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German Pages [257] Year 2014
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NEUE PHÄNOMENOLOGIE
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Mit großem Erfolg arbeiten wir an einer Flurbereinigung unserer Lebenswelt: Alles wird berechenbarer, effektiver, sicherer. Dazu überziehen wir die Gesellschaft mit einem Netz von Vorschriften, Verträgen, Zielvereinbarungen, das uns Ordnung und Übersichtlichkeit suggeriert. Unterhalb dieser Konstellationen setzt sich indessen das Leben in komplexen, nicht vollständig explizierten Situationen fort. Die Analyse dieser doppelbödigen Existenz – zwischen den Kulissen, die uns Reglementierung und Kodifizierung zur Verfügung stellen, einerseits und dem mehr oder weniger unbestimmten Stoff des »wirklichen« Lebens andererseits – ist ein aktuelles Aufgabenfeld für Kulturkritik. Sie erweist sich als nötiger denn je. Die Autoren des Bandes denken aus einer phänomenorientierten Perspektive über Kultur nach. Sie bieten weniger abstrakte Kulturtheorie als exemplarische Fallstudien; besondere Beachtung finden dabei die Universität und die Arbeitswelt. Im Rahmen der Analysen zeigt sich, dass eine kritische Betrachtung von Kultur unter den phänomenologischen Leitbegriffen von »Situation« und »Konstellation« in besonderem Maße produktiv sein kann. Die Herausgeber: Michael Großheim, geb. 1962, promoviert 1993, habilitiert 2000, seit 2006 Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für Phänomenologische Philosophie an der Universität Rostock. Steffen Kluck, geb. 1980, Studium der Philosophie und Germanistik, seit 2006 Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Rostock.
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Michael Großheim / Steffen Kluck (Hg.)
Phänomenologie und Kulturkritik
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Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 15
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Michael Großheim / Steffen Kluck (Hg.)
Phänomenologie und Kulturkritik Über die Grenzen der Quantifizierung
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48427-2
(Print)
ISBN 978-3-495-86007-6 (E-Book) https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Inhalt
Michael Großheim / Steffen Kluck Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung . . .
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Hermann Schmitz Von der Verhüllung zur Verstrickung. Der Mensch zwischen Situationen und Konstellationen . .
37
Michael Großheim Von der Maigret-Kultur zur Sherlock Holmes-Kultur. Oder: Der phänomenologische Situationsbegriff als Grundlage einer Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . .
52
Clemens Albrecht Taylorismus 2.0. Die Wissensproduktion in Netzwerken und ihre Abhängigkeit von Meta-Erzählungen . . . . . . . . . . . .
85
Fritz Böhle Verdrängung und (Wieder-)Entdeckung des Informellen und Impliziten in der Arbeitswelt. Grenzen der Objektivierung und Formalisierung . . . . . 107 Gernot Böhme Das Gegebene und das Gemachte . . . . . . . . . . . . . 140 Jürgen Hasse Kampf um Identitäten. Perspektiven einer phänomenologisch fundierten Kulturkritik . . . . . . . . . 151 7 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Inhalt
Heiner Hastedt Ambivalenz im Leben des modernen Nomaden . . . . . . 170 Ludger Heidbrink Der Aufstand gegen die verwaltete Welt. Kulturkritik als Selbstreflexion des Liberalismus . . . . . . 191 Steffen Kluck »Wissen, was an der Zeit ist« – Der Zeitgeist als Werkzeug der Kulturkritik . . . . . . . . 216 Hans Werhahn Grenzen des konstruierenden Denkens . . . . . . . . . . 244 Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
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Michael Großheim / Steffen Kluck
Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung
I. Das Verhältnis von Phänomenologie und Kulturkritik ist weitgehend ungeklärt. Dieser Befund erstaunt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die heute vorwiegend in theoretischer Hinsicht rezipierten frühen Phänomenologen nicht nur gelegentlich kulturkritische Aperçus fallen ließen, sondern in ihrem Antrieb zum Philosophieren wesentlich durch die Sorge um die Kultur bestimmt waren. Phänomenologie sollte nicht nur Erneuerung der Philosophie, sondern immer auch Erneuerung der Kultur sein. Die Schwerpunkte der Kritik sind verschieden. Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, leidet an relativistischen Tendenzen im Geistesleben der Zeit, die er zunächst unter dem Titel »Psychologismus«, später auch als »Historizismus«, »Skeptizismus« und »Weltanschauungsphilosophie«, schließlich als »Krisis der Wissenschaften« bekämpft. Um diese »geistige Not« 1 , den »unerträglich gewordenen Notstand der Vernunft« 2 , die »existenzielle Not des europäischen Menschentums«3 überwinden zu können,
1
Edmund Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: ders., Aufsätze und Vorträge (1911–1921) (= Husserliana, Bd. XXV, hrsg. v. Thomas Neon, Hans Rainer Sepp), Dordrecht, Boston, Lancester 1987, S. 3–62, S. 56. 2 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Methode. Drittes Buch (= Husserliana, Bd. V, hrsg. v. Marly Biemel), Den Haag 1952, S. 96. 3 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (= Husserliana, Bd. VI, hrsg. v. Walter Biemel), Den Haag 1954, S. 200.
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Michael Großheim / Steffen Kluck
soll die Philosophie als strenge Wissenschaft eine Apodiktizität entwickeln, die derjenigen der Mathematik gleichkommt. Die kulturkritische Richtung in Husserls Philosophieren – insbesondere die Verbindung von theoretischen mit praktischen Komponenten seines Phänomenologie-Verständnisses – kommt wohl am deutlichsten in den »Kaizo«-Artikeln (1923/24) zum Ausdruck: Strenge Wissenschaft soll die »theoretische Vorarbeit« für die »rationale Kulturreform« liefern. 4 Husserl fordert eine radikale Erneuerung der europäischen Kultur, mit dem Ziel, eine »echt humane Kultur« 5 , eine »Vernunftkultur«6 zu errichten. »Erneuerung« ist seit dem Ersten Weltkrieg geradezu ein Schlüsselwort für Husserls Bestrebungen. 7 Anders als Husserl teilen die jüngeren Phänomenologen das so robuste wie abstrakte Vernunft-Paradigma nicht. Max Schelers Ausgangspunkt ist eine verwandte Erfahrung von Unsicherheit, doch ist er von vornherein stärker und ausdrücklich Fragen der Kultur zugewandt. Scheler philosophiert »vor dem Hintergrunde der ungeheuren Désordre du coeur« 8 seiner Zeit, d. h. vor dem Hintergrund der Orientierungskrise, die durch den Sturz der kanonischen Ethik ausgelöst worden ist. 9 Er fürchtet die 4
Edmund Husserl, Erneuerung. Ihr Problem und ihre Methode, in: ders., Aufsätze und Vorträge (1922–1937) (= Husserliana, Bd. XXVII, hrsg. v. Thomas Neon, Hans Rainer Sepp), Dordrecht, Boston, Lancaster 1989, S. 3–13, S. 6. 5 Edmund Husserl, Erneuerung. Ihr Problem und ihre Methode, a. a. O., S. 4 und ders., Erneuerung als individualethisches Problem, in: ders., Aufsätze und Vorträge (1922–1937) (= Husserliana, Bd. XXVII, hrsg. v. Thomas Neon, Hans Rainer Sepp), Dordrecht, Boston, Lancaster 1989, S. 20–43, S. 22, 33. 6 Edmund Husserl, Beilage X: Zum Versagen in der neuzeitlichen Kultur- und Wissenschaftsentwicklung, das Telos der europäischen Menschheit zu verwirklichen. Fünf Texte, in: ders., Aufsätze und Vorträge (1922–1937) (= Husserliana, Bd. XXVII, hrsg. v. Thomas Neon, Hans Rainer Sepp), Dordrecht, Boston, Lancaster 1989, S. 113–122, S. 117. 7 Vgl. Thomas Neon, Hans Rainer Sepp, Einleitung der Herausgeber, in: Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1922–1937) (= Husserliana, Bd. XXVII, hrsg. v. Thomas Neon, Hans Rainer Sepp), Dordrecht, Boston, Lancaster 1989, S. IX– XXX, S. XI ff. (mit einschlägigen Auszügen aus Briefen Husserls). 8 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (= Gesammelte Werke, Bd. 2, hrsg. v. Maria Scheler), Bern 4 1954, S. 15. 9 Vgl. zum Sturz der kanonischen Ethik: Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. III/3: Der Rechtsraum, Bonn 1973, S. 675–698.
