch ein weiterer Aspekt festzuhalten, der sich hier zu Sartres Weltverständnis zeigt. Denn reflektieren wir auf Sartres These, dass im In-der-Welt-Sein ein Bezug zur Welt durch „den Menschen“ je schon hergestellt ist, so ist viertens festzuhalten, dass er als auf sie Bezogener nicht in jeder Hinsicht Teil dessen ist, worauf er sich bezieht; und als auf sie Bezogener hat er auch nicht dessen Seinstyp. Das heißt: Sofern das Inder-Welt-Sein für Sartre als synthetisches Verhältnis von Mensch/Bewusstsein und Welt gefasst wird, ist es eine Struktur, die voraussetzt, dass das Bewusstsein weder Teil noch Moment oder Aspekt der Welt ist. Das Bewusstsein wird, wie Sartre sagt, viel eher „außerhalb der Totalität gelassen“ (2001, 339) und ist selbst nur „Grenze des Seins“, (2001, 339) oder, sofern Sartre die Totalität des Seins als Welt konzipiert: Grenze der Welt. Die Zugehörigkeit zur so verstandenen Welt, das genuine Innerweltlichsein (2001, 137; 211; 242; 266; 271; 282; 383; 477; 484; 500), wird daher streng vom Seinstyp des An-sich-Seins regiert: „ein Ding der Welt: das ist das objektive Faktum, von dem ich sagen kann: es ist“. (2001, 144)
9.3 Sartres negativistische Subjektphilosophie. Subjektivität als néant Der Begriff der Welt kommt für Sartre zwar zunächst im Rahmen einer deskriptiven Annäherung in den Blick. Doch ist auch sie vorläufig. Sie dient nur als Grundlage für eine Näherbestimmung der beiden in Frage stehenden Relata, die mit Sartre oben Mensch und Welt genannt wurden, ganz im Sinne von Sartres Leitfrage: „Was müssen der Mensch und die Welt sein, damit das Verhältnis zwischen ihnen möglich ist?“ Die Beschreibung fungiert als Leitfaden. Ihr
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Gegenstand ist, wie Sartre expliziert, eine beliebige menschliche Verhaltensweise, sofern diese gemäß Sartres Anspruch qua Verhaltensweise „gleichzeitig den Menschen, die Welt und das Verhältnis zwischen ihnen darbieten“ soll. (2001, 50) Sartre geht dieser Aufgabe im ersten Kapitel des Werkes nach. Ihr Ergebnis ist eine negativistische Antwort auf die Frage nach dem Sein des Menschen, die in einem ersten Schritt Subjektivität bzw. das Bewusstsein als Grundlage von Negativität versteht und diese Grundlage – Sartre setzt sich kritisch mit Heideggers Überlegungen in Was ist Metaphysik? (GA 9, 103–122) auseinander – in einem zweiten Schritt dadurch expliziert wissen will, dass bewusste Subjektivität als negative Selbstbezüglichkeit bzw. als Selbstbezug der Negativität zu verstehen und theoretisch auszuweisen ist: [W]oher kommt dann das Nichts? […] [D]as Nichts ist nicht. Wenn wir davon sprechen können, so deshalb, weil es nur einen Anschein von Sein hat, ein entliehenes Sein, wie wir oben festgestellt haben. Das Nichts ist nicht, das Nichts ‚wird geseint‘ [est été]; das Nichts nichtet sich nicht, das Nichts ‚wird genichtet‘. Also bleibt, dass ein Sein existieren muss – das nicht das An-sich sein könnte – und das die Eigenschaft hat, das Nichts zu nichten, es mit seinem Sein zu tragen, es ständig mit seiner eigenen Existenz zu stützen, ein Sein, durch das das Nichts zu den Dingen kommt. (2001, 80)
Als das „ontologische Merkmal“ des relevanten „Seins“ sei entsprechend festzuhalten: Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, muss das Nichts in seinem Sein nichten, und auch so liefe es noch Gefahr, das Nichts als ein Transzendentes innerhalb der Immanenz zu etablieren, wenn es nicht das Nichts in seinem Sein im Hinblick auf sein Sein nichtete. Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, in dem es in seinem Sein um das Nichts seines Seins geht: das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt, muss sein eigenes Nichts sein. (2001, 80)
In der Folge dieser Bestimmung wird von Sartre das Bewusstsein bzw. die realité humaine als néant gefasst. Im Deutschen wird le néant mit „das Nichts“ übersetzt; doch ist diese Übersetzung, wie schon Gadamer (1988, 46 f.) bemerkte, verkürzend, klingt bei Sartre doch das Partizip Präsens eines (ungebräuchlichen) Verbs néer mit, das – gäbe es das Verb – so viel wie „nichten“ heißen könnte. Hört man dies mit, dann ist Sartres néant ein Echo von Heideggers „nichtendem Nichts“, also von Heideggers Wendung, dass das „Nichts“ eben „nichte“; (GA 9, 114) oder, wie Sartre – nun gegen Heidegger, dafür mit Betonung des in Sartres Augen wesentlichen Selbstbezugs – festhält: „das Nichts ist nicht, es nichtet sich“. (2001, 72, Hervorh. S. N.) Sartres néant ist somit ein selbstbezüglicher pouvoir néantisant, der sich darin erschöpft, sich negativ auf Gegebenes und damit ipso facto auf sich selbst zu beziehen. Durch letzteren Aspekt eignet dem néant laut Sartre zum einen seine wesentliche Welt-Transzendenz: „Das Nichts kann nur Nichts sein, wenn
208 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik es sich ausdrücklich als Nichts von der Welt nichtet; das heißt, wenn es sich in seiner Nichtung ausdrücklich auf diese Welt hin richtet, um sich als Abweisung der Welt zu konstituieren.“ (2001, 73) Zum anderen macht dieser negative Selbstbezug das néant laut Sartre zu etwas ganz und gar Flüchtigem und begrifflich Inkommensurablem. Ein néant ist für Sartre „immer etwas anderes als das, was man von ihm sagen kann, denn zumindest ist es das, was eben dieser Benennung entgeht, was schon jenseits des Namens ist, den man ihm gibt, der Eigenschaft, die man ihm zuerkennt“. (2001, 763)
9.4 Das néant als realisierende Struktur. Sartres Gegenstandsbestimmungen Betrachten wir nun diese negativistische Subjektphilosophie und ihre Folgen für die Bestimmung des Weltphänomens etwas genauer. Sartres hierfür zentrale Überlegungen sind an zwei aus der Geschichte der Philosophie vertrauten Gedanken orientiert: Der erste Gedanke liegt in der Annahme, dass die Intentionalität des Bewusstseins eine Bezugnahme durch Selbstunterscheidung darstellt und als solche theoretisch zu explizieren ist: „[Das Bewusstsein] unterscheidet […] etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe“ (Hegel 1970, 76) heißt es etwa in Hegels Phänomenologie des Geistes, was Sartre gerne auch so sieht, um hierdurch sein Verständnis zu schärfen, was es heißt, für etwas zu sein. Der zweite von Sartre immer wieder angeführte Gedanke ist, dass Bestimmung negationstheoretisch zu explizieren ist und sich als bestimmte (und bestimmende) Negation vollzieht. Gleich mehrfach verweist Sartre darauf, dass er die „Wahrheit“ von Spinozas Gedanken „omnis determinatio est negatio“ in seiner eigenen Theoriebildung auszuweisen versuche (2001, 757; 68; 345 zum idealen Status dieser negativen Strukturen). Dass wir detaillierte negationstheoretische Überlegungen bei Sartre finden, nimmt nicht wunder. Sartre leistet sie im dritten Kapitel des ersten Teils unter der Überschrift „Die Transzendenz“; Ausgangspunkt der Analyse ist Sartres These, dass Transzendenz nichts anderes heißt als: eine „interne realisierende Negation, die das An-sich enthüllt, indem sie das Für-sich in seinem Sein bestimmt“. (2001, 336) Wo in der aktuellen analytisch geprägten Diskussion gerne die Rede davon ist, dass das Bewusstsein (s)einen Gegenstand repräsentiert (und sich dabei irgendwie selbst repräsentiert), würde Sartre, das deutet sich hier an, diese Redeweise nicht wählen, sondern viel eher sagen: Das Bewusstsein bestimmt, indem es den Gegenstand bestimmt, sich selbst als dieser Gegenstand nicht seiend. Es bestimmt ihn, wie Sartre an einer Stelle Fichte aufgreift, als Nicht-Ich; (2001, 326) und es bestimmt sich, sofern es diesen bestimmt, als das zu dessen Bestimmungen selbst radikal andere. Diesen negativen Bezug nennt Sartre Anwesenheit: „Die Anwesenheit schließt eine radikale
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Negation als Anwesenheit bei dem ein, was man nicht ist. Anwesend bei mir ist das, was nicht ich ist.“ (2001, 326) Was Sartre Transzendenz nennt, ist nun ein Komplex, der die beiden Leitgedanken, also den Gedanken der Bezugnahme durch Selbstunterscheidung und den Gedanken der negativen Bestimmung, zusammenführt. Wenn Sartre einem Kapitel die Überschrift „Die Transzendenz“ gibt, dann ist dessen Sinn und Zweck entsprechend genauer aufzeigen, „wie sich die Welt dem Für-sich enthüllt“. (2001, 396) Konkret geht es Sartre darum, welche zentralen Bestimmungen ihr und ihren Gegenständen aufgrund der negativen Struktur des Bewusstseins je zukommen; in gewisser Weise haben wir hier – Sartre verwendet dieses Wort nicht – Sartres Kategorienlehre vor uns, bei der die „Ableitungen“ der relevanten Gegenstandsbestimmungen – Sartre spricht explizit von „Deduktionen“ (2001, 360) – jeweils auf die negative Struktur des Bewusstseins verweisen. Da für Sartre in der Transzendenz sowohl eine genuin kognitive als auch eine negative Leistung des Bewusstseins in seinem Weltbezug mitschwingt, weist Sartre darauf hin, dass er in seinen Überlegungen einem wesentlichen Doppelsinn unserer Rede vom Realisieren gerecht werden zu wollen: Erkennen ist Realisieren im doppelten Sinn des Ausdrucks. Es ist machen, dass es Sein gibt, indem es die gespiegelte Negation dieses Seins zu sein hat: das Reale ist Realisierung. Diese interne realisierende Negation, die das An-sich enthüllt, indem sie das Für-sich in seinem Sein bestimmt, nennen wir Transzendenz. (2001, 336)
Damit ist nochmals unterstrichen: Unter dem Stichwort der Transzendenz verhandelt Sartre einen Komplex, in dem Erkenntnis nicht nur als Selbst- und Dingbestimmung, sondern auch als Fundierung des „dass es Sein gibt“, d. i. von Phänomenalität, aufgefasst wird. Sartres ‚Kategorientafel‘ kulminiert letztlich in folgenden Bestimmungen: Der Diesheit – Sartre spricht von der Bestimmung „Dieses“ (ceci) bzw. „Dieses-Jenes“ (ceci-cela) (2001, 353) – stellt er die Bestimmung der Totalität gegenüber, als welche er an dieser Stelle die Welt versteht; Sartre diskutiert korrelative Bestimmungen wie „das Diskontinuierliche“ gegenüber der Bestimmung „das Kontinuierliche“; (2001, 343) ferner die Bestimmung „Räumlichkeit“, (2001, 343) wobei er „Raum“ als das ideale (2001, 344) und dynamische Verhältnis des Diskontinuierlichen und des Kontinuierlichen fasst; und schließlich diskutiert er die Bestimmungen Qualität, (2001, 347 ff.) Quantität, (2001, 355) Potentialität, (2001, 358 ff.) führt dabei auch die Permanenz (2001, 358) und den Wert als „ursprüngliche Potentialitäten […], die das Dieses kennzeichnen“, (2001, 361) an – und schließlich die Bestimmung der Utensilität. (2001, 351 f.; bes. 370 ff.) Die erstgenannten Bestimmungen – er führt dies für die Bestimmung der Totalität, der Diesheit und der Räumlichkeit aus – lassen sich recht unmittelbar auf das sich verzeitlichende Bewusstsein zurückführen. Die Totalität entspricht laut Sartre negativ dem Bewusstsein als sich verzeitlichender detotalisierter Totalität:
210 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik „Die Anwesenheit des Für-sich beim Sein als Totalität kommt daher, dass das Für-sich nach dem Modus, das zu sein, was es nicht ist, und nicht das zu sein, was es ist, seine eigene Totalität zu sein hat als detotalisierte Totalität.“ (2001, 344) Die Diesheit entspricht der Tatsache, dass eine solche detotalisierte Totalität sich als présence von ihrer Zukunft und Vergangenheit unterscheidet: „Es gibt ein Dieses, weil ich meine künftigen Negationen noch nicht und meine vergangenen Negationen nicht mehr bin“. (2001, 341) Totalität und Diesheit verweisen dabei je aufeinander: „Wir müssen uns darüber klar sein, dass dieses Sein nur auf dem Anwesenheitshintergrund des ganzen Seins als dieses benannt werden kann. […] Aber umgekehrt kann sich die Totalität als interne ontologische Beziehung der ‚Dieses‘ nur in den einzelnen ‚Dieses‘ und durch sie enthüllen.“ (2001, 338) Anwesenheit vollzieht sich damit als zweifacher negativer Bezug von konkreter Negation (2001, 340 ff.) und radikaler Negation, (2001, 326; 338) die gemeinsam eine ursprüngliche Negation (2001, 328) bilden. Wird das Ineinander dieser Negationstypen dynamisch (und damit als vom Zeitbewusstein abhängig) verstanden, ergibt sich dasjenige, was Sartre Raum nennt: Als Korrelat einer detotalisierten Totalität erscheint somit die Welt als entschwindende Totalität in dem Sinn, dass sie nie reale Synthese ist; sondern ideale Begrenzung einer Kollektion von Dieses durch das nichts [rien]. Das Kontinuierliche als formale Qualität des Hintergrunds lässt also das Diskontinuierliche erscheinen als Typus der externen Beziehung zwischen dem Dieses und der Totalität. Genau dieses fortwährende Entschwinden der Totalität in einer Kollektion, des Kontinuierlichen in Diskontinuierlichem nennt man Raum. (2001, 343)
Qualität und Quantität werden von Sartre auf eine nicht weiter diskutierte „polymorphe Negation“ und eine „abstrakte Negation“ zurückgeführt; die Qualität erscheint als das „Sein des Dieses, sobald es außerhalb jeder externen Beziehung zur Welt und zu anderen Dieses betrachtet wird“; (2001, 347) die Quantität hängt von dieser In-Beziehung-Setzung ab und ist deren „reine Exteriorität“. (2001, 355) Gemeinsam ist den bislang betrachteten Bestimmungen, dass sie von der Entwurfsstruktur des Bewusstseins abstrahieren. (2001, 356) Mit dieser kommen weitere Bestimmungen ins Spiel, und zwar die der Potentialität mit Fokus auf erstens die Permanenz („Die erste Potentialität des Objekts als Korrelat des Engagements, ontologische Struktur der Negation, ist die Permanenz, die fortwährend vom Hintergrund der Zukunft zu ihm kommt.“ 2001, 358); zweitens den Wert („Die ideale Verschmelzung dessen, was mangelt, mit dem, dem das Mangelnde mangelt, als unrealisierbare Totalität, sucht das Für-sich heim und konstituiert es in seinem Sein selbst als Seins-Nichts. Es ist, sagten wir, das Ansich-für-sich oder der Wert.“ 2001, 360) und als besondere Form der Potentialität (2001, 368) drittens die Utensilität, die Sartre als „ins An-sich projizierte Bild meiner Möglichkeiten, das heißt dessen, was ich bin“ (2001, 370) fasst. Dabei betont Sartre, dass diese Bestimmungen zwar in seiner Ausführung, nicht jedoch
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in der Sache nachgeordnet sind. (2001, 366) Sartres Reflexion auf die Bestimmungen schließt mit Überlegungen zur Weltzeit.
9.5 Das néant und Sartres Weg zwischen Realismus und Idealismus Angesichts der Interdependenz der Strukturmomente von Welt und Innerweltlichem einerseits und der Struktur des Bewusstseins andererseits gilt für Sartre, dass die Welt jederzeit ein Bild von dessen Verfasstheit an die Hand gibt: „Durch die Welt lässt sich das Für-sich sich selbst als detotalisierte Totalität anzeigen, was bedeutet, dass das Für-sich allein durch sein Auftauchen Enthüllung des Seins als Totalität ist, insofern das Für-sich seine eigene Totalität nach dem detotalisierten Modus zu sein hat.“ (2001, 339) Da die Welt auf die Strukturen des Für-sich verweist, kann sie, wie Sartre betont, unmöglich „Unmenschliches“ (2001, 917) enthalten. Für die so fundierten Strukturen der Welt heißt dies, dass sie dem bewusstseinsunbedürftigen An-sich-zufällig sind. Entsprechend sind diese Bestimmungen für Sartre zwar objektiv und Bestimmungen der (erscheinenden) Gegenstände; dennoch haben sie nur virtuellen Status. Sie seien „substantialisierte Nichtse“, die „das reine Sein, das sich durch sie enthüllt, in nichts modifizieren“. (2001, 398) Was durch die Bestimmungen geleistet werde, sei nur „ein ideales Umrühren der Dinge […], das sie völlig intakt lässt, ohne sie um ein Jota reicher oder ärmer zu machen“. (2001, 356) Dem An-sich radikal äußerlich, zeigen sie nur – gemessen am An-sich-Sein freilich, nicht am Für-sich-Sein – „die unendliche Verschiedenheit der Weisen an […], in denen die Freiheit des Für-sich die Indifferenz des Seins realisieren kann.“ (2001, 356) Wenn Sartre hier von der „unendlichen Verschiedenheit der Weisen“ redet und von der „Indifferenz“ des An-sich-Seins gegenüber seinem Realisiert-Werden und Erkannt-Werden, bringt er zum Ausdruck, dass für ihn zwar die Bestimmungsstruktur der Welt – angesichts der Tatsache, dass sie nur eine Funktion der negativen Struktur des Für-sich-Seins ist – gemessen am Für-sich-Sein nicht kontingent ist, sondern aus der Natur des Für-sich-Seins abgeleitet werden kann, dass sie aber dem An-sich-Sein als eine kontingente Systematisierung zukommt, gegenüber der das An-sich-Sein selbst jederzeit indifferent ist. Die Befürchtung, dass damit das An-sich-Sein nicht erkannt wird, wie es wirklich ist, will Sartre indes dennoch nicht gelten lassen. Sie sei vor dem Hintergrund der Sorge formuliert, die Erkenntnis erreiche das Reale letztlich nicht wirklich oder sie verkenne es systematisch. Doch das von Sartre skizzierte An-sich-Sein ist nicht etwas, was hinter den erkannten Gegenständen als ein (noch) unerkannter und für einen anderen Modus des Erkennens erkennbarer Quasi-Gegenstand steht oder etwas, das von einem weniger „begrenzten“ Erkennen zum Gegenstand gemacht werden könnte. An-sich-Sein ist nur der Seinsmodus des de facto der Erkenntnis zugänglichen, sofern das erkennende Subjekt in seiner Erkennt-
212 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik nis derartiges in seinem Sein voraussetzt. Entsprechend versucht Sartre zu beruhigen: Es handelt sich hier weder um einen Skeptizismus, – der gerade voraussetzt, daß das so wie es ist dem Sein angehört – noch um einen Relativismus. Die Erkenntnis konfrontiert uns mit dem Absoluten; und es gibt eine Wahrheit der Erkenntnis. Aber diese Wahrheit bleibt, obwohl sie uns nichts mehr und nichts weniger als das Absolute liefert, strikt menschlich. (2001, 400)
Hier zeigt sich, welche Pointe Sartre mit seiner negativistischen Konzeption des Bewusstseins zu verbuchen beansprucht. Indem es selbst seinem Seinstypus nach – gemessen an der ontologischen Robustheit und Selbstständigkeit des An-sich-Seins – flüchtig ist und (als Bewusstsein freilich!) nicht auf die Welt einwirken kann, hofft Sartre, die relevanten „Leistungen“ des Bewusstseins als konservative Projektionen fassen zu können, die schon aufgrund der ontologischen Struktur das transphänomenale An-sich-Sein nicht modifizieren. Aufgrund der ontologischen Struktur des Bewusstseins kommt, wie Sartre meint, in seiner Anwesenheit recht wörtlich N/nichts zum Realen hinzu: „denn mein Auftauchen in der Welt als reine Seinsnichtung hat nur die Wirkung, dass es Dinge gibt, und fügt dem nichts hinzu“. (2001, 942) Es herrscht somit laut Sartre bei der Erkenntnis eine „reine Einsamkeit des Erkannten“: Durch [das bestimmende und sich dabei bestimmende Bewusstsein] wird das Sein nicht bereichert, denn die Erkenntnis ist reine Negativität. Sie macht nur, dass es Sein gibt. Aber dieses Faktum, ‚dass es Sein gibt‘, ist keine interne Bestimmung des Seins, das das ist, was es ist, sondern der Negativität. (2001, 335)
Sartre selbst betrachtet die radikale kausale Ohnmacht, die das Bewusstsein als bloßes néant hat, als wesentlichen Aspekt seines theoretischen Realismus. Dennoch – und das ist die Kehrseite, die uns auf die Frage nach dem Verhältnis von Welt und An-sich-Sein zurückverweist – hält er daran fest, dass dem An-sichSein eine Umwälzung (bouleversement) durch das Für-sich-Sein geschehe, wodurch allererst „Welt“ werde: „das Für-sich erscheint als eine winzige Nichtung, die innerhalb des Seins ihren Ursprung hat; und diese Nichtung genügt, damit dem An-sich eine totale Umwälzung geschieht. Diese Umwälzung ist die Welt.“ (2001, 1056) Das heißt: Der absolute Akt des Einbruchs des Für-sich-Seins ist für Sartre eine Bedingung der Emergenz von Phänomenalität und damit von „Welt“ als einer organisierten Struktur von Phänomenalität: „‚Es gibt‘ Sein, weil das Für-sich so ist, dass es Sein gibt. Der Phänomencharakter geschieht dem Sein durch das Für-sich.“ (2001, 1059) Oder mit anderen Worten: ‚Es gibt‘ Sein, weil ich Negation des Seins bin, und die Weltlichkeit, die Räumlichkeit, die Quantität, die Utensilität, die Zeitlichkeit kommen zum Sein nur, weil ich Negation des Seins bin, sie fügen dem Sein nichts hinzu, sie sind reine genichtete Bedingungen des ‚Es gibt‘, sie realisieren das Es gibt nur. Aber diese Bedingungen, die nichts sind, trennen mich radikaler vom Sein, als prismatische Deformationen es tun würden, in denen ich
Simone Neuber 213 es noch zu entdecken hoffen könnte. Zu sagen, dass es Sein gibt, ist nichts, und doch ist es das Vollziehen einer totalen Metamorphose, denn Sein gibt es nur für ein Für-sich. (2001, 399)
Wie genau diese Umwälzung zu verstehen ist, bleibt dunkel. Klar aber ist, dass Sartre mit seiner eben knapp exponierten Reflexion im Kapitel Die Transzendenz den Anspruch erhebt, der ontologischen Signifikanz der Rede von der Intentionalität des Bewusstseins nachzukommen, (2001, 325) um gleichzeitig durch den Nachweis der Korrelation von Gegenstandsbestimmung und durch sie geleisteter Selbstbestimmung (bzw. Qualifikation) des Bewusstseins einen naiven Realismus als auch einen schlechten Idealismus zu überwinden. Mit Ersterem meint Sartre eine Position, die Gegenständlichkeit als schlechthin gegeben erachtet und sie nicht als wesentliches Nicht-Ich versteht; mit Letzterem meint Sartre eine Position, die ein ontologisch unabhängiges und selbstständiges Bewusstsein hypostasiert, von dem das Reale abhängig ist. Sartres eigener Weg ist seinem Selbstverständnis nach also ein Weg zwischen Idealismus und Realismus; und dieser kreist wesentlich um den Gedanken: „Das Für-sich ist ein Sein, für das sein Sein in seinem Sein in Frage steht, insofern dieses Sein wesenhaft eine gewisse Weise ist, ein Sein nicht zu sein, das es zugleich als anderes als es setzt.“ (2001, 327)
9.6 Sartres „Freiheit“ Ist Sartres Bewusstsein nicht derart verfasst, etwas zum An-sich-Sein beitragen zu können, so ist es ebensowenig von einer Struktur, auf die An-sich-Seiendes einwirken könnte: „Wir haben gesehen, dass sein für die menschliche-Realität sich wählen ist: nichts geschieht ihr von außen und auch nicht von innen, was sie empfangen oder annehmen könnte.“ (2001, 765) So sehr das Bewusstsein zwar auf das An-sich-Sein als seinen Sinn verweist, so verweist es nicht auf dieses als seine Ursache; es ist viel eher in seinem negativen Selbstbezug (2001, 174) durch sich (2001, 157) und in dieser Hinsicht radikale Spontaneität, die sich stets von der Welt losreißt. Genau durch dieses Sich-Losreißen aber qualifiziere sich das Bewusstsein nun als radikale Freiheit: Ein bestimmtes Existierendes aus dem Kreislauf herausnehmen heißt für sie sich selbst aus dem Kreislauf gegenüber diesem Existierenden herausnehmen. In diesem Fall entgeht sie ihm, ist außer Reichweite, es kann nicht auf sie einwirken, sie hat sich jenseits eines Nichts zurückgezogen. Dieser Möglichkeit der menschlichen Realität, ein Nichts abzusondern, von dem sie isoliert wird, hat Descartes, nach den Stoikern, einen Namen gegeben: Freiheit. (2001, 84)
Die so geartete „Freiheit“ ist für Sartre keine Eigenschaft, die man dem Bewusstsein bzw. dem Subjekt zuschreiben oder absprechen könnte. Sie ist identisch
214 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik mit der Struktur des (Selbst-)Bewusstseins in seinem negativen Selbstbezug. In der Folge kann Sartre die obigen Strukturmomente freilich auch als Strukturmomente der Freiheit betrachten und so nicht nur sagen, dass das Bewusstsein Grundlage der Strukturen der Welt ist, sondern auch, dass die Freiheit Grundlage der Welt ist ist – oder, mit Sartre gesprochen: „[D]ie Freiheit ist die Grundlage aller Wesenheiten, weil der Mensch die innerweltlichen Wesenheiten enthüllt, indem er die Welt auf seine eigenen Möglichkeiten hin überschreitet.“ (2001, 761 f.) Weil jedoch Sartre nicht nur sagen kann, dass Welt durch das Bewusstsein, sondern auch durch Freiheit entspringt, ist das Subjekt je schon mit einer – wie er schreibt – „drückenden“ Verantwortung für die Welt beladen: „denn vom Augenblick meines Auftauchens zum Sein an trage ich das Gewicht der Welt für mich ganz allein, ohne dass irgend etwas oder irgend jemand es erleichtern könnte“: (2001, 953) In diesem Sinn ist die Verantwortlichkeit des Für-sich drückend, weil es das ist, wodurch geschieht, dass es eine Welt gibt; und weil das Für-sich auch das ist, das sich sein macht, muss es, was immer die Situation ist, in der es sich befindet, diese Situation gänzlich annehmen mit ihrem eigenen Widrigkeitskoeffizienten, und sei sie auch unerträglich; es muss sie annehmen mit dem stolzen Bewusstsein, ihr Urheber zu sein, denn die schlimmsten Übel oder die schlimmsten Gefahren, die meine Person zu treffen drohen, haben nur durch meinen Entwurf einen Sinn; und sie erscheinen auf dem Hintergrund des Engagements, das ich bin. (2001, 950)
Aufgrund dieser Konzeption einer absoluten Freiheit wird Sartre typischerweise als radikaler Inkompatibilist bzw. Indeterminist (O’Connor 2016), als Libertarianer bzw. als Vertreter eines absoluten (inkompatibilistischen) Freiheitsbegriffs (Bojanowski 2006, 5 f.) bezeichnet.
9.7 Möglichkeiten und die Welt im „Selbstheitszirkel“ Wirft man einen Seitenblick auf Sartres frühere Überlegungen zum Imaginären – genauer: zum Traum und zur, lose gesprochen, Welt des Traumes –, so zeigt sich, dass der für ihn relevante Gegenbegriff der Freiheit nicht der Begriff der (kausalen) Determiniertheit ist, sondern dasjenige, was Sartre „Fatalität“ nennt; und „Fatalität“ ist nun ein Sachverhalt, den Sartre genau (und nur) durch das Traumbewusstsein exemplifiziert sieht. Dieses zeige sich nämlich „gegen alle Erwartungen als eine Welt ohne Freiheit: sie ist auch nicht determiniert, sie ist die Kehrseite der Freiheit, sie ist fatal“. (1994, 270) Warum die Traumwelt eine Welt ohne Freiheit ist, macht Sartre daran fest, dass sie nicht erlaube, Möglichkeiten als eben solche zu repräsentieren. Was laut Sartre geträumt wird, wird als Vorgestelltes schon real-im-Traum: „Es gibt in einer imaginären Welt keinen Traum von Möglichkeiten“. (1994, 269) „Jedes Voraussehen von einem
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gegebenen Moment der Geschichte aus wird durch die Tatsache selbst, dass es erscheint, eine Episode der Geschichte“; das „Bewusstsein kann keinen Abstand von seinen Imaginationen einnehmen“. (1994, 269) Doch für Sartre ist das, was wir ‚Traumwelt‘ nennen mögen, nicht nur der Inbegriff des Fatalen; eine Traumwelt ist auch nur unter Vorbehalt Welt. In Das Imaginäre (1940) begründet Sartre dies durch den Mangel „leerer Intentionen […], die sich auf sie [d. i. die Welt] richten vom zentralen Bild her“: (1994, 266) es gibt keine imaginäre Welt […] die Welthaltigkeit des Traumbildes besteht nicht in einer Unendlichkeit von Beziehungen, die es zu anderen Bildern unterhielte. Es handelt sich einfach um eine immanente Eigenschaft des Traumbildes; es gibt ebenso viele ‚Welten‘ wie Bilder, selbst wenn der Schlafende, indem er von einem Bild zu einem andern übergeht, ‚träumt‘, dass er in der gleichen Welt bleibt. Man müsste also zutreffend sagen: im Traum umgibt sich jedes Bild mit einer Atmosphäre von Welt. Aber der Einfachheit halber verwenden wir den üblichen Ausdruck ‚Welt des Traumes‘, wobei wir aber davor warnen, ihn ohne Vorbehalte zu übernehmen. (1994, 266)
In Das Sein und das Nichts würde Sartre seiner Antwort einen anderen, wenn auch verwandten, Akzent verleihen, um weniger auf Leerintentionen als darauf zu verweisen, dass Welt und alles, was „Sinn als Welt“ (2001, 215) hat, nichts ist, was ohne Präsentation von Möglichkeiten auskommt. Die Rede von einer Welt ohne Freiheit wird für Sartre nun zum offenkundigen Widerspruch. Und damit gilt freilich nicht nur, dass die sich in der Gegebenheit von Möglichkeiten spiegelnde Freiheit in Das Sein und das Nichts die Jemeinigkeit der Welt fundiert („Die Welt [ist] meine weil sie von Möglichkeiten heimgesucht ist, von denen Bewusstseine die möglichen Bewusstseine [von] sich sind, die ich bin“) die Freiheit ist auch selbst kriterial für den Weltcharakter: „diese Möglichkeiten als solche geben ihr ihre Einheit und ihren Sinn als Welt.“ (2001, 214 f.) Dass Sartre vorher die Bestimmungen der Potentialität und vor allem der Utensilität neben Qualität und Quantität als wesentliche Dingbestimmungen anführte, zeigt hier seine Signifikanz. Die Welt ist nicht eine beliebige Totalität von Objekten, sondern „die Totalität des Seins, insofern sie vom Zirkel der Selbstheit durchschritten wird“. (2001, 211) Was Sartre mit einem Zirkel der Selbstheit meint, ist der „Bezug des Für-sich zum Möglichen, das es ist“. (2001, 210) Die Welt und die sich im Horizont von Möglichkeiten verstehende bzw. entwerfende Subjektivität, also die Selbstheit, verweisen deshalb aufeinander: „Ohne Welt keine Selbstheit, keine Person; ohne die Selbstheit, ohne die Person keine Welt.“ (2001, 214) Beide verweisen weiter auf einen existenziellen Möglichkeitsbegriff, der Möglichkeit als ontologischen Aspekt des Für-sichSeins versteht: „Es gibt Möglichkeit, wenn ich, statt schlicht und einfach das zu sein, was ich bin, wie das Recht bin, das zu sein, was ich bin.“ (2001, 206) „Jedes Bemühen, das Mögliche von einer Subjektivität her auszumachen, die das wäre, was sie ist, das heißt, die sich über sich schlösse, ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt“. (2001, 206)
216 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik
9.8 Handeln Als „Grundstruktur des Möglichen“ (2001, 206) bzw. als Grundcharakter seines existenziellen Möglichkeitsbegriffs hält Sartre ein „Recht auf das Reale“ (2001, 206) fest. Subjektivität ist damit erstens einem Anspruch auf Selbst-Verwirklichung unterworfen; gleichzeitig findet sie sich zweitens – das ist ein Reflex der Bestimmung der Potentialität und Utensilität – in einer von Wirklichkeitsrechten, Wirklichkeitsansprüchen und Aufforderungscharakteren bevölkerten Welt wieder, die nach Realisierung verlangen. Und so ist Sartres Subjekt wesentlich handelnd: „Der Gesichtspunkt der reinen Erkenntnis ist widersprüchlich: es gibt nur den Gesichtspunkt der engagierten Erkenntnis. Das heißt, daß Erkenntnis und Handeln nur zwei abstrakte Seiten einer ursprünglichen und konkreten Beziehung sind.“ (2001, 547) Dass Subjektivität wesentlich handelnd ist und jede Erkenntnis wesentlich engagiert ist, bringt Sartre nun wiederum mit zwei Abstraktheiten der beiden zunächst betrachteten Seinsytpen in Verbindung, bzw. mit einem gewissen Mangel, der ihnen beiden anhaftet. Denn obschon das An-sich-Sein des Fürsich-Seins ontologisch unbedürftig ist, hat es ein Defizit, nämlich das Defizit seiner radikalen Kontingenz. Für Sartre kommt erst durch das Für-sich-Sein jeder mögliche Grund auf. Das An-sich-Sein ist für Sartre also wesentlich grundlos und dergestalt, zumindest ex post aus Perspektive eines nach Begründung strebenden Bewusstseins, mangelhaft. Das Für-sich-Sein ist nun zwar einerseits hinsichtlich seiner Faktizität genau von dieser Grundlosigkeit affiziert; allerdings fasst Sartre es gleichzeitig in seinem negativen Selbstbezug als zwar seinsohnmächtige und von einem „Seinsmangel“ affizierte, dennoch selbstbegründende causa sui – und eben überhaupt etwas, was in seinem Sein nach Rechtfertigung strebt; vor allem nach Rechtfertigung seiner kontingenten Faktizität. Und genau dieser Wunsch nach Rechtfertigung nun treibt in Sartres Augen das Subjekt dazu, das An-sichSein zu modifizieren und handelnd mit Für-sich-Sein „zu affizieren“, um es zu begründen; und es treibt das Für-sich-Sein andererseits dazu, sich das An-sichSein anzueignen, um seinen Seinsmangel, den es als bloßes néant hat, freilich per impossibile, durch Aneignung zu tilgen. Hinsichtlich beider Motivationen – Sartre erwägt sogar als metaphysische These, dass das Für-sich-Sein aus dem An-sich-Sein aufgrund von dessen Streben nach Selbstbegründung emergiere – wird das Für-sich-Sein zur Modifikation der Welt durch Handeln getrieben, mit dem steten Ziel, die relativen Mängel der beiden Seinsregionen durch eine angestrebte Synthese zu kompensieren: Das Für-sich ist eine Wahl-Begegnung, das heißt, es definiert sich als Wahl, das Sein zu begründen, dessen Begegnung es ist. Das bedeutet, dass das Für-sich als individuelles Unternehmen Wahl dieser Welt als individueller Seinstotalität ist; es überschreitet sie nicht auf eine logische Universalität, sondern auf einen neuen konkreten ‚Zustand‘ derselben Welt hin, in dem das Sein durch das Für-sich begründetes An-sich wäre, das
Simone Neuber 217 heißt, es überschreitet sie auf ein konkretes-Sein-jenseits-des-existierenden-konkretenSeins hin. Das In-der-Welt-sein ist also Entwurf, diese Welt zu besitzen, und der Wert, der das Für-sich heimsucht, ist die konkrete Anzeige eines individuellen Seins, das durch die synthetische Funktion dieses Für-sich und dieser Welt konstituiert ist. Denn wo immer das Sein ist, woher es kommt und wie man es betrachtet, ob es An-sich oder Für-sich ist oder das unmögliche Ideal des An-sich-Für-sich, es ist in seiner primären Kontingenz ein individuelles Abenteuer. (2001, 1024)
9.9 Das Subjekt als Innerweltliches Betrachtet man es in seinem seinem bloßen Bezug und damit abstrakt, ist Sartres Subjekt „Grenze des Seins“ (2001, 339) bzw. Grenze der Welt, so dass es „außerhalb der Totalität gelassen“ wird. (→ 9.2) Doch gibt es Dimensionen, hinsichtlich deren das Subjekt auch innerweltlich ist. Und sofern die Innerweltlichkeit nur dem, was an-sich ist, zukommt, hängt diese Innerweltlichkeit von distinkten Objektivierungen ab, die das Subjekt in Sartres Augen autonom nicht leisten kann. Da also Innerweltlichkeit bei Sartre von Objektivierung abhängt und der Selbstbezug des Bewusstseins als nichtobjektivierendes Selbstverhältnis verstanden wird, ist diese Dimension der Objektivierung eine, die dem Bewusstsein in seinem ursprünglichen Selbstverhältnis entgeht. Um diese Dimension zu realisieren, ist es daher auf objektivierende Mitsubjekte angewiesen, die ihrerseits freilich wiederum nur ihre Mitsubjekte und nicht sich selbst ursprünglich objektivieren. Sartre fundiert damit also die Innerweltlichkeit des bei der Welt aus sich heraus bloß anwesenden Für-sich-Seins in der Intersubjektivität. Indem das Fürsich-Sein in den Augen der Anderen objektiviert wird, hört es auf, nur etwas zu sein, was „immer etwas anderes [ist] als das, was man von ihm sagen kann, denn zumindest ist es das, was eben dieser Benennung entgeht, was schon jenseits des Namens ist, den man ihm gibt, der Eigenschaft, die man ihm zuerkennt“. (2001, 763) In ihren Augen stellt sich Subjektivität viel eher als etwas dar, was Eigenschaften bindet: sowohl physische Eigenschaften („Peter ist 180 cm groß und wiegt 75 kg“) als auch mentale („Peter zweifelt daran, dass Sartres Freiheitskonzeption überzeugend ist“) als auch charakterliche Eigenschaften („Peter ist ein guter Freund“). Für Sartre wird Intersubjektivität dabei zu einer zweischneidigen Sache. Denn einerseits versucht er, durch diese Konzeption einem transzendentalen Solipsismus zu entgehen, indem er die Möglichkeit eines Gedankens der Form „ich denke“ wesentlich an Intersubjektivität zurückbindet; gleichzeitig betrachtet er diese Perspektive als die „der totalen Entfremdung meiner Person“ (2001, 903) und als Grundlage einer unreinen Reflexion bzw. einem Leben in Unaufrichtigkeit. In der (nach Sartre zunächst und zumeist vorherrschenden und nur durch eine reine Reflexion zu überwindenden) unreinen Reflexion übernimmt das Subjekt nämlich diese entfremdende Perspektive und versteht sich selbst als
218 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik Ding und Innerweltliches, ein Modus des Selbstbezugs, der für Sartre sowohl den Alltag als auch jede das Subjekt reifizierende philosophische Theoriebildung regiert. In ihr, so Sartre, regiere der „Geist der Ernsthaftigkeit“: Jedes ernsthafte Denken wird so durch die Welt verdickt, es gerinnt; es ist eine Abdankung der menschlichen Realität zugunsten der Welt. Der ernsthafte Mensch ist ‚von der Welt‘ und hat keinerlei Zuflucht mehr zu sich; er erwägt nicht einmal mehr die Möglichkeit, die Welt zu verlassen, denn er hat sich selbst den Existenztypus des Felsens, die Konsistenz, die Inertheit, die Opazität des Innerweltlich-seins gegeben. (2001, 994)
Sartres am Ende des Werkes entworfene existenzielle Psychoanalyse zielt unter anderem darauf, auch diese Entfremdung aufzudecken und zu korrigieren.
9.10 Das Ideal des An-sich-Für-sich und Sartres Anti-Theologie Die Idee Gottes ist für Sartres Theorie insofern zentral, als er sie als „die unmögliche Synthese des Für-sich und des An-sich“ (2001, 190) versteht, deren bloß projiziertes Sein sich darin erschöpfe, als angestrebtes Sein die Entwurfsstruktur des Subjekts zu orientieren: „Menschsein heißt danach streben, Gott zu sein, oder, wenn man lieber will, der Mensch ist grundlegend Begierde, Gott zu sein.“ (2001, 972) „Gott“ ist dabei verstanden als „das Ideal eines Bewusstseins, das Grund seines eigenen An-sich-seins wäre durch das bloße Bewusstsein, das es von sich selbst gewönne“, (2001, 971) ein Ideal, das alle Entwürfe auf Mögliches und alle anscheinenden Möglichkeiten präfiguriert: „das Mögliche [wird] überhaupt als das entworfen, was dem Für-sich mangelt, um An-sich-für-sich zu werden“. Für Sartre zementiert diese Entwurfsstruktur ein notwendig „unglückliches Bewusstsein“, (2001, 190 f.) da hier ein unerreichbares Ideal angestrebt werde und die Freiheit sich gerade nicht selbst als Grund und als Ziel setze. Entsprechend resümiert Sartre: Jede menschliche Realität ist direkter Entwurf, ihr eigenes Für-sich in An-sich-Für-sich umzuwandeln, und zugleich Entwurf zur Aneignung der Welt als Totalität von An-sichsein in der Art einer grundlegenden Qualität. Jede menschliche-Realität ist eine Passion, insofern sie entwirft, zugrunde zu gehen, um das Sein zu begründen und zugleich damit das An-sich zu konstituieren, das als sein eigener Grund der Kontingenz entgeht, das ens causa sui, das die Religionen Gott nennen. So ist die Passion des Menschen die Umkehrung der Passion Christi, denn der Mensch geht als Mensch zugrunde, damit Gott geboren werde. Aber die Gottesidee ist widersprüchlich, und wir gehen umsonst zugrunde; der Mensch ist eine nutzlose Passion. (2001, 1051)
9.11 Metaphysik Sartre versteht seine Analyse, wie der Untertitel des Buches bereits erhellt, als Versuch einer phänomenologischen Ontologie – indes gerade nicht als einen Ver-
Simone Neuber 219
such in dem, was er unter Metaphysik versteht. Die Ontologie ist für Sartre nämlich eine streng deskriptive Wissenschaft, die sich hinsichtlich dieses Aspekts der (deskriptiven) Phänomenologie zuneigt. Ontologie leiste nichts anderes als „die Beschreibung der Strukturen eines Seins“. (2001, 1059) Die Metaphysik hingegen überschreitet in Sartres Augen die Schranken der Deskription und leistet, sofern orientiert an der Warum-Frage, „die Erklärung eines Ereignisses“. (2001, 1059) Sie habe daher einen hypothetischen Charakter: „Der Metaphysik kommt es zu, die Hypothesen aufzustellen“. (2001, 1061) Legitimation erhielten ihre Hypothesen aber nicht unabhängig von den Ergebnissen der Ontologie, sondern einzig dadurch, dass sie dazu dienten, die Strukturbeschreibungen der Ontologie zu erhellen und vor allem: zu vereinheitlichen. Von den Hypothesen gilt daher: „Ihre Gültigkeit wird allein darin liegen, ob sie uns die Möglichkeit bieten, die Gegebenheiten der Ontologie zu vereinigen.“ (2001, 1061) Die Metaphysik setzt bei Sartre also die Ontologie voraus. Sartres Ontologie ist mit Bezug auf die beiden Seinstypen streng dualistisch, was zum Ende der Einleitung zu einer Reihe von Fragen Anlass gab, unter anderem zur Frage nach der möglichen Verbindung zwischen ihnen, welche, wie Sartre meint, eine tiefere Analyse der beiden Seinstypen erfordere und Sartre mit der Analyse des Bewusstseins beantwortet wissen wollte. Dieses nun sei in seiner Negativität dieses Verhältnis: „das Für-sich und das An-sich sind durch eine synthetische Verbindung vereinigt, die nichts anderes ist als das Für-sich selbst.“ (2001, 1055) Doch die Abhängigkeit ist einseitig. Das An-sich-Sein ist des Für-sich-Seins unbedürftig; dass es Bewusstsein gibt, ist ihm zufällig. Für das nach seinem eigenen Grund fragende Bewusstsein heißt dies nun, dass es sich zwar hinsichtlich seiner negativen Struktur als Spontaneität und causa sui (wie Sartre meint: in der Angst, 2001, 109) erschlossen ist; es heißt aber auch, dass es sich hinsichtlich seines faktischen Vorkommens (wie Sartre meint: im Ekel) als grundlos (gratuit) erfasst: Es „erfasst sich als für nichts da seiend, als zu viel.“ (2001, 180) Damit aber hat es sich in Sartres Augen schon auf die Frage nach seinem Grund hin entworfen; und somit ist dem Bewusstsein eine ursprüngliche Tendenz zur Metaphysik zuzuschreiben; sie kulminiert in Fragen wie: „Warum taucht das Für-sich vom Sein her auf ?“ (2001, 1058) Jede legitime Metaphysik hat damit für Sartre eine genetische Dimension: [D]ie Metaphysik muss […] versuchen, Natur und Sinn dieses vorhistorischen Prozesses und Ursprungs jeder Geschichte zu bestimmen, der die Verknüpfung des individuellen Abenteuers (oder der Existenz des An-sich) mit dem absoluten Ereignis (oder Auftauchen des Für-sich) ist. Vor allem fällt dem Metaphysiker die Aufgabe zu, zu entscheiden, ob die Bewegung ein erster ‚Versuch‘ des An-sich ist, sich zu begründen, und welches die Beziehungen der Bewegung als ‚Krankheit des Seins‘ zum Für-sich als tiefere und bis zur Nichtung getriebene Krankheit sind. (2001, 1061)
Eine so geartete Metaphysik ist für Sartre sowohl aus der Natur des Für-sich folgend als auch durch diese legitimiert: „Das Für-sich ist ja so, dass es das Recht
220 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik hat, sich zu seinem eigenen Ursprung zurückzuwenden. Das Sein, durch das das Warum in das Sein kommt, hat das Recht, sich sein eigenes Warum zu stellen, weil es selbst eine Frage, ein Warum ist.“ (2001, 1059) Doch auch eine zweite Frage drängt sich für eine an seine Ontologie anknüpfende Metaphysik auf, und zwar die Frage nach der Einheit des die Seinstypen vereinigenden Seins, also nach jener Totalität, die Sartre in Anlehnung an „die Griechen“ (2001, 1062) nicht als τὸ πᾶν, sondern als τὸ ὅλον fassen will. Unter Letzterer versteht Sartre eine „Totalität […], die durch die kosmische Realität und durch die sie umgebende unendliche Leere konstituiert wurde“ und die nicht nur „die kosmische Realität“ selbst sei. (2001, 1062) Doch auch wenn sich die zweite „metaphysische“ Frage, also die nach der Totalität, nicht minder als die genetische Frage stellt, liegt für Sartre in ihr ein doppeltes Problem, das sich aus seiner Bestimmung der beiden Seinsytpen ergibt. Zum einen nämlich stelle sich die Frage nach der widerspruchsfreien Definition der Totalität: „[W]elche Definition kann man von einem Existierenden geben, das als An-sich das ist, was es ist, und als Für-sich das ist, was es nicht ist?“ (2001, 1063) Zum anderen konzediert Sartre, dass der gesuchte Totalitätsbegriff mit der ontologischen Selbstständigkeit des An-sich-Seins unverträglich scheint. Für eine Totalität gelte nämlich: „die Verschiedenheit seiner Strukturen muss in einer synthetischen Einheit zusammengehalten sein, so dass jede von ihnen, gesondert betrachtet, nur ein Abstraktum wäre.“ (2001, 1063) In seiner Ontologie operierte Sartre seinerseits freilich mit einer Totalität: Das primäre Wohin aller Entwürfe und Organisationsprinzip von Welt war ihm das oben schon betrachtete An-sich-für-sich-Sein, das er im Sinne einer ens causa sui konzipierte und daher als „Gott“ fassen konnte. (→ 9.10) Sofern sie dergestalt durch eine Totalität, wenn auch nur eine projektive, orientiert ist, gibt Sartres eigene Ontologie je schon eine Als-ob-Metaphysik an die Hand: „Alles geschieht so, als wenn die Welt, der Mensch und der Mensch-inder-Welt nur einen ermangelten [manqué] Gott realisieren könnten. Alles geschieht also so, als wenn sich das An-sich und das Für-sich in bezug auf eine ideale Synthese im Zustand der Desintegration darböten“. (2001, 1064) Von einer „Synthese im Zustand der Desintegration“ redet Sartre dabei, weil „die Integration [niemals] stattgefunden [hat], sondern gerade im Gegenteil, weil sie immer angezeigt wird und immer unmöglich ist“. (2001, 1064) Doch bleibt die ausgeführte Quasi-Metaphysik ohne Erklärungsansprüche und unterscheidet sich darin eben von dem, was in Sartres Augen „echte“ Metaphysik wäre: Für die Ontologie sind die einzigen aufklärbaren Seinsregionen die des An-sich, des Fürsich und die ideale Region der causa sui. Für sie bleibt es einerlei, ob sie das mit dem An-sich verknüpfte Für-sich als eine deutliche Dualität oder als ein desintegriertes Sein betrachtet. Die Metaphysik hat zu entscheiden, ob es für die Erkenntnis (zumal für die phänomenologische Psychologie, die Anthropologie usw.) günstiger ist, von einem Sein zu handeln, das wir Phänomen nennen und das mit zwei Seinsdimensionen versehen
Simone Neuber 221 wäre, der Dimension An-sich und der Dimension Für-sich (unter diesem Gesichtspunkt gäbe es nur ein Phänomen: die Welt) […] oder ob es trotz allem vorzuziehen bleibt, die alte Dualität ‚Bewusstsein – Sein‘ beizubehalten. (2001, 1067)
Jean‑Paul Sartre Geboren 1905 in Paris, gestorben 1980. Sartre absolvierte 1926 mit Erfolg die Aufnahmeprüfung für die École Normale Supérieure, wo er während des Studiums unter anderem seine intellektuelle Gefährtin, Simone de Beauvoir, kennenlernte. Nach dem Studium wirkte er zunächst als Gymnasiallehrer in Le Havre, Rouen und Neuilly. 1933 erhielt Sartre, der schon als Kind Deutsch lernte, ein Stipendium für das Berliner Institut Français, um dort ein Jahr zu verbringen und sein zuvor entdecktes Interesse unter anderem an der Phänomenologie Husserls und Heideggers zu vertiefen. 1939 wurde Sartre zum Kriegsdienst eingezogen. 1940 gerät er in Kriegsgefangenschaft, aus der er nach neun Monaten entlassen wird, um nach Paris zurückzukehren und sich zunehmend politisch zu engagieren. Neben Romanen wie La Nausée (1938) verfasste er frühe philosophische Texte wie L’Imaginaire (1940), L’Imagination (1936) oder La Transcendence de l’Ego (1936/37), die von seiner Auseinandersetzung unter anderem mit Husserl zeugen. Sein erstes Hauptwerk Das Sein und das Nichts erschien 1943, sein zweites großes Hauptwerk Kritik der dialektischen Vernunft 1959, umringt von zahlreichen Dramen und den nicht zuletzt seine existenzielle Psychoanalyse implementierenden Schriften zur Literatur. 1964 lehnte Sartre den Nobelpreis für Literatur ab. Bereits vor seinem Tod ist er eine intellektuelle Kultfigur. Sein Trauerzug wurde von 50.000 Menschen begleitet. (Kampits 2004, 11, 165 f.)
Literatur Sartre, Jean-Paul (2001), Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übers. v. Hans Schöneberg, Hamburg. – (1994), Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft (Gesammelte Schriften I), übers. v. Hans Schöneberg, überarbeitet von Vincent von Wroblewsky, Hamburg. Bojanowski, Jochen (2006), Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin/New York. O’Connor, Timothy (2016), „Free Will“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 7.1.2002/29.10.2010, https://plato.stanford.edu/archives/sum2016/entries/freewill/ (23.12.2018). Fink, Eugen (2016), Sein und Endlichkeit. Vom Wesen der menschlichen Freiheit, EFGA 5/2, hg. v. Riccardo Lazzari, Freiburg/München. Gadamer, Hans-Georg (1988), „Das Sein und das Nichts“, in: Traugott König (Hg.), Sartre. Ein Kongress, Hamburg, 37–54.
222 9. Jean-Paul Sartre – Weltbegriff und Metaphysik Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970), Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, hg. v. Eva Moldenhauer/K arl Markus Michel. Kampits, Peter (2004), Jean-Paul Sartre, München. Neuber, Simone (2017), „Sartre über präreflexives Bewusstsein. Eine kritische Relektüre“, in: Gunnar Hindrichs (Hg.), Konzepte. Bewusstsein, Frankfurt a. M., 47–100.
10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz Sandra Lehmann
Das Weltthema und seine Beziehung zum Problem der Metaphysik bilden eine Konstante im Werk Jan Patočkas. Bereits im Einleitungssatz seiner Habilitation von 1936 Die natürliche Welt als philosophisches Problem formuliert er: „Das Problem der Philosophie ist die Welt in ihrer Ganzheit“. (1990, 29) Dabei weist er die „genuine Philosophie“ als die „Metaphysik im eigentlich Sinne“ aus und zieht sie mit der phänomenologischen „Lehre von der Konstitution“ (1990, 178) zusammen. Gut vierzig Jahre später, im Nachwort zur tschechischen Neuauflage der Natürlichen Welt zeigt sich eine ähnliche Verzahnung von Weltthema und Metaphysik. Allerdings ist die Perspektive inzwischen metaphysikkritisch, und auch den husserlnahen transzendental-subjektiven Ansatz hat Patočka verworfen. Wie er nun schreibt, müsse sich das „Problem der natürlichen Welt“ mit „einer Revision der Metaphysik“ verknüpfen, die die „Wiederherstellung des ursprünglichen Seinscharakters der Welt“ (1990, 183) leiste. Hinter Patočkas Interesse am Weltproblem lässt sich eine Mischung aus sachlichen und biographischen Motiven vermuten. Durch Eugen Fink und Ludwig Landgrebe, mit denen er seit einem Studienaufenthalt in Freiburg im Sommersemester 1933 befreundet ist, wird Patočka sehr bald mit Husserls später Lebensweltphilosophie vertraut. (Sowa 2008, LVIII) Zudem ist er 1935 als Sekretär des Cercle Philosophique de Prague an der Organisation von Husserls Vorträgen über Die Stellung der Philosophie in der Krisis der Geisteswissenschaften beteiligt, aus denen die Krisis-Schrift hervorgehen sollte. Ähnlich wie Fink und Landgrebe orientiert sich Patočka nach dem Zweiten Weltkrieg stärker am Denken Heideggers. Seine Grundfrage bleibt aber insoweit von Husserl geprägt, als er die Frage nach der „Krise der Moderne“ und ihrem Verhältnis zum Primat naturwissenschaftlichen Denkens wiederholt aufgreift und sie im Rekurs auf die Weltproblematik bearbeitet. Daher ist mit Recht festgestellt worden, dass Patočka die Phänomenologien Husserls und Heideggers in genuiner Weise aufeinander beziehe (Landgrebe 1990, 19–20; Novotný 2000, 11). Dieser Beitrag wird sich zunächst dem Weltthema bei Patočka zuwenden und von hier aus einige klassische metaphysische Probleme erörtern. (→ 10.7)
224 10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz
10.1 Die Welt und die Bewegung der menschlichen Existenz Patočkas erste ausführliche Auseinandersetzung mit dem Weltproblem, die bereits erwähnte Habilitationsschrift zur natürlichen Welt (přirozený svět), folgt methodisch der Transzendentalphilosophie Husserls. Zwar lässt sich zeigen, dass Patočka Husserls Subjektivismus nicht restlos übernimmt, sondern seiner Arbeit ein eigenes spekulatives Interesse mitgibt. (Novotný 2017; Ritter 2017) So deutet sich an einzelnen Stellen eine eigene Forschungsrichtung an, die über Husserls Bewusstseinsphilosophie hinausweist, indem sie auf „die Interpretation aller Existenz aus den inneren Quellen des Lebens“ (1990, 179) zielt, eines „schöpferischen Lebens“, dessen „Aktivität [sich] ewig in uns fortsetzen wird“. (1990, 51) Jedoch ergeben diese Andeutungen wie auch spätere, fragmentarisch gebliebene Arbeiten aus den 1940er Jahren, die Patočkas phänomenologische Lebensphilosophie offenbar konkretisieren sollten, noch keine umfassendere Konzeption. (2007) Der vorliegende Beitrag wird diese erste Phase von Patočkas Beschäftigung mit der Weltthematik daher aussparen, obwohl sich die Auseinandersetzung vor allem mit ihren spekulativen Vorstößen zweifellos lohnen würde. Er konzentriert sich vornehmlich auf Patočkas reifere Arbeiten aus den 1960er und 1970er Jahren. Diese Entscheidung stützt nicht zuletzt Patočka selbst, wenn er in zwei Nachworten aus den 1970er Jahren den transzendentalsubjektivistischen Ansatz der Natürlichen Welt-Schrift kritisiert und über die anschließenden spekulativen Arbeiten schweigt. Der spätere Patočka richtet sich vor allem gegen die absolute Reflexion auf ein transzendentales Subjekt, welches die Natürliche Welt von Husserl übernimmt. Sie zeuge von einem „nicht völlig überwundenen Cartesianismus“. (1990, 226) Wie Patočka moniert, verfehlt Husserls Cartesianismus den eigentlichen Vollzugscharakter der Welt wie auch des menschlichen Lebens. Ausschlaggebend hierfür ist, dass Husserls Reflexion von einem transzendentalen Zuschauer ausgeht. Der konkrete, lebensweltliche Prozess, in dem die Reflexion stattfindet, wird so zusammen mit der Weltthesis ausgeschaltet. Das Subjekt wird zu einer abstrakten Entität. Zwar lassen sich die Strukturen beschreiben, in denen die Welt für das Subjekt erscheint. Aber das sich beständig vollziehende Erscheinen der Welt selbst, in der auch das Subjekt erscheint, muss ausgespart bleiben: „Die Reflexion im absoluten Sinne ist ein Akt, der bedeutet, dass […] die Wahrheit erst dort beginnt, wo dies alles [d. h. die Welt in ihrem durchgängigen Vollzug, S. L.] zurückgelassen wird“. (1990, 270) Husserls Verfahren führt damit nicht in die Welt hinein, sondern auf eigentümliche Weise aus ihr heraus, nämlich auf ein Denken, „das sich dem absoluten Geist zuwendet“ (1990, 270) und so eine „Überschreitung in etwas völlig Anderes“ (1990, 190) als die Welt einleitet. Statt vom Subjekt der cogitationes auszugehen, votiert Patočka dafür, beim Sein des Ich zu beginnen, das auf dem Boden der natürlichen Welt nach der na-
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türlichen Welt und über sie hinaus fragt. Was aber charakterisiert das Sein dieses Ich? – „Nichts anderes als sein Interesse am In-der-Welt-Sein, am eigenen Sein, das ihm nicht gleichgültig ist, gegenüber dem es nicht ‚abseits steht‘, sondern das es in seinen Blick hereinnimmt“. (1990, 189) Die Reflexion des Ich auf sich selbst, so Patočka im Nachwort des Autors zur tschechischen Neuausgabe der Natürlichen Welt, könne niemals absolut sein. Vielmehr sei sie dialektisch. (1990, 195) Stets bleibe sie zurückgebunden an das fundamentale Interesse des Ich an sich selbst. Nimmt die phänomenologische Analyse diese Einsicht ernst, wird sie selbst zum Akt des Interesses, das ein endliches und in die Welt involviertes Wesen – „der Mensch“ – an sich selbst nimmt. Damit aber lässt die Analyse die Welt tatsächlich „von ihr selbst her“ sehen; nicht als Gegenstand eines transzendental enthobenen Blicks, sondern als Bewegung, die sich gemäß bestimmter, in ihr selbst liegender Möglichkeiten lebensweltlich konkretisiert. Der Ausgang vom Interesse des Ich an sich selbst und die dabei entstehende hermeneutische Dynamik zeugen deutlich von der Präsenz Heideggers in Patočkas späteren Arbeiten. Jedoch wendet Patočka wesentliche Denkfiguren Heideggers eigenständig an und gelangt so zu Ergebnissen, die über Heideggers Fokus hinausgehen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Patočka die Welt und nicht, wie Heidegger, das Sein in den Mittelpunkt rückt. Patočkas Denken ist so verstanden ein dezidiertes Denken des In-der-Welt-Seins. Die Seinsfrage stellt sich betont aus der natürlichen Welt, sie findet im Rahmen des In-der-Welt-Seins statt, und auch wenn sie aus der unmittelbar in Dinge und Zusammenhänge involvierten Praxis herausführt, bleibt sie an diese zurückgebunden. Um es mit Begriffsbildern zu sagen, die Heideggers Sein und Zeit nahelegt: Die Seinsfrage mag in einem Moment der nackten Existenz („Angst“) aufbrechen. Aber mit Patočka betrachtet korrespondiert diese Nacktheit unlösbar der Nacktheit des leiblichen Wesens, das der Mensch ist. Die existenzielle Nacktheit bleibt inkarniert in der Ausgesetztheit und Bedürftigkeit des menschlichen Leibes. Patočkas Auseinandersetzung mit dem Weltproblem umfasst drei wesentliche Momente. Sie sind hier kurz zu nennen und im Weiteren zu erläutern. Zum einen ist die Welt als die apriorische Struktur zu verstehen, in der sich das Erscheinen dem menschlichen Verstehen öffnet und es so ermöglicht. Zum anderen ist die Welt aber auch dasjenige, in das sich das menschliche Wesen, aus der Eröffnung der Welt selbst, verstehend entwirft, die natürliche Welt im eigentlichen Sinne. Und drittens liegt am Grund dieses reziproken Verweises – die Welt verweist auf den Menschen, der Mensch versteht sich in der Welt und ermöglicht so, dass die Welt in ihrer Offenheit als „natürliche Welt“ angehen kann – die Zeitlichkeit, die den Verweis in Gang setzt, also ihn zum Vollzug macht. Wie sich leicht sehen lässt, ergibt sich aus dem ersten und dem zweiten Moment eine gewisse Spannung zwischen „Weltganzem und Menschenwelt“, (1990, 257) auf die bereits Karel Novotný (2000) hingewiesen hat und die auch die jün-
226 10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz gere Patočka-Forschung beschäftigt. (Stanciu 2013) Die natürliche Welt und die Welt als apriorische Struktur beziehen sich aufeinander; jedoch verlangen beide einen je eigenen phänomenologischen Zugang. Der vorliegende Beitrag kann dieses Problem nicht lösen, zumal es Patočka selbst offengelassen hat. Allerdings lässt sich sagen, dass die „Ontologie der Welt“, (1990, 241 f.) die Patočka in den 1970er Jahren entwickelt, dem Weltapriori zumindest mittelbar Rechnung trägt. Die Bewegung der menschlichen Existenz, die für diese Ontologie konstitutiv ist, wäre ohne die je vorgängige Eröffnung der Welt nicht möglich und weist entsprechend auf sie zurück.
10.2 Das Apriori der Welt Auch wenn Patočka vom menschlichen In-der-Welt-sein ausgeht, führt er die Welt nicht auf dieses zurück, d. h. er lässt die Welt nicht im In-der-Welt-sein gründen. Tatsächlich bemängelt Patočka an Heideggers Fundamentalontologie (→ 6.4) gerade, dass sie die Welt zu stark vom „Dasein“, seiner „Erschlossenheit“ und seinem „Entwurf “, her denke. Jedoch gehe die Welt dem Entwurf konstitutiv voraus. Sie sei, so schreibt Patočka in Arbeitsnotizen zu seinen späten Schriften, die „Ermöglichung einer endlichen Freiheit“, (2000, 92) die „Universumsinstanz der Erscheinung“. (2000, 92) Als solche gebe die Welt das „Verweisungsganze“ vor, auf welches das Verstehen und der Entwurf des Daseins je schon rekurrierten. (2000, 93) Der Hintergrund dieser Einschätzung sind Überlegungen zu einer „asubjektiven Phänomenologie“, die Patočka Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre umtreiben. „Asubjektive Phänomenologie“ bedeutet, alles Seiende inklusive des eigenen Selbst einer Epoché zu unterziehen, um so Zugang zum Erscheinen als solchen zu gewinnen, d. h. zum Nicht-Gegenständlichen, das alle Erscheinungen erst erscheinen lässt. Mit dieser Epoché verliert das Subjekt seinen Vorrang. Es wird zum Erscheinenden unter anderen, auch wenn es sich dadurch auszeichnet, für das Erscheinen offen zu sein, es in Sinnzusammenhänge zu bringen und so explizit zu vollziehen: Aber das Sichzeigen […] ist kein Menschenwerk, denn es kann geradesowenig vom Menschen erzeugt werden wie sein eigenes Sein und dessen ‚Licht‘, die ihm eigene Durchsichtigkeit, das Interesse und Verständnis für dieses eigene Sein. (1991, 283)
In diesem Zusammenhang weist Patočka die Welt als die universale Struktur der diversen Erscheinungen aus, inklusive des Menschen. Die Welt steht gewissermaßen zwischen dem Erscheinen als solchem und dem In-der-Welt-sein. Sie bezeichnet das universale Erscheinungsfeld, in dem sich das Erscheinen für ein menschliches Verstehen öffnet, ihm dabei aber konstitutiv, als ein Weltapriori, vorausgeht. Es geht damit um einen „Transzendentalismus neuer Art“, (2000, 24)
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der versucht, die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung vor dem Subjekt anzusetzen. Das Ich generiert nicht die Strukturen, denen gemäß es ist. Vielmehr findet es sich von ihnen hervorgebracht: Die Welt ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des Erscheinens des Realen, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit eines Seienden, das im Selbstbezug lebt und dadurch die Erscheinung als solche ermöglicht. (1991, 421)
10.3 Subjektivität und Objektivität Auch wenn das Subjekt nicht mehr konstitutiv ist, bedeutet das nicht, dass Patočkas asubjektive Phänomenologie ganz darauf verzichtete. Es lässt sich hier eine gewisse Ambivalenz feststellen. Auf der einen Seite ist das Subjekt nicht mehr als ein „Organisationsmittelpunkt“, (1991, 421) ein „Zentrum“, (1991, 261) in dem sich das Erscheinen zum „Erscheinen-für“ transformiert. Diese Verwandlung des Erscheinens in den ungegenständlichen Universalhorizont einer natürlichen Welt, in der die Dinge explizit da sind, in der sie Sinn haben, ist als solche ohne jede Notwendigkeit. Ebenso wenig erfüllt sich mit ihr ein teleologischer Prozess, etwa in dem Sinne, dass die Offenheit des Erscheinens in der Offenheit menschlicher Subjekte zu sich selbst komme. Die Welt, so Patočka, habe „so etwas wie ‚Sinn‘ nicht“. (1991, 264) Gleichwohl wäre die Welt ohne subjektives Zentrum oder vielmehr ohne die unzähligen subjektiven Zentren zwar denkbar, aber doch anders und vor allem ärmer. Ihr fehlte das reflexive Moment, die Spiegelung dessen, dass und wie sie ist und was in ihr erscheint. Daher könnte man mit Patočka von der Subjektivität als einer wesentlichen Möglichkeit der Welt sprechen, die sich jedoch nicht notwendig entfaltet: „Ein nicht notwendiges Seiendes ist also im Weltgrund selbst angelegt“. (1991, 262) Tritt das Subjekt hervor, lässt es „das ihm voraufgehende Notwendige als einen defizienten Modus von Sein erscheinen, als etwas, das zwar erscheint und ist, aber dem […] das Sich-auf-sich-und-anderes-Beziehen fehlt“. (1991, 262) Allerdings bedeutet dies wiederum nicht, dass das Subjekt die Welt hervorbringt. Die Sinnbestände der Welt mögen zwar subjektiv sein. Sie dokumentieren, dass sich menschliche Subjektivität in ihrem In-der-Welt-sein versteht. Jedoch hängt nicht an der Subjektivität, dass es die Welt gibt. Vielmehr gibt es die Welt – gibt sich die Welt vor dem und unabhängig vom Sinn. Am weitesten in seiner Zurückstellung menschlicher Subjektivität geht Patočka im tschechischen Nachwort zur Natürlichen Welt, wobei er deutlich von Fink beeinflusst ist. (Nielsen/Sepp 2011, 14) Mit Heideggers Fundamentalontologie nimmt er zwar an, dass sich die Dinge im Rahmen menschlicher Praxis enthüllen. Jedoch besitze „die Enthülltheit der Dinge auch in den Dingen selbst eine notwendige Voraussetzung“. (1990, 237) Die Dinge seien zunächst „‚in sich‘, in sich geschlossen und unzugänglich“. (1990, 237) Wenn sie sich aber zeigten,
228 10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz geschehe das nur mittelbar im Kontext menschlicher Auslegung. Primär hingegen zeigten sich die Dinge aufgrund der Offenheit der Welt. Diese Überlegung zeigt Ansätze zu dem, was man – als Antwort auf zeitgenössische „object-oriented ontologies“ von Autoren wie Ian Bogost (2012), Graham Harman (2002; 2018) oder Timothy Morton (2016) – eine „object-oriented phenomenology“ nennen könnte. Die grundsätzliche Gleichrangigkeit alles Seienden im Horizont der sie ermöglichenden Welt kommt in den Blick: „Das Erscheinen der Dinge, das durch diesen Rahmen ermöglicht wird, ist kein Erscheinen für das Subjekt, sondern Erscheinen als Schritt in die Singularität“, (1990, 239) d. h. in die raum-zeitliche Individuation. Dieser Individuationsprozess kann Wesen hervorbringen, die am eigenen Sein interessiert sind. Er kann jedoch auch Entitäten hervorbringen, die sich nicht eigens auf ihr Sein beziehen, die aber gleichwohl „im Offenen“ vorkommen und sich zeigen. Nur weil sie sich als eigenständig von sich selbst her zeigen, können sie dann auch „als etwas“, d. h. in einem bestimmten Sinne verstanden werden. (1990, 240) „Wir selbst“ hingegen, die Subjekte, „sondern uns zwar durch innere Bezugnahme von der Welt ab“, jedoch ist „wie bei allen übrigen Dingen auch, unser Seiendes eine Bewegung von der Entstehung bis zum Untergang, vom eigenen Anfang bis zum eigenen Ende“. (1990, 240) In unserem basalen individuellen Werden und Vergehen nehmen wir wie alle übrigen Dinge an einem universalen Erscheinenszusammenhang teil.
10.4 Zeitlichkeit Im Nachwort zur tschechischen Neuausgabe der Natürlichen Welt resümiert Patočka: „Wir müssen anerkennen, dass am Grunde der natürlichen Welt die Sorge und die Zeitlichkeit liegen und nicht das ‚innere Zeitbewusstsein‘“. (1990, 273) Tatsächlich hatte Patočka das innere Zeitbewusstsein in der Habilitationsschrift noch wie Husserl in struktureller Einheit mit Zeit und Welt gesehen. Jedoch – und obwohl das Zitat dies auf den ersten Blick nahelegen mag – ersetzt der spätere Patočka die Husserl’sche Struktureinheit von Bewusstsein, Welt und Zeit nicht einfach durch die fundamentalontologische Struktureinheit von Welt, Sorge und Zeitlichkeit. Vor dem Hintergrund eines asubjektiven Weltapriori geht die Zeitlichkeit der Sorge vielmehr konstitutiv voraus, d. h. das Erscheinen als solches ist gekennzeichnet durch eine Zeitlichkeit, die das Seiende insgesamt sein lässt. Der Raum ist dabei ebenfalls von der Zeit abkünftig, er ist „eine ihrer Dimensionen“. (1990, 183) In diesem Sinne fordert Patočka eine „neue, grundsätzliche Analyse“ des „gesamten Komplexes der ursprünglichen Gegebenheit der Welt“. (1990, 182) Diese Analyse hätte „für jeden bestimmten Bestandteil des Seienden zu untersuchen, welcher zeitliche Charakter ihm eigen ist, wohin er in bezug auf die Dimensionen und Stufen der Zeit und der Zeitlichkeit gehört“,
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(1990, 182) von der zeitlosen Abstraktion bis hin zur gelebten Zeit menschlicher Praxis. Auf jeder zeitlichen Stufe vollziehe sich die Individuation des Seienden. Die Zeitlichkeit ist demnach die Vollzugsform des Weltapriori. Die neue, nicht transzendental-subjektivistische Struktureinheit umfasst das Erscheinen als solches, die Zeit und die Welt. Allerdings wiederholt sich hier konsequent das Verhältnis von Weltapriori und Subjektivität: Die Zeitlichkeit wäre sinnlos ohne Subjekte, für die das Erscheinen zeitlich stattfindet. Erst wo sich Zeit in Verständnisprozessen vollzieht, wo sie diese strukturiert, aber auch im Verstehensvollzug (in der „Sorge“) als Zeit erlebt wird, ist sie wirkliche Zeit. Wie Patočka notiert, impliziert das, dass die Zeit nicht nur individuierende, sondern auch synthetisierende Funktion hat. Erst dadurch wird das Seiende „definiert, bestimmt“, (1990 ist, 183) fügt sich also explizit mit- und gegeneinander und wird so wirklich offen, wird konkret. Die Zeit, welche Individuation (das stumme Werden und Vergehen) und Synthese (das explizite Werden und Vergehen) zusammenführt, ist mithin die Zeit der natürlichen Welt. Diese Zeit ermöglicht die Erschlossenheit eines endlichen Seins, das nicht vollständig transparent ist, das aber doch durchdrungen ist von realen, expliziten sowie möglichen, noch stummen Bedeutungen.
10.5 Ontologie der Welt In Patočkas „Ontologie der Welt“ lässt sich, wie bereits bemerkt, eine Zusammenführung der drei diskutierten Momente (Weltapriori, „sorgende“ Subjektivität, Zeitlichkeit) erkennen. Dabei ist der zentrale Bezugspunkt das menschliche, für das Sein offene Verhalten zu sich selbst. Die ontologische Auslegung der Welt vollzieht sich mit der menschlichen Lebens- oder Existenzbewegung „als Bewegung im ursprünglichen Sinn des Wortes“, (1990, 242) die sich entsprechend der drei Zeitdimensionen in drei Bewegungen entfaltet. In ihrer Gesamtheit ergeben diese drei Bewegungen die natürliche Welt, die sich je schon auf das Weltapriori verwiesen findet. Für seinen allgemeinen Bewegungsbegriff geht Patočka auf das aristotelische Bewegungsmodell zurück, demzufolge Bewegung Verwirklichung von Möglichkeit (gr. dynamis) ist. Jedoch bindet er die Beziehung von Möglichkeit und Verwirklichung anders als Aristoteles nicht an eine Substanz, die die Bewegung teleologisch organisiert. Vielmehr muss Patočka zufolge jedes Seiende das, was es ist, seine Einheit, je erst herstellen, d. h. es ist auf den Vollzug der Bewegung selbst verwiesen. Seine Wirklichkeit liegt im Prozess der Verwirklichung selbst. Die Bewegung setzt also nicht „immer schon ein konstituiertes Seiendes voraus“, sondern sie konstituiert das Seiende, sie „macht jegliches Seiende allererst zum Erscheinenden“. (1990, 243) Der spezifische Charakter der menschlichen Existenzbewegungen besteht darin, dass das menschliche Seiende der eigenen
230 10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz Wirklichkeit gegenüber nicht gleichgültig ist, sondern die Nicht-Gleichgültigkeit seine Verwirklichungsprozesse mitbestimmt. Indem sich das menschliche Leben verwirklicht, ist es so auch Verwirklichung der Offenheit des Erscheinens. Menschliches Tätigsein, menschliche Praxis besteht grundsätzlich darin, das Sein zu erschließen, „so dass der innere Reichtum des Seienden, sein Inhalt, seine Fülle, sein Sein aufgedeckt werden“. (1990, 244) Patočkas Konzeption von Bewegung zeichnet aus, dass sie, offenbar angeregt von Merleau-Ponty (1990, 235; → 11.2), besonderes Gewicht auf den leiblichen Charakter des In-der-Welt-seins legt. Es lässt sich hier noch einmal die Differenz zu Heideggers Fundamentalontologie markieren, eine Differenz, auf die Patočka Wert legt. Was die Weltlichkeit der Welt angeht, erschöpft sich das Verstehen, die Auslegung nicht wie bei Heidegger darin, den Sinn des innerweltlichen Seienden an das Um-Willen menschlicher Handlungsabsichten zu binden. Das heißt, die Welt gibt sich nicht nur im aktiven, entwerfenden Zugriff. Vielmehr manifestiert sie sich auch in einer Passivität, in einem Empfangen, dessen ‚Ort‘ der menschliche Leib ist. Das menschliche Tätigsein, das Erschließen des Seienden impliziert, inmitten des Seienden ausgesetzt, bedürftig und auf anderes Seiende angewiesen zu sein. Am Rande sei bemerkt, dass Patočka seinen Ansatz dezidiert jenseits der Alternative von Idealismus und Materialismus sieht: (1991, 423) Die idealistische Option greift zu kurz, weil das menschliche Leben und Verstehen mit dem Leib materiell zurückgebunden ist und sich die Sinngenese daher nicht nur geistig vollzieht. Jedoch scheidet auch die materialistische Option aus. Die materielle Instanz, der Leib allein nämlich wäre nur ein Ding unter Dingen, das zwar dank der Offenheit der Welt erscheint, aber dies nicht für sich erschlossen hat. Dagegen ist die Sinnbildung für Patočkas phänomenologische Ontologie ein integraler Prozess, der den Leib unerlässlich einbezieht, weil er ohne diesen leer wäre. Allerdings heißt das für Patočkas Ontologie auch, dass sie sich an eine konkrete Situation der Endlichkeit knüpft, ihre Kategorien also ebenso kontingent sind wie das „Welt-Wesen Mensch“.
10.6.
Die drei Bewegungen der Welt
Die drei menschlichen Existenzbewegungen (→ 10.5) vollziehen laut Patočka die grundsätzliche Zeitlichkeit. Daher sind alle drei Bewegungen formal gleichrangig und nicht voneinander zu trennen. Jede von ihnen beschreibt eine partielle Weise, in der sich menschliches Sein verwirklicht und dabei einen Teil-Sinn der Welt erschließt. Jedoch können die drei Bewegungen im Rahmen menschlicher Selbstauslegung unterschiedlich gewichtet werden. Dies gilt sowohl für das individuelle Verhältnis zum eigenen Leben als auch für die allgemeine kulturelle Form menschlicher Gesellschaften. Den letztgenannten Aspekt nutzt Patočka in
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seiner späten Geschichtsphilosophie, in der er für die Existenzbewegung offene, sich fragend auf sie einlassende, geschichtliche Kulturen von auf Lebenserhalt und Produktion fixierten, ungeschichtlichen Kulturen unterscheidet. (2010) Der Titel „natürliche Welt“ wird in diesem Zusammenhang noch einmal anders gewendet. Er bezeichnet „die Welt vor der Entdeckung ihrer Fraglichkeit“ (2010, 31) in der griechischen Polis. Patočka hat die Existenzbewegungen an verschiedenen Stellen thematisiert und teilweise abweichend benannt. Der Sache nach jedoch ist sein Konzept weitestgehend stabil. Die erste Bewegung ist die „Bewegung der Verankerung“ oder auch der „Annahme“ (akceptace). Ihr Bewegungssinn liegt in der Vergangenheit. Sie handelt vom Leben, das sich als leibliches Leben je schon unter anderen Wesen und Dingen findet und der Aufnahme bedarf, um zu sein. Hieraus ergibt sich die Grundstruktur des „Du – Ich – die gemeinsame Umgebung“, (1990, 252) aus der wiederum die Unterscheidung von „Heimat – Fremde“ (1990, 252) resultiert. Bemerkenswert ist, dass nach Patočkas Modell menschliches Sein ohne die ursprüngliche Zuwendung eines anderen Menschen in sich verschlossen bliebe, und dass diese Zuwendung im Medium des bedürftigen Leibes geschieht. Die äußerste Passivität des Leibes führt ins Mit-Sein ein. Der Bewegung der Verankerung korrespondiert die „vermittelnde und beschützende Welt“. (1990, 250) Die zweite Bewegung geht ebenfalls von der leiblichen Bedürftigkeit aus, vollzieht sich aber aktiv. Patočka bezeichnet sie als die „Bewegung der Selbstverlängerung“ (pohyb sebeprodloužení). In dieser Bewegung sind die Menschen ganz und gar gegenwärtig in die Tätigkeiten vertieft, die sie ausüben, um sich selbst zu erhalten. Das Verhältnis zu den anderen Menschen und Dingen ist instrumentell. Man benutzt und wird benutzt, manipuliert und wird manipuliert. Wo man sich in die Quere kommt, muss man einander ausschalten. Es handelt sich um die „Welt der Arbeit und des Kampfes“. (1990, 250) Diese Zuschreibung klingt zunächst archaisch. Jedoch verwenden Patočkas Analysen der Moderne durchaus schlüssig die Weltauslegung der zweiten Bewegung als Folie. Die moderne Vernunft optimiert den instrumentellen Sinn der Selbstverlängerung. Sie schafft, so zeigt Patočka, ausdifferenzierte gesellschaftliche Apparate und subtile Technologien (Technologien auch des Selbst, der Triebkontrolle), die eine immense Produktionssteigerung zur Folge haben. Gleichwohl stehen die Menschen hier weiterhin unter dem Diktat der „Bindung des Lebens an sich selbst“. (1990, 258) Alles, was sie tun, ist eine Ausgestaltung dieser Bindung. In der dritten Bewegung schließlich, der „Bewegung des Durchbruchs“ oder auch der „Wahrheit“, konfrontieren sich Menschen mit dem „Dass-überhaupt“ ihres In-der-Welt-seins. Sie transzendieren zum Weltapriori als der Offenheit des Seins im Ganzen. Die Zeitdimension, in der dies geschieht, ist selbst offen, die Zeitdimension der Zukunft. Wie Patočka (1990, 261) schreibt, erreichen Menschen erst mit dieser Bewegung „volle Wirklichkeit“. Dies impliziert, dass sich ihnen erst in dieser Bewegung der eigentliche Möglichkeitscharakter des
232 10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz Lebens erschließt. Auch die Lebensbindungen, von denen die ersten beiden Bewegungen handeln, sind damit nicht unhintergehbar. Zunächst lassen sie selbst den Spielraum von Entscheidungen. Wichtiger aber ist, dass es der Transzensus der dritten Bewegung erlaubt, sich aus dem Lebens- und Überlebenskampf herauszunehmen. Die dritte Bewegung ist gleichsam Heideggers ontologische Differenz als Vollzug. Sie ist in actu die „Entdeckung des Seins, das nichts Seiendes ist, sondern aus der Perspektive des Seienden das bloße Nichts, das bloße Wunder“. (2010, 81) Damit setzt sie die Menschen zu ihrer eigenen Freiheit frei. Sie lässt sie erfahren, dass sie im Wesentlichen kraft des Erscheinens erscheinen und anderes Seiende erscheinen lassen. Der letzte Sinn der natürlichen Welt wäre eine Gemeinschaft nach dem Gesetz dieser Freiheit, eine Gemeinschaft derer, die „objektiv“ darin sind, dass sie „sich singulärer Interessen begeben“ (1990, 265) und im „Dienst [des Seins] kommunizieren“. (1990, 267) Bereiche wie Kunst, Religion, Philosophie sind für Patočka Reflexe dieses letzten Sinns der natürlichen Welt. Es ist auffällig, dass sich in Patočkas Beschreibung der dritten Bewegung zuweilen christliche Anklänge finden. So charakterisiert er ihre Reinform auch als „Hingabe“ (odevzdanost): „Mein Seiendes wird nicht mehr als Für-mich-Sein definiert, sondern als Seiendes in der Hingabe, als Seiendes, das sich dem Sein erschließt, das dafür lebt, dass die Dinge […] sich als das zeigen, was sie sind“. (1990, 265) Das Inbild dessen sei – im Sinne des johanneischen logos sarx egeneto – der „vollkommen ‚wahrhaftige‘ Mensch“, der „Gott-Mensch“, in dem sich „das Seinsereignis, das den Menschen als Ort seiner Offenbarung auserwählt hat“, (1990, 266) erfüllt habe. Allerdings sollte man diese Motive wohl nicht als konfessionelle Bekenntnisse Patočkas lesen. So ordnet er den Gott-Menschen dem Mythos zu, (1990, 266) und der Mythos ist erst nur unmittelbarer Ausdruck der dritten Bewegung. Er bedarf, wie Patočka etwa im zweiten der Ketzerischen Essays diskutiert, der philosophischen Durchdringung, um wirklich transparent zu werden. (2010, 47–72) Ein theologisches Moment in Patočkas Überlegungen lässt sich gleichwohl nicht leugnen, zumindest, wenn, wie er selbst schreibt, „das Seinsereignis aufgefasst wird als das, womit das Göttliche unauflöslich verknüpft ist“. (1990, 266) Über die Art dieser Verknüpfung ließe sich ebenso philosophisch wie theologisch nachdenken. (Hagedorn 2015; Karfík 2008; Koci 2017) Patočka selbst allerdings hat sich nicht ausführlicher dazu geäußert.