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Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung
»Rechtfertigung einer völligen Anarchie in Fragen der sittlichen Beurteilung« 10 . Wenn Scheler parallel zu Husserl »Strenge« für die Philosophie als Wissenschaft fordert, so dient dies in erster Linie zur denkerischen Bewältigung »jenes inneren Umsturzes aller Wertordnung, jener Désordre des Geistes und Herzens, welcher die Seele des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters ausmacht« 11 . Scheler richtet sein Augenmerk auf eine Kritik der Verkehrungen der Wertrangordnung; insbesondere seine ausführliche Analyse des »Ressentiments« ist hier zu nennen, die einem Buch entstammt, das nach Angaben des Autors »vorzugsweise Kultur- und Moralkritik« versammelt. 12 Daneben ist Scheler derjenige Phänomenologe, der am stärksten den Kulturvergleich in seine Überlegungen einbezieht, vor allem unter der Formel »Europa und Asien«, die der Kulturkritiker Theodor Lessing 1918 geprägt hat. Scheler plädiert hier für den »Ausgleich« der Kulturen: Die Einseitigkeit des Abendlandes soll durch Orientierung an asiatischen Errungenschaften überwunden werden. Europa, so Scheler, ist fixiert auf äußere Herrschaft, auf Unterwerfung der Natur, während die asiatischen Kulturen auch die »innere Lebens- und Seelentechnik« pflegten. 13 10
Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (= Gesammelte Werke, Bd. 3, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 5 1972, S. 33–147, S. 122. 11 Max Scheler, Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens, in: ders., Vom Ewigen im Menschen (= Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 5 1968, S. 61–99, S. 73. 12 Max Scheler, Vorrede der zweiten Auflage, in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (= Gesammelte Werke, Bd. 3, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 5 1972, S. 8–10, S. 9. 13 Vgl. dazu vor allem: Max Scheler, Vom Sinn des Leides, in: ders., Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre (= Gesammelte Werke, Bd. 6, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 2 1963, S. 36–72, S. 54 f.; ders., Probleme einer Soziologie des Wissens, in: ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft (= Gesammelte Werke, Bd. 8, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 3 1980, S. 15–190, S. 71, 81, 89, 95 f., 136, 139 f., 154 f., 160; ders., Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt, in: ders., Die Wissensformen und die Gesellschaft (= Gesammelte Werke, Bd. 8, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 3 1980, S. 191–382, S. 207, 210; ders., Philosophische Weltanschauung, in: ders., Späte Schriften (= Gesammelte Werke, Bd. 9, hrsg. v. Manfred S. Frings), Bern, München 1976, S. 73–182, S. 115, 159 f.; ders.,
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Michael Großheim / Steffen Kluck
Scheler betreibt – ähnlich wie Husserl – Kritik an scheinbar nur theoretischen Tendenzen, weil er sie in erweiterter Perspektive zusammen mit ihren praktischen Folgen wahrnimmt. Das kulturell geprägte Verhältnis des Menschen zu den Dingen ist ihm ein besonders wichtiges Thema. Hier unterscheidet er »zwei Wege einer Kultur der Seele« 14 : einmal die Anspannung des Geistes und des Willens, die den Menschen zu einer »falschen Interessiertheit« führt, die ihn der »Hast seiner Triebe« ausliefert. 15 Der andere Weg, die Entspannung des Geistes und des Willens, soll die »Vermählung mit den Dingen« vorbereiten. 16 In unserer Kultur hat die »moderne Rechenhaftigkeit«, der »Wille zur ›Beherrschung‹, ›Organisation‹, ›eindeutiger Bestimmung‹ und Fixierung« gesiegt. 17 Im Verhältnis zu den Dingen leben wir daher nach Schelers Auffassung in einer Art Gefängnis: »unser durch einen auf das bloß Mechanische und Mechanisierbare gerichteten Verstand umgrenztes Menschenmilieu mit seiner ›Zivilisation‹«18 . Von der Phänomenologie verspricht sich Scheler die Befreiung aus diesem Gefängnis; der europäische Mensch werde nicht nur den unmittelbaren Kontakt mit der Sache selbst gewinnen, sondern auch die Last der von ihm erzeugten kulturellen Mechanismen verlieren. Martin Heidegger ist sicher der profilierteste Kulturkritiker unter den Phänomenologen, paradoxerweise, muss man sagen, denn Zur Geschichte und Typologie der menschlichen Selbstgegebenheit, in: ders., Schriften aus dem Nachlaß III (= Gesammelte Werke, Bd. 12, hrsg. v. Manfred S. Frings), Bonn 1987, S. 25–79, S. 46; ders., Der Menschheit »Stunde«, in: ders., Schriften aus dem Nachlaß III (= Gesammelte Werke, Bd. 12, hrsg. v. Manfred S. Frings), Bonn 1987, S. 333–335, S. 334. 14 Max Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (= Gesammelte Werke, Bd. 3, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 5 1972, S. 13–31, S. 22. 15 Max Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, a. a. O., S. 23. 16 Max Scheler, Zur Rehabilitierung der Tugend, a. a. O., S. 22. 17 Max Scheler, Versuch einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson, in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (= Gesammelte Werke, Bd. 3, hrsg. v. Maria Scheler), Bern, München 5 1972, S. 311–339, S. 325. 18 Max Scheler, Versuch einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson, a. a. O., S. 339.
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Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung
er ist zugleich am stärksten um Distanz bemüht. Er betont immer wieder, dass er mit seiner Interpretation eine rein ontologische Absicht verfolge: Von einer »moralisierenden Kritik des alltäglichen Daseins und von ›kulturphilosophischen‹ Aspirationen« 19 sei er weit entfernt.20 Ausdrücke wie »Gerede« oder »Verfallen«, »Neugier« oder »Zerstreuung« sollen keine negative Bewertung mit sich führen. 21 Man tut jedoch gut daran, Heideggers Bemühungen, die Rezeption seiner Texte durch ständige Selbstkommentare zu steuern, nicht kritiklos zu akzeptieren. Einerseits hält er die beteuerte Wertfreiheit selbst nicht konsequent durch 22 , und andererseits hät19
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 15 1984, S. 167. Heideggers permanente Distanzierung von jeder Art Kulturphilosophie gilt vor allem der Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus (namentlich dem Davoser Antipoden Ernst Cassirer) sowie allen Ansätzen, die Kultur als »Symbol« oder »Ausdruck« auffassen (z. B. Oswald Spengler, Ludwig Klages, Hans Freyer). Vgl. dazu im Detail: Martin Heidegger, Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem, in: ders., Zur Bestimmung der Philosophie (= Gesamtausgabe, Bd. 56/57 (Frühe Freiburger Vorlesungen Kriegsnotsemester 1919 und Sommersemester 1919), hrsg. v. Bernd Heimbüchel), Frankfurt a. M. 1987, S. 1–118, S. 5; ders., Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie, in: ders., Zur Bestimmung der Philosophie (= Gesamtausgabe, Bd. 56/57: Frühe Freiburger Vorlesungen Kriegsnotsemester 1919 und Sommersemester 1919, hrsg. v. Bernd Heimbüchel), Frankfurt a. M. 1987, S. 119–203, S. 130–136, 146, 173 f.; ders., Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20) (= Gesamtausgabe, Bd. 58: Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/20, hrsg. v. Hans-Helmuth Gander), Frankfurt a. M. 1993, S. 20; ders., Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (= Gesamtausgabe, Bd. 61: Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1921/22, hrsg. v. Walter Bröcker, Käte Bröcker-Oltmanns), Frankfurt a. M. 1985, S. 120, 122; ders., Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) (= Gesamtausgabe, Bd. 63: Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1923, hrsg. v. Käte Bröcker-Oltmanns), Frankfurt a. M. 1988, S. 35– 43, 52–57; ders., Vom Wesen der Wahrheit, in: ders., Wegmarken (= Gesamtausgabe, Bd. 9, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1976, S. 177–202, S. 198. 21 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 167, 175, 222; ders., Kant und das Problem der Metaphysik (1929) (= Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. v. FriedrichWilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1991, S. 235; ders., Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (= Gesamtausgabe, Bd. 20: Marburger Vorlesung Sommersemester 1925, hrsg. v. Petra Jaeger), Frankfurt a. M. 1979, S. 312, 376, 378, 389, 391. 22 Im Vortrag »Der Begriff der Zeit« (1924) wird z. B. erklärt, das Dasein sei 20
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te er anstelle der umgangssprachlich eindeutig besetzten Vokabeln neutralere Ausdrücke wählen können, die seinem Denken dann jedoch das Schillernd-Faszinierende genommen hätten. Schließlich beruht schon Heideggers zeitgenössische Wirkung zu einem guten Teil gerade auf der Zeitkritik, die keine sein sollte. Der frühe Schüler Hans-Georg Gadamer bezeugt dies in seinen Erinnerungen: »Wer wird je die bitterböse Polemik vergessen, mit der er den Kultur- und Bildungsbetrieb der Zeit karikierte, die ›Tollheit auf die Nähe‹, das ›Man‹, das ›Gerede‹, ›dies alles ohne abschätzige Bedeutung‹ – auch das noch! […].« 23 Man darf darüber hinaus die Einschätzung Heideggers nicht allein auf »Sein und Zeit« aufbauen; vor allem die Vorlesungen seit den zwanziger Jahren sind voll kulturkritischer Exkurse. Hier lassen sich zwei thematische Schwerpunkte ausmachen: Zunächst dominiert der Versuch einer umfassenden kritischen Sichtung vor allem der philosophischen, aber auch der kulturellen Bestände insgesamt. Man darf die Radikalität dieses Programms nicht unterschätzen.24 Gegenüber jeglichem Überlieferten hegt Heidegger den Verdacht eigentlich bei sich selbst, wenn es sich im Vorlaufen hält: »Alles Gerede, das, worin es sich hält, alle Unrast, alle Geschäftigkeit, aller Lärm und alles Gerenne bricht zusammen« (Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), in: ders., Der Begriff der Zeit (= Gesamtausgabe, Bd. 64, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 2004, S. 105–125, S. 118). Hier ist eindeutig eine negative Wertung im Spiel. Vgl. dazu ders., Kant und das Problem der Metaphysik (1929), a. a. O., S. 246: »Oder sind wir allzusehr schon zu Narren der Organisation, des Betriebes und der Schnelligkeit geworden, als daß wir die Freunde des Wesentlichen, Einfachen und Stetigen sein könnten […].« 23 Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt a. M. 1977, S. 214. – Gadamer meint hier offenbar eine Formulierung aus der Vorlesung des Sommersemesters 1925: »Diese eigentümliche Überwindung der Entfernungen ist ihrer Seinsstruktur nach (ich bitte das ohne irgendeine Wertung zu verstehen!) eine Tollheit auf Nähe, die im Dasein selbst ihren Seinsgrund hat« (Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, a. a. O., S. 312). 24 Wie weit sein Erneuerungsansatz geht, zeigt ein Brief an Karl Löwith aus dem Jahr 1920: »Ich will mindestens etwas anderes – das ist nicht viel: nämlich was ich in der heutigen faktischen Umsturzsituation lebend als ›notwendig‹ erfahre, ohne Seitenblick darauf, ob daraus eine ›Kultur‹ wird oder eine Beschleunigung des Untergangs« (zitiert nach: Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt a. M. 1989, S. 28).
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Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung
der »Unechtheit«. »Echt«, ein schwer zu fassendes Schlüsselwort in seinem Denken zu Anfang der zwanziger Jahre, wird verwendet im Sinne von lebendig, ursprünglich, angeeignet, während »unecht« so viel heißt wie voreilig, konstruktiv, suggeriert. 25 Als »unecht« bezeichnet Heidegger beispielsweise den Kulturbetrieb seiner Zeit mit Zeitschriften, Kongressen, Ausstellungen. Später wird in den Vorlesungen dann die Auseinandersetzung mit den kulturellen Folgen der Technik immer wichtiger. So kritisiert er 1928/29 die »namenlose Barbarei«, die sich trotz der Wissenschaft und vielleicht sogar mit ihrer Hilfe ausgebreitet habe und nur von den wenigsten wahrgenommen werde: »Man braucht nicht gerade die Postkutsche zurückzuwünschen, um sehen zu können, was die ohne Wissenschaft unmögliche Technik heute an innerer Verrohung und Geschmacksverderbnis leistet« 26 . Ein besonderes kulturkritisches Reizthema ist für Heidegger in diesen Jahren der aufkommende Rundfunk. 27 25
Zu »echt« und »unecht« vgl. neben den brieflichen Äußerungen gegenüber Elisabeth Blochmann (siehe unten Anm. 28) z. B. Martin Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie (1919/20), a. a. O., S. 5 ff., 10, 17, 20, 22 f., 25 f. – Vgl. auch ders., Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, a. a. O., S. 71 (im Rahmen einer längeren kulturkritischen Betrachtung): »Weil wir nicht mehr im echten Sinne (nicht in der Weise der Detektivpsychologie und Seelenschnüffelei) dem Leben gegenüber auf der Lauer liegen und warten können, sondern in lärmender Eilfertigkeit das Geschäft ins Reine gebracht haben wollen, verfallen wir an Surrogate der geistigen Reklame oder in eine scheinbare, weil augenschließende und auf der Flucht befindliche Objektivität.« Später z. B. noch ders., Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophische Problemlage der Gegenwart (= Gesamtausgabe, Bd. 58: Freiburger Vorlesung Sommersemester 1929, hrsg. v. Claudius Strube), Frankfurt a. M. 1997, S. 2, 344, 347, 348. 26 Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie (= Gesamtausgabe, Bd. 27: Freiburger Vorlesung Wintersemester 1928/29, hrsg. v. Otto Saame, Ina SaameSpeidel), Frankfurt a. M. 1996, S. 161. 27 »Der Radiobesitzer, dem die ungeheure Möglichkeit von Erfahrbarem gegeben ist, macht sich zum Sklaven seines Apparats« (Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie, a. a. O., S. 335). Zur Kritik des Rundfunks vgl. auch ders., Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, a. a. O., S. 312; ders., Sein und Zeit, a. a. O., S. 105 sowie aus späterer Zeit ders., Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte »Probleme« der »Logik« (= Gesamtausgabe, Bd. 45: Freiburger Vorlesung Wintersemester 1937/38, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M.
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Michael Großheim / Steffen Kluck
Daneben beschäftigen ihn kulturkritische Überlegungen auch in zahlreichen privaten Aufzeichnungen. So kommentiert er 1918 in einem Brief an seine Frau einen Besuch in Berlin mit typischen kulturkritischen Mustern: »Die Menschen hier haben ihre Seele verloren – einen Ausdruck haben die Gesichter überhpt. nicht – höchstens den der Gemeinheit, in dieser Dekadence gibt es kein Aufhalten mehr – vielleicht kann das ›geistige‹ Berlin durch eine bodenständige Kultur an den Provinzuniversitäten überwunden werden – jedenfalls kommt die Gesundung unserer Jugend nur von da – wenn sie überhpt. noch möglich ist.« 28 Ausdrucksverlust lautet eine Diagnose, die sich auch bei Kulturkritikern ganz anderer Provenienz findet. 29 Und der hier angesprochene Gegensatz von Provinz und Großstadt ist ein klassisches Thema der Kulturkritik, mit dem sich Heidegger zeit seines Lebens auseinandersetzt. Die drei bedeutendsten Vertreter der frühen Phänomenologie eint also – bei aller Verschiedenheit in den Details der Kritik und den vorgeschlagenen Auswegen – das große Ziel einer Erneuerung der Gegenwartskultur. Ihre Überlegungen sind natürlich eingebettet in eine Geistesepoche, die überhaupt stark von Kulturkritik bestimmt ist. Wenn man davon ausgehen kann, dass die Zeit der gro-
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1992, S. 134; ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis (= Gesamtausgabe, Bd. 47: Freiburger Vorlesung Wintersemester 1936/37, hrsg. v. Bernd Heimbüchel), Frankfurt a. M. 1985, S. 78 f. 28 »Mein liebes Seelchen!« Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915– 1970, hrsg. v. Gertrud Heidegger, München 2003, S. 72 f. (Brief vom 21. Juli 1918). Vgl. aus dieser Zeit auch: Martin Heidegger – Elisabeth Blochmann. Briefwechsel 1918–1969, hrsg. v. Joachim W. Storck, Marbach am Neckar 2 1990, S. 7 f., 14 f. sowie aus dem Jahr 1925 Martin Heidegger, Zum Hochzeitstag von Fritz und Liesel Heidegger (15. Oktober 1925), in: ders., Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (1910–1976) (= Gesamtausgabe, Bd. 16, hrsg. v. Hermann Heidegger), Frankfurt a. M. 2000, S. 52–54, S. 53. 29 Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (= Gesammelte Schriften, Band 4, hrsg. v. Rolf Tiedemann), Frankfurt a. M. 1980, S. 43 f.: »Die Technisierung macht einstweilen die Gesten präzis und roh und damit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärden alles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sie unterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam geschichtslosen Anforderungen der Dinge.«
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Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung
ßen kulturkritischen Werke heute vorbei ist 30 , muss man dann auch ein Ende der alten Verknüpfung von Phänomenologie und Kulturkritik konstatieren? Keineswegs. Die Phänomenologen der Gegenwart – sofern sie sich nicht mit Husserl-Philologie begnügen – betreiben Kulturkritik wie eh und je. Heinrich Rombach etwa will mit seiner »kritischen Phänomenologie« das Phänomen aus seinem eigenen Anspruch heraus kritisieren, d. h. die in ihm liegende Steigerungstendenz freigeben, die von der umgebenden Kultur behindert sein kann. Rombach verpflichtet eine Kultur zur »Meliorisaton«; z. B. sollen im Falle des Phänomens menschliche Wahrnehmung deren »schöpferische Möglichkeiten« ausgespielt und »alle Sensibilitäten« ausgebildet werden. 31 Konkret geht er hier in der Gegenwart von einem erheblichen Verlust an Möglichkeiten aus: Große Teile der faktischen Wahrnehmungsgeschichte seien infolge eines falschen und primitiven Wahrnehmungsbegriffs, für den die Philosophie Mitverantwortung trage, wieder verlorengegangen. 32 Die auf breite Desensibilisierung setzende Gegenwart muss in dieser kulturkritischen Wahrnehmungsethik sogar als eine »Rebarbarisierung« erscheinen. Ähnlich vermisst Michel Henry die zum Wesen von Kultur gehörige umfassende Steigerungstendenz33 , die er nur noch in einer extravertierten Verkümmerungsform, als »technischen Fortschritt«, beobachtet. Das Ergebnis sei eine »neue Barbarei«. Zwar seien enorme Erfolge in der Weltbeherrschung erlangt worden, doch nur auf der Basis einer entsprechenden Vereinseitigung der Kultur. Natur30
Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 271. 31 Heinrich Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, Freiburg, München 1980, S. 259. 32 Heinrich Rombach, Phänomenologie des gegenwärtigen Bewußtseins, a. a. O., S. 224. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Arbeiten von Bernhard Waldenfels zu Grenzerfahrungen in der Wahrnehmung, die den humanen Möglichkeitshorizont erweitern (z. B. Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen (Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1999, S. 221). 33 Vgl. zum Folgenden: Michel Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, übers. u. eingel. v. Rolf Kühn, Isabelle Thireau, Freiburg, München 1994, v. a. S. 184 ff., 278 ff., 286 ff., 372.
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wissenschaftlicher Reduktionismus, umfassende Objektivierung und Flucht des Menschen vor sich selbst gehen Henry zufolge eine sehr wirkungsvolle, aber für die Kultur verhängnisvolle Koalition ein. Da allein die Naturwissenschaft darüber bestimmt, was man wirklich ernst nehmen müsse, komme es zur abschätzigen Interpretation kultureller Leistungen als »Luxus«. Henrys Phänomenologie versteht sich als eine Erinnerung an das durch die szientistische Verdrängung bedrohte eigentliche Wesen von Kultur. Zum Selbstverständnis der von Hermann Schmitz begründeten Neuen Phänomenologie gehört Kulturkritik nicht unmittelbar dazu. Aber Phänomenologie kann als Grundlage einer Kulturkritik dienen. Einen Schritt in diese Richtung unternimmt Gernot Böhmes Beitrag zur Festschrift anlässlich des 80. Geburtstages von Hermann Schmitz, den er unter den Titel »Phänomenologie als Kritik« gestellt hat. 34 Diese Perspektive lässt sich noch weiter ausbauen, wenn man hinzunimmt, dass Neue Phänomenologie mit ihrer Erinnerung an verdrängte, vergessene oder missachtete Themen wie Leiblichkeit und leibliche Kommunikation, Subjektivität und Situationen, Gefühle als Atmosphären zu einem wesentlichen Teil Kritik der einseitigen europäischen Intellektualkultur ist. Gelegentlich hat Schmitz – vor allem in Vorworten – die kulturkritische Richtung seiner Phänomenologie deutlich gemacht. Die prägnanteste Erklärung dieser Art findet sich vermutlich zu Anfang des Buches »Die Person«, wo es heißt: »Die fürchterliche Einseitigkeit des abendländischen Rationalismus und Humanismus hat die als wirklich ernst genommene Welt auf Körper und Zwecke reduziert, der transzendierenden Abstandnahme von ihr Ideen als utopische Fluchtpunkte vorgezeichnet und den ganzen Rest des Begegnenden in der sogenannten Seele abgelegt, den Einzelnen als Herrn im Haus seiner Seele zur Wache über alles bestellend, woran diese Vergegenständlichung abgeglitten war. Die Einebnung alles Begegnenden in die starre Projektionsfläche dieser Schematisierung macht in unserer Zeit verhängnisvolle Fortschritte. Der Norden kommt über 34
Gernot Böhme, Phänomenologie als Kritik, in: Michael Großheim (Hrsg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg, München 2008, S. 21–36.