10.7 Metaphysik und ihre Aufhebung Wie einleitend bemerkt, besteht der weitere theoretische Rahmen, in dem Patočka das Weltthema situiert, in einer Revision der Metaphysik. Die wohl prägnantesten Überlegungen zu einer solchen Revision finden sich im Aufsatz Negativer Platonismus vom Anfang der 1950er Jahre. Die gedankliche Linie dieses
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Textes entspricht bereits den späteren Schriften aus den 1960er und 1970er Jahren. Daher lässt sich der Text mit ihnen zusammen lesen. Darüber hinaus jedoch entwirft er einen Gedanken, den die späteren Arbeiten zwar nahelegen, aber nicht mit gleicher Deutlichkeit auf den Punkt bringen: Eine Revision der Metaphysik muss bedeuten, „die Metaphysik im tieferen Sinne ‚aufzuheben‘“, (1988, 419) also zugleich außer Geltung zu setzen und zu bewahren. Der Duktus dieser Geste ist sokratisch. Denn Sokrates habe, so Patočka, „einen der grundlegenden Widersprüche des Menschen“ enthüllt, „den Widerspruch zwischen seiner Beziehung zum Ganzen, die ihm unabdingbar eigen ist, und die Unfähigkeit und Unmöglichkeit, die Beziehung in Form eines gewöhnlichen, endlichen Wissens auszudrücken“. (1988, 396) Den metaphysischen Impetus, der sich auf das Ganze richtet, will Patočka bewahren. Er versteht ihn – die Kontinuität mit den späteren Arbeiten ist deutlich – als Transzensus über die unmittelbaren gegenständlichen Bindungen hinaus und damit als Ausdruck der menschlichen Freiheit: „Die Erfahrung von Freiheit ist immer eine ganzheitliche Erfahrung von ganzheitlichem ‚Sinn‘“. (1988, 414) Jedoch verwirft Patočka das Bestreben der traditionellen Metaphysik seit Platon, das in Freiheit erfahrene Ganze, das „Sein überhaupt“, positiv zu erfassen, d. h. ein sachliches oder gegenständliches Wissen von ihm zu formulieren. Gerade die radikale Ablösung vom Gegenständlichen, in der sich der Sinn des Ganzen („dass dies alles existiert“) enthüllt, wird damit ausgeblendet. Als vermeintliche „Wissenschaft vom Sein“ ist Metaphysik das Ergebnis einer verhängnisvollen Fehldeutung, die verkennt, was am Grund des metaphysischen Interesses, der metaphysischen Bewegung selbst liegt. Die von Patočka anvisierte Aufhebung der Metaphysik setzt hier an. Statt eine transzendente Episteme zu entwickeln, verschreibt sich das Denken der transzendierenden Bewegung und dem, was diese ermöglicht: der Offenheit des Seins als solchen, die das Seiende als Seiendes erfahrbar macht, ohne selbst ein Seiendes zu sein. Im Negativen Platonismus-Aufsatz denkt Patočka eine Möglichkeit weiter, die Platon vorzeichnet, und deutet die Offenheit als den eigentlichen Sinn der Idee. Die Idee ist das, was erscheinen lässt, ohne selbst zur Ordnung des Erscheinenden zu gehören. Der Chorismos bezeichnet daher ihr Wesen: die Trennung, hinter der nichts liegt, in der sich aber das schlechthin Nicht-Seiende gibt, nicht als Nichts jedoch, sondern als die reine Kraft der Ermöglichung. Diese Denkfigur wird Patočka weiter begleiten und zuletzt in seinen Überlegungen zum Weltapriori wiederkehren. Jan Patočka Geboren in Turnov 1907. Studium der Slawistik, Romanistik und Philosophie an der Karls-Universität in Prag. 1933 durch ein Stipendium ermöglichter Aufenthalt in Freiburg. Von da an im engen Kontakt mit Husserl und Fink. 1936 habilitiert, Dozent an der Karls-Universität Prag bis zu deren Schließung 1939
234 10. Jan Patočka – Weltapriori und Bewegung der Existenz infolge der deutschen Okkupation des Landes, nach dem Krieg wiederum Dozent an der Karls-Universität, bevor er 1948 aus politischen Gründen entlassen wird. 1968 Berufung als ordentlicher Professor für Philosophie an die Philosophische Fakultät der Karls-Universität Prag. Im Jahr 1972 Lehrverbot, es folgen Ausreiseverbot und Pensionierung. Patočka wird einer der ersten drei Sprecher der Charta 77 für die Menschen- und Bürgerrechte. Am 13. März 1977 stirbt Patočka nach Verhören durch die Polizei in Prag.
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11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik Michela Summa
Maurice Merleau-Pontys Philosophie lässt sich als ein ständiger Versuch betrachten, der Vielfalt und den Ambiguitäten der Erfahrung gerecht zu werden. Strikte Dualismen sowie die Idee einer absoluten und vollständigen Erkenntnis und Selbst-Erkenntnis sind für ihn theoretische Konstrukte, die die Nuancierungen, Verflechtungen und Komplexitäten alles dessen, was ist und erfahren wird, vernachlässigen. Gerade diese Nuancierungen, Verflechtungen und Komplexitäten will Merleau-Ponty durch seine „Philosophie der Ambiguität“ (De Waelhens 1951) in den Vordergrund rücken. Diese Philosophie konkretisiert sich primär am Leitfaden der Phänomenologie der leiblichen Erfahrung. Sie erschließt die verschiedenen Dimensionen der Ambiguität in der menschlichen und zwischenmenschlichen Erfahrung und unterliegt Merleau-Pontys Distanzierung von der Bewusstseinsphilosophie. Die Bezeichnung ‚Philosophie der Ambiguität‘ eignet sich auch für Merleau-Pontys Ansatz zur Metaphysik. Bemerkenswert ist aber zunächst, dass Merleau-Ponty nur zwei Aufsätze veröffentlicht hat, in deren Titel der Begriff ‚Metaphysik‘ vorkommt: eine Rezension von Simone de Beauvoirs L’invitée mit dem Titel Der Roman und die Metaphysik (1966b, 45–72/2000b, 34–54) und den Aufsatz Das Metaphysische im Menschen (1966b, 145–172/2000b, 111–132). Hinzu kommt der letzte Teil seiner unveröffentlichten Conférences de Mexico, der den Titel Métaphysique, religion, existentialisme trägt. (Dalissier 2017a, 5) Obwohl Merleau-Ponty der Metaphysik kein umfassendes Werk explizit gewidmet hat, enthalten seine phänomenologischen und ontologischen Analysen verschiedene metaphysische Implikationen. Das zeigt sich schon anhand einer ersten Übersicht einiger Kontexte, in denen der Begriff ‚Metaphysik‘ vorkommt. Im Kapitel „Der Leib als geschlechtlich Seiendes“ der Phänomenologie der Wahrnehmung verbindet Merleau-Ponty die Metaphysik mit der Dialektik. Dialektik wird dabei nicht nur logisch und ontologisch, sondern – in Anlehnung an Kojèves Hegel-Interpretation – auch existential verstanden. Dialektik gilt als eine „Spannung der Existenz auf eine andere Existenz hin, die sie vereint, und ohne die sie doch sich selbst nicht aufrechtzuhalten vermag“. (1945, 195/1966a, 200) Die Metaphysik, d. h. „der Hervorgang eines Jenseits der Natur“ (1945, 195/1966a, 200), ist wie die Dialektik nicht auf der Ebene der Erkenntnis zu verorten. Sie beginnt vielmehr „mit der Offenheit für einen ‚An-
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deren‘, sie ist überall und schon in der Eigenentwicklung der Geschlechtlichkeit“. (1966a, 200/1945, 195) Die Anmerkungen über Metaphysik werden zudem in Merleau-Pontys späteren Texten zahlreicher. Er spricht zumindest seit den Schriften aus den fünfziger Jahren von einer „Metaphysik der Geschichte“. (1968, 65/1973, 77) Er verbindet ferner die Metaphysik mit dem Ausdrucksphänomen und insbesondere mit der Sprache und mit der Kunst. So schreibt er in der Prosa der Welt der Sprache eine metaphysische Bedeutung zu, indem sie andere Beziehungen und Eigenschaften aufweist als diejenige, die die Vielfalt der Naturdinge und die Kausalverhältnisse zwischen ihnen kennzeichnen. Von diesem Unterschied zwischen natürlichen und metaphysischen Beziehungen „überzeugt uns die Erfahrung der lebendigen Sprache zur Genüge, da sie uns dieselbe lebendige Rede als System und verständliche Ordnung erkennen läßt, die von außen besehen aus einem Zusammentreffen zufälliger Ereignisse besteht.“ (1969, 55/1984a, 60) In seinem Spätwerk Das Auge und der Geist schreibt er ferner, dass „jede Theorie der Malerei eine Metaphysik“ ist. (1964a, 42/1984b, 25) Denn die Art und Weise, wie die Verhältnisse zwischen Wahrnehmen und Ausdrücken, zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen, zwischen Empfinden und begrifflicher Bestimmung in der Malerei verstanden werden, spiegelt die Art und Weise, wie diese Verhältnisse überhaupt, d. h. metaphysisch, verstanden werden. Von Merleau-Pontys Metaphysik zu sprechen, kann aber insofern irreführend sein, als er kein philosophisches System entwirft, (Bermes 1998, 7 f.) in dem die Metaphysik ihren Platz findet. Darüber hinaus formuliert Merleau-Ponty eine explizite Kritik an jedem Anspruch einer systematischen Metaphysik. Wenn ein System „eine Zusammenstellung von Begriffen ist, die alle Aspekte der Erfahrung unmittelbar kompatibel und kompossibel macht“, dann ist die Metaphysik, die Merleau-Ponty anvisiert, das „Gegenteil des Systems“. (1966b, 166/2000b, 128) Gegen den Anspruch einer solchen systematischen Auffassung appelliert Merleau-Ponty an das „metaphysische Bewusstsein“ (conscience métaphysique) als unhintergehbaren Ausgangspunkt jeder Metaphysik. Hiermit meint er weder eine besondere Bewusstseinsform bzw. -leistung, die die Metaphysik ermöglichen würde, noch versteht er das metaphysische Bewusstsein als ein übergeordnetes Prinzip. Das metaphysische Bewusstsein hat nämlich „keine anderen Gegenstände als die der alltäglichen Erfahrung: diese Welt, die anderen, die menschliche Geschichte, die Wahrheit und die Kultur“. (1966b, 165/2000b, 127) Es zeichnet sich gegenüber dem alltäglichen Bewusstsein vielmehr insofern aus, als es diese Momente der alltäglichen Erfahrung nicht bloß als gegeben und als selbstverständlich nimmt, sondern sie befragt. Die Metaphysik, die sich daraus ergibt, hat nicht den Anspruch auf Vereinbarkeit oder Kompossibilität all dessen, was ist und geschieht. Vielmehr deckt das metaphysische Bewusstsein die fundamentale Fremdheit der Erfahrung und „das Wunder ihres Erscheinens“ auf. (1966b, 165/2000b, 127) Es stellt sich selbst ferner die Aufgabe, die Parado-
238 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik xien der Erfahrung und der Wahrheit sowie des Austausches und der Kommunikation zu beschreiben. Das metaphysische Bewusstsein zeichnet sich daher als eine reflexive Einstellung aus, die jedoch nicht versucht, durch begriffliche Konstrukte oder Synthesen die Paradoxien und die Fremdheit der Erfahrung aufzulösen. Es taucht vielmehr in die Fremdheit und Paradoxien der alltäglichen Situationen wie auch der persönlichen und kollektiven Geschichte ein. Die auf dem metaphysischen Bewusstsein beruhende Metaphysik wird somit nicht als die Vollendung des Erkenntnisgebäudes verstanden, sondern als das „luzide Wissen“ dessen, was die Einheit dieses Gebäudes bedroht: Sie ist keine Erkenntnis, die das Gebäude der Erkenntnisse vollenden würde; sie ist das luzide Wissen davon, was diese bedroht, und das geschärfte Bewusstsein für deren Preis. Die Kontingenz von allem, was existiert, und von allem, was Wert hat, ist nicht eine kleine Wahrheit, der man mehr schlecht als recht einen Platz in irgendeinem Winkel eines Systems freihalten müßte, sondern ist die Bedingung einer metaphysischen Weltsicht. (1966b, 168/2000b, 129)
Merleau-Pontys Metaphysik hat, wie wir aus diesen Bemerkungen schon entnehmen können, einen existentialistisch-phänomenologischen Hintergrund. Sie ist meistens operativ und nicht thematisch; ferner entsteht sie zwischen den Zeilen der phänomenologischen und später der ontologischen Analysen. (Dalissier 2017a, 4 f.) Im Folgenden werden die zentralen Momente dieser Metaphysik anhand jener Themen diskutiert, an die Merleau-Ponty für seine metaphysischen Überlegungen anknüpft: die Anbahnung eines methodologischen und erkenntnistheoretischen dritten Wegs zwischen Realismus und Idealismus; (→ 11.1) die Überwindung des Dualismus zwischen Subjekt und Objekt durch die Hervorhebung des Primats der Relation zwischen Subjekt und Welt; (→ 11.2) die Diskussion von Raum und Zeit als die Grundstrukturen dieser Relation; (→ 11.3) der responsive Ansatz zu Kausalität und Freiheit; (→ 11.4) die Ontologie des wilden Seins; (→ 11.5) das Verhältnis zwischen Religion, Theologie und der Frage nach dem Absoluten. (→ 11.6)
11.1 Ein dritter Weg zwischen Empirismus und Idealismus Die Kritik sowohl an empiristischen als auch idealistischen Ansätzen zeichnet sich durch ihre zentrale Stellung in Merleau-Pontys veröffentlichten Texten aus. Unter ‚Empirismus‘ versteht er sowohl die naive und reduktionistische Tendenz der positiven Wissenschaften als auch den philosophischen Realismus. In beiden Fällen wird der philosophische bzw. wissenschaftliche Diskurs ausschließlich durch den Rückgang auf reale, kausal bestimmte und analysierbare Zusammenhänge legitimiert. Unter ‚Idealismus‘ bzw. ‚Intellektualismus‘ fasst Merleau-Ponty Positionen zusammen, die jede Form der Sinnbildung als das Ergebnis einer synthetischen Aktivität des Subjekts betrachten. Dabei denkt er vor
Michela Summa 239
allem an bestimmte Entwicklungen im französischen Neukantianismus. (1942, 200–217/1976, 213–233; 1945, 9–80/1966a, 21–88) Merleau-Pontys Kritik an diesen Ansätzen gründet auf der Hervorhebung ihrer geteilten und unhinterfragten Voraussetzungen und auf ihrer Unfähigkeit, der Komplexität der Erfahrung gerecht zu werden. Gleichzeitig vertritt er die These, dass die Phänomenologie einen dritten Weg zwischen diesen Positionen anbietet. So plädiert er schon in der Struktur des Verhaltens (1942/1976) für eine Überwindung der beiden Extreme durch eine neue Auffassung des Verhältnisses zwischen Bewusstsein und organischer Natur. Diese Auffassung beruht auf der Analyse der verschiedenen Schichten des Lebendigen (insbesondere der synkretistischen Formen, des ablösbaren Verhaltens und der symbolischen Organisation), deren Verhältnisse weder kausal/reduktionistisch noch intellektualistisch zu verstehen sind. Die Stufen zunehmender Komplexität leisten einen Prozess der Strukturierung: Die Gestaltungen der höheren Schichten sind Strukturen, die in einem dialektischen Verhältnis zu den niedrigen stehen, weil sie zugleich ihre Negation und ihre Vervollständigung darstellen. Aus dieser Analyse entwickelt Merleau-Ponty seine These einer „Wahrheit des ‚Naturalismus‘“, (1942, 217 f./1976, 234 f.) die darin besteht, die Grenzen der Idealisierung und der Intellektualisierung aufzuzeigen, ohne damit jedoch die Natur auf physikalische Kausalverhältnisse zu reduzieren. Dieser Ansatz prägt auch die weiteren Schriften zum Naturbegriff und wird in der späteren Vorlesung am Collège de France über den Naturbegriff (1994/2000a) vertieft. Sowohl der Empirismus bzw. Realismus als auch der Intellektualismus bzw. Idealismus oder Rationalismus verfehlt die adäquate Auffassung des Wahrnehmungsphänomens als die Ursprungstätte jeder Art von Sinngebung bzw. als der Ort, in dem Sinn in statu nascendi zu erfassen ist. Sie sind ferner nicht in der Lage, die autonome Konfiguration des Sinnlichen anzuerkennen, die in der Wahrnehmung geschieht. Denn Wahrnehmung besteht weder aus der empirisch aufweisbaren Zusammensetzung von vermeintlich einfachen Komponenten noch aus kategorialen bzw. synthetischen Formungen; sie ist vielmehr ein gestaltmäßig und zeitlich sich aufbauendes Ganzes, in dem die Teile miteinander durch ein Verhältnis der wechselseitigen Implikationen verbunden sind. (→ 11.2) Empirismus und Intellektualismus teilen zudem den Anspruch auf eine vollständige Bestimmbarkeit des Wahrnehmungsphänomens und somit die Annahme, dass die Offenheit und die Ambiguität der Wahrnehmung nur auf unsere mangelhafte Erkenntnis zurückzuführen sind. Dagegen betrachtet Merleau-Ponty jene Offenheit und Ambiguität als konstitutiv für die Wahrnehmung selbst als ein sich zeitlich entfaltender und nie vollständig bestimmter Prozess. Offenheit und Ambiguitäten unterliegen dem wahrnehmungsmäßigen Weltbezug und sie bilden somit die Basis, um die philosophischen und metaphysischen Fragen nach der Welt zu stellen.
240 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik Merleau-Pontys Kritik am Idealismus bezieht sich auch auf einige Aspekte in Husserls transzendentalem Idealismus. (→ 1.2) So schreibt Merleau-Ponty in der Vorrede zur Phänomenologie der Wahrnehmung, dass der „konsequente transzendentale Idealismus […] die Welt aller Undurchdringlichkeit und Transzendenz“ (1945, vi/1966a, 8) entledige. Der Anspruch, die Welt vollständig in Wahrnehmungs- oder Erkenntnisakten einzuholen, werde somit weder der Offenheit der Welt noch der Erfahrung des Fremden gerecht. (1945, vi–vii/1966a, 8–9) Der transzendentalidealistische Anspruch steht daher laut Merleau-Ponty in einem Spannungsverhältnis zu anderen Aspekten der Philosophie Husserls: Während jener die vollständige Bestimmbarkeit voraussetzt, heben Husserls eigene phänomenologische Analysen der Zeitlichkeit und der Leiblichkeit gerade die konstitutive Offenheit und die irreduziblen Ambiguitäten der Erfahrung und des Verhältnisses zwischen Subjekt und Welt hervor. (1960, 259–295/2007, 233–264)
11.2 Die Relation zwischen Subjekt und Welt Merleau-Pontys Überlegungen zur Subjektivität spiegeln seinen Versuch, die Ambiguitäten der Erfahrung hervorzuheben und dabei Dualismen zu vermeiden. Dies erklärt auch seine kritische Auseinandersetzung mit transzendentalidealistischen Ansätzen, denn er verbindet deren Auffassung der Subjektivität mit der Idee einer vollständigen Selbsterfassung. Sich von einer Auffassung von Subjektivität als absolut konstituierendes Prinzip und als selbstständige Substanz gleichermaßen distanzierend, vertritt Merleau-Ponty einen relationalen Ansatz zur Bestimmung der Subjektivität: Subjektivität lässt sich nur ausgehend von ihrem Verhältnis zur Welt betrachten und die Analysen dieses Verhältnisses zeigen, dass Subjektivität zugleich weltlich und auf die Welt bezogen ist. Die Überwindung des Dualismus ergibt sich daraus, dass Merleau-Ponty seine Betrachtungen nicht ausgehend von der Polarität zwischen Subjekt und Objekt entwickelt. Diese Polarität basiert auf der Annahme zweier sich gegenüberstehender Entitäten, von denen die eine traditionell als aktiv und konstituierend, die andere als passiv und als zu konstituieren verstanden wird. Stattdessen geht Merleau-Ponty vom Verhältnis zwischen Subjekt und Welt aus, das nicht die Polarität eines Gegenübers, sondern zugleich ein Verhältnis der Teilnahme, der Differenzierung und der Gerichtetheit bezeichnet. Das Subjekt – das immer ein leibliches und zeitliches Subjekt ist – ist zwar Teil der Welt als Totalität dessen, was es gibt; es richtet sich aber auch auf die Welt in einer Weise, die eine Differenz oder eine Divergenz zu anderen Seienden zum Ausdruck bringt und somit neuen Sinn gestaltet. Die Polarität von Subjekt und Objekt lässt sich nur im Ausgang von der ursprünglicheren Relation zwischen Subjekt und Welt verstehen. Die Anerkennung des Primats dieser Relation impliziert eine Infra-
Michela Summa 241
gestellung der Dichotomie zwischen Innen und Außen und greift auf die Figur des Chiasmus vor, der eine zentrale Funktion in Merleau-Pontys späterer Ontologie zukommt. (→ 11.5) Denn „[d]ie Welt ist ganz innen, ich bin ganz außer mir“. (1945, 467/1966a, 464) Die Entwicklung dieses relationalen Ansatzes bringt eine Revision des Begriffs der transzendentalen Subjektivität mit sich, die durch die Ersetzung der Reduktion auf die Immanenz-Sphäre mit einer Reduktion auf das vor-objektive Sein vollzogen ist. (Dillon 1987; 1988; Gardner 2015; Summa 2017) Auf diese Weise distanziert sich Merleau-Ponty vom Begriff der konstituierenden Subjektivität (2003, 123) und ersetzt die Qualifikation ‚konstituierend‘ (constituant) durch die Qualifikationen ‚stiftend‘ und ‚gestiftet‘ (instituant, institué). Subjektivität stiftet zwar neuen Sinn durch die Wiederaufnahme des schon gegebenen Sinnes; sie ist aber selbst immer in einen Prozess der Stiftung involviert, die nicht von ihr abhängt. Das bedeutet gerade, dass Subjektivität kein selbstständiges und absolutes Prinzip ist, sondern immer relational – d. h. immer in Bezug auf die verschiedenen Formen der Alterität, die sich in der Welterfahrung konkretisieren – zu verstehen ist. (2003, 35) Insbesondere zwei Merkmale der Welt hebt Merleau-Ponty hervor: ihre Faktizität und ihre Individualität. Mit Faktizität meint er die Kontingenz und die Vorgegebenheit der Welt, die sich nie völlig durch die denkenden und konstituierenden Leistungen eines Subjekts einholen lassen, sondern von jeder solcher Leistungen immer schon vorausgesetzt sind. So lesen wir in der Vorrede zur Phänomenologie der Wahrnehmung: Nie kann ich von dieser ständigen These des Lebens: ‚Es gibt eine Welt‘ oder vielmehr ‚Es gibt die Welt‘ vollständig Rechenschaft geben. Die Weltlichkeit der Welt, was die Welt zur Welt macht, ist die Faktizität der Welt, wie auch die Faktizität des cogito nicht ihm als Mangel anhaftet, sondern gerade das ist, was meiner Existenz mich versichert. (1945, xii/1966a, 14)
Der anti-cartesianische Anspruch dieser Passage lässt sich deutlich daran erkennen, dass für Merleau-Ponty die Faktizität der Welt die Faktizität des Subjekts mitimpliziert. Die Anerkennung beider ist ein Ergebnis der phänomenologischen Reduktion. Diese vollzieht nämlich „ein[en] Bruch in unserem Vertrautsein mit der Welt“, der uns das „unmotivierte Entspringen“ der Welt und unserer selbst als welterfahrende Subjekte lehrt. (1945, viiif./1966a, 11) Die Reduktion erschließt die Welt einerseits als strukturiertes Ganzes, das vor jeder sinnkonstituierenden Tätigkeit da ist, andererseits als durch subjektive und intersubjektive Leistungen mitgestaltet. Merleau-Ponty plädiert für den Rückgang auf die erlebte Welt und beschreibt die Art und Weise, wie wir die Welt ursprünglich erfahren als „Wahrnehmungsglaube [foi perceptive]“. (1945, 303/1966a, 305) Unser primärer Zugang zur Welt gilt als eine Selbstverständlichkeit, als ein vorreflexives Vertrauen, das unseren Tätigkeiten zugrunde liegt. Ferner, wie Mer-
242 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik leau-Ponty auch in Anlehnung an Goldsteins (1934) Auffassung des Organismus betont, stellt uns die Welt Aufgaben, auf die wir mit unseren praktischen und theoretischen Tätigkeiten antworten. Das zweite Merkmal der Welt ist ihre eigentümliche Individualität: Die Welt ist „ein allumfassendes Individuum [individu qui embrasse tout]“. (1945, 395/1966a, 395) Damit meint Merleau-Ponty nicht die numerische Individualität von etwas, das sich durch Differenzierung von etwas anderem ergibt, sondern die Individualität eines Gesamtindividuums, d. h. einer sich im Werden individualisierenden Totalität, die als allumfassend, einzigartig und unwiederholbar gilt. Die Bezeichnung der Welt als allumfassendes Individuum dient dazu, die Totalität der Welt von der Totalität einer „Gesamtheit durch Kausalbezüge verknüpfter Gegenstände“ zu unterscheiden. (1945, 395/1966a, 395) Die Welt ist weder ein Gegenstand, der uns gegenübersteht und „dessen Konstitutionsgesetz sich zum Voraus in meinem Besitz befände“, (1945, v/1966a, 7) noch ist sie eine zerstückbare Einheit miteinander verknüpfter Gegenstände. Ferner fällt der Begriff der Welt nicht mit dem wissenschaftlichen Begriff des Universums zusammen. Denn dieser bezeichnet eine vollendete explizite Totalität, „innerhalb deren alle Bezüge solche wechselseitiger Determination“ sind. (1945, 85/1966a, 95) Der Begriff der Welt bezeichnet stattdessen eine offen unendliche Mannigfaltigkeit, „innerhalb deren alle Bezüge solche wechselseitiger Implikation sind“. (1945, 85/1966a, 95) Die Verhältnisse der ‚Determination‘ bzw. der ‚Implikation‘ kennzeichnen jeweils das Universum als geschlossene Totalität von kausal bestimmten und bestimmbaren Verhältnissen und die Welt als offene Mannig faltigkeit, in der sich neue Sinnbezüge aus den alten entfalten. Die Implikation, die hier gemeint ist, unterscheidet sich allerdings nicht nur von der kausalen Determination, sondern auch vom formal-logischen Gesetz der Implikation. Sie ist eine „wirkliche“ Implikation, in der leibliche Subjekte miteinbezogen sind. Damit bestätigt sich, dass die Relation zwischen Subjekt und Welt eine zweifache ist: Sie ist zugleich eine Relation der Teilnahme und des intentionalen Bezugs. Das leibliche Subjekt ist nämlich einerseits in der Welt und andererseits das, wodurch die Welt überhaupt gegeben ist – es ist das „Vermögen dieser Welt“. (1945, 402/1966a, 401) Die leibliche Subjektivität hat somit eine Sonderstellung im Implikationsverhältnis, das die Welt ausmacht: „mein Leib [ist] Bewegung auf die Welt zu […] und die Welt [ist] der Stützpunkt meines Leibes“. (1945, 402/1966a, 401) Aus diesem Grund vermeidet Merleau-Ponty jede Substantialisierung der Welt und bezeichnet diese nicht nur als ein allumfassendes, sondern auch als ein „unvollendetes Individuum“: (1945, 402/1966a, 401) Sie ist ein allumfassendes Individuum, weil sie die Gesamtheit der Implikationsverhältnisse enthält, und sie ist ein unvollendetes Individuum, weil die sinnstiftende Tätigkeit der subjektiven Erfahrung ein fortschreitender und prinzipiell nie abgeschlossener Prozess ist. Die Kehrseite dieser Auffassung ist, dass die Welt selbst prinzipiell nie vollständig erfasst werden kann. Jede Wahrnehmung ist perspektivisch, sie kann
Michela Summa 243
nur einen Teil der Welt erfassen aus dem Standpunkt, in dem wir uns leiblich befinden. Und dieser Standpunkt bildet gleichsam den blinden Fleck unserer Weltauffassung: Er ist der Punkt, von dem die Erfahrung ausgeht und kann nur nachträglich als solcher erfasst werden. Die Vollständigkeit der Welterfassung auszuschließen, bedeutet aber nicht, dass unsere perspektivische Erfahrung eine Art Verfälschung der Welt, wie sie an sich ist, wäre. Denn das Verhältnis zwischen Welt als Totalität und den einzelnen perspektivischen Erscheinungen ist ein Verhältnis des Ausdruckes: Die Welt als Ganzes drückt sich in jeder singulären und perspektivischen Erfahrung der Subjekte aus, denn jede partielle Erscheinung der Welt gilt als „Teil-ganzes [partie totale]“ (1964b, 267) oder als Ausdruck des Ganzen. (1964b, 155/1986, 157; 277) Da wir selbst als leibliche Subjekte in der Welt verortet sind, ist die Welt weder etwas, das wir mit mehr oder weniger Abstand beobachten können, noch etwas, das wir zum Gegenstand der Reflexion machen können, ohne uns selbst dabei miteinzubeziehen. Die Welt ist vielmehr das universale Milieu, in dem wir uns befinden und bewegen können. (Alloa 2017, 20–23) Mit dieser Weltauffassung distanziert sich Merleau-Ponty von allen philosophischen und wissenschaftlichen Versuchen, die Welt zu vergegenständlichen. Diese berücksichtigen nämlich nicht, dass ich all das, was ich von der Welt weiß, „weiß […] aus einer Sicht, die die meine ist, bzw. aus einer Welterfahrung, ohne die auch alle Symbole der Wissenschaft nichtssagend blieben oder vielmehr wären“. (1945, ii/1966a, 4) Gegen jede objektivierende Auffassung der Welt nimmt Merleau-Ponty den Begriff des Stils als Leitfaden für die Beschreibung der Welterfahrung: Ein Stil ist eine gewisse Weise, Situationen zu begegnen, die ich in einem Individuum oder bei einem Schriftsteller identifiziere oder verstehe, indem ich eine Art Nachahmung übernehme, selbst wenn ich außerstande bin, sie zu definieren, ja deren Definition, wie korrekt immer sie sein mag, nie das genaue Äquivalent ihrer selbst liefert und von Interesse nur für den ist, der sie bereits aus Erfahrung kennt. Ich erfahre die Einheit der Welt so, wie ich einen Stil erkenne. (1945, 378/1966a, 378)
Wir erkennen den Stil eines Schriftstellers, eines Malers oder den Stil der Bekleidung, der Bewegung und der Haltung einer Person. Was wir da erkennen, ist eine einheitliche Gestalt, die den Urheber erkennen lässt, ohne dass wir genau die Elemente oder die Merkmale dieser Einheit auflisten können. Der Stil ist nicht starr, sondern für Veränderungen offen, die aber immer noch eine Einheitsform erkennen lassen. Wir können einen Stil nachmachen, beschreiben und mit anderen vergleichen, aber wir können ihn weder genau definieren noch analysieren. Ferner erkennen wir einen Stil primär durch sinnliche Erfahrung und nicht durch Denkakte. Die These, dass wir die Einheit der Welt wie die Einheit eines Stils erkennen, basiert auf diesen Konnotationen des Stilbegriffs. Zunächst ist der Stil ein Ganzes, selbst wenn wir nur Zugang zu einem seiner Aspekte oder Äußerungen haben: So erkennt man z. B. den Stil von Stendhal in jedem einzelnen Roman
244 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik wieder und jeder gilt als partie totale, d. h. als ein Teil, der die Merkmale seines Stils als Ganzes ausdrückt. Der Stil ist nicht etwas jenseits dieser Werke, sondern äußert sich durch sie und durchdringt sie. Analog dazu drückt sich die Welt als ganze mit ihrem Erscheinungsstil in jeder einzelnen partiellen Erfahrung aus, die wir davon machen. Trotz der immer wiedererkennbaren morphologischen Einheit verändern sich Aspekte des Stils in jedem Werk – und analog dazu ist der Stil in jedem Aspekt der Welt, den wir gerade erfahren, teilweise veränderlich. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem objektivierenden Weltbild als Zusammensetzung einzelner Teile führt Merleau-Ponty auch den Begriff des ‚phänomenalen Feldes‘ ein, in dem sich unsere „lebendige Kommunikation mit der Welt“ (1945, 64 f./1966a, 76) abspielt. Diese ist primär die Kommunikation unserer Sinnesfelder, die Merleau-Ponty anhand des Primats synästhetischer Erfahrung analysiert. (1945, 260 f./1966a, 264 f.) Analog findet eine Kommunikation zwischen meiner sinnlichen Erfahrung und der Erfahrung anderer Subjekte statt und gerade diese Kommunikation unterliegt der Einheit des Dinges und der Welt als ganzer. (1945, 256 f.; 366 f./1966a, 260 f.; 367 f.) Wie jeder Sinn sich perspektivisch und partiell auf das Wahrnehmungsfeld als ganzes richtet, hat jedes Subjekt eine einzigartige und irreduzible Perspektive auf die ganze Welt, die aber mit der Perspektive jeden anderen Subjekts in Kommunikation steht. Die Kommunikation der Perspektiven unterliegt Merleau-Pontys Interpretation von Husserls Charakterisierung der Welt als „Horizont aller Horizonte“ (→ 1.5) oder „Stil aller Stile“ (1945, 381/1966a, 381) und sie schließt Reibungen, Spannungen und Inkompossibilitäten nicht aus. Diese ergeben sich aus der Pluralität der Erscheinungsweisen, die im offenen Horizont möglich sind. Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass das Weltverhältnis immer auch ein Verhältnis einer Pluralität von Mitsubjekten ist und das stellt nicht nur den Solipsismus, sondern auch den Dualismus zwischen Subjekt und Objekt in Frage. Vor diesem Hintergrund versteht sich auch, warum Merleau-Ponty betont, dass die Existenz des Anderen für das objektivierende Denken ein Problem oder sogar einen Skandal darstellt. (1945, 401/1966a, 400) Wenn wir aber von dem Teilnahme- und Distanzierungsverhältnis ausgehen und dabei die Welt als offenen Horizont gemeinsamer perspektivischer Erfahrung verstehen, dann ist der Andere auch immer schon als Moment der Implikation da und seine Existenz muss nicht erkenntnistheoretisch hinterfragt werden. Auch Merleau-Pontys Überlegungen über die soziale, geschichtliche oder die kulturelle Welt sollten deshalb als mit der Beschreibungswelt verbunden verstanden werden. Auch diese Dimensionen der Welt sind vorgegeben; das Soziale ist „je schon da, ehe wir es erkennen oder darüber urteilen“. (1945, 415/1966a, 414) Die soziale Dimension steht in einem Verhältnis der wechselseitigen Implikation zur primordialen Welt oder zur Natur. Denn Natur ist eine Dimension der Welt (oder des Seins, → 11.5), die als solche, d. h. unabhängig von allen kulturellen Überformungen, nicht gegeben ist. Natur zeigt sich in jeder Wahrnehmung als „durch eine Geschichte
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hindurchscheinende Natur“. (1945, 376/1966a, 376) Dennoch sind Dinge, die wir sonst immer innerhalb eines weltlichen und kulturellen Sinnzusammenhanges wahrnehmen, verwurzelt in „einem Grunde unmenschlicher Natur“, (1945, 374/1966a, 374) die uns als solche unzugänglich bleibt. Selbst wenn die Natur, wie Merleau-Ponty in seinem Kurs am Collège de France (1956/57) betont, einen eigenen Sinn hat bzw. „Selbsthervorbringung eines Sinnes“ (1994, 19/2000a, 19) ist, erweist sich dieser Sinn der Natur nur durch menschliche Tätigkeit und Kommunikation als zugänglich, etwa durch die Werke eines Malers wie Cézanne. Denn gerade diese primordiale Welt oder diesen Kern unmenschlicher Natur versucht Cézanne wiederzugeben: Die Erfahrung seiner Bilder, in denen die kulturell-menschlichen Umformungen ausgeklammert werden, ist die Erfahrung einer „Welt ohne Vertraulichkeit“, (1966b, 28/2000b, 21) einer Welt, die sich uns entzieht und daher als fremd erfahren wird. Die Natur als primordiale Welt (1966b, 23) bildet zugleich das Fundament, aus dem alle Sinngestaltungen entstehen, und der erkenntnis- und erfahrungsmäßig unzugängliche Grund, in dem sie sich auflösen. Die Subjektivität nimmt zugleich an dieser Natur teil und erlebt sie als fremd, unzugänglich und unfassbar.
11.3 Raum und Zeit als Grundstrukturen der Relation zwischen Subjekt und Welt Die Relation von Subjektivität und Welt entfaltet sich räumlich und zeitlich. In seinen Raum- und Zeitanalysen zeigt Merleau-Ponty, wie die beiden Dimensionen einerseits eine autonome Strukturierung haben, andererseits aber miteinander verflochten sind, indem sie jeweils der Situativität und der Prozesshaftigkeit unserer Erfahrung unterliegen. In der Phänomenologie der Wahrnehmung fokussiert Merleau-Ponty dabei sowohl die Räumlichkeit des Leibes im Zusammenhang mit leiblicher Bewegung als auch den Raum als Grundstruktur der wahrgenommenen Welt. Im Kapitel „Die Räumlichkeit des Leibes und die Motorik“ (1945, 114–172/1966a, 123–177) zeigt er, wie unsere primäre Erfahrung des Leibes und seiner Glieder ein vor-reflexives Bewusstsein der Räumlichkeit impliziert, das nicht mit dem Erfassen von objektiven Verhältnissen der Kontiguität bzw. des Abstandes gleichzusetzen ist. Obwohl wir den Leibkörper auch in Hinsicht auf seine Materialität betrachten – und somit auch Abstands- und Kontiguitätsverhältnisse zwischen ihm und anderen Körpern feststellen können –, ist die primäre und unmittelbare Erfahrung der Räumlichkeit des Leibes eine andere: Es handelt sich um ein implizites Bewusstsein der Lokalisation des ganzen Leibes in Bezug auf anderes Seiendes, das eine praktische Relevanz hat, und Bezug auf die Lokalisation einzelner Leibesglieder. Der Begriff des Körperschemas (schéma corporel, 1945, 115/1966a, 123) dient dazu, dieses implizite und vor-reflexive Bewusstsein der Räumlichkeit des eigenen Leibes zu bezeich-
246 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik nen. Anders als die Psychologie, aus der der Begriff stammt, versteht MerleauPonty das Körperschema nicht auf der Basis der empirischen Assoziation zwischen Stimuli und Lokalisation, als ob die zu lokalisierenden Körperteile durch ein Mosaik von Empfindungen gegeben wären. Das Körperschema bezeichnet für ihn vielmehr das Bewusstsein unseres Leibes als intentional auf die Welt gerichtete Einheit. Das Bewusstsein der durch das Körperschema erfahrenen Lokalisierung bezeichnet Merleau-Ponty als ‚Situationsräumlichkeit‘. Diese unterscheidet sich von der objektiven ‚Positionsräumlichkeit‘ dadurch, dass sie keine distanzierte Beobachtung von Abstandsverhältnissen impliziert, sondern immer mit dem teilnehmenden und interessierten Bewusstsein von potentiellen Tätigkeiten und der zu erfüllenden Aufgaben gekoppelt ist. (1945, 116 f./1966a, 125 f.) Die Betrachtung der Situationsräumlichkeit bringt die erwähnte Verflechtung von räumlichen und zeitlichen Bestimmungen zum Vorschein. (Waldenfels 2000, 110–151) Denn Räumlichkeit wird primär ausgehend vom leiblichen ‚Hier und Jetzt‘ erfahren und im Verhältnis zu den Aufgaben, die die jeweilige Situation uns stellt. Die räumlichen Verhältnisse sind dabei nicht formalisierbar, sondern hängen von den gegebenen faktisch-konkreten Umständen ab, die das Feld für mögliche Handlungen oder Tätigkeiten eröffnen. Die Erfahrung der leiblichen Situationsräumlichkeit bildet die Basis für die Erfahrung des objektiven Raumes. Hiermit ist nicht primär der Raum der exakten Wissenschaften gemeint, sondern der Raum, den wir mit anderen leiblichen Subjekten bewohnen. Mit ihnen verständigen wir uns z. B. über leibbezogene Koordinaten wie oben-unten, rechts-links, vorne-hinten usw. Diese Verständigung setzt die Fähigkeit voraus, „abstrakte Bewegungen“ durchzuführen, d. h. Bewegungen, die kein unmittelbares praktisches Ziel haben, auf Imagination basieren, oder Bewegungen, die wir z. B. in der Situation einer ärztlichen Untersuchung durchführen müssen (wie auf die eigene Nase zeigen). Die Unterscheidung zwischen abstrakten und konkreten Bewegungen wird anhand der Diskussion des von Gelb und Goldstein untersuchten ‚Falls Schneider‘ entwickelt. Obwohl Schneider trotz seiner Hirnverletzung konkrete, d. h. praktisch zielgerichtete, Bewegungen geschickt durchführen kann und das entsprechende Bewusstsein der Räumlichkeit hat, ist er nicht in der Lage, abstrakte Bewegungen durchzuführen und somit die primäre Stufe der Objektivation der Raumverhältnisse zu vollziehen. Er ist sich seines Körperraums nur als „Schlacke seines habituellen Tuns“ bewusst, „nicht aber als objektives Milieu, sein Leib ist ihm verfügbar als Mittel, sich einzufügen in eine vertraute Umgebung, nicht aber als Ausdrucksmittel zweckfreien räumlichen Denkens“. (1945, 121/1966a, 130) Im Kapitel „Der Raum“ in der Phänomenologie der Wahrnehmung (1945, 281–344/1966a, 284–296) erweitert Merleau-Ponty seine Überlegungen auf den gelebten Raum. Er setzt sich dabei zunächst mit Kants Auffassung des Raumes als Form des äußeren Sinnes in der „Transzendentalen Ästhetik“ der Kritik der reinen Vernunft auseinander. In Übereinstimmung mit Heideggers und zum Teil
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mit Husserls Kant-Interpretation (Summa 2014, 37–85) erkennt er zunächst an, dass Kant sich von der Auffassung des Raumes als bloßes Gefäß für existierende Dinge abgrenzt. Die Bezeichnung des Raumes als Form verweist vielmehr auf den Horizont der Möglichkeiten für räumliche Ordnungen, die sich für ein Subjekt erschließen. Allerdings betont Merleau-Ponty auch, dass diese Auffassung uns vor die folgende irreführende Alternative stellt: Entweder ist der Raum das Gefäß, in dem sich Dinge befinden; oder der Raum ist eine bloße subjektive Form, die die Erfahrung ermöglicht. Diese Alternative setzt die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt voraus, die Merleau-Ponty überwinden will. MerleauPonty versucht daher, den Raum anhand des Verhältnisses zwischen Subjekt und Welt zu betrachten: Der Weltraum ist weder ‚draußen‘ (als Gefäß) noch ‚drinnen‘ (als Form der Sinnlichkeit); er gehört vielmehr dem Zwischenbereich an, der die konkrete Gestaltung der leiblichen Intentionalität ausmacht. Die Strukturen des weltlichen Raums untersucht Merleau-Ponty anhand der Betrachtung der Richtungen, der Tiefe, der Bewegung und des kulturellen Raums. Als besonders wichtig – auch in Hinblick auf seine spätere Ontologie – erweist sich dabei die Tiefe. (Morris 2004) Tiefe versteht Merleau-Ponty nicht als die dritte Dimension unserer leiblichräumlichen Erfahrung, sondern als eine existentielle Struktur, die mit Affektivität verbunden ist. (1945, 295–298/1966a, 298 f.) In seinen späteren Schriften betrachtet er den Raum und vor allem die Dimension der Tiefe aus einer stärker ontologisch geprägten Perspektive. Dabei steht nicht mehr die anthropologische oder existentielle Erfahrungsweise des Raumes im Vordergrund, sondern die Strukturen der Überlappung (empiètement) und der Verwicklung (enveloppement), die das Sein als solches ausmachen. (1964a/1984b) Dementsprechend entwickelt sich auch Merleau-Pontys Auffassung des Naturraums, den er nicht mehr als den naturwissenschaftlichen und mathematisierbaren Raum betrachtet, sondern als den Raum des wilden Seins, der seinen Ausdruck z. B. in Cézannes Malerei findet. Diese zeigt einerseits, warum wir auf das Ideal eines allumfassenden Blicks von nirgendwo verzichten und die Objektivität des Raumes an die situierte Erfahrung leiblicher Subjekte koppeln sollen, und andererseits, dass es ein unheimliches und fremdes Moment in der Erfahrung des Raums der primodialen Welt gibt. Die Erfahrung der Räumlichkeit, die wir bei der Betrachtung von Cézannes Werken machen, steht entschieden der Erfahrung eines domestizierten Raums entgegen, die wir z. B. bei der Betrachtung der Renaissance-Malerei haben. Die Umformung des Raumes und insbesondere der Tiefe durch die Gesetze der klassischen Perspektive stiften eine Vertrautheit, die wir in unserer primären Erfahrung der Welt als rohes Sein nicht haben. Auch der Zeit widmet Merleau-Ponty ein wichtiges Kapitel der Phänomenologie der Wahrnehmung. (1945, 469–496/1966a, 466–493) Aber nicht nur dieses Kapitel thematisiert die Zeitlichkeit, die zeitliche Strukturierung wird vielmehr durch das ganze Werk hindurch als wesentlich für das Verhältnis von Subjektivi-
248 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik tät und Welt adressiert, denn sie ermöglicht uns, klassische Dualismen (Subjekt/ Objekt; Innen/Außen) zu überwinden. Merleau-Ponty kritisiert dabei zunächst das Bild der Zeit als eines Flusses. Diese Kritik macht auf die Aporien aufmerksam, die sich aus diesem Bild ergeben und die Merleau-Ponty mit einer impliziten Vergegenständlichung der Zeit verbindet. Das Fließen der Zeit müsste auch von einem Seienden wahrgenommen werden, das selbst in der Zeit bzw. zeitlich ist und wenn dessen Zeitlichkeit auch als ein Fließen aufgefasst wäre, hätten wir einen unendlichen Regress. Jede Objektivierung der Zeit – sei es auch nur eine bildliche – setzt für Merleau-Ponty die ursprünglichere Erfahrung der Zeit in statu nascendi voraus, die vor jeder begrifflichen Umformung durch die Begriffe der Vergänglichkeit, der Ewigkeit oder der Dauer als vorgegeben gilt. Diese basale Dimension der Zeitlichkeit zeigt sich in unserem „Präsenzfeld“, (1945, 475/1966a, 472) in dem die zeitlichen Momente miteinander verflochten sind. So ist in jeder Erinnerung nicht nur das einzelne vergangene Moment vergegenwärtigt, sondern der ganze Horizont der in diesem Moment implizierten Offenheit zur Vergangenheit und zur Zukunft, die mittlerweile selbst Gegenwart und/ oder Vergangenheit geworden ist. In diesem Feld erscheint die Zeit mit ihren Dimensionen „leibhaftig […], in letzter Evidenz und ohne eingeschobenen Abstand“. (1945, 476/1966a, 473) In dieser Evidenz sehen wir „eine Zukunft in die Gegenwart und in die Vergangenheit hinübergeleitet“, (1945, 476/1966a, 473) wobei die zeitlichen Dimensionen nicht voneinander abgegrenzt werden, sondern eine werdende Einheit der Verflechtung bilden. Statt vergegenständlicht zu werden, müsste die Zeit vielmehr selbst relational verstanden werden, d. h. als eine einzige Struktur der Erscheinung, in der Subjekt und Objekt abstrakte Momente sind. Diese Struktur ist gerade die der „Gegenwart“ (1945, 498/1966a, 489) oder des „Präsenzfeldes“, d. h. der Zeit in statu nascendi. Als Momente dieser einheitlichen Struktur sind Subjekt und Objekt selbst zeitlich zu verstehen. Diese Überlegungen, die sowohl von Husserls Zeitanalysen als auch von Heideggers Gedanken der zeitlichen ‚Ek-stase‘ inspiriert sind, haben drei wichtige metaphysische Implikationen. Die erste Implikation betrifft die Infragestellung eines von der Zeit losgelösten Absoluten. Ausgehend von der Bemerkung, dass wir einen Zugang zur Zeit als solcher nur durch die Vermittlung der Erfahrung einer bestimmten Situation haben, schreibt Merleau-Ponty: Die Welt als der Kern der Zeit ist nur durch jene einzige, Gegenwärtiges und Vergegenwärtigtes in eins scheidende und verknüpfende Bewegung, und das Bewußtsein, das als der Ort der Klarheit gilt, ist in Wahrheit der Ort der Zweideutigkeit selbst. Unter diesen Umständen kann man freilich, wenn man will, sagen, absolut existiere nichts, und in der Tat wäre mit größerer Strenge zu sagen, nichts existiere, vielmehr alles zeitige sich. Doch Zeitlichkeit ist keine mindere Existenz. (1945, 383/1966a, 383)
Damit verbunden ist eine zweite Implikation, die den Begriff der Ewigkeit betrifft. Von Ewigkeit als jenseits oder außerhalb der Zeit zu sprechen, gilt als ein bloßes Konstrukt des objektivierenden Denkens oder als ein „Philosophen-
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traum“. Denn der Begriff der Ewigkeit gewinnt seinen Sinn nur, indem er auf Zeitlichkeit verweist; wenn der Begriff jeden Bezug zur Zeitlichkeit ausschließt, ist er leer. So ist die einzige Ewigkeit, der wir begegnen können, „nur im Innersten unserer Zeiterfahrung selbst, nicht in einem zeitlosen Subjekt, das sie zu denken und zu setzen berufen wäre“. (1945, 475/1966a, 472) Genauer gesagt kann Ewigkeit nur im Prozess des Zeitverlaufes selbst bestehen: Was nicht in der Zeit verläuft, ist nur der Verlauf der Zeit selbst. Die Zeit beginnt sich selber stets aufs neue: Gestern – heute – morgen, dieser zyklische Rhythmus, diese konstante Form vermag uns die Illusion zu geben, sie mit einem Schlage ganz zu besitzen, so wie der Strahl der Fontäne uns ein Gefühl von Ewigkeit gibt. Doch ihre Allgemeinheit ist ein sekundäres Attribut der Zeit und stellt sie nur in uneigentlicher Weise vor, denn wir können uns keinen Kreis denken, ohne in ihm Ausgangs- und Ankunftspunkt zeitlich zu unterscheiden. Das Gefühl der Ewigkeit ist trügerisch, es nährt sich alle Ewigkeit nur aus der Zeit. Der Strahl der Fontäne bleibt derselbe nur durch den ständigen Andrang des Wassers. Die Ewigkeit ist die Zeit des Traumes, der Traum aber verweist auf das Wachen zurück, dem er alle seine Strukturen entlehnt. (1945, 484/1966a, 481)
Schließlich betrifft die dritte Implikation das Subjekt selbst in seinem Weltverhältnis. Merleau-Ponty versteht die Zeit des Präsenzfeldes mit seinen verflochtenen Dimensionen als die basale Struktur, dessen unselbstständige Momente Subjekt und Objekt sind. Ferner bezeichnet er im obigen Zitat die Welt selbst als „Kern der Zeit“, d. h. als das allumfassende Präsenzfeld. Dennoch gewinnt das Verhältnis von Zeit und Subjektivität eine ausgezeichnete Bedeutung, weil das Subjekt zugleich in der Zeit ist und sich zur Zeit verhält. Aus diesem Grunde schreibt Merleau-Ponty schon in der Phänomenologie der Wahrnehmung, dass wir „die Zeit als Subjekt, das Subjekt als Zeit begreifen“ müssen. (1945, 483/1966a, 480) Die These, dass das Subjekt als Zeit und die Zeit als Subjekt verstanden werden soll, klingt nur dann rätselhaft, wenn wir von einer dualistischen Auffassung ausgehen und Subjektivität ausschließlich als transzendentales Prinzip der Konstitution auffassen. Sobald wir aber die Zeit als eine Dimension der Existenz betrachten, erschließt sich die Situiertheit des Subjekts in der Zeit, d. h. in der Weltzeit, als seine personale Geschichte. Es zeigt sich dabei, inwiefern das Subjekt nicht nur als zeitlich konstituierend, sondern ebenso gut als durch die Zeit konstituiert gilt. Dieser Gedanke nimmt die später entwickelte These vorweg, dass das Subjekt zugleich als zeitlich stiftend und gestiftet gilt. (→ 11.2) Die so verstandene Zeitlichkeit impliziert außerdem eine Verflechtung von Aktivität und Passivität: Das Phänomen der Zeitigung ist nicht etwas, was das Subjekt von sich aus initiieren kann, ebenso wenig wie das Subjekt sich entscheiden kann, geboren zu werden. Als zeitigend ist das Subjekt immer schon in einer Welt, die vor und nach ihm zeitlich war und sein wird. Die Spontaneität der Zeitigung geht von der Situiertheit des Subjekts und von der relationalen Struktur seines ‚Zur-Welt-Seins‘ (être-au-monde) aus. In diesem Sinne unterliegt die Zeitlichkeit der grundlegenden Nicht-Koinzidenz und Nicht-Transparenz
250 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik der Selbsterfahrung. Gleichzeitig aber bedeuten diese Merkmale der Selbsterfahrung die Offenheit des Subjekts zum anderen und zur Geschichte. Die Geschichtlichkeit fokussiert Merleau-Ponty in seinen späteren Schriften im engen Zusammenhang mit metaphysischen Überlegungen. Die Zeitlichkeit der Stiftung erschießt nämlich die Struktur der Geschichtlichkeit, (1968, 43– 65/1973, 67–77; 2003, 36) bzw. sie eröffnet den Weg für die Entwicklung der Phänomenologie in eine „Metaphysik der Geschichte“. (1968, 65/1973, 77; 1960, 52 f./2007, 55 f.) Merleau-Ponty bezieht sich dabei auf Husserls (Hua VI) Betrachtung des wechselseitigen Zusammenhanges zwischen den Momenten der ‚Urstiftung‘, der ‚Nachstiftung‘ und der ‚Endstiftung‘. Diese bezeichnen jeweils das Entstehen einer Ordnung und deren Etablierung (Urstiftung), die Reaktivierung der Urstiftung in einem neuen Kontext (Nachstiftung) und die Etablierung einer auf der Wiederaufnahme der Urstiftung, aber auch auf der Diskrepanz mit der schon etablierten Ordnung basierenden neuen Ordnung (Endstiftung). Die Tradition ergibt sich aus diesem Prozess und zwar genauer aus dem „Vergessen“ der Urstiftung, bzw. des Ursprunges. (1960, 74; 201/2007, 81; 233; 1996; 1998; D’Angelo 2019) Die Zeitlichkeit der Stiftung lässt sich nicht durch die Dichotomie zwischen objektiver und subjektiver Zeit verstehen. Ihre Analyse setzt vielmehr den Begriff des Ereignisses voraus, (Terzi 2017) der das Entstehen von etwas Neuem und zugleich den Bruch oder die Divergenz mit dem Vorgegebenen bezeichnet. Das Ereignis als Neustiftung eröffnet ein neues zeitliches Feld und ist somit Zeitlichkeit in statu nascendi. Die Zeitlichkeit des stiftenden Ereignisses lässt sich aber nicht auf einem bestimmten Zeitpunkt fixieren. Vielmehr enthält sie ebenfalls die Verflechtung der zeitlichen Dimensionen. Denn erstens erschließt sich das Ereignis der Stiftung erst nachträglich und es gerät in Vergessenheit, wenn es eine Tradition gründet. Zweitens erweist sich das Moment der Stiftung als eine in der Vergangenheit verankerte Gegenwart, die die Möglichkeit einer Zukunft eröffnet hat, ohne diese völlig zu bestimmen. So ist jedes Ereignis der Stiftung zugleich eine Wiederaufnahme des Vergangenen und eine Transformation, die selbst durch immer neue Wiederaufnahmen geschieht. Damit verbindet Merleau-Ponty eine Revision von Hegels Phänomenologie. Denn diese entdeckt zwar eine lebendige, aktuelle und originäre Verbindung der Momente der Welterfahrung in ihrer Entwicklung; sie setzt aber diese Verbindung in die Vergangenheit und ordnet sie der systematischen Sichtweise der Philosophie unter. (1968, 65/1973, 76 f.) Stattdessen soll eine auf dem Phänomen der Stiftung gründende Philosophie der Geschichte die Zugangsweise der Bewusstseinsphilosophie und der Philosophie des Geistes hinterfragen, (1968, 59 f./1973, 74) indem sie auf die Ereignisse zurückgeht, die „eine Abfolge oder Wiederaufnahme fordern, d. h. eine Forderung auf die Zukunft stellen [appel à une suite, exigence d’un avenir]“. (1968, 61/1973, 75) Die Phänomenologie erschließt die Geschichtlichkeit des Sinnes nicht in Hinblick auf Vollendung oder
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auf das absolute Wissen; sie versteht vielmehr geschichtliche Zeit als einen offenen und unbestimmten Horizont des Werdens. Geschichte zeichnet somit ein zeitliches Feld aus, in dem sich unsere Erfahrung entwickelt. Dieses Feld ist sowohl durch Diskontinuitäten gekennzeichnet, die die Zeitlichkeit der urstiftenden Ereignisse ausmachen, als auch durch die Prozesse der Wiederaufnahme und der Etablierung einer Tradition. Wie Subjektivität ist Geschichte selbst zugleich stiftend und gestiftet: Es gibt eine Dimension der Geschichte, die durch eine Tradition schon gestiftet ist; aber es gibt auch in jedem Moment der Geschichte das Potential für Änderungen bzw. für eine Neustiftung, die durch Wiederaufnahme geschieht. Die Geschichte – als die Verflechtung des stiftenden Ereignisses, der Tradition und der Wiederaufnahme – charakterisiert Merleau-Ponty demnach als ein Milieu, „wo eine kontingenzbehaftete Form plötzlich eine zukunftsträchtige Entwicklung anbahnt und sie mit der Autorität einer instituierten Instanz steuert“. (1960, 120 f./2007, 176) Geschichte versteht Merleau-Ponty als durch eine „Logik in der Kontingenz [logique dans la contingence]“ (1968, 46) geprägt. Hiermit will er sich vom Dualismus zwischen einer idealistischen und einer empiristischen Philosophie der Geschichte abgrenzen: Die einzelnen geschichtlichen Episoden und Ereignisse sind weder der Ausdruck einer in der Verborgenheit operierenden Vernunft noch die bloße Abfolge unverbundener Geschehnisse. Die Logik in der Kontingenz ist eben die Logik der Stiftung, der Tradition und der Wiederaufnahme. Denn jedes Ereignis gewinnt einen Sinn insofern, als es eine schon gestiftete Tradition voraussetzt und den Horizont für die Wiederaufnahme und die Neustiftung eröffnet. Andererseits aber modifiziert das Ereignis die Tradition selbst, indem es eine Divergenz einführt, die die Möglichkeit der Stiftung von einer neuen Ordnung eröffnet. (2003, 40) Merleau-Ponty spricht diesbezüglich auch von einer „wilden“ oder „vertikalen“ Geschichte. Ihre Genese und Entwicklung sind nicht durch ein Vernunftprinzip regiert; sie baut vielmehr aus sich selbst ihren Sinn auf und bezeichnet ein zeitliches Feld, das diesseits der Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Geist liegt. (2003, 178 f.) Die Logik in der Kontingenz, die Merleau-Ponty als charakteristisch für die Geschichte ansieht, muss der Pluralität der individuellen und auch kulturellen Geschichten Rechnung tragen. Sie holt das Ideal einer universalen Geschichte nur insofern ein, als diese keine rein geistige Universalität bezeichnet, sondern die ontologische Teilnahme aller Geschichten am einzigen Fleisch der Welt impliziert. (2003, 118 f.)
11.4 Ein responsiver Ansatz zu Kausalität und Freiheit Merleau-Ponty hat sich tiefgehend mit wissenschaftlichen Entwicklungen, vor allem in der Biologie, in der Neurologie, in der Psychologie und in der Psycho-
252 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik pathologie, auseinandergesetzt. Diese Auseinandersetzung betrifft auch den Begriff der Kausalität. Merleau-Ponty kritisiert schon in der Struktur des Verhaltens die These, dass Naturverhältnisse – und vor allem die Verhältnisse zwischen dem Organismus und seinem Milieu – auf „linearer“ Kausalität basieren. (1942, 13/1976, 16) Nach dieser These, die insbesondere in Forschungen über Reflexverhalten vorausgesetzt wird, sind organismische Reaktionen eindeutig und in linearer Folge von bestimmten Stimuli verursacht. Gegen diese Auffassung betont Merleau-Ponty, auch im Anschluss an Autoren wie Goldstein (1934), Buytendijk und Plessner (1936) und von Weizsäcker (1927), dass wir schon bei elementaren Organismen solche linearen Verhältnisse nicht voraussetzen können. ‚Stimulus-Sein‘ ist keine objektive Bestimmung: Es gibt keine Gegenstände oder Sachverhalte, die als solche Stimuli sind, sondern etwas kann zu einem ‚Stimulus‘ werden, indem es eine bestimmte Antwort im Organismus auslöst. Darüber hinaus soll jede Antwort des Organismus im Verhältnis zum Ganzen seiner umweltlichen Erfahrung betrachtet werden. Die Antwort ist nicht bloß kausal bedingt; sie ist vielmehr ein Ausdruck des intentionalen Verhältnisses zwischen dem Organismus und seinem Milieu. (Summa/Mertens 2018) Dieses intentionale Verhältnis ist hier allgemein als eine Relation zu verstehen, in der ‚Sinn‘ gestiftet wird, wobei der Begriff ‚Sinn‘ (sens) in seiner Doppeldeutigkeit zu nehmen ist: sowohl in Bezug auf Bedeutsamkeits- und Relevanzstrukturen als auch in Bezug auf Richtung und Orientierung. (1942, 5 f./1976, 11 f.) Reflexverhalten lässt sich also nicht als eine Reaktion auf einen einzelnen und bestimmten Stimulus verstehen, sondern als eine Antwort auf Aufforderungen oder Aufgaben, die der Organismus in seinem Milieu wahrnimmt. (1942/1976; Goldstein 1934; Waldenfels 1980) Wenn Verhalten ein responsives Verhältnis zwischen Organismus und Milieu ist, in dem Sinn entsteht, dann soll Kausalität auch als Wechselwirkung oder als „zirkuläre“ Kausalität verstanden werden. (1942, 13–16; 33 f./1976, 16 f.; 36 f.; Fuchs 2007, 121 f.; Thompson 2007, 66 f.) Zirkuläre Kausalität versteht Merleau-Ponty als ein dialektisches Verhältnis zwischen Organismus und Milieu, das Entwicklung in der Naturgeschichte ermöglicht: Es ermöglicht das Entstehen von neuen Strukturierungen gerade durch die Wiederaufnahme der schon etablierten in einem Prozess der Neustiftung. Merleau-Pontys Kritik an linear deterministischen Erklärungen, die auf der Hervorhebung der Einbettung des Subjekts in Naturverhältnisse und in kontingente Situationen gründen, zeigt sich auch in seinen Überlegungen zur Freiheit. Auch diesbezüglich finden wir die Momente der Stiftung und der Wiederaufnahme wieder. Anders als Verhalten setzen aber freie Entscheidung und Handlung die Fähigkeit der Abstandnahme von dem voraus, was unmittelbar in einer Situation gegeben ist. Wie Merleau-Ponty betont, ist Freiheit zwar nicht von meinem Zur-Welt-Sein abzutrennen. Sie bedeutet aber „mich auf nichts von alledem, was ich erlebe, je reduzieren zu können, hinsichtlich jeder faktischen Situation die Fähigkeit des Abstandes zu behalten“. (1945, 413/1966a, 412) Die
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These, dass Freiheit immer Freiheit in einer Situation ist, entwickelt MerleauPonty dabei in kritischer Auseinandersetzung mit Sartre. (1943, 477 f./1982, 552 f.) Obwohl beide Denker den situativen Charakter der Freiheit betonen, distanziert sich Merleau-Ponty von Sartres Charakterisierung der Freiheit als unausweichlicher Bestimmung der menschlichen Existenz und als negierende Spontaneität des Bewusstseins. Eine so verstandene Freiheit erwiese sich für ihn als abgekoppelt von der Verflechtung mit dem, was faktisch gegeben ist. Merleau-Ponty kritisiert erstens Sartres ‚Verabsolutierung‘ der Freiheit, denn nach Sartre ist Freiheit alles oder nichts und sie lässt als solche keine Beeinträchtigung und keine Gradation zu. (→ 9.6) Zweitens betrachtet er Sartres Definition der Freiheit als souveräner selbstbestimmender Akt des Bewusstseins, das sich aufgrund seines Nichtigkeitscharakters versteht, als tautologisch und unproduktiv. (1945, 496 f./1966a, 493 f.) Freiheit lässt sich für Merleau-Ponty nur dann adäquat verstehen, wenn ihre Situationsbezogenheit nicht ausgehend von einem absolut nichtenden Akt verstanden wird, sondern vom Prozess der Wiederaufnahme. Jeder freie Akt etabliert zwar eine Distanz zu dem, was unmittelbar gegeben ist; gerade dadurch setzt er sich aber vor offene und unvollständige Möglichkeiten. Das, was situativ vorgegeben ist, macht insofern den Hintergrund für jeden freien Entwurf aus, als es nicht nur faktisch gegeben, sondern immer auch als die Eröffnung eines Horizontes unbestimmter Möglichkeiten gilt. Die Freiheit zerstört die gegebene Situation nicht, sondern greift in sie ein. Und dies ist nur möglich, weil unsere Situation „solange wir leben, eine offene [ist], was zugleich besagt, dass sie privilegierte Weisen ihrer Auflösung fordert, von sich aus dabei aber ohnmächtig ist, eine solche herbeizuführen“. (1945, 505/1966a, 502) Unser Eingriff in die Situation ist gerade aufgrund dieser Ohnmacht erforderlich. Es geht bei jedem freien Akt darum, sich zur jeweiligen Situation in ein Verhältnis zu setzen, diese durch Distanzierung wiederaufzunehmen und somit ihre mögliche Transformation anzubahnen. Da aber die Situation immer geschichtlich ist und sich aus Urstiftungen, Sedimentierungen und Neustiftungen ergibt, kann Freiheit selbst nicht abgekoppelt von der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit betrachtet werden. Das impliziert schließlich, dass die Realisierung der Freiheit als ein offener und unabgeschlossener Prozess in der Geschichte gilt. Denn die vollständige Realisierung einer absoluten Freiheit, die nicht selbst offen, unvollständig und situiert wäre, würde die Zerstörung der Freiheit selbst bedeuten.
11.5 Die Ontologie des wilden Seins Dass Merleau-Ponty kein umfassendes Werk explizit der Metaphysik gewidmet hat, gab den Anlass zu einigen Interpretationen seiner Philosophie, nach denen die Metaphysik auf die Ontologie zurückzuführen sei. (Dalissier 2017a,
254 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik 19 f.) Ansatzweise kann man diese Interpretation auch bereits bei De Waehlens (1951, 392 f.) finden: Merleau-Pontys Ontologie stellt für ihn die Vollendung seiner Phänomenologie dar und richtet sich auf Fragen, die eine metaphysische Bedeutsamkeit haben, insbesondere auf die Frage nach dem Absoluten, ohne diese aber im Rahmen einer Metaphysik des Absoluten zu entwickeln. Obwohl die Ontologie eine ausgezeichnete Rolle vor allem in Merleau-Pontys Spätwerk spielt, haben die vorstehenden Überlegungen gezeigt, dass metaphysische Implikationen auch andere Aspekte seiner Phänomenologie betreffen. Darüber hinaus lässt sich Merleau-Pontys späte Ontologie auch als eine Vertiefung seiner früheren Fragestellungen ansehen, die vor allem das Ziel haben, den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt zu hinterfragen und das ‚Zwischen‘ als die grundlegende Dimension der Erfahrung und des Seins hervorzuheben. (Waldenfels 1987, 198 f.) Mit seiner neuen Ontologie setzt sich Merleau-Ponty das Ziel, das Projekt einer Ontologie der Lebenswelt zu verfolgen und zu vertiefen, das Husserl in seinem eigenen Spätwerk angebahnt und dennoch offengelassen hatte. (1960, 201– 229/2007, 234–264) Dabei spielt der Gedanke der Strukturierung eine entscheidende Rolle: Merleau-Pontys „Denken in Strukturen“ schließt sich an Saussures und Freuds Forschungen an, wird immer mehr von den subjektiven Leistungen abkoppelt und nimmt progressiv „die Form einer Ontogenese“ (Waldenfels 1987, 198) an. Denn nach Merleau-Ponty widerlegt die Reduktion auf die Lebenswelt durch die Hervorhebung ihrer konstitutiven Opazität jeden Anspruch auf Transparenz, der im Transzendentalidealismus noch impliziert ist. (Barbaras 1991, 98) Somit wird Merleau-Pontys „Intra-Ontologie“ (1964b, 280/1986, 288) zur Enthüllung „des wilden oder rohen Seins auf dem Weg von Husserl und der Lebenswelt, für die man offen ist“. (1964b, 237/1986, 237) Die Aufgabe der Phänomenologie in der Entwicklung einer Ontologie des wilden Seins besteht deshalb konsequenterweise darin, durch die Wiederaufnahme der Thematik der Lebenswelt ihr eigenes Verhältnis zur Nicht-Phänomenologie oder zu dem, was der Phänomenologie anscheinend widersteht, zu durchdenken. Dieser widerstehende Bereich ist gerade der des „wilden“ oder „rohen“ Seins (1960, 215/2007, 249) als „barbarisches Prinzip“ (1960, 225/2007, 260), dem sich die Phänomenologie dennoch zuwenden soll. Es handelt sich um jene Dimension des Seins, die einerseits vor jeder begrifflichen Erfassung, vor jeder Syntax und Idealisierung gegeben ist. (1964b, 139/1986, 138) Andererseits handelt es sich um die Dimension des „Zwischen“, die eine „Mischung zwischen der Welt und uns“ (1964b, 138/1986, 138) und ein „Übergreifen des Ganzen auf das Ganze, Sein in Promiskuität“ (1964b, 287/1986, 296) bezeichnet. Die phänomenologische Ontologie des wilden Seins sollte allerdings nicht als eine Art begrifflicher Domestizierung verstanden werden. Denn die primordiale, rohe Schicht des Seins entzieht sich der strikten Kategorisierung und insbesondere jeder dualistisch geprägten metaphysischen Kategorisierung. Mer-
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leau-Ponty betrachtet deshalb auch nicht die Philosophie, sondern die Malerei, in ausgezeichneter Weise bei Malern wie Klee, Ernst und Cézanne, als die Zugangsweise zu dieser Dimension des Seins. Schon im 1945 verfassten Aufsatz Der Zweifel Cézannes betont Merleau-Ponty, wie Cézannes Malerei den „Boden einer unmenschlichen Natur, auf dem der Mensch sich einrichtet“, enthüllt und damit eine Schicht der Welt, die für unsere Zugangsweise „ohne Vertraulichkeit“ bleibt: eine Weltschicht, „in der man sich unwohl fühlt, und die sich gegen alle menschlichen Gefühlserregungen sperrt“. (1966b, 28/2000b, 21) Diese Schicht des wilden Seins vor jeder kategorialen Umformung ist der Ort, aus dem alle Sinngestaltungen entstehen. Merleau-Ponty entwickelt seine Ontologie des wilden Seins ferner anhand des Begriffs des Fleisches (chair), der sich als seine späte Auffassung des Sinnlichen verstehen lässt. (Alloa 2017, 58 f.) Fleisch ist das, worin wir uns bewegen, zu dem wir uns verhalten und an dem wir teilhaben. (1964b, 182 f.; 310/1986 183 f.; 329) Dem Begriff des Fleisches entspricht keine traditionelle metaphysische Kategorie: Er bezeichnet weder Materie noch Form; weder Geist noch Körper noch ihr Kompositum; weder eine Substanz noch ein Akzidens. Er lässt sich auch nicht anhand der Trennung zwischen dem Empirischen und dem Idealen, dem Individuellen und dem Universalen verstehen. Er wird vielmehr im Sinne der vorsokratischen Philosophie als „Element“ (1964b, 184–188/1986, 183–187) bezeichnet. Denn wie die Elemente ist das Fleisch eine konkrete Allgemeinheit, die sich nicht nur den dualistischen Alternativen entzieht, sondern auch als eine für die Totalität repräsentative Singularität (partie totale) oder als das konkrete Emblem einer allgemeinen Seinsart gilt. (1964b, 191/1986, 193) Durch den Begriff des Fleisches vollzieht sich Merleau-Pontys Projekt einer Metaphysik der Relation, die ansatzweise schon in früheren Überlegungen zu Subjektivität und Welt präsent ist. Der Begriff des Fleisches bezeichnet nämlich gerade die relationale Einheit des wilden Seins als sehend und sichtbar sowie der Dimensionen des Sichtbaren und des Unsichtbaren. (1964b, 198; 281 f.; 309 f./1986, 198; 289 f.; 324 f.) Diese Momente sind untrennbar miteinander verwoben; sie sind nur, sofern sie für das jeweils andere sind. Die relationale Einheit des Fleisches, die jedoch keine Verschmelzung ist, wird anhand des Begriffs des Chiasmus beleuchtet. Obwohl dieser Begriff ontologische Strukturen bezeichnet, die zumindest ansatzweise schon in früheren Werken zu finden sind, wird er nur dann explizit verwendet, wenn Merleau-Ponty ausdrücklich von einer Bewusstseinsphilosophie Abstand nimmt. (Alloa 2017, 58 f.; Barbaras 1991, 89 f.; 181 f.; Toadvine 2012) Der Chiasmus ist eine rhetorische Figur der semantischen und grammatikalischen Kreuzung. Visualisieren lässt sich diese Struktur durch den griechischen Buchstaben χ (chi), von dem die Benennung abzuleiten ist, denn Die Struktur des Chiasmus ist die einer Kreuzung zweier Linien, von denen jeder zwei Termini miteinander verbindet. Diese Figur erarbeitet Merleau-Ponty ausgehend
256 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik vom Phänomen der tastenden und betasteten Hand, das Husserl schon in den Ideen II (Hua IV, 144 f.), deren Manuskript Merleau-Ponty in den Archiven gelesen hatte, beschreibt. Die vier Termini, die sich im Chiasmus der tastenden und betasteten Hand kreuzen, sind: (i) die Erfahrung der tastenden Hand von sich selbst als tastend; (ii) die Erfahrung, die die tastende Hand von der betasteten hat; (iii) die Erfahrung der betasteten Hand von sich selbst als betastet; (iv) die Erfahrung, die die bestastete Hand von der tastenden hat. Was Merleau-Ponty an diesen sich kreuzenden Übergängen interessiert, ist deren dynamische Struktur der Reversibilität und der Verflechtung. Es handelt sich um eine Art leiblicher ‚Reflexion‘, die im Werden ist, deren Vollendung immer bevorsteht und nie vollzogen werden kann: Es kann mit anderen Worten keine volle Koinzidenz zwischen unserer Erfahrung der tastenden und der betasteten Hand geben, obwohl beide sich wechselseitig implizieren und ineinander übergehen. (1964b, 194/1986, 193 f.) Aus diesem Phänomen und vor allem aus der These bezüglich der Nicht-Koinzidenz und der Dynamik des sich kreuzenden Verhältnisses erarbeitet Merleau-Ponty die chiastische Struktur als charakteristisch für verschiedene Dimensionen der Erfahrung und des Seins: nicht nur die beschriebene Kreuzung zwischen empfindendem Leib und empfundenem Körper, sondern auch das Verhältnis zwischen meinem Leibkörper und dem des Anderen in der Zwischenleiblichkeit, das Verhältnis zwischen Denken und Ausdruck und letztendlich das Verhältnis zwischen meinem Leib und dem Fleisch der Welt. Anhand dieser Strukturierung erweisen sich die zentralen metaphysischen Implikationen von Merleau-Pontys ontologischen Überlegungen als vor allem mit zwei Aspekten verbunden: mit dem Verhältnis zwischen Leib und Fleisch der Welt (oder zwischen Sehendem und Sichtbarem) einerseits und mit dem Verhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren andererseits. Das Verhältnis zwischen Leib und Fleisch der Welt thematisiert Merleau-Ponty anhand des scheinbaren Paradoxes unseres Leibes als „ein zweiblättriges Wesen“, d. h. als „Ding unter Dingen“ und als das, was die Dinge „sieht und berührt“. (1964b, 180/1986, 180) Das Paradox dabei ergibt sich aber nur, wenn man den Leib und sein Verhältnis zur Welt anhand von dualistischen Mustern versteht. Der Leib ist aber sowohl phänomenaler Leib als auch objektiver Körper, sowohl sehend als auch sichtbar, sowohl innen als auch außen, sowohl Teil der Welt als auch sich zur Welt verhaltend. Das Sein des Leibes ist untrennbar mit dem Sein der Welt verflochten. (1964b, 179; 309; 313/1986, 179; 328 f.; 332 f.) Diese Untrennbarkeit ist aber keine Verschmelzung, sondern ein Verhältnis, das die oben beschriebene Struktur des Chiasmus und der Reversibilität hat: Die sinnliche Masse des Leibes wird einerseits in der sinnlichen Masse der Welt geboren, andererseits aber verhält sie sich zu dieser Welt und wirkt auf sie zurück. (1964b, 179; 189/1986, 178 f.; 188 f.) Das Verhältnis von Sehendem und Sichtbarem verweist auf die Reversibilität der Beziehung zwischen Leib und Welt, die eine „Verzweigung meines Leibes und Verzweigung der Welt und Entsprechung ihres
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Innen und meines Außen, meines Innen und ihres Außen“ (1964b, 179/1986, 179) zum Ausdruck bringt. Bezüglich des Zusammenspiels zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren verbindet sich Merleau-Pontys Ontologie des Fleisches mit seiner Philosophie des Ausdruckes und vor allem mit seinen Überlegungen zum Verhältnis zwischen der sinnlichen (sichtbaren) Welt und der (unsichtbaren) Welt der Bedeutung bzw. der Ideen. Auch in diesem Zusammenhang geht es vor allem darum, dualistische bzw. dichotomische Auffassungen zu widerlegen und auf die Verflechtung zwischen beiden Dimensionen hinzuweisen. Die Analyse des Chiasmus zwischen dem Sinnlichen und dem Idealen impliziert, dass die Idealität des Geistigen nicht abgekoppelt oder getrennt von der Wirklichkeit und Konkretheit des Sinnlichen sein kann. (1964a/1984b) Das Negative bei dem Unsichtbaren gilt daher als die Kehrseite des Sichtbaren, als die „Unverborgenheit“ oder als „Urpräsentation des Nichturpräsentierbaren“. (1964b, 287/1986, 302; Waldenfels 1987, 200 f.) Es gibt für Merleau-Ponty weder einen reinen Bereich des Idealen noch einen reinen Bereich des Sinnlichen, vielmehr verweisen beide aufeinander und ergänzen sich wechselseitig. (Barbaras 1991, 181 f.; 274 f.; Toadvine 2012) Dieser Gedanke verbindet sich ferner mit Merleau-Pontys Interpretation von Husserls Versuch, den logos der ästhetischen Welt phänomenologisch zu erforschen. (Hua XVII, 297) Das bedeutet aber für MerleauPonty hauptsächlich, dass das Ideale nicht jenseits des Seienden liegt, sondern vielmehr dessen Infrastruktur ausmacht: „Ebenso wie das Geäder das Blatt von innen her und aus der Tiefe seines Fleisches trägt, bilden die Ideen die Textur der Erfahrung, ihren Stil, der zunächst stumm ist, dann ausgesprochen“. (1964b, 159/1986, 159) Jede der beiden Dimensionen des Seins, die sinnliche und die ideale, gilt somit als ‚Emblem‘ für die andere. Beide sind Ausdruck des Seins als relationale Einheit, die weder auf reine Sinnlichkeit noch auf reine Idealität reduziert werden kann. Sowohl der Chiasmus zwischen dem Fleisch unseres Leibes und dem Fleisch der Welt als auch der Chiasmus zwischen dem Sinnlichen und dem Idealen zeigt, warum Ontologie für Merleau-Ponty immer „Intra-Ontologie“ (1964b, 280/1986, 288) bedeutet: Unsere Offenheit zur Welt soll als ein Verhältnis zum Sein enthüllt werden, das sich innerhalb des Seins selbst auftut. (1964b, 268/1986, 279)
11.6 Gott und das Absolute In Merleau-Pontys Texten tauchen verschiedene Begriffe auf, die semantisch auf eine theologische bzw. religiöse Dimension verweisen. Implizit könnte ein solcher Verweis schon im Begriff des perzeptiven Glaubens (foi perceptive, 1945, 303/1966a, 305) erkennbar sein, den Merleau-Ponty für die Beschreibung der Grundhaltung der Wahrnehmung verwendet. Deutlicher sind aber die Stellen,
258 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik die das Phänomen des Ausdrucks und das Entstehen von Sinn als ein Wunder (miracle) kennzeichnen, (1960, 49 f./2007, 53 f.) und jene Passagen, die – auch mit expliziten Bezügen auf Religion – das Mysterium des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen erwähnen. (1960, 70/2007, 97) Selbst wenn diese Begriffe noch keine theologische Interpretation von Merleau-Pontys Philosophie rechtfertigen, verweisen sie doch auf diese theologische Dimension und ihre metaphysischen Implikationen. Vor allem das Christentum und genauer die theologischen Positionen jener christlichen Autoren, die die menschliche Dimension der Religiosität und das Verhältnis zwischen Menschen und Gott in den Vordergrund rücken, spielen für Merleau-Ponty eine wichtige Rolle. (1997, 9–34; 1966b, 305–322/2000b, 235–248; 1960, 176–186/2007, 203–213) Seine Überlegungen zu Religion und Theologie bringen auch das Absolute ins Spiel, das er aus seiner Metaphysik auszuschließen scheint. (De Waelhens 1951, 384 f.) Die Behauptung, Merleau-Pontys Philosophie sei von Anfang bis Ende „ohne Absolutes“ (Tilliette 1961) und er widerlege jede Position des Absoluten, sollten daher präzisiert werden. (Strasser 1988) Denn bei Merleau-Ponty geht es um eine neue Auffassung des Absoluten, die dessen Offenheit und Verankerung in der Geschichte und in der Kontingenz hervorhebt. (1953, 13–63/1973, 15–51) Gerade aufgrund dieser Offenheit lässt sich das Absolute nie in ein restloses Wissen einholen. (De Saint Aubert 2009) Im Verhältnis zur Offenheit des Absoluten wird auch die weltliche Dimension des Glaubens und der Religiosität als konstante Suche und nicht als Freude an der Vollkommenheit interpretiert. (De Waelhens 1951, 381) Diese Auffassung entwickelt Merleau-Ponty durch eine kritische Auseinandersetzung mit der explikativen Theologie und mit dem „manifesten Inhalt der Religion“. (1966b, 168/2000b, 129; De Saint Aubert 2009; Dalissier 2017b, 625 f.) In beiden Fällen geht es um den Versuch, durch Gott die Widersprüche und Geheimnisse der menschlichen Existenz zu erklären und die „Kontingenz“ des menschlichen Daseins „aus einem notwendigen Sein abzuleiten“ oder „sich ihrer zu entledigen“. (1953, 47/1973, 38) Dieser Versuch vernachlässigt aber gerade die Rolle, die jene Widersprüche und die damit verbundenen Ängste beim Entstehen der religiösen Haltung im Menschen spielen. Dieser Gedanke kommt schon im Aufsatz Das Metaphysische im Menschen zum Ausdruck, in dem die theologische Dimension auch explizit im Zusammenhang mit der Metaphysik eingeführt wird. Merleau-Ponty fordert dort eine Metaphysik, die nicht versucht, auf Basis von begrifflichen und theologischen Konstruktionen die Paradoxe des Sinnlichen zu lösen. Metaphysik solle vielmehr den Strukturen unserer Erfahrung in ihrer Komplexität und Kontingenz gerecht werden, selbst wenn diese Paradoxien enthalten. Obwohl Metaphysik diese Aufgabe auf sich nimmt, ist sie jedoch weder mit der „Position eines absoluten Weltdenkens“, einem aktualem und vollständigem Wissen, noch mit dem „manifesten Inhalt der Religion“ vereinbar. (1966b, 168/2000b, 129) Dies zeigt zunächst, dass die theo-
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logischen und religiösen Fragen nach Merleau-Ponty sich nicht auf das Problem des Beweises der Existenz Gottes richten, sondern auf das, was wir mit Gott im Verhältnis zum Menschen verstehen, was wir meinen, wenn wir von Gott sprechen. (De Saint Aubert 2009) Dieser Ansatz impliziert eine Kritik am ‚Gott der Philosophen‘ und vor allem an Leibniz’ Gottesbegriff und an seiner Theodizee. Das Problem der Theodizee ist nämlich nur für eine theologische Auffassung unverzichtbar, die nicht in der Lage ist, Gott „an sich“ zu betrachten, d. h. unabhängig von der Welt als „unüberschreitbares Faktum [fait insurpassable]“. (1966b, 168/2000b, 130) Indem Gott immer als ‚für uns‘ und nicht als ‚für sich‘ gedacht wird, gilt er als Idee „im kantischen und restriktiven Sinne des Wortes“, d. h. als „Referenzausdruck einer menschlichen Reflexion, die in Anbetracht dieser Welt, so wie sie ist, in diese Idee hineinwirft, wovon sie möchte, dass es darinnen sei“. (1966b, 168/2000b, 130) Im Gegensatz dazu betont Merleau-Ponty, dass die eigentliche Aufgabe darin besteht, Gott ‚an sich‘ zu denken und dass dies nur möglich ist, indem wir Gott „im Hintergrund des Bewusstseins, diesseits unserer Ideen, als die anonyme Kraft suchen, die jeden unserer Gedanken und jede unserer Erfahrungen unterhält“. (1966b, 168 f./2000b, 130) Dieses Denken von Gott ‚an sich‘ soll gerade die Idee eines Absoluten in Frage stellen, das sich gemäß der Auffassung, die Merleau-Ponty in seinen späteren Schriften vertritt, in Leibniz’ Idee der besten aller möglichen Welten als Grundgedanke der Theodizee konkretisiert. (1964b, 261; 271 f./1986, 269; 282 f.) So wird Gott zum Absoluten und zum allumfassenden Wissen der Welt. Dass Merleau-Ponty einen solchen Ansatz zum Absoluten und zu Gott nicht vertreten kann, entspricht seinen kritischen Anmerkungen gegen jeden Versuch – sei er wissenschaftlich, philosophisch oder religiös – ein „Überblicksdenken“ oder ein Vermögen der „Überschau“ (pensée de survol, pouvoir de survol) als Träger von Wahrheit zu verstehen. (1964a, 12/1984b, 14; 1964b, 32; 37; 48/1986, 33; 37; 47) Gegen den Begriff Gottes als vollkommenes und absolutes Wissen plädiert Merleau-Ponty in Anlehnung an Autoren wie Claudel, Blondel und Marcel zudem für eine Auffassung der Theologie, die vor allem das Mysterium in den Beziehungen des Menschen zu Gott betont, und zeigt, wie der christliche Gott „keine vertikale Beziehung der Unterordnung“ will: Er ist nicht einfach ein Prinzip, dessen Folgen wir wären, ein Wille, dessen Instrumente wir verkörperten, oder gar ein Modell, von dem die menschlichen Werte nichts anderes als ein schwaches Abbild wären; ohne uns gibt es gleichsam eine Ohnmacht Gottes, wie ja auch Christus bezeugt, dass Gott nicht vollkommen Gott wäre ohne die menschliche Existenz zu seiner eigenen zu machen. (1960, 88/2007, 97)
Bemerkenswert ist auch, dass diese Anmerkung über die Leibwerdung und das Verhältnis zwischen den Menschen und einem Gott, der erst in Bezug auf die menschliche Existenz seine Vollkommenheit gewinnt, im Kontext der Über-
260 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik legungen zur Geschichtlichkeit des Ausdruckes und des Sinnes auftaucht: So wie der Sinn nicht jenseits der konkreten und geschichtlichen Ausdrucksformen liegt, sondern erst durch diese entsteht, kann der Gottesbegriff nur anhand der konkreten und geschichtlichen Beziehung zum Menschen verstanden werden. Gerade diese Verbindung zwischen Gott und der geschichtlichen Dimension des Seins betont Merleau-Ponty auch in seinen Vorlesungen über die Natur – in denen eine Verbindung zwischen Gott und dem Sinnlichen hervorgehoben wird – und in mehreren Texten über das Christentum. Die Vorlesungen über die Natur wurden als Merleau-Pontys Versuch interpretiert, Gott durch die Natur erneut zu denken. (1994, 181–185; 265 f.; 269– 278/2000a, 190–185; 279 f.; 284–294; Dalissier 2017b, 626 f.) Das Verhältnis des Menschen zu Gott wird verstanden als das Entstehen von etwas, das zwar jenseits der Natur ist, sich aber der Natur nicht entgegensetzt, sondern diese bewohnt. Innerhalb dieses Projekts identifiziert Merleau-Ponty Gott mit dem Prinzip des ‚Sein-lassens‘ (faire-être), d. h. mit dem Prinzip der Genese statt der Schöpfung: (Dalissier 2017b, 629 f.) eine Genese, die Merleau-Ponty zugleich als die Eröffnung einer nie erschöpften Totalität versteht. Dadurch, dass er Gott nicht als abgekoppelt von der Faktizität der Natur begreift, sondern als immer an der Natur beteiligt, vollzieht Merleau-Ponty eine Wiederaufnahme des spinozistischen Gedankens des Deus sive Natura. (Dalissier 2017b, 633) Es handelt sich für ihn aber weder um eine pantheistische Identifizierung von Gott und Natur noch um eine Naturalisierung Gottes oder um das Prinzip der kontinuierlichen Schöpfung. Vielmehr handelt es sich um eine Verortung der Transzendenz Gottes in der Immanenz der Natur: Gott lässt die Natur sein, er ist am Werk in der Natur selbst, ohne sich mit ihr je völlig zu identifizieren. Selbst wenn sie später entwickelt wurde, scheint diese Auffassung Gottes als Transzendenz, die sich in der Immanenz der Natur verkörpert, zumindest ansatzweise auch den früheren Überlegungen über das Dogma der Leibwerdung zu unterliegen. Im Aufsatz Glaube und Aufrichtigkeit (1946) schreibt MerleauPonty über die Leibwerdung Christi: Die Leibwerdung [dt. Christi] ändert alles. Nach der Leibwerdung [dt. Christi] ist Gott im Äußeren gewesen. Man hat ihn gesehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort; er hat Erinnerungen, Worte hinterlassen, die weitergegeben werden. Von nun an ist der Weg des Menschen zu Gott nicht mehr die Reflexion, sondern der Kommentar und die Interpretation jener zwiespältigen Botschaft, deren Energie niemals erschöpft ist. In diesem Sinne steht das Christentum dem ‚Spiritualismus‘ gegenüber. Es stellt die Unterscheidung von Körper und Geist, von Innerem und Äußerem wieder in Frage […]. Die Welt hört auf, gleichsam ein Fehler im großen ewigen Diamanten zu sein. Es geht nicht mehr darum, im Diesseits der Welt die Transparenz Gottes wiederzufinden; es geht darum, Leib und Seele in ein rätselhaftes Leben einzuführen, dessen Dunkelheiten nicht zerstreut, sondern nur in einigen Mysterien verdichtet werden können, in denen der Mensch das vergrößerte Bild seiner eigenen conditio beschaut. (1966b, 310/2000b, 239, modifizierte Übersetzung)
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Merleau-Pontys Überlegungen zu Religion und Theologie spiegeln so einige Kernmomente seiner Philosophie und insbesondere diejenigen, die seinen Ansatz zur Metaphysik kennzeichnen, wider: Religion und Theologie werden ausgehend von der Kritik des absoluten und restlosen Wissens (→ 11.1) und der Ewigkeit als Ausklammerung der Geschichtlichkeit (→ 11.3) thematisiert. Merleau-Ponty hebt die Dimension des Mysteriums hervor, die er nicht primär mit der Existenz Gottes oder mit seiner Wirkung verbindet, sondern mit der conditio humana in seiner Beziehung zu Gott. (De Saint Aubert 2009)
11.7 Eine Metaphysik der Relation Selbst wenn Merleau-Ponty weder den Anspruch hat, die Metaphysik als ein System zu entwickeln noch sie innerhalb des Systems der Philosophie einzuordnen, lassen sich aus den früheren Schilderungen einige Schlüsse bezüglich der Metaphysik bei Merleau-Ponty ziehen. Diese betreffen verschiedene Dimensionen (Dalissier 2017b, 1091 f.), von denen wir hier nur einige thematisieren konnten. Zu den Themen, die traditionell als metaphysisch aufgefasst werden (wie Welt, Subjekt, Zeit, Raum, Idealität, Gott, Kausalität, Freiheit usw.), entwickelt Merleau-Ponty seinen eigenen Ansatz mit Hilfe von phänomenologischen und ontologischen Überlegungen. Dieser Ansatz beruht auf der Infragestellung jedes Anspruchs auf Transparenz, Vollständigkeit und Vollbestimmtheit. MerleauPonty stellt stattdessen die Ambiguität und die Opazität sowie die Offenheit und Unbestimmtheit ins Zentrum seiner Betrachtungen heraus und hebt das Primat der Relation (zwischen Subjekt und Welt, Innen und Außen, Sinn und Ausdruck usw.) hervor. Die dargestellten Überlegungen lassen sich darüber hinaus auf die miteinander verbundenen Fragen nach der Strukturierung, der Stiftung und der Wiederaufnahme beziehen. Mit ‚Strukturierung‘ meint Merleau-Ponty jene Sinngestaltungen, die aus dem Wechselspiel zwischen der vorgegebenen Welt und der subjektiven Erfahrung entstehen. Diese Sinngestaltungen sind das Ergebnis der Antwort, die leibliche Subjekte den Aufgaben der Welt geben. Die Strukturierung hat somit den Charakter des Hervorbringens, das auf Differenzierung, Diskrepanz (écart) und dem ‚Sein-lassen‘ (faire-être) gründet. (Dalissier 2017a, 38 f.) Ferner hat Strukturierung einen geschichtlichen Charakter, der sich durch die Begriffe der Stiftung (institution) und der Wiederaufnahme verdeutlichen lässt: Der französische Begriff institution, den Merleau-Ponty als eine Übersetzung des deutschen Begriffs Stiftung (neben fondation und établissement) wählt, ist insofern zweideutig, als er sowohl eine etablierte Ordnung (z. B. natürliche, soziale oder politische) bezeichnet, als auch den Prozess, der solche Ordnung zustande bringt. Diese Zweideutigkeit gilt als produktiv, indem sie auf den doppelten Prozess des Einsetzens einer Divergenz innerhalb einer vorgegebenen Ordnung und der Gestaltung einer neuen Ordnung verweist.