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den Süden; das späte Erbe der arischen und semitischen Nomaden erstickt mit oberflächlicher Rationalisierung eines harten Durchsetzungswillens, der sich des Monotheismus und der Technik bedient, die urwüchsige Resonanz- und Schwingungsfähigkeit exotischen Lebenkönnens und die intuitive Bildung.« 35 Ganz allgemein lässt sich der kulturkritische Impuls bei Schmitz charakterisieren als eine Abwehr jeglichen anthropologischen Reduktionismus und der damit verbundenen kulturellen Vereinseitigung (etwa der Fixierung auf das Thema der Macht36 ). Ebenso allgemein kann man den Impuls umgekehrt beschreiben als eine Sorge um Vielfalt und Mannigfaltigkeit im kulturell geprägten menschlichen Selbstverständnis. In den letzten Jahren hat Schmitz dann das Thema der Situationen erheblich ausgebaut und aktuelle Kulturphänomene unter dem Titel des Konstellationismus kritisiert. 37 Im Rahmen eines Vorworts mögen diese Andeutungen genügen. Wie ein phänomenologischer Beitrag zu einer Kulturkritik der Gegenwart konkret aussehen könnte, zeigen verschiedene Beiträge des vorliegenden Bandes. Auch wenn Kulturkritik innerhalb der Phänomenologie faktisch also nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, sind nur wenige bereit, sich selbst sozusagen offiziell unter diesen Titel zu stellen. Im Gegenteil, man ist sogar eifrig bemüht, sich von einer offenbar wenig angesehenen Kulturkritik zu distanzieren. So erklärt Husserl im Jahr 1935, wohl mit Blick auf den etwas missverstandenen Ludwig Klages, die »modische Kulturkritik der Gegenwart« degradiere übereifrig die Ratio. 38 Und Heidegger verwahrt sich ausdrücklich 35
Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. IV: Die Person, Bonn 1980, S. XIII. 36 Vgl. dazu vor allem: Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999. Hervorzuheben sind dort z. B. S. 38 (zur »Vermessenheit« der abendländischen Kultur) und S. 64 (zum Zusammenhang von theoretischem »Fehlgriff« und praktischer »Fehlhaltung«). 37 Die wichtigsten Beiträge dazu finden sich in: Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, a. a. O.; ders., Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005. 38 Edmund Husserl, Beilage XX: Zur Unterschrift unter Kastors Bild, in: ders., Aufsätze und Vorträge (1922–1937) (= Husserliana, Bd. XXVII, hrsg. v. Thomas
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dagegen, »fruchtlose ›Kulturkritik‹«39 zu betreiben, er betont, seine Besinnung sei »weit weg von jeder Art billiger ›Zeitkritik‹« 40 , die metaphysischen Vorgänge dürften nicht »mit den kleinen und dummen Perspektiven einer sogenannten ›Zeit- und Kulturkritik‹«41 begafft werden. Modisch, fruchtlos, billig – Kulturkritik hat offensichtlich keinen guten Ruf, und zwar nicht nur unter Phänomenologen. Wenn man davon abgesehen einmal eine ahistorische Idee von Kulturkritik konstruieren würde, müsste dies nicht unbedingt so sein. Man könnte Kulturkritik verstehen als die Beobachtung und Bewertung der Entwicklung von Kulturen. Die Kulturkritik bringt das Unbehagen zur Sprache, das in reflektierten Kulturen auftreten kann. Dieses Unbehagen kann auf Fehlentwicklungen bezogen werden, die entweder mit Blick auf gleichzeitige andere Kulturen oder mit Blick auf eine Kultur der Vergangenheit oder der Zukunft beurteilt werden. Je nachdem erhält man eine Verlust-Kritik (etwas ist nicht mehr, wie es sein sollte) oder eine Utopie-Kritik (etwas ist noch nicht, wie es sein sollte). Entweder wird die Bilanz betont oder der Entwurf. Daran schließt sich das entsprechende Korrekturprogramm an: Ein bestimmter kultureller Aspekt wird vermisst, eine Einseitigkeit soll überwunden, ein Gleichgewicht oder ein Maß soll (wieder-)gefunden werden. Kriterien können dabei sein: Emanzipation, Authentizität, Autarkie, Freiheit, Selbstbestimmung etc. Kulturkritik lebt von der Suche nach einem fremden Faktor, einem Außerhalb des Ganzen, einem vernachlässigten, unterdrückten, verschütteten, ignorierten Gegenstand, einer mobilisierenden Instanz, einem Hebel der Kritik. Beispiele für ein solches Jenseits sind etwa »das Land« (im Gegensatz zur Großstadt), »die Gemeinschaft« (im Gegensatz zur Gesellschaft), die zukünftige »gerechte Gesellschaft« (im Gegensatz zur Neon, Hans Rainer Sepp), Dordrecht, Boston, Lancaster 1989, S. 238–239, S. 239. 39 Martin Heidegger, Grundfragen der Philosophie, a. a. O., S. 148. 40 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (= Gesamtausgabe, Bd. 65, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1989, S. 110. 41 Martin Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, a. a. O., S. 70.
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bestehenden ungerechten Gesellschaft). Versteht man Kulturkritik so abstrakt, d. h. als Kritik an Wertschätzungen, Zielen, Gewohnheiten, Perspektiven einer Kultur, dann ist schwer verständlich, wie dieses Projekt einen so schlechten Ruf erwerben konnte. Der Begriff der Kulturkritik, so Georg Bollenbeck in seinem jüngst erschienenen Standardwerk, ist offenbar »vage, schlecht beleumundet und doch zugleich unvermeidbar. Er verweist auf ein disziplinloses ›wildes‹ Denken, das Blickfelderweiterungen verspricht. Zu entdecken sind die Erkenntnispotentiale eines Denkens, das mit der Moderne entsteht und das gegen die Moderne Verlustgeschichten aufbietet. Kulturkritik ist nie sprachlos, aber oft begriffslos. Sie verarbeitet eher unsystematisch und osmotisch (vom Alltagswissen bis zum philosophischen Wissen) die unterschiedlichsten Wissensbestände.«42 Die Lage der Kulturkritik in der Gegenwart ist vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Einerseits löst der Zustand der fortgeschrittenen Massenkultur, wie er besonders im quotengesteuerten Fernsehen anschaulich wird, Prozesse einer Distanzierung und Bewusstseinsbildung aus, er provoziert Kulturkritik (vorausgesetzt, er trifft nicht auf eine durch Ironie und Gleichgültigkeit abgebaute Erschütterbarkeit).43 Andererseits ist gerade die nicht mehr durch eine stabile Tradition gesicherte, sondern sich an konkreten Phänomenen frisch entzündende Kulturkritik mit der Frage nach den Kriterien konfrontiert. Beides hängt eng zusammen. Das lässt sich besonders gut an zwei Positionen demonstrieren, die sich in der neueren Diskussion gegenüberstehen. Ralf Konersmann entwirft ein neues, zeitgemäßes Bild von Kulturkritik, in dem die negativen Züge dominieren. Die Kulturkritik unserer Zeit sei nicht mehr dogmatisch, überlegen, arrogant, sie kenne weder hohe Ideale noch ewige Werte, habe keine 42
Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O., S. 9. Vgl. die vorgeschlagene Definition S. 10 f.: »Unter Kulturkritik wird hier ein normativ aufgeladener Reflexionsmodus verstanden, der sich mit der ›evolutiven Moderne‹ ausbildet und dessen Wertungs- und Orientierungsschemata gegenüber den Zumutungen der Moderne sensibilisieren.« Neben allen Schwächen, die Bollenbeck konstatiert, gesteht er der Kulturkritik ausdrücklich »Problemsensibilität« (S. 9, 12) zu. 43 Vgl. z. B. Michel Henry, Die Barbarei, a. a. O., S. 298 ff., 370 ff.