262 11. Merleau-Ponty – Ein relationaler Ansatz zur Metaphysik (1960, 73 f.; 2007, 80 f.; 1968, 59 f.; 2003, 41 f.; Summa 2017) Diesen Prozess der Neustiftung, der sich durch Aufnahme von gegebenen bzw. vergangenen Strukturen aber auch durch Differenzierung und das Einsetzen von Divergenzen ergibt, bezeichnet Merleau-Ponty als ‚Wiederaufnahme‘ (reprise). Die relationale Metaphysik, die Merleau-Ponty anvisiert, basiert daher auf der Geschichtlichkeit jeder Strukturierung und somit auf Stiftung und Wiederaufnahme, die ihrerseits das Wechselspiel zwischen weltlichen Aufgaben und subjektiven Antworten sowie ihre zeitliche Entwicklung und Umgestaltung voraussetzen. Metaphysik enthält für Merleau-Ponty zudem immer eine existentielle Dimension, die er mit Bezug auf das ‚metaphysische Bewusstsein‘ oder auf das ‚Metaphysische im Menschen‘ verdeutlicht. Hiermit wird der Verweis auf die Konkretion des Erlebens gemacht, das sich nicht durch begriffliche Konstruktionen oder durch Systematisierungen ersetzen lässt. Diese existenziell gelebte Dimension innerhalb der Metaphysik einzuholen, ist für ihn der Versuch, der Dimension der Konkretheit mit ihren Ambiguitäten, Paradoxien und möglichen Widersprüchen gerecht zu werden. Maurice Merleau‑Ponty Merleau-Ponty (1908–1961) zählt zu den bedeutendsten Figuren der französischen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts. Seine Forschungen umfassen eine Philosophie der Wahrnehmung, der leiblichen Subjektivität, die Philosophie des Ausdrucks sowie die Ontologie, die Sprachphilosophie und die politische Philosophie. Merleau-Ponty ist einer der ersten Philosophen, der sich intensiv mit Husserls veröffentlichten und unveröffentlichten Texten auseinandersetzte. Die Lektüre der Ideen II und der Krisis der europäischen Wissenschaften während seines Aufenthaltes am Husserl Archiv Leuven (1939) hat seine Arbeit in vielerlei Hinsicht geprägt. Ebenso bedeutsam für die Entwicklung seines Denkens sind die kritischen Auseinandersetzungen mit Heidegger und Sartre (mit dem er von 1945 bis 1952 die Zeitschrift Les temps modernes herausgab) sowie mit dem deutschen Idealismus und dessen Rezeption in Frankreich. Seit seinen früheren Werken befasste sich Merleau-Ponty aber auch intensiv mit anderen Disziplinen, insbesondere mit der Psychologie, der Psychopathologie, der Neuropathologie und der Linguistik, sowie mit der Kunst, insbesondere der Malerei und der Literatur.
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12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren Robert Hugo Ziegler
Das Denken von Emmanuel Levinas ist von der überragenden Bedeutung der Begegnung mit dem anderen Menschen bestimmt, die er in immer neuen Anläufen zu beschreiben versucht. Husserl und Heidegger sind dabei die prägenden Gestalten seiner Sicht auf die Philosophie und ihre Methode, wenngleich er die Bemühungen der beiden Phänomenologen um die Theorie der Intersubjektivität bzw. des Mit-Seins als unzureichend ablehnt. Die Ethik ist für Levinas die „Erste Philosophie“ – nicht die Transzendentalphilosophie, nicht die Ontologie (wenn für ihn auch eine ganz spezifische Erfahrung des Seins leitend ist). Die Phänomenologie in ihrer Gestalt bei Husserl und bei Heidegger ist Levinas zufolge der Aufgabe einer Beschreibung des Anderen nicht gewachsen, weil sie diesseits der Grenzen von Welt und Licht verbleibt.
12.1 Welt und Licht In der Philosophie von Levinas markiert der Begriff der Welt nicht etwa das alles umfassende Ganze oder den Horizont aller Horizonte; seine Rolle ist vielmehr beschränkt auf den Umkreis der vitalen Sphäre von Bedürfnissen, Arbeit und Erkenntnis, in dem die Ökonomie des bei sich selbst beheimateten Selbst herrscht. In dieser Funktion wird die Welt vor allem in den frühen Texten systematisch thematisiert. Welt ist gekennzeichnet durch das Licht, d. h. die ursprüngliche Offenheit und Gegebenheit des Seienden für das Ich. Levinas bezieht sich hier auf Platons Erkenntnistheorie, wonach die Erkennbarkeit eines Seienden abhängig ist vom Auge und vor allem vom Licht, also einer vorgängigen, anonymen, das Einzelne übersteigenden, allgemeinen, objektiven Bedingung, die in der Tradition viele Namen trägt, etwa „Wahrheit“, „Struktur“, „Lichtung“. (1951, 91 f./1999, 108 ff.) Levinas zufolge ergießt das Ich „von sich aus“ das Licht über die Welt, unterscheidet in ihr die Formen der Dinge, die ihm Zugriff und Manipulation erlauben, und eignet sich so Welt und Dinge an. Alles in der Welt gibt sich in Formen, auch der Andere: Daher kommt die Dezenz der sozialen Welt, wo ich dem Anderen gerade nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe, sondern vielmehr vermittelt über ein Drittes mit ihm in Beziehung trete (und sei dieses Dritte seine
266 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren Kleidung, sein „Aussehen“, sein „Charakter“). (1990a, 60 f./1997, 47 f.) In dieser Aneignung, die im „Licht“ immer schon vollzogen ist, liegt für Levinas auch die Wahrheit des Idealismus begründet: Ich und Sein erweisen sich so als grundsätzlich aufeinander bezogen, so dass alles Sein der Welt sich dem Zugriff des Ich anbietet. In der neueren Philosophie heißt dieser Effekt oft „Sinn“, den Levinas als die Durchlässigkeit der Dinge für den Geist interpretiert. (1990a, 71 ff.; bes. 74/1997, 54 ff.; bes. 56) Das Licht eröffnet konkret die Welt als Gegenstand meiner Intentionen. Levinas nimmt hier bewusst den Husserl’schen Begriff auf, gibt ihm aber seine ganze Breite der Bedeutung zurück. Die Intention geht für Levinas aufs Objekt als auf ein Ziel und Ende. Bedürfnis und Begehren (désir) – später wird Levinas den zweiten Begriff der Beziehung zum Anderen vorbehalten – finden im Objekt und seinem Gebrauch unmittelbar ihre Befriedigung. Und diese Befriedigung ist echt und aufrichtig. Scheint sich Levinas also mit der pragmatischen Erdung des Intentionsbegriffs an Heidegger anzulehnen, so lehnt er dessen Pathos der Uneigentlichkeit entschieden ab: Das Leben in der Welt und die Beziehung zu den Objekten ist nicht geschlagen mit einer grundsätzlichen Unwahrheit; vielmehr ist es so wahr, wie es nur sein kann. (1990a, 67/1997, 52) Dieser Aspekt ist in Totalität und Unendlichkeit noch näher ausgeführt: Dort dient der Begriff des „Genusses“ (jouissance) als Leitfaden. Wir leben von … der Luft, dem Essen, den Werkzeugen usw. In diesem Leben-von ist unser Leben schon längst mehr als ein pures Leben oder ein nacktes Sein, da es ein Genuss des Seins ist, in dem wir zugleich unser Sein erleben und bejahen und die Andersheit der Welt negieren – und dies vor aller „Vorstellung“. Mit diesem Begriff bezeichnet und kritisiert Levinas hier das bis zu Husserl wirksame Paradigma der Vorgängigkeit einer irgendwie autonom gedachten Vorstellung. Das, wovon ich lebe, ist dabei Inhalt meines Lebens. Die Ernährung kann daher als paradigmatisch für diese Beziehung zur Welt angesehen werden: „Die Ernährung als Mittel zur Wiederherstellung der Kräfte ist die Umwandlung des Anderen in das Selbe. Diese Umwandlung liegt im Wesen des Genusses […]. In diesem Sinne ist jeder Genuss Nahrung.“ (1990b, 113/1987, 153) Dieser Genuss des Seins im Leben-von ist aber eben nicht Beweis einer ursprünglichen Verfallenheit, keine Einheit mit der und kein Sich-Verlieren an die Welt, sondern im Gegenteil Merkmal eines unersetzbaren ontologischen Ereignisses: Denn als Selbsterleben und -setzung („frisson même du moi“/„Erbeben des Ich“, 1990b, 116/1987, 156) ist er konkreter Vollzug des „Egoismus“ und „Atheismus“, d. h. der grundsätzlichen Getrenntheit des Subjekts. Kein Wunder, dass es eine spezifische Freude an der Gegebenheit der Welt als solcher gibt! „Und die Tatsache, gegeben zu sein – das ist die Welt.“ (1990a, 59/1997, 46) „Welt“ ist also bei Levinas dem phänomenologisch beschreibbaren Subjekt korrelativ; ganz gleich, ob man es wie Husserl als transzendentales Ego fasst oder wie Heidegger als Dasein. Insofern es mit der Welt beschäftigt ist, liegt alles
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sichtbar, greifbar und manipulierbar vor ihm. Es bezieht sich auf das Sein und die Seienden. Die Welt und ihre Bannung der Dinge in die Form gelangen allerdings im „Exotismus“ der Kunst an eine Grenze: Hier begegnen die Dinge losgelöst von einer Welt, als Außen ohne Innen, ohne Form. Die Wahrnehmung der Kunst verharrt bei der Empfindung (sensation), die damit als Element selbst zur Erscheinung kommt. Die Empfindung ist weder objektiv noch subjektiv, sie ist der Musik verwandt, denn sie verweigert sich der Kategorie des Substantivs. Hier wird ein Wesen der materiellen Welt sichtbar, das noch vor der Bändigung in den Formen einer Welt und also vor aller Welt im engen Sinn wirkt: ein reines anonymes Sein. (1990a, 83 ff./1997, 63 ff.; 1990c, 70 ff./1992b, 100 ff.)
12.2 Last des Seins Die Auseinandersetzung mit dem Sein hat bei Levinas drei Etappen: das reine Sein vor allen Seienden; die Setzung des Seienden, das ein Subjekt ist; und die Absetzung der Ontologie im Angesicht dessen, was „jenseits des Seins“ ist. Es ist wichtig, die fundamentale Abkehr, die Levinas gegenüber den traditionellen metaphysischen Lehren vollzieht, in ihrer Tragweite zu verstehen. Während diese nämlich Levinas zufolge gemeinhin an irgendeinem oder auch an mehreren systematischen Orten ein fundamentales, apriorisches, essentielles metaphysisches Defizit diagnostizieren (oft beim Menschen oder auch in der ganzen Welt, insofern sie geschaffen oder nachgebildet oder ins Materielle gefallen sind), verweigert Levinas eine solche Wertung. Sein oder auch Leben oder auch der Mensch oder das Subjekt: Überall herrscht eine absolute und ursprüngliche Fülle oder gar Überfülle. Schon in Ausweg aus dem Sein (1935) weiß Levinas sogar ein Bedürfnis wie den Hunger als eine Erfahrung absoluter Gegenwart und Fülle zu interpretieren, und eben nicht als eine des Mangels, wie Tradition und Alltagsverstand übereinstimmend zu wissen glauben: Der Hunger (wie auch Übelkeit und Scham) nagelt uns fest auf unsere leibliche Gegenwart, die gerade in der Qual nicht als Mangel, sondern als Überpräsenz erfahren wird. (1998, 101–106/2005b, 20–29) Charakteristisch ist aber vor allem die Abwendung von Heideggers Rede vom Sein-zum-Tode: Für Levinas besteht das Problem vielmehr darin, dass dem Sein nicht zu entkommen ist, nicht einmal mit dem Tod! (1990a, 100–102/1997, 74– 76) Denn die Fülle des Seins ist nicht eine schlichtweg positive Erfahrung: Das Sein lastet, es wiegt schwer; und dieser Last zu entkommen, ist das (selbst ontologische) Ziel des Seienden. Diese Last macht sich bereits auf der ersten Etappe bemerkbar: im anonymen Sein, das Levinas „Es gibt“ (il y a) nennt. Im „Es gibt“, dessen Erfahrung uns etwa in der Nacht und der Schlaflosigkeit überfällt, erleben wir den reinen Voll-
268 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren zug des Seins, eine anonyme Präsenz ohne Lücke, die lastet und keinen Ausweg zulässt. Das „Es gibt“ ist die Eröffnung der Bühne des Seins, noch bevor die Schauspieler auftreten. (1984b, 38/1986, 34) „Sein“, auf dieser grundlegenden Stufe, ist ein Verb, nicht Substantiv; es drückt nicht Substanz oder Subjekt aus, sondern ein anonymes Geschehen. (2007, 26/1989, 23) Auch wenn nichts mehr da ist, wenn keine Dinge mehr zu unterscheiden sind und die Nacht die Depersonalisierung des Schlaflosen zu Ende gebracht hat, bleibt als Drohung und Präsenz, als Fülle und Last noch die Anonymität des „Es gibt“. Das „Es gibt“ transportiert den Horror des materiellen Seins in seiner Schwere und Dicke. Das Sein befreit sich von der Last und dem anonymen Verstreichen seiner selbst in der Setzung eines Seienden, das als Bewusstsein Distanz schafft zwischen sich und dem Sein. In unbeirrter Konsequenz definiert Levinas denn auch das Bewusstsein als das Vermögen zu schlafen. (1990a, 115/1997, 82) In der „Hypostase“, d. h. dem Erscheinen des Ich als Setzung seiner selbst, als Selbstaffirmation und -vollzug, setzt sich ein Seiendes, das durch eine Distanz, ein Zurückweichen/ Rückzug (recul) und eine Verspätung/Verzögerung (retard) oder Phasenverschiebung (décalage) gegenüber dem Sein charakterisiert ist. (1990a, 44 f.; 51; 116/1997, 36; 41; 82; 1990c, 55 ff./1992b, 80 ff.) Daher können diesem Seienden auch andere Seiende, Dinge wie Menschen, gegenüberstehen und entsprechen. Hier ist auch der Punkt, wo man ganz eigentlich von einer Welt sprechen kann, d. h. von einer artikulierten Ganzheit von Dingen und anderen Menschen, von Absichten, Zwecken, Handlungen usw. Allerdings zeigt es sich, dass die Konvertierung des anonymen Seins in das substantivische Sein von Menschen und Dingen nicht endgültig gelingt. Die Welt der Dinge behält stets ein Erbstück dessen, wovon sie sich in der Setzung des Seienden, das ein Subjekt ist, hat befreien können. Dies ist das Elementale (l’élémental). Das „Es gibt“ ist das Sein vor der Welt. Dies klingt wider im Elementalen, in dem ein anonymes Sein innerhalb der Welt begegnet, oder besser: als Grenze von Welt. Die Welt ist immer eine Welt der Dinge, des Lichts und der Intentionen. Die scharfe Kontur des Dings ist charakteristisch für die Welt, sie zeichnet sich aber erst ab vor dem Hintergrund und im Milieu der Elemente. Levinas nennt hier ganz klassisch solche Elemente wie Meer, Erde, Wind, Feuer, aber auch das Licht, den Wald und die Stadt. Alle Dinge und Formen, und mit ihnen alle möglichen Besitztümer erscheinen stets im Milieu eines nicht besitzbaren, anonymen, formlosen Seins, in das wir ebenfalls hineingestellt sind. Die angemessene Art des Zugangs zum Elementalen ist: „Man badet in ihm.“ (1990b, 138/1987, 185 f.) Im Elementalen hören wir also gewissermaßen den Nachhall jenes vollkommen anonymen Seins des „il y a“. Dem entspricht auch, dass die Dinge nicht nur aus dem Hintergrund des Elementalen auftauchen, sondern auch wieder in es eingehen, nämlich im Genuss. Genuss (jouissance) und Sinnlichkeit (sensibilité) sind die Weisen, in denen uns das Elementale erfahrbar wird. Materialität als solche ist „Gegenstand“ des Genusses, und man sieht daran, dass dieses „als solche“ hier
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keine theoretische, phänomenologische Einstellung meinen kann. Der Aspekt der Rückkehr der Dinge in den Hintergrund des Elementalen im Genuss lässt sich ebenfalls am paradigmatischen Beispiel der „Ernährung“ gut aufzeigen: Das Kauen, das immer Genuss ist, nimmt dem Gegessenen seine Formen und seine spezifischen Eigenschaften; es löst es auf ins Materielle als solches, in seine elementale Ungestalt. So durchzieht ein anonymes Sein in Gestalt des Elementalen die wohlgeformte Welt der Dinge. In ihm lebt das „il y a“ fort. „Das Element verlängert sich in das ‚Es gibt‘.“ (1990b, 151/1987, 203) Dass das Elementale dem „il y a“ entspricht, wird auch dadurch bekräftigt, dass laut Vom Sein zum Seienden der Exotismus der Kunst die Dinge ohne Welt erstehen lässt; Kunst spricht die Empfindung an, lässt die wohlbegrenzten Formen hinter sich, lässt sich nicht mehr substantivisch begreifen. All das gilt freilich auch für das Elementale, und Levinas zieht denn auch in Totalität und Unendlichkeit explizit die Verbindung: Die ästhetische Orientierung, die der Mensch dem Gesamt seiner Welt gibt, stellt auf einer höheren Ebene eine Rückkehr zum Genuss und zum Elementalen dar. Die Welt der Dinge verlangt nach der Kunst; hier wandelt sich der intellektuelle Zugang zum Sein in Genuss. (1990b, 149/1987, 199 f.)
Eine weitere Gestalt des anonymen Seins tritt in Jenseits des Seins auf: In dem späten Hauptwerk lehnt sich Levinas noch einmal massiv an Heideggers Unterscheidung von Sein und Seiendem an. „Sein“, allgemein gesprochen, tritt stets in dieser Doppelheit, dieser „Amphibolie“ auf, wie Levinas schreibt. Und das Sein als verbal gefasste „essence“ hat einige Ähnlichkeit mit dem „Es gibt“ und dem Elementalen. (1990c, 67; 253 ff./1992b, 96 f.; 353 ff.) Das scheint widersprüchlich, ist das „Es gibt“ doch jene Nacht ohne Subjekt, in der sich keine Formen unterscheiden lassen, während Levinas das Sein in Jenseits des Seins gerade in die Nähe des Lichts rückt, in dem alle Dinge sich erst geben und sichtbar werden. Allerdings verbirgt der augenscheinliche Widerspruch eine innere Solidarität zwischen „Es gibt“ und Sein/Licht: eine Solidarität, die eben in der Anonymisierung liegt, die alles Einzelne – das allein existiert – zugunsten von etwas Anonymen hinter sich lässt: „Es gibt“, Elementales, Sein, Allgemeinheit. (1990b, 34 f./1987, 52) Damit ist auch klar, dass die „Etappen“ der Ontologie einander durchdringen und rein systematisch gemeint sind. Entscheidend für die ontologische Systematik bleibt allerdings, dass die Eroberung des anonymen Seins in der Setzung eines Seienden geschieht, das dann einen Namen tragen kann. Dies setzt sich innerhalb des anonymen Seins und dieses modifizierend, indem es sich einrichtet, ein „Bei sich“ (chez soi) bildet, ein „Domizil“ oder vielmehr eine Reihe von Domizilen. Dieses Seiende, das Ich oder Selbst oder Subjekt, zerreißt bereits die Einheit oder Totalität des Seins, wie vor allem Totalität und Unendlichkeit ausführlich entwickelt: Die Innerlichkeit, Psyche ist als konkreter untilgbarer Widerstand gegen alle Auflösung ins
270 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren Ganze. Hiermit aber ist die Last des Seins noch nicht abgeworfen. Es wäre nur eine neue Last gefunden, nämlich die, dass ein jedes Selbst erbarmungslos an sein eigenes Sein angenietet ist. Doch die Ontologie treibt von sich aus zu ihrer eigenen Überwindung in der Erfahrung des Anderen. Denn der Andere ist eben nicht mehr Sein oder Seiendes, sondern „jenseits des Seins“. Die plastischen Formen seines Gesichts werden in jedem Moment vom Ausdruck seines Antlitzes dementiert. Einzig in der Beziehung zum Anderen geschieht für Levinas die Befreiung vom Sein, in der der Parcours der Ontologie zu seinem Ende kommt, in welchem die Ontologie als solche überwunden ist. Von Anfang an sucht Levinas nach der Möglichkeit eines „ontologischen Pluralismus“, dessen Formel in Die Zeit und der Andere (1948) lautet: „mit Parmenides brechen“. (2007, 20/1989, 19) Während die klassische Ontologie (welche die Tendenz hat, das Sein oder Seiende unmittelbar für alles zu halten) sich für ihn mit Totalitäten wie der Hegel’schen Vernunft oder dem Alleinvertretungsanspruch des Subjekts (noch bis Husserl) abmüht oder sich (mit Heidegger) an einer Fundamentalontologie verhebt, zertrümmert Levinas konsequent die Einheit des Seins auf der Suche nach einem Pluralismus, den er bereits in Die Zeit und der Andere in der erotischen Beziehung und vor allem in der Vaterschaft findet. Es geht darum, eine Pluralität von Seienden zu denken, für die es kein übergeordnetes oder sie gründendes Prinzip mehr gibt, die nur in ihrer Pluralität sein können; die metaphysische Konsequenz daraus ist, dass sich das Wirkliche nicht wie von außen betrachten und umfassen lässt: Immer muss ich von meiner Verortung und Beziehung zum Anderen ausgehen. Die erotische Beziehung ist Konfrontation mit dem „Weiblichen“, das bei Levinas nicht einfach eine weitere Form der Erscheinung von Andersheit ist, sondern vielmehr jenes Seiende meint, das als seine wesentliche „Eigenschaft“ das Anderssein hat. Wir müssen für das vorliegende Thema die Frage außer Acht lassen, ob Levinas diese „Weiblichkeit“ wörtlich oder rein systematisch meint, ob er also in der Tat das Gegenüber der Erotik immer als Frau denkt (und damit das Selbe, von dem aus gedacht wird und das allein überprüfbar denkt, als Mann!) oder ob „das Weibliche“ vielmehr eben jene Qualität der Andersheit „als solcher“ meint, so dass also einer Frau, die einen Mann begehrt, dieser in seiner „Weiblichkeit“ erscheinen muss. Diese Frage ist allerdings für eine Einschätzung einer Reihe von Theoremen Levinas’ und für seine Würdigung im Licht von feministischen und Gendertheorien von großer Bedeutung. So spricht er bspw. auch durchgehend von „Vaterschaft“ und von „Söhnen“. Das erotische Begehren wurzelt jedenfalls darin, dass es sich auf eine Andere richtet, die unaufhebbar Andere bleibt. Die Zärtlichkeit sucht auf der Haut der Anderen, ohne zu wissen, was sie sucht; denn diese Form der Zuwendung gibt es nur als eine Zuwendung zu einem sich Entziehenden. Daher kann sie auch nie zu einem Ende gelangen. Das erotische Begehren nährt sich von sich selbst. (2007, 82/1989, 60) Levinas’ Verhältnis zur Erotik wird dabei im Laufe der Zeit
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zunehmend kritisch: Tritt die Liebe, auch die körperliche, in Totalität und Unendlichkeit immerhin noch als „zweideutig“ auf, so sind die verstreuten Bemerkungen zur Erotik in Jenseits des Seins ausnahmslos Abgrenzungen der eigenen Konzeption von ihr. (1990c, 25; 143; 195; 272 f./1992b, 42; 201; 273; 379 f.) Die Vaterschaft schließlich ist die Beziehung zu einem Anderen, der in gewisser Weise doch ich selbst bin, und zu mir, insofern ich radikal ein Anderer bin. (2007, 85/1989, 62; 1990b, 299–302/1987, 390–395) Hier ist die Erfüllung der Aufgabe einer Befreiung aus den Klauen eines erbarmungslosen Seins auf den Punkt gebracht, denn weder gibt das Selbe sich hier einfach auf noch sinkt es in die Anonymität zurück oder sucht es den Ausweg in einer mystischen „Teilhabe“ (die Levinas durchweg kritisiert); ebenso wenig entzieht es sich dieser Aufgabe. Vielmehr ist das Selbe als Vater weiterhin es selbst, abhängig vom anonymen Sein und festgenietet an sein eigenes; und doch gelingt es ihm, aus seiner Getrenntheit heraus die Tyrannei des Seins zu brechen: indem es im Anderen ein Anderer wird und zugleich Selbst bleibt. Im Laufe der Entwicklung von Levinas’ Denken verschärft sich zudem das Bewusstsein für das methodische Problem einer Befreiung vom Sein. Wenn Sein als thematisierbares vor allem das Sein der Welt ist und damit das Sein in Formen der Gegenständlichkeit, wie ließe sich dann das an- und aussprechen, was „jenseits des Seins“ liegt? Muss jeder solche Versuch nicht immer ins „Gesagte“ (Dit) zurückfallen und damit genau die Transzendenz, um die es ging, verraten? Schon in frühen Texten spricht Levinas den „Phänomenen“, die „vor“ der Setzung von Subjekten und Dingen liegen, die Möglichkeit einer im engen Sinn phänomenologischen Beschreibung ab. (1990a, 112/1997, 81) In Jenseits des Seins versucht er nun, die immer gefährdete Kraft eines ursprünglichen „Sagens“ (Dire) zu mobilisieren, das sich den Kategorisierungen und Fixierungen immer von Neuem entwindet. Es ist also eine ontologische Problematik, die den teilweise kryptischen Stil des Spätwerks erzwingt – und zugleich eine „sprachphilosophische“ Neuinterpretation der Ontologie, freilich ohne dass die Grundzüge derselben angetastet würden. (1990c, 19; 263 ff./1992b, 32 f.; 367 ff.)
12.3 Subjektivität und Ethik Ganz analog zu der Frage nach der Ontologie lässt sich auch diejenige nach der Subjektivität in drei Etappen gliedern. Während das „Es gibt“ das Sein „ohne uns“, ohne Subjekt also ist, (2007, 26/1989, 22 f.) ist es zugleich als das anonyme und unzerstörbare Sein der Hintergrund, vor dem sich in der Hypostase ein Subjekt setzt. Dieses setzt sich als Fähigkeit zu Schlaf, Vergessen und Unbewusstheit. Diese Setzung ist wesentlich die Setzung eines Körpers im Hier. „Die Lokalisierung des Bewusstseins ist nicht subjektiv, sondern die Subjektivierung des Subjekts.“ (1990a, 118/1997, 84) Das hat nichts zu tun mit einem „Raum“ (in einem
272 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren objektivistischen Sinn), sondern lediglich mit dem Ort als Basis und Bedingung. Der Körper ist die konkrete Ankunft (avènement) des Bewusstseins, und zwar als ein Ereignis, das selbst noch nicht substantivisch ist, in dem sich aber ein Substantivisches setzt. „Er setzt sich nicht, er ist die Setzung.“ (1990a, 122/1997, 87) Der Körper ist dabei in seiner Position ambivalent (oder, wie Levinas öfters schreibt, „äquivok“), da er eine Setzung ist, die als solche Anspruch auf Unabhängigkeit erhebt und zugleich einlöst, und dabei doch Setzung in einem anderen ist, nämlich im Elementalen, das sich ihm entzieht und von dem er sich als abhängig erweist. (1990b, 117; 254 f./1987, 236 f.; 334 f.) Dieselbe Ambivalenz spricht Levinas auch als die des Willens an, wobei der „Wille“ genau die Setzung und Selbstbehauptung des Ich meint: Wenn der Wille über alle Leidenschaften siegt, erhebt er sich triumphal über das Spiel der „empirischen“ Kräfte und bekräftigt sich als ein Absolutes. Wenn er jedoch unterliegt, dann erweist er sich als eine Kraft unter anderen, als „natürlich“ und begrenzt, von gleicher Art wie die Leidenschaften. (1990b, 264/1987, 347) Es ist allerdings wichtig zu begreifen, dass der Wille, wie der Körper und wie die Setzung des Ich allgemein, genau dieser Widerspruch ist. Die Subjektivität ist in dieser Ambivalenz des Abhängigen und Bedingten, das sich als unabhängig und unbedingt setzt – und sich durch diese Setzung als unabhängig und unbedingt realisiert. Man muss innerhalb dieser zweiten Etappe aber noch einmal zwei Aspekte voneinander unterscheiden: Zunächst (in einem systematischen Sinn) ist das, was sich dort setzt, Sinnlichkeit, und das heißt: es ist genusshafte Erfahrung des Materiellen. Diese Sinnlichkeit und ihr Genuss sind unmittelbar, sie sind ohne Hintergedanken, sie gehen der Arbeit, dem Denken, der Aneignung und auch jedem Verweisungszusammenhang, der in der Sorge gipfelte, voraus. Es gibt nicht einen großen Genuss, sondern eine Vielzahl von Genüssen, die sich gegenseitig ignorieren und die je ihr eigenes Ziel sind. (1990b, 141/1987, 189) Im Genuss setzt und lokalisiert sich ein vollkommen aufrichtiges sinnliches Wesen. (1990b, 146/1987, 195 f.) Und: Der Genuss ist immer jetzt, Setzung im Augenblick (instant): stance. (1990a, 133/1997, 95) Davon zu unterscheiden aber ist das Subjekt, insofern es sich als ein denkendes setzt. Denn jedes Denken impliziert (im Gegensatz zum Genuss) schon einen Hintergedanken, die Möglichkeit einer weiteren Infragestellung, ein Rückfragen, d. h. die Möglichkeit, von der Gegebenheit der Dinge und Situationen Abstand zu nehmen (recul) – nur durch diese Distanz sind sie gegeben. Diese Fähigkeit zur Unbewusstheit im Hellen des Bewusstseins ist der Ursprung des Lichts, das sich über die Welt ergießt. (1990a, 116 f./1997, 83) Das Subjekt als Bewusstsein und Denken ist in Verspätung zum Augenblick (retard). Vor allem aber muss erklärt werden, wie es zu diesem zweiten Einsatz im Reich der Subjektivität kommen kann. Der Bruch, der hier offensichtlich besteht und der sich zeitlich (Augenblick – Verzögerung) wie qualitativ bemerkbar macht (Sinnlichkeit – Denken, aber auch Arbeit und Besitz), verweist bereits auf die „Öko-
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nomie“, die in der Bleibe (demeure) gestiftet ist. (1990b, 162 ff./1987, 217 ff.) Damit ein Wesen über den Genuss im Sinnlichen hinauskommen kann, muss es bereits gesammelt sein in der Bleibe, in der ihm die Andersheit des Weiblichen entgegentritt. Es setzt sich ein Seiendes, das sich als Substantivisches dem anonymen Sein entgegenstellt, sich dieses aneignet, es übernimmt und sich dadurch von ihm befreit – aber nur um den Preis, dem Sein nun in neuer Weise überantwortet zu sein. (1990a, 134–136/1997, 96–98) Denn nun ist es das Ich selbst, das in fataler Weise immer wieder (zu sich) zurückkehrt. Ich (Moi) ist Selbst (Même) gerade in seiner unablässigen Identifizierung mit sich selbst. (1990b, 25/1987, 40) Schon im Erwachen, in der Struktur der Reflexion, in der das Ich ein Sich (soi) erfindet und in der Vernietung mit sich selbst erst recht: Ich kann mir selbst nicht entkommen! „Die Rückkehr der Gegenwart zu sich selbst ist die Bejahung des Ich, das schon an sich gefesselt, schon durch ein Sich gedoppelt ist.“ (1990a, 136/1997, 98) Diese Struktur wiederum wird in der Beziehung zum Anderen überwunden. Es zeigt sich dabei, dass das Selbst-Sein des Subjekts, sein „Egoismus“ und „Atheismus“, seine metaphysische Getrenntheit (séparation) die unverzichtbare Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt eine Beziehung zum Anderen statthaben kann. Nur ein radikal getrenntes Wesen kann dem Anderen von Angesicht zu Angesicht begegnen. (1990b, 54–56; 75; 158/1987, 78–82; 105; 212) Dann aber erschließt sich erst der vollständige Begriff der Subjektivität in ihrer Inanspruchnahme durch den Anderen: Er ruft mich an, nimmt mich in die Pflicht, stiftet mich als ein Subjekt, das ihm gegenüber unendlich verantwortlich ist. Die moralische Dimension der Wirklichkeit kommt nicht nachträglich zu einem sonst schon fertigen Subjekt hinzu, so dass dieses sie ablehnen oder annehmen könnte; sie ist auch keine (etwa als Wertwelt oder praktische Vernunft) an sich bestehende anonyme und allgemeine Forderung: Sie gründet in der konkreten Begegnung mit dem Anderen, und ich kann mich ihr nicht entziehen, sondern finde meine Subjektivität endlich von ihr gegründet vor. Die konkrete leibliche Gegenwart des Anderen nennt Levinas „Antlitz“ (visage). Die „Gründung“ des Subjekts geschieht also in dieser letzten und wichtigsten Dimension stets durch einen anderen als das Subjekt selbst. Subjektivität heißt: der Andere im Selben, als Beunruhigung. (1990c, 46 f./1992b, 69) Das Subjekt der Verantwortung ist das volle und eigentlich konkrete Subjekt, von dem alle anderen Begriffe, vor allem der des Bewusstseins, nur Abstraktionen sind. Erst in der Ethik bin ich auch ganz Subjekt und ganz wirklich: Ich drücke mich aus (etwa in Worten und Werken), doch sobald ich mich ausgedrückt habe, sind meine Produkte alleingelassen; sie bedeuten mich zwar, aber in unsicherer Weise. Jeder kann sie interpretieren oder sie sich aneignen. Was von mir bleibt, ist nur mehr Phänomen, d. h. Manifestation ohne Sein. Wirklichkeit im strengsten Sinn finde ich erst und ausschließlich in der Beziehung zum Anderen: Ihm antworte ich, wenn ich mich nur ausdrücke, und er verbürgt von
274 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren sich aus seine eigene Wirklichkeit und, in meiner Verantwortung für ihn, meine ebenso: „als Verantwortlicher bin ich auf meine letztgültige Wirklichkeit zurückgebracht.“ (1990b, 194/1987, 259) Ich finde hier meine letzte Wirklichkeit nicht nur durch die Verankerung in dem Wirklichen, das von sich aus sein eigenes Sein garantiert, also in der Epiphanie des Antlitzes, sondern vor allen Dingen dadurch, dass meine Verantwortung dem Anderen gegenüber mich in unzweideutiger Weise meint: Sie ist „Erwählung“ (élection). Das Ich ist ein Privileg oder eine Auserwählung. […] „Ich“ sagen, die irreduktible Singularität behaupten, in der die Apologie weiterbesteht, bedeutet, dass ich eine bevorzugte Stellung in Bezug auf die Verantwortung habe, in der niemand mich ersetzen und von der niemand mich entbinden kann. Sich nicht entziehen können – das ist das Ich. (1990b, 274 f./1987, 360 f.) Niemand kann für mich die Stellvertretung übernehmen, der ich die Stellvertretung für alle habe. (1990c, 200/1992b, 280)
Meine Einzigkeit (unicité) basiert darauf, dass ich als Geisel für den Anderen an seine Stelle gesetzt werde, ihn vertrete (substitution), dass ich gegen meinen Willen für den Anderen bin, dass ich ein „Sich“ bin, im Akkusativ erscheine (also wörtlich: als Angeklagter), bevor ich als Nominativ für mich selbst einstehen kann: radikalste Passivität. „Stellvertretung als die eigentliche Subjektivität des Subjekts […] Die Identität des Subjekts hat hier in der Tat ihren Grund in der Unmöglichkeit, sich der Verantwortung, der Sorge und des Einstehens für den Anderen zu entziehen.“ (1990c, 29/1992b, 47 f.) Im Spätwerk führt die Sorge darum, den Anderen nicht zu reduzieren, zu einer bewusst hyperbolischen Redeweise, in der das leibliche und daher verletzliche, radikal passive Subjekt (1990c, 30 f./1992b, 49) nun fast schon apriorisch als vom Anderen verfolgt (persécution) und besessen (obsession) erscheint, wie in der Mutterschaft ein Körper von einem Anderen; (1990c, 120 ff./1992b, 169 ff.) das Subjekt erscheint als traumatisiert und vorgeladen ohne Möglichkeit des Entkommens, als Geisel, die für den anderen und seine Verbrechen einsteht. (1990c, 31; 92/1992b, 50; 131 f.) Der Andere dringt immer tiefer in die Textur des Subjekts ein und wird im gleichen Zuge immer ungreifbarer, in einer Nähe (proximité), (1990c, 129 ff./1992b, 182 ff.) die Entzug ist und nur mehr eine Spur (trace) hinterlässt, in der der Andere indirekt und im Umweg begegnet (illéité). (z. B. 1990c, 27/1992b, 45) Man sieht, wie hier das Motiv der Unentrinnbarkeit des Seins (→ 12.2) wiederkehrt. Zugleich ist die Beziehung zum Anderen jener Ort, an dem diese Unentrinnbarkeit sich öffnet auf eine wirkliche Zukunft, die nicht vollständige Loslösung, wohl aber eine Verklärung des Seins besorgen kann. „Die Bedeutung ist die ethische Befreiung des Sich durch die Stellvertretung für den Anderen.“ (1990c, 256/1992b, 357) Die Zeit erweist sich demnach als jene Dimension, in der sich die metaphysischen Motive bei Levinas verdichten.
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12.4 Die unendliche Zeit der Fruchtbarkeit Die Analyse der „Zeit“ bildet vielleicht den Bereich, in dem Levinas’ theoretische Schöpferkraft und Originalität zu den kraftvollsten Konzeptionen führt. Zeit und Andersheit gehen bei Levinas von Anfang an Hand in Hand, bezeichnen geradezu verschiedene Aspekte ein und desselben. Es lässt sich mutmaßen, dass das, was die phänomenologische Beschreibung am Anderen nicht zu leisten imstande ist (weil er sich eben wesensmäßig in einer Thematisierung nicht fassen lässt), von der Analyse der Zeit, wie in einem Umweg, der keiner ist, eingeholt und nachgereicht wird. Dagegen spielt der Raumbegriff keine nennenswerte Rolle bei Levinas. Auch die Analyse der Zeit bei Levinas lässt eine Dreiteilung zu, die wiederum den drei Etappen der Ontologie (→ 12.2) entspricht. Denn das, was man gemeinhin für das allgemeine Wesen von Zeit hält, ihr kontinuierliches Vergehen, gehört lediglich dem Niveau des „il y a“ an: In der Erfahrung des anonymen Seins verstreicht eine Zeit ohne Anfang, Ende und Mitte, d. h. ohne jede Rhythmisierung. Die Geräusche der Nacht ordnen sich nicht in eine Welt, sondern lassen nur die Gestaltlosigkeit des Vergehens der Zeit umso deutlicher hervortreten. Das Kontinuum der Zeit im „Es gibt“ ist daher zugleich eine Erfahrung des Zeitlosen. (1990a, 111/1997, 80) Etwas Neues aber geschieht in der Hypostase. Die Setzung des Ich ist zugleich die Setzung im Augenblick und eines Augenblicks. Ein Subjekt sein, das heißt immer: jetzt sein, Gegenwart haben, das anonyme Verfließen durchbrechen. Der Augenblick (instant) ist Selbststand des Subjekts und Ansatz im Jetzt (stance). Die Hypostase emanzipiert sich so vom Kontinuum der anonymen Zeit. (1990a, 130–133/1997, 93–95) Diese Emanzipation gelingt aber nur, weil die Gegenwart des Bewusstseins ihrem Wesen nach nicht einfach Ausgeliefertsein an eine Gegenwart ist, denn das wäre wieder das anonyme Verfließen von Zeit, ununterscheidbar von einer ewigen Gegenwart. Vielmehr ist Bewusstsein bei Levinas geradezu definiert als die Distanz und Differenz zur Gegenwart. Bewusstsein heißt: noch Zeit haben. (1990b, 179/1987, 239) Die infinitesimale Distanz zum Augenblick noch im Leid ist die Geduld (patience). (1990b, 266 f./1987, 350 f.) Und noch dramatischer: Zeitlich sein heißt: noch nicht tot sein, den Tod noch aufschieben können. (1990b, 247/1987, 325) Die Paradoxie des Subjektseins – zugleich unabhängig und ausgeliefert zu sein – verdichtet sich in dieser Gleichsetzung von Bewusstsein und Zeitlichkeit. Das Denken ist in sich eine Verdrehung der Zeit in ein Hysteron Proteron, da es sich setzt als früher als die Welt, während es doch später ist. (1990b, 184/1987, 245) Es ist aber klar, dass hier nicht einfach eine Täuschung besteht. Das Denken „hat recht“ in seinem Anspruch, denn als Hypostase ist das Subjekt genau diese Verkehrung; daher rührt die ewige Möglichkeit und Versuchung des Idealismus. Selbst der Begriff der Freiheit muss sich aus dieser Zeitlichkeit
276 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren des Subjekts herleiten und nicht etwa umgekehrt. (1990b, 248/1987, 326) Denn, und hier schlägt das Gewicht des Seins wieder durch, die Loslösung der Hypostase vom Verstreichen der Zeit ist nie eine endgültige: Als meine Vergangenheit fällt mir mein Sein wieder zu und wird zum Schicksal oder „Geschick“ (destin). (1990b, 301/1987, 393) Es ist wahr: Die Setzung des Subjekts setzt einen neuen Anfang, und das immer wieder. Aber ebenso wahr ist auch, dass dieser neue Anfang immer wieder nur mein Anfang sein kann, und damit nicht aus dem Bannkreis des Selben herauszuführen vermag. Das Subjekt für sich kann nicht aus der Kontinuität einer Zeit ausbrechen, die daher nicht im vollen Sinn Zeit genannt werden kann. Das gleiche Schicksal, dem Schicksal zu verfallen, ereilt auch den (wie Levinas sagt: „ökonomischen“) Begriff der Geschichte, verstanden als Einheit oder Kontinuum oder Fortschritt. Die Geschichte und ihr Urteil sind grausam, weil sie als Totalität erscheinen: Sie reduzieren die Subjektivität und ihren Protest auf ein unwesentliches Moment ihrer selbst. (1990b, 272/1987, 357 f.) Diese Idee von Geschichte, paradigmatisch vertreten durch Hegel, kennt in Wirklichkeit gar keine Geschichte, denn es kann in ihr nichts Neues geben. Zeit im vollen Sinn ist bei Levinas vielmehr immer die Möglichkeit einer echten Zukunft, die nicht Wiederholung eines Vergangenen ist, die im Gegenwärtigen nicht schon irgendwie enthalten oder Produkt meiner Fähigkeiten und Vermögen ist. Diese Zukunft gibt es nur als Zukunft, die vom Anderen her kommt. Jeder wahre Begriff von Zeit ist daher abhängig vom Verständnis der Dimension des Anderen: „Ich definiere den anderen nicht durch die Zukunft, sondern die Zukunft durch den anderen“. (2007, 74/1989, 54) Der volle Sinn von Zeit erfüllt sich erst in der Fruchtbarkeit (fécondité). In ihr stehe ich in Beziehung zu meiner Zukunft in der Diskontinuität. Denn ich bin mein Sohn, aber doch als ein anderer. „Der Sohn, das bin ich, der ich mir selbst fremd bin“, (1990b, 299/1987, 391) eine Identifizierung in Unterschiedenheit. Damit eröffnet sich im Anderen, der mein Kind ist, ein jetzt absoluter Neubeginn: Mein Kind bleibt als meines zwar an eine Vergangenheit verwiesen, aber sie ist für es nicht Schicksal. Zwischen mir und meinem Kind ist „tote Zeit“ (temps mort), ein Abgrund, der jedes Kontinuum der Zeit endgültig durchbricht und eine unzerstörbare Jugend gründet. In der Fruchtbarkeit produziert sich „eine Beziehung zur absoluten Zukunft oder zur unendlichen Zeit“: Die Fruchtbarkeit setzt die Geschichte fort und erzeugt doch kein Alter; die unendliche Zeit bringt nicht einem alternden Subjekt ein ewiges Leben. Die unendliche Zeit, die durch die Diskontinuität der Generationen hindurchgeht, ist besser; sie empfängt ihren Rhythmus von den unerschöpflichen Jugenden des Kindes. […] Die Transzendenz ist Zeit und geht zum Anderen. (1990b, 300–302/1987, 393 f.)
Zeit, im vollen Sinn genommen, ist verwiesen auf den Anderen, ist unendlich, diskontinuierlich und nicht-totalisierbar. Die Unendlichkeit darf dabei nicht
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mit einer Ewigkeit verwechselt werden; unendlich ist Zeit, insofern sie Verwirklichung des Unendlichen (des Anderen) ist und insofern ihr dank der Unterbrechung, die die Fruchtbarkeit herbeiführt, keine Grenzen mehr gesetzt werden können. Sie kann wirkliche Hervorbringung von Neuem sein, echte Zukunft, „Ereignis des Unendlichen“. (production de l’infini, 1990b, 317/1987, 415) „Die Zeit fügt dem Sein Neues hinzu, absolut Neues.“ (1990b, 316/1987, 414) Und innerhalb dieser Zeit, die nun ihren Namen auch verdient, kehrt noch einmal die Inversion wieder, die bereits die Subjektivität ausgezeichnet hat (die nämlich sich selbst als den Ursprung dessen setzt, was ihr vorhergeht), allerdings ist diese Inversion der Zeit nun tatsächlich wirksam. Denn diese unendliche Zeit vermag auf das Vergangene zurückzukommen, aber eben nur, weil es die Zeit in ontologischer Pluralität ist. Dies endlich erlaubt es, die Last des Seins (→ 12.2) zu heben, ohne sie einfach zu negieren. Schon die Erinnerung ist so ein Versuch, auf das Vergangene verändernd zurückzukommen, aber ein Versuch, der an der Identität des Selben hängenbleibt. In der Vergebung aber wird tatsächlich und in allem Ernst das Vergangene nachträglich verändert: „die Vergebung wirkt auf die Vergangenheit, sie wiederholt in gewisser Weise das Ereignis, indem sie es reinigt.“ (1990b, 316/1987, 413) Das aber ist nur deswegen möglich, weil die Vergebung eben immer von einem Anderen kommen muss, radikal jenseits meiner Kräfte steht. Im Phänomen der Vergebung artikuliert sich in aller Deutlichkeit die Zusammengehörigkeit einer ontologischen Pluralität, die Sozialität ist, und der Zeit, die weder Kontinuum noch Schicksal ist. In Vom Sein zum Seienden wird diese Dimension von Zeit als die Zeit der Gerechtigkeit angesprochen (temps de la justice): In ihr löst sich das Sein aus der Verkettung und aus der Einsinnigkeit, aus dem Schicksal letztlich, denn die Zukunft kommt zurück auf die Vergangenheit: das allein wäre echte Zukunft. Und das allein ist der Gegenstand der Hoffnung. Die Liebkosung des Trösters […] kündigt eine Zukunft an, in der die Gegenwart sich einer Wiederholung erfreut. […] Man müsste zu jenem Augenblick zurückkommen oder ihn wiedererwecken können. Hoffen meint also, die Wiedergutmachung des nicht Wiedergutzumachenden erhoffen, heißt also, für die Gegenwart hoffen. (1990a, 56/1997, 112 f.)
Das Ich (je) ist sowohl die Möglichkeit, stets neu geboren zu werden, als auch die Forderung nach einem radikalen Neuanfang. „Die ‚Persönlichkeit‘ des Seins ist sein Bedürfnis selbst nach der Zeit“. (1990a, 159/1997, 115) Doch kann das Ich das nicht selbst vollziehen; es kann sich die absolute Andersheit der Zeit nicht selbst geben. „Diese Andersheit kommt mir nur vom anderen her zu.“ (1990a, 160/1997, 115) Die Sozialität ist also die Zeit selbst, die daher auch nicht mehr als Gegenstand einer Kontemplation gedacht werden kann. Die gesamte Konzeption von Zeit als einer Durchbrechung der Kontinuität und einer wirklichen Befreiung aus der Last des Seins gipfelt letztlich in der Idee des Messianismus. Wenn die ökonomische Idee von Geschichte an ihrer An-
278 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren maßung einer Totalität scheitert, die sowohl dem Wesen von Geschichte widerspricht als auch die Einzelnen zu vernachlässigbaren Momenten reduziert, dann restituiert der Messianismus den vollen und konkreten Begriff von Geschichte. Der Messias ist Gegenstand unserer Hoffnungen, er ist das Heil selbst (salut). (1990a, 156/1997, 112) Dieses Heil darf aber nicht als die endgültige Erlösung von allem Leid und die Vergeltung aller Ungerechtigkeit missverstanden werden. Zwar ist es richtig, dass das Messianische in die Unendlichkeit der Zeiten einen Abschluss einführt, dass das Messianische die Zeit vollendet. (1990b, 318/1987, 416) Das heißt aber nicht, dass die „messianischen Zeiten“ das Ende der Geschichte meinen oder eine Epoche innerhalb der Geschichte. Sie sind vielmehr die Geschichte selbst, aber in ihrer radikalen Fülle und Bedeutsamkeit in jedem einzelnen Augenblick genommen. Denn Levinas macht in einer Diskussion von Texten des Talmud eine Interpretation stark, wonach der Messias nicht irgendein dereinst kommender Erlöser mit übermenschlichen Kräften ist, sondern jeder, der „ich“ sagt und der als solcher das Leid aller anderen auf sich nimmt! „Der Messianismus ist also nicht die Gewissheit der Ankunft eines Menschen, der die Geschichte anhält. Er ist meine Fähigkeit, das Leid aller zu tragen. Er ist der Augenblick, in dem ich diese Fähigkeit und meine universale Verantwortung erkenne.“ (1984a, 139/1992a, 95) Freilich ist es kein Automatismus, dass jeder, insofern er Ich ist, auch schon als Messias angesprochen werden kann. Es bleibt natürlich eine unendliche Forderung, die Verantwortung selbst eben, zu der ich mich verhalten muss. Der Messias, heißt das in der Sprache der Theologie, kommt nur für den, der ihn erwartet. (1984a, 142/1992a, 97) Das heißt aber, dass jeder Tag Tag des Urteils ist, dass das Messianische in jedem Augenblick aufbrechen kann, um die Wahrheit über die Menschen zu sprechen, dass Geschichte in jedem Jetzt nicht nur als abgeschlossen betrachtet werden kann, sondern abgeschlossen ist. Der Messianismus (in Totalität und Unendlichkeit ist auch von „Eschatologie“ die Rede) ist nicht das Andere der profanen Geschichte, sondern die Dimension, die profane Geschichte erst zu Geschichte macht und ihr Wahrheit und damit Sein und Bedeutsamkeit erteilt, denn im Messianischen verbindet sich die Unendlichkeit und damit Offenheit der Zeit mit der Notwendigkeit der Vollendung der Zeiten zum Zweck ihrer Erfassung in der Wahrheit eines Urteils über sie. Der Messianismus muss also als das gelten, was sich an die Stelle des belasteten Begriffs der Geschichte setzen muss, um die konkrete Wirklichkeit unserer geschichtlichen Existenz zu beschreiben. Das Eschatologische, als das ‚Jenseits‘ der Geschichte, entzieht die Seienden dem Richterspruch der Geschichte und der Zukunft – es lässt die Seienden zu ihrer vollen Verantwortung entstehen, es ruft sie zur vollen Verantwortung auf. Indem das Eschatologische die Geschichte als ganze dem Urteil unterwirft, indem es sogar außerhalb der Kriege ist, die ihr Ende bezeichnen, gibt es jedem Augenblick seine volle Bedeutung in eben diesem
Robert Hugo Ziegler 279 Augenblick zurück: Jede Sache ist reif, um vor Gericht gehört zu werden. Nicht auf das Jüngste Gericht kommt es an, sondern auf das Gericht all der Augenblicke in der Zeit, in der man über die Lebenden urteilt. Im Gegensatz zum Urteil der Geschichte, in dem Hegel zu Unrecht die Rationalisierung des eschatologischen Urteils gesehen hat, impliziert die eschatologische Idee des Urteils, dass die Seienden ‚vor‘ der Ewigkeit, vor der Vollendung der Geschichte eine Identität haben, dass sie identisch sind, bevor die Zeiten verflossen sind, während es noch Zeit dazu ist; diese Idee impliziert, dass die Seienden zwar in Beziehung sind, aber von sich her und nicht von der Totalität her existieren. (1990b, 7 f./1987, 22 f.)
In den späten Texten fügt Levinas dieser Fassung der Zeit noch weitere Aspekte hinzu. Wenn in Totalität und Unendlichkeit die Sorge vor allem der Eröffnung einer echten Zukunft, als unendlicher, diskontinuierlicher, nicht vorwegnehmbarer Zeit galt, so rückt nun auch die andere „Seite“ einer nicht mehr als linear oder symmetrisch denkbaren Zeitlichkeit in den Blick. Denn in der Begegnung mit dem Anderen eröffnet sich eine wirkliche Zukunft nur dadurch, dass sie zugleich das Aufbrechen eines unerinnerbaren, eines vorursprünglichen Vergangenen ist (passe immémorial, passé pré-originel). Das Gebot, das mich im Antlitz des Anderen trifft und betrifft, geht mir und meinen Kräften immer schon vorher. Es kommt auf mich mit der Autorität einer Vergangenheit, die älter ist als jede Stellungnahme oder Aktivität des Ich (denn dann könnte sie noch in meiner Willkür liegen), die niemals Gegenwart gewesen ist (denn dann hätte sie immerhin damals Gegenstand einer distanzierten Thematisierung sein können) und die auch nicht der Ewigkeit eines Apriori untersteht, denn dann wäre Zeit in letzter Konsequenz wieder nur eine defizitäre Modalität der Ewigkeit. (1990c, 45/1992b, 68) Als solche eröffnet es eine wirkliche Zukunft (futur), nicht zuletzt in dem Tun, mit dem ich auf es antworten werde, und in der Unverfügbarkeit des Anderen, für den ich so eintrete. Levinas zerschlägt so überall die konzeptuellen Rahmungen und Selbstverständlichkeiten einer linearen Zeit, indem er bewusst scheinbar paradoxe Phänomene in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt. Diese „Paradoxie“ hat aber einfach den Zweck, die irrigen Vorannahmen wegzufegen, um den Blick für die fundamentale Diachronie des Seins offenzulegen. Solange Zeit und Sein vom Einen her, von der Vernunft oder vom selbstgenügsamen Subjekt gedacht sind, droht die Zeit wieder ihre Zeitlichkeit einzubüßen und in eine unveränderliche Gegenwärtigkeit zu gleiten. Damit aber wäre die Zeit abgeschafft und die Pluralität des Seins wieder auf eine Einheit zurückgeführt. Zeitlichkeit muss diachron sein, d. h. prinzipiell nicht auf eine Synchronie oder Gegenwart restlos reduzierbar. Solche Diachronie zeigt sich im Verzeihen ebenso wie im moralischen Imperativ: Dieser, älter als jede Vergangenheit, hat mich schon seinem Gehorsam unterworfen, bevor ich ihn verstanden habe. Ja, meine Antwort ist das Vernehmen des Befehls. (1990c, 234 f./1992b, 329 f.) (Auch hier also ein Hysteron Proteron.) Die intellektualistische Lesart, dass man etwas erst verste-
280 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren hen muss, bevor man ihm gehorchen kann, reduziert das moralische Ereignis auf eine Tätigkeit eines sich selbst gegenwärtigen Ich, während in Wirklichkeit ein vorursprüngliches Vergangenes und zugleich eine Aufforderung, die von der echten Zukunft des Anderen herkommt, am Werke sind. (1990c, 28/1992b, 46) Und es gibt, der lineare Rahmen von Zeit einmal zerschlagen, keinen Grund mehr, diese beiden Aspekte als einander entgegengesetzt oder nur korrelativ zu betrachten. Sie sind ein und dasselbe Ereignis der Diachronie selbst. Wieder enthüllt sich für Levinas im Hysteron Proteron die ursprüngliche Offenheit, Diskontinuität und Unverfügbarkeit der Zeit – und damit die Pluralität des Seins.
12.5 Religion statt Theologie Das Motiv einer messianischen Zeit leitet über zur Thematik der Theologie. Levinas hat nie eine strenge Trennung von Philosophie und Theologie praktiziert, wohl aber eine genaue Unterscheidung. Noch präziser hält Levinas von Anfang an Philosophie und Religion zusammen, wohingegen der Begriff der Theologie – als eine Wissenschaft (logos) vom Anderen par excellence – in sich verdächtig erscheinen muss. Philosophie und Religion allerdings erweisen sich als zwei Zugänge, die nicht, wie in manch klassischer Konzeption, einfach voneinander getrennt sind und dann zum selben Ziel führen können oder auch nicht, also weder zwei Wahrheiten noch zwei Methoden für eine Wahrheit; vielmehr vermögen sie einander ihren eigentlichen Sinn zu erschließen. Bei Levinas bewegen sie sich aufeinander zu, ohne sich doch zu vermengen. Daher lassen sich folgerichtig zwei Bewegungsrichtungen unterscheiden. Die Philosophie geht auf die Religion zu, indem sie nicht einfach nur von einer dezidiert religiösen Intuition getragen ist (sowohl im herkömmlichen als auch im Levinas’schen Sinn), sondern vor allem indem sie systematisch theologische Termini einsetzt, um die Begrenztheiten eines rationalistischen, logischen Diskurses zu durchbrechen und den Raum zu erschließen, wo sichtbar werden kann, was Levinas aufzuweisen sucht. Hierher gehören Begriffe wie „Kreatur“ als adäquate Beschreibung der Situation des Menschen, (1990b, 88/1987, 123) „Offenbarung“ als Ursprung aller Wahrheit, nicht nur der religiösen, (1990b, 61; 63; 70/1987, 87; 90 f.) „Epiphanie“ als Begegnung mit dem Antlitz des Anderen, (1990b, 43/1987, 64) eben „Religion“ als Name für jene Beziehung, die keine ist: die zwischen dem Selben und dem Anderen, (1990b, 79/1987, 110) „Atheismus“ als Synonym für die Trennung des Selben, (1990b, 45; 52/1987, 66; 75 f.) „Liturgie“ als Gottesdienst, der zugleich Dienst am Anderen ist und umgekehrt, (1984a, 11/1992a, 10) und vor allem eben die Begriffe der Eschatologie und des Messianismus. (1990b, 6 ff./1987, 21 ff.) Es ist sicher auch kein Zufall, dass die wichtigste philosophiehistorische Referenz in Totalität und Unendlichkeit die
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Verwendung der Idee des Unendlichen ist, die bei Descartes das solitäre Subjekt auf Gott hin öffnet. Stets werden diese Begriffe gezielt eingeführt, um die Selbstverständlichkeiten einer Metaphysik zu unterlaufen, die ihre Arbeit nur im Sichtbaren des Seins zu haben glaubt; die theologischen Begriffe und Denkfiguren hingegen beruhen auf einer Wirksamkeit des Unsichtbaren, die Ontologismus, Empirismus und Formalismus der Philosophie gleichermaßen auszuhebeln vermag. Sie vermögen das aber nur, insofern das, was sie beschreiben sollen, von sich aus dem entgegengeht, was der philosophische Diskurs hier zu umschreiben sucht. Denn auch die Theologie geht auf die Philosophie zu – und entledigt sich dabei ihres Anspruchs, Wissenschaft von einem erkennbaren Gegenstand zu sein. Gott ist für Levinas exakt in der gleichen Weise wie der Andere. Mehr noch: Gott ist nur in der Beziehung zum Anderen, nämlich zum anderen Menschen. „Die Dimen sion des Göttlichen öffnet sich vom menschlichen Antlitz aus.“ (1990b, 76/1987, 106 f.) „Gott, das ist der Andere.“ (1990b, 232/1987, 306) Es ist Levinas ohne Zweifel ernst mit der Rede von Gott, auch dem Philosophen Levinas, und es ist ihm ernst mit der Anlehnung an das Judentum. Gleichwohl tritt Gott nicht als eine aus dem Hut gezauberte Lösung für die großen metaphysischen Fragen auf, sondern er erhält allen Sinn, den er haben kann, aus dem „empirischen Ereignis“ einer Begegnung. Gott, das ist der Andere: das kann zweierlei bedeuten. Das kann heißen, dass die Philosophie im Anderen Gott erkennen muss, d. h. dass sie über ihre Beschränkung auf das „Rationale“, „Überprüfbare“, „diskursiv Erfassbare“ hinausgehen und die Präsenz Gottes anerkennen muss. Oder es kann heißen, dass die Theologie Gott nicht mehr als einen Gegenstand ihrer Erkenntnis und Theoriebildung, sondern vielmehr ganz genau so betrachten soll, wie die philosophische Untersuchung die Begegnung mit dem anderen Menschen nachzeichnet; ja sogar: dass es fortan auch für die Theologie nur noch zulässig ist, Gott ausschließlich in dieser Begegnung zu finden. Prophetie, Heilige Schrift, Kommentare, Gebete, Ermahnungen (exhortations) sind keineswegs überflüssig für Levinas; ihren innersten Kern und ihren Ursprung können sie aber nur in dieser einen Wahrheitsquelle finden, in der der Andere zugleich Gott ist und umgekehrt. Denn die Pointe liegt genau darin, dass für Levinas beide Bedeutungen der Gleichsetzung, Gott sei der Andere, der Andere Gott, wahr sind. Und hier fordert er die beiden Diskurse heraus, ihre gegenseitigen Grenzen zu überschreiten, ohne sich doch billig zu vermengen. Sie sind gezwungen, über Distanz miteinander zu kommunizieren und sich als getrennte gegenseitig zu durchdringen – fast wie der Selbe und der Andere auch. Indem er also einerseits Gott zum Kern der Begegnung mit dem Anderen erklärt und andererseits das Göttliche nur in dieser Begegnung selbst zu suchen erlaubt, fordert Levinas Philosophie und Theologie über ihre Grenzen hinaus. In einer eigentümlich verschlungenen Bewegung müssen sie sich beide ändern:
282 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren Der rationale Diskurs der Philosophie – und jede klassische Idee von Rationalität ist die einer Immanenz, einer Eingemeindung des Unverständlichen im Gleichen der Vernunft – muss erkennen, dass es eine absolute Transzendenz gibt, ein radikal Unverfügbares und Fremdes, von dem selbst noch die Philosophie ihre Möglichkeit erhält. Es gilt dann, sich für diese metaphysische „Äußerlichkeit“ (extériorité) zu öffnen. Doch andererseits bedeutet das nicht, aller Rationalität zu entsagen und stattdessen etwa der Mystik oder irgendwelchen Spekulationen über Sein und Wollen Gottes zu vertrauen. Denn Gottes Essenz gibt sich voll und ganz im und durch den Anderen. Damit gelingt Levinas eine bemerkenswerte Neubestimmung sowohl von Philosophie wie von Theologie. Eine pure Innerweltlichkeit, eine Immanenz des Selben ist ungenügend; doch wird die Welt und das Sein in ihr damit nicht einfach verdoppelt. Gott im Anderen treibt den Philosophen aus der Welt heraus, ohne dass er in eine Hinterwelt gelangen würde, die wiederum ontologisch untersucht und bestimmt werden könnte. Vielmehr gibt es nur diese Welt, und es gibt sie nur, indem sie zugleich im Anderen eine Transzendenz eröffnet, die diese Welt hinter sich lässt. Damit lässt sich Levinas’ Metaphysik nicht durch die gängigen Begriffe von Immanenz und Transzendenz einschränken: Zwar vollzieht Levinas überall die Überschreitung der Immanenz als einer reinen Innerweltlichkeit und Selbigkeit, doch was er Transzendenz nennt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit herkömmlichen Konzeptionen der Transzendenz. Die Unendlichkeit des Anderen ist der unendliche Überstieg über diese Welt selbst, weshalb Levinas auch das Unendliche verbalisiert: infinition, die „Verunendlichung“. Gott lässt sich ebenso wenig thematisieren oder zum Objekt machen wie der Andere. Daher ist eine Theo-Logie, also eine Wissenschaft von Gott, so nicht möglich. Es ist vor allem daran zu erinnern, dass mit „Gott“ für Levinas nicht doch wieder der ontologische Pluralismus zugunsten einer letzten, einzig wahren Seinsebene überwunden ist. „Gott“ ist eben nicht der Schlussstein oder der metaphysische Zentralpunkt oder die Totalität, in der sich alle Widersprüche und Abweichungen miteinander versöhnen werden. Da Gott konkret der Andere ist, und da diese Beziehung zum Anderen die konkrete Erfahrung einer unaufhebbaren Pluralität des Seins ist, ist Gott nicht die Überwindung dieses Pluralismus, sondern im Gegenteil seine letzte und endgültige Bekräftigung. Gott begegnet nicht als Totalität oder Teil einer Totalität, sondern als das, was mir wesensmäßig gegenübersteht und dem ich von Angesicht zu Angesicht, getrennt von ihm, begegne.