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absoluten Ziele, keine privilegierten Einsichten, keine Utopien, sie verbessere nicht die Welt, verzichte auf die Emphase der Wiederherstellung und den Anspruch auf Vollkommenheit. Konersmann kommt zu dem Ergebnis: »Weder ist noch hat die Kulturkritik ein Programm, sie agiert ohne positive Entwürfe.« 44 Positiv hält er fest, dass neue Kulturkritik spielerisch, flexibel, improvisatorisch vorgehe, wie die Kultur selbst sei sie dynamisch, situationsbezogen, komplex geworden, sie zerstreue sich, verfahre punktuell, es dominierten Vorläufigkeiten, Kurzlebigkeiten, Notbehelfe, Ironien, sie spreche die Sprache eines prekären, exzentrischen und wilden Denkens. Woher aber können die Standards für die Kritik kommen, ist Konersmann gefragt worden. 45 Die moderne Kulturkritik finde die Maßstäbe ihrer Kritik nicht einfach mehr vor, lautet die Antwort, sondern bringe sie im Austausch mit dem kulturellen Umfeld selber hervor. 46 Wie das jedoch grundsätzlich gelingen kann und wo es schon einmal konkret geschehen ist, diese wichtigen Fragen bleiben leider offen. Den Gegenpol zu Konersmanns betont zurückgenommenem, occasionalistisch-momentanistischem Konzept von Kulturkritik markiert der Historiker Paul Nolte, indem er die Rückgewinnung der normativen Dimension für die Kulturphilosophie fordert. Zugleich gibt er Hinweise auf die Arbeitsfelder einer aktuellen Kulturkritik: »Wir haben uns lange gescheut und fast schon abgewöhnt, ›Kultur‹ unter normativen und bewertenden Gesichtspunkten zu betrachten […]. Außer einem totalen Pluralismus scheint es keine Maßstäbe mehr zu geben. Und doch können wir der schwierigen Frage nach Bewertung und Hierarchisierung von Kultur nicht 44
Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008, S. 134, vgl. 14. Vgl. Christine Pries, Minimaldistanz. Ralf Konersmann versichert uns, dass die »Kulturkritik« lebt, in: Frankfurter Rundschau Online, 11. 03. 2008 (http://www. fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/literatur_rundschau/? sid=bf21766f8ba10d380714ee2551076806&em_cnt=1301455). – Vgl. zu Konersmann auch die Rezension von Clemens Albrecht, Rezension zu: Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt am Main 2008, in: H-Soz-u-Kult, 08. 08. 2008 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-095). 46 Vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 50, 52. 45
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mehr ausweichen. Lesen ist tatsächlich ›besser‹ als Fernsehen oder Gameboy, und die Lektüre eines guten Romans oder Sachbuchs wiederum ›besser‹ als die von Trivialliteratur oder der allgegenwärtigen Ratgeber. ›Besser‹ hat dabei nichts mehr mit bürgerlichem Bildungsdünkel zu tun, sondern lässt sich ganz konkret übersetzen in: Kreativität fördernd, soziale Kompetenzen stärkend, individuelle Chancen eröffnend. Das gilt sogar für die lange Zeit als ›Sekundärtugenden‹ verschmähten Standards der Höflichkeit oder Zivilität im Alltagsverhalten.« 47 Mit Konersmann ist Nolte sich dabei in der Auffassung einig, dass nicht einfach an alte Traditionen angeknüpft werden könne, sondern die Grundlagen einer Bewertung neu zu entdecken seien. Nolte ist allerdings zuversichtlicher, dass es auch gelingen werde, stabile Kriterien zu finden und überzeugend zu begründen. Und er geht davon aus, dass die Kritik heute eine dringende Aufgabe zu erfüllen hat. Ob die Kulturkritik heute am Ende ist 48 , ob sie wiederaufersteht49 , ob sie nur einen Wandel erlebt, wie sie heute noch möglich ist 50 – zu dieser Diskussion leistet der vorliegende Band einen indirekten Beitrag, indem er die alte Nähe von Phänomenologie und Kulturkritik als Anregung aufgreift, um zu fragen, welche konkreten Impulse heute von einer phänomenologischen Philosophie ausgehen können.
47
Paul Nolte, Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München 2005, S. 72. 48 So Wolfgang Ullrich, Zentrifugalangst und Autonomiestolz. Ein Nachruf auf die Kulturkritik, in: Neue Rundschau, Bd. 110 (1999), S. 9–22, hier 16. 49 Gustav Seibt, Kulturkritik? Allerdings! Über Historisierung, kulturkritische Diätetik und das Pathos des Stammhirns, in: Neue Rundschau, Bd. 110 (1999), S. 23–32. Auch in: ders., Canaletto im Bahnhofsviertel. Kulturkritik und Gegenwartsbewußtsein, Springe 2005, S. 32–44. – Vgl. auch: Henning Ritter, Closing time. Atemnot der Kulturkritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06. 07. 1994: »Noch nie hat die Kulturkritik mit ihren Klagen mehr recht gehabt als heute.« 50 Vgl. Josef Früchtl, Ist Kulturkritik heute noch möglich?, in: Information Philosophie, Nr. 1/2010, S. 7–13. 6
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II. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge gehen zurück auf das XVII. Symposion der Gesellschaft für Neue Phänomenologie, das im Mai 2009 in Rostock unter dem Titel »Grenzen des konstruierenden Denkens. Phänomenologie als Grundlage einer Kulturkritik« veranstaltet wurde. Die Aufsätze lassen sich nach ihren thematischen Schwerpunkten in mehrere Gruppen einteilen. Eine erste Gruppe bilden die Abhandlungen von Hermann Schmitz, Michael Großheim und Clemens Albrecht. Sie kreisen um die Opposition von Situation und Konstellation und zeigen, wie mit Hilfe dieser phänomenologischen Begriffe eine aktuelle Kulturkritik aussehen könnte. Insbesondere wird die Gegenüberstellung von Situationen und Konstellationen am Beispiel der heutigen Universität analysiert. In einer nächsten Gruppe greifen Fritz Böhle und Gernot Böhme die Situationen als das Gegebene und die Konstellationen als das Gemachte wieder auf, um für eine stärkere Beachtung des Gegebenen zu plädieren. Sowohl in der industriellen Arbeitswelt als auch im Selbstverständnis des Menschen müsse dem Unverfügbaren, dem Nichtplanbaren wieder ein größerer Stellenwert zuerkannt werden, wolle man nicht Gefahr laufen, durch übermäßiges Konstruieren implizite Grundlagen für menschliches Leben zu ignorieren. Jürgen Hasse geht in eine ähnliche Richtung weiter, indem er darauf aufmerksam macht, dass die den Menschen prägenden Situationen selbst schon kulturkritisch bedacht werden müssen. In der Moderne kommt es vermehrt zu unbemerkten Identitätsstiftungen – unter anderem durch Architektur an herausgehobenen Orten –, wogegen Hasse eine Aufklärung durch phänomenologische Besinnung setzt. Dass die den Menschen einbettenden Situationen kulturkritisch relevant sind, macht auch Heiner Hastedt deutlich. Für ihn stellt der Zerfall gewisser situativer Bindungen ein Charakteristikum der Gegenwart dar. Der moderne Mensch ist nicht mehr gebunden, sondern ein vagabundierender Nomade. In einer weiteren Gruppe thematisieren die Arbeiten von Ludger Heidbrink und Steffen Kluck Kulturkritik in einer historischen Dimension, indem sie eine Verbindung zwischen gegenwärtiger und bürgerlicher Kritikform ziehen. Dabei tritt zutage, dass Bindungs24 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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losigkeit als eine Folge von Situationsverdrängung ein über die Zeiten hinweg konstantes Motiv kulturkritischen Hinterfragens ist. Schließlich kommt Hans Werhahn auf die Rolle von geistesgeschichtlich problematischen Weichenstellungen zurück, indem er auf das Scheitern einer durch die Naturwissenschaften und ihrer Methodik beflügelten Objektivierung der Welt hinweist. Diese Objektivierungszuversicht ist ein typischer Ausdruck des Konstellationismus, dessen Auswirkungen das kulturkritische Hauptthema dieses Buches darstellen. Zu den Beiträgen im Einzelnen: Hermann Schmitz entwickelt einen allgemeinen Begriffsrahmen, mit dessen Hilfe Entwicklungen in Kulturen – nicht nur der heutigen, sondern jedweder Kultur – beschrieben und analysiert werden können. Die beiden schon erwähnten zentralen Termini sind »Situation« und »Konstellation«: Die Erste ist zu verstehen als eine Mannigfaltigkeit mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die Letzte als Kombination explizierter Einzelheiten. Anhand dieser phänomenologischen Begrifflichkeit lassen sich kulturelle und gesellschaftliche Wirklichkeiten wissenschaftlich betrachten. Schmitz führt dies an Entwicklungen in der abendländischen Kultur vor, die mindestens bis zu Platon zurückreichen. Kernprogramm dieser geistesgeschichtlich dominanten Tradition ist die Verdrängung des Kultursystems der Vergegenwärtigung von Situationen. Deutlich werde dies, so Schmitz, unter anderem an der Veränderung der Rolle der Dichter (insbesondere der Lyriker) in der Kultur. Waren sie früher hoch angesehene »Darsteller« und »Ausleger« von Situationen, so werden sie mehr und mehr bedeutungslos. Ihre Kunst des überlegten Situationsverstehens und -explizierens werde als irrational, subjektiv und willkürlich diskreditiert. Stattdessen rede man einem Konstellationismus das Wort, der meint, alle ganzheitlichen Situationen in einzelne, handhabbare Faktoren zerlegen zu können. Ein Beispiel für dieses konstellationistische Weltverständnis ist die Dominanz des naturwissenschaftlichen Empirismus, der nur ganz bestimmte, nämlich quantifizierbare und messbare Daten als gültig anerkennt. Die Folge dieser fehlerhaften, da einseitigen Entwicklung ist das Verkennen der Situationen, wie es in der Gegenwart offenbar wird. Mit den Situationen gerät zugleich deren Grundlage im Leben, die Leiblichkeit, in Vergessenheit. 25 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Wie praxisrelevant die mit dem Begriffspaar »Situation – Konstellation« ansprechbaren Phänomene sind, zeigt der Beitrag Michael Großheims. Er versteht den Konstellationismus – ganz wie Schmitz – als Hintergrundideologie der Moderne. Verdeutlicht wird diese Ideologie an zwei Beispielen: zum einen den literarischen Figuren Kommissar Maigret und Sherlock Holmes, zum anderen der konkreten Situation der heutigen Universität. In seiner Analyse zeichnet Großheim Sherlock Holmes als einen klassischen Konstellationisten, der seine Fälle am liebsten mit Hilfe einer schmalen Datenbasis am Schreibtisch löst; sein Antipode Maigret dagegen ist auf den unmittelbaren Umgang mit den Situationen vor Ort angewiesen. Während Holmes seine Erkenntnisse stets auf von vornherein einzelne, bereits explizierte Sachverhalte zurückführt, lässt sich Maigret in seinen Fällen eher treiben, scheut jede voreilige Explikation und gibt den Dingen Zeit, sich zu entwickeln. Ausgehend von diesem Gegensatz konstatiert Großheim, dass in der Moderne anstelle des empfangenden Menschen (Maigret) zu sehr der gestaltende, erzeugende Mensch (Holmes) betont werde. Das Beispiel der heutigen Universität greift er schließlich auf, um zu illustrieren, welche verheerenden Folgen der praktische Konstellationismus haben kann. Statt den Schwerpunkt auf die Entwicklung einer gemeinsamen Situation »Universität« zu legen, wird mittels Rankings, Modularisierung, Credit-Point-Berechnung und ähnlicher Vorgänge das Selbstverständnis der Universität in ein Sammelsurium von einzelnen Faktoren zerlegt, dass dann durch mitunter willkürliche Kombination in Verordnungen und Verträgen das Universitätsleben bestimmt. Welche Folgen dieser Fall von Situationsvergessenheit hat, wird von Großheim durch verschiedene Alltagsbeispiele verdeutlicht. Ausgehend von seinen Einsichten formuliert er die abschließende These, dass Kulturkritik auch in der Gegenwart ein berechtigtes und notwendiges Unternehmen sei. Sie leiste die gemeinsame Explikation gesellschaftlichen Unbehagens und stelle eine Art von Verhütungsleistung dar, indem sie Kulturfolgenabschätzungen liefere. So kann, wer das Verkennen von Situationen als Diagnose recht bedenkt, den zu erwartenden Fehlentwicklungen entsprechend entgegnen. Die Universität als exemplarischer Fall für bestimmte gesell26 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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schaftliche Entwicklungen greift auch Clemens Albrecht auf. Anhand der Entwicklung der Universität vom Humboldtianismus zur unternehmerischen Universität zeige sich, so die Kernthese, die Etablierung eines neuen Planungsleitbildes. Seine Diagnose weist Parallelen zu derjenigen Großheims auf, etwa wenn Albrecht darauf hinweist, dass das Leitbild der unternehmerischen Universität die formalen Anforderungen (Konstellationen) von den konkreten Forschungstätigkeiten (Situationen) entkoppelt und somit einen Hiatus zwischen Steuerung und Forschung aufreißt. Die Idee der unternehmerischen Universität lässt sich auf den Taylorismus, eine ökonomisch orientierte Arbeitssteuerungstheorie, zurückführen. Der Ökonomismus, der als neues Leitbild für die Wissenschaft gelten soll, wird von Albrecht als eine Form des Konstellationismus gedeutet. Der Hiatus zwischen Steuerung und konkreter Forschung sowie zwischen Universitätskonzept und Universitätsrealität kann nur überbrückt werden durch Meta-Erzählungen, die vage genug sind, offensichtliche Unterschiede und womöglich sogar Widersprüche zu vereinen. Albrecht illustriert die Problematik eindrucksvoll anhand der derzeit viel beachteten Drittmittelanträge, deren konkrete, fruchtbare Einzelforschungen oft meist keinen oder nur marginalen Bezug zum übergeordneten Gesamtthema, der MetaErzählung, haben. Letztlich, so Albrechts Einsicht, scheitert der Taylorismus in der Universitätswirklichkeit, es obsiegen in der Forschungspraxis situativ fundierte, nicht direkt geregelte Vorgänge. Man mag die Unhintergehbarkeit der Situationen für Steuerungskonzepte als Spezialzustand in der »Enklave« Universität sehen, aber Fritz Böhle weist auf breiter empirischer Basis nach, dass auch die industrielle Arbeitswelt ähnliche Strukturen aufweist. Auch in ihr kann der Taylorismus – verstanden als konstellationistisch orientiertes Steuerungskonzept – die konkrete, spontane, situationsbezogene Regelung nicht adäquat ersetzen oder verdrängen. Gegen den Vorrang des konstruierenden und regulierenden Denkens fordert Böhle eine stärkere Anerkennung der Rolle des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns und der informellen Kooperation. Diese beiden Faktoren werden durch die mit dem Taylorismus einhergehende zunehmende Verwissenschaftlichung der Arbeitswelt mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt und 27 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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vernachlässigt, obwohl sie von substantieller Bedeutung sind. Eine Missachtung des praktischen Könnens und impliziten Wissens, wie es Großheim und Albrecht auch an der Universität zu beobachten glauben, führt zu erheblichen Problemen, denn das Nicht-Formalisierbare lässt sich nicht konstellationistisch steuern. Vielmehr bedarf es situativen Könnens zur Bewältigung von nicht beherrschbaren Unwägbarkeiten. In diesem Zusammenhang kommt Böhle auf die Bedeutung der Leiblichkeit für konkretes Arbeitshandeln zurück und greift damit die schon von Schmitz behauptete Verbindung von Situation und Leiblichkeit wieder auf. Als gemeinsamer Bezugspunkt vieler Beiträge stellt sich die Betonung der empfangenden Seite des Menschen dar. Er sei nicht primär Schöpfer und Gestalter, sondern wesentlich auch ein von seinem Gegenüber Betroffener. In dieser Richtung kann ebenfalls die Argumentation Gernot Böhmes verstanden werden, der versucht, die grundlegende Differenz des Gegebenen und des Gemachten kulturkritisch zu nutzen. Dabei habe die Phänomenologie insofern eine kritische Funktion, als sie gegen die Verdeckung und Verdrängung einschlägiger Phänomene vorgehen solle. Böhmes Gegenwarts-Diagnose besteht darin, dass die technische Zivilisation immer weniger bereit sei, etwas als gegeben hinzunehmen. Vielmehr werde alles Gegebene nach Möglichkeit in ein Gemachtes verwandelt, was schließlich im Umfeld der Genforschung bis zur Selbstproduktion des Menschen führe. Auf ähnliche Weise hatten auch Schmitz, Großheim oder Böhle darauf aufmerksam gemacht, dass Planen und Konstruieren die situativen Vorgegebenheiten nicht ersetzen können. Böhme stellt fest, dass es keineswegs selbstverständlich sei, das Gegebene als solches zu akzeptieren, vielmehr bedürfe es der Einübung, des Trainings. Diese Aufgabe erkennt er der sogenannten »genetischen Phänomenologie« zu. Diese bemüht sich um ein Weltverhältnis des Menschen, in dem das Gegebene wieder als Faktum zur Geltung kommt. Viele Aspekte, die aus phänomenologischer Perspektive zu hinterfragen sind, speisen sich aus bestimmten impliziten Axiomen des modernen Weltverständnisses. Solche Annahmen sind Grundlage vieler moderner Entwicklungen, obwohl sie selbst praktisch kaum jemals explizit hervortreten. In diesem Sinne fordert auch Jürgen 28 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Hasse von der Kulturkritik, dass sie die Auswirkungen des wissenschaftlichen Denkens auf das lebensweltliche Denken der Menschen beachtet. Dabei ist die Thematisierung von Fragen und Problemen der Kulturkritik selbst wiederum konditioniert, nämlich durch den jeweiligen persönlichen Hintergrund des Kritikers. Wie aber entwickelt sich dieser Hintergrund? Hasse plädiert dafür, Prozesse der Fremdzuschreibung von Identitäten – man könnte von Fremdbestimmung des Hintergrunds sprechen – als beachtenswerte Vorbedingung von Kulturkritik stärker ins Auge zu fassen. Neue Phänomenologie mache, so Hasse, solche Fremdzuschreibungsvorgänge verständlich, so dass sie dadurch implizit gelebte Kulturkritik ermögliche. Phänomenologische Kulturkritik nimmt eine Revision der identitätsstiftenden Momente der Individuen vor. Im Zuge dieses Vorgehens wird der Mensch nicht nur als rational handelndes Subjekt verstanden (wie etwa im Taylorismus), sondern immer auch als ein leiblich betroffenes. Es stellt sich bei der Revision die Frage, woran insbesondere die Identitätsstiftung sich vollzieht, deren Auswirkungen die kulturkritischen Perspektiven determinieren. Hasse meint, es seien besondere, »andere« Orte, an denen dies in herausgehobenem Maße geschieht. Solche Orte und die dort zu findenden Architekturen werden von ihm aufgefasst als programmatisch eingesetzte Atmosphären, die dem Menschen Identitätsstiftungen – oft unbemerkt – zuteil werden lassen. Als Beispiel nennt er unter anderem Altenheime, die auf das Selbstbild ihrer Bewohner entsprechenden Einfluss haben. Aufgabe der Phänomenologie ist es, eine Autopsie dieser Orte vorzunehmen, um die heimlichen Bewirkungen aufzudecken. Mit dieser Reinigung der eigenen Identitätsstiftung wird Kulturkritik nicht bloß theoretisch durchdacht, sondern von einzelnen Menschen praktisch vollzogen. Auch die Gedanken von Heiner Hastedt setzen beim konkreten Einzelnen an, dessen für die Gegenwart typische Züge herausgestellt werden. Anders als bei Hasse wird hier jedoch nicht gelebte Kulturkritik forciert, sondern die Gegenwart soll mit Hilfe eines analytischen Konzepts diagnostisch auf den Punkt gebracht werden. Als Leitmotiv stellt sich dabei heraus, dass der moderne Mensch als »Nomade« verstanden werden kann: Er ist ungebunden, frei, flexibel, aber auch unbehaust, ständig rastlos und chronisch 29 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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heimatlos. Diese Phänomene