12.6 Metaphysik Dies führt zu Levinas’ Begriff der Metaphysik. Neben der eher unspezifischen Verwendung zur Kennzeichnung solcher philosophischen Entwürfe, die Levi-
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nas als Teile einer ans Totale und Neutrale gebundenen abendländischen Tradition kritisiert, ist es vor allem Totalität und Unendlichkeit, wo Levinas dem Begriff der Metaphysik einen positiven Sinn gibt. Die Metaphysik ist die Beziehung zur Transzendenz, die Begehren (désir) ist. Metaphysik ist demnach keine Theorie und keine philosophische Disziplin; sie steht diesseits der Unterscheidung von Theorie und Praxis; sie ist die moralische Beziehung zum Anderen und zu Gott. In dieser Metaphysik als erlebter Beziehung zur Transzendenz ist daher ein metaphysischer Pluralismus vorausgesetzt. Das heißt, dass die Pluralität der Seienden nicht bloßer Schein ist, nicht Abfall von einer ursprünglichen Einheit, auch nicht eine nur numerische Vielheit eines begrifflich oder wesentlich Einheitlichen. Vielmehr ist die Pluralität (im Sinn der Beziehung Ich – Anderer) die letzte Struktur des Seins selbst. Die Dimension der Erhabenheit, aus der das Metaphysische auf den Metaphysiker zukommt, bezeichnet so etwas wie eine Nicht-Homogenität des Raumes derart, daß sich darin eine radikale, von der numerischen Mannigfaltigkeit verschiedene Vielfalt ereignen kann. (1990b, 243/1987, 319)
Das Metaphysische, der „Gegenstand“ der Metaphysik ist der Andere, der mir gegenüber eine radikale Transzendenz und Exteriorität wahrt. Da der Andere genau das ist, was sich nicht in den plastischen Formen seiner physischen Manifestation erschöpft, das Unsichtbare im Sichtbaren des Antlitzes, ist der Einsatz des Begriffs des Metaphysischen auch wortwörtlich gerechtfertigt: Der Andere ist eben das, was in allem Erscheinen seiner physischen Existenz über diese hinaus ist und nicht darin aufgeht (was aber auch nicht einfach losgelöst von diesem körperlichen Erscheinen gedacht werden kann). Mit ihm, dem Anderen, Getrennten, dem Unendlichen, Unsichtbaren, Hohen, verbindet mich das Begehren. Dieses Begehren ist nicht mit einem Bedürfnis zu vermengen, das man befriedigen kann und das einen festumrissenen Gegenstand hat. Das Begehren ist absolut und unerfüllbar, weil Erfüllung gar keinen möglichen Aspekt seiner Struktur darstellt. Es darf aber ebenso wenig als Nostalgie gedeutet werden, als Erinnerung und Sehnsucht nach einer verlorenen Einheit, einem vormaligen Glück, einer Heimat, aus der man vertrieben wurde: Das metaphysische Begehren trachtet nicht nach Rückkehr; denn es ist Begehren eines Landes, in dem wir nicht geboren sind; eines Landes, das aller Natur fremd ist, das nicht unser Vaterland war und in das wir nie den Fuß setzen werden. Das metaphysische Begehren gründet auf keiner vorgängigen Verwandtschaft. (1990b, 22/1987, 36)
Weil das Begehren weder Nostalgie eines Verlorenen noch Sehnsucht nach einer unbedingten Beglückung ist, folgt es einer anderen Logik als das Bedürfnis, das man befriedigen oder erfüllen kann. Es ist Begehren, das man nicht zu befriedigen vermöchte. […] Das metaphysische Begehren hat eine andere Intention – es begehrt, was jenseits alles dessen liegt, wodurch es
284 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren nur ergänzt werden kann. Das Begehren ist wie die Güte – es wird vom Begehrten nicht erfüllt, sondern vertieft. (1990b, 22/1987, 36)
Das Begehren nährt sich von seinem eigenen Hunger, es vertieft sich, indem es sich „erfüllt“. Nicht nur folgt dieses Begehren also nicht der Logik des Bedürfnisses, das nach etwas Bestimmten strebt, um es sich einzuverleiben und darin seine Befriedigung zu finden. Es erfüllt nicht einmal die wichtigste Voraussetzung, die der Logik des Bedürfnisses im Allgemeinen unterstellt wird. Denn anders als z. B. dem Hunger liegt dem Begehren kein Mangel zugrunde: Das Subjekt „begehrt, was ihm nicht fehlt“. (1990b, 98/1987, 136) In der Tat hat Levinas bereits in Ausweg aus dem Sein die Theorie des Mangels auch für die Phänomene des Bedürfnisses zurückgewiesen. Es ist für Levinas eben kein Nichts, was uns bedrängt und bedrückt, sondern die Fülle des Seins. Gerade die Selbständigkeit, die ontologische Selbstgenügsamkeit des Subjekts, seine Getrenntheit (séparation) ist für Levinas die Bedingung dafür, dass es überhaupt begehren kann. Denn das Begehren ist das Begehren des Anderen, es ist Sprache und Ethik oder Güte (bonté). Ihre Logik besteht genau darin, dass sie umso größer wird, je mehr sich das Ich ihr unterstellt und auf ihre Forderung antwortet. Diese Logik hat aber durchaus auch eine gewisse Härte, die in den Formulierungen des Spätwerks noch deutlicher zum Vorschein kommen. „Die Schuld vergrößert sich in dem Maß, in dem sie abgetragen wird.“ (1990c, 27/1992b, 44; 312) Metaphysik, als Begehren und Verantwortung, geht auf den Anderen, auf das Andere, auf das „absolut Andere“. (1990b, 21/1987, 35) Das kann sie aber nur, wenn sie den ontologischen Pluralismus ein für alle Mal voraussetzt. (1990b, 342/1987, 445) Metaphysik ist keine Suche nach einer vor Zeiten verlorenen Einheit, (1990b, 105/1987, 145) sondern die Verwirklichung des Pluralismus selbst. Der andere Mensch – irgendein anderer Mensch – ist dieses absolut Andere, das mein Begehren wachruft. Denn die Metaphysik ist nicht mit der Intimität der Liebe zu verwechseln, wo ein Mensch zum Nachteil aller anderen vorgezogen wird. (1990b, 284 ff./1987, 370 ff.) In der Metaphysik als dem Begehren des ganz Anderen vollendet sich schließlich die Erlösung von der Last des Seins (→ 12.2) – wenn hier von einer Vollendung und einer Erlösung noch die Rede sein kann: „Erlösung“ heißt nicht billige Befreiung ohne Rest und Schwere, sondern das Aufbrechen des Jenseits des Seins im Sein selbst, ohne dass man sich des Seins je ganz entschlagen könnte. Und diese Öffnung auf das Jenseits des Seins im Sein ist denn auch die einzige Weise, in der sich die Erlösung wirksam vollziehen kann, d. h. vollenden kann – eine Vollendung, die gerade, wie in der Diskussion der Zeit deutlich wurde, kein Ende, sondern im Gegenteil eine Öffnung ins Unendliche verheißt. In der Metaphysik so verstanden aber geschieht Transzendenz (die also ebenfalls nur verbal gedacht werden darf ), als Übergang zum Anders-als-Sein: „Übergehen zum Anderen des Seins, anders als sein. Nicht anderssein, sondern anders als sein.“ (1990c, 13/1992b, 24)
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In einem ganz konkreten Sinn geht die Metaphysik dabei noch über sich selbst hinaus, denn in der Metaphysik als Gastlichkeit, als Empfang des Anderen, wird der Metaphysiker nicht nur vom Anderen angeblickt, wie Levinas schreibt, sondern im Antlitz des Anderen zugleich vom Dritten. Der Dritte ist Levinas’ Name für die Dimension der Allgemeinheit und Universalität, die nicht als absolute und selbstgenügsame, einer reinen Vernunft zugängliche erscheint, sondern eben phänomenologisch auf ihren anschaulichen Ursprung zurückgeführt wird: im Antlitz des Anderen. Die Begegnung mit dem Anderen ist also nicht nur private Aufforderung zum Moralischen, geschlossene Gesellschaft, sondern die Verantwortung, die in ihr gefordert ist, drängt von sich über die Situation hinaus. Die Metaphysik ist von Anfang an Ausblick und Vorgriff auf das Wir und den Staat. Sie sind als Forderungen im Antlitz des Anderen beschlossen. Aber Wir und Staat müssen jederzeit zurückgebunden bleiben an ihren „Ursprung“ im Antlitz. Werden sie von der Metaphysik als Begehren und Gastlichkeit verlassen, droht die Tyrannei. (1990b, 334 f./1987, 435) Der Dritte bringt Neues, nämlich die Idee der Gleichheit und Reziprozität und eine Limitation der ursprünglichen unendlichen Verantwortung, ohne diese aber einfach abzuschaffen. Mit ihm stellen sich neue Probleme, die nicht mehr die der Ethik und Metaphysik sind, sich aber auch nie von diesen zu lösen vermögen. (1990c, 244–253; 257/1992b, 341–353; 359) Emmanuel Levinas Emmanuel Levinas wird 1905 in Kaunas (damals Russisches Reich, heute Litauen) in eine jüdische Familie geboren. 1923 geht er zum Studium nach Frankreich, wo er 1930 eingebürgert wird. 1927/28 studiert er in Freiburg, wo er Husserl und Heidegger begegnet. Im Krieg wird er als französischer Soldat gefangengenommen: Seine Staatsbürgerschaft bewahrt ihn vor einer Deportation in die Lager, in denen die meisten seiner Verwandten ermordet werden. Nach dem Krieg wird er Direktor der „École Normale Israélite Orientale“, an der Lehrer für die jüdischen Gemeinden in der Diaspora ausgebildet werden. Erst mit Totalität und Unendlichkeit habilitiert sich Levinas 1961 und beginnt eine späte akademische Karriere. Emmanuel Levinas stirbt 1995 in Paris.
Literatur Levinas, Emmanuel (1951), „L’ontologie est-elle fondamentale?“, Revue de métaphysique et de morale 1/56, 88–98. – (1984a), Difficile liberté. Essais sur le judaïsme, 3. überarb. Aufl., Paris. – (1984b), Éthique et infini. Dialogues avec Philippe Nemo, Paris. – (1986), Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, übers. v. Dorothea Schmidt, Graz/Wien.
286 12. Emmanuel Levinas – Unendliches Begehren – (1987), Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, übers. v. Wolfang Nikolaus Krewani, Freiburg/München. – (1989), Die Zeit und der Andere, übers. v. Ludwig Wenzler, 2. Aufl., Hamburg. – (1990a), De l’existence à l’existant, 2. Aufl., Paris. – (1990b), Totalité et infini, Paris. – (1990c), Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Paris. – (1992a), Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M. – (1992b), Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiener, Freiburg/München. – (1997), Vom Sein zum Seienden, übers. v. Anna Maria Krewani/Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/München. – (1998), De l’évasion. Introduit et annoté par Jacques Rolland, Paris. – (1999), „Ist die Ontologie fundamental?“, in: Ders., Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. u. hg. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, 4. Aufl., Freiburg/München, 103–119. – (2005a), Quatre lectures talmudiques, Paris. – (2005b), Ausweg aus dem Sein/De l’évasion. Mit Anmerkungen von Jacques Rolland, übers. u. hg. v. Alexander Chucholowski, Hamburg. – (2007), Le temps et l’autre. Neuvième édition, Paris.
13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt Christian Hauck
Es ist keine Selbstverständlichkeit, Hans Blumenberg in ein Kompendium zur Phänomenologie aufzunehmen. Blumenberg ist, gemessen an seinen Veröffentlichungen zu Lebzeiten, eine Randgestalt der phänomenologischen Philosophie. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen befinden sich nur drei, die sich explizit mit der Phänomenologie befassen. (1963; 1972; 1986) Ohne die nachgelassenen Archivalien und den Umstand, dass sich Blumenberg auch in Lehrveranstaltungen mit der Phänomenologie beschäftigt hat, wäre ein großes Forschungsinteresse an Husserls theoretischem Ansatz nicht auszumachen. Doch bekanntlich verhält es sich anders: In den bislang herausgegebenen Nachlassschriften finden sich bereits vier Bücher zur Phänomenologie, (2002; 2006; 2010; 2018) und nicht zu vergessen ist auch die unveröffentlicht gebliebene bei Ludwig Landgrebe angefertigte Habilitationsschrift. (1950) Blumenbergs Überlegungen zum Weltbegriff der Phänomenologie zu berücksichtigen, ist also durchaus begründet. Mit dem Weltbegriff verbinden sich allerdings immer Fragen nach der Metaphysik. Oder: Von welcher Welt sprechen wir, wenn wir in der Phänomenologie von Welt, hier im Besonderen bei Blumenberg, sprechen? Im Falle Blumenbergs ist die Antwort hierauf nicht besonders einfach zu geben, vor allem auch aufgrund der Nähe der Darstellung zu Husserl. (Merker 1999, 68) ‚Welt‘ wird zwar in den unterschiedlichsten Titeln, Themen und Zugängen bei Blumenberg behandelt, in eine Definition werden sie jedoch nicht gegossen. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Welt allzu häufig ‚alles außerhalb des Ichs‘ meint. In dieser Weise ist Blumenbergs phänomenologischer Begriff von Welt angelegt. Beide, das Ich wie die Welt, spielen eine Rolle, die unter dem Titel ‚Lebenswelt‘ zueinander finden. Die Argumentation des Beitrags gliedert sich in sechs Abschnitte. Im ersten Schritt wird auf Blumenbergs kritische Aneignung des Lebensweltbegriffs eingegangen, die in der radikalen Zuspitzung der Lebenswelt auf den Begriff der Selbstverständlichkeit besteht. (→ 13.1) Mit Blumenberg wird im zweiten Teil aufgezeigt, dass sich eine solche Lebenswelt zwar denken ließe, sie aber Theorie bleibt und nur von einem Standpunkt, der außerhalb der Lebenswelt liegt, beschrieben werden kann. Die Lebenswelt erweist sich als unzugänglich für Fragen der Modalität; sie liegt damit in weiter Ferne zur Welt, in der der Mensch tatsächlich lebt. (→ 13.2) Im dritten Abschnitt werden die tatsächlich wie alltäg-
288 13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt lich erfahrbaren Enttäuschungen und Zumutungen des Lebens, die als stete Begleiter der menschliche Subjektivität auftreten, mit dem Kompensationsmittel der Theorie verbunden. (→ 13.3) Hieraus ergibt sich nach Blumenberg eine Unterscheidung von historisch zu qualifizierenden Welten, die den vierten Schritt der Argumentation ausmachen. Daneben kann durch den Rückgriff auf die Mitwelt der Weltbegriff an Kontur gewinnen, auch wenn er sich nicht definitorisch einholen lässt. (→ 13.4) Im fünften Abschnitt wird die Zeit in ihren Auswirkungen auf die Lebenswelt thematisiert, die sich als Geschichte der Lebenswelt mit Blumenbergs Formel des ‚dynamischen Platonismus‘ verbindet. (→ 13.5) Die Beschäftigung mit der Metaphysik, die sich aus der Auseinandersetzung Blumenbergs mit Husserl ergibt, bildet den Abschluss der Argumentation und bietet einen Ausblick auf das Spannungsverhältnis zum Begriff der Wirklichkeit. (→ 13.6)
13.1 Welt als Lebenswelt bei Blumenberg Die ausführlichste Auseinandersetzung Blumenbergs mit Husserls Phänomenologie findet sich in Lebenszeit und Weltzeit. (1986) Zuerst gilt es Blumenberg, „neoromantische Konnotationen“, (1986, 55) die sich mit dem Lebensweltbegriff vermischen, abzuwehren und so dem Lebensweltmissverständnis zu entgehen. Neoromantisch ist die Lebenswelt dann aufgeladen, wenn eine Sphäre der Eigentlichkeit beschworen oder auch wenn der theoretische Status der Lebenswelt übergangen wird. So etwa, wenn die Lebenswelt als Ort bezeichnet wird, an dem Mensch und Welt zusammenfinden und in ein unmittelbares Verhältnis zueinander treten. ‚Alltag‘ und ‚Lebenswelt‘ als Synonyme zu sehen, verfehlt die Sache. Eine solche „fernarchaische Idylle ungebrochenen Weltbezugs“, in der „Natur und Geist immerfort untrennbar aufeinander bezogen“ (1986, 12) sind, ist ein theoretisch beschriebener Naturzustand. Im Umkehrschluss handelt es sich also gerade nicht um einen Zustand, der einmal wirklich gegeben war. Eine Einstimmigkeit, ein direkter Bezug zwischen ego und Welt, mag also für eine Bewusstseinstheorie adäquat sein; zur Beschreibungen der menschlichen Lebensverhältnisse taugt sie jedoch nicht. Blumenbergs Zurückweisung der verklärenden Ansprüche an die Lebenswelt dient nicht zuletzt der besseren Handhabbarkeit der Lebenswelttheorie Husserls. Die Lebenswelt erschöpft sich für Blumenberg in ihrer Selbstverständlichkeit. Diese scheinbar einfache Formel, dass Lebenswelt sich durch Selbstverständlichkeit auszeichnet, birgt Probleme eigener Art, wie noch zu zeigen sein wird. Zugleich wirkt die Zuspitzung der Lebenswelt nicht nur gegen eine möglicherweise verfehlte Rezeption. Sie wirkt vorrangig gegen die Doppelfunktion in Husserls Lebenswelttheorem: Die Lebenswelt ist bei Husserl einerseits die Quelle der wissenschaftlichen Theoriebildung und andererseits die Beschreibung der
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genetischen Tiefenschicht des Bewusstseins. Im ersten Fall ist die Urstiftung der Wissenschaft ein Datum, das für Husserl in der griechischen Antike liegt. Hier wurde der Entschluss gefasst, Theorie zu betreiben, um das ontôs on, das wirklich Seiende, zu bestimmen. Im zweiten Fall ist die Lebenswelt die Verbindung von Noesis – auf der Seite der egologischen Subjektivität – und Noema, d. h. der Gegenstände der Welt. Bereits in Blumenbergs erster Veröffentlichung zur Phänomenologie, dem Aufsatz Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, schickt er sich zu einer Kritik an dieser Doppelfunktion an. Lebenswelt als fiktionaler Anfang der europäischen Geschichte, als Urstiftung, und zugleich als stets vergegenwärtigte basale Bewusstseinsschicht verstanden, birgt das Problem, „so etwas wie die ‚natürliche Natur‘ zu finden und als Norm des ursprünglich und eigentlich geschuldeten Lebens vorzuweisen“. (1963, 23) Der Gedanke eines Rückbezugs auf eine ursprüngliche, natürliche und eigentlich alltägliche Sphäre, in der das Bewusstsein einen direkten Weltbezug aufbauen könnte, wird von Blumenberg zurückgewiesen. Es kann sich dabei nur um ein Lebensweltmissverständnis handeln. Das Missverständnis liegt darin, dass eine ursprüngliche Seinsweise des Menschen postuliert wird, die gerade nicht auf Theorie als Mittel zur Erkenntnis- und Lebenssicherung zurückgreifen muss, sondern sich in der unmittelbaren Anschauung des Gegebenen bestätigt sieht. Blumenberg beschreibt die direkte Bezugnahme auf die Lebenswelt mit zwei Metaphern: dem Erlebnispark (1986, 48 ff.) und dem biblischen Paradies. (1986, 35 ff.) Beide Vergleiche sind letztlich nicht durchzuhalten, beide Vergleiche zeigen aber auch die Probleme und Grenzen in der Vorstellung der Lebenswelt als konkret-alltäglicher und zugleich transzendentaler Sphäre auf, so dass Blumenbergs Vereinseitigung der Lebenswelt nachvollziehbarer erscheint. Das biblische Paradies nutzt Blumenberg, um eine kleinräumige Welt zu entwerfen, die das Unverfügbare und Abwesende nicht zulässt. Der theologische Bezug, die Kosmogonie der christlichen Überlieferung, ist dabei nebensächlich. Es genügt, „Adam und Eva glauben zu lassen, die Welt ihrer Wahrnehmung sei alles, was es gäbe, und sei ihnen jederzeit und für immer verfügbar“. (1986, 36) Der so entworfene Urzustand ist daher „eine Sphäre ständiger Anwesenheit“, (1986, 34) der sich erst in seinem Verlust, also nur in der Außenperspektive, dokumentieren lässt. In analoger Weise verhält es sich mit dem Erlebnispark. In ihm findet sich zwar nichts Überraschendes, aber sofern in der Betrachtung des Erwartbaren eine Befriedigung gesehen werden kann, erfüllt er diese Erwartung vollends. Der Erlebnispark transformiert die zuvor präformierten Erwartungen in Erfahrungen. Auch dies ist nur eine Spielart der bekannten intentionalen Struktur, die Subjektivität und Welt in eine enge Verbindung zueinander setzt. Dem ego kann sich nur derjenige Gegenstand noematisch geben, der sich noetisch bereits in den passenden Modus des Bewusstseins einfügt. Oder: Die schöne Aussicht
290 13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt gibt sich mir erst im Sehen. In allen anderen Modi des cogito, sowohl in anderen sinnlichen Zuständen als auch in weiteren Modi wie Erinnern, Vorstellen etc. kann die Aussicht nicht erlebt werden und es entsprechend auch keine Erfahrung von ihr geben. Soweit der Erlebnispark intakt ist, handelt es sich um „eine Welt, die hält was sie verspricht“. (1986, 49)
13.2 Modalitäten: Die Rolle der Enttäuschung für Theorie und Alltäglichkeit Die Welt des Menschen hält ihre Versprechen nicht immer; mit Enttäuschungen ist der Mensch gut vertraut. Die eigenen Prognosen erweisen sich als falsch, das Gemeinte erweist sich als etwas Anderes und überhaupt scheint der Irrtum zum Leben zu gehören. Eine Möglichkeit, die Fehleranfälligkeit im Leben zu minimieren, ist die Theorie. Blumenberg sieht die Theorie als den Kitt, der den Menschen mit der Welt verbindet. Der Mensch ist damit notwendig auf Theorie angewiesen. Denn eine Stimmigkeit, eine Passung von Bewusstsein und Gegenstand, d. h. eine direkte Verbindung von ego und Welt, kann nur in Gestalt einer Theorie angeführt werden. Was also auf der Ebene des transzendentalen Bewusstseins stimmig ist, kann für die konkret-alltägliche Lebenswelt, laut Blumenberg, nicht zweifelsfrei postuliert werden. Allzu häufig zeigt sich in der Geschichte wie auch im alltäglichen Leben, dass von einer Stimmigkeit der Intentionen nur selten gesprochen werden kann. Es kommt anders, als man denkt, und auch für die Intentionalität wird Scheitern zu einer ständigen Möglichkeit. Sprachlich sind die möglichen Abweichungen von der intentionalen Norm längst eingepreist: Man verhört sich und ehe man sich versieht, hat man sich vertan. Solche Worte sind Ausdruck der Fehlleistungen einer unerfüllten Intentionalität im alltäglichen Leben. Damit verbindet sich für Blumenberg eine Frage, die leicht ins Absolute kippen kann und dem Menschen viel abverlangt: „Ist die Welt nicht so, wie sie sein soll, oder stehe ich schief zu ihr?“ (1986, 50) Eine Antwort auf diese Frage setzt voraus, dass die Abweichung der Erfahrung von der Erwartung, zumindest der Möglichkeit nach, einbezogen wird. Auf diese Weise wird die Einstimmigkeit, die auf Ebene des Bewusstseins als transzendentaler Argumentationsstruktur stets herrscht, in Änderbarkeit überführt. Notwendig ist dafür das logische Operationsmittel der Negation. Das Nichts kommt in Opposition zum Sein ins Spiel. Erst die Negation lässt das Nicht, das Abweichende und das Abwesende, das im konkreten Leben als Widerfahrnis auftritt, fassbar werden. Erst mit der Negation lässt sich also die Veränderbarkeit und Variation dessen vorstellen, was zuvor in dem strengen Korsett der intentionalen Verschränkung des Bewusstseins eingeschnürt war. Die Abweichung wird zu einer Anstrengung, sie gefährdet allerdings nicht mehr die Intentiona-
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lität als Ganzes. Stünde der Stimmigkeit des intentionalen Bewusstseins nur die Unstimmigkeit des konkreten Lebens entgegen, so stünde eben die Intentionalität selbst auf dem Spiel, weil die Unstimmigkeit nicht angemessen eingefangen werden kann. Dagegen ist das Widerfahrnis der Widerständigkeit für das konkrete Ich der Anlass, die Welt zu überdenken und sie nicht länger als starren und klaren Gegenpol erscheinen zu lassen: Das Ich erfährt sich als Erlebnispol in seiner Resistenz gegen die Enttäuschung seiner Erwartung: durch den Kunstgriff der Korrektur seines Erlebnisweges anstelle der ‚entmutigenden‘ Identitätspreisgabe seiner selbst. Indem es sich festhält und die Welt modifiziert, begreift es, was es heißt, ‚Ich‘ zu sein. (1986, 50 f.)
Die Entdeckung der Modifizierbarkeit der Welt behebt den „Kontingenzmangel“, (1986, 46) der in der Lebenswelt vorherrscht. Mit der Enttäuschung der Erwartungen des konkreten Ichs setzt ein Mechanismus ein, der zu einem veränderten Ordnungsgefüge führt. Gab die Welt als Pol einen klaren Widerpart zum transzendentalen ego, so verliert sich die Opposition, sobald die transzendentale Lebenswelt durch die Welt ersetzt wird. Diese konkrete Welt steht unter dem Postulat der Kontingenz, mithin ist sie gekennzeichnet durch „auch-anders-sein-können“. (1963, 23) Die Lebenswelt wird zur rein transzendentalen Sphäre des Bewusstseins und ihre Selbstverständlichkeiten finden sich nur noch in Marginalien bzw. Residuen des konkreten Lebens wieder. Blumenbergs Diktum, wonach „Lebenswelt immer schon ein verlassener Zustand“ (1986, 54) ist, zeigt die Entzweiung der Lebenswelt von der Alltagswelt an. Für den Menschen bedeutet die trotzige Selbstbehauptung, die ihn sich in seiner Vernunft erhalten ließ, vor allem einen Vertrauensschwund. Was ihm gegenüber ist, wie die Welt beschaffen ist oder was die Welt ist, das ist nicht mehr in einfacher Evidenz gegeben. Analog zum Ausgang aus dem biblischen Paradies ist der Mensch auf seine Bewusstseinsleistung und die Dienstbarmachung der Welt angewiesen. Die Passgenauigkeit der Paradiesmetapher dokumentiert sich auch in der Utopie, wieder zur Selbstverständlichkeit der Welt zurückzufinden – freilich nur über den Umweg der Theorie, die jene Denknotwendigkeit darstellt, durch die die Vernunft erst mit dem nötigen Rüstzeug versehen wird, um sich selbst zu erhalten.
13.3 Umwege zur Welt: Die Rolle der Theorie für die Subjektivität Das zentrale Anliegen von Theorien ist es, Übersichtlichkeit herzustellen. Sie ordnen, kategorisieren und generieren einen Horizont möglicher Erwartung. Theorien sind also gerade dort gefragt, wo sich keine direkten Antworten geben lassen. Sie sind ein Umweg, der begangen wird, um Orientierung herzustellen.
292 13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt Die Befremdung, die von unerwarteten Ereignissen in der Welt herrührt, wird durch Theorie abgebaut bzw. die Theorie kann neues Vertrauen schaffen. Die erstmalige Berechnung einer Sonnenfinsternis dient Blumenberg als Beispiel für eine solche Steigerung der Voraussicht und mit ihr der Orientierung. (1986, 54) Ein Teil des apokalyptischen Schreckens wird dem vorhergesehenen Ereignis genommen, wenn Astronomen es berechnen können. Der vorhergesehene Ausnahmezustand ist weniger erschreckend als der unerwartet auftretende Schrecken. Blumenberg betont jedoch, dass sich mit der Berechenbarkeit und der gesteigerten Übersichtlichkeit der Welt durch Theorie eine Zeitschere öffnet. Subjektive Lebenszeit und objektive Weltzeit sind zu weitgehender Ungleichzeitigkeit verdammt, d. h. nach Blumenberg, was gewusst werden kann, übersteigt die Möglichkeit des Einzelnen bei weitem. Wie bei der Berechnung der Sonnenfinsternis von den Astronomen demonstriert, sind es Experten, die benötigt werden, um die Veränderungen in der Welt nachvollziehbar werden zu lassen. Damit ist ein geschichtlicher Zustand gekennzeichnet. Insofern die Zeitläufe innerhalb eines Lebens sich nicht spürbar von jenen der Welt abkoppeln, sofern also Veränderungen nur in Generationen gemessen werden können, ist die Welt gemäß Blumenberg „[v]orgeschichtlich“. (1986, 65 f.) Erst die Beschleunigung der Welt reißt die Geschichte aus dem phänomenologischen Fassungsvermögen des inneren Zeitbewusstseins. Das Bedürfnis nach einer Theorie der Lebenswelt ergibt sich für Blumenberg daraus, dass „wir nicht mehr in einer solchen leben, aber auch niemals ihr zur Verstandesverfügbarkeit unserer Welt gänzlich entkommen können“. (1986, 22) Im Sinne der kantischen Vernunftidee hat die Lebenswelt einen regulativen Charakter und fungiert als transzendentaler Rückzugsort der Theorie. Die Lebenswelt hat demnach eine vergleichbare Rolle wie das ‚Ding an sich‘ in der kantischen Erkenntnistheorie. Sie zeigt sich für Blumenberg als Grenzbegriff, der nicht eingeholt, d. h. nicht ansichtig gemacht werden kann. (1986, 63) Dennoch ist die Lebenswelt in ihrer primären Fassung unentbehrlich für das konkrete Bewusstsein des Menschen. Nach dem Ausgang aus der Lebenswelt muss zumindest die mögliche Treffsicherheit des Bewusstseins auf Vorgänge in der Welt neu verbürgt werden. Eben dies ist die beständige Forderung nach der „Selbsterhaltung: als Vernunft“. (1986, 63) Innerhalb der Mitwelt, in der sich das konkrete Bewusstsein des Menschen stets zu orientieren hat, ist die Vernunft – in Form der Theorie – der Ankerpunkt, mit dem sich das Subjekt gegenüber der Welt erhält. Auch Husserls Theorie der Lebenswelt steht im Bannkreis der allgemeinen Rolle von Theorie. Blumenberg betont, dass die Lebenswelt gemäß ihres Status als Theorie wie auch in ihrer selbstverständlichen Gegebenheit eine dem Menschen fremde Sphäre ist. Eine Beschreibung von Innen ist gleichzusetzen mit ihrer Entwesung. (1986, 60) Einerseits stellt sich dem Bewohner der Lebenswelt keine Frage, denn in der Selbstverständlichkeit ist die Herstellung von Ver-
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ständlichkeit nicht erforderlich. Im Gegenteil: Es würde ein sofortiger Verlust der Selbstverständlichkeit eintreten, wenn eine Frage aufkommen würde. Andererseits liegt gerade mit der Zielsetzung der Phänomenologie, die Sache selbst freizulegen, der „Lebensweltschwund“ (1986, 23) offen zutage. Die Methodik, insbesondere die freie Variation, ist in aktiver „Lebensweltlichkeit“ (1986, 65) nicht erforderlich und auch nicht denkbar. Von Bewohnern der Lebenswelt zu sprechen, gestaltet sich ebenfalls schwierig. Da nach Blumenberg kein konkretes Ich in der Lebenswelt vorkommt, stellt sich die Frage, wie die subjektive Seite des intentionalen Zusammenhangs gefüllt wird. Husserls ego ist für Blumenberg ungeeignet. Das „Subjekt, das er [der Phänomenologe, C. H.] nicht ist und nicht sein kann“, (1986, 60) wäre mit dem ego in seiner Reinheit zu identifizieren. Die Forderung Blumenbergs nach einer phänomenologischen Anthropologie, die in der Beschreibung des Menschen entfaltet wird, ergibt sich gerade auch aus dem Umstand, dass die egologische Perspektive Husserls nach Blumenberg zu kurz greift. Der Mensch kann „gerade deshalb kein ‚reines‘ intentionales Subjekt sein“, (2006, 144) weil die erweiterte Welt von ihm verlangt, dass er unter Aufbietung der Mittel der Vernunft die Kontingenz der Welt bewältigt.
13.4 Raum für Welten: Blumenbergs Transformation der Lebenswelt Es lassen sich nach Blumenberg drei Stadien der Lebenswelt unterscheiden, die sich maßgeblich aus der Zeit ergeben, in der sie zur Wirksamkeit kommen. Die Lebenswelt ist entsprechend „nicht nur eine Welt“, sie ist vielmehr die „‚Idee‘ einer solchen“ und sie wird von Blumenberg als „eine Vorwelt, eine Mitwelt“ und „eine Nachwelt“ in Betracht gezogen. (1986, 60) Die Verbindung der Stadien der Lebenswelt mit der Theorie geht von der Mitwelt aus. In ihr findet sich der vorrangige Betätigungsort der sich selbst erhaltenden Vernunft; und all ihre theoretischen Leistungen ergeben sich aus dem Bedürfnis, die fragile Ordnung von Mensch und Welt zu stabilisieren. Die Lebenswelt als Vorwelt ergibt sich aus der theoretischen Rückfrage auf die Intentionalität, wohingegen die Nachwelt eine theoretische Spekulation darstellt. Jene Fassung der Lebenswelt, die am meisten Aufmerksamkeit erfährt und die das genetische Fundament bildet, ist die prähistorische Lebenswelt. Sie fungiert als transzendentale Basis der Erkenntnismöglichkeit und findet sich in den Analogien von Paradies und Erlebnispark wieder. Zugleich liegt diese Form der Lebenswelt vor dem Datum der Urstiftung und damit vor der theoretischen Aufgabenstellung, das wirklich Seiende zu thematisieren. Die prähistorische Lebenswelt ist daher mit der Vorwelt zu identifizieren. Vorgeschichtlich ist diese ursprüngliche Fassung der Lebenswelt vor allem, weil „die Veränderungsrate aller Bedingungen und Umstände des Daseins unterhalb der Schwelle der Wahr-
294 13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt nehmungsfähigkeit eines individuellen Lebens und einer intersubjektiven Generation liegt“. (1986, 66) Weitaus komplizierter zeigt sich das Verhältnis im Falle der Mitwelt. Die Mitwelt entsteht mit dem Datum der Urstiftung, sie zeigt zugleich aber eine problematische Rückbindung an die Vorwelt. Während die Vorwelt sich durch die Selbstverständlichkeit auszeichnete, verfügt die Mitwelt nur noch über Rückstände, Residuen und Teile von Selbstverständlichkeiten. Nach Blumenberg erscheint uns „‚Alltäglichkeit‘ als fortgeführte, mitgeführte, unterlaufene Lebensweltlichkeit“, (1986, 64) Lebensweltlichkeit, die in diesem Fall mit Selbstverständlichkeit gleichzusetzen ist. Im Alltag begegnen uns die Selbstverständlichkeiten der Mitwelt bspw. in der Technik. Sofern die Technik ohne größere Unterbrechungen funktioniert, setzen wir sie als selbstverständlich voraus. Damit ist die Technik in doppeltem Sinne subhistorisch. Einmal, weil sie sich als der Verständlichkeit unverfügbar präsentiert: Technik ist eben das, was wir nicht in seinem Aufbau verstehen müssen und häufig auch nicht verstehen können. Wir gehen mit Technik lediglich um, hantieren mit ihr und benutzen sie. Ein anderes Mal ist die Technik subhistorisch, weil sie sich, inmitten der geschichtlich verfassten Zeit, als invariable Voraussetzung zeigt: Technik als dasjenige, womit wir umgehen, erweist sich als unverstandene Voraussetzung für unser Tun. Der Versuch, die damit einhergehende Krux vom Primat des Praktischen über das Theoretische, vom Vorrang des Handelns gegenüber dem Verstehen und der Invention vor der Theorie einzuholen, trieb Blumenberg um, wie Wirklichkeiten in denen wir leben (1981) und die Fragmente zur Geistesgeschichte der Technik zeigen. (2009) Zudem eröffnet die Mitwelt durch ihre fragmentarischen Selbstverständlichkeiten eine Konturierung des Weltbegriffs. Die Welt ist das, was sich nicht durch lebensweltliche Fraglosigkeit und Überraschungsfreiheit auszeichnet. Über diese negative Definition hinaus bleibt nur das Charakteristikum der Totalität, um den Weltbegriff Blumenbergs zu umreißen. Die Welt ist damit der Widerstand, das Unverfügbare und Kontingente, das sich einer Definition entzieht. Ihre einzelnen Bestandteile, die Sachen selbst, können einer phänomenologischen Betrachtung unterzogen werden. Als Ganzes liegt die Welt allerdings nicht in gleicher Gegenständlichkeit vor – sie bleibt Grenzbegriff, denn: „In letzter Verschärfung geht die Weltbestimmung über die Welt hinaus.“ (1986, 96) Die finale, posthistorische Variante der Lebenswelt entspringt der Weiterführung in eine Geschichte nach der Zeit. Mit dem Sprung in die posthistorische Welt gelingt die Ablösung der Inhalte des Denkens von ihrem aktualen Gedachtwerden. Die Gedanken wurden einmal gedacht. Sie fallen damit gleichsam aus einer Geschichtlichkeit erster Ordnung heraus und werden in die Geschichte der Geschichte überführt. In der Posthistorie jener „eschatologisch radikalisierten geschichtsphilosophischen“ (1986, 369) Welt wird die Frage nach dem Den-
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ken nochmals bedacht. Die posthistorische Nachwelt ist damit eine Welt, die nach der Existenz des Menschen anzunehmen wäre. Was bliebe, ist selbst eine Idee, jedoch nicht die Idee des Guten als Rückzugsort der platonischen Ideen, sondern „die Idealität des sich selbst denkenden Denkens“. (1986, 372) Das erinnert nicht von Ungefähr an Aristoteles’ unbewegten Beweger. Entscheidend ist allerdings die Wandlung der Abfolge. Der unbewegte Beweger war Aristoteles’ spekulativer Ausgangspunkt. Das sich selbst denkende Denken ist der Endpunkt des Bewusstseins, und seine Betätigung zeigt sich darin, dass „[w]as gewesen ist, bleibt“. (1986, 360) In der Umkehrung der Funktionsweise der platonischen Ideen liegt hier der Schlüssel zum Verständnis: Die „‚Ideen‘ sind nicht zeitlos, sie werden es“. (1984, 70) Es ist schlicht nicht möglich, die einmal gedachten Gedanken ins Ungedachte zurückzuführen und sie damit ungeschehen zu machen. Diese Verstetigung ins Absolute, die Genese der zeitlosen Ideen, beschreibt Blumenberg unter dem Begriff des dynamischen Platonismus. Der bleibende Ertrag von Blumenbergs Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Lebenswelt liegt in der Verbindung der Welt mit der Geschichte. Die historische Indikation lässt die Lebenswelt unterscheidbar werden in transzendentale Vorwelt, alltägliche Mitwelt und finale Nachwelt. Auffällig ist, dass die Unterscheidung der Sphären der Lebenswelt nicht nur an die Zeit gekoppelt ist, sondern an eine jeweils bestimmte Zeit. Die prähistorische Lebenswelt könnte zwar über Bewohner verfügen, dass es sich dabei um Menschen handelt, wäre jedoch begründungsbedürftig. Selbiges gilt für die posthistorische Lebenswelt. Was könnte weiter von einer Beschreibung des Menschen entfernt sein als ein sich selbst denkendes Denken? Apotheosen, Selbstvergottungen, erleben immer wieder Renaissancen. Der Mensch ist immerzu gerade auf dem Sprung, sich selbst zum Gott zu erklären, insbesondere vor dem Hintergrund seiner wachsenden technischen Möglichkeiten. Aber Gott ist nicht Mensch; und der sich selbst vergottende Mensch ist nicht mehr Mensch. Die Lebenswelt, in der der Mensch vorkommt, ist dadurch in der Mitwelt zu sehen. Die Selbstverständlichkeiten des Menschen sind demgegenüber subhistorisch, sie liegen also immer noch im Feld der Historizität.
13.5 Zeit als Geschichte: Blumenbergs Reparaturen Die Lebenswelt des Menschen ist der kontinuierlichen Veränderung unterworfen. Blumenbergs Ansatz zielt deshalb darauf, die Entwicklungen, Inventionen und Innovationen in eine Theorie der Lebenswelt einzubeziehen. Die Veränderlichkeit der idealen Wesenheiten zu bedenken und in die Theorie zu integrieren, ist freilich über Husserl hinausgedacht, denn schon „die Formel für einen ‚dynamischen Platonismus‘ blieb ihm [Husserl, C. H.] unzugänglich“. (1986, 369) Dennoch ist die Offenheit des Horizonts, insbesondere der sukzessiven Ent-
296 13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt wicklung der Weltgegenstände, essentiell, um die Lebenswelt ein Stück aus ihrer Selbstverständlichkeit herauszurücken. Die Unterscheidung der Lebenswelt in historisch qualifizierte Stadien erlaubt es, Blumenbergs Vorwurf, Husserls Phänomenologie tendiere zum Platonismus, nachzuvollziehen. Der Platonismus Husserls zeigt sich in seiner Konzeption der Lebenswelt als transzendentaler Basis. Diese Fassung der Lebenswelt hält eine entscheidende Verbindung zur prähistorischen Lebenswelt aufrecht und dokumentiert darin einen ersten Hinweis auf den Platonismus: die Ahistorizität, die „Gleichgültigkeit gegen die Zeit“. (1986, 15) Der zweite Hinweis liegt in dem Anspruch, das „wirklich Wirkliche“ (1986, 28) aufzuklären. Die beiden Kriterien Blumenbergs für den Vorwurf des Platonismus in der Lebensweltkonzeption Husserls zeigen deutliche Parallelen zu Platons Höhlengleichnis. Husserls ‚Sachen‘, die durch das phänomenologische Methodenarsenal Klärung erfahren sollen, korrespondieren den Ideen Platons. Beiden, Ideen und Dingen, ist gemeinsam, dass sie Wirklichkeiten höherer Ordnung sind. Wie die Welt eigentlich beschaffen ist, wie sich die Wirklichkeit unabhängig von ihren Erscheinungen verhält und wie die Sachen sich jenseits ihrer Abschattungen geben, das kann nur der Rückgriff auf eine Wesenheit klären. Blumenberg macht damit einen Unterschied zwischen faktischer Welt – man könnte auch sagen: Mitwelt – und einer eigentlich realen Welt der Wesenheiten auf. „Das ‚Ding‘ war in Husserls zahllosen Deskriptionen seit je die ‚Idee‘ seiner es nie einholenden Abschattungen, deren jede dadurch zum ‚Faktum‘ wurde.“ (1986, 320) Was nun neue Schwierigkeiten bereitet, ist die Unterscheidung der Ideen Platons von den Sachen Husserls. Denn bei aller Nähe der Theorien ist eine vollständige Gleichsetzung nicht sinnvoll durchzuhalten. Die platonischen Ideen sind ewig und verbleiben damit ganz in der Statik des antiken Kosmos. Veränderung ist Wiederkehr, in kosmischen Dimensionen wie in der Anamnesis der Seelen auf ihrer Wanderung. Husserl ist dieser Weg aus methodischen Gründen verwehrt. Die Phänomenologie kann nicht eine vom Bewusstsein losgelöste Realität von Ideen postulieren. Einerseits ergibt sich dieser Umstand gerade aus der Epoché, die mit der Ausschaltung der Existenzsetzung die Realität der Sachen einklammert und sich daher eines Urteils darüber enthält. Andererseits müssen die Sachen stets im Bewusstsein des Phänomenologen gegeben sein. Die Idee „darf dem fortgehenden Denkprozeß vieler und anderer nicht verlorengehen“, (1986, 323) sie kann aber auch nicht einfach übernommen werden. Husserls Berufsdenker ist gerade die Antwort auf die Problematik der Weiterführung des phänomenologischen Forschungsprozesses. Der jeweilige Zugang zu den Ideen, zu den Wesenheiten, die es zu erforschen gilt, besteht nicht qua Anamnesis, sondern kann nur als Retention begriffen werden – als Vergegenwärtigung der Urstiftung. Greifbar wird dieser Unterschied gerade darin, dass jeder Phänomenologe von vorn anfangen muss, ihm also eine Rückbesinnung auf die Ergebnisse anderer Denker verwehrt bleibt. Nur die eigene phänomenologische Beschreibung
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vermeidet den Rückgriff auf eine immer schon dagewesene Sphäre der idealen Gestalten einerseits und erteilt der Methodisierung als „unreflektierte Wiederholbarkeit“ (1963, 42) andererseits eine Absage. Dies fordert eben die Vergegenwärtigung – die Retention – der Urstiftung, um dem ursprünglichen Sinn der wissenschaftlichen Arbeit gewahr zu werden und zu bleiben. Noetisch, also auf der subjektiven Seite der Intentionalität, ist die Eigenständigkeit gesichert. Jeder Phänomenologe muss neu anfangen; ein Umstand, der sich nur aus echter Individuation heraus begreifen lässt. Zugleich wird die noematische Seite, die im intentionalen Gegenstand besteht, dynamischer. Der Bezugspunkt liegt nicht länger in ewigen Ideen; die Wesenheiten sind zu veränderbaren Bestandteilen geworden. Das ergibt sich aus dem Zugang zu den idealen Gestalten: die „Preisgabe des statischen Moments am Begriff von ‚Wesen‘ zugunsten eines genetisch-prozessuralen“. (1986, 337) Die Ideen werden also als entstandene, im Bewusstsein erzeugte Ideen in einen Wandlungsprozess einbezogen. Der Phänomenologe nimmt die Dinge in der Welt zum Gegenstand der Untersuchung, und entsprechend der Entwicklungen und Veränderungen der Dinge in der Welt verändern sich die Gegenstände. Blumenberg selbst verweist auf „die Brücke zu dem, was Husserl ‚Technisierung‘ nennt“ und was „mit dem Vorteil des Zeitgewinns und der Kraftersparnis“ einen Mangel an theoretischer Durchdringung aufweist. (1986, 346) Das bereits angeführte Beispiel der Technik ist zweifellos eine Verbindung des phänomenologischen Platonismus mit der Wandelbarkeit der geschichtlichen Welt – auch wenn Blumenberg darin die Technisierung gegen ihren Autor verkehrt, der die Technisierung vorrangig als Methodisierung bei Galileo Galilei begreift. Blumenberg begreift die Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt, also das, was bei Husserl als Idee des Dings firmiert, als veränderbare Bestandteile „der menschenerzeugten Idealität“. (1986, 361) Die Umschreibungen für den Vorgang der Idealisierung sind bei Blumenberg vielfältig, doch besteht zwischen dem „historisierten Platonismus“, (1986, 345) dem „produktiven Platonismus“, (1986, 348) dem „genetisierten Platonismus“ (1986, 373) und der häufigsten Benennung als „‚dynamischer Platonismus‘“ (1986, 366) kein sachlicher Unterschied. Entscheidend ist, dass das Augenmerk des Platonismus, sofern er dynamisch ist, die stete Veränderung der Lebenswelt aufgreifen kann, um die praktisch gegebenen, aber theoretisch nicht erklärten Selbstverständlichkeiten beschreibbar zu machen.
13.6 Metaphysik und Wirklichkeit Welche Form von Metaphysik Blumenberg im Rückgriff auf Husserl betreibt, scheint ausgemacht: Metaphysik wird in erster Linie verstanden als transzendentalphilosophische Position, die Begründungszusammenhänge zwischen
298 13. Hans Blumenberg – Die Geschichtlichkeit der Lebenswelt dem Ich und der Welt thematisiert. Daneben ergeben sich, gerade auch durch die Dynamisierung der Welt in Form von Technik, Veränderungen der Welt in ihrem So-sein. Die Dinge in der Welt erhalten gleichsam eine Geschichte. Die transzendentale Struktur bleibt hierin unangetastet, ihre Gegenstände sind jedoch der Kontingenz unterworfen. Die Pointe der Auseinandersetzung Blumenbergs mit der Phänomenologie liegt in der Verbindung der lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten mit dieser Konzeption von Geschichte. Was selbstverständlich ist, versteht sich nicht schon immer von selbst; die Selbstverständlichkeiten sind einem historischen Prozess unterworfen, sie sind selbstverständlich geworden. In diesem Sinne wollte Blumenberg auch den Sammelband Wirklichkeiten in den wir leben verstanden wissen: als Beitrag zu einer „Phänomenologie der Geschichte“. (1981, 6) Der dynamische Platonismus, der neben der Veränderbarkeit der idealen Wesenheiten auch auf deren Erzeugungsvorgang und seinen Urheber verweist, dient auch als Brücke von der Phänomenologie zu Blumenbergs Fassung der Wirklichkeit. Zunächst ist damit ein weiterer Grenzbegriff eingeführt, der ebenso wie der Begriff ‚Lebenswelt‘ definitorisch schwer einzuholen ist. Die Regel zum Gebrauch des Begriffs ‚Wirklichkeit‘ ist das Minimum dessen, was sich sagen lässt: „Wirklich ist, was nicht unwirklich ist.“ (1989, 806) In der Fortführung geht mit der Regel zum Gebrauch der Wirklichkeit einher, dass von Ausschließlichkeit nicht gesprochen werden kann. Der „Absolutismus der Wirklichkeit“ setzt voraus, „daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und […] nicht in seiner Hand glaubte“. (1979, 9) Die Nähe zum Begriff der Faktizität ist dabei ebenso unverkennbar wie die Ablehnung desselben, mit der Blumenberg den Begriff reformuliert. Durch die eigenverantwortliche Erzeugung idealer Gestalten wird eine klare Absage an jedwede Form unumstößlicher Realität formuliert. Mehr noch: Der originär phänomenologische Wirklichkeitsbegriff des offenen und in sich stimmigen Kontexts gewährleistet für Blumenberg eine Pluralität von Wirklichkeiten. (1964, 51 f.) Entscheidend ist dabei die Auslassung des transzendentalen, anonym fungierenden ego, das Husserl sowohl in den Cartesianischen Meditationen als auch in der Krisis stark gemacht hatte. Bei Blumenberg ist die Wirklichkeit mit dem konkreten Bewusstsein des jeweiligen Menschen verbunden. Die Relativität zeigt sich gerade in der „Verbindung des Possessivpronomens mit dem Ausdruck Wirklichkeit“. (1964, 52) Die Wirklichkeit ist meine Wirklichkeit. Hans Blumenberg Geboren in Lübeck 1920, gestorben in Altenberge 1996. Ab 1939 Priesteramtskandidat in Paderborn, durch die nationalsozialistische Gesetzgebung erzwungene Unterbrechung des Studiums. Nach 1945 Studium der Germanistik, Klassischen Philologie und Philosophie in Hamburg. 1947 Promotion in Kiel, 1950 Habilitation ebenda bei Ludwig Landgrebe. 1958 außerordentlicher Professor in
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Hamburg, 1960 ordentliche Professur in Gießen, 1965 in Bochum und von 1970 bis 1985 in Münster. Gründungsmitglied der 1963 konstituierten Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik. 1974 Kuno-Fischer-Preis sowie 1980 SigmundFreud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Literatur Blumenberg, Hans (1950), Die ontologische Distanz, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Kiel. – (1956), „‚Nachahmung der Natur‘. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen“, in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 55–103. – (1963), „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“, in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, 7–54. – (1964), „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, 47–73. – (1972), „Lebenswelt und Wirklichkeitsbegriff “, in: Ders., Theorie der Lebenswelt, hg. v. Manfred Sommer, Berlin 2010, 157–180. Zuerst erschienen in: Blumenberg, Hans, „The Life-World and the Concept of Reality“, in: Lester E. Embree (Hg.), Life-World and Consciousness. Essays for Aron Gurwitsch, Evanston, IL 1972, 425–444. – (1979), Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. – (1981), Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981. – (1984), „Die ‚Urstiftung‘. Über den Unwillen, Autor von Vergänglichem zu sein“, NZZ 239 (13./14.10.1984), 69–70. – (1986), Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. – (1989), Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. – (2002), Zu den Sachen und zurück, hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a. M. – (2006), Beschreibung des Menschen, hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a. M. – (2009), Geistesgeschichte der Technik, hg. v. Alexander Schmitz/Bernd Stiegler, Frankfurt a. M. – (2010), Theorie der Lebenswelt, hg. v. Manfred Sommer, Berlin. – (2018), Phänomenologische Schriften, hg. v. Nicola Zambon, Berlin. Merker, Barbara (1999), „Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit“, in: Franz Josef Wetz/Hermann Timm, (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a. M., 68–98. Müller, Oliver (2005), Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie, Paderborn. Sommer, Manfred (2014a), „Lebenswelt“, in: Robert Buch/Daniel Weidner (Hg.), Blumenberg lesen. Ein Glossar, Berlin, 160–170. – (2014b), „Wirklichkeit“, in: Robert Buch/Daniel Weidner (Hg.), Blumenberg lesen. Ein Glossar, Berlin, 363–378. Stoellger, Philipp (2000), Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen. Zambon, Nicola (2017), Das Nachleuchten der Sterne. Konstellationen der Moderne bei Hans Blumenberg, Paderborn.
14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik Grégori Jean
In Inkarnation schreibt Michel Henry von der Phänomenologie: „Diese widersetzt sich prinzipiell der Metaphysik, sofern sie sich bewußt an das Phänomen hält, wie dieses sich in sich selbst zeigt. Dies will in letzter Instanz sagen: so wie es sich in der Welt oder im Leben zeigt.“ (2000, 303/2002a, 334) Dieser Bemerkung lassen sich bereits einige Hinweise entnehmen, die dem Folgenden nicht nur die Hauptrichtungen vorgeben können, sondern es auch erlauben, die Grundannahmen des Phänomenologieverständnisses Henrys nachzuzeichnen: So lässt sich (1) festhalten, dass der Begriff der Metaphysik bei Henry einen primär negativen Sinn hat. ‚Metaphysik‘ in diesem Sinn ist jedes Denken, das von der „Unangemessenheit jedes Scheins als eines solchen“ (1990a, 297/2018, 301) ausgeht. Diese Unangemessenheit wiederum motiviert die Hypostase einer Wirklichkeit an einem anderen als ihrem ursprünglichen Ort, in einer Dimension, die nicht mehr die Möglichkeitsbedingungen der Wirklichkeit erfüllt und wo das Wirkliche daher weder wirken noch sich überhaupt bilden kann [l’hypostase de la réalité en un lieu autre que son lieu d’origine, dans une dimension qui ne constitue plus sa condition de possibilité et où elle ne peut par conséquent ni se déployer ni se former]. (1976a, 186)
Metaphysik ist, anders gesagt, jedes Denken, das sich nicht an das Phänomen, so wie es sich von sich selbst her zeigt, hält und sich daher zu „spekulativen Konstruktionen“ und „unendlichen/unbestimmten Diskussionen“ gezwungen sieht. (2003, 66) Wenn allerdings, wie Henry formuliert, ‚sich selbst zeigen‘ zuletzt immer heißt: ‚sich in etwas anderem zeigen‘, wenn es also dem Erscheinenden eigentümlich ist, dass es sich nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt zeigt, gilt es (2), jene Duplizität des Erscheinens zu affirmieren, innerhalb derer sich die Welt (le monde) und das Leben (la vie) voneinander absetzen. Hier zeichnet sich eine zweite Bedeutung des Metaphysikbegriffs ab, die zwar ebenfalls negativ ist, die sich aber nicht mehr durch seine Opposition zur Phänomenologie definiert, sondern die europäische Philosophie als solche und die Phänomenologie in ihrer historischen Gestalt im Besonderen meint. ‚Metaphysik‘ meint hier nicht mehr das spekulative Denken, das sich weigert, sich an die Phänomene zu binden, sondern jede Analyse des Phänomens, welche die Phänomenalität einseitig auf eine ihrer Formen reduziert, nämlich auf die Phänomenalität der Welt,
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verstanden als die einzige Erscheinungsweise und als transzendentaler Horizont des Erscheinens: „Ich nenne ‚abendländische Philosophie‘ diejenige Philosophie, deren Logos eine Phänomenalität der Welt ist, auf der die Philosophie aufbaut.“ (1990c, 130) ‚Metaphysik‘ steht hier für dasjenige, was Henry als ‚ontologischen‘ oder ‚phänomenologischen Monismus‘ bezeichnet. Die Kritik der klassischen Metaphysik führt also zur Phänomenologie zurück, genauer auf eine Kritik der Phänomenologie als ‚Metaphysik der Welt‘ (métaphysique du monde), die Henry je nach Kontext auch als ‚Metaphysik des Universums‘ (métaphysique de l’universel), ‚Metaphysik der Erkenntnis‘ (métaphysique de la connaissance, 1985, 68), ‚Metaphysik der Vorstellung‘ (métaphysique de la représentation) oder der Vorstellbarkeit nennt (métaphysique de la représentativité, 1985, 128) nennt. Aber wenn diese Kritik zurück zur Phänomenologie führt, so führt sie (3) zu einer phänomenologischen Metaphysik neuen Typs. ‚Metaphysik‘ in diesem Sinn bezöge sich auf jede phänomenologische Erfahrung, die, wie Henry in Manuskripten (C 2970; C 3007) formuliert, „nicht durch die Welt vermittelt ist [ne passerait pas par la médiation du monde]“. Darunter fällt auch jede Wirklichkeit, sofern sie sich unter ihr fremden Bedingungen zeigt und das Phänomen, sofern es unter jener Bedingung erscheint, die Henry ‚das Leben‘ nennt. Wenn Henry immer wieder dem Monismus der Metaphysik die trügerische Zweiheit des Erscheinens (duplicité de l’apparaître) gegenüberstellt, spaltet sich auch der phänomenologische Begriff der Metaphysik auf: ‚Metaphysik‘ ist nicht nur spekulative Philosophie oder Phänomenologie der Welt, sondern auch die Phänomenologie des Lebens selbst, und in diesem (positiven, phänomenologischen) Sinn „radikale Metaphysik der Wirklichkeit“, (métaphysique radicale de la réalité, 2003, 50). Diese soll auf einer diesem angemessenen Theorieebene „das metaphysische Phänomen des Lebens“ (le phénomène métaphysique de la Vie, 1990b, 93) sichtbar machen, die „metaphysische Bedingung eines dieser Welt fremden Lebens“ (la condition métaphysique d’une vie étrangère à ce monde, 1988, 185) aufklären. Diese Bedingung zeichnet sich nicht nur dadurch aus, weltlos, ‚akosmisch‘ (1990c, 8; 155; 166) zu sein. Sie ist auch, was damit untrennbar verbunden ist, die „metaphysische Bedingung des Einzeldings“ (condition métaphysique de l’Individu), und macht die „metaphysische, nicht-objektive und nicht-objektivierbare Realität des Einzelnen im Leben [la réalité métaphysique inobjective et inobjectivable de l’individu dans la vie]“ aus. (1990b, 207) Diese andere Metaphysik wird im Werk Henrys auf zwei verschiedene, aber zusammenhängende Weisen thematisch. Zum einen versucht Henry, was hier nur erwähnt werden kann, historisch vorzugehen, um der „Aufforderung Jean-Luc Marions“ nachzukommen, „eine andere Geschichte der Philosophie als Heideggers ‚Geschichte der Metaphysik‘ zu finden, zu exhumieren und zu durchdenken“. (1985, 348 f.) Henry versucht dies dadurch, in der ‚monistischen‘ Geschichte der Metaphysik, welche die Entwicklung des westlich-europäischen
302 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik Denkens in seinen Grundstrukturen beherrsche, „eine unterirdische Strömung auszumachen, die im Herzen einer Philosophie, die das Sein der Exteriorität, der Erkenntnis und zuletzt der Wissenschaft überlässt, hartnäckig gegen diese anarbeitet und stattdessen versucht, einen Bereich des Unsichtbaren anzuerkennen, eine versteckte Seite der Dinge“. (1985, 348 f.) Diese alternative Geschichte entdeckt auch eine „unterirdische Strömung der Subjektivität, die immer wieder auftaucht und immer wieder verschwindet [courant souterrain de la subjectivité qui réapparait sans cesse et toujours fuit]“ (Ms A 4390) und an die Malebranche, Maine de Biran, Marx und Husserl (1976, 365) ebenso erinnern wie Descartes, Schopenhauer, Nietzsche oder Freud, zusammen mit einigen anderen. (1985, 348 f.) Aber wenn diese andere Geschichte der Metaphysik zu schreiben möglich ist, dann nur als Geschichte einer anderen Metaphysik, die sich nicht bloß historisch, sondern strukturell jenem Monismus widersetzt, der die klassische Phänomenologie gefangen hält, sich ihr genauso widersetzt wie das Leben der Welt in der Duplizität, der Zwiefältigkeit des Erscheinens entgegenstellt. Daher werden wir uns hier auf diese Gegenüberstellung konzentrieren, nicht nur um deutlich zu machen, warum und wie Henry die ‚Metaphysik der Welt‘ durch eine ‚Metaphysik des Lebens‘ ersetzen will, die ihr genau entgegengesetzt ist. Vielmehr soll auch gezeigt werden, dass diese Gegenüberstellung letztlich nur dann verständlich wird, wenn man das Denken Henrys als eine Phänomenologie der Kraft versteht (→ 14.2) und seine Philosophie des Lebens als eine Metaphysik der Kausalität. (→ 14.3) Dies läuft jedoch letztlich darauf hinaus, die Grundprinzipien der Phänomenologie selbst zu hinterfragen.
14.1 Die Welt als Modus des Erscheinens Henry schreibt sich offenkundig in die Wirkungsgeschichte Heideggers (→ 6) ein, wenn er die Welt als eine der fundamentalen Formen der Phänomenalität versteht, als den einzigen Modus, den ‚die abendländische Philosophie‘ erfasst hat und an den sich auch die Phänomenologie in ihrer historischen Gestalt gehalten hat. Dass Heidegger Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, belegt ein Text aus den 2000er Jahren, der den nüchternen Titel Phänomenologie des Lebens trägt. Dieser Text soll uns hier als Leitfaden dienen: Es ist bei Heidegger, dass das Erscheinen der Welt am genauesten ausgearbeitet ist. Seit dem § 7 von Sein und Zeit versteht Heidegger das Phänomen im griechischen Sinne als phainomenon, ausgehend von der Wurzel pha, phos, die das Licht meint, so dass Erscheinen ‚ans Licht kommen‘ bedeutet, ‚ins Helle kommen‘: ‚d. h. dasjenige, worin etwas offenbar, an ihm selbst sichtbar werden kann‘ [GA 2, 38]. Die Welt ist der ek-statische Horizont der Sichtbarmachung, in dessen Inneren alles sichtbar wird und bei diesem ‚Horizont‘
Grégori Jean 303 handelt es sich um die der Äußerlichkeit um das ‚Außersichsein‘ als solches, wie es im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit explizit heißt. (2003, 62)
Während bei Henry der Weltbegriff im Hintergrund bleibt, besteht seine Originalität im Typus der von ihm vorgeschlagenen Analyse: Dem „Erscheinen der Welt“ gehören Henry zufolge „drei entscheidende Merkmale“ zu, deren „Auflistung“ als „Einführung in eine Phänomenologie dienen kann, deren erste These ist, dass im Erscheinen der Welt das Leben nicht erscheinen kann [qu’aucune vie n’est susceptible d’apparaître dans l’apparaitre du monde]“. (2003, 62) Konzentrieren wir uns zunächst auf den ersten dieser Grundzüge: Da dieses [Erscheinen der Welt, G. J.] im ‚Außer-sich‘ besteht, im Aus-sich-heraustreten eines Außen, zeigt sich alles, was sich an sich selbst zeigt, im außer sich: als Äußeres, als Anderes, als Verschiedenes. Als Äußeres, weil die die Struktur, in der es sich zeigt, die Exteriorität ist. Als Anderes, weil diese ek-statsische Struktur einer primordialen Alterität gleichkommt (alles, ewas außer mir ist, ist anders als ich, alles, was außer sich ist ist anderes als es selbst). Verschieden, weil diese Ek-stase [Ek-stase] einer Differenz [Différence] gleichkommt, einer Operation, die eine Distanz überwindet, alles verschieden macht, dem es zukommt, in dieser Distanz zu erscheinen – innerhalb des Horizonts der Welt. (2003, 62)
‚Die Welt‘ ist damit nicht einfach ein Erscheinendes unter anderen. Was ‚das Erscheinen der Welt‘ (l’apparaitre du monde), das ‚Erscheinen als Welt‘ (l’apparaitre comme monde) oder ‚Erscheinen in der Welt‘ (l’apparaitre dans le monde) als einen spezifischen Modus des Erscheinens ausmacht, ist nicht die Verbindung dieses Erscheinens zu einer transzendentalen Instanz (Bewusstsein, Dasein), von der es abhängig bleibt. Vielmehr ist das Erscheinen im Modus der Welt eine eidetische Struktur, die sich als solche erfassen lässt, um die Art der Beziehung oder der Korrelation zu bestimmen, die diese Struktur dem Erscheinen und dem Erscheinenden auferlegt. Von der Struktur der Welt zu sagen, sie sei jene der Äußerlichkeit oder Exteriorität (exteriorité), bedeutet daher nicht, dass die Welt sich ‚außerhalb‘ einer irgendwie umgrenzten subjektiven Instanz befände. Dass alles, was in der Welt erscheint, auch ‚außer‘ uns ist, ist nichts weiter als eine Konsequenz aus der Tatsache, dass es nur zu einem Erscheinen des Erscheinenden kommt, weil das Erscheinende über die Bedingungen seines Erscheinens hinausgeht, es also außerhalb der für es spezifischen Bedingungen seines Erscheinens existiert. Die Exteriorität, die ‚die Welt‘ auszeichnet, ist nicht das ‚Außen‘ des Erscheinens gegenüber einem ‚Inneren‘, so dass die Äußerlichkeit relativ zu dieser Innerlichkeit äußerlich genannt werden könnte. Eine solche Relativierung des Erscheinens verwandelt die Metphysik der Welt vielmehr in eine Metaphysik der Vor-stellung (représentation), die nie mehr als eine Verlängerung der Innerlichkeit, des Innens ins Außen sein kann. Henry betrachtet es als kennzeichnend für die „transzendentale Erkenntnistheorie“ (théorie transcendantale de la connaissance) der Neuzeit und der Moderne, dass die „Entfaltung der Welt“ (déploiement du monde) von einem Ego/Subjekt abhängig ist, auf das als auf
304 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik sein „Ob-jekt“ alles bezogen ist, was sich überhaupt zeigen, was überhaupt erscheinen könnte. (2003, 137) Henry sieht darin jedoch keinen epochalen Bruch, sondern betont die Kontinuität mit der ‚kosmologischen‘ Beziehung des Menschen zum Sein, die sich bereits in der griechischen Antike findet. Äußerlichkeit, Exteriorität ist dagegen als Merkmal des Erscheinens selbst anzusetzen, als absolute Relation, die die Welt als spezifischen Modus der Phänomenalität zwischen dem Erscheinen und dem Erscheinenden allererst einsetzt und in ein Verhältnis wechselseitigen Außer-sich-seins versetzt. Dagegen ist die Welt weder ‚außerhalb‘ des Faktums, dass sie für eine subjektive Instanz erscheint (auch wenn diese vielleicht zu Unrecht als eine Innerlichkeit oder ein ‚Innen‘ verstanden wird), noch ist sie schlicht für sich (und ein ‚Draußen‘), vielmehr phänomenalisieren sich das Erscheinen selbst und das, was erscheint, als jeweils einander äußerlich, als jeweils außer-sich-seiend. Die Welt ist daher nicht nur als Äußerlichkeit (exteriorité), sondern auch als Alterität (altérité) zu charakterisieren. Weil das Erscheinen und das Erscheinende einander äußerlich sind, erscheint das Erscheinende nicht „an sich und von sich aus“ (en soi et à partir de soi), sondern nur im Modus eines Anders-erscheinens, das selbst nur erscheint, indem es erscheinen lässt, was es selbst nicht ist. (1990a, 134/2018, 146 f.) Henry bestimmt die Welt daher als Differenz (différence): Das „Erscheinen der Welt“ ist nicht nur durch eine wechselseitige Äußerlichkeit ausgezeichnet, die aus beiden Termini nicht nur das Andere des Anderen (l’autre de l’autre) werden lässt, sondern auch das Andere des Eigenen (l’autre de soimême). Sie als Differenz zu beschreiben, soll mithin nicht das (statische) Faktum bezeichnen, dass das Erscheinen und das Erscheinende als voneinander verschieden erscheinen, sondern soll die Bewegung ihrer gemeinsamen Phänomenalisierung bezeichnen, die sich als wechselseitige Veräußerlichung und gegenseitige Veranderung (altération) vollzieht. Seit dem Werk Philosophie et phénoménologie du corps (Philosophie und Phänomenologie des Leibes, 1965, 17) nennt Henry diese Bewegung mit einem von Scheler (→ 5) entlehnten Begriff eine phänomenologische „Distanz“ (distance), deren Überwindung „alles verschieden macht, dem es zukommt, in dieser Distanz zu erscheinen – im Horizont der Welt“. Diese Bewegung lenkt die unbestimmte différence der Welt. (2000, 59 f./2002a, 70) Henry geht also von einer traditionellen phänomenologischen Konzeption von ‚Welt‘ aus, verändert sie aber und, wie man ehrlicherweise sagen muss: verbiegt sie in einer Weise, deren Radikalität man nicht übersehen darf. ‚Welt‘ meint jetzt nicht mehr, wie bei Husserl, (→ 1.5) die horizonthafte Bedingung der Manifestation des Seienden, sondern einen bestimmten Modus der Phänomenalität, einen bestimmten Typus der Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem, der sich eidetisch bestimmen lässt als Bewegung der gegenseitigen und wechselseitigen Veräußerlichung, Veranderung und Differenzbildung beider Momente. Genau das macht den phänomenologischen Gehalt einer Problematisierung der
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‚monistischen Metaphysik‘ aus. Wenn Henry vom Akosmismus (acosmisme) des Lebens spricht und betont, dass „das Leben nicht in der Welt erscheint“ (la vie n’apparaît pas dans le monde), dann ist das immer nur Kurzhand für eine eidetisch streng bestimmte Gesetzmäßigkeit. Das Leben erscheint nicht als Welt, es erscheint nicht in derselben Weise wie die Welt, oder, noch präziser formuliert: Der Typus der Korrelation zwischen Erscheinen und Erscheinendem, der das Leben charakterisiert, gehorcht nicht dem Gesetz der Veräußerlichung, der Veranderung und der wechselseitigen Differenz beider Terme. Der Welt als Äußerlichkeit steht das Leben dabei zuerst als Innerlichkeit (intériorité) gegenüber, nicht mehr als abgeschirmter Innenraum einer Subjektivität, für den die Welt ‚draußen‘ ist, sondern als Modus des Erscheinens. Das Leben zeichnet hier eine Koinzidenz oder wechselseitige Interiorität (intériorité réciproque) des Erscheinenden und des Erscheinens selbst aus, die Immanenz des Einen im Anderen. Hat die wechselseitige Exteriorität des Erscheinens und des Erscheinenden aber zur Folge, dass keiner der beiden Pole der Welt als phänomenologische Struktur je erscheinen kann, ohne dass das Andere miterscheint und das Erscheinende daher als anderes erscheint, so gilt dies für das Leben nicht. Die wechselseitige Interiorität, der zufolge das jeweils Erscheinende nichts anderes als das Erscheinen selbst ist und das Erscheinen selbst nichts als das Erscheinende, erlaubt es dem Leben, weil seine eidetische Struktur die wechselseitige Interiorität ist, sich an sich zu zeigen und von sich aus, so wie es als es selbst ist. Wenn jedoch diese wechselseitige Immanenz dem Leben selbst innewohnt, dann bricht die Bewegung der Phänomenalisierung mit allem Unterscheiden und so auch mit aller phänomenologischen Distanzierung. Der Welt als Äußerlichkeit, Andersheit und Differenz steht so das Leben als Innerlichkeit, Identität und Indifferenz gegenüber. Oder um es anders zu sagen: Dem Erscheinen-imAnderen, der Heterophänomenalität der Welt, steht die Autophänomenalität des Lebens gegenüber, die Henry auch Offenbarung (révélation) und Selbstoffenbarung (autorévélation) nennt: Die dem Leben eigentümliche Offenbarung steht dem Erscheinen der Welt genau gegenüber. Das Erscheinen der Welt verschwindet im ‚Außer sich‘, ist nichts anderes als ‚Außersich-sein‘, so dass alles, was sich in diesem verbirgt, äußerlich, anders, verschieden ist. Das erste entscheidende Merkmal des Erscheinens des Lebens ist dagegen, dass es, weil es in sich keinen Abstand kennt und niemals von sich selbst verschieden ist, auch niemals anderes zum Vorschein bringt als sich selbst. Das Leben offenbart sich selbst. Das Leben ist eine Selbstoffenbarung [autorévélation]. Selbstoffenbarung heißt hier, wenn es um das Leben geht, zweierlei: Zum einen ist es das Leben, das das Werk der Offenbarung [l’œuvre de la révélation] vollbringt, es ist alles andere als ein bloßes Ding. Zum anderen ist es nichts anderes als es selbst, das das Leben offenbart. Im Falle des Lebens verschwindet daher aller Gegensatz zwischen dem, was erscheint, und dem reinen Erscheinen, den die klassische Philosophie bereits denkt und den die Phänomenologie in den Vordergrund rückt. Das Offenbarungsgeschehen des Lebens und das, was es offenbart, sind eins. (2003, 65)
306 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik Henrys Unterscheidung zweier Formen des Erscheinens (Manifestation der Welt und Offenbarung des Lebens) durch die Bestimmung und eidetische Unterscheidung der diesen jeweils eigenen Strukturen (wechselseitige Exteriorität versus wechselseitige Interiorität des Erscheinens und des Erscheinenden) liegt den anderen fundamentalen Unterscheidungen zugrunde, insbesondere jener des Sichtbaren (le visible) und des Unsichtbaren (l’invisible). Aber auch wenn das Leben im Sinne Henrys unsichtbar ist, weil es sich der phänomenologischen Determination durch die Welt und damit der Sichtbarkeit entzieht, ist es dennoch nicht ohne phänomenologisch ausweisbare Wirkung: Die Identität des Erscheinens und des Erscheinenden mag nicht sichtbar sein und sich nicht im Medium des Sehens einstellen, sie erweist sich nichtsdestotrotz und ist sogar die einzige Möglichkeit, die Affizierbarkeit und die Bedingungen der Affektivität als solche phänomenologisch zu definieren: Die Identität des Affizierenden mit dem Affizierten liegt in der Affektivität, verwirklicht sich dort und hat dort nicht ihre theoretische, sondern wirkliche Möglichkeit, die Tatsächlichkeit seiner phänomenologischen Leistung. (1990a, 581/2018, 551) Die Deutung der Affektivität als das, was nicht etwa einen bestimmten Inhalt der Erfahrung, sondern ihre Form […] darstellt, hat nicht die Wirkung, die Idee des Inhalts überhaupt […] zu verwerfen. […] Die Affektivität hat eben gerade einen Inhalt. Sie bezeichnet das Wesen, dem es eigen ist, sich selbst zu fühlen, sich selbst zu empfinden. […] Derart ist gerade die Form, insofern ihre Form durch die Affektivität konstituiert wird: das Selbstgefühl. Die Form ist sich ihr eigener Inhalt. (1990a, 646/2018, 611 f.)
Auch wenn die beiden letzten Sätze dies nahelegen: Die Idee der Zwiefältigkeit des Erscheinens und der für die Phänomenalität der Affektivität konstitutive Selbstbezug, also das Auto- der Auto-Affektion, besteht nicht einfach darin, dem Begriff des Lebens einen strengen phänomenologischen Sinn zu geben. Vielmehr legt Henry damit auch diejenige eidetische Struktur frei, von der er meint, sie sei die einzige, die der Phänomenologie der Subjektivität gerecht zu werden vermag. Die Welt als Regime der Phänomenologie zu definieren, in der keine Interiorität, keine Selbigkeit (mêmeté) und keine Identität (identité) möglich sind, heißt auch, dass die Welt den Zustand der Unmöglichkeit des Selbst (soi) darstellt, wenn man sein phänomenologisches Wesen erfassen will und es nicht mit den weltlichen Repräsentanten, den verschiedenen ‚Figuren‘ des ‚Subjekts‘, die in der Welt auftreten, verwechselt. Das Selbst hat seinen eigentlichen Ort nur im Leben, mit dem es untrennbar verbunden ist, gemäß dem Sinn jener Offenbarung, die das Selbst in sich trägt. „Die Affektivität ist das, was alles mit sich in Beziehung setzt und es somit jedem anderen in der absoluten Genügsamkeit seiner radikalen Innerlichkeit gegenüberstellt. Die Affektivität ist das Wesen der Ipseität.“ (1990a, 581/2018, 551) Genau darum geht es beim zweiten eidetischen Grundzug, welcher die Welt und das Leben als zwei heterogene phänomenologische Strukturen definiert:
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Henry bestimmt das Erscheinen der Welt nicht nur als Äußerlichkeit, Alterität und Differenz, in welchen Formen die Welt das Erscheinen als solches mit dem Erscheinenden verbindet; weil das Erscheinen dem Erscheinenden äußerlich ist, anders als das Erscheinende und von ihm verschieden ist, ist es gegenüber dem Erscheinenden auch „prinzipiell völlig indifferent [dans le principe totalement indifférent]“: „wie das Licht, von dem in der Schrift die Rede ist, das über die Gerechten wie die Ungerechten scheint, erhellt das Erscheinen der Welt alles in einer erschreckenden Neutralität [neutralité terrifiante], erhellt die Dinge und die Personen, ohne sie deshalb schon anzunehmen [il éclaire sans faire acception des choses ou des personnes]“. (2003, 67/2018) Die Phänomenalität des Lebens bricht mit dieser Neutralität. Denn durch das Auto- wird charakterisiert, weshalb jede Erscheinung des Lebens jedes Mal die Phänomenalität eines bestimmten Sich (soi déterminé) enthält, die in einem Prozess der Selbstwerdung (ipséisation) zur Geltung kommt, wie er für das jeweils einzigartige Lebewesen kennzeichnend ist: „Nichts kann als Beleg für das Selbstsein [épreuve de soi] dienen, wenn in seinem Vollzug selbst nicht zugleich auch die Ipseität bestätigt wird, innerhalb derer sich das Selbst überhaupt bestätigen kann [aucune épreuve ne se produit comme épreuve de soi si elle ne génère dans son accomplissement même l’Ipséité en laquelle il lui est donné de s’éprouver]“. (2003, 67) Wenn Henry eine ‚Metaphysik des Lebens‘ von einer ‚Metaphysik der Welt‘ unterscheidet, ist es im Zuge dessen auch legitim, dass die ‚Metaphysik des Lebens‘ unvermeidbar zurückführt auf die Fragen nach der „metaphysischen Bedingung eines dieser Welt fremden Lebens“ (condition métaphysique d’une vie étrangère à ce monde), der „metaphysischen Bedingung des Einzeldings“ (condition métaphysique de l’Individu) sowie der „metaphysischen, nicht-objektiven und nicht-objektivierbaren Realität des Einzelnen im Leben“. (1990b, 207) Henry fügt den beiden konstitutiven Wesenszügen des Erscheinens der Welt (Äußerlichkeit und Indifferenz) einen dritten hinzu, der es uns erlaubt, unsere Analysen zu vertiefen und genauer zu sagen, worin der genuin metaphysische Gehalt von Henrys Denken besteht. Dieses Merkmal ist jenes der Kraftlosigkeit (impuissance) oder Armut (indigence) der Welt: Diese Indifferenz des Erscheinens der Welt gegenüber demjenigen, das durch dieses Erscheinen in seiner Differenz entborgen wird, […] verbirgt eine noch größerer Armut. Das Erscheinen der Welt ist nicht nur dem, das erscheint, gegenüber indifferent, es ist auch unfähig, ihm überhaupt Existenz [existence] zu verleihen. […] Indifferenz, Neutralität bedeuten hier Machtlosigkeit und stammen aus dieser Ohnmacht. […] Hier wird die ontologische Armut des Erscheinens der Welt sichtbar, unfähig, selbst Wirklichkeit zu setzen. (2003, 63)
Wie lässt sich diese Bemerkung phänomenologisch verstehen? Worin besteht diese Unfähigkeit der Welt, „Existenz zu verleihen“ oder die „Wirklichkeit“ des Erscheinenden „zu setzen“? Und warum taucht hier das Vokabular der Kraft (puissance) auf ?
308 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik
14.2 Von der Phänomenologie der Affektivität zur Metaphysik der Kraft Die eidetische Unterscheidung von Leben und Welt, wie wir sie bisher entwickelt haben, hat eine spezifische Schwäche. Denn es scheint sich um eine bloße Kritik des Erscheinens zu handeln, deren Wesentliches in der topischen Differenzierung und Hierarchisierung verschiedener Instanzen der Phänomenologie zu bestehen scheint, die nicht aufeinander zu reduzieren sind. Dann bestünde der Beitrag Henrys zur Phänomenologie lediglich darin, deren transzendentale A rchitektonik zu verändern. Der Vorwurf Henrys gegen den ‚phänomenologischen Monismus‘ hat jedoch nicht nur topischen, sondern auch dynamischen Charakter und betrifft die dem Leben eigene Kraft (force): Sobald man sie als Extase und als exstatische Bewegung denkt, ist die Lebensbewegtheit nicht mehr das, was sie in Wahrheit immer ist: eine Kraft, genauer jene Kraft, die ihren Sitz in diesem primordialen Sich-selbst-festhalten [étreinte primordiale de soi] hat, in dem alle Möglichkeiten zu fassen, zu ergreifen und zu umfassen [possibilité de prendre, de saisir et d’éteindre] ihre Wurzel haben, dort, wo alle Macht [pouvoir] ihren Ursprung hat, insbesondere die Möglichkeiten des Leibes. Die Bewegung des Lebens wird jene eines Blicks. (1990c, 55)
Es ist mithin nicht nur und nicht in erster Linie die Affektivität als Auto-Affektion, die mit einer ‚Metaphysik der Vorstellung‘ inkompatibel ist, sondern auch die Lebensbewegung, die eine Kraft ist. Werkgeschichtlich ist dies der für Henry entscheidende Kritikpunkt: Betrachtet man seine Studienabschlussarbeit über Spinoza, beginnt Henry seine philosophische Karriere mit einem Buch über Maine de Biran, das zwar erst 1965 erschienen ist, aber bereits Ende der 1940er Jahre und damit lange vor L’essence de la manifestation (Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, zuerst 1963) fertiggestellt wurde. Wenn diese erste Begegnung mit dem Denken Maine de Birans für Henry entscheidend gewesen ist, dann deswegen, weil Henry dort eine Phänomenologie der Kraft entwickelt fand, die mit den eidetisch konstitutiven Merkmalen der Welt, mit der Äußerlichkeit, Andersheit und Differenz nicht zu vereinbaren war. Denn die unmittelbare Selbstbeziehung, die in Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens als Theorie der AutoAffektion systematisiert wird, findet ihren ersten Ausdruck in der Beziehung der Kraft auf sich selbst, also darin, dass die Kraft nicht auf die wechselseitige Äußerlichkeit des Erscheinens und des Erscheinenden reduziert werden kann, wie es für die phänomenale Struktur der Welt kennzeichnend ist: Das intentionale Bewusstsein bringt eine Distanz mit sich, einen Abstand, der uns unüberwindbar von dem trennt, mit dem er uns verbindet […]. Wenn durch die Vermittlung irgendeiner Form von Intentionalität die Macht des Ergreifens [pouvoir de préhension] überwunden wird, bleibt diese Macht doch uns äußerlich, bleibt anderes als wir, ist nicht unsere Macht. Die Macht und Kraft [pouvoir] ist vielmehr dasjenige, von dem wir getrennt werden, was wir nicht vermögen. […] Maine de Biran hat dies in einer Formu-
Grégori Jean 309 lierung zum Ausdruck gebracht, die eine der sinnreichsten Wendungen ist, die die philosophische Tradition uns überliefert: ‚Es gibt keine absolut fremde Kraft. [Il n’y a pas de force étrangère absolue.]‘ Eine absolute Kraft, eine causa efficiens, eine ausgeübte Macht, eine Macht im Wirklichen und Wirkenden ihres Vollzugs [exercise], in dem, was dieser Vollzug ist und in dem, was er bewirkt, kann nicht inmitten der Äußerlichkeit sein, kann nicht sich selbst äußerlich sein und nicht als sich äußerlich sich fremd sein. Das aber heißt, dass mit jeder wahren Macht eine erste Macht [premier pouvoir] gegeben ist, die Macht, sie selbst zu sein, sich selbst in Besitz zu nehmen [s’emparer de lui-même], mit sich selbst übereinzustimmen in einer Art ersten Kohärenz, die jede Form von Abstand und Trennung zurückweist, kurz: in der Immanenz seiner radikalen Interiorität. (2003, 31)
Die Äußerlichkeit der Welt macht mithin das Wirken der Kraft unmöglich, denn das Sein der Kraft, die ihr eigene Phänomenalität, besteht gerade in der Unmöglichkeit einer solchen Äußerlichkeit: „Keine Macht, Kraft und wirkende energetische Form tritt jemals ans Licht der Evidenz. Aber diese Weise, nicht heraufkommen und nicht ans Licht der Ek-stase treten zu können, ermöglicht sie gerade als solche, macht sie möglich als Macht, Kraft, prägende Form und wirkende energetische Form [force, en tant que forme effective et efficace d’énergie.]“ (1985, 392) Dass alle Kraft ein Affekt ist, (1990c, 175) erklärt sich von hier aus gesehen leicht: Das Denken Henrys ist zuerst eine Philosophie der Kraft, weil sie in der Kraft eine nicht auf die Äußerlichkeit der Welt reduzible Phänomenalität entdeckt. Dass Henrys Philosophie sich der Auto-Affektion zuwendet, ist gerade dem Versuch geschuldet, die Phänomenologie der Kraft streng zu fassen. Es ist deshalb unzureichend, der Metaphysik der Ek-stasis und der Vorstellung der ‚monistischen Metaphysik‘, deren Vollendung die Phänomenologie in ihrer historischen Gestalt ist, einfach eine ‚Metaphysik des Lebens‘ gegenüberzustellen, solange man darunter nur eine Theorie der Auto-Affektion versteht. Denn diese Theorie hat nur dann Gehalt, wenn sie auf jene ‚Metaphysik der Kraft‘ zurückgeführt wird, die ihr zugrunde liegt. Die Theorie der Auto-Affektion ist nur die phänomenologische Übersetzung dieser Metaphysik: „Die Widerlegung der Metaphysik der Vorstellbarkeit [métaphysique de la représentéité] geschieht nicht theoretisch, sondern praktisch. Überall dort in der Welt, wo ein Körper – in der Welt, also außerhalb seiner –, seine Kraft spielen lässt, ist die Metaphysik der ekstasis schon aus dem Spiel“. (1985, 215) Erst unter dem Gesichtspunkt der Kraft klärt sich deshalb auch die Stellung ‚der Metaphysik‘ im Denken Henrys, weil es jetzt erst möglich wird, ist ‚der Metaphysik‘ einen eindeutigen Status zuzuweisen. Halten wir außerdem fest, dass die Rückführung der Phänomenologie der Affektivität auf eine Phänomenologie der Kraft keineswegs bedeutet, die leitende Intuition einer intrinsischen Relation zwischen Leben und Subjektivität aufzugeben. Im Gegenteil: Nur, weil das Leben Kraft ist, wird es möglich, die Subjektivität, die sie trägt oder die auf der Schwelle zu Äußerlichkeit, Andersheit oder Differenz plötzlich auftritt, als handelnde Subjektivität (subjectivité agissante) und
310 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik nicht bloß als bedeutungsgebende Subjektivität (subjectivité signifiante) zu verstehen. Das Privileg der Subjektivität besteht in mehr als darin, Sinn bloß zu empfangen (recueillir le sens); es besteht darin, Handlungsfreiheit (capacité d’agir) zu erlangen und reale Wirkursache ihrer eigenen Handlungen (la cause réelle de ses propres actions) zu sein. Ein spätes Manuskript Henrys (Ms. A 25959) hebt diesen Punkt in besonders klarer Weise und gerade in Beziehung auf das Problem der Metaphysik und ihrer Geschichte hervor: Kausalität–Ich kann. Die Kausalität aus der Geschichte der Metaphysik streichen, wo Ursache: Über-Ursache des Seienden. Kausalität gehört zum Ich kann der primordialen Leiblichkeit. Vgl. Kategorien des Denkens, die [ihren] Ursprung [im] Leben haben. Daher: Ich bin es, der Ursache ist (und nicht nur Sinnquelle wie das Ego bei Husserl). [Causalité – Je peux. Soustraire la causalité à l’histoire de la métaphysique où cause: cause hypercause de l’étant. La causalité est celle du Je Peux de la corporéité originelle. Cf. catégories de pensée ayant [leur] origine [dans la] vie. Dès lors c’est moi qui suis cause (et pas seulement source de sens comme l’ego de Husserl).]