lassen sich mit der zuvor von mehreren Autoren schon thematisierten Herauslösung des Individuums aus seinen tragenden Situationen in Verbindung setzen. Hastedt erklärt, der moderne Nomade habe seine Stärke darin, viele Möglichkeiten zu besitzen und in Relationen, das heißt: Perspektiven, denken zu können. Gleichzeitig aber besteht die Gefahr, dass seine zahlreichen Optionen die Wirklichkeit ersticken. Er glaubt, ganz frei seine Programme in der Welt wählen zu können, als seien diese Konstellationen von gleichgültigen Fakten. Mit Schmitz könnte man hier von einer Verkennung der Situationen sprechen. Hastedt macht aber deutlich, dass darin auch Chancen liegen; insofern ist der Nomade eine ambivalente Figur. Mit seiner Diagnose des typischen Lebensstils der Moderne – man denke zum Beispiel an die weltweit steigende Zahl von Pendlern – stellt Hastedt das Material bereit, an dem Kulturkritik mit ihren Einschätzungen – ähnlich wie bei Großheim – die zu erwartenden Folgen bedenken kann. Die Betonung der Bindungslosigkeit als eines Hauptcharakteristikums des modernen Menschen findet sich in anderer Weise schon in der Kulturkritik, wie sie sich im bürgerlichen Zeitalter der Weimarer Republik etablierte. In diesem Sinne stellt Ludger Heidbrink fest, dass zahlreiche noch heute aktuelle Einwände (etwa gegen den Liberalismus) der Weimarer Zeit entstammen und sich damals die Kulturkritik als Selbstreflexion einer fortgeschrittenen Kultur erst eigentlich entwickelt habe. Sein Beitrag führt zahlreiche Motive der Kritik an der bürgerlichen Daseinsform vor Augen, wobei sich neben der attestierten Orientierungs- und Bindungslosigkeit auch herausstellt, dass die Kritik Teil der bürgerlichen Gesellschaft selbst ist, also immer eine Form von Selbstkritik darstellt. Einen Höhepunkt der reflexiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Status quo bildet die Kritik am Liberalismus als der dominanten ökonomischen Weltauffassung. Heidbrink weist darauf hin, inwieweit der Liberalismus eine chronische innere Selbsterhaltungsschwäche besitzt, denn er greift auf Voraussetzungen zurück, die er nicht selbst schaffen kann. Hier werden – der Sache nach – erneut die situativen Voraussetzungen des Konstellationismus an einem konkreten Beispiel offenbar. Am Ende, so Heidbrink, sei es wichtig, außerkapitalistische Verhaltensmuster in die Dynamik des liberalen 30 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung
Kapitalismus zu reintegrieren, um – anders ausgedrückt – Situationen und Konstellationen miteinander zu versöhnen. Eine besondere Relevanz der Weimarer Zeit und der in ihre virulenten Theorien für die Kulturkritik behauptet auch Steffen Kluck. Er geht jedoch nicht der von Heidbrink verhandelten Liberalismus-Debatte nach, sondern legt dar, dass das »Zeitgeist«-Konzept jener Tage ein sinnvolles Instrument auch heutiger Kulturkritik sein kann. Dabei stellt sich heraus, dass dieser Zugriff eine besondere deskriptive Leistungsfähigkeit besitzt, da sich so zahlreiche Phänomene der Lebenswelt prägnant fassen lassen. Das »Zeitgeist«-Konzept, welches in der Weimarer Zeit intensiv genutzt wurde, verteidigt Kluck gegen eine moderne Verengung des Wissenschaftsdiskurses. Er weist nach, dass der Zeitgeist als eine »zuständliche Situation« im Sinne von Schmitz gelten kann. Diesem Ansatz folgend wird gezeigt, in welcher Hinsicht der Zeitgeist in seinen konkret-historischen Ausformungen als Symptom für kulturspezifische Prozesse aufzufassen ist. Mittels des so erreichten Brückenschlags wird die Kulturkritik (insbesondere der Weimarer Zeit) mit der Phänomenologie fruchtbar verbunden, wodurch der postulierte Zusammenhang zwischen beiden theoretischen Ansätzen seine Bestätigung findet. Abgeschlossen wird der Gang durch die breit gefächerten Bereiche phänomenologisch orientierter Kulturkritik mit den Darlegungen Hans Werhahns, welche das Scheitern der vornehmlich physikalischen Objektivierung der Welt thematisieren. Der Mensch gerät, wenn die ganze Natur als Konstellation gefasst wird, in eine theoretisch-abstrakte Falle von der Art einer »Kastenfalle«, in der er vor lauter objektiven Tatsachen sich selbst und das Eigene nicht mehr zu finden vermag. Sollte sich diese Ideologie durchsetzen, würde der Mensch sich letztlich selbst verlieren. Werhahn weist nach – hierin Schmitz folgend –, dass eine durchgehende Objektivierung nicht gelingen kann. Unhintergehbar bleiben die subjektiven Tatsachen, also das, was jemand nur in seinem eigenen Namen aussagen kann. Sie bilden ein Residuum, welches deutlich die Grenzen des Konstellationismus aufscheinen lässt.
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III. Die Herausgeber danken allen Autoren für ihre Mitarbeit. Ein Dank geht auch an Georg Bollenbeck, der die Tagung durch Vortrag und Diskussionsbemerkungen förderte, sein Konzept von Kulturkritik aber schon an anderer Stelle ausführlich dargestellt hat. 51 Weiterhin danken wir Isabella Schmitz und Anita Holtz für ihre wertvolle Hilfe bei der Redaktion des Manuskripts. Schließlich gilt unser Dank all denjenigen, die – als Zuhörer, Diskussionsteilnehmer, Vortragende, Organisatoren – am Zustandekommen des XVII. Symposions der Gesellschaft für Neue Phänomenologie beteiligt waren. Die Herausgeber hoffen, dass der vorliegende Band gleichermaßen als Erinnerung an die produktive gemeinsame Situation der Tagung wie als Anregung zur eigenständigen Fortsetzung in der Lektüre dienen kann. Literatur Adorno, Theodor W., Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (= Gesammelte Schriften, Band 4, hrsg. v. Rolf Tiedemann), Frankfurt a. M. 1980. Böhme, Gernot. Phänomenologie als Kritik, in: Michael Großheim (Hrsg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg, München 2008, S. 21–36. Bollenbeck, Georg, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Früchtl, Josef, Ist Kulturkritik heute noch möglich?, in: Information Philosophie, Nr. 1/2010, S. 7–13. Gadamer, Hans-Georg, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt a. M. 1977. Heidegger, Martin, Vom Wesen der Wahrheit, in: ders., Wegmarken (= Gesamtausgabe, Bd. 9, hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1976, S. 177–202. Heidegger, Martin, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (= Gesamtausgabe, Bd. 20: Marburger Vorlesung Sommersemester 1925, hrsg. v. Petra Jaeger), Frankfurt a. M. 1979. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 15 1984. 51
Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O.
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Phänomenologie und Kulturkritik – Eine Annäherung
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Michael Großheim / Steffen Kluck
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Von der Verhüllung zur Verstrickung Der Mensch zwischen Situationen und Konstellationen
Leiblich sein, heißt: erschrecken können. Die Chance, aus dem gleitend ergossenen Dahinleben in Weite und Dauer durch den plötzlichen Einbruch des Neuen, der Gegenwart exponiert, Dauer zerreißt und ins Vorbeisein verabschiedet, gerissen zu werden, bringt eine Dynamik von Engung und Weitung mit sich, die alle leiblichen Regungen der Tiere und Menschen durchherrscht. Leibliche Regungen wie Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit sowie alle Weisen des affektiven Betroffenseins von Gefühlen – z. B. Zornigsein, Fröhlichsein, Traurigsein, Bangen und Fürchten –, aber auch spürbares Blicken, Greifen, Atmen, Laufen bilden das, was ich »Leib« nenne, nämlich den Inbegriff alles dessen, was jemand von sich selbst in der Gegend – keineswegs immer in den Grenzen – seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, vornehmlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrungen gebildeten Vorstellungsbildes vom eigenen Körper (des perzeptiven Körperschemas) zu bedienen. Es sollte sich von selbst verstehen, obwohl vor mir noch niemand es gesagt hat, dass dieser Leib nicht der physische Körper ist, den Menschen und Tiere mit den vermutlich leiblosen Pflanzen teilen; denn der Leib hat räumliche Eigenschaften, die mit denen des Körpers unverträglich sind: Er ist flächenlos, unstetig ausgedehnt als ein Gewoge verschwommener Inseln auf dem Hintergrund ganzheitlichen Befindens, absolut örtlich in der Weise, dass sein Ganzort und die Orte seiner Inseln schon unabhängig von Lage- und Abstandbeziehungen, obwohl nach Einordnung in das perzeptive Körperschema zusätzlich auch durch solche, bestimmt sind. Die vom plötzlichen Einbruch des Neuen exponierte primitive Gegenwart ist der Anker leiblicher Dynamik als Enge ohne Spielraum, 37 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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worin hier, jetzt, ich, Sein und dieses, das betroffen macht, in einer aller Identifizierung zuvorkommenden Unausweichlichkeit zusammenfallen. Daran schließt der vitale Antrieb an, gleichsam als Gegenstoß gegen das Gedrängtwerden in die Enge. Er besteht in der antagonistisch konkurrierenden Verschränkung von Engung und Weitung in einander; wenn die Engung wie im Schreck aus dem Verband aushakt, ist der Antrieb erstarrt und gelähmt, und wenn die Weitung ausläuft, wie bei wohltätiger Müdigkeit bis zum Einschlafen, beim Dösen in der Sonne oder nach der Ejakulation, ist er erschlafft. Der Antrieb ist kein Trieb, er hat kein Ziel. Bloß in sich schwingend wirkt er z. B. beim Einatmen, aber, durch Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit zur vollen Vitalität ergänzt, kann er auch in den Dienst der Bearbeitung von Reizen und Themen treten und ist dann der Motor aller Aktivität. Der bisher besprochene Leib ist erst der eigene des einzelnen Menschen oder Tieres. Der Spielraum der Leiblichkeit erweitert sich darüber hinaus gewaltig durch die leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs, die von mir so genannte Einleibung. Sie wird dadurch möglich, dass der Antrieb ein Dialog von Engung und Weitung ist, der sich zur Konfrontation gleichsam aufspreizen kann. Das widerfährt schon dem Spüren am eigenen Leib z. B. im Erleiden des Schmerzes. Angst und Schmerz gleichen sich als Konflikte im vitalen Antrieb durch übermächtig engende Hemmung eines expansiv weitenden Impulses »Weg!