Die Bewegung, mit der Sinn durch Kraft ersetzt wird, läuft mithin auch darauf hinaus, an die Stelle der Subjektivität als Sinnquelle die Subjektivität als Ursache zu setzen. Damit wird, entgegen der ‚Geschichte der Metaphysik‘, die Frage der Kausalität ein Problem der ersten Philosophie, und dieser Gedanke stellt im Werk Henrys eine Konstante dar, die zu wenig Beachtung findet, obwohl Henry darin den Beginn seines philosophischen Staunens, seines thaumazein findet. So heißt es in einem Aufsatz von 1965: Gibt es eine absolute Kraft [force absolue], eine Wirkursache (jene Kausalität, deren Begriff die traditionalle Metaphysik abgelehnt hat oder allein auf Gott selbst angewandt), gibt es eine wahre Macht, ein ‚Ich kann‘, dessen Vollzug wirklich ist? Ja, mit meinem Leib. Denn mein Leib ist diese absolute Macht [pouvoir absolu], unwiderlegbar, durch welche sich meine Brust hebt und senkt, durch welche ich meine Finger öffne und schließe, durch welche ich aufstehe und losgehe. (2003, 31)
Wenn es bei Henry eine Kritik ‚der Metaphysik‘ gibt, die diesen Namen verdient und klar als solche zu erkennen ist, dann findet sie sich hier. Was Henry ‚der Metaphysik‘ und vor allem ‚der traditionellen Metaphysik‘ vorwirft, ist eben, die Frage nach dem Handeln und dem Ursache-Sein des lebendigen Subjekts zu vernachlässigen. Die Metaphysik wird vielmehr zur Metaphysik dadurch, dass sie diese wirkende Kausalität (causalité efficiente) verneint oder sublimiert. Die ‚Geschichte der Metaphysik‘ wird erst durch diese ‚Kraftvergessenheit‘ zu einer einheitlichen Geschichte. Diese überraschende These stellt kein Text klarer heraus als der Aufsatz Le concept de l’être comme production (Der Begriff des Seins als Herstellung, 1975): Der Leitfaden, um zu denken, was die Herstellung in ihrem Wesen ist, was kann er anderes sein als eine Analyse des Begriffs der Ursache im Sinne der Wirkursache, eine Analyse der Geschichte dieses Begriffs im abendländischen Denken? Diesem Weg zu folgen
Grégori Jean 311 würde jedoch nur die Zersetzung und Auflösung dieses Begriffs fördern. Mit Malebranche ist als Ursache im Sinne einer Handlung, die wirksam in eine Wirkung übergeht, Gott allein anzunehmen – diese Ursache ist in unserer Erfahrung nicht auffindbar. Es reicht, mit Hume Gott einzuklammern, und schon gibt es nirgends mehr Kausalität. Die Unfähigkeit der europäisch-westlichen Philosophie, die Ursache [cause] als eine reelle Tätigkeit [activité réelle] zu denken, findet ihren letzten und reinsten Ausdruck im Positivismus, der nach und nach begonnen hat, die Philosophie zu beherrschen und dies heute so sehr wie nie zuvor: Die Ursache ist eine metaphysisch-religiöse Illusion, von der wir unseren Geist befreien sollten, in Wirklichkeit existieren nur Abfolgen oder phänomenale Strukturen, deren Regelmäßigkeiten die Wissenschaft erforscht. In der Zeit einer Krise der Metaphysik hat Kant versucht, die Kausalität zu retten. Aber um welchen Preis? Er hat aus der Kausalität eine Kategorie des Denkens [catégorie de la pensée] gemacht, eine Kategorie der Vorstellung der Welt und ihrer Wahrheit [représentation du monde et de sa vérité]. (2004, 19)
14.3 Lebensphänomenologie und Metaphysik der Kausalität Der letzte Satz dieses Zitats lässt schon erahnen, dass die wichtigste Konsequenz von Henrys Überlegungen darin zu suchen ist, die ‚metaphysische‘ Beschreibung der Kategorien in Frage zu erstellen. Seit Philosophie et phénoménologie du corps (Philosophie und Phänomenologie des Leibes, 1965) und noch stärker in Marx (1976) kritisiert Henry deshalb Kants Deduktion der Kategorien und allgemeiner jede Genealogie der Logik einschließlich jener Husserls, da es dieser nicht gelinge, die idealen Sinngebilde auf die eigentlich wirkende ‚kausale‘ Kraft der Lebenspraxis zurückzuführen. (1976a, 431 ff.; 467 ff.) Wenn „nicht nur seine reflexive Implikation als allgemeine Bedingung der Erfahrung, sondern das Problem des Ursprungs der Idee der Kausalität den Versuch leiten muss, eine echte Deduktion der Kategorien vorzunehmen“, dann ist „die Zentralstellung der Deduktion der Kategorie der Kausalität“ mit der „Interpretation des konkreten Ego als Ursache“ eng verbunden. (1976a, 41) Die Kausalität ist damit nicht jene Kategorie, auf die ‚die Metaphysik‘ letztlich doch noch gestoßen wäre, sondern vielmehr „die ursprüngliche Macht, die mit dem Sein selbst unserer Existenz eins ist [pouvoir originaire qui se confond avec l’être même de notre existence]“. (1976a, 45) In der Erfahrung der Freiheit ist sie vielmehr „diese konkrete, tatsächlich erfahrene und erprobte Macht, die Gesamtheit der uns zur Verfügung stehenden Vermögen zum Einsatz zu bringen“. (2002b, 120/2010, 117) Es sind jedoch, wie Henry zeigen möchte, nicht nur die verschiedenen transzendentalen Logiken, die bis zu Husserl den Versuch gemacht haben, die Kategorien auf einen Prozess der Sinnbildung zurückzuführen, die prinzipiell auf nicht mehr als eine subjektive Sinngebung zurückgeht, so dass die eigentlich kausale Macht jener subjektiven Instanz neutralisiert wird, welche die Sinn-
312 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik gebung trägt und ins Werk setzt. Vielmehr – und dies ist die zweite Implikation der hier formulierten Diagnose – betrifft das von Henry formulierte Problem auch Heideggers Versuch einer „Überwindung“ der Metaphysik: (→ 6.9; → 6.11) Wenn Heidegger in Die Frage nach der Technik (GA 7, 5–36) die vier aristotelischen Ursachen auf ein „zum Vorschein bringen“ (GA 7, 11) zurückführt, damit die Verursachung auf eine einzige Weise des Erscheinens reduziert und so die poiésis in die Verbergung der physis als alétheia einschreibt, nimmt er nicht weniger eine phänomenologische Übersetzung der Kausalität vor, als die transzendentalen Logiker es tun. Wiederum wird das Erscheinen selbst von jedem ‚ursächlichen‘ Fundament getrennt. So versperrt Heidegger sich jedoch den Weg zu einer echten Phänomenologie des Handelns, denn zu handeln bedeutet für den Einzelnen, Wirkursache in einem absolut irreduziblen, unverlierbaren Sinn zu sein und so seine Kraft und die ihm eigene Wirkmacht unter Beweis zu stellen, was nur in der Gestalt einer Phänomenalität geschehen kann, die jedem ‚Zum Vorschein bringen‘ fremd bleiben muss. Henry schreibt: „Die vier Ursachen ausgehend von einer fundamentalen ontologischen Einheit her zu denken und als vier Wirkformen dieses Wesens ist bloße Mystifizierung, wenn eine der Ursachen sich gegenüber den anderen drei als ontologisch heterogen erweist“. (2004, 17) Genau mit diesem reduktiven Schema bricht der „geniale Denker“ Maine de Biran, und setzt an seine Stelle eine „bewusste Umkehrung des traditionellen philosophischen Horizonts“, weil de Biran die Mittel bereitstellt, „eine echt wirkende Kausalität zu erfassen [une causalité véritable]“. (2004, 17) Die Phänomenologie Henrys ist davon beseelt, diesen Bruch endgültig zu vollziehen: Die ‚historische Phänomenologie‘ hat geglaubt, der Geschichte der Metaphysik das Erscheinen absprechen zu können, indem sie das Erscheinen von der Ursache des Erscheinenden unterschieden hat; die ‚Lebensphänomenologie‘ spricht der Geschichte der Metaphysik dagegen ab, die Kausalität gedacht zu haben, indem sie sich weigert, die Kausalität im Horizont des Erscheinens der Welt zu begreifen und die Kraft auf einen anderen Modus der Phänomenalität zurückzuführen. Aber das führt nur zu der Frage: Unter welcher Bedingung kann die Phänomenologie, auch als ‚Lebensphänomenologie‘, aus dem Erscheinen eine ‚Wirkursache‘ machen? Treten wir einen dritten Schritt zurück und wenden uns dem zu, was Henry in jenem Text, von dem wir oben ausgegangen sind, als dritten Wesenszug des Erscheinens der Welt benannt hatte: dessen Unfähigkeit, dem, was erscheint, Existenz zu verleihen. Henry formuliert diesen Kritikpunkt meist in Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Heideggers: Heidegger hat nicht nur zuerst den Begriff der Welt in seinem ursprünglichen phänomenologischen Sinn als reines Erscheinen gedacht, sondern auch diese Indifferenz […] und diese Ohnmacht erkannt. Das Entbergen entbirgt, entdeckt, ‚öffnet‘, aber es erschafft nicht (macht nicht, öffnet). Hier wird die ontologische Armut des Erscheinens der Welt deutlich, unfähig, selbst Realität zu setzen. (2003, 199)
Grégori Jean 313
Der Text macht deutlich: Henry wirft der ‚historischen Phänomenologie‘ als letzter Gestalt der ‚monistischen Metaphysik‘ insbesondere vor, sich als Wissenschaft eines Erscheinens verstanden zu haben, das nicht „erschafft“ (créer), was es „entbirgt“ (dévoiler). Aus diesem Grund hat sie das eigentliche phänomenologische Projekt verraten. Die historische Phänomenologie hat, wie es in einer Passage aus Inkarnation heißt, ihr „Grundprinzip schwerwiegend in Frage gestellt“: Nach diesem Prinzip gibt die Phänomenalität das Sein frei. Was es auch sei, zu sein imstande zu sein, geschieht durch Erscheinen und nur in dem Maße, wie das Erscheinen erscheint. Darin besteht die Vorherrschaft der Phänomenologie über die Ontologie. Diese Vorherrschaft wird im Fall des Welterscheinens gebrochen, wenn wahr ist, daß letzteres ohnmächtig ist, im Sein das zu setzen, dem es zu erscheinen gewährt. […] Hier wird das Prinzip ‚Wieviel Erscheinen, soviel Sein‘ nicht nur in Frage gestellt, sondern eigentlich umgestürzt. Man muß diesem außergewöhnlichen Paradox ins Auge sehen. (2000, 61/2002a, 72)
Wie ist eine solche Bemerkung zu verstehen? Wenn für die Phänomenologie gilt: „Was es auch sei, zu sein imstande zu sein, geschieht durch Erscheinen und nur in dem Maße, wie das Erscheinen erscheint“, dann gilt dies nicht deshalb, weil dem Erscheinen das Vorrecht gegeben wäre, das Sein zu ‚erschaffen‘, sondern weil – zumindest der Annahme gemäß, die Henry mit Heidegger trifft –, das Sein mit dem Erscheinen schlicht identifiziert wird. Es geht also keineswegs darum, eine „Vorherrschaft“ (préséance) der Phänomenologie vor der Ontologie zu begründen, sondern vielmehr darum, anzuerkennen, wie Heidegger schreibt, dass „Ontologie und Phänomenologie nicht zwei verschiedene Disziplinen“ sind, sondern „die Philosophie selbst“ als „universale phänomenologische Ontologie“ verstanden werden muss. (GA 2, 51) Aber gerade angesichts dieses „Grundprinzips der Phänomenologie“ (2000, 61/2002a, 72) ist eine Trennung von Sein und Erscheinen abzulehnen, und die Kritik zu formulieren, das Erscheinen sei kein Sein-lassen (faire être) dessen, was es erscheinen lässt. Erst wenn man unter Sein etwas anderes als Erscheinen versteht, ist es überhaupt möglich, ihre NichtÜbereinstimmung zu beklagen. Genau das hat auch die oben angeführte Passage gezeigt: „Sein“ wurde hier als „Existenz“ dessen verstanden, „was sich entbirgt“. Mit dieser „Existenz“ des Erscheinens kommt das Erscheinen in der Phänomenologie in ihrer bisherigen Gestalt nicht mehr überein. Gemäß der kantischen These von der Endlichkeit unserer Erkenntnis und unserer Anschauung kann diese Realität durch das Erscheinen der Welt vielmehr gerade nicht erschaffen werden, weil die Welt nicht mehr darstellt als den Horizont des Empfangens dieser Realität. (1985, 125–158) Dass die Phänomenologie das Erscheinen als etwas verstanden hat, das das Seiende weder „erschafft“ noch seine „Wirklichkeit“ „verursacht“, ist für Henry jedoch nicht ihre Schwäche, sondern ihre historische Größe, der philosophische Gewinn. Dadurch eröffnet die Phänomenologie den historischen Ort, an dem allererst gebrochen werden kann mit der
314 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik Verwechslung „des Seienden mit den tatsächlichen Bedingungen der Phänomenalität“, wie sie kennzeichnend ist für das, was Henry in Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens den „absoluten Idealismus“ nennt: Weil der absolute Idealismus „keine Unterscheidung zwischen dem Seienden und dem Gegenstand als solchem vornimmt, bedeutet das Setzen dieses Gegenstands, der mit dem bewussten Werden identisch ist, für ihn auch das Setzen des Seienden“. (1990a, 154 f./2018, 166) Aber wie ist die Phänomenologie Henrys zu bestimmen, sofern sie den Vorschlag macht, dem Erscheinen genuin kausale Kraft zuzusprechen? In einer bemerkenswerten Notiz aus der Entstehungszeit von Marx (Ms. A 11757) schreibt Henry: „Der Idealismus ist in Wirklichkeit kein Idealismus, sondern eine bestimmte Konzeption der Wirklichkeit, die Theorie der äußeren Wirklichkeit. [L’idéalisme, à vrai dire, n’est pas de l’idéalisme, c’est une certaine conception de la réalité, c’est la théorie de la réalité extérieure.]“ Diese Bemerkung ist präzise formuliert: Der Idealismus ist eine „Theorie der äußeren Wirklichkeit“ in dem Sinne, dass die so verstandene Exteriorität nicht die Äußerlichkeit der Wirklichkeit, die Äußerlichkeit relativ zu einer Innerlichkeit ist, die durch sie in die Lage versetzt wird, Vorstellungen im ‚Inneren‘ Gestalt zu geben. Die Äußerlichkeit ist in Wahrheit jene absolute Realität der Phänomenalisierung, welche durch die wechselseitige Veräußerlichung des Erscheinens und des Erscheinenden beide auf Distanz hält, ihre unauslöschliche Differenz erhält und dadurch die Verwechslung von Entbergung und Kreation vermeidet, von Öffnen und Machen. Weil nur dieses ‚Draußen‘ absolut ist, kann der Idealismus, der es zu erfassen sucht, es nicht sein, und es verbietet sich, ihm darin zu folgen und „das wirkende Werden der Phänomenalität“ (devenir effectif de la phénoménalité) mit der „Setzung des Seienende als solchen“ (la position de l’étant lui-même) zu identifizieren. Dennoch ist Henrys Position ambivalent. Wenn Henry das Erscheinen des Lebens jenem der Welt exakt gegenüberzustellen sucht, sodass die Differenz des Erscheinens und des Erscheinenden ihrer wechselseitigen Interiorität entspricht, und wenn er in der Absicht, dem Erscheinen sozusagen genügend Materie zu geben, damit es selbst eine ‚wirkursächliche‘ Kraft entwickeln kann, auch eine „Zeugung“ (génération) des einen durch das andere beschreibt und bewusst ‚die Wirklichkeit‘ mit den wirkenden Bedingungen seiner Phänomenalisierung engführt – was soll man aus diesen Überlegungen anderes schließen als dass es sich um Henrys eigene „Theorie der äußeren Wirklichkeit“ und seiner Zeugungen (engendrer, engendrement) handelt, so dass es sich auch bei seiner Phänomenologie noch um eine Übersetzung des absoluten Idealismus in die Immanenz handelt? In Ich bin die Wahrheit wiederholt sich dieses Problem: „Zeugen will alles andere als erschaffen besagen, wenn Schöpfung die Erschaffung der Welt bezeichnet, jene phänomenologische Eröffnung eines ersten ‚Außen‘, worin sich uns das gesamte Reich des Sichtbaren enthüllt“. (1996, 131/1997, 145) Dann schlägt
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Henry eine Unterscheidung zwischen zwei Modalitäten der Auto-Affektion vor: „Daher affiziere ich mich nicht absolut, sondern werde ich und finde ich mich selbstaffiziert, um es in aller Strenge zu sagen.“ (1996, 136/1997, 151) Ich finde mich in diesem passiven Zustand. Das „absolute“ Leben dagegen affiziert sich im starken Sinne selbst. Das Leben definiert den „Inhalt“ der Autoaffektion selbst. „Es bringt selbst den Inhalt seiner Affektion hervor“: „Es bringt ihn nicht auf Art einer äußeren Erschaffung hervor, die das Geschaffene aus sich herausschleudert, als etwas Anderes, Fremdes – Äußeres.“ Vielmehr zeugt das Leben diesen Inhalt, „es gibt sich selbst diesen Inhalt, der es selbst ist“. (1996, 135/1997, 150) In diesen Formulierungen findet sich die ganze Architektonik Henrys wieder, und dieser Text macht gewissermaßen auf deren Fundament aufmerksam: Der Vorgang der Zeugung (génération) kommt nur insoweit der Zeugung eines Lebewesens gleich, als es die Fähigkeit besitzt, Ursache zu sein und insofern zu wirken vermag, als darin das Leben selbst seine eigene ‚Ursache‘ ist und selbst ‚ungeschaffen‘ (incréée) ist. Auch wenn diese Bestimmung in der Immanenz des Lebens gelten soll, ist sie nicht weniger entscheidend: Läuft die These der Selbstzeugung doch nur darauf hinaus, die Kategorie der Kausalität aus der Geschichte der Metaphysik herauszuhalten. Oder läuft sie vielleicht sogar darauf hinaus, dem Leben letztlich doch eine Bestimmung zu geben, deren ‚metaphysischen‘ Charakter der Begriff „Zeugung“ mehr schlecht als recht verbirgt: die Bestimmung des Lebens als causa sui? Hier wird der volle Sinn der ‚Metaphysik Henrys‘ deutlich, aber damit auch die Schwierigkeit, der sie sich ausgesetzt sieht. Denn trotz aller Kritik, welche die ‚Phänomenologien der Welt‘ am absoluten Idealismus geübt haben, wird Henrys Metaphysik noch immer von einem Widergänger dieses Idealismus heimgesucht, dem Begriff der causa sui. So sehr der absolute Idealismus auch in die ‚Immanenz‘ verlagert wird, er hört doch nicht auf – zu Recht oder zu Unrecht –, die fundamentalen Schemata der traditionellen oder, wenn man so will, spekulativen Metaphysik zu wiederholen. Übersetzt von Tobias Keiling. Übersetzungen aus dem Französischen, wo nicht aus der deutschen Ausgabe übernommen, vom Übersetzer. Michel Henry Geboren 1922 im französischen Kolonialgebiet Indochina und gestorben 2002 in Albi, Frankreich. 1929 siedelt Henry noch als Kind nach Paris über. Dort Studium der Philosophie an der Université de Paris/École Normale Supérieure. Dissertation (L’essence de la manifestation/Das Wesen des In-Erscheinung- Tretens) unter Jean Hyppolite, Paul Ricœur und Jean Wahl. Im Zweiten Weltkrieg Mitglied der Résistance. Nach dem Krieg Kontakt mit Heidegger. 1960 Berufung auf eine Professur in Montpellier. Romanautor.
316 14. Michel Henry – Die Frage nach der Metaphysik
Literatur Henry, Michel (1965), Philosophie et phénoménologie du corps. Essai sur l’ontologie birannienne, Paris. – (1976a), Marx. Tome I: Une Philosophie de la réalité, Paris. – (1976b), Marx. Tome II: Une Philosophie de l’économie, Paris. – (1985), Généalogie de la psychanalyse. Le commencement perdu, Paris – (1988), Voir l’invisible. Sur Kandinsky, Paris. – (1990a), L’esssence de la manifestation, Paris. – (1990b), Du communisme au capitalisme. Théorie d’une catastrophe, Paris. – (1990c), Phénoménologie matérielle, Paris. – (1996), C’est moi la vérité. Pour une philosophie du christianisme, Paris. – (1997), „Ich bin die Wahrheit“. Für eine Philosophie des Christentums, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg/München. – (2000), Incarnation. Une philosophie de la chair, Paris. – (2002b), Paroles du Christ, Paris. – (2003), Phénoménologie de la vie. Tome I. De la phénoménologie, Paris – (2004), Phénoménologie de la vie. Tome III. De l’art et du politique, Paris. – (2005), Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg/München. – (2010), Christi Worte. Eine Phänomenologie der Spache und Offenbarung, übers. v. Maurice de Coulon, Freiburg/München. – (2002a), Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg/ München. – (2017), Können des Lebens. Schlüssel zur radikalen Phänomenologie, übers. v. Rolf Kühn, Freiburg/München. – (2018), Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, hg. v. Stephan Grätzel, Freiburg/München. – Ms. Université catholique de Louvain, Plate-Forme technologique „Fonds Alpha“, Fonds Michel Henry.
15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden und unhintergehbare Kontingenz von Weltordnungen Ferdinando G. Menga
Der philosophische Ansatz von Bernhard Waldenfels ist geprägt durch die kritische Aneignung der Phänomenologie Edmund Husserls (1971; 1985, Kap. 1–2; 1995, Kap. 3–4; 1998, Kap. 1; 2005, Kap. 3; 2015, Kap. 10) und die Bezugnahme auf das Denken seines Lehrers Maurice Merleau-Ponty (1980, Kap. 1–2; 1985, Kap. 3; 1990, Kap. 13; 1995, Kap. 7–10; 1999a; 2000; 2005, Kap. 4–6; 2009; 2010, Kap. 5; 2012, Kap. 4). Aber darüber hinaus lässt sich in seinem philosophischen Werk eine eingehende Auseinandersetzung mit Vertretern des zeitgenössischen französischen Denkens wie etwa Foucault, Lévinas, Ricœur und Derrida erkennen. (1983; 1995; 2005; 2015, Kap. 13–15) Ähnlich wie die Philosophie der meisten dieser Autoren kann auch die Phänomenologie von Waldenfels in jener Konstellation von ‚Philosophien der Intersubjektivität‘ verortet werden, die – sieht man von allen Unterschieden ab, die zwischen den verschiedenen Ansätzen bestehen, – ein Hauptanliegen teilen. Dieses besteht in dem Versuch, sowohl im subjektiven Erleben als auch in theoretischer Hinsicht eine unableitbare Alterität zum Vorschein zu bringen, die gegen jeden metaphysischen Versuch einer vereinheitlichenden, substanzialisierenden und totalisierenden Schließung die unausweichliche Auseinandersetzung mit der Kontingenz und der Pluralität der Erfahrung erzwingt. Im Rahmen dieser philosophischen Konstellation wird Waldenfels’ Beitrag vor allem in seinem Vorhaben deutlich, die ‚Kategorie‘ der Alterität durch das Thema des Fremden neu zu lesen. Auf diese Weise beabsichtigt Waldenfels, den Anderen durch einen problematischen Charakter und eine Erfahrungsdichte zu bestimmen, die konkreter sind als das, was sich durch seine bloße kategoriale Auffassung erfassen lässt. Somit befreit Waldenfels den Anderen von der latenten Gefahr einer logisch-ontologischen Festlegung, die ihn allein als Entgegensetzung zum Eigenen oder Selben betrachtet. (1997, 21 f.) Mit der ‚Kategorie‘ der Fremdheit stellt Waldenfels sich die Aufgabe, einen phänomenologischen Diskurs zu entwickeln, der zu erfassen vermag, inwiefern sich das Fremde auf dem instabilen und pluralistischen Terrain der Erfahrung auf authentische Weise offenbart und sich dadurch etwaigen Strategien einer ontologischen, logischen oder allgemein metaphysischen Neutralisierung widersetzt und irreduzibel bleibt.
318 15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden Die Pluralität der Bereiche, in denen sich das Fremde offenbart, veranlasst Waldenfels außerdem dazu, sich nicht lediglich auf die Ergebnisse der phänomenologischen Forschung im engeren Sinne zu beschränken. Vielmehr erweitert er das Spektrum seiner Auseinandersetzung in Richtung verschiedener Forschungsfelder wie der Sozialphilosophie, der Politischen Philosophie und der Rechtsphilosophie, (1971; 1985; 1987; 1998; 2006a; 2015) der Ethik, (2002, Kap. 8; 2006a) des ethnologischen Diskurses (1999b, Kap. 5–6) sowie der Psychologie und der Psychoanalyse. (2002, Kap. 7; 2019) Darüber hinaus widmet Waldenfels den Künsten und der Literatur besondere Aufmerksamkeit. (2010) Der vorliegende Beitrag verfolgt nicht das Ziel, Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden in ihrer gesamten Tragweite zu ermessen, sondern wird sich darauf beschränken, theoretisch grundlegende Schlüsselmomente dieser Phänomenologie zu beschreiben.
15.1 „Vom Fremden her sprechen“: die Abstandnahme Waldenfels’ von der traditionellen metaphysischen Einstellung Der Befund, oder besser: die ‚Botschaft‘, auf welche sich die beharrliche phänomenologische Anstrengung Waldenfels’ gründet, ist klar: Solange wir darauf beharren, das Fremde als ein unmittelbar zugängliches und definierbares ‚Etwas‘ oder ‚Jemand‘ zu behandeln, d. h. solange wir das Fremde als eine Instanz ansehen, die uns gegenübersteht, verfehlen wir es gänzlich. Diese Schlussfolgerung ergibt sich aus der Tatsache, dass sich unser Verhalten, unabhängig davon, ob es sich gegenüber dem Fremden durch Offenheit oder Abstoßung auszeichnet, auf einer traditionellen „metaphysisch[en] Denkweise“ (2002, 170) gründet, welche Fremdheit zwar zulassen kann, sie jedoch allein aus einer Sphäre des Eigenen denkt, das im Verhältnis zum Fremden einen unbestreitbaren ontologischen Vorrang besitzt und daher hierarchisch höhersteht. (1990, 60 f.; 1997, 48 f.) Diese philosophische Konzeption des Fremden bringt jedoch ein bestimmtes Verständnis von Erfahrung mit sich. Denn das Fremde, obwohl es ein Destabilisierungsmoment des Eigenen darstellt, müsste vor einer endgültigen Wiederaneignung notwendigerweise zurückweichen, in welcher die substanzielle Vorrangigkeit und Vorgängigkeit des Eigenen (1990, 61; 2002, 166 f.) wiederhergestellt würde und sich die „Annahme eines Ganzen ohne Außen“ (2012, 32) bestätigt fände. So schreibt Waldenfels in einer aufschlussreichen Passage: Ich behaupte nun, daß es in der abendländischen Tradition einen Sog zur Aneignung gibt derart, daß alles Fremde als Produkt einer Entfremdung, eines Fremdwerdens des Eigenen betrachtet wird. Die Wiederaneignung nimmt die Form einer Egozentrik an, sofern das Fremde als Abwandlung des Eigenen erscheint; sie nimmt die Form einer Logozentrik an, sofern es als Moment einer allgemeinen Vernunft gedacht wird, sei es als Teil eines Vernunftganzen, sei es als Fall eines Vernunftgesetzes. (1998, 137)
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Will man sich nun in dieser allgemein umrissenen Tradition auf spezifische philosophische Ansätze berufen, kann man mit Waldenfels beispielsweise an die Dialektik Hegels denken, in der „Fremdheit […] lediglich als Entfremdung [auf ]taucht, nämlich als Durchgangsphase in einem Prozeß, in dem das Bewußtsein danach trachtet, ‚das Fremdsein aufzuheben‘ und Welt und Gegenwart ‚als sein Eigentum zu entdecken‘“. (2001, 20; Hegel 1970, 586) Auch die Hermeneutik Gadamers beurteilt das Fremde in gleicher Weise. Obwohl Gadamer sich, verglichen mit Hegel, moderater ausdrückt, verfolgt auch er, Waldenfels zufolge, eine „Überwindung der Fremdheit“, (1999b, 72) eine Wiederherstellung des Verstehens als ursprünglichem Geschehen, in dem sich die Herrschaft des Sinns über jedes mögliche Missverständnis, das den Sinn unterbrechen könnte, auf die Dauer durchsetzt. (1994, 133–137; Gadamer 1960) Auch im Denkansatz Habermas’ gebe es einen Vorrang des Eigenen, welches von einem gemeinsamen logos, einem common sense oder einer kommunikativen Vernunft ausgeht und deshalb keine radikale Fremdheit zulässt. Für Habermas ist folglich nur ein „relatives Fremdes“ (1985, 94–119) möglich, das durch eine erfolgreiche Strategie der ‚Einbeziehung ins Eigene‘ (Habermas 1996) zumindest potentiell aufgehoben werden kann. (2001, 44 f.) Weil die von Habermas untersuchte kommunikative Struktur auf einer von vornherein festgelegten Reziprozität der Beteiligten basiert, stellt sie kein „Zwischenreich des Dialogs“ (1971) zwischen Eigenem und Fremdem dar. Vielmehr erweist sie sich als ein „dialogisch inszenierte[r] Monolog“, (2006b, 116; 2002, 226–223) als Struktur, die sich nur unter der Ägide des Eigenen entfaltet. Der kritische Einwand Waldenfels’ gegen diese Positionen besteht darin, vor einer solchen Auffassung der Fremdheit zu warnen. Denn mit einem Fremden zu tun zu haben, heißt nicht, sich mit einem „zu behebenden Mangel“, (2001, 51) „eine[r] Durchgangsphase“, (2002, 187) einer „Modifikation“, (2001, 50) einer zwar mehr oder weniger veränderbaren, aber letztlich strukturierten und festen „Eigenheitssphäre“ (1997, 27) zu konfrontieren. Vielmehr muss das Fremde als „[der ‚Sache selbst‘, F. M.] konstitutiv, […] innewohnend und an die ‚Wurzeln aller Dinge‘ rührend“ (2001, 51; 2012, 297) verstanden werden. Die unterschiedlichen Weisen, in denen Waldenfels das Auftauchen einer derartig „radikale[n] Form der Fremdheit“ (2001, 50) beschreibt, lassen sich auf das Folgende zurückführen: Das Fremde soll als ein ursprüngliches Pathos (2002; 2006b, Kap. 2) verstanden werden, das von vornherein das Eigene stört und deshalb immer wieder dann auftaucht, wenn das Eigene eine Veränderung erleidet, die es außerhalb seiner selbst führt. (2006b, 82) Es handelt sich dabei um einen erlebten Entzug bzw. eine erlittene Enteignung oder eine „Deplatzierung“, (1994, 270) die es dem Eigenen verunmöglichen, – um ein bekanntes Bonmot Freuds zu zitieren – „Herr im eigenen Hause“ zu sein. (2006b, 120; Freud 1999, 11) Die Kategorie des Pathos definiert Waldenfels wie folgt:
320 15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden Unter dem griechischen Ausdruck Pathos oder dem deutschen Ausdruck Widerfahrnis verstehe ich die Urtatsache, daß uns etwas trifft, glückt und auch verletzt wie das touché aus dem Fechtkampf. […] An jedem Widerfahrnis ist durchaus jemand beteiligt, nur eben nicht im Nominativ des Autors, sondern im Dativ oder Akkusativ eines im weiteren Sinne zu verstehenden Patienten: ‚Mir stößt etwas zu‘, ‚Mich hat etwas getroffen‘. […] Wir sind durchaus beteiligt, nur eben nicht als selbstherrliche Subjekte. (2015, 20–22)
Waldenfels weist somit auf einen Perspektivwechsel hin, aufgrund dessen es phänomenologisch falsch wäre, eine kontrollierte Erfahrung des Eigenen als ursprünglichen Zustand vorauszusetzen, in dem sich etwas Fremdes nur gelegentlich und diesem äußerlich ereignet. Richtig ist genau das Gegenteil: Das Fremde nistet sich von Anfang an in die Erfahrung ein, und nur aus diesem Grund ist es überhaupt möglich, sich das Fremde anzueignen, wenn auch nicht im Sinne einer vollkommenen und endgültigen Aneignung. (2001, 53) Diesbezüglich schreibt Waldenfels: Das Fremde findet sich nicht bloß außerhalb meiner selbst, sondern es gibt eine Fremdheit im Eigenen. Auch mein Reden, Tun und Empfinden ist nie völlig mein; denn es wäre nicht zu erklären, wie das Ich sich selbst abspalten und sich selbst entfremden kann […]. Eigenes entsteht durch einen nie endenden Prozeß der Aneignung. (1998, 136)
Es ist nicht verwunderlich, dass eine solche radikale Charakterisierung der Fremdheit eine gewisse Verwirrung innerhalb der traditionellen Diskursstrategien hervorruft. Nimmt man an, dass sich das Fremde nur offenbart, sofern es das Eigene verstört, destabilisiert und übersteigt, drängt sich eine heikle Frage auf: Wie ist es möglich, einen Zugang zum Fremden zu finden, ohne es zu entstellen? Denn sowohl eine intentionale Zuwendung zum Fremden als auch seine explizite Thematisierung oder auch eine Planung des Fremden würden es lediglich inszenieren und so von vornherein seines konstitutiven „Stachels“ (1990) berauben. Es scheint, als zeichnete sich hier ein unentrinnbares Dilemma ab: Entweder entstellt man das Fremde, indem man darüber spricht – denn dadurch macht man etwas anwesend, das sich gerade durch seinen Entzug gegenüber dem Eigenen auszeichnet –, oder man vermeidet es, seinem Entzugs charakter entsprechend, das Fremde überhaupt zu thematisieren. Diese strenge Alternative zwischen dem ‚Zu-viel-Sagen‘ und dem ‚Nichts-Sagen‘ wäre jedoch nur dann zwingend, wenn der volle Umfang des Phänomens des Fremden und seines (un-)möglichen Diskurses dadurch ausgeschöpft würde. Das ist aber nicht der Fall. Waldenfels verweist auf eine andere und authentische Möglichkeit des Sich-Richtens auf das Fremde. Diese Möglichkeit verwirklicht sich nur, insofern man aufhört, über das Fremde zu sprechen, und dagegen anfängt, „vom Fremden her [zu] sprechen“. (2015, 22, Hervorh. F. M.)
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15.2 Topographie des Fremden: von Subjekterfahrung zu Weltordnungen Um das Motiv des Fremden als ursprünglichen Entzug, Aufschub und NichtKoinzidenz, die dem Eigenen inhärent sind, zu erfassen, verzichtet Waldenfels auf spekulative Beschreibungen, die keine Entsprechung in den Phänomen finden. Ganz im Gegenteil: Als radikaler Phänomenologe, der sich die Beschreibung der ‚Sachen selbst‘ zum Ziel setzt, befasst sich Waldenfels mit Erfahrungsdimensionen, die zum Leben jedes Menschen gehören. (1997, 27 f.) Die erste Dimension ist die Zeiterfahrung, (1994, Teil II, Kap. 10; 2002, Kap. 4; 2006a, Kap. 10; 2009; 2017) die auf das „Urfaktum der Geburt, auf eine Urvergangenheit, eine ‚Vergangenheit, die nie Gegenwart war‘ und die schon gar nicht meine Gegenwart ist, da ich immer zu spät komme, um sie in flagranti zu erfassen“, (1997, 30; Merleau-Ponty 1945, 280) verweist. Das Gleiche gilt für die Erfahrung des „Name[ns], den ich trage, [der] einer Fremdzuschreibung und nicht einer Selbstzuschreibung entstammt“. (1997, 193) Was gewöhnlich ‚Eigenname‘ genannt wird, habe ich in Wahrheit „von Anderen empfangen wie ein Brandmal“. (1997, 30) Auch in der unleugbaren Tatsache, dass „zu mir […] gesprochen [wurde], bevor ich zu anderen sprach“, (1997, 30) ist die gleiche Fremdheit impliziert. Diese ursprüngliche Situation erweist sich einerseits als die genealogische Basis jeder genuinen, intersubjektiven Erfahrung, die auf einem konstitutiven Ausgesetztsein des Selbst an den Anderen gründet. Andererseits zeigt sich diese Situation zugleich auch als Möglichkeit für das Erlernen einer Fremdsprache, ein Prozess, der offensichtlich nicht auf der Schulbank beginnt, sondern mit dem Erlernen der eigenen Muttersprache. (2006b, Kap. 4) Schließlich verweist auch das Phänomen der Spiegelung, das wir täglich erleben, darauf, dass das Selbst nicht völlig bei sich selbst ist, sondern immer eine Urspaltung und Verfremdung in sich selbst trägt. „Der Spiegel“, so Waldenfels, „konfrontiert uns […] mit einem Bild, in dem wir uns wiedererkennen und doch nicht wiedererkennen, da Sehender und Gesehener nie zusammenfallen. Das Erschrecken vor dem eigenen Bild, das vom Spiegelbild oder vom Foto ausgehen und in extremen Fällen bis zu Suizidversuchen führen kann, wäre unbegreiflich, wenn ‚ich‘ einfach ‚ich‘ wäre oder wenn ich je völlig zu mir selbst zurückkehren könnte. Ich begegne mir im Blick der Anderen.“ (1997, 30 f.) Der Gedanke wird pointiert in Waldenfels’ Verweis auf den berühmten Refrain Rimbauds: JE est un autre, ICH ist ein anderer. (2006b, 22) Allerdings schränkt Waldenfels diese Erfahrung des Fremden als Erfahrung eines ursprünglichen Eindringens, (Nancy 2000) das jeden Versuch eines vollkommenen und gelungenen Selbstbezugs durch den kontinuierlichen Verweis auf „Formen des Selbstentzugs“ (2006b, 82) bricht, nicht auf die Mikrosphäre des Eigenen als Einzelsubjekt ein. Vielmehr erweitert er die Fremdheitserfah-
322 15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden rung auf die Makrosphäre des Eigenen, die mit den unterschiedlichen Weltordnungen, denen jede menschliche Lebenserfahrung angehört und in denen sie verständlich wird, zusammenfällt. (1987) Denn alle Weltordnungen – seien sie sozial, kulturell oder politisch-institutionell – sind ursprünglich von einer Fremdheit durchdrungen, die sie insofern leugnen, als ihr kontingentes, selektierendes und konstitutierendes Wirken „etwas so in Erscheinung treten lassen und nicht anders“. (1997, 10) Ordnungen machen Einiges möglich, zugänglich und eigen, und zugleich machen sie Anderes unmöglich, unzugänglich und fremd. Jede Ordnung, in der eine Welt jedes Mal erscheint und sich strukturiert, ist daher in erster Linie durch eine einschließende und zugleich ausschließende Grenzziehung geprägt. Diese Grenzziehung bestimmt eine innere Sphäre und setzt dabei unweigerlich auch die Möglichkeit deren Überschreitung. In diesem Kontext kennzeichnet sich das Fremde als etwas, das sich konstitutiv „dem Zugriff der Ordnung entzieht“ (1997, 20) und stellt sich als das Außer-ordentliche dar, das die Grenzen überschreitet und übertritt, und somit die Ordnung selbst ständig in Frage stellt. Dadurch belebt das Fremde aber zugleich die ursprüngliche Kontingenz und bestätigt, dass es keine allumfassende Ordnung geben kann. Keine Ordnung, die vom Fremden ursprünglich bewohnt ist, kann sich selbst in ihrer eigenen Totalität besitzen noch kann sie auf ein absolut eigenes Gründungsmoment zurückgehen, (1987, Kap. C) das ihr als exklusiver Eigenbesitz zusteht und eine Rechtfertigung eines für jede Auseinandersetzung mit dem Anderen geschlossenen „Gemeinschaftsautismus“ (Ivekovič 1996/97, 65) bietet. Dieser Aspekt wird von Waldenfels besonders betont. In einem Essay über die Wurzeln Europas schreibt er diesbezüglich: [M]an muß […] davon ausgehen, daß jede Urstiftung sich als eine Art von Nachstiftung, richtiger: als eine Vielzahl von Nachstiftungen erweist[.] Wie die Geburt des Einzelnen, so ist auch die Geburt einer Sippe, eines Volkes, einer Kultur ein Ereignis, das sich niemals in einen gegenwärtigen, eigenen Akt verwandeln läßt. Eine Vergangenheit, die für mich oder für uns nie Gegenwart war, erlaubt nur, daß wir auf sie zurückkommen in Form einer bestimmten reprise, die eine ursprüngliche prise aufgreift, fortführt, ohne sie zu erschöpfen, und die deshalb einer ständigen surprise ausgesetzt ist. (1997, 138)
In dieser surprise, einem Wieder-Aufgreifen bzw. in der immer offenen Möglichkeit ihres Ankommens konfrontiert sich das Eigene ständig mit dem Fremden, das es schon immer bewohnt. Waldenfels plädiert mit diesem Ansatz für eine unhintergehbare Kontingenz jedweder Ordnung. (Menga 2018, 70 f.) Der Ansatz erweist seine Stärke darin, sich gegen die verbreitete Überzeugung zu wehren, dass eine sich konkret realisierende „umfassende Weltordnung“, (1997, 81) möglich ist, die wir ‚Globalisierung‘ zu nennen pflegen. Denn unabhängig von der Haltung, mit der die Globalisierung aufgenommen wird – sei sie positiv, weil die Globalisierung als mögliches Instrument der Vermittlung zwischen kulturellen Unterschieden
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oder Konflikten, die durch die Pluralität der Lebensweisen entstehen, verstanden wird; sei sie negativ, weil die Globalisierung als Ursache für die Zerstörung der Vielfalt der Lebensformen ausgemacht wird –, wird die Globalisierung von einem einheitlichen Ausgangspunkt her verstanden: Sie wird ausgehend von ihrer konstitutiven Eigenschaft begriffen, die ‚Welt‘ als einen einheitlichen Lebensraum erscheinen zu lassen oder sie sogar als Raum zu schaffen, in dem Universalität und daher Einheitlichkeit etabliert werden kann. Dieses Verständnis von Globalisierung ignoriert jedoch, dass der Entstehungsprozess jeder Ordnung ein unausweichliches Paradox mit sich bringt. Denn keine Ordnung kann ihrer kontingenten Genealogie wirklich entgehen bzw. sich der Tatsache ihrer Stiftung entziehen. Für jede Ordnung gilt, dass sie im Moment ihrer Gründung „irgendwo“ (2005, 336 f.) und nicht im Ganzen (Lindahl 2013; 2018) ihren Ausgang nimmt. Deshalb ist jede Ordnung, trotz aller „totalitären“ (2012, 32) Ansprüche, die sie erheben mag, historisch und ontologisch begrenzt. Als kontingenter Prozess muss die Entstehung jeder Ordnung, indem sie etwas umschließt und einschließt, notwendigerweise etwas Anderes ausschließen. Eben dieses andere ausgeschlossene Etwas gefährdet ständig die Stabilität der Ordnung und macht unmöglich, dass sich ihr Streben nach totaler Abgrenzung erfüllt. In dieser Hinsicht kann das ausgeschlossene Etwas als etwas Fremdes angesehen werden, das eine Ordnung strukturell daran hindert, sich vollständig abzuschließen, und das sie auf diese Weise in permanenter (historischer und nicht dialektisierbarer) Bewegung hält. Genau hier findet der Anspruch auf Totalität, der hinter dem Projekt der Globalisierung steht, seine strukturelle Begrenzung. (Lindahl 2018, 224 f.) Anders ausgedrückt: Das Globalisierungsprojekt wird mit der Tatsache konfrontiert, dass jede globale Ordnung unausweichlich mit einer unaufhebbaren Alterität verbunden ist, die ihren Absolutheits- und Einheitlichkeitswillen bricht. Aus dem gleichen Grund nimmt jede Ordnung ihre Kontingenz wahr und sieht sich gefährdet, wenn sie mit fremden Ordnungen oder anderen Lebenskonfigurationen konfrontiert wird. Denn in diesen Fällen steht der Ordnung nicht lediglich Etwas gegenüber, das schlicht als ‚Anderes‘ oder als ‚Fremdes‘ verstanden werden kann. Vielmehr entdeckt die Ordnung eine Fremdheit in der Mitte ihrer selbst. Mit anderen Worten: Die Konfrontation mit dem Fremden führt jede Ordnung auf ihre konstitutiv kontingente Stiftung zurück, d. h. auf die Tatsache, dass die Ordnung nicht nur eine ‚Übertragung‘ von ‚außen‘ nach ‚innen‘ bewirkt, sondern sie selbst das Ergebnis einer tiefen und konstanten ‚inneren‘ Übersetzung ist, bzw. einer Übertragung, welche für die Entstehung und die Beschaffenheit jeder Ordnung verantwortlich ist.
324 15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden
15.3 Antwortlogik War bisher die Frage nach der Möglichkeit eines genuinen diskursiven Zugangs zum Phänomen der Fremdheit eingeklammert, um die Grundzüge dieses Phänomens zu beschreiben, wird diese Frage jetzt aufgegriffen. Diesbezüglich wurde bereits verdeutlicht, dass die Schwierigkeit darin liegt, nicht vor der Alternative zwischen einem Diskurs, der das Fremde herabsetzt, noch bevor es zu Wort kommen kann, und einem ehrerbietigen Schweigen, das aus zu großer Ehrfurcht vor dem Fremden sein Erscheinen gänzlich verunmöglicht, zu kapitulieren. Waldenfels’ Lösung konkretisiert sich in einer besonderen Geste des Denkens, das fähig ist, von einem Sprechen über das Fremde zu einem Sprechen vom Fremden her überzugehen. Wenn sich so ein Sprechen verwirklicht, wo findet es denn statt? Waldenfels’ Antwort ist einfach, gleichwohl ist sie reich an Implikationen. Denn seine Antwort weist darauf hin, dass ein solcher Diskursaufbau weder die Durchführung eines nostalgischen ‚Schrittes zurück‘ à la Heidegger noch das Warten auf eine messianisch geprägte ‚kommende‘ Rede bedeutet. Vielmehr ist dieses Sprechen vom Fremden her immer schon in der Erfahrung verwirklicht, dass wir von jenem Anspruch, jenem Appell, jener Zumutung oder jener Aufforderung ausgehen, durch welche das Fremde sich jeweils zeigt und uns damit eben zu einer Antwort auffordert. Daraus folgt, dass der Ort, an dem sich das Fremde zeigt, ohne abgesetzt und entstellt zu werden, das „Antwortregister“ (1994) ist – um den Titel eines der Hauptwerke Waldenfels’ zu zitieren. Auf einfache und zugleich prägnante Weise heißt es bei Waldenfels: „Antworten heißt vom Fremden her sprechen.“ (2015, 22) Bei genauer Betrachtung der Gründe, die Waldenfels zu der Auffassung veranlassen, dass die Antwort jenen logos enthält, der das Fremde in der ihm genuinen Weise zum Ausdruck bringen kann, entdeckt man sofort den vorgängi gen und nachträglichen Charakter des responsiven Aktes. (1994, 226 f.) Die Vorgängigkeit der Antwort besteht darin, dass das Fremde keinen anderen Erscheinungsraum besitzt als die Antwort, die es selbst hervorruft, insofern das Fremde sich ausschließlich durch seinen Entzug offenbaren kann. Das Fremde zeigt sich nur als „das Worauf des Antwortens“. (2002, 60) Die Nachträglichkeit der Antwort drückt dagegen die Tatsache aus, dass diese „nicht bei sich selbst, sondern anderswo beginnt“, (2006b, 45; 2002, 188) und zwar bei der vorausgehenden Zumutung des Fremden. Deshalb konstituiert sich die Antwort nicht als Herrschaftsraum über das Fremde. Sie zeigt sich vielmehr als Raum, der durch das Pathos des Fremden konstant durchdrungen ist. (2015, 20 f.; Menga 2011, 9–15) Anders ausgedrückt: In ihrer Nachträglichkeit zeigt die Antwort die Züge einer unumgänglichen Passivität, die den ursprünglichen Einbruch des fremden Ereignisses auszeichnet und die sich weder durch eine Denk- oder Sprachstrategie noch durch eine praktische Strategie der Aneignung vorwegnehmen lässt. Nichtdestotrotz ermöglicht die Antwort zugleich aufgrund ihrer
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ursprünglichen Supplementarität (2006b, 65; Derrida 1967, 99; Derrida 1976, 442) den Zugang zum ansonsten unzugänglichen Anspruch des Fremden. Waldenfels betont diese pathische Dimension des Antwortens und stellt fest: „Erst im Antworten auf das, wovon wir getroffen sind, tritt das, was uns trifft, als solches zutage“. (2002, 59) Entgegen der Deutung Roberto Espositos soll dies nicht heißen, dass die Antwort das ursprüngliche Fremde, das sie hervorruft, „vorwegnimmt und somit neutralisiert“. (Esposito 2002, 208) Im Gegenteil besagt Waldenfels’ These, dass die Antwort, obwohl sie den einzigen Spielraum darstellt, in dem sich das fremde Ereignis offenbaren kann, von Anfang an verspätet ist und deshalb immer nur einen indirekten Zugang zum Fremden darstellen kann. Zum unausweichlich indirekten Zugang zum Fremden, womit Waldenfels explizit Husserls Beschreibung der Fremderfahrung als „bewährbare Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ (Hua I, 134) aufnimmt, schreibt Waldenfels in Antwortregister: Alle Grundfiguren, die man einer Antwortlogik zurechnen kann, weisen einen indirekten Charakter auf. Der Hiatus zwischen Anspruch und Antwort und die Irreziprozität zwischen Anspruch und Antwort kämen zum Verschwinden, wenn ich auf beiden Seiten der Kluft Fuß fassen könnte, vergleichend und ausgleichend. Doch die Diastase zwischen Anspruch- und Antwortereignis besagt, daß ich als Antwortender immer schon zu spät komme, um mich mit dem Anderen auf eine Stufe zu stellen, Vergleiche zu ziehen und einen Vertrag zu schließen. Ich kann nur nachträglich über ein Ereignis sprechen in einer Rede, die selbst schon durch die Nachwirkungen einer Anrede geprägt ist. Das Fremde hat sich im Eigenen bereits eingenistet, bevor ein Versuch der Aneignung einsetzen kann. (1994, 634)
Obwohl es widersprüchlich erscheinen mag, lässt sich festhalten, dass sich die ursprüngliche Fremdheit, eben weil sie ursprünglich ist, nicht direkt antizipieren lässt. Sie zeigt sich immer nur in der Nachträglichkeit des Antwortens, d. h. in der Tatsache, dass das Fremde durch seinen Appell eine Antwort hervorruft, in der es nur erscheinen kann. (Ciaramelli 1998, 513) In diesem Sinne bemerkt Waldenfels: „Der Anspruch wird […] erst zum Anspruch in der Antwort, die er hervorruft und der er uneinholbar vorausgeht“. (2006b, 67) Diese wesentliche und ursprüngliche Nachträglichkeit der Antwort lässt weitere Implikationen deutlich werden. Diese werden von Waldenfels in Anlehnung an die Wesenszüge einer Antwortlogik verdeutlicht: die Begrenztheit, die Unausweichlichkeit, die Asymmetrie und der schöpferische Charakter der Antwort. (1998, 96 f.) Die Begrenztheit der Antwort weist darauf hin, dass diese, weil sie im Verhältnis zu der sie hervorrufenden Zumutung zu spät kommt, nie das Fremde, auf das sie antwortet, erschöpfen kann. Sie kann sich einer ständigen Offenheit, weiteren Ansprüchen oder Antworten nicht entziehen: Das Fremde wird zu dem, was es ist, nirgendwo anders als im Ereignis des Antwortens, das heißt, es läßt sich niemals vollständig und eindeutig bestimmen. Das, worauf wir antworten, übersteigt stets das, was wir zur Antwort geben. (1997, 52)
326 15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden Daraus lässt sich schließen, dass dort, wo es das Fremde gibt, eine Aufforderung zur Antwort besteht; und dort, wo es eine vom Fremden hervorgerufene Antwort gibt, kann diese Antwort den Anspruch, der sie hervorgerufen hat, nicht erschöpfen. Diese Antwort ist nur, insofern und solange dieser Anspruch besteht. Auf diese Weise bewirkt die Auseinandersetzung mit dem Fremden nie endgültige Antworten, sondern bleibt für weitere Antwortspielräume offen, und dies geschieht immer aufs Neue, wenn die Anforderungen des Fremden die Notwendigkeit erneuter Auseinandersetzungen und Verhandlungen deutlich werden lassen. Die Unausweichlichkeit der Antwort drückt die Tatsache aus, dass die Antwort nicht vorwegnehmen kann, was sie verursacht: das Fremde. Indem die Antwort das Fremde nicht vermeiden kann, wird sie in einem gewissen Sinne zum Antworten gezwungen, sobald sie hervorgerufen wird. (2006b, 63) Auch die Verweigerung einer Antwort erweist sich als eine Weise, auf das Fremde zu antworten. Denn auch „das Überhören des Appells [setzt] bereits ein Hören auf den Appell voraus“. (2006a, 50) Das ist keine Randbemerkung! Sie ist vor allem in sozio-politischen Kontexten virulent, in denen das Schweigen gegenüber dem Anruf des Fremden oder auch das Verschweigen dieses Appells eine mehr oder weniger bewusst verfolgte Strategie ist, die sich für die Konstitutionsmöglichkeit der betroffenen Subjekte und ihrer jeweiligen Lebenswelten als folgenreich erweist. (Butler 2004, 19–49) Der Charakter der Asymmetrie der Antwort besteht darin, dass das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem nicht vorweg „mit den Augen eines Dritten beobachte[t] werden kann“. (1998, 97) Es gibt keinen neutralen, transkulturellen oder universalen „Gesichtspunkt des Dritten“, (2006b, 66) der vor dem Antworten das Eigene und das Fremde verfügbar und somit vergleichbar, messbar oder austauschbar macht. (2002, 222 f.; 2012, 342 f.) Vielmehr ergibt sich das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem ausschließlich im Antworten bzw. in der Antwort des Eigenen, das sich ausgehend vom Anspruch des Fremden im Nachhinein bewegt. Darin wird die volle Bedeutung der Asymmetrie deutlich: Wenn dem Eigenen angesichts der Herausforderung des Fremden kein Raum zur Verfügung steht, kann das Eigene nie die Höhe des Fremden erreichen und so mit ihm symmetrisch werden. (2006b, 66 f.) Die Asymmetrie zeigt ihre volle Relevanz vor allem im Rahmen des interkulturellen Diskurses, in dem immer wieder der Versuch unternommen wird, sie einzuebnen. Dies wird durch die wohlbekannte Strategie versucht, einen Ort als neutral auszugeben, der in Wirklichkeit nichts anderes als den Ort darstellt, an dem das Eigene und nicht das Fremde zuhause ist. (1997, 82; 2005, 333) Als Ergebnis dieser Strategie wird der Appell des Fremden nicht nur nicht aufgenommen, sondern auch immer bereits beseitigt, da es dazu gezwungen wird, sich in einen durch die Kultur des Eigenen vorherbestimmten, festgelegten und standardisierten Antwortraum einzufügen. (2006b, 112 f.) Diesen asymmetri-
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schen Charakter der Antwort ernst zu nehmen, heißt auch, keinen dritten, neutralen Raum anzunehmen, in dem Fremdes und Eigenes symmetrisch werden könnten. (2005, 230) Vielmehr wird auch ein solcher Raum immer schon durch das Eigene geprägt und in Szene gesetzt. Diesbezüglich drängt sich dennoch eine Frage auf: Wie kann der Vorrang des Eigenen vermieden werden, wenn jede Antwort von ihm ausgeht – und zwar sowohl dann, wenn das Eigene in einer Anmaßung als vermeintlich neutraler Raum erfasst wird, als auch dann, wenn das Eigene von der Aufnahme einer asymmetrischen Bedingung aus gedacht wird? Dieses Dilemma lässt sich nie endgültig lösen. Der einzige Ausweg besteht in einer geschichtlichen, kontingenten Praktik der Asymmetrie, (2006b, 128) die sich über die latente Versuchung, den eigenen mit dem absoluten und neutralen Raum zu verwechseln, bewusst wird und von diesem Bewusstsein ausgeht. Dieses Bewusstsein erweist sich allerdings als mehr als ein schwacher Trost. Denn dieses Bewusstsein allein ermöglicht es, den Raum des interkulturellen Dialogs flüssig und porös zu halten und die Aufmerksamkeit auf die immer wieder zu kritisierenden und zu revidierenden institutionellen Zusammenhänge zu lenken, in denen Ansprüche des Fremden aufzunehmen und willkommen zu heißen sind. Mit einfacheren Worten: Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer responsiven Haltung des Eigenen, die dem jeweiligen Fremden automatisch ein standardisiertes und angeblich universelles Antwortrepertoire zuteilt, und einer responsiven Haltung, die sich ausgehend von dem unwiederbringlichen Vorrang des fremden Anspruchs oder der fremden Aufforderung bewusst wird, dass sie „nicht vorweg seiner Antworten Herr ist“. (1998, 96) Diese responsive Haltung setzt sich jedes Mal neu mit dem vom Fremden Gefragten auseinander und hält immer eine Möglichkeit offen, sich zu ihm zu verhalten. Die letzte Eigenschaft der Antwort ist ihr schöpferischer Charakter. Dieser basiert auf der Tatsache, dass die Antwort, weil sie überraschend ist und durch den unvorhersehbar und daher unberechenbar fremden Anspruch hervorgerufen wird, schon immer von einer mangelnden Vorbereitung ausgeht. Damit besteht immer die Notwendigkeit, in der eigenen Antwort zumindest in geringem Maße erfinderisch, schöpferisch zu sein. (1995, Kap. 7; 2002, 125) Wie man bereits erahnen kann, geht dieser schöpferische Charakter der Antwort aus der Unmöglichkeit seitens jeder Ordnung des Eigenen hervor, ein universelles und transkulturelles Fundament zu bilden, auf Basis dessen eine endgültige Praktik des Umgangs mit dem Fremden möglich würde. Würde eine solche transkulturelle Universalität bestehen, so dass alle unter einem gemeinsamen Nenner versammelt werden könnten, könnte man sich ständig auf diese berufen und jede Kreativität in der Antwort wäre immer schon überflüssig gewesen. Anders ausgedrückt: Die Existenz einer solchen Transkulturalität würde sich mit einer endgültigen, nicht mehr überschreitbaren Antwort decken. Dies würde aber das Problem des Verhältnisses zwischen Eigenem und Fremdem nicht lösen. Vielmehr würde sich dadurch dieses Verhältnis auflösen, insofern sich jeder mögli-
328 15. Bernhard Waldenfels – Phänomenologie des Fremden che Unterschied in eine „bloße Variante“ (2012, 343) eines festgelegten und allumfassenden Themas verwandeln würde. (1997, 82) Der responsive Ansatz Waldenfels’ kommt zu einem entgegengesetzten Ergebnis. Denn dieser Ansatz verweist darauf, dass, weil alles Sprechen und Handeln von einem fremden Appell ausgeht, sowohl die Möglichkeit, ein „erstes Wort“ zu ergreifen, als auch die Möglichkeit, mit dem Aussprechen eines „letzte[n] Wort[es]“ das Sprechen zu beenden, ausgeschlossen bleiben. (1994, 269) Waldenfels formuliert dies folgendermaßen: Das erste Wort bestünde in einer Rede, die ganz und gar bei sich selbst anfinge, ohne an anderes anzuknüpfen, ohne Angebote aufzugreifen oder auf Ansprüche zu antworten. Das letzte Wort bestünde in einer Rede, die ganz und gar bei sich selbst enden würde, ohne Möglichkeiten offen zu halten für eine andere Rede, die ihrerseits an diese Rede anknüpft, sie fortsetzt, ihr widerspricht. (1999b, 60)
Wenn jedoch „am Anfang […] die Antwort war“, (1994, 270) kann jede Rede – weit davon entfernt, über ihren Ursprung und ihr Ende Herr zu sein – immer nur zeigen, dass „wir […] immer schon dazwischen“ (1995, 171) sind. Wir sind schon immer im Wirbel der Antworten bzw. in dem entretien infini, dem unendlichen Gespräch, um mit dem geglückten Titel eines Buches Maurice Blanchots (1969) zu sprechen. Die Aktualität dieses Ansatzes zeigt sich nicht zuletzt darin, dass absolutistische Antwortversuche noch immer wirksam und überzeugend erscheinen. Diese werden sowohl seitens institutioneller Diskurse, die auf eine globale Ordnung abzielen, (Lindahl 2013) als auch durch absolutistische, neonaturalistische Projekte vorgebracht, die auf unterschiedliche Art und Weise die Differenzen und die Fremdheitsquelle des Menschlichen auf eine universelle Basis neurophysiologischer Invarianz zurückzuführen versuchen. Eine solche endgültige Antwort, die sich als neuer, absoluter, metaphysischer Diskurs durchsetzen würde, würde das Menschliche nicht um seinen echten und einzigen Kern versammeln. Ganz im Gegenteil würde dieser absolute Diskurs den eigentlichen Sinn des Menschlichen geradezu demütigen, der eben im historischen und kulturellen Charakter seiner Lebenserfahrungen verwurzelt ist, d. h. in jenem Charakter, der nicht dem „horror alieni“, (1995, 52) der jede Ordnung des Ganzen auszeichnet, sondern der Logik der irreduziblen Differenz und der schöpferischen Veränderung gehorcht. (2012, 350) In Anbetracht dieser Tendenz wird folgende Bemerkung Waldenfels’, die er nicht ohne eine gewisse Sorge zum Ausdruck bringt, verständlich: „Wem nichts Menschliches fremd wäre, dem wäre das Menschliche selbst fremd.“ (2001, 8) Bernhard Waldenfels Geboren 1934 in Essen. 1976–1999 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Sein Werk, das sich über mehr als zwanzig Bände erstreckt,
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widmet sich hauptsächlich der Entwicklung einer Phänomenologie des Fremden. Waldenfels nahm weltweit zahlreiche Gastprofessuren wahr und erhielt 2012 die Ehrendoktorwürden der Universität Rostock und der Universität Freiburg, wo sich seit 2010 sein Archiv befindet. 2017 wurde er mit dem SigmundFreud-Kulturpreis geehrt.
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16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive Philip Flock
Klaus Held, ehemaliger Assistent von Ludwig Landgrebe und international bekannt geworden durch seine bahnbrechende Studie zur Husserl’schen Zeitphänomenologie Lebendige Gegenwart, (1966) widmet einen Großteil seines Schaffens der Ausarbeitung einer Phänomenologie der Welt. Mit zahlreichen, in verschiedene Sprachen übersetzten Veröffentlichungen zu diesem Problem führt Held das Husserl’sche Programm einer Analyse der Weltbezüge im Ausgang von der Lebenswelt auf originelle Weise fort. Damit kann er als Wegbereiter einer ‚Wuppertaler Schule‘ gelten, die eine Phänomenologie im Ausgang der Weltproblematik verfolgt. (Trawny 1997; Tengelyi 2014) Helds Weiterentwicklung ist dabei eine doppelte: Einerseits erweitert er diese Lebensweltproblematik um noch nicht rezipierte Texte und Beilagen der Husserliana, auch Aspekte der Heidegger’schen Weltphänomenologie werden dabei einbezogen; andererseits setzt er das Programm einer Ontologie der Lebenswelt, über das Husserl selbst nicht oder nur in Ansätzen hinausgelangte, in konkrete phänomenologische Analysen um. Diese Doppelbewegung differenziert sich nun systematisch abermals, Husserl folgend, in statische und genetische Hinsichten auf den phänomenologischen Gegenstand aus. Statisch betrachtet wird die Welt nicht etwa als eine Totalität von diskreten Entitäten, Ganzheiten oder Seinsregionen verstanden, sondern als ein dynamisches Gebilde von Horizontstrukturen mit ihren wesenhaften Relationen, Verschränkungen und Reflexivitäten. Zudem ermöglicht es Heideggers Existenzphilosophie der Endlichkeit, die Weltproblematik im Ausgang einer radikalen und gleichsam ursprünglichen Pluralität zu denken. Diese Perspektive eröffnet die genetische Dimension des Gegenstandes. Husserl hatte in der Krisis an der Vorherrschaft des naturwissenschaftlich-mathematischen Weltentwurfs hervorgehoben, dass eine Ontologie der Lebenswelt nur in der Spannung konkurrierender Weltentwürfe zum Problem werden kann, welche dann eine genetische „Rückbesinnung“ auf die Urstiftung der Idee einer universalen „Vernunftmenschheit“ (Hua VI, 13) notwendig mache, welche allein den Sinn des Erkenntnistelos darzulegen gestatte. Held versucht im Kontrast dazu, durch Rückgang auf den Anfang der Philosophie bei den Griechen das universale Telos der Philosophie nicht erst in einer Stiftung der Vernunft, sondern bereits in der Idee der ‚einen‘ Welt, wie sie zum ersten Mal in der europäischen
332 16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive Antike formuliert wurde, zu verorten. Die sich dort vollziehende ‚ursprüngliche‘ Spaltung von Lebenswelt und Episteme erlaubt es, genetisch die mundane Differenzialstruktur von kósmos und Sonderwelten sowie von Heim- und Fremdwelten phänomenologisch zu analysieren. In einem ersten Schritt (→ 16.1–16.2) wenden wir uns einem für das Held’sche Werk zentralen Aufsatz zu, in dem die elementaren Strukturen der Weltphänomenologie über die Differenz von Heim- und Fremdwelt bestimmt werden, bevor dann anhand dreier paradigmatischer Fälle von Sonderwelten die vorwissenschaftliche, lebensweltliche Offenheit gegenüber der einzig-einen Welt expliziert wird. (→ 16.3–16.5) Auch wenn Held die phänomenologische Methode als dezidiert nicht-metaphysische Denkart auf philosophische Probleme anwendet, finden sich bei ihm explizite Auseinandersetzungen mit der abendländischen Metaphysik – namentlich mit den Texten der Vorsokratiker, Platons oder auch Aristoteles’. Zudem kann man von einer impliziten phänomenologischen Metaphysik bei Held sprechen, denn insofern die Welt als grundlegendes Feld phänomenologischer Analyse bestimmt wird und das Erscheinen von jener der Welt wesenhaft zukommenden Horizontalität aus verstanden wird, ließe sich in der Weltproblematik Helds die phänomenologische Gestalt einer metaphysica generalis wiedererkennen. Demgegenüber kann die Frage nach dem lebensweltlichen Sinn der einzig-einen Welt in ihren verschiedenen kulturgeschichtlichen Ausprägungen als eine Art metaphysica specialis verstanden werden.
16.1 Welt und Horizont Helds eigene Position wird erstmals in dem Aufsatz Heimwelt, Fremdwelt, die eine Welt von 1990 systematisch dargelegt. Die Antwort auf die Frage nach der Einheit und Pluralität der Welt wird dort, in Analogie zur Intersubjektivitätsstruktur, aus dem gleichsam inter-mundanen Erfahrungscharakter von Welt entwickelt. Die Auslegung dieses Gedankens vollzieht sich in drei Schritten: (i) der Begründung der Analogisierung von Primordialsphäre und Heimwelt bzw. von Anderem und Fremdwelt; (ii) der Explikation der Struktur der Differenz von Heim- und Fremdwelt und daran anschließend der raum-zeitlichen Bedingungen der Möglichkeit einer Vermittlung oder ‚Begegnung‘ von Welten; und zuletzt (iii) der Reflexion auf die Asymmetrie von Universalität und Partikularität der Weltentwürfe. (i) Helds erstes Ziel ist es, die zu thematisierenden Weltkonstitutionsstufen innerhalb der Architektonik der transzendentalen Phänomenologie zu verorten. Auf unterster Stufe erscheint Welthaftigkeit als ein Korrelat der Primordialsphäre, und zwar zunächst als immanente Transzendenz der „Originalsphäre“ (Hua I, 135) des ego, in der auch der (primordial fremde) Andere durch analogisierende Apperzeption konstituiert wird. Diese Deskription kann nur statisch sein, da
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die Primordialität durch abstraktive Reduktion gewonnen wird, was bedeutet, dass es unmöglich ist, eine Urstiftung des ersten oder ursprünglichen Transzendierens der Eigenheitssphäre genetisch auszuweisen. Anders verhält es sich dagegen mit der höherstufigen Konstitution der Kulturwelt. Eine sich aus sozialer Vergemeinschaftung herausbildende Kultur kann sich durchaus in Abwesenheit jeglicher Fremdwelt entwickeln, wie ethnologische Untersuchungen von Völkern, die in relativer Abgeschiedenheit leben, belegen. Diese Quasi-Primordialität ist also keine bloß abstrakte, sondern reale Möglichkeit. Für Held eröffnet dies die Möglichkeit einer Analogisierung von statischer Apperzeptions- und genetischer Motivationsanalyse. (ii) Held postuliert eine „Strukturparallelität“, die es erlaubt, „die heimische Kulturwelt tatsächlich als eine Art Primordialsphäre zweiter Stufe“ (1991, 57) anzusehen. Sie besteht in der realen Möglichkeit der Stiftung einer Kulturwelt als Totalität. Als etymologischer Beleg dafür könnte die vielfach dokumentierte Tatsache gelten, dass bei manchen Völkern die Namen für ‚Volk‘ und ‚Mensch‘ identisch sind, was darauf verweist, dass ihre Welt für sie zugleich die einzigeine ist. Erst der Bruch mit dieser Totalität bringt die Relation Eigenes-Fremdes hervor. Die ursprünglich erfahrene Welt entpuppt sich als Teilvorstellung, so dass der Sinn von ‚Volk‘ und ‚Menschheit‘ auseinander treten. In diesem Sinne geht das Transzendieren dieser „Primordialsphäre zweiter Stufe“, anders als bei der Intersubjektivität, auf eine Urstiftung zurück. Das dadurch entstehende Verhältnis von Heim- und Fremdwelt zeichnet sich, diesmal analog zur Intersubjektivitätsstruktur, durch eine wesenhafte Asymmetrie aus, insofern das Eigene erst über das Fremde zu sich kommt. Diese Fremdheit kann dabei strukturell genau als der Bruch mit der Totalität, als das Hineinbrechen eines Nicht-Alles bestimmt werden. Dieser Bruch findet, gemäß Husserls phänomenologischer Bestimmung der Welt als Horizont aller Horizonte, (→ 1.5) auf der Ebene der Horizonthaftigkeit statt. Streng phänomenologisch betrachtet erschüttert nicht das Auftauchen fremder Dinge, Personen oder Ereignisse als solche den eigenen Welthorizont, sondern die fremde Auffassungsart von Dingen, Personen oder Ereignissen. Der Bruch bestünde demnach in einem Widerstreit gewisser Auffassungsmöglichkeiten mit den schon vorhandenen Einstimmigkeitssystemen der Heimwelt, welche als Apperzeptionssysteme die vertraute Kulturwelt tragen. Die Relation Eigenes-Fremdes tritt also zunächst als Relation von Normalität-Anomalität auf. Normalität im phänomenologischen Sinne ist dabei die Reflexion der ‚reifen‘ Vernunft auf den Apperzeptionszusammenhang als einem systematischen Ganzen. Indem diese Vernunft die Normen der Einstimmigkeit des Systems formuliert, begrenzt sie zudem den Umkreis desselben – einen Umkreis, der durchaus noch das Anomale in sich einschließt. Der Horizont konstituiert sich so mittels einer Typik der Auffassungsarten, welche die Anomalien als im Prinzip antizipierbare und für gewöhnlich verstehbare Abweichungen integriert. Solange
334 16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive also das Anomale als in Einstimmigkeit überführbar angesehen wird, bleibt das Apperzeptionssystem in Geltung. Die Erschütterung dieses Systems durch die Fremdwelt hat dagegen eine andere Qualität hinsichtlich der Unverständlichkeit, die im Fremden begegnet. Um dies zu erklären, gilt es im nächsten Schritt, den dynamischen Charakter des Welthorizonts zu untersuchen. Die bewegliche Grenze des so konstituierten Welthorizonts, zwischen Entäußerung und An-eignung, wird von Held gemäß dem phänomenologischen Verständnis von Raum und Zeit, bzw. von Verzeitlichung und Verräumlichung des Horizonts, weiter ausdifferenziert. Mit Blick auf ihre zeitliche Dimension sind Welthorizonte insofern dynamisch, als sie sich in einem unabschließbaren Werden befinden. Sie öffnen sich stetig dem Neuen, bringen es in eine Kohärenz mit dem Bekannten und schaffen so immer neue Erwerbe und Explikationsformen der Weltapperzeption. Diese Doppelbewegung von Öffnen und Bewahren kann auch als eine temporale Reflexivität aufgefasst werden, in der sich die Zukunft in der Vergangenheit reflektiert: Die Heimwelt ist […] ein explicandum, dessen Zukunfts- und Vergangenheitscharakter eins sind: Nur indem wir den Horizont unserer heimatlichen Umwelt in die offene Zukunft hinein explizieren, bewährt er sich als das schon immer ‚Vorgegebene‘ [Hua VX, 171] und nur indem wir uns an dieses Vorgegebene, unvordenklich Alte halten, bringen wir das Zukünftige, Neue zum Vorschein. (1991, 60)
Dieses Primat der Zukünftigkeit ist inspiriert von Heidegger, (2005) wird von Held aber mit Blick auf Heim- und Fremdwelt anders entwickelt: Das heimweltliche Verhältnis zur Zukunft als durch die Vergangenheit zur Erscheinung gebrachte Zukunft, das Verhältnis zum Neuen als gleichsam durch das Vorgegebene ‚eingehegtes‘ vermittelt jenes Gefühl von „Verlässlichkeit“ und „Sicherheit“, (1991, 60) das die Heimwelt auszeichnet. Zugleich ist die Heimwelt jedoch kein fester Ausgangspunkt, sondern „bleibt uns“, wie Held mit Verweis auf Husserl (Hua XV, 202) schreibt, „immerfort unaufhörlich zur Explikation aufgegeben“. (1991, 60) Dieser irreduzible Bezug auf das Alte beruht dabei auf den Leistungen und Erwerbungen der Alten, d. h. jener Generationen, die am Bau des aktuellen Apperzeptionssystems aktiv mitgewirkt haben. Der Grund der zeitlichen Dimension der Heimwelt liegt somit in ihrer Historizität: „Normalität beruht in diesem Sinne auf der Generativität“. (1991, 61) Diese genuin historische Welt mit ihren Traditionen verweist auf eine generative Sequenz, die sich jedoch – bezüglich des möglichen Nachvollzugs ihrer tradierenden Leistungen – im Dunkel verliert, oder, wie Held mit Schelling formuliert, im „Unvordenklichen“ mündet. Es ist, nach Held, genau dieser Umstand, der die Singularität oder (um es mit Levinas zu sagen) die Unvertretbarkeit einer Kultur ausmacht: eine Kultur tritt ihr Erbe an, aber sie verfügt nicht darüber, folglich kann sie ihren Anfang auch nicht modifizieren, sondern findet sich mit dem Faktum ihrer Herkunft konfrontiert. Diese diachrone Identität der Heimwelt wird allerdings in dem Mo-
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ment brüchig, in dem etwas Neues erscheint, das sich nicht in das immerfort werdende explicandum ‚Heimwelt‘ fügen will. Diese Begegnung mit dem Außerhalb der einstimmigen Selbsterfahrung macht eine Deskription der transzendentalen Verräumlichung von Heim- und Fremdwelt erforderlich. Mit Blick auf die räumliche Dimension ist die Frage der Verräumlichung des Welthorizonts, die Held stark an Husserl ausrichtet, verwickelter, weil sie auf den ersten Blick anschauliche oder reale Hinsichten (Territorialität) mit unanschaulichen oder virtuellen (Potentialität) zu vermengen scheint. Beide Hinsichten verweisen jedoch auf eine gemeinsame phänomenologische Basis. Das Neue als radikal Anderes, so Held, kann entweder als „Überraschung“ oder „Unmöglichkeit“ (1991, 62) aufgefasst werden. Phänomenologisch betrachtet ist eine solche Unmöglichkeit jedoch gerade nicht im logischen, sondern im praktischen Sinne zu begreifen: als die bestimmte Unmöglichkeit weiterer Erfahrung. Ein so verstandenes Draußen ist bereits für Husserl konstitutiv für den Welthorizont der Heimwelt, insofern dieser sich durch die Abgrenzung zu diesem Draußen selbst begrenzt. Die generative Vorbekanntheit der zeitlichen Dimension, zusammen mit der Selbstbegrenzung gegenüber der Unbekanntheitssphäre, definiert den Sinn der Endlichkeit der Heimwelt: Letzter Grund für die Endlichkeit der Heimwelt ist ihre Vorgegebenheit aus einer unvordenklichen generativen Vergangenheit; denn deswegen erscheint alles Neue als Explikat von ‚schon‘ Vorbekanntem. Eben dies aber macht die Heimwelt zu einem Innenhorizont, einem vertrauten Drinnen, und das heimweltliche Bewusstsein vom Drinnen impliziert als praktisch interessiertes Bewusstsein die Abblendung eines irrelevanten Draußen. Durch diese praktische Abblendung des Außenhorizonts konstituiert sich das explicandum ‚Heimwelt‘ als notwendig endlich. (1991, 63)
Das Draußen als Dimension oder Gegend des Unbestimmten wird aus der Perspektive der Heimwelt wiederum als Dimension möglicher Bestimmbarkeit aufgefasst. Die Heimwelt betrachtet diese Gegend nicht als ein pures Nichts, sondern verhält sich zu ihr als zu ihrem „Leerhorizont“. Dieser ist, wie Held weiter mit Husserl argumentiert, insofern nicht ‚Nichts‘, als er zumindest eines ist: „reine res extensa“ oder „leerer Außenhorizont“. (1991, 64) Diese Form des Horizonts ist in der Heimwelt zwar „praktisch abgeblendet“, aber nichtsdestotrotz mitkonstitutiv. Und sie hat im lebensweltlichen Kontext durchaus ihren Begriff: Die leere „Außenraumzeitlichkeit“ (Hua XV, 429) entspricht einer der möglichen Bedeutungen von „Natur“, und zwar nicht als die schon verstandene Ordnung des Lebens außer oder in uns, sondern als das, worin wir sind, als das noch Unerforschte, Unverstandene, gegen das sich die eigene Welt als Nicht-Alles kontrastiv absetzt. Der hier beschriebene Raum ist weniger ein anschaulicher oder geographischer Raum als vielmehr der Raum der Sinngebung, genauer: der noch unbestimmte Außenraum möglicher künftiger Sinngebungen. Diese kulturelle Transzendenz wird, wie die Geschichte zeigt, seit jeher ‚kultiviert‘ – sei es in Form prähistorischen Ackerbaus, neuzeitlicher Entdeckungsfahrten
336 16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive oder moderner Wissenschaften. Kultiviert und für apperzeptive Besetzungen fruchtbar gemacht werden kann diese Außenraumzeitlichkeit immer nur durch das je konkrete Abstecken eines bestimmten Bezirks dieser Natur. Erst durch Begrenzung innerhalb derselben wird eine Zuschreibung kulturellen Sinns möglich. In diesem transgenerischen Sinne ist Husserls Begriff des Territoriums zu verstehen: „Das Territorium ist also mehr als ein auf der Landkarte abgegrenzter Bezirk; es besteht aus der ganzen konkreten Natur in einem solchen Bezirk [d. h. aus dem, P. F.] Spielraum für eine bestimmte kulturelle Besetzung“. (1991, 64) (iii) Wie ist nun im Ausgang von dieser unbestimmten Transzendenz des Außen die Konstitution einer Fremdwelt zu denken? Held geht hier erneut auf die erste Primordialsphäre zurück, um von dort aus analogisch zur zweiten Sphäre aufzusteigen. Auf der Konstitutionsstufe der Intersubjektivität gilt nach Husserl bekanntlich das ‚Hier‘ des eigenen Leibes als ‚absolut‘, was a fortiori bedeutet, dass dieses ‚absolute Hier‘ den Kern jeder Unerreichbarkeit des Anderen, d. h. seine irreduzible Fremdheit ausmacht. Die „Einfühlung“ in das fremde Bewusstseinsleben kann daher nur analogisch vollzogen werden, „als ob ich dort wäre“. (Hua XV, 250) Die Evidenz des fremden Erlebnisstroms kann niemals eine adäquate Evidenz sein, sondern orientiert sich stets inadäquat am äußeren Gebaren oder Ausdruck des Anderen. Ermöglicht wird dieser Zugang durch das mir und dem Anderen gemeinsame Moment, dass seine wie meine Innenleiblichkeit jeweils eine Außenseite hat: die leiblichen Erlebnisse für mich korrespondieren einem äußerlichen Ausdruck eines Körpers für jedermann. Held überträgt diesen Gedanken aus Husserls Analyse der Intersubjektivität auf das Verhältnis von Kulturen und kulturellen Welten: Diese haben einen Innenhorizont, in dem sich das Apperzeptionssystem qua eigener Historizität sozusagen verleiblicht. Dieser Innerlichkeit korrespondiert ein Ausdrucksgeschehen, das im Prinzip jedermann zugänglich ist: die ‚Verkörperung‘ dieser Kultur in Stiftungen – in Schriften, Bauwerken, sozialen Strukturen, politischen Körperschaften und anderen, um mit Hegel zu sprechen, Verobjektivierungen des Geistes. Diese fremden Ausdrücke von Auffassungsarten sind also für jedermann wahrnehmbar und in ihrer verkörperten Form zugänglich. Die analogische Einfühlung in diese Ausdrucksformen setzt nun einen „Keim der Bekanntheit“ (Hua XV, 432) als Anhaltspunkt voraus. Dieser Keim entspringt nichts anderem als der allgemeinsten Struktur der Heimwelt: ihrer Generativität. In die Zukunft hinein ist jede Arbeit kultureller Erwerbe offen und prinzipiell unabgeschlossene, verliert sich in Richtung Vergangenheit jedoch im Dunkel der generativen Kette, weshalb jede Kultur auf einem „Mythos“ (1991, 67) beruht. So verschiedenartig die einzelnen „‚mythischen‘ Umwelten“ (Hua XV, 436) auch sein mögen, eines haben sie, laut Husserl, doch gemein: Sie alle sind Versuche, den Sinn der Generativität als solcher zu artikulieren; sie alle versuchen der natürlichen Periodizität von Werden und Vergehen, von Geburt und Tod, der Verwurzelung in Tradition und dem Aufbruch ins Unbekannte einen Sinn
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abzugewinnen. Mit anderen Worten ist dieses „Urgenerative“ die erste Selbstbesinnung und Selbstbegrenzung der Heimwelt gegenüber einer sie transzendierenden Natur im Sinne der Außenraumzeitlichkeit. Diese horizonthafte Homologie bildet also „die Brücke zur Apperzeption der Fremden ‚als meinesgleichen‘ [Hua XV, 436]“. (1991, 68) Diese Brücke kann faktisch betreten werden oder auch nicht. Die Realgeschichte der Kulturkontakte bewegt sich innerhalb eines Spektrums zwischen zwei Extremen: der Verschmelzung zweier Kulturen und der kriegerischenAuseinandersetzung.
16.2 Weltoffenheit Über die Pluralität und Vermittlung von Heim- und Fremdwelt hinaus zeichnet sich die Welt – vornehmlich, wie wir sehen werden, die europäische Urstiftung der Welt – durch eine Universalisierung der Horizontstruktur aus. Anders als der oben beschriebene Weltentwurf der eigenen Heimwelt als der einzigen Welt – dessen Täuschung über die eigene kulturelle Sonderwelt als tantum nur nachträglich oder von außen aufgedeckt werden kann – beschreibt diese Universalität ein Einstimmigkeitssystem der Erfahrung, die alle Horizonte und Sonderwelten mitumfasst, ohne sie in ihrer Verschiedenheit aufzuheben. In diesem Sinne fordert Husserl in der Krisis die Rückbesinnung auf die gemeinsame Urstiftung von Philosophie und Wissenschaft, welche in der Idee einer Menschheit als „Vernunftmenschheit“ (Hua VI, 13) bestehe, dem télos einer sich aus Vernunft selbst aufklärenden Menschheit. Dementsprechend sei die Philosophie die universale epistéme, die nicht nur, wie die Naturwissenschaft, alle rationalisierbaren Fragen der Natur außer uns und in uns, sondern auch alle Probleme der Vernunft selbst umfasst. Held versucht nun, diese Urstiftung einer universalen Vernunft von ihrem Korrelat her aufzuklären: von der einen, alle Sonderwelten umfassenden Welt her. Sein Ansatz zur Klärung des Weltphänomens als Korrelat der Vernunft ist dabei historisch: Held geht zu den Anfängen des abendländischen Denkens bei Parmenides und vor allem Heraklit zurück. Die dort genannten ersten vorsokratischen Bestimmungen der epistéme drücken sich bei Heraklit unmittelbar in der berühmten Polemik gegen die dóxa, die Meinung der ‚Vielen‘ aus: „Anwesend sind sie abwesend“. (DK 22 B 34) Diese Polemik ist nach Held Ausdruck einer ersten Reflexion auf den Sinn der Philosophie, insofern epistéme jene von der natürlichen Einstellung unterschiedene „Einstellungsart“ bezeichne, in der sich gerade die Öffnung auf die Welt als ‚eine‘ Welt bekunde, von Heraklit erstmals als kósmos („schmuckvolle Ordnung“, 2010, 25) bezeichnet. Nach Heraklit gibt es allerdings ‚für die Vielen‘ keine Möglichkeit, diesen Einstellungswechsel zu vollziehen, solange ihre Urteilsfähigkeit, wie Held erläutert, von den Sonderwelten befangen bleibt, und zwar deshalb, weil sie die philosophische Einstel-
338 16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive lung nur als eine weitere Sonderwelt auffassen. Das heraklitische Problem ist demnach die Unerklärlichkeit der Transposition von mundaner Befangenheit zu mundaner Aufgeschlossenheit. Nach Held gilt es dementgegen diese „unvermittelte Konfrontation“ von dóxa und epistéme durch „ein Mittleres – etwas ‚Vermittelndes‘ – zwischen beiden Einstellungen“ (2010, 27) zu schlichten. Eine Weltphänomenologie, die sich auf die ihr eigene Urstiftung als die Stiftung jener Einstellungswechsel rückbesinnt, hat demnach zur Aufgabe, die „Vorstufe[n] der Öffnung des Menschen für die eine Welt“ auszulegen – Vorstufen, die „eine Aufgeschlossenheit für die eine Welt“ bereits implizieren, als „weltoffene Gestalt von Doxa, die noch keine Episteme ist“. (2010, 27) Damit behauptet Held einerseits kritisch, dass die Heidegger’sche These, die frühe Philosophie habe noch keine Reflexivität gekannt, zu kurz greift; andererseits, dass die transzendentale Phänomenologie als Weltphänomenologie die älteste Idee von Philosophie zu erfassen vermag. Was sind nun, außerhalb der historischen Überlegungen und in systematischer Hinsicht, diese weltoffenen Gestalten der Doxa, welche die Transposition in eine Episteme vorbereiten? Für Held sind dies drei Sinnhorizonte, die eine Zwischenstellung zwischen Sonderwelten und Universalhorizont einnehmen: die natürliche Welt, (→ 16.3) die religiöse Welt (→ 16.4) und die politische Welt. (→ 16.5) Diese drei seien im Folgenden kurz skizziert.
16.3 Natürliche Lebenswelt Eine erste vor-wissenschaftliche Weltoffenheit, die das unthematische Phänomen einer einzig-einen Welt fassbar macht, wird durch den Begriff der Natur erfasst. In Helds Entwurf einer Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt wird die „Erfahrung der Lebenswelt als Natur“ (2012, 13) zum Gegenstand phänomenologischer Analyse. Jedoch soll ‚die Natur‘ nicht als Gegenbegriff zu ‚Kultur‘ verstanden werden, sondern diese noch miteinbegreifen. Die „Natürlichkeit“ der Lebenswelt bezieht sich somit ebenso auf die Natur als Umwelt wie auf die Vertrautheit mit der eigenen Kulturwelt: „Die Welt als Lebenswelt ist durch und durch Natur und Kultur, sie ist Natur als Kultur und umgekehrt“. (2012, 265) Entscheidend ist, dass in beiden Hinsichten das Erscheinen von „Natürlichem“ charakterisiert ist durch ein „von selbst geschehende[s] Eintreten ins Erscheinen“. (2012, 16) Held nimmt – ganz im Geiste Husserls – die aktuelle ökologische Krise zum Ausgangspunkt einer Rückbesinnung auf die Natur. Der Grundgedanke ist dabei folgender: die Frage nach der lebensweltlichen Erfahrung von Natur macht einen Rückgang auf die Urstiftung dieses Begriffs notwendig, im Zuge dessen sich ein Abstand zeigt zwischen dem neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Naturbegriff und dem, was die frühen Griechen unter phýsis verstanden. Letzterer Begriff verweist auf eine elementare Erfahrung von Natur, so wie sie von den vorsokratischen Naturphilosophen bedacht wurde: als Frage
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der Vollständigkeit und Ordnung der vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Diese Elemente sind insofern phänomenologisch bedeutsam, als sie schon bei Aristoteles den vier Elementarqualitäten des Tastsinns korrespondieren. (De Anima 423b 27 ff.; 2012, 227) In diesem Sinne, so Helds These, ist die lebensweltliche Naturerfahrung dadurch gekennzeichnet, dass sie sowohl subjektrelativ erscheint als auch, in Folge dessen, sich durch eine wesenhafte Lebensbedeutsamkeit auszeichnet. In dieser Gestalt überschreitet die Natur bereits die Sonderwelten oder ökologischen Umwelten hin zur einen Welt, ohne dass dies das Ergebnis einer Verobjektivierung oder Naturalisierung wäre. Erst eine derartige Rückbesinnung, so Helds Beitrag zur aktuellen Debatte um den Klimawandel, macht verständlich, in welch tiefer phänomenologischen Bedeutung von einer elementaren Krise überhaupt die Rede ist. Im Kontext der neueren Phänomenologie stellt Helds Interesse an der elementaren Natur überdies eine Parallele zum Werk von John Sallis (→ 17) dar.
16.4 Religiöse Welt Eine weitere Dimension vorwissenschaftlicher Weltoffenheit zeigt sich im Religiösen. Besonders der Übergang von den partikularen Gottheiten im Polytheismus zur Universalität des einen Gottes im Monotheismus wird von Held in seinem jüngsten Werk Der biblische Glaube. Phänomenologie seiner Herkunft und Zukunft aus weltphänomenologischer Perspektive beleuchtet. Obwohl sich hier Heideggers intensive Auseinandersetzung mit dem Göttlichen anzubieten scheint, geht Held von einem strikt transzendental-phänomenologischen Gottesbegriff aus, wie er ihn bei Husserl angelegt findet. Held bezieht sich hier auf den noch unveröffentlichten Text „Vernunftteleologie und Gottesidee“ von 1936. (Ms. E III4) Dort wird die Idee Gottes mit der Idee der Teleologie und der Entelechie in Verbindung gebracht, jedoch nicht in ihren bewusstseinsimmanenten und auf Gegenständlichkeit bezogenen Bedeutungen, sondern in Hinblick auf das Absolute, d. h. das in ihnen waltende „Gute“, wie Husserl mit Platon sagt. (→ 1.14) Das Gute, an das ‚geglaubt‘ wird, kann sich aus phänomenologischer Sicht nur auf die unendliche Bewährbarkeit der Einstimmigkeit des unendlichen Welthorizonts beziehen: „Mit ‚Glaube‘ ist hier ein ungegenständliches Vertrauen darauf gemeint, dass wir uns auf die universale Bewährbarkeit und Erreichbarkeit von Einstimmigkeit mit völliger Sicherheit verlassen können.“ (2018, 47) Gerade weil diese Einstimmigkeit in der lebensweltlichen Erfahrung permanent enttäuscht und durchgestrichen wird, ist der Glaube an das Gute diejenige Gewährleistung, die gegen ein ‚Erschlaffen‘ der Sinnbildung ihre Entelechie verbürgt. In religiösen Praktiken, etwa im Gebet, wird diese Bewährbarkeit auf die Probe gestellt, und darin tritt das Göttliche lebensweltlich in Erscheinung. Dieser ‚phänomenologische‘ Gott bleibt damit aber eng an die Welt gebunden. Für
340 16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive Held muss die Universalität der göttlichen Allmacht, die das Ergebnis einer Idealisierung und damit eine Gestalt von Weltlosigkeit ist, zurückgenommen und an die tatsächlichen Eröffnungen und Bewährungen von Welt gebunden werden. Gott ist folglich, ganz im Sinne der Prozesstheologie, ein Gott im Werden: Seine Macht ist kein unüberbietbarer Superlativ von Gewährleistungskraft, wie er durch Idealisierung, durch Annahme eines idealen Pols gedacht werden kann. Er ist vielmehr nur ein Komparativ, der jeweils faktisch beim Wachsen des Umfangs der Gewährleistung in der Geschichte erreicht wurde. Der eine Gott eines mit der fortgeschrittenen Aufgeschlossenheit für die eine Welt Schritt haltenden Monotheimus übertrifft zwar alles bisherige Göttliche an Gewährleistungskraft, aber er behält etwas von der ‚Schwäche‘ der ihm geschichtlich vorangegangenen Gottheiten. (2018, 58)
Die Begrenztheit und Partikularität der Gewähr im Polytheismus wäre, so Helds These, gerade die ‚Kraft‘, die den Gefahren einer rein metaphysischen Theologie entgegengebracht werden kann. Allerdings spricht Husserl in anderen Texten selbst von der Religionsgeschichte als einem Idealisierungsprozess. Dieser „Lebensweltvergessenheit“ Husserls setzt Held die weltphänomenologische Analyse lebensweltlicher Evidenzen entgegen. Erst indem die Lebenswelt und die Tatsache ihres Vergessens zum Thema gemacht werden, zeigt sich, in welcher Korrelation der biblische Gott zur Welt steht: Es ist eine der Absichten der hier versuchten weltphänomenologischen Interpretation des biblischen Glaubens, die Vermutung zu erhärten, dass es die gleiche neue Erfahrung von Offenheit für das Weltganze war, durch die im griechischen Kulturraum das philosophisch-wissenschaftliche Denken und in Israel der biblische Glaube möglich wurde. (2018, 79)
Diese Erfahrung des unendlichen Spielraums horizonthafter Verweisungen spiegelt sich in der Beobachtung wider, dass der Monotheismus als Antipolytheismus zu sich selbst findet, das heißt über eine Zurückweisung der Zerstreuung der Einstimmigkeitsgewähr. Die einzig-eine Welt ist nun jedoch nicht, wie Held gegen Husserl zeigen will, „Universalhorizont“ im Sinne eines Allumfassenden. Die Welt als singulare tantum hat, im Gegenteil, überhaupt keinen horizonthaften, offenbarenden Charakter. Was die Welt auszeichnet, ist vielmehr ihre prinzipielle Verborgenheit. Es handelt sich dabei nicht um eine Verborgenheit unter anderen, sondern um das Unthematisierbare als solches, dasjenige, was die „Rückseite“ (2018, 36) aller Thematisierung ausmacht – ein Verborgenes, das sich, wenn überhaupt, nur stimmungshaft bekunden kann. In der biblischen Erfahrung reflektiert sich dieser Weltbezug in der Anschauungslosigkeit Gottes: „Diese Weltoffenheit ist die Voraussetzung für den anschauungslosen Glauben an den einen Gott, und zwar deshalb, weil auch die eine Welt jeder Anschauung entzogen ist“. (2018, 95) Im Zuge der Intention, dem Charakter der einzig-einen Welt als göttlichem Korrelat entsprechen zu wollen, kommt es zu jener monotheistischen Tendenz
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des Bilderverbots, die sich als Geste der Abhebung von der lebensweltlichen Konkretheit der Verehrung der „heidnischen“ Gottheiten versteht. Der biblische Glaube an diesen anschauungslosen Gott findet seine symbolische Darstellung in der Exodus-Erzählung. Die neue Erfahrung einer radikalen Weltoffenheit wird durch den Auszug des Volkes in die Wüste narrativ zugänglich. In diesem Sinne spricht Held von einer „Ver-wüstung“ (2018, 159) des biblischen Glaubens: jener in ihm teleologisch angelegte ‚Reinigungsprozess‘, der eine sukzessive Entledigung lebensweltlicher Horizonte anstrebt. Doch in diesem Streben liegt, so Helds kritische These, der Keim eines Dilemmas. Die „Ver-wüstung“ als Reinigung des Weltoffenheitsbezugs kann in eine Verwüstung im Wortsinne umschlagen: zur inneren Auflösung von Ordnung und – wie Held das zeitgenössische Verhältnis der aufgeklärten Moderne zur Religion interpretiert – in eine subjektive Beliebigkeit der als „Rück-bindung“ (2018, 170) verstandenen religio. Weder konservative noch progressive Lösungsansätze können dieses Dilemma auflösen. Es bleibt für Held die Tragik des Monotheismus, in einer Doppelbewegung von Emanzipation und Lebensweltvergessenheit wesenhaft verankert zu sein. Die Phänomenologie hat dabei lediglich die Aufgabe, diese innere geschichtliche Bewegung durch Rückbesinnung auf den jeweils vorherrschenden Weltbezug sichtbar zu machen.
16.5 Die politische Welt In welcher Hinsicht kann zuletzt auch die „politische Welt“ als Vorform der Universalisierung angesehen werden? Nehmen wir die heraklitische Konfrontation von doxa und episteme erneut in den Blick, so lässt sich erkennen, dass die genannte Befangenheit des Urteils in den Sonderwelten nicht uneingeschränkt gültig ist. Auch wenn die von Heraklit bezeichneten „Vielen“ nicht der epistemologischen Ausgeschlossenheit fähig scheinen, so gibt es doch bei ihnen bereits durchaus eine Öffnung, die man gemeinhin als die Fähigkeit bezeichnet, sich in den anderen ‚hineinzuversetzen‘. Nach Held ist damit nichts anderes gemeint als die von Kant beschriebene „reflektierende Urteilskraft“, die, phänomenologisch betrachtet, die Vergegenwärtigung derjenigen Horizonte anzeigt, die der Bildung dieses oder jenes Urteils zugrunde liegen. (2010, 30) Mit diesem Vermögen eröffnet sich gleichsam die Bildung von Meinungen über die Meinungen von Anderen, wodurch der Einzelne allererst Stellung zu anderen Sondermeinungen nehmen kann, was Held als die frühe Form dessen ansieht, was Kant als „Gemeinsinn“ bezeichnet. Damit ist phänomenologisch das Feld des Politischen konstituiert: „Mit diesem Gebrauch der Urteilsfähigkeit eröffnet sich ursprünglich die politische Welt.“ (2010, 27) Dieses Feld eröffnet sich überall dort, wo Meinungen ‚verhandelt‘ werden, wo man sich beratschlagt – in welchen sozialen Strukturen und zu welchen Zei-
342 16. Klaus Held – Weltphänomenologie in kulturgeschichtlicher Perspektive ten auch immer. Eine besondere Form dieser gemeinsamen Beratung haben die Griechen in Form der Demokratie hervorgebracht. Diese Eröffnung findet, so Held, interessanterweise gerade durch Betonung der Sonderwelten statt: Die Vielen fanden ihr Gemeinsames gerade in dem, wogegen Heraklit polemisierte, nämlich in der Bindung ihrer Meinungen an die Ausgangshorizonte ihres Urteilens. Was sie zur Gemeinschaft vereinte, war die Entdeckung eines gemeinsamen Interesses, nämlich des Interesses daran, diese Bindung aufrechtzuerhalten und ‚die Vielen‘ zu bleiben. (2010, 31)
Der umfassendere Horizont, der die Sonderwelten miteinander zu verbinden gestattet, ist jener der „Öffentlichkeit“, welche durch die sogenannte isegoría, die „Gleichheit im Öffentlich-Reden“, konstituiert wird. Die demokratische Lebensform ist somit die „der Vielen als Viele“ (2010, 32) als Horizont freier Rede, die Sonderwelten mit Sonderwelten vermittelt. Die politische Welt phänomenalisiert sich also als Erscheinen weltlicher Pluralität. Sie ist mehr als die Summe der Sonderwelten: vermitteltes Ineinander dieser Sonderwelten durch das Hinzutreten einer bestimmten Form von Transzendenz. Die eigene Sonderwelt kann transzendiert werden, wenn man sich die Urteilsbedingungen fremder Doxa vergegenwärtigt. Dann phänomenalisiert sich ‚die‘ Welt, ohne schon thematisch zu werden: „Die eine Welt erscheint bereits als Welt, weil sie als politische Welt den Charakter der Phänomenalität hat, und doch ist sie damit noch nicht Gegenstand der Episteme.“ (2010, 36) Auch wenn mit diesem Gedanken einer positiven Metaphysik der Welt Grenzen gesetzt sind, lässt sich die negative Konsequenz ziehen, dass eine phänomenologische Metaphysik der Welt nicht so (dogmatisch) beschaffen sein darf, dass sie den Entzugscharakter des Erscheinens der Welt selbst übergeht oder dazu beiträgt, dass metaphysische Vorurteile eine aus phänomenologischer Perspektive unvernünftige Schließung der Welt erzwingen. Damit wird in Helds Beitrag zur phänomenologischen Metaphysik ein kritisches Anliegen deutlich, sofern dieses Denken den eigenen philosophischen Ursprung nicht in der Immanenz der philosophischen Rationalität selbst setzt, sondern noch ihre Herkunft aus der Lebenswelt zu reflektieren sucht. Ein origineller Zug dieser kritischen Metaphysik liegt in der Einsicht, dass die Eröffnung des unendlichen Welthorizonts und der damit einhergehenden Unendlichkeitsdimension der Wissenschaft nicht ausschließlich der Entgegensetzung von dóxa und epistéme zu verdanken ist, sondern die dynamische Differenzialität der verschiedenen Horizonte der Lebenswelt diese Universalisierungstendenzen vorwissenschaftlich motiviert. Klaus Held Geboren 1936. Studium der Philosophie und Klassischen Philologie in München, Freiburg, Bonn und Köln. Promotion 1962 und Habilitation 1971 in Köln. 1974–2001 Lehrstuhl für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.
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Gastprofessuren in Japan, USA, Südkorea und China. 2002 Bundesverdienstkreuz am Bande.
Literatur Held, Klaus (1966), Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik, Den Haag. – (1991), „Heimwelt, Fremdwelt, die eine Welt“, Phänomenologische Forschungen 24, 305–337. Wiederabgedruckt in: (2013), 55–78. – (2005), „Phänomenologie der ‚eigentlichen Zeit‘ bei Husserl und Heidegger“, Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 4, 251–273. – (2010), Phänomenologie der politischen Welt, Frankfurt a. M. – (2012), Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt, Frankfurt a. M. – (2013), Europa und die Welt. Studien zur welt-bürgerlichen Phänomenologie, St. Augustin. – (2018), Der biblische Glaube. Phänomenologie seiner Herkunft und Zukunft, Frankfurt a. M. Tengelyi, László (2014), Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg. Trawny, Peter (1997), Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, Freiburg.
17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität Tobias Keiling
Die Arbeiten von John Sallis verstehen sich als Beiträge zu einer Erneuerung der Phänomenologie, die starke metaphysische Implikationen haben. Sallis schließt allerdings an die Metaphysikkritik Heideggers (→ 6.11) an und formuliert seine Überlegungen im Gespräch mit dem Poststrukturalismus Jacques Derridas. (1995; 2007) Sein Verhältnis zur Metaphysik ist daher ein doppeltes: Einerseits werden Grundannahmen, welche in der Geschichte der Metaphysik getroffen werden, in Frage gestellt; andererseits führt diese Infragestellung zu einer neuartigen philosophischen Position, die immer noch jene Fragen und Probleme betrifft, die historisch Metaphysik als philosophische Disziplin ausmachen. Der Sache nach stellen Sallis’ Arbeiten daher einen positiven Beitrag zu einer phänomenologischen Metaphysik dar, obwohl sie keinen positiven Begriff von Metaphysik formulieren. Während sich ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zur Metaphysik bei Heidegger und zentral in Derridas Ablehnung der ‚Präsenzmetaphysik‘ (Derrida 2003) findet, unterscheidet sich Sallis’ Selbstverständnis von diesen Autoren darin, dass er affirmativ an das phänomenologische Forschungsprogramm anschließt. Dabei kommt Sallis allerdings in Bezug auf die Themenstellungen und metaphysischen Grundannahmen der Phänomenologie zu eigenständigen Positionierungen, die sich aus einer Radikalisierung der Grundausrichtung der Phänomenologie auf das Sichzeigen der Phänomene ergeben, auf den Prozess und die innere Dynamik ihrer Manifestation. Für deren Beschreibung ist die Erscheinung von (intentionalen) Gegenständen in Sinnhorizonten paradigmatisch, (→ 17.3) die Sallis insbesondere um eine Phänomenologie der elementaren Natur erweitert. (→ 17.5; → 17.6) Die Motivation dieses Ansatzes lässt sich anhand von Sallis’ Deutung der klassischen phänomenologischen Autoren erläutern. Während Husserl das Verständnis der Intentionalität des Bewusstseins zum zentralen phänomenologischen Problem gemacht habe, habe Heidegger die Konsequenzen, die sich aus dem phänomenologischen Verständnis von Intentionalität ergeben, radikaler gezogen. Wenn Heidegger die intentionale Instanz nicht mehr als das Bewusstsein einer transzendentalen Subjektivität, sondern als In-der-Welt-sein bestimmt, dann ist das eine Weiterentwicklung der Einsicht Husserls, dass Bewusstsein intrinsisch gegenstands- oder weltbezogen ist. (2012) Diese Radikalisierung hat Sallis bereits 1964 in seiner Dissertation beschrieben, welche Heideggers phä-
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nomenologische Ontologie anhand des Weltbegriffs in Abgrenzung zu Husserl erörtert. (1964) Auch die Phänomenologie Merleau-Pontys deutet Sallis als den Versuch, in der Orientierung an leiblicher Wahrnehmung eine Ontologie des Erscheinenden zu entwickeln, das Merleau-Ponty ‚Fleisch‘ nennt. (1973; → 11.5) Diese Erweiterung der Phänomenologie von einer Bewusstseinsphilosophie zu einer allgemeinen Theorie des erscheinenden Seienden im Ganzen will Sallis bis hin zu einer phänomenologischen Kosmologie fortsetzen. (→ 17.5) Obwohl sie durchaus eine eigenständige Konzeption zur Sache entwickelt, geschieht Sallis’ eigene systematische Positionierung nicht durch die Artikulation eines alternativen Weltbegriffs. Seine systematischen Monographien, Einbildungskraft (2000/2010) und Logik der Imagination (2012a/2019) nehmen ihren Ausgang jedoch, ähnlich wie Husserls Bestimmungen des Weltbegriffs, vom Phänomen der Horizontintentionalität: Dass ein Wahrnehmungsgegenstand sich nur in einer Verbindung von direkter Gegebenheit und Abschattungen zeigt, (→ 1.3) ist für Sallis die folgenreichste Entdeckung Husserls, da sich aus dieser eine an konkreten Erfahrungen orientierte Bestimmung des Verhältnisses von phänomenaler Präsenz und Absenz ergibt. Die Intentionalität sinnlicher Wahrnehmung ist daher wie für Husserl das Ausgangsphänomen, um die metaphysischen Verpflichtungen der Phänomenologie zu klären. Allerdings stellt Sallis stärker darauf ab, dass sich Erfahrungsverläufe nicht nur durch anschauliche Evidenz, sondern ebenso durch Absenz, Differenz und Divergenz auszeichnen. Sallis’ Arbeiten sollen einen theoretischen Rahmen bieten, um auch solche Erfahrungen in das phänomenologische Forschungsprogramm zu integrieren.
17.1 Zwischen Empirischem und Idealem: Phänomenaler Sinn Entscheidend für diese Zielsetzung ist eine Konzeption von ‚Sinn‘ (sense), welche dessen irreduzible Ambiguität betont. Dieser führt auf die zentrale metaphysische These der Phänomenologie, welche den Unterschied eines idealen, intelligiblen Seins (intelligible being, ideal being) von einem bloß sinnlichen, empirischen Sein (sensible being) betreffe. Diese Unterscheidung ist einerseits durchaus phänomenologisch nachweisbar und, philosophiegeschichtlich betrachtet, für die Phänomenologie konstitutiv: Husserls Einwand gegen den Psychologismus beruht gerade darauf, dass ideale Bedeutungen von empirisch beschreibbaren Bewusstseinsereignissen kategorial und ontologisch verschieden sind. (2019, 63–80) Andererseits beschreibt Husserl in der sechsten Logischen Untersuchung den Zugang zu idealen Gesetzmäßigkeiten als ‚kategoriale Anschauung‘, (Hua XIX.2, 671) geht also von der anschaulichen Gegebenheit auch des idealen Seins aus. Diese konstitutive Verschränkung von Idealem und Realem, Transzendentalem und Empirischem im Phänomen ist für Sallis Husserls entscheidende Einsicht. Der Kontrast zwischen idealem und empirischem Sinn darf nicht zu
346 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität einer allgemeinen und hierarchischen Opposition hypostasiert werden, die nur noch spekulativ, nicht mehr deskriptiv begründet werden könnte. Diese Hypothese bezüglich des Verhältnisses von idealem/intelligiblem und realem/empirischem Sein hat Konsequenzen für Sallis’ Verständnis der phänomenologischen Methode. Die mit Husserls „Prinzip aller Prinzipien“ (Hua III/1, 51) formulierte Maxime, sich am Gegebenen zu orientieren, wird von Sallis grundsätzlich affirmiert. Allerdings teilt er die Kritik Derridas, dass dieses Prinzip von einer „massiven metaphysischen Voraussetzung beherrscht wird“: „Anwesenheit und Anschauung“ werde eine „alles beherrschende Rolle“ zugesprochen, nicht-originär gegebene Phänomene dagegen ausgeblendet. Schon Husserls eigene Analysen etwa von Zeit und Intersubjektivität widerlegen jedoch einen im ‚Prinzip aller Prinzipien‘ behaupteten metaphysischen Vorrang phänomenaler Präsenz. In der konkreten Arbeit an den Phänomenen werde vielmehr deutlich, dass „eine irreduzible Nicht-Anwesenheit konstitutiven Wert hat“. (2010, 50 f.) Daher gibt es keine definitive Beschreibung der Phänomene, Husserl habe vielmehr die pluralen ‚Identitäten‘ der ‚Sachen selbst‘ entdeckt. (1995, 196–209) Sich am ‚Prinzip aller Prinzipien‘ zu orientieren dürfe deshalb nicht dazu führen, dass Momente nicht-originärer Gegebenheit „unerreichbar und unbemerkt bleiben“. (2010, 50) Denn dann wird die phänomenologische Methode von einer hierarchischen Opposition von starker intelligibler Präsenz und bloß empirischem Sein abhängig, welche dem phänomenologischen Verständnis von Phänomenalität nicht entspricht. Zum systematischen Ausgangspunkt auch der phänomenologischen Methode soll vielmehr eine Deutung der empirisch-idealen Doppelnatur phänomenalen Sinns werden, welche die im Werk Husserls auftretende Spannung zwischen methodisch-programmatischen Zielsetzungen und den Ergebnissen phänomenologischer Analysen überwindet. Die Semantik von ‚Sinn‘ (sense) sieht Sallis entsprechend durch die „gigantischste Zweideutigkeit“ geprägt: ‚Sinn‘ bezeichne einerseits „das Sinnliche“ (the sensible), „die Sinnendinge“ (things of sense), andererseits ihre „Bezeichnung“ (signification) und den „bezeichneten Sinn“ (signified sense, 2010, 39). ‚Sinn‘ referiert mithin nicht nur das intelligible Signifikat, sondern ebenso den Bereich des sinnlichen, empirischen Signifikanten. Dies ist eine erste Hinsicht, in der ‚Sinn‘ doppeldeutig ist. ‚Sinn‘ referiert zudem beide Korrelate einer Sinnerfahrung, das „Vernehmen“ (apprehending) und das „Vernommene“ (the apprehended). Zum Sinn tragen, mit Husserl gesprochen, Noesis und Noema gleichermaßen bei. (→ 1.3) Sallis wählt mit ‚Vernehmen‘ oder ‚Erfassen‘ (apprehend) jedoch einen gegenüber der noetischen Formulierung des Korrelationsapriori weiteren Begriff. (2010, 40; 132) Diese Überlegungen machen deutlich, dass Sinn metaphysisch weder zwischen Idealem und Realem noch zwischen Subjekt und Objekt klar zu verorten ist, vielmehr ist Sinn (durchaus widersprüchlich) jeweils beides. Während Hegels Logik mit einer Diskussion von Sein und Nichts einsetzt, deren Wider-
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spruch bei gleichzeitiger Identität den dialektischen Prozess initiiert, nimmt Sallis keinen die verschiedenen Sinnformen noch einmal übergreifenden Prozess oder eine Hierarchie zwischen diesen an. ‚Sinn‘ umfasst vielmehr sowohl die Alternativen intelligibel/sensibel als auch die beiden Seiten der Korrelation Vernehmen/Vernommenes. Das „Feld, an dem die Philosophie ihr Maß [nimmt]“, zerfällt in die vier durch die Kombination dieser beiden Oppositionen definierten „Quadranten“. (2010, 40) Diese Figur ähnelt Merleau-Pontys Hervorhebung des konstitutiv chiastischen oder reversiblen Charakters der Sinnerfahrung, (→ 11.5) unterscheidet sich jedoch durch die Einbeziehung im engeren Sinne sprachlicher Signifikanten. Die durch die vier „Quadranten“ beschriebene Ambiguität des phänomenologischen Sinnbegriffs hat verschiedene Implikationen für die phänomenologische Metaphysik: Zum einen kann die Opposition von Sinnlichem und Intelligiblem für die Metaphysik nicht mehr grundlegend sein. „Sogar Kant“, den Sallis in diesem Zusammenhang zitiert, bestimmt in der Preisschrift den „Endzweck“ der Metaphysik dadurch, „von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch Vernunft fortzuschreiten“. (2010, 39) Eine solche Festlegung greift jedoch offenbar zu kurz, wenn phänomenologische Metaphysik auch eine Metaphysik des Sinnlichen umfassen soll. Zum anderen gibt es keine metaphysische Garantie dafür, dass Sinnerfahrung widerspruchsfrei ist. Im Gegenteil ist bereits der Sinnbegriff inhärent widersprüchlich, ohne dass diese Widersprüche dialektisch vermittelt würden. Denn die Mehrdeutigkeit des Sinnbegriffs lässt sich auch nicht durch eine Hinsichtsunterscheidung auflösen, da verschiedene Bedeutungen/Sinne von ‚Sinn‘ zu differenzieren nur dann einen Regress im Erklären vermeiden würde, wenn der Sinnbegriff eindeutig wäre, aber genau das soll durch eine solche Unterscheidung erst erwiesen werden. (2010, 39 f.) In Logik der Imagination radikalisiert Sallis diese Überlegung zu der These, die Geltung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch hänge von bestimmten metaphysischen Präsuppositionen ab: die platonische Hierarchisierung von Sinnlichem (gr. to aistheton) und Intelligiblem (gr. to noeton) und die aristotelische Substanzontologie mit der Trennung von akzidentellem und substanziellem Sein. (2019, 25–44) Beide Voraussetzungen könne eine phänomenologische Metaphysik nicht teilen, sofern sie alle Erscheinungen von Sinn gleichermaßen zu berücksichtigen sucht. Entsprechend sollte der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch in einer phänomenologischen Logik nicht gelten. Sallis’ alternativer Entwurf einer phänomenologischen Metaphysik lässt sich als sukzessive Entfaltung der These verstehen, Sinn sei konstitutiv ambig. Für das Selbstverständnis der Phänomenologie folgt aus dieser These eine programmatische Umakzentuierung. Sofern die Phänomenologie über das ‚Prinzip aller Prinzipen‘ hinausgehen und bemüht sein soll, „irreduzibel Abwesendes zu einer Art Anwesenheit“ zu bringen und sogar widersprüchliche Sinnformen deskriptiv zu erfassen, lasse sie sich programmatisch als „Monstrologie“ (monstrology)
348 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität bezeichnen. (2010, 52) Dieser sprachgeschichtlich hybride, lateinisch-griechische Neologismus soll eine vorbehaltlose Orientierung der phänomenologischen Beschreibungssprache (gr. logos) am Sich-Zeigen (lat. monstrare) zum Ausdruck bringen.
17.2 Intentionalität und Einbildungskraft Die historisch und systematisch entscheidende Festlegung seiner Phänomenologie ambigen Sinns trifft Sallis damit, eine Theorie der Einbildungskraft (engl. imagination) zu entwickeln, mit deren Hilfe die verschiedenen und potentiell widersprüchlichen Momente von Sinnerfahrung zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden sollen. Diese Theorie wird in einer Philosophiegeschichte der Einbildungskraft vorbereitet. (2010, 55–96) Hier erläutert Sallis unter anderem seine Deutung der Gleichnisse der Politeia, welche eine wiederholte Einübung darin darstellten, Bilder als Abbilder zu durchschauen, mithin als eine spezifische Übung von Einbildungskraft (gr. eikasia) verstanden werden müssen. (1996, 312–455; 2010, 61–66; Keiling 2019a) Diese Deutung stellt sich der wirkungsgeschichtlich dominanten und unter dem Stichwort ‚Platonismus‘ herrschenden Platon-Interpretation entgegen, die platonische Philosophie müsse als Beschreibung eines Aufstiegs zum Intelligiblen und damit als Initialmoment der ‚Präsenzmetaphysik‘ verstanden werden. In der neuzeitlich-modernen Philosophie sind Kant und Fichte entscheidende Bezugspunkte für Sallis’ Geschichte der Imagination. Sallis folgt der (umstrittenen) Deutung Heideggers, Kant beschreibe die Einbildungskraft als „gemeinsame Wurzel“ von Sinnlichkeit und Verstand (KrV A16/B29; 2012c, 131–152; Wunsch 2007, 18–42) und bereite damit das phänomenologische Intentionalitätsverständnis vor. Die Ding-an-sich-Problematik leiste jedoch zugleich dem Gedanken Vorschub, es gebe eine metaphysische „Diskontinuität“ zwischen dem intentionalen Akt und dem intendierten Gegenstand. Diese könne auf die Annahme eines Dualismus’ führen, den Sallis durch das „räumliche Schema“ von Innen und Außen charakterisiert sieht: „Außerhalb ist ein Objekt, das Ding an sich, das irgendwie vom Inneren des Bewusstseins her erreicht werden muss“. (2010, 114) Diese für die neuzeitlich-moderne Epistemologie typische Problemstellung impliziert typischerweise einen Repräsentationalismus der Form, dass ein inneres Bild den äußeren Gegenstand repräsentiert. Das phänomenologische Intentionalitätsverständnis wendet sich gegen Spielarten eines solchen Repräsentationalismus. Sallis variiert den Einwand Husserls gegen diese „Bildertheorie“ (Hua XIX /1 436) jedoch in entscheidender Weise, wenn er darauf abstellt, das Problem des Repräsentationalismus sei nicht der Rekurs auf (mentale) Bilder in der Erörterung von Phänomenalität, sondern die Annahme, Bildbewusstsein sei eine „Anwesenheit im inneren Raum“. (2010, 114) Auch Husserls Inten-
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tionalitätsverständnis gehe jedoch nicht nur von einem Vorrang von Präsenz, sondern auch von einer Dualität von intentionalem Akt und intentionalem Gegenstand aus. „Intentionalität“ ist, wie Sallis schreibt, „der Name für eine […] Bewegung über diesen Unterschied hinweg“. (2010, 116) Daher kann Husserl Alternativen wie Externalismus/Internalismus nicht überwinden, sein Intentionalitätsverständnis wird der konstitutiven Ambiguität von Sinn nicht gerecht. Sallis greift deshalb die auf Kants „Wurzel“-These aufbauende Überlegung auf, es gebe eine in der Einbildungskraft erfasste allgemeine und primordiale Indifferenz des Phänomenalen: Das Bild (image) ist kein vermittelndes Drittes zwischen Subjekt und Objekt, sondern die primäre, noch nicht in die metaphysisch relevanten Oppositionen differenzierte Manifestation von Sinn. Sofern sie eine Trennung von Akt und Gegenstand und damit von Subjekt und Objekt impliziert, ist auch die intentionale Beziehung gegenüber der Imagination sekundär: Die imaginative Konstitution von Präsenz durch die Einbildungskraft ist deshalb jene Form der „Gegenwärtigung“ (presencing), „die der Gegenwärtigung durch den intentionalen Akt voraufgeht“. Damit deutet Sallis den Vorrang der Wahrnehmung zu einem Vorrang der Einbildungskraft um: Ein Bild ist „das Geschehen und der Ort […], in denen etwas Sinnliches der Sinneswahrnehmung gegenwärtig wird – und somit (gegenwärtig) ist [the occurrence and the locus in which something sensible becomes – and so is – present to sense prehension]“. (2010, 119) Imagination und bildliches Erscheinen von Sinn treten damit an jene systematische Stelle, die bei Husserl und in anderen Theorien des Geistes dem Bewusstsein zukommt. Dafür, Einbildungskraft zum phänomenologischen Grundbegriff aufzuwerten, sprechen insbesondere zwei Beobachtungen: Zum einen verbindet die Imagination die in der Erläuterung des Sinnbegriffs (→ 17.1) identifizierten „Quadranten“ miteinander. Der sich in der Einbildungskraft konstituierende Sinn ist durch „Indifferenz“ (indifference) und eine (trügerische) „Doppeltheit“ (duplicity) ausgezeichnet. Diese entspricht der in der Semantik von ‚Sinn‘ entdeckten Ambiguität, da das „sinnliche Bild“ (sense image) dem Erfahrungssubjekt ebenso zugehört wie dem in ihm erscheinenden Objekt. Phänomenal zeichnen sich imaginative Bilder durch eine prekäre „Zartheit“ (delicacy) aus, die eine an dauernder Präsenz orientierte Beschreibung von Bewusstsein nicht erfassen vermag. Das Bild ist vielmehr ununterschieden beides – das je eigene und Bild des Gegenstandes. […] Das doppelspielige Bild [duplicitious image] ist in einem ganz genauen Sinne indifferent: Das Bild ist in der Differenz, insofern es jeder Sphäre zugehört und sozusagen zwischen ihnen gedehnt wird, und doch ist es dieser Differenz gegenüber indifferent, sofern es beiden zugehört. (2010, 120 f.)
Die These, dass Sinn in der Imagination und damit bildlich erscheint, leistet so eine erste Konkretisierung des Gedankens, die Manifestation von Sinn sei kon-
350 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität stitutiv mehrdeutig. Philosophiehistorisch ist für Sallis Fichtes Wissenschafts lehre diesem Gedanken am nächsten gekommen. Denn Fichte ordnet nicht nur die Einbildungskraft dem Bewusstsein vor, sondern betont auch das „Schweben“ der Einbildungskraft zwischen metaphysischen und logischen Oppositionen. (2010, 87; 157 f.) Das erscheinende Objekt sei „weder Bild noch Ding, sondern beides, es wird nachher in beides geschieden“. (2010, 121) Allerdings überbetone Fichte die Zugehörigkeit der Einbildungskraft zum Subjekt als dessen Vermögen. Dadurch wird ein zweiter Aspekt der Einbildungskraft überdeckt, der ebenfalls für deren Aufwertung spricht: Jede imaginative Präsenz verweist, qua Präsenz im Abbild, auf etwas Absentes. Die „dyadische Struktur von Bild und Original“ (2010, 102) ermöglicht eine indirekte Anwesenheit des Abwesenden. Diese indirekte Präsenz ist jedoch keinem subjektiven Vermögen zu verdanken, sondern Konstitutionsmerkmal aller Realität. Vielmehr orientiert sich Sallis an der husserlschen Analyse der Horizontintentionalität, um diese zu beschreiben, wenn er die räumliche Strukturierung von Bildfolgen als primär für die Konstitution imaginativen Sinns ansieht. Phänomenaler Sinn ist mithin nicht nur konstitutiv mehrdeutig und in Einbildungskraft als prä-intentionaler Erfahrungsstruktur gegeben. Die horizontintentionale Grundstruktur dieses Erscheinens wird von Sallis weiter als dynamische Räumlichkeit expliziert.
17.3 Dynamischer Raum Die primäre Strukturierung des im ‚Bewusstseinsfluss‘ Erscheinenden wird für Husserl bekanntlich durch das Zeitbewusstsein geleistet, was Husserl motiviert, in den Bernauer Manuskripten (Hua XXXIII) die Zeit sogar als ein Absolutes zu bezeichnen. Auch Heidegger orientiert sich in Sein und Zeit an der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins als ontologisch primärer Erfahrungsform. Die These vom Vorrang der Zeitlichkeit gegenüber der Räumlichkeit in der Beschreibung von Erfahrung wird Heidegger jedoch später ausdrücklich zurücknehmen. (GA 14, 29) Mit Blick auf die Geschichte der Phänomenologie schließt Sallis daher an Überlegungen des späten Heidegger zum ‚Räumen‘ als Grundstruktur des Erscheinens an, (GA 13, 203–210; → 6.7) wenn als die primäre Strukturform des Erscheinenden nicht die Leistungen des Zeitbewusstseins, sondern ein dynamisches Raumgeschehen (spacing) ausgemacht wird. (Keiling 2019b) Im Unterschied zu Heidegger (Keiling 2015, 428–438) gibt Sallis den Horizontbegriff zur Beschreibung dieses Geschehens jedoch nicht auf. Entscheidend für die Beschreibung der primordialen Räumlichkeit des Erscheinens ist vielmehr die These, dass die in der Einbildungskraft erscheinenden Bilder durch ihre „Horizontalität“ (horizonality) ausgezeichnet sind. Sallis’ Beschreibung von Horizontphänomenalität folgt weitgehend derjenigen Husserls. Allerdings vermeidet Sallis terminologisch die Rede von einem ‚Innen-‘ und ‚Außenhorizont‘
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des erscheinenden Objekts und spricht stattdessen vom „Frontalbild“ (frontal image) eines Gegenstandes, das in „Seitenhorizonte“ (lateral horizons) anderer Bilder sowie mehrere Objekte umgreifende „Umgebungshorizonte“ (peripheral horizons) eingebettet ist. Diese Bezeichnungen sind durch die Beobachtung „einer gewissen Zentriertheit“ der imaginativen Präsenz motiviert: Ein Frontalbild bietet einen direkten Blick auf den Gegenstand. Dadurch bietet es zwar starke Präsenz, ist jedoch in einer Konfiguration anderer Bilder als anderer möglicher Erscheinungsweisen des Gegenstandes situiert. Die liminale Erscheinung der mitgesehenen Bilder ist nicht aufgrund der These vom metaphysischen Vorrang des Präsenten von nachrangiger Bedeutung, sondern erweist sich für die Phänomenalität des Erscheinenden als ko-konstitutiv. Diese Beschreibungen machen nicht nur deutlich, wie sich Sallis die bildliche Verbindung von Absenz und Präsenz in konkreten Erfahrungsverläufen vorstellt. Sie hat auch ontologische Konsequenzen. Sallis verbindet wie Heidegger die Kategorie der Existenz mit phänomenaler ‚Anwesenheit‘, (GA 14, 3–30) expliziert diese aber nicht als temporale, sondern als imaginative Präsenz. Dass in bildlicher Erfahrung Absenz und Präsenz intrinsisch verbunden sind, erlaubt es deshalb, eine alternative Ontologie zu antizipieren, welche die laterale ebenso wie die frontale Präsenz von Bildern umfasst: „wenn man sagt, dass das Bild da ist, dann ist der Sinn von Sein nicht mehr Anwesenheit“. (2010, 135) Ein „dem Bild angemessener Sinn des Seins“ (2010, 138) müsste vielmehr diese weder dialektische noch signitive, sondern genuin imaginative Verbindung von An- und Abwesenheit erfassen. Während sich Husserls formale Ontologie vor allem an der ontologischen Deutung von Urteilskategorien orientiert, (Hua V ) sucht Sallis Husserls Beschreibung von Horizontphänomenalität ontologische Geltung zu verleihen. Die Rede von phänomenalen Horizonten dürfe nicht als „Analogie“ verstanden werden, mit der ein äußeres Phänomen in den Innenraum des Bewusstseins verlagert würde. Der phänomenologische „Sinn von Horizont“ müsse eine „Verbindung mit dem Horizont, der Erde und Himmel verbindet“, behalten. (2010, 134) Dieser Anspruch soll dadurch eingelöst werden, dass die Horizontstruktur der Erfahrung nicht durch das Zeitbewusstsein oder die Zeitlichkeit des Daseins, sondern als dynamische Räumlichkeit erläutert wird. Philosophiehistorisch geht der Vorrang der Zeit vor dem Raum vor allem auf Kant zurück, der den Schematismus der Einbildungskraft als „transzendentale Zeitbestimmung“ (KrV A 138/B177; 2019, 14 f.; 164) definiert. Diese Überlegung insinuiert für Sallis erneut einen problematischen Internalismus, den eine phänomenologische Beschreibung von Horizontphänomenalität überwinden muss: „Gibt es jedoch keine inneren Vorstellungen von den Dingen, erweist sich auch die Behauptung als grundlos, die Zeit sei Bedingung äußerer Erscheinungen, weil sie die Form des inneren Sinns sei. Der Vorrang der Zeit vor dem Raum ist damit unhaltbar geworden.“ (2019, 165) Sallis will daher nicht von einem transzenden-
352 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität talen Schema, sondern von einem „Erscheinungsschema“ (manifestive schema) sprechen. Die Vermittlung von Sinnlichem und Intelligiblem durch solche Schemata ist keine Leistung der transzendentalen Subjektivität, sondern Effekt des primordialen räumlichen Sinngeschehens: Ein Erscheinungsschema umgrenzt den Raum, der sich vom Sinnlichen aus öffnet. Damit kommt es zu einer Umkehrung der Kantischen Bestimmung: Das Schema ist kein Drittes, sondern dasjenige, das den Raum zwischen den Gegenständen der Sinne und deren Bedeutung ermisst. Der Raum, nicht das Schema, fungiert als das Zwischen, als eine Art dritter Gattung. (2019, 169)
Damit deutet Sallis Erkenntnisse Merleau-Pontys (→ 11) und der Gestaltpsychologie über Wahrnehmung: Wenn etwas zum Beispiel je nach Distanz und Perspektive entweder als Kreis oder als Ellipse erscheint, so gehören diese beiden Frontalbilder zur „horizontalen Reserve“ (horizontal reserve) des erscheinenden Gegenstandes. Schon Husserls Analyse der Horizontintentionalität hat gezeigt, dass gegenständlicher Sinn sich erst innerhalb eines Spektrums möglicher Erfahrungen konstituiert. Sallis geht durch die Beschreibung der Erscheinungsschemata jedoch über Husserl insbesondere dadurch hinaus, aus der Horizontphänomenalität Konsequenzen für die Eidetik zu ziehen. Die dynamische Räumlichkeit des erscheinenden Gegenstandes, sein spacing, umfasst jene Standpunkte und Perspektiven, die ‚Kreis‘ und ‚Ellipse‘ als proto-begriffliche Schemata definieren. Das Projekt einer Eidetik ist daher nur in der Untersuchung solcher manifestativen Schemata durchführbar: Die Strukturierung möglicher Erscheinungsweisen ist ein „umkonfiguriertes eidos“, in welchem die eidetischen Gehalte in die Horizonte „versetzt und verstreut“ sind. (2010, 144) Insbesondere in Logik der Imagination werden verschiedene Formen einer solchen schematischen Vorzeichnung aktualer Erfahrung in der Einbildungskraft unterschieden. (2019, 137–184) Auch die einschlägigen phänomenologischen Analysen von Horizontphänomenalität deutet Sallis als genuin räumliche: Die Veränderung von Qualia durch Schattenwurf oder Verweisungszusammenhänge, wie sie Heidegger in der Analyse des ‚Zeug‘ beschreibt, (GA 2, 85–152) ergeben sich nur in einer dynamischen räumlichen Relation verschiedener Gegenstände. Der phänomenale Raum enthält jedoch nicht nur (intentionale) Objekte und (transzendentale) Subjekte. Sallis ergänzt die Beschreibung von Horizontphänomenalität um eine Phänomenologie der elementaren Natur, an welcher die räumliche Dynamik des in der Einbildungskraft erfahrenen Sinns am deutlichsten hervortrete (2010, 183–226): Jedes Einzelding ist nicht nur in lebensweltliche Zusammenhänge, sondern auch in eine natürliche Umgebung, etwa eine spezifische Landschaft, Wetter- und durch Tag und Nacht mitbestimmte Lichtverhältnisse eingebettet. Neben der direkten, aber punktuellen Präsenz des Frontalbilds und der unmittelbar auf den Gegenstand bezogenen Horizontphä-
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nomenalität von Seiten- und Umgebungshorizont stellen diese Zusammenhänge des „Elementaren“ (the elemental) eine „dritte Art des Sichzeigens“ da. (2019, 174) Zum Elementaren gehören insbesondere auch kosmische Phänomene, die in Logik der Imagination deshalb zum Probierstein der phänomenologischen Metaphysik werden. (2019, 239–274) Während sich Husserls Beschreibung von Außenhorizonten als gegenseitige Lokalisierung von Objekten untereinander und gegenüber Subjekten bis zum „Universalhorizont“ (Hua VI, 147) der Welt erweitert, macht Sallis mit der Hervorhebung von elementarer Phänomenalität darauf aufmerksam, dass Zusammenhänge der elementaren Natur auf Manifestationsprozesse wesentlich einwirken. Diese Wirkung lässt sich jedoch nicht mehr als Wechselwirkung zwischen Objekten beschreiben, sondern besitzt eine andere phänomenale Struktur, die Sallis als „Umfassen“ (encompassing) von Erfahrungssubjekt(en) und -objekt(en) gleichermaßen beschreibt: Die räumliche Struktur der Elemente ist ein Umfassen: sie umfassen sowohl die Dinge, die sich zeigen, als auch jene, denen diese Dinge sich zeigen. Heftiger Regen umfasst eine ganze Weite, umfasst die Dinge in ihrer ganzen Weite. […] Weil der Regen umfassend ist, die räumliche Struktur des Regens das Umfassen ist, lässt sich vor ihm nicht flüchten, und es bleibt nur, Schutz zu suchen. (2019, 174 f.)
Auch wenn Sallis diese Konsequenz nicht explizit zieht, ist mit dieser Überlegung der Sache nach eine Beschreibung dessen gegeben, was andere phänomenologische Positionen als ‚Welt‘ bezeichnen. Elementare Naturphänomene und -räume werden zum Paradigma einer Phänomenologie der Welt, deren genuine Erscheinungsweise für den Menschen im ‚Umfasst-Werden‘ durch die Natur zu suchen wäre. Dadurch wird der erst-personale Zugriff auf die Phänomene nicht zugunsten der Perspektive der dritten Person abgewertet, allerdings ergibt sich ein verändertes Verständnis dieses Zugangs sowie des Erscheinens als solchen, sobald nicht nur lebensweltliche, sondern auch natürliche und sogar kosmische Phänomene bei dessen Beschreibung berücksichtigt werden sollen.
17.4 Imaginierende Subjektivität In den Formen der Erscheinung elementarer Natur ist für Sallis die primäre Strukturierung der Wirklichkeit zu suchen. Sallis greift auf verschiedene Quellen aus Literatur und bildendender Kunst zurück, um die phänomenologische Beschreibung dieser Erscheinung anzureichern: Neben Shakespeare, auf dessen Dramen in Einbildungskraft und Logik der Imagination immer wieder Bezug genommen wird, kommt vor allem Autoren der englischen Romantik (William Blake, John Keats, Percy Shelley, Samuel Coleridge) eine besondere Bedeutung zu, da diese Einbildungskraft als Grundbestimmung menschlicher Existenz
354 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität reflektieren. Zu den Beispielen aus der Malerei zählt Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer. Das Gemälde dient Sallis als Beleg dafür, dass der primäre Zugang zur elementaren Natur affektiv und vorbegrifflich ist. (2019, 180 f.) Die Romantik wird so zur ideengeschichtlichen Alternative zum neuzeitlich-modernen Rationalismus, dessen epistemologische und metaphysische Dilemmata zu überwinden die Phänomenologie angetreten ist. Sallis’ Berufung auf Werke der Romantik lässt sich deshalb durch die Absicht erläutern, ein Verständnis von Subjektivität zu entwickeln, das prä-rationale Weltzugänge in den Vordergrund stellt. Anhand der Darstellungen der Erfahrung elementarer Natur lasse sich zeigen, dass die primäre Form der Welterfahrung, die mit dem Schema des ‚Umfasst-Werdens‘ umrissen ist, weder perzeptiv noch kognitiv, sondern imaginativ ist. (2019, 181) Durch diese Überlegung wird die These (→ 17.1) eingeholt, Sinnerfahrung zeichne sich durch Indifferenz insbesondere hinsichtlich der Trennung von Subjekt und Objekt aus: Auf der Ebene des primären Weltzugangs in der Einbildungskraft erfahren wir uns je schon als Teil der in der Einbildungskraft erschlossenen und durch die räumlichen Erscheinungsschemata geprägten Welt. Wie dieses elementare In-der-Welt-sein aus der Perspektive der ersten Person erfahren wird, erläutert Sallis am Beispiel der Erfahrung der elementaren Natur, wie sie etwa auf Friedrichs Wanderer dargestellt ist. Naturerfahrung eröffnet „etwas Elementares in uns […], unsere eigenen Elemente im Unterschied zu den Elementen der Natur“. (2019, 183) Diese Beschreibung zieht die Konsequenz aus der Beobachtung, dass die Emergenz imaginativen Sinns in der Einbildungskraft nicht als subjektives Vermögen bestimmt werden kann. Vielmehr setzt umgekehrt die Konstitution von Subjektivität das „Am-Werk-Sein [der Einbildungskraft, T. K.] im Entwerfen der Konfiguration des Sichzeigens [being at work in drafting the configuration of self-showing]“ voraus, was auf die Frage führt, „wie das Seiende, das Seele, Subjekt, usw. genannt worden ist, neu gedacht werden muss, nun, da sein Verhältnis zur Einbildungskraft nicht mehr als Besitzverhältnis gedacht werden kann“. (2010, 180) Für die Beantwortung dieser Frage ist entscheidend, mit Blick auf die Imagination eine weitere metaphysische Unterscheidung zu modifizieren, nämlich die Unterscheidung von Aktivität und Passivität, welche dem Bereich (freier) Subjekte einerseits, der (nomologisch) determinierten Welt andererseits zugeordnet werden. Fokus dieser Diskussion ist der Begriff der Kraft (force), den Sallis wiederum mit Verweis auf die Einbildungskraft (force of imagination) diskutiert. Während Descartes Natur allein durch Extension definiert sieht, betont Sallis mit Verweis auf Leibniz, dass nicht nur Ausdehnung, sondern auch „Kraft wesentlich zur Konstitution der Dinge gehört“ und ihre „substanzielle Form“ ausmacht. ‚Kraft‘ ist daher nicht nur eine physikalische Größe, sondern eine genuin phänomenologische Kategorie, die sich in der Imagination manifestiert. Die phänomenologische Bestimmung der „Kraft der Einbildungskraft“ nimmt ihren Ausgang dabei ebenfalls in der Horizontphänomenalität. In Modifika-
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tion von Husserls Bestimmung, Zeitbewusstsein konstituiere sich durch Akte der Retention und Protention, (→ 1.8) beschreibt Sallis die „Kraft, mit der und durch die die Einbildungskraft selbst die Horizonte vorzeichnet“, als Retraktion (retraction) und Protraktion (protraction) von Sinnhorizonten. Da dynamische Horizontstrukturen eine kontinuierliche Modifikation phänomenaler Präsenz bewirken, ist Kraft phänomenologisch als kontinuierlicher Bewegungseffekt der Einbildungskraft zu bestimmen. Analog der physikalischen Beschreibung von Kräften ist diese Kraft phänomenal „vektoriell“: „Sie ist nur als ausgeübte, indem sie die Protraktion und Retraktion der Horizonte bewirkt.“ (2010, 165 f.) Sallis grenzt diesen Gedanken insbesondere von der aristotelischen Opposition und Hierarchisierung von Wirklichkeit (energeia) und Möglichkeit (dynamis) ab. Im Anschluss an Heideggers Aristoteles-Deutung kritisiert Sallis, die Kategorie der Wirklichkeit werde von Aristoteles zu eng am Beispiel der Herstellung (poiesis) entwickelt. Sie könne daher nur als „Vollendung der Herstellungsbewegung“ gedacht werden, in der das Werk (ergon) zu stabiler Präsenz gelange, die in der Idee (eidos) als intelligibler Herstellungsanweisung vorgeprägt gewesen ist. (2010, 168) Die Ablehnung von Herstellung als Modell für die Bestimmung eines metaphysischen Wirklichkeitsbegriffs hat insbesondere Konsequenzen für Sallis’ Verständnis menschlichen Handelns. Denn die primordiale Eingebundenheit in die Welt, welche als Wirken der Einbildungskraft erfahren wird, sorgt dafür, dass sich aus der dynamischen Modifikation des Erscheinenden Handlungsmöglichkeiten ergeben und verändern. Seiten- und Umgebungshorizonte eröffnen die Möglichkeit, etwas aus einer anderen Perspektive (in einem anderen Frontalbild) zu sehen oder etwas zu einem bestimmten Zweck (innerhalb eines Umgebungshorizonts) zu gebrauchen. Das Objekt wird hier „aufgefasst als etwas, mit dem man eine bestimmte Art von Arbeit ausführen kann“. Nicht die abstraktallgemeine Idee des fertigen Produkts, sondern die Affordanzen des praktischen Umgangs definieren mithin eine jeweils spezifische „Möglichkeit, die konkret das eigene Sichbefassen mit dem Werkzeug bei der Arbeit ausrichtet“. (2010, 250) Trotz dieser Aufnahme von Heideggers Beschreibung des Umgangs mit ‚Zeug‘ ist der primäre Weltbezug in der Imagination keineswegs allein oder vorrangig praktisch oder spontan. Vielmehr betont Sallis, eine Haltung der Aufmerksamkeit oder der „Wache“ (watch) müsse der Identifikation und Realisierung von Handlungsmöglichkeiten voraufgehen. Das wird insbesondere in Entscheidungssituationen und praktischer Überlegung (deliberation) deutlich, in der Handlungsmöglichkeiten aus der „Szene des Sichzeigens“ herausgenommen und verschiedene Handlungsoptionen „in der Schwebe“ gehalten werden – wozu Einbildungskraft nötig ist. Im „Freisetzen von Möglichkeiten“ durch die Einbildungskraft wird „nicht nur das Feld der Erwägung geöffnet […], sondern zugleich der Schauplatz der Handlung [theatre of action]“. Erst durch Imagination werden mithin konkrete Handlungsmöglichkeiten erschlossen. Eine inten-
356 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität tionale, „überlegte Handlung [deliberative action]“ zielt entsprechend darauf, „dasjenige in seiner konkreten Bestimmtheit geschehen zu lassen, wovon eine Möglichkeit eine Möglichkeit ist“. (2010, 252) Eine solche Vorordnung der Einbildungskraft vor das Handeln vermeidet nach Sallis’ Verständnis nicht nur die metaphysische Angleichung des Handelns an das Herstellen, sondern auch die Trennung von Theorie und Praxis. Dadurch korrigiert sie die aristotelische Metaphysik und Handlungstheorie in zwei entscheidenden Punkten. Subjektivität ist damit für Sallis weder durch einen epistemischen Vorrang ausgezeichnet, als Instanz gewissen Wissens, noch durch einen pragmatischen Vorrang, als Instanz spontaner Wirklichkeitsveränderung. Vielmehr ist die imaginative Einbindung des Subjekts in die Welt durch die Einbildungskraft so radikal, dass sich kein Erfahrungsbereich angeben lässt, der ausschließlich als Selbsterfahrung der ersten Person zu beschreiben wäre. Sallis lehnt implizit offenbar auch ein präreflexives ‚minimales Selbst‘ (Zahavi 2005) ab, wenn er affirmativ die Bemerkung Humes zitiert: „Niemals treffe ich mich ohne Perzeption an und niemals kann ich etwas anderes beobachten als eine Perzeption“. (2010, 256) Aufgrund der Konnotation von Gewissheit, Spontaneität und Innerlichkeit vermeidet Sallis den Ausdruck „Selbst“ (self ) und will stattdessen von der Konstitution des „Eigenen“ oder des „Eigentümlichen“ (propriety) als einem Moment des imaginativen Sinngeschehens unter anderen sprechen. (2010, 243–263) Es sind elementare Strukturen, welche durch das Wirken der Einbildungskraft den „Raum des Eigenen“ (2019, 185–211) primär bestimmen. Zu den das ‚Eigene‘ beeinflussenden elementaren Grundstrukturen gehören insbesondere die Unverfügbarkeit des affektiven und psychischen Erlebens, wie sie paradigmatisch im Traum erfahren wird, sowie Sterblichkeit und Natalität. In der Beschreibung der letzteren folgt Sallis weitgehend den einschlägigen Analysen Heideggers und Arendts, betont jedoch, dass sich ein Verhältnis zur eigenen Geburt und zum eigenen Tod nur durch Imagination aufbauen lasse. (2019, 225–238) Sallis erweitert diese Beschreibungen um die These, das eigene bewusste Leben sei durch die unverfügbare „Abgeschiedenheit“ (seclusion) des Unbewussten gekennzeichnet. Zur Beschreibung dieser vor-bewussten Bedingtheit menschlicher Existenz greift Sallis zum einen auf die Psychoanalyse Freuds zurück, wobei die für das Unbewusste kennzeichnenden Mechanismen als Effekte der Einbildungskraft gedeutet werden. Im manifesten Trauminhalt übersetzen, wie Freud selbst bemerkt, räumliche und zeitliche Relationen die logischen Beziehungen zwischen Traumgedanken. (2019, 102–120; 223) Sallis’ zweite Quelle für die Beschreibung der Unverfügbarkeit des eigenen (psychischen) Erlebens ist die an Hegels Bemerkung vom „nächtlichen Schacht“ (2019, 207) der Erinnerung anschließende Diskussion bei Derrida (1972) und Bataille (1999). Auch hier erweist sich die vor-bewusste Genese semantischer Beziehungen als Verbindung spontaner Rationalität und Unverfügbarkeit, was Sallis wiederum als Wirkung der Einbildungskraft erläutert. Dabei betont Sallis,
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elementare Phänomene menschlichen Lebens wie Tod und Geburt seien zwar durchaus als leibliche zu verstehen. Allerdings wertet er die Abgrenzung des Leiblichen oder Körperlichen vom Seelischen oder Geistigen als weiteren problematischen metaphysischen Dualismus, der erst durch die Phänomenologie der Einbildungskraft überwunden werde. Der Leib dürfe nicht, spiegelbildlich zur „Innerlichkeit […], die das genuine Selbst ausmacht“, als bloßer „Behälter des Bewusstseins“ gedeutet werden. Auch „die Rede von Verkörperung (embodiment)“ setze jedoch noch „fast ausnahmslos diese Deutung voraus, denn das Wort selbst impliziert, dass etwas dem Leib gänzlich Fremdes diesen in Besitz nimmt. Ist der Begriff des Bewusstseins nicht länger maßgeblich, kann auch die Frage nach ‚dem Leib‘ außerhalb der Gegenüberstellung zum Bewusstsein neu gestellt werden.“ (2019, 224) Wie genau, hat Sallis (noch) nicht ausgeführt.
17.5 Unendlichkeit, Ferne, Leere Die spezifische Deutung des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit als Effekt der Einbildungskraft ist eine der metaphysischen Implikationen von Sallis’ Phänomenologie der Imagination und der sich daraus ergebenden Umdeutung von Subjektivität. Eine zweite entscheidende Implikation ergibt sich aus seiner Diskussion des Unendlichen in Logik der Imagination. Sallis orientiert sich hier an der Entdeckung transfiniter Zahlen in der modernen Mathematik und macht sie unter anderem zur Grundlage einer phänomenologischen Kosmologie. Dabei will Sallis, im Unterschied zur These Meillassoux’, die Entdeckung des Transfiniten widerlege die metaphysischen Prämissen der Phänomenologie, (Meillassoux 2008) Cantors Entdeckung in die Phänomenologie integrieren. Sie zwinge jedoch dazu, die philosophische Diskussion von Unendlichkeit zu erweitern: Es gebe nicht nur die lineare Progression als ‚schlechte Unendlichkeit‘, von der Hegel die spekulative Unendlichkeit als „den Begriff der wahren Unendlichkeit“ (2019, 188) unterscheidet. Cantors Entdeckung überabzählbarer Mengen in der Mathematik motiviert vielmehr dazu, auch in der phänomenologischen Metaphysik einen weiteren Begriff des Unendlichen anzunehmen. Diesen „dritten Begriff des Unendlichen“ zeichnet seine Indefinitheit aus, weswegen Sallis sie auch als das „unbestimmt Überschreitende“ (indefinitely exceeding) bezeichnet. Aufgrund dieser Unbestimmtheit bricht diese Konzeption des Unendlichen „mit der Abstraktheit des Begriffs eines endlosen Progresses ebenso wie mit der Geschlossenheit des spekulativen Begriffs“. Während Hegel die spekulative Unendlichkeit in einem ‚Kreis von Kreisen‘ exemplifiziert sieht, schlägt Sallis als Sinnbild für die transfinite Unendlichkeit eine andere geometrische Figur vor: „Dieser Begriff ist sowohl konkret als auch offen und daher weder auf die Figur einer Geraden noch auf die eines Kreises zu reduzieren. Der konkrete und offene Begriff bildet vielmehr, schematisch betrachtet, den Brenn-
358 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität punkt einer Ellipse, die mit dem Endlichen zur Spirale mutiert“. (2019, 201) Die fraktale Geometrie lässt sich als Versuch einer geometrischen Bestimmung der Ausdehnung dieses Unendlichen verstehen. (2019, 175–177) Diese Kategorie des „unbestimmt Unendlichen“ erlaubt es Sallis, seine These der radikalen Eingebundenheit des Subjekts in elementare Erscheinungsdynamiken metaphysisch einzuholen. Denn diese Form des Unendlichen gewinnt phänomenale Präsenz in zwei Bereichen, die in der modernen Epistemologie und Metaphysik üblicherweise getrennt betrachtet werden, historisch aber zwei Disziplinen der metaphysica specialis darstellen: zum einen in der Beschreibung der Seele bzw. des Selbst oder der Subjektivität, zum anderen in der Kosmologie. In beiden Fällen handelt es sich für Sallis um Erfahrungen des Elementaren, deren phänomenale Konkretion sich durch die dritte Art der Unendlichkeit kennzeichnen lassen. So ist der Grundzug der Abgeschiedenheit, der die individuelle Subjektivität ausmacht, (→ 17.4) eine Erscheinungsform des unbestimmt Unendlichen ‚im‘ Subjekt: Die Abgeschiedenheit ist unendlich. Sie ist nicht das Unendliche, denn es gibt, wie in der Mathematik, kein einfaches Unendliches, es gibt mehr als eine Art des Unendlichen. Sie ist daher ein Unendliches, dessen Unendlichkeit von jener des Elementaren in der Natur zu unterscheiden ist. (2019, 212)
Als phänomenalen Grundzug dieser negativen Selbsterfahrung identifiziert Sallis die Erfahrung von Tiefe (depth). Philosophiegeschichtlich greift Sallis hier auf Schellings Beschreibung eines ‚ursprünglich Regellosen‘ am Grunde der Subjektivität und andere Beschreibungen der Abgründigkeit menschlicher Existenz ebenso zurück wie auf Heideggers Diskussion von ‚Verborgenheit‘ als Grundkategorie phänomenaler Absenz. Auch die Figur einer doppelten Verbergung (Nichtwissen bezüglich des Faktums der Absenz) übernimmt Sallis von Heidegger, deutet sie aber als Erscheinungsform des Unendlichen im Menschen: „Als unendliche übersteigt die Abgeschiedenheit das Eigene in unbestimmter Weise; ihre Exorbitanz liegt in Richtung der Tiefe, die, sich verschließend, doppelt abgründig ist.“ (2019, 212) Denselben phänomenalen Grundzug der Ferne entdeckt Sallis auch in der Erfahrung kosmischer Phänomene. Dadurch ergibt sich eine radikale Erweiterung des phänomenologischen Forschungsfeldes auf die Kosmologie. Programmatisch beendet Sallis seine Logik der Imagination mit einer „elementaren Kosmologie“, (2019, 239–274) die sich im historischen Durchgang durch die Geschichte der Astronomie an der sukzessiven Erweiterung des Blicks in die Ferne des Weltalls, dem immer weiter reichenden „kosmischen Blick“ (cosmic vision) orientiert. Während phänomenologische Wissenschaftstheorie im Anschluss an Husserls Krisis (Hua VI) wissenschaftliche Erkenntnis typischerweise im Rekurs auf lebensweltliche Phänomene und Praktiken zu erläutern sucht, möchte Sallis Merkmale kosmischer Phänomene in ihren Implikationen für den
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Phänomenbegriff, die phänomenologische Methode und Metaphysik ernst nehmen. Die technische Verbesserung des Blicks in den Kosmos in der Geschichte der Astronomie seit Galileo stellt daher keine Alternative zum oder eine problematische Technisierung des phänomenologischen Wirklichkeitszugangs dar. Ebenso wie einen Vorrang des Idealen vor dem ‚bloß‘ Empirischen (→ 17.1) und einen ontologischen, epistemischen oder pragmatischen Vorrang von Subjektivität (→ 17.4) lehnt Sallis auch einen Vorrang des sublunaren Phänomenbereichs mesoskopischer Objekte für eine phänomenologische Beschreibung ab. Damit geht Sallis implizit auf Distanz zu Überlegungen Husserls im Manuskript über den Umsturz der kopernikanischen Lehre, (Husserl 1940) in dem am Beispiel von Bewegungen relativ zur Erde genau ein solcher Vorrang lebensweltlicher vor astronomischen Erfahrungsmodi artikuliert wird. Vielmehr kommt es für Sallis darauf an, beide Zugangsweisen gleichermaßen zu berücksichtigen, ohne eine von beiden zu privilegieren: den staunenden Blick in den Nachthimmel ohne technische Hilfsmittel einerseits und das astronomische Wissen über das Gesehene andererseits. Da es sich in beiden Fällen um in der Einbildungskraft entstehende Phänomenalität handelt, wird es zur Aufgabe einer elementaren Kosmologie, die „Konjunktion des eigentlich Unvereinbaren“ nicht nur zu konstatieren, sondern konkret zu zeigen, „wie diese entgegengesetzten Momente zusammengehalten werden, wie die elementare Natur und ihr kosmologisches Supplement in ihrer Unterschiedlichkeit verbunden werden“. (2019, 247) Diese Aufgabenstellung läuft auf eine Erneuerung kosmologischer Fragestellungen in der Kontinentalphilosophie hinaus. Unter dem Schlagwort einer „kosmologischen Wende“ (2012b) fordert Sallis eine Erweiterung der Phänomenologie auf diesen bei den klassischen Phänomenologen nicht diskutierten Phänomenbereich. Sallis erschließt diesen anhand der Geschichte der Naturphilosophie, Astronomie und Physik und greift dabei insbesondere auf die Arbeiten Alexandre Koyrés (2008) zurück. Metaphysische Konsequenzen ergeben sich insbesondere für das Verständnis von Raum und Zeit. Denn der kosmische Blick ist nicht mehr durch deren Gleichordnung als Anschauungsformen des Subjekts oder einen Vorrang der Zeit, sondern durch die konstitutive Verschränkung von Raum und Zeit in kosmischen Phänomenen ausgezeichnet, wie sie die theoretische Physik beschreibt und die Astrophysik beobachtet: Im Falle von sehr weit entfernten Objekten blickt der Beobachter ebenso weit in die Vergangenheit des Kosmos zurück. […] Der Raum wird verzeitlicht. Umgekehrt lässt sich jedoch genauso sagen, dass die Zeit dem Raum unterworfen wird, denn der Betrachter, dessen Blick eine räumliche Entfernung durchmisst, schaut auch in die Vergangenheit und damit durch die Zeit hindurch: Die Zeit ist verräumlicht. Der kosmische Blick erfasst, kurz gesagt, das konkrete Geschehen der Raumzeit. (2019, 263 f.)
Sallis zitiert in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Einsteins zum Wirklichkeitsverständnis der Relativitätstheorie: „Nicht der Raumpunkt, in dem etwas geschieht, nicht der Zeitpunkt, in dem etwas geschieht, hat physikalische
360 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität Realität, sondern nur das Ereignis selbst.“ (2019, 264) Der Blick auf die Lichtpunkte des Nachthimmels, angereichert durch astronomisches Wissen, bestätigt damit Sallis’ Überlegungen zum spacing des Elementaren als primärer Strukturform des Erscheinenden. (→ 17.3) Auch in Bezug auf die Konzeption des Raums motiviert dieser Blick die Zurücknahme einer Spielart der metaphysischen Opposition zwischen Intelligiblem und Sinnlichem. Während Newton eine „Ablösung“ (absolution) des homogenen und unbewegten physikalischen Raums von konkreten Körpern beschreibe, den absoluten Status des Raums jedoch nur spekulativ durch die Omnipräsenz Gottes begründen könne, bestätige der kosmische Blick eine Konzeption des „nicht-absoluten Raums“: (unabsolved space, 2019, 252–266) Der Raum, in seiner Verbindung mit der Zeit, [wird] den Wirkungen der Materie ausgesetzt. […] Durch die Gravitation massehaltiger Körper werden die Räume, verbunden mit der Zeit, in Bewegung versetzt, sie werden ihrerseits verräumlicht. Der Raum wird energetisiert, so dass er sich selbst verräumlicht, in einer räumlichen Dynamik, die jedem Bewegungsvorgang und jeder Ruhelage innerhalb der Raumzeit voraufgeht. (2019, 265 f.)
Da es kein „göttliches Sensorium“ (2019, 257 f.) gibt, für welches der Newton’sche Raum gegeben sein könnte, lehnt Sallis die Vorstellung einer gänzlich leeren und unbewegten Raumordnung ab. Während etwa Conrad-Martius (→ 2.4) versucht, den Glauben an einen christlichen Gott mit Erkenntnissen der Quantenphysik zu vereinbaren, distanziert sich Sallis von einem solchen metaphysischen Projekt, wenn er die Berücksichtigung von Erkenntnissen der Astronomie in der Phänomenologie fordert: Die astronomische Beschreibung des Vakuums als geringstem energetischen Zustand des Raumes (dunkle Energie) spreche eher dafür, mit antiken Begriffen gesagt, die Möglichkeit der absoluten Leere (kenon) zugunsten eines noch nicht eidetisch determinierten Raums (chora) abzulehnen. Die elementare Kosmologie, die Sallis projektiert, könne daher als Erneuerung der in Platons Timaios und daran anschließenden Diskursen entwickelten „Chorologie“ (1999) im Rückgriff auf Erkenntnisse der neueren Astrophysik begriffen werden. Diese ließen vermuten, dass es im Begriff des Raumes liegt, immer schon von elementaren Formen wie der dunklen Energie strukturiert zu sein. Der Raum ist je schon von solchen Formen durchdrungen, womöglich in einem Maß, das letztlich ohne diese Energie nicht vorstellbar ist. […] Diese Energetisierung des Raums macht die Newtonsche Bestimmung des absoluten Raums als unbewegt jedoch problematisch. Denn wenn die dunkle Energie eine negative Kraft, eine Abstoßungskraft erzeugt, dann würde aus der intrinsischen Verbindung von Kraft und Bewegung folgen, dass der Raum als solcher, der energetische Raum, immer schon mit Bewegung verbunden ist. (2019, 263)
Eines der ersten Ziele der von Sallis projektierten philosophischen Kosmologie müsste daher eine phänomenologische Klärung des Begriffs der Energie sein, den Sallis hier nicht weiterverfolgt.
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17.6 Phänomenologie als Phänomenologie der Natur Die große Bandbreite der von Sallis diskutierten Phänomene (von Traumdeutung bis Astronomie) und philosophie- und kulturgeschichtlichen Bezugspunkte (von Heraklit bis Bataille) macht eine Einschätzung und Bewertung seines Entwurfs einer phänomenologischen Metaphysik schwierig. Der eigenwillige Stil erschwert Verständnis (und Übersetzung) seiner Schriften zusätzlich. Dennoch lassen sich mit Blick auf die Geschichte der Phänomenologie und in systematischer Hinsicht einige Grundzüge markieren: Vor allem in seinen wiederholten Dekonstruktionen metaphysischer Opposition schließt Sallis aufs engste an die Metaphysik-Kritik Heideggers und Derridas an, übernimmt aber weder Heideggers Entwurf eines seinsgeschichtlichen Ereignisdenkens noch Derridas ‚quasi-transzendentale‘ Metaphysik der Zeichen-Iteration. (Doyon 2010) Auffällig ist vielmehr die Umorientierung der Analysen auf Phänomenbereiche, die sich mit dem Stichwort der Natur benennen lassen. Zum Leitphänomen der phänomenologischen Metaphysik werden insbesondere elementare Naturvorgänge und Naturphänomene außerhalb des Labors. Die Aufwertung der Einbildungskraft zur primären Form des Wirklichkeitsbezugs, mit der Sallis’ eigene Arbeiten werkgeschichtlich beginnen, erweist sich in neueren Arbeiten darin als produktiv, solche Naturphänomene im eminenten Sinne in die phänomenologische Philosophie integrieren zu können. Daher erscheint es plausibel, als Zielsetzung von Sallis’ phänomenologischer Metaphysik eine Phänomenologie der Natur anzunehmen, welche einen zum Naturalismus in der Wissenschaftsphilosophie alternativen Versuch einer ‚Rückkehr zur Natur‘ darstellt. (2016) Der Ansatz ist daher auch im Kontext der Debatte um eine Naturalisierung der Phänomenologie rezipiert worden. (Winkler 2017) Als zentral, aber zugleich problematisch erscheint die damit einhergehende Modifikation und Erweiterung des Phänomenologieverständnisses. (→ 17.1) Sallis macht selbst darauf aufmerksam, dass sein Versuch, auch dunkle Materie und dunkle Energie im Rahmen seiner phänomenologischen Metaphysik zu berücksichtigen, den Anspruch der Phänomenologie, eidetisches Wissen zu generieren, unterläuft. Denn wie kann es einen eidetischen „Anblick“ (look, 2019, 121–136) von etwas geben, dessen konstitutives Merkmal es ist, sich nicht zu zeigen und ‚dunkel‘ zu bleiben? Da sie sich der eidetischen Ordnung, wie sie uns aus der Lebenswelt bekannt ist, nicht fügen, scheinen solche Phänomene derart „hypermonströs“, dass „jede Homogenität mit der Natur“ in Frage steht, solange unter ‚Natur‘ eine Ordnung von Wesensbestimmtheit verstanden wird. (2019, 260) Dass Sallis (noch) keinen eigenen Naturbegriff entwickelt hat, macht die Schwierigkeit deutlich, die mit der Radikalität der Erweiterung der Phänomenologie von einer Metaphysik der intersubjektiven Erscheinung mesoskopischer Objekte auf eine Kosmologie der „kosmischen Elemente“ (cosmic elementals, 2019, 269) einhergeht. Dennoch liegt genau das in der Konsequenz seiner Überlegungen.
362 17. John Sallis – Metaphysik der Ambiguität Sallis macht darauf aufmerksam, dass die Alterität kosmischer Phänomene vor allem dadurch entsteht, dass diese keine Horizontphänomenalität aufweisen. Dadurch werde auch der phänomenologische Begriff von Objektivität problematisch, da intersubjektive Horizontintentionalität die phänomenale Konkretion objektiven Wissens darstellt. Husserls Projekt in der Krisis, (Hua VI) durch die Analyse der Struktur der Lebenswelt, wie Sallis schreibt, „die ursprüngliche Konstitution des Objektiven und der ihr korrelativen subjektiven Aktivität, durch welche eine objektive Welt entsteht“ zu beschreiben, lässt sich auf kosmische Phänomene nicht erweitern, da diese sich nicht objektivieren ließen: Die dunkle Materie kann niemals als etwas Objektives festgestellt werden, das einem Subjekt gegenüber steht, vor allem insoweit sie aus nicht-baryonischer Materie besteht, also aus anderen Teilchen als den Protonen und Neutronen, aus denen Atomkerne zusammengesetzt sind. Flüchtige Phänomene wie die dunkle Energie und die schwarzen Löcher widersetzen sich noch entschiedener dem Diktat der Verobjektivierung. (2019, 267)
Das von Husserl ausgegebene Ziel der Phänomenologie, „objektive Wahrheit verständlich [zu] machen und den letzten Seinssinn der Welt erreichen“ (Hua VI, 70, zit. 2019, 267) erweise sich daher besonders angesichts der kosmischen Phänomene als zu eng. Welche Konsequenzen technische Fortschritte etwa in der Radioastronomie zur Sichtbarmachung genau dieser Phänomene für das Verständnis von Phänomenalität haben, bleibt jedoch fraglich. Es könnte sein, dass das Ziel der Phänomenologie trotz der Schwierigkeiten der ‚Präsenzmetaphysik‘ und aller Erweiterung des ‚kosmischen Blicks‘ nichtsdestotrotz als Explikation des wirklichen Sinns der Welt zutreffend bestimmt ist. Was nichts daran ändert, dass Sallis zu Recht darauf aufmerksam macht, dass eine phänomenologische Metaphysik ohne eine Phänomenologie der elementaren Natur, der Kraft, der Energie und des Kosmos unvollständig bleiben muss. John Sallis Geboren 1938. Studium der Mathematik und der Philosophie an der Tulane University in New Orleans, dort Promotion 1964 mit einer Arbeit zum Weltbegriff bei Heidegger. Verschiedene Professuren in den USA, seit 2005 Lehrstuhl für Philosophie am Boston College. 2005 Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg.
Literatur Sallis, John (1964), The Concept of World. A Study in the Phenomenological Ontology of Martin Heidegger, New Orleans, URN: nbn:de:bsz:25-opus-94623. – (1973), Phenomenology and the Return to Beginnings, Pittsburgh, PA.
Tobias Keiling 363 – (1995), Delimitations, Phenomenology and the End of Metaphysics, 2. Aufl., Bloomington, IN. – (1996), Being and Logos. Reading the Platonic Dialogues, 3. Aufl., Bloomington, IN. – (1999). Chorology. On Beginning in Plato’s Timaeus, Bloomington, IN. – (2000), Force of Imagination. The Sense of the Elemental, Bloomington, IN. – (2007), The Verge of Philosophy, Chicago, IL. – (2010), Einbildungskraft. Der Sinn des Elementaren, Tübingen. – (2012), „The Import of Intentionality“, Heidegger-Jahrbuch 6, 187–199. – (2012a), Logic of Imagination. The Expanse of the Elemental, Bloomington, IN. – (2012b), „The Cosmological Turn“, Journal of Speculative Philosophy 26/2, 152–162. – (2012c), Heidegger und der Sinn von Wahrheit, Frankfurt a. M. – (2016), „Return to Nature“, International Journal of Philosophical Studies 24/3, 381– 392. – (2019), Logik der Imagination. Die Weite des Elementaren, Tübingen. Bataille, Georges (1999), Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I), übers. v. Gerd Bergfleth, Berlin. Derrida, Jacques (1972), Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt a. M. – (2003), Die Stimme und das Phänomen, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a. M. Doyon, Maxime (2010), Der transzendentale Anspruch der Dekonstruktion. Zur Erneuerung des Begriffs ‚transzendental‘ bei Derrida, Würzburg. Husserl, Edmund (1940) „Grundlegende Untersuchungen zum phänomenologischen Ursprung der Räumlichkeit der Natur“, in: Marvin Farber (Hg.), Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, Cambridge, MA, 307–325. Keiling, Tobias (2015) Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers, Tübingen. – (2019a), „Nochmal aus der Höhle. Platon über die Latenz imaginativen Sinns“, in: Anja Pompe (Hg.), Bild und Latenz. Impulse für eine Didaktik der Bildlatenz, München, 45–58. – (2019b), „Welt und Raum. Zum Problem des Unendlichen im Anschluss an Günter Figal“, in: Antonia Egel/David Espinet/Tobias Keiling/Bernhard Zimmermann (Hg.), Die Gegenständlichkeit der Welt. Festschrift für Günter Figal, Tübingen, 283–316. Koyré, Alexandre (2008), Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, übers. v. Rolf Dornbacher, Frankfurt a. M. Meillassoux, Quentin (2008), Nach der Endlichkeit, übers. v. Roland Frommel, Zürich/ Berlin. Winkler, Rafael (2017), Phenomenology and Naturalism, London. Wunsch, Matthias (2007), Einbildungskraft und Erfahrung bei Kant, Berlin. Zahavi, Dan (2005), Subjectivity and Selfhood. Investigating the First-Person Perspective, Cambridge, MA.
18. Marc Richir – Phänomenalität und Phänomenalisierung Alexander Schnell
In diesem Kapitel soll es darum gehen, Überlegungen zum Status der Metaphysik innerhalb der von Marc Richir angestrebten „Neugründung“ der Phänomenologie anzustellen. Richir hat zwar verschiedene Auffassungen von der Metaphysik – insbesondere eine dezidiert kritische und eine implizit operative –, aber eine synthetische Darstellung derselben wird nirgends vollständig geliefert. Es muss meines Erachtens bezüglich der Frage nach dem Zusammenhang von „Metaphysik“ und „Phänomenologie“ daher so verfahren werden, dass Richirs vielschichtiger Standpunkt gegenüber der Metaphysik in seiner phänomenologischen Relevanz hervorgekehrt wird, um so die verschiedenen Aspekte einer „phänomenologischen Metaphysik“ in diesem Projekt vorstellen zu können. Hierdurch werden sich dann Einsichten ergeben, die bezüglich dieses Zusammenhangs von Phänomenologie und Metaphysik auch in einem breiteren Rahmen für die phänomenologische Forschung fruchtbar gemacht werden können.
18.1 Phänomen und Phänomenalisierung In seiner ersten systematischen Studie Le rien enroulé, (1969/70) die auf eine erstaunliche Weise sein Gesamtwerk vorzeichnet und vorwegnimmt, bezeichnet der nicht einmal 27-jährige Richir seine eigene „Theorie“ als eine „metaphysische“. (1970, 3) Mehrere seiner Artikel tragen den Titel (oder Untertitel) „Métaphysique et Phénoménologie“. (1987b; 2000b) Und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass seine metaphysischen Gedanken in seinen letzten beiden Werken, (2014; 2016) die sein phänomenologisches Testament darstellen, auf die ausgeprägteste Weise zum Tragen kommen. Worin besteht laut Richir die Notwendigkeit einer „Neugründung“ der Phänomenologie, und welche Auffassung von Metaphysik spiegelt sich darin wider? Um das beantworten zu können, sind mehrere Motive anzuführen, welche die Bestimmung (und Neubestimmung) von Phänomenalität und Phänomenalisierung betreffen. Was macht laut Richir den genuinen Phänomenbegriff – sofern er je die Korrelativität von Erscheinungsprozessualität und Erscheinendem selbst kennzeichnet – aus? Für ihn ist das Phänomen – hier ist die Anlehnung an den Heidegger aus
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Sein und Zeit nicht zu übersehen – dadurch ausgezeichnet, dass es all jenes am Erscheinenden bezeichnet, was das Erscheinen ermöglicht, jedoch sich nicht selbst bekundet. Richir denkt die Phänomenalität somit stets dynamisch in ihrem Zusammenhang mit der Phänomenalisierung – also mit dem, was das Phänomen zu einem Phänomen macht und dem Erscheinen überhaupt zugrunde liegt. Was erfordert nun Richirs Meinung nach genau jene Neubestimmung der Phänomenalität? Der Grundgestus der Richir’schen Analyse des Phänomenbegriffs besteht in der Abkopplung von Phänomenalität und Gegenständlichkeit (Objektivität). Phänomen ist – hierzu äußert er sich in einem weiteren bedeutenden und wegweisenden programmatischen Text (1987a, 17–26) – „Phänomen als ‚nichts als Phänomen‘“ (phénomène comme ‚rien que phénomène‘). Das bedeutet, dass die Phänomenalisierung eines Phänomens als dieses Phänomen nicht (wie etwa bei Kant) einer Objektivitäts-Konstitution zu verdanken ist, die auf einer Synthesisleistung des je schon als vorgegeben betrachteten Verstandes beruht, sondern „am Phänomen selbst erscheint“. (1987a, 21) Und damit hängt eben zugleich auch zusammen, dass die Phänomenalisierung (gleichfalls je dieses oder jenes Phänomens) insofern zutiefst prekär und damit auch von einem Scheitern bedroht ist, als mit dem Phänomen sich auch je dessen „Simulakrum“ (qua „Scheinphänomen“) zeitigt. Dass die Prekarität der Phänomenalisierung sich gerade darin äußert, dass im tiefsten architektonischen Register – ein Ausdruck, den Richir anstelle von „Konstitutionsstufe“ benutzt, um so einen „freieren“ Begriff als „Stufe“, „Segment“ oder „Sphäre“ zu gebrauchen, der jede „Starrheit“ zu vermeiden gestattet und eben gerade darauf verweist, dass hier keine subjektzentrierte Konstitution statthat – „Phänomen“ und „Simulakrum“ sich gegenseitig durchdringen, ist eine von Richirs Hauptthesen, deren Bedeutung sich folgendermaßen fassen lässt. Richir denkt im Begriff des „Scheins“ (bzw. „Simulakrums“) zwei grundlegende Bestimmungen zusammen. Zum einen kann das ursprüngliche, transzendentale Apriori, auf das es die transzendentale Phänomenologie je abgesehen hat, eben als sich nicht selbst bekundendes nicht eigens gefasst werden, sondern ist nur von dessen aposteriorischem „Schein“ aus zugänglich – wodurch die transzendentale Konstitution je als „Retrojektion“ erweist. Zum anderen liegt gerade in diesem „Scheinen“ des – somit nur retrojizierend zugänglichen – Apriori seine konstitutive, phänomenalisierende Funktion. „Schein“ ist also zugleich auch transzendentalphänomenologisches „Erscheinen“ (wie gesagt, unter Berücksichtigung der solcherart sich bekundenden Nachträglichkeit), beide Bestimmungen gilt es daher gemeinsam zu berücksichtigen. Das „Simulakrum“ bezeichnet jene spezifische Dimension der konstitutiven Phänomenalität, die jene Bestimmung des „Scheins“ in sich aufnimmt. Hierdurch wird daher auch (in Richirs eigener Antwort auf seinen negativen Metaphysikbegriff, → 18.3) die nicht-metaphysische Denkhaltung im Herzen der Phänomenalisierung auf ihre
366 18. Marc Richir – Phänomenalität und Phänomenalisierung Spitze getrieben: Nicht nur kann dem hier maßgeblichen Phänomen als „reinem Phänomen“ – d. h. als „Phänomen als ‚nichts als Phänomen‘“ – keinerlei Gegenstand als Richtmaß für Wahrheit angelegt werden, sondern in seiner Verzerrung als „Simulakrum“, als „Schein“, ist (der Auffassung des späten Heideggers zufolge, an der sich der frühe Richir ebenfalls orientiert) das Phänomen je zugleich in der Wahrheit und in der Unwahrheit.
18.2 Der Richir’sche Weltbegriff Dies hat nun auch unmittelbar eine entscheidende Auswirkung auf Richirs Auffassung des Weltbegriffs. Hierfür muss aber noch eine weitere Bestimmung hinzugenommen werden. Richirs Auffassung der „Welt“ sondert sich grundlegend von jener Heideggers ab. Einerseits hat Heidegger (GA 2, 87) in der Aufzählung der verschiedenen möglichen Auffassungsweisen von „Welt“ diese als „All des Seienden“ bzw. als das Sein des so gekennzeichneten Seienden bestimmt. Andererseits ist „Welt“ auch je „Daseins-Welt“, sofern Dasein ja selbst als In-der-WeltSein bestimmt wird und gewissermaßen durch eine eigentümliche „Einheit“ mit der Welt – „seiner“ Welt – ausgezeichnet ist. Dies wirft aber die Frage auf, wie die einheitliche Welt angesichts der Vielheit von Daseins-Welten aufgefasst werden kann (und muss). Richirs Antwort lautet: Um zu der Welt (und nicht zu einer Pluralität von Daseins-Welten) Zugang zu haben, muss man sich diesseits des Zusammenhangs von Bedeutsamkeitsverweisen, der für eine ganzheitliche Welt konstitutiv ist, ansiedeln können (es handelt sich dabei zugleich also auch um eine Kritik der als „Ganzheit“ verstandenen Welt). Die „Weltphänomene“, die Richir Fink (1988, 11) entnimmt, werden hierfür anders bestimmt, als das Heideggers Kennzeichnungen des Phänomens der Welt glauben lassen. Für Richir sind die „Weltphänomene“ chaotisch, vergänglich, ungeordnet, proteusartig, schimmernd, unstetig, kontingent, instabil. In seinen eigenen Worten: Weltphänomene, und nicht Seinsphänomene oder Phänomene von Dingen. Also auch nicht Phänomene der Welt als Ganzheiten von Seiendem oder von Dingen, sondern ursprünglich vielfältige Phänomene, die als nichts als Phänomene über das Nichts ausgespannt sind, über die Welt als Horizontvielheit, wo der Mensch zum Sein kommt. (1991, 14)
Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass das, was für Richir „Welthaftigkeit“ ausmacht, nichts mit „Totalität“, „Allheit“ oder „Ganzheit“ zu tun hat, sondern eher Innerweltlich-Wirkliches meint. „Welt“ bzw. „Weltbezughaftigkeit“ ist das, was dafür sorgt, dass das Phänomen nicht rein „fiktional“ ist und auch nicht als „Simulakrum“ jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verliert.
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18.3 Richirs negativer Metaphysikbegriff und die „Sinnbildung“ Bevor eine positive Erläuterung des operativen Metaphysikbegriffs bei Richir geliefert werden kann, muss zunächst noch weiter vertieft auf dessen kritische Konnotation eingegangen werden. Die metaphysische Verfahrensweise ist laut Richir durch zwei Grundtendenzen gekennzeichnet, nämlich durch die Inanspruchnahme eines „Absoluten“ und den Hang zur „Fixierung“. Während die erste dieser beiden Charakteristiken allseits bekannt ist und sich an Heideggers Metaphysik-Auffassung im Sinne der „Onto-theo-logie“ anlehnt, (→ 6.11) verdient die zweite Kennzeichnung eine vertieftere Betrachtung. Um sie verständlich zu machen, ist der Rückgriff auf Richirs Auffassung der „Sinnbildung“ nötig. Dieser Begriff, der den Ausdruck „sens se faisant“ (wörtlich: „sich machender Sinn“ bzw. „sich vollziehender Sinn“) ins Deutsche zurückübersetzt – denn Richir geht von der ursprünglich Husserl’schen Unterscheidung von „Sinngebung“ und „Sinnstiftung“ aus und siedelt die „Sinnbildung“, ganz wie Husserl das selbst in der Krisis-Schrift (Hua VI, § 49) angedeutet hat, diesseits dieser Unterscheidung an – hat mehrere Bedeutungsebenen. Zunächst ist festzuhalten, dass es Richir um die der Sinnbildung ureigene „Beweglichkeit“ (mobilité) geht: Der Sinn ist immer anfänglich, sich entwerfend, „in Abständigkeit“ (en écart)“, und wenn er gefasst, also gleichsam „zum Stehen“ gebracht wird, kann das nur vermittels einer „Transposition“ geschehen, die dessen Lebendigkeit und Beweglichkeit entgleiten lässt. Sinn auf ideelle, außer-zeitliche Träger zurückzuführen, wäre dementsprechend nach Richirs Auffassung ein „metaphysischer“ Gestus. Gleichwohl hat aber jenes „Fixieren“ auch eine genuin phänomenologische Dimension. Denn – und hier haben bedeutende Einsichten des Strukturalismus bzw. „Post-Strukturalismus“ auch bei Richir seine Spuren hinterlassen (Alexander 2013; Flock 2018) – zum „Sich-Machen“ des Sinnes gehört eben auch, dass er strukturiert und gegliedert werden muss, um so seine Verständlichkeit zu ermöglichen, was wiederum voraussetzt, dass das „Signifikat“ je mit einem „Signifikanten“ auftritt. Sich machender Sinn „spricht“ sich immer irgendwie „aus“ (was keine mündliche Verlautbarung sein muss), er hat eine Art „materiellen“ Träger, der selbst völlig „nicht-sinnhaft“ ist, aber Sinnhaftigkeit gleichsam „setzt“ und dabei eben immer auch „entrückt“. In der Folge Derridas sieht Richir diesen Aspekt als eine grundlegende Dimension der Sinnschöpfung an, die sich dem „Bewusstsein“ voll und ganz entzieht. Er bezeichnet ihn als das „Symbolische“. Dieses steht dem genuin „Phänomenologischen“ gegenüber, das eben auf die Nicht-Fixierbarkeit, Mobilität und insbesondere auch auf die „Unscheinbarkeit“ verweist. Sofern dieses „fixierende“ Moment nun diese Zweideutigkeit mit sich führt, zugleich aber auch einen Grundaspekt der Richir’schen Metaphysikauffassung ausmacht, hat diese konsequenterweise auch eine Doppeldeutigkeit, ein gleichsam „negatives“ und auch ein „positives“ Moment. Die Ausgestaltung des letzteren verlangt aber noch nach weiteren vorgängigen Überlegungen und Hinweisen.
368 18. Marc Richir – Phänomenalität und Phänomenalisierung Wurden in Richirs Schriften aus den 1980er und 1990er Jahren noch die Begriffe des „Phänomens als nichts als Phänomen“ und des „Weltphänomens“ gebraucht, um die Phänomenalisierung angemessen zu beschreiben, wendet sich Richir seit den 2000er Jahren einem Register der Sinnbildung zu, das er bei Husserl entdeckt und sich dann progressiv selbst angeeignet hat: jenem der Phantasie. (2000a) Angesichts der oben erwähnten „Deformierung“ des Phänomenologischen im symbolisch Gestifteten kann für Richir nicht mehr die Wahrnehmung – das Paradigma der objektivierenden Intentionalität – den adäquaten Ursprung der Phänomenologie ausmachen. Im Gegensatz zu Husserl ist der Ausgangspunkt der phänomenologischen Forschung somit nicht mehr in den intentionalen Erlebnissen des Bewusstseins zu suchen, d. h. in den objektivierenden Akten, für welche die Wahrnehmung den Maßstab jeglichen Objektbezugs lieferte, sondern in den vor-intentionalen Phantasie“vorstellungen“ diesseits jeder objektivierenden Wahrnehmung. Diese nicht darstellbaren „Phantasien“ erscheinen nur in der Form von „inchoativen Silhouetten“ bzw. „Schatten“, die nicht direkt erfassbar sind und sich nicht fixieren lassen. Hierdurch lässt sich dann auch die Verbindungslinie zu den früheren Arbeiten – und insbesondere zum Begriff des „Weltphänomens“ – herstellen. Diese Phantasien sind am ehesten geeignet, dem ursprünglichen „Abstand zu sich selbst“ Rechnung zu tragen, welcher jede Erfahrung – und insbesondere jede menschliche Erfahrung – kennzeichnet. Der neue Ausgangspunkt der Phänomenologie Richirs besteht somit darin, die phantasiemäßige Basis der Intentionalität diesseits jeder Objektivierung zu erforschen. Hierbei handelt es sich, wie Richir sich ausdrückt, um ein „Schattentheater“, was ein anderes Wort für das Feld der Phänomenalisierung ist, dessen Phänomene – und genau hierin besteht die Grundabsicht seines gesamten Werkes – dank einer „instabilen Mathesis der Instabilitäten“ (2011, 125, 129) erfasst werden können.
18.4 Richirs positiver Metaphysikbegriff: „Transzendentale Matrix“ und „Doppelbewegung“ der Phänomenalisierung Um diese „instabile Mathesis der Instabilitäten“ umreißen zu können, ist es notwendig, danach zu fragen, ob es in Richirs Werk eine Grundkonstellation oder ein Grundschema gibt, die sein Werk trägt. Heidegger hat so etwas in den Grundbegriffen der Metaphysik (GA 40, 506 ff.) im Begriff des „Grundgeschehens“ angedacht. Bei Richir selbst finden sich Ansätze hierzu, wenn er etwa in Phénomènes, Temps et Êtres von einer „transzendentalen Matrix“ (1987a, 18) des Phänomens spricht. Die erste konsequente und systematische Herausstellung des „Ortes der Verständlichkeit“, an dem sich die vielfältigen Ansätze Richirs einer „Neugründung der transzendentalen Phänomenologie“ entfalten, wurde bereits in einer der ersten Dissertationen geleistet, die dieser „Neugründung
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der Phänomenologie“ gewidmet sind: Robert Alexander (2013, 29, 31) fasst diesen „Ort“, dieses „philosophische Grundelement“, diese „Grundstruktur“, als „rhythmische Masse“ bzw. „Schwingungsvolumen“ auf. Dieses rhythmische, schwingende „Masse-Volumen“ mache das Paradigma der Verständlichkeit der Phänomenalisierung aus und wird von Alexander mit einem einzigen Terminus – dieser Ausdruck lehnt sich an Richir lediglich an – als „Ogkorhythmus“ bezeichnet. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob eine solche Konzentrierung auf einen einzigen Grundbegriff der methodischen Spannweite von Richirs Gesamtwerk tatsächlich – so wie das Alexander behauptet – gerecht wird. Sein entscheidendes Verdienst ist jedenfalls, auf die jenen „Ogkorhythmus“ strukturierende „Doppelbewegung“ hingewiesen zu haben, die das Richirs Werk tragende Grundschema zu fassen gestattet und von ihm selbst in der bereits erwähnten Studie Le rien enroulé zuerst aufgewiesen wurde. Aufgrund seiner überragenden Bedeutung für Richirs weiteren Denkweg soll diese „Doppelbewegung“ jetzt kurz vorgestellt werden. Richirs Essay Le rien enroulé (Das eingerollte Nichts) ist ein Zitat Maurice Blanchots aus dessen Hauptwerk L’entretien infini vorangestellt. Dieses lautet: „Schreiben: einen Kreis beschreiben [tracer], innerhalb dessen sich das Außen jeglichen Kreises einschriebe“. (1970, 3; Blanchot 1969, 112) Hiermit werden zwei entscheidende Aspekte von Richirs „metaphysischer“ (phänomenologischer) „Theorie“ zum Ausdruck gebracht: auf der einen Seite spricht sich hier der Bezug zur Schrift im Allgemeinen und zu Derridas „Urschrift“ (archi-écriture) im Besonderen aus, das heißt zu dem, was Richir dann selbst den an Kant und Heidegger angelehnten „Schematismus“ (der Phänomenalisierung) nennen wird. Auf der anderen Seite nimmt Blanchot genau das vorweg, was Richir als metaphysisch entscheidende „Doppelbewegung der Phänomenalisierung“ ansieht. Diese gehört einem Komplex von fünf Grundmotiven des phänomenologisch-metaphysischen Ansatzes Richirs an, die in jenem frühen Artikel, der in der Tat den Denkweg Richirs präzise vorwegnimmt, entwickelt werden. Diese Motive sind: 1.) die Endogeneisierung des phänomenologischen Feldes; 2.) das „austretende Eintreten“ (= erste Doppelbewegung der Phänomenalisierung); 3.) das „Einrollen-Ausrollen“ (= zweite Doppelbewegung der Phänomenalisierung); 4.) Doppelbewegung von Einrollen-Ausrollen und Seinsabsetzung (= zweifache Doppelbewegung der Phänomenalisierung); 5.) die „Kehre der Sprache“ (im dichterischen Schreiben) als genuine Ausdrucksform der metaphysischen Phänomenologie. 1.) Das erste Grundmotiv entnimmt Richir dem, was er als „Husserls Problem“ identifiziert und dann als „phänomenologisches Problem“ überhaupt kennzeichnet: nämlich die Frage, wie der „technisch-maschinenhafte“ „Automatismus“, durch den logische Gegenständlichkeiten zu bloßen Zeichen werden, vermieden werden kann, um jenen ihre „Konsistenz“ zurückzugeben und sie nicht mehr lediglich formal-relational aufzufassen. Für Richir geht es dabei ins-
370 18. Marc Richir – Phänomenalität und Phänomenalisierung besondere darum, ihre „Innerlichkeit“ zu fassen und zu würdigen – eine Innerlichkeit, die er auch als „An-sich“ bzw. „Anderes“ bezeichnet. Das „Andere“, das sich entäußert hat, soll so zu seiner Ursprungsstätte – eben zur Innerlichkeit – zurückgeführt werden. Die Hauptfunktion dieser Zurückführung zur Innerlichkeit, die ganz offenbar eine Art Widerhall der „transzendentalen Reduktion“ Husserls ist, besteht darin, die sinnbildend-genetisierende Dimension der Phänomenologie aufscheinen zu lassen. Um diese Doppelbedeutung – der verinnerlichenden Genetisierung bzw. der genetisierenden Innerlichkeit – zu betonen, bietet sich der Begriff der „Endogeneisierung“ an. 2.) Wichtig ist, diese „Endogeneisierung“ nicht mit einer bloßen „Immanentisierung“ (also einer reinen Verinnerlichung), wie sie etwa bei Michel Henry in dessen allseits vollzogener Rückbeziehung auf das immanente, selbstaffektive Leben statthat (→ 14.1), gleichzusetzen. Richir betont das ausdrücklich: Phänomenalisieren heißt, das Selbe in das Andere hinaustreten zu lassen (das Selbe dem Anderen zu öffnen), um das Andere in das Selbe hineintreten zu lassen. Das Außen ist das Innen des Innen, das Andere ist das Selbe des Selben. Das Aus-sich-Heraustreten ist ein In-sich-Hineintreten. Es muss die Anstrengung unternommen werden, die Einheit dieser Doppelbewegung zu denken. (1970, 7)
Die erste Doppelbewegung bezeichnet hier den gegenseitigen Verweis – aber keine Kreisbewegung! – von („äußerlicher“) Öffnung und („innerlicher“) Sinnerfassung. Dabei hat das „Innen“ gegenüber dem „Außen“ dennoch insofern einen Vorrang, als jene Genetisierung nur „innerlich“ möglich und das Außen selbst ein gleichsam „vergessenes“ (unbestimmtes, nicht gegenwärtiges) Inneres ist. Richir bezeichnet das als die genuine „Reflexivität des Selben“, (1970, 6) welche impliziert, dass das „Außen“ eben nichts Anderes als „das Selbe des Selben“ ist (was freilich zugleich auch auf Fichtes Auffassung des Seins als „Reflexion der Reflexion“ verweist). 3.) Diese erste Doppelbewegung spezifiziert sich sodann zu einer zweiten, welche jene zugleich näher präzisiert. Wie ist die innigliche „Bewegung“ der Phänomenalisierung – also die vom Selben zum Anderen (bzw. vom Anderen zum Selben), von Ich zum Nicht-Ich, von Bewusstsein zum Sein usw. (und jeweils umgekehrt) – genau zu verstehen? Es geht hier um nichts weniger als um eine Neufassung des intentionalen Bezugs und, wie Levinas (1974, 130–134) sagen würde, um dessen „ontologische Fundierung“. Richir drückt sich diesbezüglich genauso anti-fichteanisch (es kann sich dabei nicht um eine „geradlinige Bewegung“ handeln) wie anti-heideggerianisch (es kann hier auch keinen „Sprung“ geben) aus: Die Bewegung geht sowohl nach innen als auch nach außen, sie ist, in Richirs eigenen Worten, die an Maine de Biran erinnern, ein zurückgehaltenes Anstrengen bzw. ein gespanntes Sich-Zurückhalten. Damit wird zweierlei unterstrichen: einerseits werden dadurch die realistischen und idealistischen Fehlpositionen vermieden (nämlich das Sich-Verlieren im Anderen und die „Im-
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plosion“ im Ich); und andererseits wird hierdurch implizit bereits die affektivleibliche Dimension der Phänomenalisierung hervorgehoben, die Richir allerdings erst in späteren Arbeiten in den Mittelpunkt rücken wird (1993; 2000a; 2004). Für die gespannt sich zurückhaltende Bewegung „nach außen“ gebraucht Richir den Begriff des „Ausrollens“, für jene „nach innen“ den des „Einrollens“. Ihre Einheit beschreibt die (zweite) Doppelbewegung, eben die des „EinrollensAusrollens“ (double mouvement d’enroulement-déroulement). 4.) Diese Neufassung des Intentionalitätsbegriffs beschränkt sich aber nicht auf eine rein erkenntnistheoretische Dimension, sondern hat auch eine entscheidende ontologische Implikation. In dem Gegensatz von gespannter Anstrengung und Sich-Zurückhalten drückt sich eine innere Widerständigkeit aus, die Richir als „Dif-férance der Bewegung in ihrer Gegen-Bewegung“ fasst (der Bezug zu Derrida ist hier evident). Diese Widerständigkeit zwischen den beiden entgegengesetzt ausgerichteten Bewegungen des Ein- und des Ausrollens ruft ein (unhörbares) „Quietschen“ oder „Knirschen“ (grincement) hervor, aus dem „Seiende(s) qua ausgestoßene Funken der Doppelbewegung“ „hervorquillt“. (1970, 9) Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das „Sein“ (des Seienden) – wiederum wie bei Fichte – ein Absetzungsphänomen der Doppelbewegung der Phänomenalisierung ist. Wir haben es hier also mit einer zweifachen Doppelbewegung zu tun, die das Einrollen-Ausrollen und die Quelle des Seins betrifft. 5.) Wie sind diese Motive, die eine zusammenhängende Bewegung ausmachen, innerhalb derer verschiedene (verschieden komplexe) Momente unterschieden werden können, „begrifflich“ zu fassen, bzw. – wenn der „Begriff “ hier gerade versagt – wie sind sie „sprachlich“ einzuholen? Bereits am Anfang von Le rien enroulé zeigt Richir den Weg dafür an. Die (phänomenologische) „Metaphysik“ kann nur so verstanden werden, dass sie in sich „ein-“ bzw. „zurückkehrt“, um (sich) aufzulösen. (1970, 3) Dementsprechend „spricht“ sie von „nichts“. Das „Phänomenologisieren“ taucht in das „Nichts“ ein. Für Richir muss die Metaphysik ihre Sagbarkeit – die je schriftlich zum Tragen kommt – der Dichtung entlehnen. Diesen Gedanken nimmt er selbst in Phénoménologie en esquisses wieder auf, wenn er dort – „poésie“ und „fiction“ miteinander in Beziehung setzend – von einer „Metaphysik-Fiktion“, d. h. von einer „rigorosen“ und „kohärenten“ „Fiktion der Metaphysik“, die der bloßen, kritisch verstandenen „metaphysics fiction“ ganz und gar entgegensteht, spricht. (2000a, 24) Dieser Gedanke hält sich bis in Richirs letzte Schriften durch. (2010; 2011; 2016) Um das genuin „Phänomenologische“ fassen zu können, muss die phänomenologische „Metaphysik“ somit eine Ausdrucksform ausbilden, die dem Gehalt desselben nahekommt, weil es ihm ansonsten, wie gesagt, entgleitet.
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18.5 Das „‚Moment‘ des Erhabenen“ Im Spannungsbogen zwischen Früh- und Spätwerk galt es bis hierher, die phänomenologisch-metaphysischen Grundmotive, sofern sie bereits in den ersten Ausarbeitungen Richirs vollständig angelegt sind, etwas ausführlicher vorzustellen. Um diesen Bogen zu vollenden, muss nun auch deren Pendant im Spätwerk Erwähnung finden, das, was Richir das „‚Moment‘ des Erhabenen“ nennt und in allen seinen Spätschriften ausführlich darstellt und mehrfach wiederaufnimmt. Es handelt sich dabei um nichts Geringeres als um die Urmatrix seiner Neugründung der transzendentalen Phänomenologie, die gleichsam „zwischen“ dem kantischen „transzendentalen Ich“ qua reiner Form und dem Husserl’schen „ursprünglich stehenden Strömen“, der „lebendigen Gegenwart“ angesiedelt ist. Folgendes Urszenario – das sich für Richir im ursprünglichsten phänomenologischen Register abspielt, einen dezidiert transzendentalen Status hat, zugleich aber auch in jeder Sinnbildung konkret nachwirkt – hat hierin eine absolut zentrale Funktion. Im archaischen phänomenologischen Register findet in einer (in Richirs Terminologie) „außerzeitlichen“ Folge eine („hyperbolische“) Intensitätssteigerung der Affektivität statt, die (qua „Systole“) zugleich eine Ausschaltung aller kognitiven Funktionen (Bewusstsein, Denken, Sprache) – von Richir als „Unterbrechung des Schematismus“ bezeichnet – impliziert. Dieser affektive „Überschuss“ bricht „dann“ instantan und von selbst ab und ruft (qua „Diastole“) einen Rückgang der Affektivität auf sich selbst hervor. Hierbei findet eine unbegriffliche Reflexion statt, „deren Horizont die absolute Transzendenz ist, welche die Frage nach dem Sinn insofern eröffnet, als sie nicht reduzierbar flüchtig, unfassbar, undarstellbar, also unzugänglich und radikal unbestimmt ist“. (2010, 23) Zu diesem „‚Moment‘ des Erhabenen“ wäre sehr viel mehr zu sagen: Es stellt laut Richir die Urstiftung des „Selbst“, das die Sinnbildung je „begleiten können muss“, dar; und es verleiht der Erfahrung ihren bestimmten Gehalt, sofern es zur „Konkretheit“ von „Welt“ und „Realem“ ursprünglich Bezug nimmt. Entscheidend ist aber insbesondere die im Zitat angesprochene Sinneröffnung, die eine „absolute Transzendenz“ ins Spiel bringt, welche sich ihrerseits differenziert: nämlich in die „absolute Transzendenz“ tout court, welche die Sinnbildung – durch eine „Flucht ins Unendliche“ – vor ihrer eigenen „Implosion“ bewahrt; und in die (an Schelling angelehnte) „physisch-kosmische Transzendenz“ – und hier stellt sich noch ein weiteres Mal die Verbindung mit den „Weltphänomenen“ ein – welche die „Referenz“ der Sprache ausmacht. Diese ist der Horizont oder das Element, welches jenem „Quietschen“ und „Knirschen“ der Phänomenalisierung zugrunde liegt und in Le rien enroulé von Richir noch nicht in dessen „welthaftem“ Charakter (und das heißt dabei, wie gesagt, immer: in der Anbindung an innerweltlich „Wirkliches“, → 18.2) gefasst wurde. In diesem „‚Moment‘ des Erhabenen“ wird die „Endogeneität“ bewahrt, die „Doppelbewegung“ auf ihre systolische
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und diastolische Grundmatrix zurückgeführt und die „Seinsfunken“, „-späne“ und „-schlacken“ an die „physisch-kosmische Transzendenz“ gebunden. Auf dieser Basis zielt Richir also darauf ab, die transzendentale Phänomenologie „neuzugründen“. Im immer weiter vertiefenden Nachgehen der sinnbildenden Strukturen diesseits der objektivierenden Intentionalität stößt er auf einen zweifachen Dualismus: den von „Schematismus“ und „Affektivität“ (= „protoontologische“ „Erfüllung“ des phänomenologischen Schematismus) einerseits; und den dieses ersten Dualismus und der „absoluten Transzendenz“ andererseits. Hiermit wird zum Ausdruck gebracht, dass Richir im Gegensatz etwa zu Merleau-Ponty keinen Monismus vertritt, sondern den klassischen Dualismus von Geist und Materie, Verstand und Sinnlichkeit usw. dahingehend transformiert, dass der Bezug von „Immanenz“ und „Transzendenz“ in die Sinnbildung hineingenommen und an deren phänomenologische Parameter angepasst wird. Dabei werden gewissermaßen die „Grenzen der Deskription“ immer wieder in Frage gestellt, was aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass Richir stets den „phänomenologischen Zickzack-Bewegungen“ zwischen phänomenalem Gehalt und der Aufweisung der genuin „phänomenologischen“ Prozessualitäten, die diesen verständlich machen sollen, folgt (auch wenn es hier letztlich nicht zu einer adäquaten Gegebenheit kommen kann).
18.6 Richirs Beitrag zu einer „phänomenologischen Metaphysik“ Worin besteht also – zusammenfassend noch einmal auf den Punkt gebracht – Richirs Beitrag zu einer „phänomenologischen Metaphysik“? Sein Anliegen besteht in der Aufklärung des Wesens und Status der Phänomenalisierung. Diese beinhaltet insbesondere: die Rückfrage nach den vor-intentionalen Prozessen, die der Objektivation zugrunde liegen; die Aufweisung der sinnbildenden Leistungen, die sich teilweise anonym vollziehen; und die Klarstellungen des phänomenologischen Status der Reflexion. Bei alledem steht auch die Frage im Hintergrund, wie das phänomenologische „Selbst“ diesseits des transzendentalen „Ego“ aufzufassen ist. Richirs „Stil“, der das Verständnis seiner Texte freilich nicht erleichtert, besteht, ähnlich wie bei Husserl, im Selbstvollzug der sinnbildenden „Sprache“, also des „Denkens“ im Sinne Descartes’, welches alle Vollzugsarten kognitiver, volitiver und affektiver Art umfasst. Sofern dieser Vollzug phänomenalisierend ist – das ist offensichtlich ein Hauptgedanke Richirs –, bringt er eine „transzendentale Matrix“ ins Spiel, die diesseits der phänomenologischen Deskription „wirkt“. Diese „Matrix“ macht das Herzstück der „instabilen Mathesis der Instabilitäten“ aus. Es konnte hier – über die „Doppelbewegung der Phänomenalisierung“ und das „‚Moment‘ des Erhabenen“ hinaus – nicht auf alle Spielarten derselben eingegangen werden. (1981; 1983; 1987a; 1992) Festzuhalten ist
374 18. Marc Richir – Phänomenalität und Phänomenalisierung jedenfalls, dass hierin der Bezug von Denken und Sein so zum Thema gemacht wird, dass diese Bezughaftigkeit selbst, die Frage nach Sinn und Sinnbildung und die genuin phänomenologische Reflexion in ihrer jeweiligen phänomenalisierenden Funktionalität befragt und immer wieder neu zur phänomenologischen Genese gebracht werden. Die Sinnbildung wird insofern konsequent „genetisch“ und „genetisierend“ verstanden, als ihre eigene selbstreflexive Struktur zum phänomenologischen Phänomen gemacht wird. Hierdurch schließt die „phänomenologische Metaphysik“ eng an das Erbe der Klassischen Deutschen Philosophie an, die in Gestalt ihrer drei Hauptvertreter ständiger Gesprächspartner Richirs gewesen ist. Marc Richir Marc Richir wurde 1943 in der Nähe von Charleroi (Belgien) geboren und studierte zunächst Physik, brach dann aber sein Studium der Grundlagenforschung der Physik ab, um sich, zunächst als Student an der ULB in Brüssel, ganz der Philosophie zu widmen. 1968 trat er eine Lebensstelle als chercheur am belgischen FNRS an. Er lehrte Philosophie in Brüssel und Paris, verlegte aber schon früh seinen Wohnsitz nach Südfrankreich. Richir starb 2015 in Avignon. Sein Werk hat sich ganz der Neugründung der Phänomenologie verschrieben, die er in zahlreichen Monographien ausgeführt und entwickelt hat.
Literatur Richir, Marc (1970), „Le Rien enroulé – Esquisse d’une pensée de la phénoménalisation“, Textures 7–8, 3–24. – (1981) Recherches phénoménologiques (I–III). Fondation pour la phénoménologie transcendantale, Brüssel. – (1983), Recherches phénoménologiques (IV–V). Du schématisme phénoménologique transcendantal, Brüssel. – (1987a), Phénomènes, Temps et Êtres. Ontologie et Phénoménologie, Grenoble. – (1987b), „Métaphysique et Phénoménologie – Sur le sens du renversement critique kantien“, La liberté de l’Esprit 14, 99–155. – (1991), Du sublime en politique, Paris. – (1992), Méditations phénoménologiques, Grenoble. – (1993), Le corps, Paris. – (2000a), Phénoménologie en esquisses. Nouvelles fondations, Grenoble. – (2000b), „Métaphysique et phénoménologie. Prolégomènes pour une anthropologie phénoménologique“, in: Eliane Escoubas/Bernhard Waldenfels (Hg.), Phénoménologie française et Phénoménologie allemande – Deutsche und französische Phänomenologie, Paris, 103–128. – (2001), Phänomenologische Meditationen. Zur Phänomenologie des Sprachlichen, übers. v. Jürgen Trinks, Wien. – (2004), Phantasia, imagination, affectivité, Grenoble.
Alexander Schnell 375 – (2010), Variations sur le sublime et le soi, Grenoble. – (2011), Sur le sublime et le soi. Variations II, Amiens. – (2014), De la négativité en phénoménologie, Grenoble. – (2016), Propositions buissonnières, Grenoble. Alexander, Robert (2013), Phénoménologie de l’espace-temps chez Marc Richir, Grenoble. Blanchot, Maurice (1969), L’entretien infini, Paris. Fink, Eugen (1988), VI. Cartesianische Meditation, Teil 1 „Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre“, hg. v. Hans Ebeling/Jann Holl/Guy van Kerckhoven, Dordrecht/ Boston/London. Flock, Philip (2018), Das Phänomenologische und das Symbolische. Marc Richirs Phänomenologie der Sinnbildung in Auseinandersetzung mit dem symbolischen Denken, Inauguraldissertation, Wuppertal. Levinas, Emmanuel (1974), En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris.
19. Jean-Luc Marion – Phänomenologie reiner Gegebenheit Claudia Serban
Jean-Luc Marions Beschäftigung mit der Phänomenologie beginnt mit Réduction et donation (Reduktion und Gegebenheit), 1989 erschienen. Mit diesem Buch legt der eminente Exeget von Descartes, Autor von L’idole et la distance (Das Idol und die Distanz, 1977) und Dieu sans l’être (Gott ohne Sein, 1982), dem Publikum „Untersuchungen über Husserl, Heidegger und die Phänomenologie“ vor, wie der Untertitel des Buches lautet. Als dessen Ausgangspunkt wird benannt, dass „die Phänomenologie […] in unserer Zeit im Wesentlichen die Rolle der Philosophie selbst [spielt].“ (1989, 7) Aber hat die Phänomenologie diese Rolle immer in derselben Weise erfüllt? Ist von Husserl bis Heidegger die Methode überhaupt dieselbe, und ist die so verstandene Phänomenologie dem Anspruch gerecht geworden, die Sachen selbst zu erreichen? Die Untersuchungen, die in Réduction et donation entwickelt werden, versuchen diese doppelte Frage zu beantworten, indem sie die Gegebenheit des Phänomens in den Mittelpunkt stellen. Mit Husserls Durchbruch zur Phänomenologie in den Logischen Untersuchungen ist die Anschauung zum Maßstab der Gegebenheit der Phänomene geworden. Dieses Privileg erweckte jedoch sofort den Verdacht, von Derrida immer wieder zum Ausdruck gebracht, noch im Dienste einer Metaphysik der Anwesenheit zu stehen. Für Marion dagegen besitzt die Gegebenheit einen unbedingten Vorrang, sie steht daher höher als die Anschauung. Das Phänomenale sei nur insoweit in den Blick gekommen, wie es ‚sich gibt‘; die Berücksichtigung der Gegebenheit verlässt das Feld der Anwesenheit dagegen und führt aus der Metaphysik heraus. Sich an der Gegebenheit zu orientieren, erlaubt, noch den Horizont der Gegenständlichkeit zu überschreiten, denn dass das Phänomen sich gibt, ist nicht mehr am Maßstab des Objektiven zu messen. Die Gegebenheit als solche muss sich nicht mehr innerhalb der Form der Gegenständlichkeit bewegen. In Marions Augen wird eine solche Begrenzung der Phänomenalität auf die Gegenständlichkeit zuerst bei Heidegger überwunden, denn mit der Frage nach dem Sein und der Umwandlung der Phänomenologie in eine Methode der Ontologie wurde das Nicht-Erscheinende, das Unscheinbare gewissermaßen ins Zentrum des Erscheinens geführt, und die Phänomene gewannen sozusagen größere Tiefe. Gegenständlichkeit als Korrelat einer transzendentalen oder epistemischen Reduktion; Sein als Korrelat einer existentialen oder ontologischen Reduktion – mit diesem doppelten Ziel entwickeln beide, Husserl und
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Heidegger, ein spezifisches Zusammenspiel von Reduktion und Gegebenheit. Aber gerade deshalb erkennen beide das Gegebene als letzte Bestimmung des Phänomens nicht an. Dies geschieht erst mit einer dritten Reduktion, die auf das führt, was Marion den Ruf nennt: Die Reduktion auf den Ruf (réduction à l’appel) entfaltet sich jenseits jedes ontologischen oder transzendentalen Rahmens. Den Schwerpunkt von Réduction et donation bildet die Frage der Ontologie, und Marion setzt mit einer Analyse deren Konzeptionen bei Husserl und Heidegger ein. Heidegger ist als Denker der „ontologischen Differenz“ bekannt, aber auch Husserl hat in den Ideen I (Hua III/1, § 10) gegen Kant die Absicht geäußert, den „alten Ausdruck Ontologie wieder zur Geltung zu bringen“. Dennoch orientiert sich die neue, phänomenologische Ontologie, die Husserl ausarbeitet, weiter an der Unterscheidung zwischen dem Formalen und dem Materialen und verharrt daher immer noch im Rahmen der Gegenständlichkeit. Die Gegebenheit des Phänomens vor aller Vergegenständlichung entgeht ihr. Ähnliches gilt für Heidegger: Der Vorrang der Seinsfrage macht für einen anderen Anspruch taub, macht es unmöglich den Ruf des Gegebenen, d. h. die Selbstgegebenheit des Phänomens, zu empfangen. Weil beide Konzeptionen von Ontologie die Gegebenheit nicht erfassen, wird eine dritte Reduktion notwendig, jene Reduktion zum Ruf, die weder transzendental-epistemisch noch existentialontologisch ist. Erst mit dieser dritten Reduktion ist die volle Korrelation zwischen Reduktion und Gegebenheit erreicht, die vollkommene Übereinstimmung zwischen der strengsten Reduktion und der weitesten Gegebenheit.
19.1 Die Welt als gegebene? Für Marions Phänomenologie der Gegebenheit, die mit Réduction et donation Gestalt annimmt und – wie wir im Folgenden sehen werden – in seiner Erforschung gesättigter Phänomene weiterentwickelt wird, ist es kennzeichnend, dass sie Gegebenheit nicht primär als Gegebenheit in einer Welt oder als Gegebenheit der Welt begreift. Das heißt nicht, dass Gegebenheit akosmisch verstanden werden müsste; gleichwohl wird die Welt nie als Horizont oder als Bedingung der Gegebenheit benannt. Réduction et donation stößt mit der dort vorgestellen Deutung von Heideggers Analyse der Angst vielmehr auf einen besonderen Begriff von Welt, den der Welt als Bezeichnung für das Seiende im Ganzen. In einem 1993 veröffentlichten Text, Métaphysique et phénoménologie. Une relève pour la théologie (Metaphysik und Phänomenologie. Eine Ablösung der Theologie) kann Marion das phänomenologische Verständnis von Welt so zusammenfassen: „Die Weltfrage hat den Horizont der Vergegenständlichung für den des gegebenes Seienden – als gegebenes Seiende im Ganzen – endgültig ersetzt.“ (2005, 92) Bemerkenswert an dieser Passage ist, dass Welt hier in doppeltem Sinne als Totalität verstanden wird: nicht nur als bloß ontische Totalität des Sei-
378 19. Jean-Luc Marion – Phänomenologie reiner Gegebenheit enden, sondern auch phänomenologisch, als Totalität alles Gegebenen. Die Welt dürfe jedoch nicht als Horizont oder als Bedingung der Gegebenheit gelten, vielmehr stellt umgekehrt die Gegebenheit die Bedingung oder den Horizont der Welt dar. Deswegen kann Marion die Gegebenheit auch als „Dispens der Welt“ (dispense du monde) bezeichnen, wie es in einem 2013 erschienenen und später in Reprise du donné (Wiederholung des Gegebenen, 2016, 99–146) übernommenen Text heißt. Die Gegebenheit ‚dispensiert‘ die Welt im doppelten Sinne einer Verteilung und einer Befreiung, sie ist eine „Befreiung der Welt als mögliche [libération du monde comme possible]“. (2016, 126) Hier zeigt sich der entscheidende Unterschied zwischen der metaphysischen und der phänomenologischen Behandlung der Welt als Differenz zwischen einer Betrachtung, die nur das Wirkliche erblickt und einer Konzeption, die Raum für die ganze Weite des Möglichen schafft und darin kommt Marions strenges und ständiges Bekenntnis zu Heideggers Losung „Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit“ zur Geltung. (GA 2, 51 f.)
19.2.
Das gesättigte Phänomen und die Modalitäten
Der Weg von der Gegebenheit des Phänomens zum Gedanken der Sättigung stützt sich auf eine modale Überlegung, die einmal die Möglichkeit der Phänomene überhaupt und zum Zweiten das Phänomen der Möglichkeit betrifft. Auch hier ist die Auseinandersetzung mit der Metaphysik entscheidend. Metaphysik ist hier diejenige philosophische Doktrin, die dem Phänomenalen nur bestimmte und enge Möglichkeitsbedingungen zugesteht und es so auf den schmalen Horizont des Satzes vom Grund begrenzt. Aber gibt es nicht völlig unbedingte Phänomene? Ist das Phänomen nicht, wenn es von seiner Gegebenheit her oder als sich gebend betrachtet wird, sogar notwendig in seiner Möglichkeit unbedingt? In Étant donné (Gegeben sei, 1997, deutsch 2015) wird ebendiese Befreiung der Möglichkeit des Phänomenalen entworfen. Für die Überwindung der metaphysisch begrenzten und bestimmten Möglichkeit wird hier entscheidend, das gesättigte Phänomen (phénomène saturé) als „Möglichkeit des Unmöglichen [la possibilité de l’impossible]“ zu begreifen: Dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit, die die Wirklichkeit übersteigt, sondern auch um die Möglichkeit, die die Bedingungen der Möglichkeit selbst übersteigt, also: um die Möglichkeit unbedingter Möglichkeit, die Möglichkeit der unbedingten Möglichkeit [non seulement la possibilité qui surpasse l’effectivité, mais la possibilité qui surpasse les conditions mêmes de la possibilité, la possibilité de la possibilité inconditionelle]. (1997, 304/2005, 368)
Die Freilegung des gesättigten Phänomens als Paradox einer unmöglichen Möglichkeit führt mithin dazu, dass die Phänomenalität nicht länger im Rahmen einer Transzendentalphilosophie bestimmt werden kann. Die Entdeckung der
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gesättigten Phänomene hat die endgültige Überschreitung der durch die Metaphysik erzeugten Verfremdung des Phänomens zur Folge; sie sichert den Phänomenen ihre Unabhängigkeit von der Subjektivität. Mit der kantischen Auffassung der Phänomenalität, welche sich bei Husserl erhalten hat, wird damit unwiderruflich gebrochen. Dadurch wird es möglich – wie wir sehen werden –, das Phänomen der Offenbarung (révélation) nicht als metaphysische, sondern als letzte und radikalste innere Möglichkeit der Phänomenalität selbst zu begreifen. Eine Phänomenologie der Sättigung ist damit weder transzendental noch idealistisch, sie steht jedoch in einem bedeutsamen Verhältnis zur Levinas’schen Konzeption einer „Wider-Intentionalität“, (→ 12.1) bei der das Subjekt nicht mehr Initiator des Erscheinens ist, was bereits bei Levinas die Entfaltung der Phänomenologie in einen transzendentalen Idealismus unmöglich macht. In jüngerer Zeit hat Marion (2016) zudem eine gewisse Affinität zu Patočkas Entwurf einer „asubjektiven Phänomenologie“ (→ 10.2) betont: Das gesättigte Phänomen widerspricht den subjektiven oder transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, anstatt sich ihnen zu fügen. Deshalb ist das gesättigte Phänomen auch als Korrelat einer ‚Wider-Erfahrung‘ zu betrachten. Streng genommen erweist es sich als Paradox, worin sich noch einmal seine Widerständigkeit gegen jede Beschränkung der Phänomenalität auf Gegenständlichkeit bestätigt.
19.3 Phänomen, Gegenstand und Ereignis Mit dieser Wendung zu den gesättigten Phänomenen entwirft die Phänomenologie Marions eine neue Bestimmung des Phänomens: Das ‚Phänomen‘ wird nicht mehr verstanden als ein Gegenstand oder als ein Seiendes, sondern als ein Gegebenes. Hierin liegt ein Widerstand des Phänomens gegen jeglichen Versuch einer Vergegenständlichung, der sich auch durch seinen Ereignischarakter äußert. Während Étant donné (§ 17) das Ereignis als eine besondere Bestimmung des gesättigten Phänomens oder als bloßen Ausdruck seiner Unberechenbarkeit behandelt, hebt Certitudes négatives (Negative Gewissheiten) die „Unterscheidung aller Phänomene in Gegenstände und Ereignisse“ hervor. (2010, § 22, 250) Das Ziel ist wieder, die kantische Auffassung der Phänomenalität umzustürzen, die Gültigkeit von Kants „Unterscheidung aller Gegenstände in Phänomena und Noumena“ (KrV A235/B294) zu bestreiten. Gegenständlichkeit soll nicht mehr als höchster Begriff des Phänomenalen gelten, vielmehr lasse sich eine nichtgegenständliche Dimension der Phänomenalität erkennen, eben die „Phänomenalität des Ereignisses“. (2010, 273) Folglich ist das Ereignis als Synonym oder Äquivalent des gesättigten Phänomens zu begreifen, was eine Rücknahme der Vorstellung objektiver Kausalität mit sich bringt, denn als Gegebenes und als Ereignishaftes lässt sich das Phänomen nicht mehr als Wirkung einer Ursache ver-
380 19. Jean-Luc Marion – Phänomenologie reiner Gegebenheit stehen. Das Phänomen geschieht und ‚gibt sich‘ vielmehr außerhalb aller Kausalität. Es entzieht sich dem Geltungsbereich des Satzes vom zureichenden Grund.
19.4 Die hingegebene Subjektivität, Leiblichkeit und Eros Welche Rolle kann das Subjekt noch spielen, wenn das Phänomen sich als Ereignis gibt und nicht mehr subjektiv konstituiert ist? Offenbar kann es sich hier nicht mehr um eine transzendentale Subjektivität handeln, der Weg eines phänomenologischen Idealismus ist definitiv verschlossen. Jedoch ist Marions Phänomenologie der Gegebenheit und der Sättigung auch nicht einfach als ein Realismus zu betrachten, da sie das Phänomen als Gegebenes noch in den Rahmen der Korrelation stellt: die Wider-Intentionalität ist nicht die Verweigerung aller Intentionalität oder die Auflösung aller Beziehungen. Die Gabe des Phänomens, seine Selbstgegebenheit, darf nicht verlorengehen oder anonym bleiben, sondern sie muss aufgenommen werden. Mit Patočkas Worten gilt das Subjekt hier als „Empfänger des Erscheinens“ oder, wie Marion in Étant donné es ausdrückt, das Subjekt ‚empfängt sich‘, es ‚gibt … sich selbst‘ (se recevoir, s’adonner) in jenem Prozess, in dem das Phänomen ‚sich gibt‘. Das Subjekt ist entsprechend als ein Hingegebenes (adonné) zu begreifen. Diese Korrelation zwischen der Gabe des Phänomens und dem Auftauchen der Subjektivität wird in Réduction et donation (1989) am Leitfaden der Rufstruktur ausgelegt. Für das hingegebene Subjekt heißt ‚sich zu empfangen‘ deshalb, den Ruf des Erscheinens zu beantworten. Die Umkehrung von subjektiver Intentionalität zu Wider-Intentionalität führt auf eine privilegierte Verantwortlichkeit gegenüber der Gabe des Phänomens. Diese Verwantwortung wird wirksam im Ruf, das Phänomen als es selbst zu empfangen. Marions Konzeption von Subjektivität ist also wesentlich durch die Gabe des Phänomens und die Beantwortung des Rufs des Erscheinens bestimmt. Aber ist diese Konzeption unvollständig mit Blick auf die konkreten Modalitäten der Selbsterfahrung? Étant donné skizziert eine „Topik“ (2015, 374–391) der gesättigten Phänomene, in der das Ereignis, ebenso wie das Idol und das Ikon, als ein Sonderfall oder Sondertypus des Phänomenalen bestimmt wird. Dabei gewinnt der Leib (la chair) besondere Relevanz, denn im Falle der Leiblichkeit der Erfahrung ist besonders eingängig, dass sie nicht als Erfahrung eines Gegenstandes begriffen werden kann: sie ist ein Absolutes ohne Relation, der Leib sättigt den ganzen Horizont der Erfahrung. (2001, IV ) Marion knüpft hier an Michel Henrys Behandlung der Leiblichkeit an, (→ 14.2) wenn er das Phänomen des Leibes nicht nur als eine bemerkenswerte Veranschaulichung des gesättigten Phänomens versteht, sondern es auch am Leitfaden der Selbstaffektion auslegt.
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Zu dieser Diskussion des Leibes als Beispiel gesättigter Phänomenalität liefert das 2003 erschienene Werk Le phénomène érotique (Das Erotische. Ein Phänomen) eine wichtige Ergänzung. Hier wird zunächst gezeigt, dass der Leib kein Typus des gesättigten Phänomens unter anderen sein kann, wenn davon auszugehen ist, dass ich mein eigenes Selbst erst durch Verleiblichung erreiche. In einem zweiten Schritt will Marion zeigen, dass dieses Leib-Werden des Selbst wesentlich von der erotischen Situation abhängt. Daher variiert Marion die Figur einer dritten Reduktion, die in Réduction et donation als Reduktion zum Ruf bestimmt worden war, (→ 19.1) und spricht von einer erotischen Reduktion. In der erotischen Situation geschieht eine besondere Reduktion, bei der mein Selbst und der Andere erst wirklich erscheinen und ‚sich selbst gegeben‘ sind. Anders gesagt, im Lichte des Eros lässt sich eine neue Art von Phänomen entdecken, die Marion das „gekreuzte Phänomen“ (phénomène croisé) nennt, durch das Ego und Anderer miteinander verbunden sind. Durch dieses Phänomen gibt sich der Leib selbst als ein Doppeltes: „Jeder von uns beiden wird zum Phänomen des anderen, indem jeder zum Leib für den anderen wird [Nous devenons chacun le phénomène de l’autre en devenant chacun chair l’un par l’autre].“ (2003, 192/2011a, 178) Dieser Verweis auf die erotische Leiblichkeit vertieft den Gedanken des hingegebenen Subjekts noch einmal: Der Hingegebene ‚empfängt sich‘ nicht nur in der Gabe des Phänomens, sondern ebenso und noch wesentlicher in der erotischen Gabe seines eigenen Leibes. Erst im Eros kann ich völlig die Selbsterfahrung meines Leibes haben, und nur dort kann die Fremderfahrung ihre vollkommene Gewissheit erreichen. Das Erotische als gekreuztes Phänomen ist jedoch nicht restriktiv und lediglich als etwas Sexuelles zu verstehen. Jede leibliche Erfahrung, die durch Liebe bewegt ist, wie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden und auch zwischen Mensch und Gott, kann als erotisch gelten. Unter diesem Blickwinkel kann Gott selbst, wenn er die größte Liebe in sich trägt, als der „am meisten Liebende [le meilleur amant]“ (2003, 342/2011a, 319) erscheinen.
19.5 Die Offenbarung Gottes: Die letzte Möglichkeit des Phänomens und das Unmögliche Was sind die Bedingungen, unter denen von Gott innerhalb der Phänomenologie die Rede sein kann? Marions Beschäftigung mit der Frage nach Gott führt mindestens bis auf Dieu sans l’être (1982) zurück, einem Plädoyer für ein nichtmetaphysisches, d. h. nicht-ontotheologisches Verständnis des Göttlichen. Fünfzehn Jahre später, in Étant donné, ist die Herangehensweise phänomenologisch geworden, und die Offenbarung wird als eine sehr spezifische Form von Möglichkeit beschrieben: „eine Möglichkeit – genau gesagt […] höchste Möglichkeit, die Paradoxie der Paradoxien [une possibilité – en fait la possibilité ultime,
382 19. Jean-Luc Marion – Phänomenologie reiner Gegebenheit le paradoxe des paradoxes]“. (1997, 10/2015, 23) Dieser Weg von der Selbstgegebenheit des Phänomens zu einer neuen Konzeption der Offenbarung lässt sich wie folgt nachzeichnen: Wenn eine Phänomenologie der Sättigung darauf zielt, „die Möglichkeit in der Phänomenalität freizulegen [libérer la possibilité dans la phénoménalité]“, (1997, 326/2015, 392) dann muss sie auch so etwas wie ein „Maximum der Phänomenalität [maximum de phénoménalité]“ (1997, 326/2015, 392) als eine Möglichkeit annehmen. Das Offenbarungsphänomen muss sich in seiner Möglichkeit beschreiben lassen, ohne seine Wirklichkeit vorauszusetzen. Die Erforschung der gesättigten Phänomene kann dadurch der Offenbarung Gottes einen Platz einräumen, dass sie die Möglichkeit einer solchen Offenbarung berücksichtigt. Dabei folgt sie der bereits genannten Maxime, dass für die Phänomenologie die Möglichkeit immer „höher als die Wirklichkeit“ (GA 2, 51 f.; → 19.1) steht. Phänomenologisch betrachtet reduziert sich die Offenbarung Gottes zu einer Möglichkeit des Erscheinens. Die Phänomenologie kann über die faktische, geschichtliche oder empirische Wirklichkeit der Gottesmanifestation nichts sagen und deshalb verstößt sie keineswegs gegen den für sie inauguralen methodologischen Atheismus. Doch auch wenn die Phänomenologie nicht über die Wirklichkeit der Offenbarung entscheiden kann, so kann sie nichtsdestotrotz die Bedingungen ihrer Phänomenalisierung erfragen und beschreiben. Aber dann zeigt sich in einer Phänomenologie der Sättigung, dass das Offenbarungsphänomen nur als „paradoxe Paradoxie [paradoxe des paradoxes]“ oder als „Möglichkeit der Unmöglichkeit [possibilité de l’impossibilité]“ (1997, 328/2015, 395) erscheinen könnte. Diese phänomenologische Gesetzmäßigkeit unterscheidet sich in ihrer Geltung grundsätzlich von den Strukturgesetzen einer freien, geschichtlichen oder faktischen Offenbarung Gottes als Ansatz der Theologie. Es handelt sich nur deshalb um ein Maximum an Phänomenalität, weil das Offenbarungsphänomen die vier Typen von Sättigung (Ereignis, Idol, Ikon und Leib) auf einzigartige Weise zusammenbringt. (→ 19.4) Die Erforschung der gesättigten Phänomene weist der Theologie damit eine „phänomenologische Stelle“ (2001, 63) außerhalb der Metaphysik und außerhalb der Ontologie zu. Würde man darin bereits, wie Dominique Janicaud (1991; 2004) es in seinem Pamphlet über „Die theologische Wende der französischen Phänomenologie“ tut, die Verletzung eines fundamentalen phänomenologischen Verbots sehen, dann könnte Marion erwidern, dass seine Denkweise, ebenso wie jede andere strenge Phänomenologie, nicht nur alle Formen von Transzendenz reduziert, sondern auch die Offenbarung Gottes nur rein phänomenologisch in den Blick nimmt. Der entscheidende Unterschied liegt im Glauben an die Wirklichkeit der Offenbarung: „Die Grenze zwischen Phänomenologie und Theologie ist die Grenze zwischen Offenbarung als Möglichkeit und Offenbarung als Geschichtlichkeit“. (2005a, 97) Soll die Phänomenologie als eine potenziell universale Beschreibung der Erfahrung gelten, darf sie die religiöse Erfahrung und den Sinn ihres spezifischen
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Korrelats, des Göttlichen, nicht diskreditieren. Statt mit der Verletzung einer Grundnorm der Phänomenologie haben wir es deshalb mit einer fruchtbaren Vertiefung derselben zu tun, die der Reduktion treu bleibt und sich innerhalb der Grenzen der Gegebenheit hält. Die Phänomenologie wird damit auf jenem Gebiet zu einer wichtigen Hilfe, wo die klassische Metaphysik – wie L’idole et la distance und Dieu sans l’être es zu ihrer Zeit ausführlich gezeigt haben – gescheitert ist: auf dem Gebiet der Theologie. Denn die phänomenologische Figur Gottes ist als letzte Möglichkeit der Phänomenalität strenger und prägnanter gefasst als sein metaphysischer Begriff, der des höchsten Seienden. Es ist vor allem eine modale Bestimmung, welche diese phänomenologische Figur Gottes kennzeichnet. Dies wird in Certitudes négatives (§§ 8–13) besätigt, wenn das modale Verständnis Gottes als extreme, unbedingte Möglichkeit, und zwar als paradoxe „mögliche Unmöglichkeit“ bestimmt wird. In der Wider-Erfahrung dieses (Un) Möglichen, die im gleichen Zug die Endlichkeit des Menschen erweist, lässt sich ein besonderer Weg zu Gott zu finden.
19.6 Die negative Gewissheit und die Hermeneutik des Gegebenen: Wie spricht man von der Sättigung? Der Begriff der negativen Gewissheit, der mit Certitudes négatives eingeführt wurde, stellt einen Versuch dar, die epistemische und diskursive Fassung einer Erfahrung gesättigter Phänomene weiter zu präzisieren. Die Rede von negativer Gewissheit erkennt dabei die Grenzen des menschlichen Verstandes klar an. Sie enthält ein weitreichendes Eingeständnis der Unmöglichkeit spezifischer Formen von Wissen: „Jede prinzipielle Unmöglichkeit, eine berechtigte Frage zu beantworten, weist, für eine endliche Vernunft, eine negative Gewissheit auf.“ (2010, 316) Auch diese negative Gewissenheit ist dabei eine Art von Gewissheit oder Erkenntnis, die allerdings ohne jegliche Vergegenständlichung auskommt. Denn sie betrifft gerade die nicht-gegenständliche Dimension der Phänomenalität, gesättigte Phänomene wie die Gabe, das geschichtliche Ereignis, das Gemälde oder den Menschen selbst. Selbst wenn uns die Sättigung dieser Phänomene mit einer paradoxen Phänomenalität konfrontiert, so erlaubt es die negative Gewissheit als die spezifische epistemische Modalität dieser Phänomenalität, ein „Lob der Paradoxie“ (2010, § 31) auszusprechen. Die Ausarbeitung des Begriffs negativer Gewissheit ermöglicht darüber hinaus, die diskursive Erfassung gesättigter Phänomene genauer zu untersuchen. Ist der sprachliche Ausdruck nur eine nachträgliche Übersetzung einer WiderErfahrung, die sich zunächst nur intuitiv oder perzeptiv zeigt, als ein Überschreiten der Anschauung? Marion hat nach Étant donné (1997, 319/2015, 382) die Notwendigkeit einer Hermeneutik der gesättigten Phänomene anerkannt, und Certitudes négatives bietet eine nuancierte Analyse der Möglichkeiten einer
384 19. Jean-Luc Marion – Phänomenologie reiner Gegebenheit „Beschreibung der Sättigung der Phänomene“. (2010, 311) Eine solche Hermeneutik wird in Étant donné nur auf geschichtliche Ereignisse angewandt, aber in einem 1998 erschienenen und 2001 in De surcroît neu veröffentlichten Text auf das Ikon und auf das Gesicht erweitert. Die Hermeneutik der gesättigten Phänomene gilt Marion als ‚unendlich‘, da auch das Phänomen, das diese Hermeneutik zu erläutern versucht, prinzipiell unerschöpflich ist. In Certitudes négatives wird eine solche Hermeneutik jedoch in eine noch radikalere Richtung entwickelt. Um jede Vergegenständlichung auszuschließen und die Ereignisdimension gewisser Phänomene zu enthüllen, muss auch der „Banalität der Sättigung“ (2011b) Genüge getan werden. Auch da, wo der alltägliche Blick nur Gegenstände wahrnimmt, lassen sich so unerwartet gesättigte Phänomene entdecken. Ähnlich hebt Marion in Reprise du donné, wenn dort „die Gegebenheit in ihrer Hermeneutik“ betrachtet wird, die Aufgabe hervor, den Abstand zwischen dem, was ‚sich gibt‘ und dem, was ‚sich zeigt‘ durch eine Interpretation des Phänomenalen zu reduzieren. Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi (2010) betonen daher zu Recht, dass die Phänomenologie der Gegebenheit sich aufgrund dieser Spannung zwischen dem, was sich gibt und dem, was sich zeigt, einer Phänomenologie des Nicht-Erscheinenden oder des Unscheinbaren annähert. Die hermeneutische Auslegung des Phänomens versucht daher gewissermaßen zur Sichtbarkeit des Unscheinbaren beizutragen. Das epistemische Erlebnis der negativen Gewissheit weist jedoch nicht nur auf eine Form von Hermeneutik hin. Aus einer eher historischen Perspektive verweist sie auf die Geschichte und das Schicksal der apophatischen Rede innerhalb der negativen Theologie. Marions Interesse an der via negativa der Theologie in Bezug auf die Suche nach einer Sprache, durch welche die Ferne der göttlichen Transzendenz angemessen ausgedrückt werden könnte, geht ebenfalls zurück auf seine ersten Werke, auf L’idole et la distance und Dieu sans l’être. Marion ist dabei von der Intention geleitet, die apophatische Theologie gegen Derridas (1989) Kritik zu verteidigen, sie stütze sich noch auf eine metaphysische Ontotheologie. Die Negation kann jedoch nur dann als Mittel einer Rede fungieren, die keine „begriffliche Abgötterei“ ist, wenn sie einen dritten Weg anbietet: die via eminentiae, den Weg des Lobes, der nicht mehr prädikativ oder ‚nominativ‘ ist, das Göttliche weder als Prädikat noch als Namen versteht. (2001, 155–196) Nicht nur die Theologie, sondern auch die Philosophie und im Besonderen die Phänomenologie ist auf solche alternativen Artikulationsweisen angewiesen. Die Sprache der Liebe, die in Le phénomène érotique sowie im fünften Kapitel von Le visible et le révélé analysiert wird, bestätigt uns, dass eine solche Sprache möglich ist.
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19.7 Der Ausstieg aus der Metaphysik und die Phänomenologie als nachmetaphysisch In seiner Absetzung von der Ontologie folgt Marion dem Vorbild Levinas’, denn Levinas hat bereits 1951 in seinem klassischen Artikel die Frage formuliert, ob die Ontologie wirklich fundamental sei, und diese Frage gegen Heidegger gerichtet. (Levinas 1983, 103–119) Gibt es deshalb bei Marion wie bei Levinas eine neue Art von Metaphysik, die fundamentaler ist als die Ontologie? Marion behandelt die Überwindung des Horizonts der Ontologie bereits in Dieu sans l’être und bleibt dabei Heideggers Beschreibung der Metaphysik als Ontotheologie relativ treu. Wie andere berühmte französische Gelehrte (Pierre Aubenque, Remi Brague, Jean-François Courtine) hat Marion die Legitimität sowie die Fruchtbarkeit von Heideggers Konzeption der Metaphysik in seinen Arbeiten zur Geschichte der Philosophie auf die Probe gestellt. Die Beschränktheit und die Bedürftigkeit der Metaphysik rühren aber für Marion nicht nur von ihrer ontotheologischen Verfassung her, die Heidegger ausführlich beschrieben hat, (→ 6.11) sondern auch von ihrem begrifflichen Apparat, der laut Marion den Begriff als ein Idol fungieren lässt – was wiederum erklärt, warum die Metaphysik nicht in der Lage ist, Gott zu denken, ohne in Idolatrie zu verfallen. Marion spricht deshalb in einem Text von 1993, der in Le visible et le révélé neu veröffentlicht wurde, von einer „Aufhebung der metaphysischen und ontologischen Begriffe“, durch die sich die Koordination der Phänomenologie verschiebt, wenn es beispielsweise die Möglichkeit statt der Wirklichkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt oder die Gegebenheit statt der Gewissheit. Die Phänomenologie und die Phänomenologie der Gegebenheit oder der Sättigung im Besonderen kann als eine solche Aufhebung der Metaphysik gelten, ohne dass sie auf den Entwurf einer positiven Metaphysik zielte. Gondek/Tengelyi (2011, 203) bemerken in diesem Sinne zu Recht, dass die „Phänomenologie der Gabe […] weder der Metaphysik noch der Theologie einen Platz [einräumt]“. Marion bleibt eher Heideggers Versuch eines nachmetaphysischen Denkens treu. Seine Phänomenologie kann als Beispiel für ein solches Denkens verstanden werden kann, weil sie nicht nur das überlieferte Verständnis des Seienden, des traditionellen Gegenstandes der Ontologie, vom Phänomen her modifiziert, sondern auch das Ich, die Welt und Gott selbst in einem neuen Licht zu sehen erlaubt. Marion zielt auf eine Überwindung der Metaphysik nicht nur in der Form der Ontotheologie, sondern auch in der Form eines transzendentalen Entwurfs. Sein Verhältnis zu Kant könnte hier als Richtschnur oder Grundmuster dienen: Wenn Étant donné den Versuch macht, die transzendentale Analytik umzukehren, um eine neue Konzeption der Erfahrung, des Phänomens und des Subjekts zu liefern, dann verfolgen die späteren Schriften dasselbe Ziel in Bezug auf die zentralen Probleme der transzendentalen Dialektik,
386 19. Jean-Luc Marion – Phänomenologie reiner Gegebenheit insbesondere hinsichtlich der Welt und Gott. Für beide Umarbeitungen gilt, dass sie ein dezidiert nachmetaphysisches Projekt verfolgen. (Serban 2012a; 2012b) Jean‑Luc Marion Geboren 1946. Ausbildung an der ENS Paris, dann Professor für Philosophie in Poitiers, an der Universität Paris X Nanterre, dann Lehrstuhl für Metaphysik in Nachfolge von Emmanuel Levinas an der Universität Paris IV Sorbonne. Zuerst Gastprofessor an der University of Chicago in Nachfolge von Paul Ricœur, seit 2010 Professur für Katholische Theologie und Religionsphilosophie an der dortigen Divinity School. 2008 Aufnahme in die Académie Française in Nachfolge des Pariser Kardinals Jean-Marie Lustiger. Seit 2011 Mitglied des Päpstlichen Rates für die Kultur.
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20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion und Reflexion des Raumes Annika Schlitte
Als Nachfolger Husserls und Heideggers auf dem Freiburger Lehrstuhl für Philosophie der Neuzeit und Moderne und als Student bei Hans-Georg Gadamer ist Günter Figal fest in der Tradition der Hermeneutik und der Phänomenologie verwurzelt. Er entwickelt diese aber zu einem eigenen Ansatz fort, der den Subjektivismus, an dem die „korrelationistischen“ Philosophien des 20. Jahrhunderts seiner Auffassung nach trotz mehrerer Korrekturversuche immer noch leiden, zugunsten einer Rehabilitierung des Gegenständlichen überwinden soll. Nach Studien insbesondere zu Heidegger und Nietzsche hat Figal seine eigene Philosophie in der Monographie Gegenständlichkeit von 2006 erstmals systematisch ausgearbeitet und später zu einer Phänomenologie des Raumes ausgebaut. Figal arbeitet an einer Weiterentwicklung der Hermeneutik in Richtung einer Phänomenologie, die sich als theoretische Philosophie versteht und sich in jüngster Zeit durchaus positiv auf die Tradition der Metaphysik bezieht. Ästhetische Überlegungen zur bildenden Kunst, zur Literatur und insbesondere zur Architektur bilden einen wichtigen Zweig der Reflexion, der mit seinem räumlichen Verständnis von Phänomenologie eng zusammenhängt, wie noch zu zeigen sein wird. Dabei ist das Verhältnis zwischen Hermeneutik und Phänomenologie keineswegs frei von Konflikten, wie Figal z. B. gegen Ricœur herausstellt. So heißt es zu diesem Verhältnis zunächst recht deutlich: Zwischen der geschichtlichen Gebundenheit des hermeneutischen Denkens, wie Heidegger und vor allem Gadamer sie betonen, und der auf Voraussetzungslosigkeit beruhenden phänomenologischen Betrachtung gibt es keinen Kompromiß. (2009a, 180)
Doch muss die Hermeneutik nicht so geschichts- und traditionsgebunden gedacht werden wie Gadamer in seiner Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins dies tut. (Gadamer 1990) Wenn man das Verstehen als einen kontemplativen Vorgang versteht, der sich auf die Struktur eines Werkes richtet, kann die Hermeneutik zu einer „freien Betrachtung“ (2009a, 180) im Sinne der Phänomenologie führen. Diesen Weg von der Hermeneutik zur Phänomenologie erarbeitet Figal in Gegenständlichkeit. (Espinet/Rese/Steinmann 2011) Das Verstehen kann dann als Modell für die Phänomenologie dienen, insofern dabei die Möglichkeiten der Interpretation einerseits und die Präsenz des Textes andererseits auf eine Weise „in der Schwebe“ (2009a, 183) bleiben, die für das Verständnis von Phänomenen überhaupt aufschlussreich sein kann.
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Figal geht von der hermeneutischen Erfahrung aus, die es klassischerweise mit der Interpretation von Texten zu tun hat, und entwickelt aus ihr ein Modell für das phänomenologische Nachdenken. Dabei widmet er – entgegen einer subjektivistischen Tendenz der modernen Hermeneutik – dem Gegenstandspol der Erfahrung größere Aufmerksamkeit, indem er betont, dass die hermeneutische Erfahrung sich wesentlich durch Sachlichkeit auszeichnet: „In der hermeneutischen Erfahrung hat man es mit etwas zu tun, das man selbst nicht ist, mit etwas, das entgegensteht und darin herausfordert.“ (2006, 3) Das „Gegenständliche“, das, was entgegensteht, ist hier also zunächst die hermeneutische Sache, der man verstehend gerecht werden muss: „Bei der Sache ist man erst, wenn man interpretiert.“ (2006, 74) Gerade die Hermeneutik könne daher zu einer Aufwertung des Gegenstandspols beitragen, der in der modernen Subjektphilosophie und in aktuellen Strömungen des kulturellen Konstruktivismus vernachlässigt worden ist. Figal sieht die moderne Philosophie als ein „Entgegenständlichungsunternehmen“, (2006, 126) das die Kluft zwischen dem Subjekt und dem, was ihm entgegensteht, tendenziell leugnet. Zwar steht der Gegenstand immer jemandem oder etwas entgegen, ist also immer in einem Bezug, aber er geht darin nicht auf. Das Gegenständliche kann deshalb nicht vollständig aus dem Subjektbezug erklärt werden. Es ist zugänglich, aber es bleibt dabei auf Abstand. „Was ein Gegenstand ist, sagt das Wort selbst: Es ist das Entgegenstehende, das, was gegenüber ist und gegenüber stehen bleibt.“ (2006, 126) Kunstwerke sind für Figal Gegenstände par excellence, weil an ihnen ein Sinn erfahrbar ist, der nicht aus unserer Bezugnahme auf sie kommt. (2010) Die Gegenständlichkeit eines Textes kann man dadurch zur Geltung bringen, dass man ihn darstellt oder eben interpretiert – was Figal im Doppelsinn von „Klärung und Aufführung“ verstanden wissen will. (2006, 70) Interpretation ist „die Erkundung des Gegenständlichen“. (2006, 3 f.) So werden die Interpretationen daran gemessen, ob sie die Sache treffen, und doch kann man den Text nur interpretierend, vermittelt, verstehen. Wir haben den Text nur in seinen Interpretationen, und doch geht er nicht in der Interpretation auf; er bleibt in gewisser Weise äußerlich. Den Text und die Interpretation gibt es also nur in der Korrelation. Dieser Gedanke macht aus der hermeneutischen Erfahrung ein Modell für die Phänomenologie, die es mit Erfahrung überhaupt zu tun hat: „In der phänomenologischen Beschreibung wird jede Perspektive und jede Einstellung als Korrelation wechselseitiger Abhängigkeit betrachtet“. (2009a, 256) Damit wird die hermeneutische Erfahrung aufschlussreich für die grundlegende Korrelativität, welche die Wahrnehmung ausmacht. Das Wahrnehmbare ist nicht nur abhängig von der Wahrnehmung, sondern die Wahrnehmung ist auch abhängig davon, dass sich das Wahrnehmbare zeigt, dass es für die Wahrnehmung offen ist. Eine Reflexion auf eine solche die Erfahrung ermöglichende Offenheit macht aber nun ein Kernanliegen der Phänomenologie als Philosophie aus. Erst
390 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion dieser Überschritt macht die Hermeneutik laut Figal eigentlich philosophisch. Philosophie hat nämlich im Gegensatz zur Wissenschaft den Anspruch, voraussetzungslos zu denken, auch wenn die jeweiligen Philosophien dies nur begrenzt einlösen können. Die Phänomenologie verwirklicht diesen Anspruch in der Weise, dass sie nicht etwa auf einen letzten Grund zurückgeht, sondern „auf die Zugänglichkeit alles Begreiflichen und Beschreibbaren“. (2009a, 258) Dinge werden einerseits von einer wahrnehmenden Instanz entdeckt, andererseits ist dies nur möglich, wenn sie sich auch zeigen. Der Begriff des Phänomens beschreibt gerade diese „Doppeldeutigkeit“ von Entdecktwerden und Sichzeigen. Die „Reflexion und begriffliche Erfassung dieser Doppeldeutigkeit, also der Korrelation von entdeckender Instanz und Zugänglichem, Gegebenen ist Phänomenologie“. (2009a, 259) Ein Grundproblem der Konzeption von Phänomenologie hatte dabei bereits für Husserl darin bestanden, dass die entdeckende Instanz selbst zur phänomenalen Welt gehört, obwohl sie deren Bedingung der Möglichkeit ist. Figal will dieses Problem, mit dem sich etwa auch schon Heidegger und Merleau-Ponty befasst haben, dadurch lösen, dass er die Offenheit der Welt betont, die sich in der entdeckenden Instanz realisiert, in die sie aber selbst auch eingebunden ist. Diese Offenheit muss nach Figal als Raum angesprochen werden, der dadurch zu einem „phänomenologischen Grundbegriff “ (2009a, 262) avanciert. Die Erfahrung des Raums ist die Zugänglichkeit aller Dinge. „Das Erscheinen, Sichzeigen der Dinge in Korrelation zu einer wahrnehmenden und erschließenden Instanz ist räumlich; das Urphänomen jeder Phänomenalität ist der Raum.“ (2009a, 266) In Figals phänomenologischer Wendung der Hermeneutik erscheint diese „als ein Modell, an dem sich der phänomenologische Zugang zur Welt besonders gut verstehen läßt“, (2009a, o. S.) denn „[d]ie Abhängigkeit eines jeden Bezugs auf etwas vom Sichzeigen dessen, worauf man sich bezieht, wird hermeneutisch auf besonders intensive Weise ausdrücklich“. (2009a, 255) Hermeneutik und Phänomenologie stehen also in einem engen Zusammenhang, derart, dass die Entwicklung der Hermeneutik auf die Phänomenologie hinführt, denn nur die Phänomenologie vermag den ur-philosophischen Anspruch, voraussetzungslos zu denken, einzulösen: „Konsequent philosophisch ist die Hermeneutik nur als Phänomenologie.“ (2009a, o. S.) Es geht Figal jedoch um ein Verständnis der Phänomenologie, das diese (anders als bei Heidegger und Husserl) „aus der Hermeneutik selbst hervorgehen“ lässt. (2006, 145) Man versteht nicht nur etwas, sondern auch, wie es gegeben ist – das, was Figal das „Darstellungsgefüge“ (2006, 143) nennt. Die Korrelation von Erscheinen und Erscheinendem in einem solchen Gefüge macht die hermeneutische Erfahrung der philosophischen Betrachtung zugänglich.
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20.1 Die Welt als hermeneutischer Raum Hermeneutik wird damit von einer Lehre des Verstehens von Texten erweitert zu einem Verstehen von Welt und darüber hinaus weitergeführt zu einer Reflexion über die Möglichkeit des Verstehens und der Bezugnahme überhaupt. In der hermeneutischen Philosophie wird daher der Weltbegriff mit dem Verstehen verbunden: Es geht nicht um das Verstehen im Zusammenhang der Welt, sondern um die Welt des Verstehens – genauer darum, in welchen Hinsichten die Welt eine des Verstehens überhaupt sein kann. […] In der hermeneutischen Philosophie kommt die Welt begrifflich zur Sprache. (2009a, 9)
Doch welcher Weltbegriff ist hier gemeint? In einem Handbuchartikel über den philosophischen Weltbegriff unterscheidet Figal zwei grundlegende Bedeutungen von ‚Welt‘. ‚Welt‘ bezeichne einerseits im Sinne des antiken Kosmos „das Ganze dessen, was ist, in seiner Ordnung“ und andererseits den „Zusammenhang des menschlichen Lebens“. (2005, 1390) Phänomenologie und Hermeneutik haben sich – oft in kritischer Abgrenzung zum Begriff der Welt als Totalität alles Seienden – für einen Begriff der Welt stark gemacht, der den Zusammenhang gegenüber der Totalität privilegiert. In seinem Buch über Gegenständlichkeit zeichnet Figal nach, wie Heidegger in Sein und Zeit beide Weltbegriffe zu verbinden sucht. (2006, 174) Was am kantischen Begriff der Welt als Idee nämlich unbefriedigend bleibt, sei die radikale Unerfahrbarkeit dieser abstrakten Idee. Welterfahrung kann sich nach Figal aber nicht auf die Totalität beziehen, sondern kann nur eine Erfahrung in der Welt meinen. Die Welt muss „nicht nur als Inbegriff der existierenden Dinge, sondern ebenso sehr als Inbegriff ihrer möglichen Erfahrungen“ (2006, 178) gedacht werden. Husserl hatte mit diesem Anspruch den Begriff der Lebenswelt eingeführt. Mit diesem verbindet sich aber das oben bereits abgesprochene Grundproblem, dass die Subjektivität die Welt einerseits konstituieren soll, andererseits aber selbst ein Teil dieser ist. Als Lösung dieser Schwierigkeit bietet Husserl eine Aufspaltung von transzendentalem und empirischem Ich an, deren Verhältnis aber wiederum problematisch wird. Diese Aufspaltung kann nach Figal vermieden werden, wenn man nicht wie Husserl davon ausgeht, dass „die als All der Dinge gedachte Welt auf die Subjektivität der lebensweltlichen Subjekte und ihre sinnstiftende Leistung zurückgeführt werden muß“. (2006, 181) Figal schlägt daher vor, dass „die Welt als hermeneutischer Raum“ verstanden werden sollte: „Dann ist sie Lebenswelt und Dingwelt in einem, die Totalität des Inbegriffs der Erfahrung und des Inbegriffs dessen, was erfahrbar ist.“ (2006, 181) Der hermeneutische Raum eröffnet den Freiraum, innerhalb dessen die Korrelation von Erscheinen und Erscheinendem möglich ist. Das uns als äußerlich gegenübertretende „Dinghafte“ ist daher ebenso in der Welt wie unsere Be-
392 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion zugnahme auf Dinge; Lebenswelt und Dingwelt gehören zusammen „wie zwei Seiten einer Sache“. (2006, 181) Das, was erscheint und der, dem es erscheint, sind gemeinsam in einem hermeneutischen Raum. Inwiefern ist die Welt aber dieser hermeneutische „Raum“? Es war bereits kurz davon die Rede, dass die Zugänglichkeit aller Dinge nach Figal räumlich gedacht werden muss. In der Tat ist für ihn schon in Gegenständlichkeit „das Verständnis des Raums […] der Schlüssel zum Verständnis der Phänomenalität“. (2006, 153) Um dies plausibel zu machen, geht er genauer auf die Parallele von Interpretation und Wahrnehmung ein. Was die hermeneutische Erfahrung und die Wahrnehmung teilen, wird auf den räumlichen Begriff der „Ferne“ (2006, 155) gebracht. Mit der Betonung der Ferne ist gesagt, „daß das Wahrnehmbare niemals vollständig zur Geltung kommt, ebenso wie keine noch so differenzierte Interpretation den Text ihres Gegenstandes erschöpfend darstellt“. (2006, 155) Der Unterschied zu den Analysen Husserls lässt sich dadurch erläutern, dass Husserl zwar die Perspektivität der Wahrnehmung ganz ähnlich beschrieben hat, für ihn sei aber nur das einzelne Wahrgenommene räumlich, nicht die Wahrnehmung selbst, wie Figal es nun vorschlägt. (2006, 155) Zwischen mir und den Dingen liegt ein „gelebter Abstand“, der letztlich räumlich verstanden werden muss. Zeit, Freiheit und Sprache werden dann als Dimensionen dieses hermeneutischen Raumes angesprochen, der hier mit der Welt zusammenfällt: Freiheit, Sprache und Zeit sind die Dimensionen des Raums, in den das Verhalten gehört und in dem alles ist. Von dieser Allheit her verstanden, ist der hermeneutische Raum die Welt. (2006, 172)
20.2 Raumphänomenologie Die zentrale Bedeutung des Raums, die hier schon anklingt, wird in der 2015 veröffentlichten Monographie Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie systematisch ausgearbeitet. Während in Gegenständlichkeit die hermeneutische Erfahrung einen Weg von der Korrelation zwischen Text und Interpretation zu einem Verständnis der phänomenalen Korrelation eröffnete, geht es nun um den Raum als Ermöglichung des Phänomenalen. Dass damit ein Perspektivwechsel verbunden ist, deutet Figal im Vorwort mit der Metapher an, es gehe nun um „die Rückseite des Teppichs“, um die Bedingung der Möglichkeit der erscheinenden Welt. (Keiling 2019) Dabei hat der Untertitel Der Raum der Phänomenologie eine doppelte Bedeutung: „gemeint ist der Raum, sofern er phänomenologisch zum Thema wird und sofern er die Phänomenologie als solche ermöglicht“. (2015, 4) Hier ergibt sich für die Phänomenologie ein methodisches Problem, denn: „Wie soll sich das, was die Phänomene ermöglicht, phänomenologisch erkunden lassen? Als das die Phänomene und die Phänomenologie gleichermaßen Ermöglichende ist der Raum kein Phänomen.“ (2015, 4)
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Das, was die Erscheinungen ermöglicht, erscheint selbst nicht, und damit wäre es der phänomenologischen Beschreibung prinzipiell nicht zugänglich, die es ja immer mit Erscheinungen zu tun hat. Erscheinungen sind schließlich das, was sich zeigt. In diese Problemkonstellation, bei der es um die Möglichkeit der Phänomene und damit auch der Phänomenologie geht, führt Figal nun die Idee einer „Phänomenologie der Unscheinbarkeit“ ein. Das Unscheinbare ist nun aber nicht das Verborgene schlechthin, sondern das, was sich nicht primär zeigt und stattdessen Anderes sich zeigen lässt. Aus dieser Spannung, so Figals Grundansatz, lässt sich eine Phänomenologie entwickeln, die den Raum als das Unscheinbare bestimmt, das es den Phänomenen ermöglicht, sich zu zeigen: „Raum, so lässt diese Überlegung sich zusammenfassen, erscheint nicht, sondern ist unscheinbar, sodass eine Phänomenologie der Äußerlichkeit, eine realistische Phänomenologie, als solche eine Phänomenologie der Unscheinbarkeit ist.“ (2015, 4) Den Titel „Phänomenologie des Unscheinbaren“ findet man zwar schon beim späten Heidegger, (GA 15, 399; → 6.7) allerdings löse dieser das mit diesem Titel angesprochene Programm selbst nicht ein. Denn was dazu laut Figal notwendig wäre, ist eine sorgfältige Beschreibung, die für ihn ihr Vorbild eher bei Husserl oder auch beim frühen Heidegger findet als in Heideggers später Beschäftigung mit dem Unscheinbaren. Doch kehren wir zu dem Problem zurück, wie der Raum als das Unscheinbare der phänomenologischen Beschreibung überhaupt zugänglich sein kann – (wie) wird er erfahren? Hier präsentiert Figal eine Lösung, die darauf beruht, dass der Raum nicht als etwas vollkommen Verborgenes, hinter den Erscheinungen Liegendes verstanden werden soll, sondern als etwas Unscheinbares, etwas, das man immer miterfährt, ohne dass es im Fokus der Aufmerksamkeit stünde: Man erfährt Raum, zwar nicht so wie die Sachen und Sachverhalte, die im Raum sind und darin selbst räumlich sind, sondern anders, ohne dass man auf ihn zeigen oder ihn greifen könnte, man erfährt ihn mit – im Sichbeziehen auf etwas, in der Räumlichkeit dessen, worauf man sich bezieht und in dem eigentümlichen Spiel, in dem beide zusammengehören, wohl als dieses Zusammengehören, auch wenn man das nicht ohne weiteres sagen kann. (2015, 4)
Wenn man beschreibt, wie sich die Phänomene zeigen, trifft man mithin auf eine grundlegende Äußerlichkeit, die sowohl die Bezugnahme (z. B. in der Geste des Zeigens) als auch die Sache umfasst, auf die Bezug genommen wird. Diese Äußerlichkeit als das Offene, das einen Bezug erlaubt, ist der Raum.
20.3 Ort, Weite und Freiraum Was der Raum ist, lässt sich allerdings schwer bestimmen. Es gibt für Raum – anders als für Zeit – keine einheitliche Benennung über Sprachen hinweg, son-
394 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion dern verschiedene Ausdrücke wie z. B. Ort, Platz, Stelle etc. im Deutschen. Kein Wort bezeichnet dabei wirklich den Raum als solchen, sondern sie alle meinen besondere Räume, sodass „Raum überhaupt“ in der Sprache verdeckt bleibt. Figal hält sich daher an Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeiten und meint, dass das Wesentliche des Raumes nur „plural und dezentral bestimmbar“ (2015, 27) sei. Wenn es so etwas wie „Raum überhaupt“ geben soll, dann nicht in dem Sinne, dass es ein wesentliches Merkmal gibt, das Raum ein für alle Mal bestimmt, sondern „Raum überhaupt“ ist zunächst eine Leerstelle, die nur durch mehrere Charaktere gefüllt werden kann. Allerdings scheint dem Begriff der Leere dabei doch eine besondere Bedeutung zuzukommen. Aus Platons Kosmogonie im Timaios gewinnt Figal die wesentlichen Merkmale des Raumes. Im Kontext dieser Ursprungserzählung wird die χώρα von Platon als dasjenige, worin alles ist, und somit als ein Drittes zwischen dem Seienden und dem Werden eingeführt. In der χώρα ist das Einzelne auseinander und als solches verschieden, sie hat aufnehmenden Charakter und sie ist von dem, was in ihr ist, unabhängig, sie bleibt ihm äußerlich. Die Möglichkeit des Aufnehmens setzt aber Leere voraus. Ort, Weite und Freiraum werden daher ausgehend vom Timaios als Varianten von Leere und somit als Paradigmen für „Raum überhaupt“ eingeführt: Ort […] ist in besonderer Deutlichkeit das, was etwas aufnehmen kann oder aufgenommen hat; in der Weite spielt das Auseinander, in welcher Hinsicht auch immer, und die Offenheit im erläuterten Sinne ist das Zulassende, das sich in dem wiederfindet, was der Ausdruck ‚Raum‘ bezeichnet, wenn er im genauen Sinn als Freiraum verstanden wird. (2015, 54)
Im Anschluss an die Reflexion über Raum überhaupt und seine Charakteristika untersucht Figal dann dasjenige, was uns in der Welt begegnet, auf seine Räumlichkeit hin. Dinge, Lebewesen und Gebäude bilden für uns eine verständliche Welt, die über Begriffe erschlossen wird. Dabei zeichnen sich Gebäude dadurch aus, dass sie den ansonsten unscheinbaren Raum in besonderer Weise erfahrbar machen: „Gebaute Räume sind gebaute Unscheinbarkeit.“ (2015, 213) Auch Begriffe sollen nach Figal Raumcharakter haben, insofern sie eine Leerstelle von Möglichkeiten schaffen, die durch Erfahrungen gefüllt werden kann. Im Timaios findet Figal übrigens auch einen Hinweis darauf, dass zwischen Raum und Zeit keine Symmetrie herrscht, denn die Zeit wird der χώρα nachgeordnet. (2015, 39) Alles, was zeitlich ist, muss räumlich sein, aber nicht umgekehrt. Das liegt nach Figal daran, dass der Raum die Phänomene konstituiert, während die Zeit sie lediglich im Sinne der Sukzession ordnet. Ohne Lokalisierungen können wir uns aber nicht auf Zukünftiges oder Vergangenes beziehen, deswegen fundiert der Raum die Zeit und nicht umgekehrt. (2015, 188) Figal plädiert daher für eine Überwindung des traditionell auch in der Phänomenologie vorherrschenden Primats der Zeit, die er auch mit der eingeschränkten Per-
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spektive auf das Bewusstsein bei Husserl oder das Dasein beim frühen Heidegger in Verbindung bringt. (2017, 270) Von einer solchen Wendung von der Zeit oder der Geschichte hin zum Raum hatte auch Foucault in einer Antizipation des Spatial Turn gesprochen, auf den sich Figal zustimmend bezieht. (2015, 6 f.; Figal/Keiling 2016) Dabei denkt Figals Philosophie aber eben nicht nur über den Raum nach, sondern denkt die Philosophie selbst als räumlich. In diesem Sinne kommt dem Raum hier eine ähnlich zentrale Bedeutung zu, wie sie der Ort z. B. bei Edward Casey oder Jeff Malpas hat. (Casey 2009; Malpas 1999) Indem er den Aspekt der Offenheit und des Freiraums betont, knüpft Figal nicht nur an heideggersche Begriffe wie den der „Lichtung“, der „Offenheit“ oder der „Gegend“ an, sondern auch an seine eigenen Überlegungen zur Freiheit, auf die später noch zurückzukommen sein wird. (→ 20.5)
20.4 Realismus und Möglichkeitsbegriff Figal versteht seine Phänomenologie der Unscheinbarkeit explizit als realistische Phänomenologie oder als phänomenologischen Realismus. Dabei setzt er sich kritisch mit dem Vorwurf des Subjektivismus auseinander, den Quentin Meillassoux gegen die Phänomenologie als „Korrelationismus“ gerichtet hat. (Meillassoux 2008) Zwar habe Meillassoux recht, wenn er die Reduktion der Transzendenz auf ihre subjektive Bedeutung anprangere: „Wahrhafte, also transzendente Realität geht in der Subjektivität ihrer Erfahrung nicht auf.“ (2017, 28) Zuzugestehen, dass es Dinge außerhalb des Bewusstseins gibt, heißt aber nicht, dass diese in keiner Weise bewusst wären. Man darf aus dem Erscheinungscharakter der Phänomene auch nicht schließen, dass uns der Zugang zu den realen Dingen (den „Dingen an sich“) verschlossen bliebe. Das phänomenale Sein der Dinge schließt nämlich gerade nicht aus, dass diese real sind. Zwar sind wir es, die ein Verständnis von Realität haben, aber real ist die Realität selbst. Realität ist erfahrbar, und wenn sie erfahrbar ist, ist sie auch da. Daher hält Figal die Bewusstseinsimmanenz der Gegenstände auch nicht für Husserls letztes Wort. Die Beziehung von Noesis und Noema nötige Husserl nämlich, Phänomene als realitätsgesättigt anzunehmen. Gemäß der Intentionalität können wir in der Bezugnahme auf etwas das, worauf wir uns beziehen (den noematischen Aspekt), von unserer Bezugnahme selbst (der Möglichkeit des Betrachtens als dem noetischem Aspekt) unterscheiden. Die Phänomenologie bleibt also für eine realistische Position relevant, allerdings darf man laut Figal die Realität nicht, wie bei Husserl nahegelegt, als rein immanente Realität verstehen, sondern muss sie als äußerliche fassen. Die Korrelation würde dann anders als bei Husserl nicht auf das subjektive Erscheinen reduziert, sondern wäre wesentlich transzendent. In der phänomenologischen
396 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion Reflexion wird die Realität „als Realität in der Möglichkeit ihrer Transzendenz gesehen“. (2017, 33) Transzendenz bedeutet Äußerlichkeit, und damit ist sie ein räumlicher Begriff, was sich offenbar mit Figals Ansatz einer Raumphänomenologie verbindet: „Demnach ist die Phänomenologie wesentlich Reflexion des Raumes – derart, dass Raum und Räumlichkeit nicht ein beliebiges phänomenologisches Thema unter anderen ist, sondern dasjenige, was die Phänomenologie selbst ermöglicht.“ (2017, 32) Diese Vorstellung von Realität illustriert Figal am Beispiel eines Gebäudes, das von verschiedenen Seiten betrachtet wird. So „ist die transzendente Realität ein Ensemble von Möglichkeiten, von denen einige in der jeweiligen Erfahrung aktualisiert werden, während andere, oft unzählbar viele latent bleiben – wie zum Beispiel die Seiten eines Gebäudes, die man nicht gesehen hat. Dennoch sind sie als Möglichkeiten real.“ (2017, 34) Das Gebäude ist nicht auf seine Erfahrungen reduzierbar und doch ist es nicht unabhängig von seinen Erfahrungen. Die Erfahrungen aber sind abhängig von der Zugänglichkeit ihres Korrelats. Allein weil zum Beispiel ein Gebäude auf bestimmte Weise zugänglich ist, kann es in dieser Zugänglichkeit erfahren werden. Oder, um es phänomenologisch zu sagen: Etwas wie ein Gebäude kann nur in bestimmter Weise subjektiv erscheinen, weil es sich selbst zeigt und in diesem Sichzeigen das subjektive Erscheinen bestimmt. Die realen Möglichkeiten eines Gebäudes, sich zu zeigen, tragen und leiten seine Erfahrung; sie sind Möglichkeiten, die das subjektive Erfahren ermöglichen. (2017, 34)
Zwar wird das subjektive Erfahren noch von anderen Faktoren bestimmt, wie von der Verfassung der Wahrnehmungsorgane, der Position im Raum etc., „[d]och insofern das subjektive Erscheinen die Erfahrung von etwas ist, ist es sein Korrelat, das die Erfahrung ermöglicht“. (2017, 34) Was die Erfahrung ermöglicht, wird aber letztlich auf die Räumlichkeit der Korrelation zurückgeführt: „Die phänomenale Korrelation ist als solche Raum, und so ist auch die Phänomenalität als solche in ihrem Zusammenspiel von Noesis und Noema raumhaft. Der Raum ermöglicht die Phänomene und mit ihnen die Phänomenologie.“ (2017, 35) Obwohl Figal die Räumlichkeit des Erscheinenden zuerst im Kontext der Hermeneutik am Begriff der Darstellung erläutert hatte, (→ 20.1) machen diese Deutungen deutlich, dass sich auch die klassischen phänomenologischen Analysen der Sinnkonstitution nur durch eine Philosophie des Raumes einlösen lassen. Der Raum eröffnet die Möglichkeit des Spiels von Noesis und Noema, so dass Korrelation als Bezugnahme auf etwas nur in räumlicher Variabilität zu realisieren ist. Dass etwas sich zeigt, sollte man folglich vor allem in Raumbegriffen beschreiben, um die wesentlichen Strukturen des Erscheinens zu erfassen. Tut man dies, so zeigt sich die Realität des Erscheinens als Äußerlichkeit: Die Realität ist äußerlich, aber nicht außerhalb des Bewusstseins, das entsprechend ‚innen‘ wäre. Es gibt kein mentales ‚Innen‘, aus dem heraus man sich auf die Dinge be-
Annika Schlitte 397 ziehen würde – so wie man sich aus einem Gebäude durch ein Fenster auf etwas ‚dort draußen‘ bezieht. Bezugnahme und Realität sind beide ‚außen‘. Subjektives Erscheinen und objektiv Erscheinendes sind beide Möglichkeiten des Raums. (2017, 38)
Den Raum als Möglichkeitsraum zu beschreiben verweist dabei auf die wichtige Bedeutung der Möglichkeit für die methodische Grundlegung der Phänomenologie. Während sich die natürliche Einstellung am Wirklichen orientiert, interessiert sich die Phänomenologie gerade für das Mögliche. In der epoché wird die Wirklichkeit bei Husserl gerade ausgeklammert, denn der Phänomenologie geht es nur darum, wie sich mir das zeigt, was sich mir zeigt. Der „Raum überhaupt“ fällt darum mit dem Begriff der Welt tendenziell zusammen, aber eben nicht mit Welt als Inbegriff der wirklichen Dinge, sondern als „Möglichkeit von Lebewesen, Dingen und amorphen Qualitäten“. (2015, 55) Mit dieser Überlegung modifiziert Figal die These aus Sein und Zeit, dass Möglichkeit die „ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins“ (GA 2, 191) sei, indem er sie auf alles Phänomenale bezieht, auf alles, was im Raum erscheint.
20.5 Freiheit und Subjektivität Von der Möglichkeit und dem Freiraum zu sprechen legt es nahe, den Begriff der Freiheit einzuführen. Freiheit ist nicht nur ein Thema, das Figal z. B. in seiner Habilitationsschrift ins Zentrum seiner Heidegger-Interpretation stellt, (1988) Freiheit hat auch in seiner späteren Philosophie einen wichtigen Platz. In Gegenständlichkeit (2006, 183–224) wird Freiheit neben Sprache und Zeit als eine Dimension des hermeneutischen Raums eingeführt. Dabei bezieht sich die Freiheit auf das Handeln, das Nachdenken und auch auf die Dingwelt. Handeln ist Verhalten, das auf ein Ziel bezogen ist. Das Ziel gibt dem Handeln Sinn, d. h. Bestimmtheit und eine Richtung. Freiheit ist die „Möglichkeit zu können“, (2006, 183) wie Figal mit Kierkegaard sagt. Die Freiheit des Handelns besteht in der Offenheit und der Unklarheit des Ausgangs, auch sie impliziert immer einen gewissen Abstand zum eigenen Tun. Für Figals Position kennzeichnend ist jedoch, dass Freiheit auch den Dingen zugesprochen wird: Die Dinge bleiben frei von der Reduktion auf den Zugriff durch uns, indem sie widerständig sind, sich dem Zugriff entziehen, aber auch, indem sie ihn zulassen. (2006, 196–205) Dinge sind frei bzw. in Freiheit, insofern sie von uns entfernt sind. Hier knüpft Figal an seine Heidegger-Analysen an: Heidegger hatte in Sein und Zeit die Zugänglichkeit des Seienden als Freigabe verstanden und die Offenheit des Daseins für die Offenheit des Seienden betont. Aber hier war die Freiheit nicht nur Seinlassen der Dinge, sondern auch Freigabe durch das Dasein, womit die Dinge wieder vom Dasein abhängig werden. Später fasst Heidegger dann Freiheit als Sicheinlassen auf das Offene des Seins. Für Figal dagegen sind die Dinge nun „frei, insofern sie unabhängig von
398 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion uns und in dieser Unabhängigkeit zugänglich sind“. (2006, 357) Entsprechend will Figal mit dem Begriff des Lebens nicht die isolierte Existenz einzelner Lebewesen, sondern die gesamte Dreidimensionalität aus Freiheit, Sprache und Zeit fassen, in der wir uns gemeinsam mit anderen Menschen und Dingen befinden. (2006, 358) Es passt zu diesen Festlegungen, dass Figal die Verwendung des Subjektbegriffs für Beschreibungen menschlichen Lebens sehr kritisch sieht und meint, dass dieser immer noch das für seine Bedeutung ursprünglich prägende Substanzhafte an sich trage, dem eine Tendenz zur Verdinglichung innewohne. (2009a, 245) Subjekte sind „positional“ und als solche liegen sie den Objekten zugrunde; aber nicht alles in der Welt ist objekthaft. Es gibt Erfahrungen, die das Subjekt-Objekt-Schema stören, nämlich hermeneutische Erfahrungen. Text und Interpretation sind wechselseitig voneinander abhängig, ohne in einer Subjekt-Objekt-Beziehung zu stehen: „Die hermeneutische Erfahrung und die sie tragende Einstellung kann demnach Anlaß zur Korrektur der Subjektphilosophie sein. Sie ist der Widerpart eines dogmatisch an der Subjektivität orientierten Denkens.“ (2009a, 254) Figal bevorzugt daher schon in Gegenständlichkeit nicht nur den Begriff des Lebens gegenüber dem des Subjekts, sondern bringt diesen auch mit dem Begriff der φύσις in Verbindung. So sei φύσις das Wesen des Lebendigen, nicht des Seins: „Leben ist nicht Sein.“ (2006, 378) Darin liegt offenbar vor allem eine deutliche Abgrenzung von Heidegger und der an Aristoteles anschließenden ontologischen Fragestellung. In seinen Heidegger-Interpretationen findet Figal daher bei Heidegger eine falsche „Ontologisierung der Phänomenologie“ (2009b, 47) und weist diese zurück. Im letzten Kapitel von Unscheinbarkeit stehen nach der Erörterung der Dinge die Möglichkeiten der Bezugnahme im Zentrum, die uns als Wahrnehmenden zukommen. Die Bezugsmöglichkeit, die hier mit dem Ausdruck „Ich kann“ bezeichnet wird, ergibt sich aus unserer leiblichen Verfasstheit, welche die Voraussetzung für Wahrnehmung und Bewegung ist. Doch erfahren wir uns selbst nicht nur in dieser Bezugsmöglichkeit auf Dinge, sondern auch als lebendige Wesen. Im Zuge seiner Klärung des Lebensbegriffs kritisiert Figal sowohl Husserls als auch Heideggers Umgang mit dieser Frage: Husserl, der Leben als bloßes Strömen beschreibt und daher nicht klären kann, wie man aus diesem Strom heraustreten kann, um über ihn zu reflektieren; Heidegger, weil er zwar den Lebensbegriff zugunsten der Ontologie des Daseins aufgibt, dann aber doch das Dasein nicht ohne Bezug zum Leben denkt. Figal bezieht sich nun auf den Begriff des Lebens wie folgt: „Es ist der Komplex von organischen Vermögen und Fähigkeiten, der die Lebendigkeit eines Lebewesens ausmacht, und ebenso die Wirklichkeit, in der die Lebendigkeit sich bekundet und bestätigt.“ (2015, 154) Für die Möglichkeit der Bezugnahme spielen nun wieder räumliche Bestimmungen eine entscheidende Rolle. Als leibliches Wesen hat der Mensch ein
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„Hier“, das für ihn eine Art Nullpunkt der Orientierung darstellt. Dieses „Hier“ ist selbst kein Ort, denn den Ort kann man wechseln, das „Hier“ aber trägt man gewissermaßen immer bei sich. Das letzte „Hier“, das wir selbst sind, kann den Ort wechseln; es ist aber immer ein jeweils konkreter Ort, der durch uns zum Hier wird. (2015, 163) Man selbst kann nie „dort“ werden wie die Orte, die, nachdem sie hier waren, zum Dort werden, wenn wir sie verlassen haben. Zwar ist man immer irgendwo, aber „als es selbst ist das Hier, das man ist, allerdings nicht lokalisierbar; es kann nicht durch die Beschreibung oder Bezeichnung eines besonderen Ortes eingelöst werden. Man selbst ist für sich kein Ort.“ (2015, 164) Auch andere Lebewesen besitzen für Figal ein solches Hier. Wenn ich das Hier eines anderen Lebewesens miteinbeziehe, erfolgt eine Dezentralisierung meines Raums. Auch die Beziehung zu anderen Menschen oder anderen Lebewesen wird hier aus der Perspektive der Wahrnehmung beschrieben. Ich begegne dem Blick des Anderen und werde dadurch sichtbar. Figal nimmt nun auch auf die Frage personaler Identität Bezug, die er ebenfalls räumlich bestimmen will, womit er sich vom Gedanken einer Dominanz der zeitlichen Bestimmung im Sinne einer „narrativen Identität“ absetzt: „Demnach ist die Identität von Personen räumlich zu denken; eine Person ist darin dieselbe, dass sie dieselbe an verschiedenen Orten ist, derart, dass diese verschiedenen Orte sich im letzten zentralen Hier, das eine Person ist, verbinden.“ (2015, 187)
20.6 Philosophie als Metaphysik In seiner jüngsten Publikation verortet Figal seine Phänomenologie des Raumes im Diskurs der Metaphysik, auf den er sich positiv bezieht. Der Titel der Vorlesungen, Philosophy as Metaphysics, verweist darauf, dass Philosophie und Metaphysik nicht dasselbe sind, aber dass Metaphysik eine grundlegende Möglichkeit der Philosophie ist, an der auch heutiges Philosophieren nicht vorbeikommt. Philosophie wird also, wenn man sie als Metaphysik versteht, in einer bestimmten Perspektive angesprochen, aber diese Perspektive ist nach Figal essentiell für jede ernsthafte Selbstklärung der Philosophie: „This perspective is only justified if philosophy really as such is metaphysical – not necessarily in every respect, but of necessity in such a way that it cannot be understood neglecting its metaphysical character.“ (2019, 3) Philosophische Selbstreflexion muss daher diesen metaphysischen Charakter der Philosophie beachten und mitbedenken. Figal spricht von einem „Standard“, der durch die klassischen metaphysischen Ansätze gesetzt worden sei, und zu dem man sich als Philosophierender verhalten muss, selbst wenn man sich kritisch gegen ihn wendet. Daher lehnt Figal die Option eines postmetaphysischen Denkens explizit ab: „There is no ‚post-metaphysical‘ philosophical thinking, but only philosophical thinking
400 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion with a more or less affirmative attitude to the metaphysical standard of philosophy.“ (2019, 7) Grundlegend für ein Verständnis der Aufgabe der Metaphysik ist die Unterscheidung zwischen deskriptiver und revisionärer Metaphysik, die Figal von Peter Strawson übernimmt und folgendermaßen erläutert: Deskriptive Metaphysik will die tatsächliche Struktur unseres Denkens über die Welt beschreiben, wohingegen revisionäre Metaphysik eine bessere Struktur des Denkens über die Welt vorschlagen will. Metaphysik wird damit insgesamt als Beschreibung der Struktur unseres Denkens über die Welt gefasst. „Welt“ und „Denken“ seien dabei vage Begriffe, an denen sich der philosophische Impuls entzünden kann. Dabei besteht ein grundsätzlicher Dissens darüber, welche Struktur die Welt angemessener enthüllen kann – die tatsächliche Struktur unseres Denkens (deskriptive Metaphysik) oder eine neue Struktur (revisionäre Metaphysik). Das Kriterium der Angemessenheit führt zur Frage nach der Wahrheit, die für den metaphysischen Diskurs zentral sei: „Metaphysical discourse, then, is motivated by the question of truth.“ (2019, 12) Nun besteht aber bei metaphysischen Konzeptionen gerade Uneinigkeit darüber, was eine Position wahr macht – die Wahrheit selbst steht zur Disposition. Eben das macht sie nach Figal aber metaphysisch, und so kommt er zu der Schlussfolgerung, dass eine Philosophie, die sich um Wahrheit dreht, immer in diesem Sinne metaphysisch sein wird. Die Überlegung, dass Wahrheit das zentrale Thema der Metaphysik ist, und nicht etwa nur der Epistemologie, mag im Vergleich mit anderen Positionen und anderen Themenkatalogen der Metaphysik überraschen, ist aber für Figals Ansatz kennzeichnend. Ein Begriff wie Wahrheit kann jedoch nicht isoliert betrachtet werden, sondern bezieht sich auf andere Begriffe wie „Sein“ und „Erscheinen“. Philosophie als Metaphysik, die sich mit Wahrheitsfragen befasst, ist deshalb auch ontologisch, insofern sie eine Untersuchung des Seins umfasst, und phänomenologisch, insofern sie sich mit den Erscheinungen beschäftigt. Folgerichtig kommt Figal nach einer Auseinandersetzung mit Parmenides, Heraklit, Platon und Aristoteles über den Begriff der Erscheinung zur Skizze einer phänomenologischen Metaphysik. Erscheinungen sind Manifestationen von etwas, das nie auf eine Erscheinung reduziert werden kann, aber auch nicht ohne Erscheinungen zugänglich ist. (2019, 110) Figal zieht hier Konsequenzen aus den oben skizzierten Überlegungen, deutet sie jetzt aber explizit als metaphysische. Nicht nur ist die Erscheinung dem Sein nicht entgegengesetzt: „Appearing belongs to the being of something that as such can be there in different ways.“ (2019, 110) Weil Gegenstände multidimensional sind, können sie nie von ihren Erscheinungen getrennt werden. Als solche sind sie plural strukturiert und räumlich. Während es in Gegenständlichkeit, Unscheinbarkeit und der Auseinandersetzung mit Heidegger primär darum ging, Phänomenologie und Ontologie zu unterscheiden, führt Figal nun die Möglichkeit einer positiven ontologischen Fragestellung in-
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nerhalb der Phänomenologie ein, indem Seiendes, Seiendheit und Erscheinung miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dass etwas als ein bestimmtes Seiendes erscheint, führt Figal auf die Einheit möglicher Erscheinungen zurück, die zu einem Gegenstand gehören: „Experiencing something, then, means to experience appearances belonging to a particular horizon, which includes a set of factual and possible appearances and thus defines a particular being.“ (2019, 119) Davon zu unterscheiden ist die Seiendheit, die als eine bestimmte Bedeutung gefasst wird, die es der Erscheinung ermöglicht, das zu sein, was sie ist. Die Seiendheit wird in einer Abwandlung aristotelischer Bestimmungen beschrieben als eidetischer Horizont eines Seienden, der dieses dasjenige Seiende sein lässt, das es ist. (2019, 122 f.) Doch nicht alles, was erscheint, ist ein bestimmtes Seiendes. Als Konsequenz muss man zwei Typen von Erscheinungen von Sein unterscheiden; nämlich eidetisch bestimmte und primordiale Erscheinungen, die unbestimmt und unerschöpflich sind. (2019, 128) Damit überschreiten sie den Horizont der Metaphysik, da sie sich in deren Begriffe nicht einfangen lassen. (2019, 161) Solchen Erscheinungen, wie dem Flimmern des Sonnenscheins auf einer bewegten Wasseroberfläche, kann sich die Phänomenologie zwar zuwenden, aber dann verlässt sie die Metaphysik in Richtung der Ästhetik, Ethik oder Mystik. Figal erläutert dies anhand der Frage nach dem Schönen, das nicht auf die metaphysischen Fragen nach dem Sein oder der Wahrheit reduziert werden könne. (2019, 163) Damit spielt Figal auf Überlegungen zum Schönen an, die er in Erscheinungsdinge (2010) vorgelegt hat. Auch Aussagen über die Welt als Totalität scheinen in den metaphysischen Begriffen von Sein und Wahrheit nicht greifbar zu sein und werden nun dem Bereich des Mystischen zugeordnet, das aber durch seine Beziehung auf Aussagen über Seiendes in die Philosophie einbezogen werden kann. (2019, 168) Indem er diese Fragen – nach dem Schönen, dem praktischen Handeln, der Welt als ganzer – nun überraschenderweise explizit jenseits der Metaphysik verortet, will Figal allerdings die Metaphysik nicht in irgendeiner Weise ersetzen oder überwinden, sondern nur aufzeigen, dass ihre Zuständigkeit begrenzt ist. Wenn es um Wissen und Wahrheit geht, so Figal am Schluss seiner Ausführungen, brauchen wir die Metaphysik, aber es gibt Phänomene, die sich in diesen Rahmen nicht einfügen lassen. Figal plädiert daher für einen unaufgeregten Umgang mit der Metaphysik, vor der man deshalb keine Berührungsängste haben muss, weil sie nur ein philosophisches Anliegen unter mehreren ist, wenngleich ein sehr wichtiges und wirkmächtiges: Hence metaphysics is to be contextualized and thus be regarded as one philosophical project among others. Contextualized metaphysics is less dramatic than metaphysics has been during the last two centuries. It has become or is about to become a normal philosophical project among others. (2019, 171)
402 20. Günter Figal – Phänomenologie als raumhafte Reflexion Günter Figal Geboren in Langenberg (Rheinland) 1949. Studium der Philosophie und Germanistik in Heidelberg, wo Hans-Georg Gadamer, Michael Theunissen, Dieter Henrich und Ernst Tugendhat zu seinen philosophischen Lehrern zählten. 1976 Promotion bei Michael Theunissen und Dieter Henrich mit einer Arbeit über Adornos Ästhetik. 1987 Habilitation über Heideggers Phänomenologie der Freiheit. 1989–2002 Professor für Philosophie in Tübingen, 2002 Nachfolger Husserls und Heideggers auf dem Lehrstuhl für Philosophie der Neuzeit und Moderne an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg bis zu seiner Emeritierung 2017. Günter Figal war von 2003 bis 2015 Präsident der Martin-Heidegger-Gesellschaft und hatte diverse Gastprofessuren inne, u. a. in Aarhus, Nishinomiya/ Osaka und Rom. Er war 2005/06 Inhaber des Kardinal Mercier-Lehrstuhls an der Katholischen Universität Leuven, 2008 Gadamer Distinguished Visiting Professor am Boston College und 2017 Inhaber des International Chair of Philosophy Jacques Derrida, Law and Culture an der Universität Turin.
Literatur Figal, Günter (1988), Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a. M. – (2005), „Welt (philosophisch)“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 8, 4. Aufl., Tübingen, 1390–1392. – (2006), Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen. – (2009a), Verstehensfragen. Studien zur phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie, Tübingen. – (2009b), „Heidegger und die Phänomenologie“, in: Ders., Zu Heidegger. Antworten und Fragen, Frankfurt a. M., 34–54. – (2010), Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen. – (2015), Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen. – (2017), Freiräume. Phänomenologie und Hermeneutik, Tübingen. – (2019), Philosophy as Metaphysics. The Torino Lectures, Tübingen. Figal, Günter/Keiling, Tobias (2016), „Das raumtheoretische Dreieck. Zu Differenzierungen eines phänomenologischen Raumbegriffs“, in: Günter Figal/Hans W. Hubert/ Thomas Klinkert (Hg.), Die Raumzeitlichkeit der Muße, Tübingen, 9–28. Casey, Edward S. (2009), Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, Bloomington, IN. Espinet, David/Rese, Friederike/Steinmann, Michael (Hg.) (2011), Gegenständlichkeit und Objektivität, Tübingen. Gadamer, Hans-Georg (1990), Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke 1, Tübingen. Keiling, Tobias (2019), „Welt und Raum. Zum Problem des Unendlichen im Anschluss an Günter Figal“, in: Antonia Egel/David Espinet/Tobias Keiling/Bernhard Zimmermann (Hg.), Die Gegenständlichkeit der Welt, Tübingen, 283–316. Malpas, Jeff (1999), Place and Experience. A Philosophical Topography, Cambridge. Meillassoux, Quentin (2008), Nach der Endlichkeit. Versuch über die Notwendigkeit der Kontingenz, übers. v. Roland Frommel, Zürich/Berlin.
21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches Inga Römer
László Tengelyi hat in seinem letzten Buch Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik (2014) eine Perspektive vorgelegt, die durch zwei Hauptzüge gekennzeichnet ist. Zum einen vertritt er die These, dass die Phänomenologie einen neuen Typ der Metaphysik ermöglicht, der sich mit keiner Ontotheologie im Heidegger’schen Sinne verbindet, das heißt mit keinem Denken, das eine Lehre vom Seienden als Seiendem in einer Lehre von Gott verwurzelt. (→ 6.11) Er rückt damit in die Nähe einer Zeitdiagnose, die im Felde der jüngeren französischen Metaphysikgeschichtsschreibung formuliert wurde, wenn etwa Jean-François Courtine für die heutige Zeit vom „Ende des ‚Endes der Metaphysik‘“ spricht. (Courtine 2005, 13) Zum anderen ordnet László Tengelyi seinen Ansatz ausdrücklich dem zu, was er eine „Wuppertaler Tradition“ nennt: die von Klaus Held begründete Tradition, in der die Phänomenologie als solche als eine „Phänomenologie der Welt“ verstanden wird. (2014, 18; → 16) Diese orientiert sich an vier Grundgedanken: Erstens sei sowohl die Sache des natürlichen Lebens als auch die Sache der Philosophie die Welt. Zweitens allerdings sei der Mensch in der natürlichen Einstellung blind für sein eigenes Weltverhältnis. Drittens sei es gerade die Phänomenologie, die die Welt im Ausgang vom Weltverhältnis des Menschen zu erforschen vermag. Von einem vierten Held’schen „Grundsatz“ jedoch weicht Tengelyi ab: Während Held einer von Heidegger inspirierten Phänomenologie der Endlichkeit der Welt den Vorzug gebe, geht es Tengelyi um eine Rehabilitierung von „Husserls Unendlichkeitsgedanke[n]“. (2014, 19) Diese beiden Hauptzüge verbinden sich bei Tengelyi zu einer Phänomenologie der Welt und ihres Unendlichen, die sich als Erneuerung des Problems der Metaphysik mit originär phänomenologischen Mitteln versteht. Tengelyi findet die Quellen zur Ausarbeitung einer solchen Phänomenologie der Welt in erster Linie bei Husserl und Heidegger, darüber hinaus in der französischen Phänomenologie, bei Sartre und Levinas, aber auch bei Richir und Marion. Jenseits der phänomenologischen Tradition stützt er sich einerseits auf Aristoteles und Duns Scotus sowie andererseits auf Kant, Schelling und Rickert. Sein Ansatz greift jedoch nicht nur jeweils spezifische Aspekte der genannten Denker auf, sondern er schreibt sich auch in einen ganz bestimmten Forschungszusammenhang ein. Während es heute zahlreiche verschiedene Re-
404 21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches naissancebewegungen der Metaphysik gibt, entwickelt Tengelyi seinen Ansatz im Kontext der französischen Metaphysikgeschichtsschreibung, die er im ersten Teil seines Buches erörtert. Deren Leitfaden wurde über mehrere Jahrzehnte hinweg von einem Heidegger’schen Grundgedanken bestimmt: Metaphysik als solche ist Ontotheologie; Ontotheologie ist eine Verfallsfigur des Denkens; also ist die Metaphysik als solche eine philosophische Sackgasse. Diese These bildete den Ursprung eines von Jean-Luc Marion, Jean-François Courtine und Rémi Brague initiierten Forschungsprogrammes, in welchem diese allgemeine These in konkreten metaphysikgeschichtlichen Studien überprüft werden sollte. Das generelle Resultat war ein doppeltes: Zum einen habe die Heidegger’sche These in Hinblick auf die verschiedenen Autoren der Metaphysikgeschichte unterschiedliche Bedeutung, und zum anderen treffe diese These gar nicht auf alle Gestalten der Metaphysik zu. Diese Idee einer Vielfalt von „Grundtypen der Metaphysik“, die nur zum Teil ontotheologischer Natur sind, ist für Tengelyi von herausragender Bedeutung. Anhand der aus dem französischen Forschungsraum stammenden Typologie unterscheidet er vor allem drei Grundtypen der Metaphysik: (2014, Kap. II–IV ) Aristoteles, Duns Scotus (und Suárez) sowie schließlich Descartes hätten Positionen vertreten, die sich auf unterschiedliche Weise und in mehr oder weniger starkem Ausmaß mithilfe des ontotheologischen Schemas interpretieren ließen. Am zutreffendsten sei dieses Schema für Duns Scotus, am wenigsten angemessen für Aristoteles. Vollends unterschieden von der Ontotheologie jedoch sei ein vierter Grundtyp der Metaphysik: der phänomenologische. Diesen allerdings gelte es noch auszuarbeiten.
21.1 Das Modalitätsproblem: Möglichkeit bei Kant, Wirklichkeit bei Schelling, hypothetische Notwendigkeit bei Aristoteles Wichtige Quellen einer phänomenologischen Metaphysik diesseits der phänomenologischen Autoren sind Tengelyi zufolge zunächst Kant, Schelling und Aristoteles. Es sei vor allen Dingen ihre Behandlung des Modalitätsproblems, die die phänomenologische Perspektive vorzubereiten vermag. Von Kant übernimmt Tengelyi die Überzeugung, dass die Metaphysik in allererster Linie ein Problem ist und als ein solches formuliert werden muss, wenn man eine dogmatische Metaphysik im schlechten Sinne vermeiden will. Die Wichtigkeit dieses Gedankens kommt bereits im Untertitel seines Buches „Zum Problem phänomenologischer Metaphysik“ zur Geltung. Allerdings sei Kants eigene Position letztlich doch eine „travestierte Ontotheologie“, die sich im Rahmen einer „anthropologische[n] Wende der Ontotheologie“ herausbildet. (2014, 142) Kant kritisiere zwar die Metaphysik der reinen Möglichkeit scotistischen Typs, seine Rekonfiguration des Möglichen im Sinne der ‚Möglichkeit der Erfahrung‘ könne sich jedoch nicht vollständig von einem dogmatischen Primat des Möglichen
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lösen. Trotz seiner Kritik an einer Metaphysik der Möglichkeit, die losgelöst sei von der Erfahrung, tendiere Kant letztlich doch zu einer Position, in welcher jegliche Existenz und jegliche konkrete Erfahrung auf ein Erkenntnisvermögen zurückgeführt wird, das immer schon die Bedingungen jeglicher Erfahrung vorschreibt. Es werde dadurch a priori unmöglich, dass die Erfahrung etwas ganz und gar Unvorhergesehenes, wahrhaft Neues aufkommen lässt. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung schlössen die Erfahrung und ihre Gegenstände in die Zwangsjacke der Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung ein. Es ist dieses Problem, in Hinblick auf das Tengelyi bei Schelling einen wesentlichen Fortschritt erblickt: Schelling fordere „als Ausgangspunkt der positiven Philosophie von vornherein eine Wirklichkeit, die aller Möglichkeit vorausgeht“, womit er eine „Existenz ins Auge“ fasse, „die der Essenz vorhergeht“. Eben dies sei ein „entscheidende[r] Bruch mit der ontotheologischen Tradition […], die von Duns Scotus bis zu Leibniz, Wolff und Baumgarten gerade darum bemüht war, das Wirkliche aus der Gesamtheit des Möglichen abzuleiten“. (2014, 159) Schelling gehe insofern über Kant hinaus, als er nicht nur den Begriff der Möglichkeit kritisch einschränkt, sondern das grundlegende Primat der Wirklichkeit vor der Möglichkeit behaupte. Es sei dieser so geartete Schelling’sche „Versuch einer Überwindung der Ontotheologie“, (2014, 154) der „eine neue Epoche des philosophischen Denkens an[deutet]: die Epoche, die wir – im weitesten Sinne des Wortes – als die unsrige bezeichnen können“, (2014, 168) und in die Tengelyi seine eigene Idee einer phänomenologischen Metaphysik einschreibt. Die ersten Spuren dieser Linie sieht Tengelyi jedoch bereits am Anfang der Metaphysikgeschichte: bei Aristoteles. Weit entfernt von einer ontotheologischen Lektüre der aristotelischen Metaphysik hebt Tengelyi dessen Gedanken einer hypothetischen Notwendigkeit hervor. Während für Kant Notwendigkeit und Apriorität untrennbar sind, gebe es bei Aristoteles die Idee einer von der Apriorität losgelösten Notwendigkeit mit hypothetischem Charakter: Ein Seiendes ist solange notwendig, wie es existiert, denn seine Existenz schließt die Möglichkeit seiner Nichtexistenz aus. Wenn – hierin liegt das Hypothetische – ein Seiendes existiert, dann ist es notwendig, und zwar genau so lange, wie es tatsächlich existiert. Dieser aristotelische Gedanke einer hypothetischen Notwendigkeit ist zwar nicht identisch mit der Notwendigkeit des Faktums der metaphysischen Urtatsachen, die Tengelyi bei Husserl ausmachen wird, aber er ist doch eine erste wichtige Vorbereitung für jene.
21.2.
Metaphysik zufälliger Faktizität
Es gibt in Husserls Schriften nicht eine einzige, eindeutige Stellungnahme zum Problem der Metaphysik, sondern es müssen vielmehr mindestens drei Haltun-
406 21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches gen voneinander unterschieden werden. (→ 1.1) In den Logischen Untersuchungen schreibt Husserl: „Metaphysische Fragen gehen uns hier nicht an“, (Hua XVIII, 122) wobei er „[d]ie Frage nach der Existenz und Natur der ‚Außenwelt‘“, die „eine metaphysische Frage“ sei, zugunsten einer „Erkenntnistheorie, als allgemeine Aufklärung über das ideale Wesen und über den gültigen Sinn des erkennenden Denkens“, (Hua XIX /1, 26) zurückstellt. Diese Neutralität in Bezug auf das Problem der Metaphysik wird seit den Ideen I zugunsten einer ersten affirmativen Stellungnahme zur Metaphysik aufgegeben, eine Positionierung, die Husserl bis in die Vorlesung Erste Philosophie aufrechterhält und vertieft: Nunmehr strebt er eine phänomenologische Ontologie als Erste Philosophie an, die einer Zweiten Philosophie vorausgehe, welche ihrerseits Wissenschaft von der als metaphysisch verstandenen Gesamtheit der Wirklichkeit sei. (Hua VII, 13 f.; 188) In dieser Problemkonstellation geht die ontologische Möglichkeit der metaphysischen Wirklichkeit vorher. Eben dieses Verhältnis aber wird in anderen Schriften Husserls radikal modifiziert, und zwar hin zu einem Primat der Faktizität vor der Möglichkeit. Es ist diese dritte Perspektive Husserls auf das Problem der Metaphysik, die für Tengelyi die entscheidende ist. Sie liegt keineswegs auf der Hand, weshalb er sie vor allen Dingen erst einmal aus den Husserl’schen Schriften herauszuarbeiten sowie dann zu systematisieren und weiterzuführen sucht. Die Metaphysik zufälliger Faktizität gründe sich bei Husserl auf Urtatsachen, die jeder eidetischen Variation und damit jeder eidetischen transzendentalen Phänomenologie noch zugrunde liegen. Tengelyi identifiziert zunächst vier derartige Urtatsachen in Husserls Schriften: das jeweilige Ich, die Welthabe dieses Ich, das intentionale Ineinandersein des Ich und der Anderen und das Faktum einer Geschichtsteleologie, welche von Husserl zuweilen „mit einer eigentümlichen Gottesidee in Verbindung gebracht wird“. (2014, 185) Das Ich habe zwar einen gewissen Vorrang, der jedoch keineswegs zu überschätzen sei, da sich das Ich wegen des intentionalen Ineinanderseins mit den Anderen in eine Vielheit aufspalte. In dieser vierfach gegliederten Metaphysik der Urtatsachen sieht Tengelyi eine Husserl’sche Verwandlung der klassischen metaphysica specialis: Es zeichneten sich „die Umrisse einer Metaphysik ab, in der die Dreierstruktur von Ich, Welt und Gott durch eine Viererstruktur von Ichsubjekt, Welthabe, intentionales Ineinander und Geschichtlichkeit ersetzt wird“. (2014, 186 f.) Entscheidend ist jedoch, dass diese Urtatsachen in ihrer Faktizität und Vielheit bestehen bleiben, ohne dass sie selbst noch einmal aus ersten Ursachen abgeleitet werden könnten. Es ist in ihnen keinerlei ontotheologische Grundstruktur auszumachen. Trotzdem sind sie nicht einfach empirische Tatsachen unter anderen. Sie haben die hypothetische Notwendigkeit eines Faktums, wie sie von Aristoteles erörtert wurde, allerdings hat diese Notwendigkeit eines Faktums bei den metaphysischen Urtatsachen eine spezifische Gestalt: Die hypothetische Notwendigkeit der Urtatsachen hängt jeweils von ihrem „Charakter aktuellen Vollzugs“ ab,
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einem Vollzug, der sich nicht auf das Vorliegen einer gegebenen empirischen Tatsache reduzieren lässt und dessen Vorteil gegenüber der aristotelischen Konzeption in „der Performativität“ liegt. (2014, 190) Das Hypothetische in der Notwendigkeit der Urtatsachen liegt darin, dass sie nur notwendig sind, wenn sie aktuell vollzogen werden; dieser Vollzug selbst ist jedoch keineswegs absolut notwendig. Diese bei Husserl identifizierte Grundidee einer Metaphysik zufälliger Faktizität übernimmt Tengelyi nicht lediglich, sondern er ergänzt sie auch um eine fünfte Urtatsache: „die Urtatsache des Erscheinens selbst“. (2014, 190) Dieser Gedanke wird im Buch nur sehr kurz eingeführt, er scheint jedoch von großer Tragweite zu sein, denn es handelt sich darum, „Husserls Ansatz zu einer Metaphysik der Faktizität auch auf die metaphysica generalis auszudehnen“. (2014, 190 f.) Es handelt sich offenbar um den Grundgedanken einer Ersetzung der Metaphysik des Seienden als Seienden überhaupt durch eine reduzierte Metaphysik des Erscheinenden in seinem Erscheinen. Das Erscheinen selbst als Urtatsache zu bezeichnen deutet auf eine Brückenfunktion dieser Urtatsache zwischen der Metaphysik der Urtatsachen und dem auf sie gestützten methodologischen und metontologischen Transzendentalismus hin, in dem es um die Strukturen des Erscheinenden in seinem Erscheinen geht.
21.3 Erfahrungskategorien und bloß methodologischer Transzendentalismus Die Phänomenologie vermag dann „eine andere ‚Erste Philosophie‘“ zu sein, wenn sie sich als „phänomenologische Kategorialanalyse“ versteht, deren Kategorien lediglich Kategorien des Erscheinenden in seinem Erscheinen beziehungsweise „Grundbestimmungen des Erfahrungsgeschehens“ sind. (2014, 194) Der Anspruch einer Ontologie des Seienden als Seienden müsse zugunsten einer anderen Ersten Philosophie aufgegeben werden, die weder nach Seinsbestimmungen des Seienden noch nach Existenzialien des Daseins, sondern lediglich nach Erfahrungskategorien sucht. Als Bezeichnung für diese Erfahrungskategorien prägt Tengelyi den Ausdruck „Experientialien“. (2014, 194) Diese Experientialien sind in den metaphysischen Urtatsachen fundiert und stellen lediglich „Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung“ (2014, 197) dar. Als solche können sie nicht ein für alle Mal festgestellt und aufgelistet werden und haben damit eine geringere Stabilität als die kantischen Kategorien des Gegenstandes der Erfahrung. Es bleibt immer möglich, im Ausgang von der konkreten Erfahrung neue Experientialien zu entdecken. Die Art dieser Entdeckung ist Tengelyi zufolge dem von Kant in der Kritik der Urteilskraft erörterten reflektierenden Urteil verwandt, welches im Ausgang von einem gegebenen Besonderen zu einem allererst gesuchten Allgemeinen fortschreitet, ohne dass das Allgemeine im vor-
408 21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches hinein bereits vorliegt. (2014, 198) Als erste Erfahrungskategorie dieser Art nennt Tengelyi die Wirklichkeit der Welt, (2014, 197) verstanden als erscheinende Gesamtheit aller Einstimmigkeitstendenzen. Im Weiteren geht es im Anschluss an Husserl darum, „Kategorien wie Raum, Zeit, körperliche Substanz, Kausalität und raumzeitliche Unendlichkeit im Rahmen der Lebenswelt zu erforschen“. (2014, 222) Die Aufgabe ist deutlich: Die Erfahrungskategorien der Lebenswelt sind in ihrem Status als Experientialien zu verstehen und ihr Bezug zu den metaphysischen Urtatsachen ist herauszuarbeiten. Die Transformation der metaphysica generalis oder der Ersten Philosophie in eine phänomenologische Analyse der Erfahrungskategorien führt Tengelyi zu einer Neubestimmung der phänomenologischen Transzendentalphilosophie: Diese sei ein bloß „methodologische[r] Transzendentalismus“. (2014, 200) Der Gegenbegriff zu einem bloß methodologischen Transzendentalismus ist für ihn ein transzendentaler Idealismus. Es geht hierbei um den Unterschied zwischen einem Idealismus, der die Wirklichkeit vollständig vom Bewusstsein abhängig macht, und einem Transzendentalismus, für den das Urfaktum Bewusstsein lediglich den Ausgangspunkt der Analyse darstellt, von dem aus die Frage nach der Wirklichkeit und ihren Strukturen erforscht wird. Das Hauptargument für die Möglichkeit einer phänomenologischen Konstitution auch einer bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit sieht Tengelyi in Husserls Argument einer „rückläufigen Konstitution“: Mit dieser fasse Husserl „eine Realität ins Auge, die sich im Bewusstsein selbst als bewusstseinsunabhängig erweist“. (2014, 212) Der anvisierte bloß methodologische Transzendentalismus versteht sich als „eine wohlbesonnene Arbeitsphilosophie“, die sich nicht auf einen „Streit“ zwischen „Standpunkten“ und nicht auf einen „Weltanschauungskampf“ einlässt. (2014, 212) Als einen derartigen standpunktmäßigen Weltanschauungskampf fasst Tengelyi nicht nur den Streit zwischen Subjektivismus und Naturalismus, sondern auch den Streit zwischen Idealismus und Realismus auf.
21.4 Metontologischer Transzendentalismus: die Welt und ihr Unendliches Die Verbindung der Metaphysik zufälliger Faktizität (als Transformation der metaphysica specialis) mit dem bloß methodologischen Transzendentalismus der Erfahrungskategorien (im Sinne einer verwandelten metaphysica generalis) nimmt bei Tengelyi die Gestalt einer Philosophie der Welt und ihres Unendlichen an. Die anvisierte Gestalt der Phänomenologie ist weder eine Philosophie des Subjekts noch eine Philosophie des Seins, sondern es handelt sich um eine Phänomenologie der Welt, deren Zentrum die Differenz zwischen Welt und Ding im Sinne einer Überschreitung des Dinges hin zur Welt bildet. Dieser Gedanke führt Tengelyi dazu, den methodologischen Transzendentalismus
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hin zu einem metontologischen Transzendentalismus eigener Art zu radikalisieren. Der Ausdruck „Metontologie“ wird von Heidegger in der 1928 gehaltenen Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz gebraucht. Es handelt sich um einen wenig ausführlich behandelten Begriff, der jedoch eine neue Problemkonstellation anzuzeigen scheint. Heidegger hebt hervor, dass „Sein“ nur dann „verstanden werden kann, wenn eine mögliche Totalität von Seiendem schon da ist“. (GA 26, 199) Die „neue Fragestellung“ nach der „Totalität von Seiendem“ aber liege „im Wesen der Ontologie selbst und ergibt sich aus ihrem Umschlag, ihrer μεταβολή. Diese Problematik bezeichne ich als Metontologie“. (GA 26, 199) Heidegger vertritt hier die Auffassung, dass die „Fundamentalontologie“, mit ihren zwei Momenten einer mit Sein und Zeit unternommenen „Analytik des Daseins“ einerseits und der „Analytik der Temporalität des Seins“ andererseits, (GA 24, 321–470) in die Metontologie umschlägt und „Fundamentalontologie und Metontologie in ihrer Einheit […] den Begriff der Metaphysik [bilden]“. (GA 26, 202; → 6.10) Tengelyi knüpft nun an diesen Gedanken einer Metontologie auf eine bestimmte Weise und mit einer eigenen Weiterführung an. Seine Auslegung der Heidegger’schen Idee ist zunächst folgende: „Das μετά der Metontologie deutet jenseits der Ontologie eine […] Lehre von der Gesamtartikulation der Welt an.“ (2014, 416) Für Tengelyi also ist der Gegenstand der Heidegger’schen Metontologie eine Gesamtartikulation der Welt, genauer gesagt ist die Metontologie eine Lehre vom „Weltentwurf “. (2014, 417) Der Weltentwurf aber ist eine Gesamtartikulation der Welt, in welchem „eine metontologische Transzendenz“, das heißt „ein Übergang vom Ding zur Welt“, (2014, 417) stattfindet. Bis zu diesem Punkt handelt es sich dem Anspruch nach um eine Auslegung der Heidegger’schen Vorlesung. In der Folge jedoch führt Tengelyi eine wesentliche Akzentverschiebung ein: Während Heidegger die Welt als das Seiende im Ganzen bestimmt, geht es Tengelyi um die Einführung eines „diakritische[n] Unterschied[es]“ der „grundlegende[n] Differenz zwischen Totalität und Unendlichkeit“. (2014, 417) Der Umschlag in die Metontologie wird daher nicht als ein Umschlag in das Seiende im Ganzen beziehungsweise die Totalität von Seiendem verstanden, sondern er wird als ein Umschlag in die Gesamtheit der Welt aufgefasst, die als solche immer schon ins Unendliche verweist. Dieses diakritische Verhältnis von Totalität und Unendlichkeit führt Tengelyi zufolge in eine den kantischen Antinomien verwandte Situation „agonale[r] Weltentwürfe“. (2014, 411) Der transzendentale Weltentwurf stünde in unserem Zeitalter einem „naturalistische[n] Autarkismus“ (2014, 420) gegenüber, ohne dass ein für alle Mal eine Entscheidung für den einen oder den anderen Weltentwurf getroffen werden könnte. Der Grund für diese unvermeidliche Unentschiedenheit ist nach Tengelyi folgender: Ein Weltentwurf sei eine unendliche Idee, aber diese sei stets nur durch eine endliche Anzahl einstimmiger Erfah-
410 21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches rungen bezeugt. Wegen dieser unüberwindbaren Differenz zwischen dem unendlichen Weltentwurf und seiner endlichen Bezeugung kann ein Weltentwurf prinzipiell niemals vollständig durch die Erfahrung begründet werden. Umgekehrt ist eine endliche Anzahl von Erfahrungen kompatibel mit mehreren, verschiedenen Weltentwürfen. Wenngleich der Leser den Eindruck haben mag, der Naturalismus sei doch letztlich auch ein Weltentwurf und damit im Nachteil gegenüber der transzendentalen Option, plädiert Tengelyi für einen „agonale[n] Respekt“ (2014, 425) zwischen den Vertretern des Transzendentalismus und denen des Naturalismus. Er selbst begnügt sich im Rahmen dieser respektvollen Haltung mit einem „Beweisgrund für die transzendentale Option“, (2014, 425) ohne dass er damit den Anspruch erhebt, die naturalistische Option widerlegt zu haben. Dieser „Beweisgrund“ stützt sich auf folgenden Grundgedanken: Für den naturalistischen Autarkismus sei „der Glaube an eine in sich geschlossene Selbstgenügsamkeit der Natur“ (2014, 420) zentral, während der metontologische Transzendentalismus dafür argumentiere, „dass die Natur dem Geist, dem Bewusstsein und der Subjektivität nicht als geschlossenes Ganzes gegenübersteht, weil die Individuation in der Natur notwendig unvollendet bleibt“. (2014, 428) Diesen Gedanken einer unvollendeten Individuation in der Natur stützt Tengelyi auf die von Husserl in den Ideen II erwogene Idee eines „offene[n] Wesen[s]“ des Dinges, „das immer wieder je nach den konstitutiven Umständen der Gegebenheit neue Eigenschaften annehmen kann“. (Hua IV, 299; 2014, 429) Gegenüber Husserls Überlegungen erhält diese Idee jedoch noch eine metontologische Vertiefung, insofern Tengelyi nicht nur „den Einzeldingen der Welt […] ein offenes Wesen“ zuzuschreiben gedenkt, sondern daraus auch die Schlussfolgerung zieht, dass „die Natur ebendeshalb keine in sich geschlossene Totalität […], sondern notwendig Teil einer Gesamtwelt bleibt, die durch offene Unendlichkeit gekennzeichnet ist“. (2014, 430 f.) Diese phänomenologische offene Unendlichkeit sucht Tengelyi über eine Auseinandersetzung mit Cantors Mathematik des Transfiniten zu präzisieren, in der das Transfinite als der Begriff eines systematisch erweiterbaren Unendlichen fungiert und dem Absolutunendlichen gegenübergestellt wird. Es handelt sich bei Tengelyis Bezugnahme auf diese Idee nicht um eine ungeprüft vorausgesetzte Akzeptanz eines mengentheoretischen Begriffes. Vielmehr geht es darum, den Cantor’schen Begriff des Transfiniten heranzuziehen, um dem phänomenologisch ausweisbaren Unendlichen schärfere Konturen zu verleihen. Tengelyi kommt zu dem Ergebnis, „dass Husserls Phänomenologie von Ding und Welt […] als die eigentliche Metaphysik des Transfiniten zu gelten hat“, während „Cantors eigener Ansatz“ noch „unter der Last einer fragwürdigen Idealisierungstendenz zusammenbricht“. (2014, 488) Allerdings werde Husserl in den Ideen II schließlich „darauf aufmerksam […], dass nicht einmal die Idee des Transfiniten die Vorstellung einer geschlossenen Totalität vom phänomenologischen Weltbegriff gänzlich fernhalten kann“. Die Konsequenz daraus sei, dass „er
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eine offene Unendlichkeit ins Auge“ fasse, „die er vom Transfiniten unterscheidet“, eine offene Unendlichkeit, die die Gestalt „einer lebensweltlichen Sicht auf das Unendliche“ annehme. (2014, 508) Der Leitgedanke bei allen Untersuchungen der diakritischen Differenz von Totalität und Unendlichkeit bleibt jedoch, dass es sich, im Sinne einer wechselseitigen Dependenz, stets um „das Unendliche dieser Welt“ (2014, 548) und niemals um eine losgelöste, weltjenseitige Unendlichkeit handelt. So wie einem Zeichen nur in Bezug auf andere Zeichen Sinn zukommt, so kann dem Unendlichen nur als Überschreitungsfigur der Welttotalität ein Sinn verliehen werden. Diese Vorsicht in Hinblick auf das phänomenologisch ausweisbare Unendliche schreibt sich in einer Vorsicht in Hinblick auf den Ort Gottes in einer phänomenologischen Metaphysik fort. Tengelyi sieht die philosophisch entscheidende Denkfigur im Unendlichen und nicht in einem wie auch immer veränderten Gottesbegriff. Allerdings liege „vielleicht“ gerade das offene Unendliche „jeder Überlieferung religiöser Art zugrunde“ – allerdings ohne sich „jemals ganz“ in irgend eine konkrete Überlieferung „einschließen“ zu lassen. (2014, 556) Das Primat kommt in der phänomenologischen Metaphysik der Welt und ihrem Unendlichen zu.
21.5 Philosophie als Weltoffenheit Das von Tengelyi selbst vollendete und posthum erschienene Buch Welt und Unendlichkeit ist jedoch nicht sein letztes Wort zur Frage nach einer auf den Weltbegriff ausgerichteten phänomenologischen Metaphysik gewesen. Es liegt noch ein Vortragsmanuskript mit dem Titel „Philosophie als Weltoffenheit“ (2015) vor, dessen Inhalt im Juli 2014 vom Autor in Wuppertal vorgetragen und im Jahre 2015 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffentlicht wurde. Dieser Vortrag enthält neue Gedanken gegenüber dem Buch. In einer Vertiefung seiner Kritik an Heidegger strebt Tengelyi nun ein „Weltdenken“ (2015, 961) des Seienden im Ganzen an, das sich durchaus „als Wissenschaft vom Universum des Seienden“ (2015, 967) versteht. Er sucht nach einem „Denken des Systems“, das sich als „Streben nach einem Zusammenhalt“ von „einem Willen zur Weltbeherrschung“ wesentlich unterscheidet. (2015, 964) Ansatzpunkte zu seiner Ausarbeitung findet Tengelyi bei Rickert, Duns Scotus, Heidegger und dem späten Schelling. Der von Rickert übernommene Gedanke ist der eines heterologischen Prinzips, demzufolge zwei in der Erfahrung verankerte und jeweils in sich selbst positiv bestimmte Begriffe die Totalität der Welt erschöpfen. Durch derartige heterologische Begriffspaare sei eine systematische Wissenschaft vom Universum des Seienden im Ganzen möglich, die „den Zusammenhalt geistiger Gegensätze“ (2015, 967) zu denken vermag. Ein derartiges Denken des Systems
412 21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches gründe ein solches weder auf ein einziges homogenes Prinzip, noch nehme es die Gestalt einer Dialektik der bestimmten Negation an, wenngleich es durchaus an Platons Dialektik des Selben und des Anderen (ἕτερον) anknüpfe. Das heterologische Prinzip, nach dem das Seiende im Ganzen gemäß Begriffspaaren geistiger Gegensätze gedacht wird, sieht Tengelyi in Duns Scotus’ Konzeption disjunktiver Transzendentalien bereits vorgeprägt, insofern auch diese „je paarweise das Seiende im Ganzen“ (2015, 967) erfassen. Bei Duns Scotus sind solche „Begriffspaare“ etwa „Unendlich und Endlich, Wirklich und Möglich, Notwendig und Zufällig, Erstes und Verursachtes“. (2015, 967) Für Tengelyi ergibt sich aus diesen bei Rickert und Duns Scotus gemachten Entdeckungen die Forderung, dass eine Philosophie als Wissenschaft vom Universum des Seienden im Ganzen „Begriffspaare zu finden“ hat, die „echte ‚Weltalternativen‘ bilden“. (2015, 966) In unserer Epoche biete sich „vor allem das Begriffspaar von Natur und Geschichte“ (2015, 968) dazu an. Sowohl Naturalismus als auch Historismus oder Historizismus seien „überzogene Einseitigkeiten“, (2015, 969) und selbst ein Stufen- oder Schichtenmodell von Natur und Geist beziehungsweise Geschichte sei letztlich nicht auf der Höhe eines heterologischen Denkens des Systems. In Bezug auf die Kritik an Stufen- und Schichtenmodellen greift Tengelyi noch einmal affirmativ auf einen Gedanken Heideggers zurück: Heidegger zufolge gründe ein metontologisches Denken der Welt in der Freiheit, verstanden als „Vermögen des Überstiegs, der Transzendenz“ und „als eine Fähigkeit zur Weltoffenheit“, und eben dieses von Tengelyi so genannte „‚transzendentale Prinzip‘ der Weltoffenheit“ sei „dem heterologischen Prinzip des Weltdenkens zur Seite“ zu „stellen“. (2015, 971) Diese deutlich von Handlungs- und Willensfreiheit unterschiedene Freiheit als Weltoffenheit sei die Voraussetzung eines heterologischen Weltdenkens. Ein heterologisches Denken der Welt sieht sich mit der Frage konfrontiert, in welcher Weise die Weltalternativen – für unsere Epoche Natur und Geschichte – miteinander zusammenhängen. Eine vielversprechende Perspektive zur Beantwortung dieser Frage findet Tengelyi in Schellings Idee der „Weltalter“ und der mit ihr verknüpften Zeitkonzeption. Im Ausgang vom Spätwerk Schellings, in dem Tengelyi durchaus auch das transzendentale Prinzip der Weltoffenheit wiederfinden zu können glaubt, könne die Zeit als diejenige Verbindung gedacht werden, welche die Weltalternativen systematisch zusammenhalte. Im Ausgang von der Freiheit sei die Natur das Weltalter der Vergangenheit und die Geschichte das Weltalter der Gegenwart, wobei beide zusammengenommen das Seiende in seiner Totalität erschöpften. Das Weltalter der Zukunft hingegen sei eine Offenheit, welche jede Totalität überschreite und auf das Unendliche verweise. Eine Gleichursprünglichkeit und sogar Gleichzeitigkeit der drei Zeitdimensionen ist hierbei geltend zu machen: Als Vergangenes ist die Natur gleichzeitig mit der Gegenwart, und als Zukunft ist die Offenheit der Welt für das Unendliche gleichzeitig mit der Gegenwart. (2015, 971 f.) Auch wenn der Autor darauf nicht
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explizit eingeht, handelt es sich in dieser auf Schelling gegründeten Vertiefung des heterologischen Denkens eigentlich um eine Transformation, denn die binäre Struktur des heterologischen Prinzips wird in eine zeitliche Triade umgewandelt. Und es ist gerade das dritte Element dieser Triade, die auf das Unendliche verweisende Zukunftsoffenheit, welche Tengelyi unter Rückgriff auf Schelling und die platonisch-neuplatonische Tradition schließlich als etwas „Überseiendes“ bezeichnet. (2015, 974) Dieses ‚Überseiende‘ ist in der Freiheit als der Fähigkeit zur Weltoffenheit verankert, aber es weist zugleich über das Seiende in seiner Totalität hinaus – auf die Zukunft und in das Unendliche. László Tengelyis Auseinandersetzungen mit der Frage nach der Möglichkeit einer phänomenologischen Behandlungsweise metaphysischer Fragen zeigen, dass er sich der Kritik, die von Kant bis heute an der Metaphysik geübt wurde, deutlich bewusst ist. Daher versteht er seine Ausführungen auch nicht als eine „phänomenologische Metaphysik“, sondern lediglich als einen Beitrag „zum Problem phänomenologischer Metaphysik“, wie es im Untertitel von Welt und Unendlichkeit heißt. Das Problem der Metaphysik aber kann aus seiner Sicht mit phänomenologischen Mitteln so behandelt werden, dass sich eine Metaphysik zufälliger Faktizität abzeichnet, verknüpft mit einem bloß methodologischen sowie mit einem metontologischen Transzendentalismus, verankert in einer Philosophie als Weltoffenheit, in deren Mittelpunkt der Gedanke der Welt und ihres Unendlichen steht. László Tengelyi Geboren in Budapest 1954, gestorben 2014 in Wuppertal. Studium der Philosophie, der klassischen Philologie und der Geschichte an der Eötvös-LorándUniversität in Budapest. Dissertation über Kant und das Fundament der Ethik, Habilitation über das Böse bei Kant und in der nachkantischen Philosophie. Zunehmende Hinwendung zur Phänomenologie in den 1990er Jahren und im Zuge dessen Studienaufenthalte in Washington, Leuven, Wien, Wuppertal, Bochum und Paris. Professor zunächst an der Eötvös-Loránd-Universität, ab 2001 Professor für Phänomenologie und theoretische Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Gastprofessuren in Frankreich (unter anderem an der Sorbonne), Belgien, den USA, Kanada, Mexiko, China und Hongkong. Von 2003 bis 2005 Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. 2005 Gründer und bis zu seinem Lebensende Vorsitzender des Instituts für phänomenologische Forschung in Wuppertal.
Literatur Tengelyi, László (2014), Welt und Unendlichkeit. Zum Problem phänomenologischer Metaphysik, Freiburg/München.
414 21. László Tengelyi – Die Welt und ihr Unendliches – (2015), „Philosophie als Weltoffenheit“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 63/5, 958– 976. Courtine, Jean-François (2005), Inventio analogiae. Métaphysique et ontothéologie, Paris.
Sachverzeichnis
Absenz 351 Absolute, das 26, 28, 44, 69, 90, 98, 105, 107, 110, 119, 163, 203, 248, 257–261, 310 Affektivität 308–311 Akt/Aktualität 82, 162 Allgemeines, dialektisches 88 f Ambiguität 236, 344 f analogia entis 76 Anschauung 46, 346 –, handelnde 89, 91 –, kategoriale 40, 345 Anthropologie 195–196 Anthropologie/Metanthropologie 110 Anthropologismus 26 Archäologie 4 Äußerlichkeit 282 Bewegung 103, 108 Bewusstsein 61 –, metaphysisches 237 Bild 349 f Bildbewusstsein 46, 156–158
Entelechie 64 Entwurf 116 f Epoché 25 Erde 118 f, 192 f Ereignis 118, 124, 140, 379 f Erfahrung, reine 86 Erkenntnis 21 Erkenntniskritik 22 Erneuerung 56 Externalismus/Internalismus 349, 351 Faktizität 53–57, 84, 118, 121 f, 405–407 Fleisch (chair) 255, 345 Frage/Grundfrage 121 Frage/Leitfrage 121 Freiheit 112, 126, 214, 251–253, 392, 397–399 Fremde, das 319 f, 336 Fremderfahrung 54 Fundierung 32
Chiasmus 15, 255 Christentum 55 f, 60, 72 f, 75, 79, 138 Dasein 3, 15, 101, 116 f, 126, 129, 144, 194 Daseinsrelativität 98 f Demokratie 342 Deskription/Beschreibung 7, 9 Destruktion 141 Diesheit 210 Ding 77, 130 f, 137 Du 88 Dualismus 4, 7
Gabe 134 Gegebenheit 376 Gegenstände, ideale 37–39 Gegenständlichkeit, intentionale 163 f Gegenwart, lebendige 43 Geist 88, 102 f, 106, 110, 147, 339–341 Genuss 266, 268, 272 Geviert, das 119 f Gewissheit 383 f Glaube 72 f, 75, 79 f Gott 53–57, 63, 69, 72–75, 79, 90, 97, 107, 139 f, 142, 144, 163, 257–261, 280–282, 360, 381–383 Grund/Urgrund 14, 110
Einbildungskraft 348–350, 353 f, 356 Ekstase 134 Elementale, das 268 Elementare, das 353 Empirismus 238 f Energie 360
Handeln 127, 216 f Hermeneutik 114, 122, 388–390 Himmel 119, 192 f Horizont 33–35, 115, 332–337, 340, 350– 352, 355 Horizont/Universalhorizont 340
416 Sachverzeichnis Ich 27–29, 43, 56, 74, 277 Idealismus 10, 24–26, 38, 75 f, 95, 127– 131, 155–158, 163, 182 f, 211–213, 238–240 In-der-Welt-Sein 13, 101, 113–118, 120, 122, 125–129, 131 f, 136 f, 188, 190, 201 f, 205 f, 217, 225–227, 230 f, 344, 354 Individuum 87, 91 Innerlichkeit 305 Intentionalität 248–250 Intersubjektivität 54, 79, 217 Intuition 4, 34, 345 f Kategorien 39–41 Katholizismus 5, 94 Kausalität 51–53, 167 f, 251–253, 310–315 Kinästhesen 45, 46 Konstruktion, phänomenologische 10, 20, 141 Kontingenz 322 f Korrelation 13 Kosmologie 144, 185, 187 f, 358–361 Kosmologie/kosmologische Differenz 187 f Kraft 67, 308–311, 354 f Kraft, absolute 310 Kreationismus 155, 157 Kreuzeswissenschaft 79 f Kultur 338 Leben 23, 102, 104, 305–307, 311–315, 398 Lebendiges 88 Lebenswelt 13, 34, 36 f, 287, 338 f, 392 Leere 103, 357–360 Leiblichkeit 230, 236, 380 f Leib-Seele-Problem 51–53 Lichtung 135 Materie 62–67 Menge 91 Metaphysik des Daseins 143–145, 149 Metaphysik 1–3, 7, 20–23, 60–62, 80–82, 94–96, 105, 109 f, 112, 142, 144, 147 f, 158 f, 169–171, 196 f, 218–221, 223, 232 f, 236 f, 261 f, 282–285, 297 f, 300– 302, 318–320, 347, 373 f, 385 f, 399–402
Metaphysik, Überwindung der 145–150 metaphysica generalis 141 metaphysica specialis 141 Metaphysik-Kritik 2–4, 16 Methode 13 Metontologie 409 Modalität 46–48, 290 f, 378 f, 404 f Moderne 223 Möglichkeit 47, 49–50, 81, 126 f, 162, 209, 214 f, 355, 357, 395–397, 405 Monade 29, 36, 54 Mystik 138 Nähe 135 f Natur 63–67, 88, 105, 260, 338, 352–354, 359, 361 f Naturalismus 361 Neuanfang 6 Neutralität, metaphysische 3, 159 Nichts, das 123 Nobilitierung, metaphysische 11 Notwendigkeit 48 f Notwendigkeit, hypothetische 405 Objektivität/Gegenständlichkeit 39, 44, 77–80, 127–131, 227 f, 379 f, 389, 401 Offenbarung 69, 105, 305 Ontochronie 146 Ontologie 3, 6, 30–32, 41, 68–70, 72, 80– 82, 107–109, 113, 121–125, 142, 144, 158–169, 185, 219 f, 229 f, 253–257, 267, 269 f, 275, 351 –, formale 81 –, materiale 81 –, phänomenologische 201 –, regionale 122 f –, relationale 99 Ontologie/Differenz, ontologische 124 Ontologie/Fundamentalontologie 122 f, 125, 145, 409 Ontologie/Substanzontologie 347 Ontotheologie 404 f Ort 84, 87 f, 91, 135, 393–395, 399 Panentheismus 105 Paradoxie 382 Performativität 407 Person 97
Sachverzeichnis 417 Perspektivismus 99 Phänomen 5, 9, 141, 379 f –, gesättigtes 378 –, metaphysisches 9 Phänomenalisierung 364–366 Phänomenalität 5, 11 Phänomenologie der Phänomenologie 178–180 Phänomenologie 1 f, 10, 178–180 –, konstruktive 179 –, regressive 179 Philosophiegeschichte 1, 10 Physik 65 Pluralismus, existentialer 160 –, ontologischer 160 Pluralität 89, 244, 331, 337, 394 Poststrukturalismus 344 Potenz siehe Möglichkeit Präsenzmetaphysik 344, 348, 362 Protention 45 Psychologismus 26, 38 Raum 42–46, 65–67, 103 f, 131–138, 190– 192, 210, 245–251, 293–295, 335, 350– 353, 360, 391–393 Raum/Räumlichkeit 136 Realismus 24 f, 38, 75 f, 100 f, 127–131, 155, 163, 182 f, 211–213, 239, 395– 397 –, pluraler 85 –, voluntativer 100, 109 Realismus-Idealismus-Debatte 155, 182 f Reduktion 141 –, dionysische 108 Reflexion 43 Religion 280–282, 339–341 Retention 42, 45 Romantik 354 Sachverhalt 78 Seele 65 Seiendes 61 Sein 62, 69, 267–271 Sein/Seyn 124 Seinsgebiet 165 f Seinsgeschichte 131, 148 Seinsregion 98 Selbst 88, 125 f, 372
Signatur, existentiale 163 Sinn 346 f, 349, 367 f, 372 Sinnbildung 372 Sinnlichkeit 272 Sorge 123, 133, 136 Spekulation 109, 183–185 Spiel 193–195, 198 Sprache 92, 392 Struktur 15 Subjekt 13, 127, 217, 218 Subjektivität 24–30, 89 f, 102 f, 125–127, 206–208, 227–229, 240–243, 271–274, 291–293, 321–323, 353–358, 380 f, 397–399 –, transzendentale 181 Täuschung, metaphysische 98, 100 Technik 130 Teil/Ganzes 32 Teleologie 55 f, 106 Thematisierung 7, 12 Theologie 55, 68–70, 138, 218, 280–282, 385 Theorie 290–293 Tier 52, 76 Totalität 14 f, 97, 101, 112, 202, 210, 220, 242, 409, 411 Transzendenz 129 Überraum 66 Überzeit 66 Unbestimmte, das 127 Unendlichkeit/Unendliche, das 66, 357– 360, 403, 409–411 Universum 412 Unscheinbare, das 124, 150 f, 393 Urtatsache 406 Vernunft 53 Vorhandenheit 128, 132 Vorstellung (représentation) 303 Wahrheit 400 Wahrnehmung 34, 244, 352 Welt 10, 12 f, 15, 33–37, 60, 73–75, 85–89, 95–97, 113–115, 118–120, 156, 166, 176 f, 186, 188, 190, 201–206, 209, 224–227, 230–232, 265–267, 288–290,
418 Sachverzeichnis 302–207, 332–337, 353, 362, 366, 377 f, 391 f, 409, 411 Welt, reale 156–158 Welt/Außenwelt 97 Welt/Fremdwelt 336 Welt/Innenwelt 97 Welt/Mitwelt 97, 114 Welt/Selbstwelt 114 Welt/Sonderwelt 339, 342 Welt/Umwelt 97, 114 Welt/Weltalternative 412 Welt/Weltanschauung 95–97, 116 f Welt/Weltbildung 116 f Welt/Welten, das 113 f, 119 f Welt/Weltentwurf 116 Welt/Weltoffenheit 240, 411–413 Welt/Weltproblem 175 Welt/Weltsymbol 193–195 Weltbild 73, 75 Weltganze, das 119, 156
Weltgrund 96, 105 Weltzeit 132 f Wende, transzendentale 60 Werte 96 Wirklichkeit/Entwirklichung 109 Wirklichkeit/Realität 47, 50, 63, 81, 108, 128, 129, 209, 297, 298, 313, 355, 357 Wissenschaftstheorie 23 Wohnen 135, 137 Zeit 42–46, 65–67, 103 f, 131–138, 190– 192, 245–251, 275–280, 295–297, 392 Zeit, äonische 67 Zeit/Temporalität 134 Zeitlichkeit 133, 228 f Zick-Zack 44 Zuhandenheit 128, 132 Zukunft 279 Zweifel 35