«, aber der Geängstete kann in panischer Flucht, wenn auch weiterhin übermächtig geengt, mit diesem Impuls mit- und in ihm aufgehen, während das dem von Schmerzen Gepeinigten nur symbolisch im ausbrechenden Schrei oder im Aufbäumen gelingt; er muss sich mit dem Schmerz als zudringlichem Widersacher auseinandersetzen, ohne in ihm aufgehen zu können. Bloß noch am eigenen Leib gespürter Widersacher ist die reißende Schwere, wenn man stürzt oder ausgleitet und sich gerade noch fängt. Einen entscheidenden Schritt weiter geht die Spreizung des vitalen Antriebs, wenn sie in Zuwendung zu begegnenden Gestalten den Leib mit diesen durch einen gemeinsamen vitalen Antrieb zusammenschließt; ich spreche dann von antagonistischer Einleibung. Beispiele sind der Blickwechsel und das Konzert geschickten Ausweichens Entgegenkommender, 38 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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die einander zwar sehen, aber nicht den eigenen Körper, so dass sie diesen nicht nach Lage und Abstand, sondern nur durch antagonistische Einleibung mit dem Blick in die Bewegungssuggestion des oder der Entgegenkommenden erfolgreich dirigieren können. Solche Einleibung ist nicht nur mit Leibern möglich, sondern auch mit leiblosen Gestalten im Medium von Brückenqualitäten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an Gestalten wahrgenommen werden können, nämlich Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren. Antagonistische Einleibung, neben der es noch die solidarische gibt, ist die Grundform aller Kontakte einschließlich der Gegenstandswahrnehmung und begründet bei Fluktuieren der Dominanzrolle des Engepols des gemeinsamen Antriebs die spontane Überzeugung, es mit einem anderen Bewussthaber zu tun zu haben. Leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation sind die ergiebigsten Quellen von Situationen. Eine Situation, wie ich das Wort verstehe, ist Mannigfaltiges, das zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. »Binnendiffus« nenne ich die Bedeutsamkeit, wenn nicht alles in ihr (sehr oft nichts) einzeln ist; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt. Die Situation kann auch bloß in der Bedeutsamkeit bestehen. Situationen können aktuell sein, so dass sich ihr Verlauf von Augenblick zu Augenblick verfolgen lässt wie bei Gefahren oder Gesprächen, oder zuständlich, so dass solche Prüfung erst nach längeren Fristen sinnvoll ist. Zuständliche Situationen sind z. B. Sprachen, nämlich binnendiffuse Bedeutsamkeiten aus Programmen, wie gesprochen werden kann, um Bedeutungen im eben angegebenen Sinn darzustellen und eventuell weitere Zwecke zu erreichen; diese Programme oder Rezepte sind die Sätze. Zuständlich sind auch die persönlichen Situationen, die so genannten Persönlichkeiten, von Personen; eine aktuelle Situation ist dagegen der vielsagende Eindruck, den jemand bei der Begegnung mit einem Anderen spontan von dessen Persönlichkeit gewinnt, woraus sich ihm nach längerer Erfahrung eine zuständliche Situation bildet, das so genannte Bild, das er sich von ihm macht. Die leibliche Dynamik ist voller Situationen, z. B. bei der unwillkürlich oder willkürlich zweckmäßig ge39 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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führten Eigenbewegung; dazu gehören unzählige Sachverhalte, etwa Kenntnisse über die geordnete Verteilung der Leibes- und Körperteile, sowie Programme, die bei Apraxie entgleisen. Jede motorische Kompetenz ist eine zuständliche Situation, ihre Ausübung eine aktuelle. Viel reicher ist der Beitrag der Einleibung zur Bildung und Umbildung von Situationen. Dazu gehören alle Situationen der Auseinandersetzung, der Bewältigung, des Kampfes, des Ausweichens, z. B. beim Kauen fester und Saugen flüssiger Nahrung. Verhältnisse der Dominanz und Unterwerfung bringen unzählige Bedeutungen ein. Solidarische Einleibung, wenn ein gemeinsamer vitaler Antrieb Menschen oder Tiere ohne Zuwendung zu einander mitreißt, stiftet gemeinsame Situationen. Eine enorme Bereicherung erfahren Situationen der Einleibung durch Gefühle als leiblich ergreifende Atmosphären, mit denen sie sich voll saugen, wodurch es schon im Tierreich zu Alarm-, Verlockungs- oder Jammersituationen kommt. Die Gefühle bewirken die Vertiefung aktueller Situationen zu zuständlichen, die dann wieder in die aktuellen hineinwirken und deren Hintergrund bilden. Auch auf andere Weisen bilden sich zuständliche Situationen aus aktuellen der Einleibung, z. B. Sprachen aus dem Sprechen oder Singen. Auf solche Weisen entwickelt sich aus gleitender Dauer, in sie einbrechender primitiver Gegenwart, an diese anknüpfender leiblicher Dynamik und diese fortführender leiblicher Kommunikation ein Leben in vielfältig verschachtelten Situationen, das ich als Leben aus primitiver Gegenwart bezeichne. Tiere, Säuglinge und hochgradig Demente sind ganz 1 in dieses Leben eingeschlossen, aber auch menschliche Personen schwimmen darin, z. B. mit allen routinierten motorischen Verrichtungen und unwillkürlichen emotionalen Reaktionen, und ragen mit personaler Besinnung nur wie mit Spitzen daraus hervor. Im Leben aus primitiver Gegenwart ist man schon mit Identität und Verschiedenheit vertraut und dadurch vor Verwechslungen geschützt, aber diese Identität ist erst die absolute, die dieses und jenes zu trennen vermag, noch nicht die relative Identität mit etwas, und 1
Damit will ich der tierpsychologischen Suche nach Übergangsstufen im höheren Tierreich nicht vorgreifen.
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erst recht noch nicht Einzelheit. Das Leben aus primitiver Gegenwart ist ein verhüllendes und verhülltes Leben. Die Aktivität des vitalen Antriebs ist in Situationen eingehüllt, von denen er geführt wird und auf die er reagiert, und die Bedeutsamkeit der Situationen ist in binnendiffuse Ganzheit gehüllt, zwar verstanden, aber nicht aufgeschlossen und zerlegt in lauter einzelne Bedeutungen. Das wichtigste Werkzeug des Umgangs mit Situationen ist die Rede. Rede im allgemeinsten Sinn ist eine primär vokale, sekundär in andere Medien übertragbare Bearbeitung von Situationen und, falls dabei Explikate anfallen, deren Kombination. Im Leben aus primitiver Gegenwart fallen noch keine Explikate der Rede an, sondern nur ganze Situationen werden durch Rufe und Schreie angesprochen, nämlich heraufbeschworen, modifiziert oder quittiert (beantwortet). Tierische Rede besteht nur aus Rufen und Schreien, aber auch in menschlich personaler Rede nehmen sie breiten Platz ein in Gestalt der Ausrufe, z. B. der Interjektionen und vieler als Ausruf gebrauchter Wendungen, wie sich z. B. viele Menschen mit dem hässlichen Ruf »Scheiße!« Luft machen, ohne etwas über anale Ausscheidungen sagen zu wollen. Der entscheidende Schritt über das Leben aus primitiver Gegenwart hinaus geschieht durch satzförmige oder explikative Rede, die einzelne Bedeutungen – d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme – aus der Bedeutsamkeit herausholt, sei es Stück für Stück oder in Haufen. Wenn ich Rede »satzförmig« nenne, denke ich nicht an grammatische Gliederung, sondern nur an die explikative Leistung; auch Satzaussprüche von der Länge eines Wortes, ja einer Silbe, oder konventionelle Signale können satzförmige Rede sein. Ihrer bedarf es aber, um Bedeutungen als einzelne zu bestimmen; denn auf Sachverhalte, Programme und Probleme kann man nicht zeigen, sondern man muss sagen, welche es sind, um sie zu treffen. Dadurch werden sie aber im Allgemeinen nicht geschaffen, sondern nur aus Situationen herausgeholt und zur Einzelheit entbunden. Erst dadurch werden einzelne Sachen möglich. Einzeln ist nämlich, was eine Anzahl um 1 vermehrt oder – logisch gleichwertig – Element einer endlichen Menge ist. Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen, Mengen Umfänge von Gattungen. Einzeln kann daher nur sein, was Fall einer einzelnen Gattung ist. Ich habe mit formallogischen Mitteln präzi41 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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siert, was es heißt, Fall einer Gattung zu sein, wobei diese selbst ein Sachverhalt ist, der in seiner Intension weitere Bedeutungen enthält. 2 Einzelheit entsteht also durch Ergänzung der absoluten Identität, die schon im Leben aus primitiver Gegenwart verfügbar ist, durch die Bestimmtheit als Fall einer Gattung, wofür jeweils viele Bestimmungen in Betracht kommen; dadurch entfaltet sich die absolute Identität zur relativen Identität mit etwas, indem die einzelne Sache als Fall dieser Gattung identisch wird mit ihr als Fall jener Gattung, einschließlich des überflüssigen Grenzfalls der Tautologie, identisch als Fall einer Gattung mit sich als Fall eben dieser Gattung zu sein. Man kann nun fragen, wie die Gattung selbst einzeln sein kann, ohne dass sich ein regressus ad infinitum immer weiterer Subsumtionen als Fall von etwas anbahnt. Das wird dadurch vermieden, dass die Gattung und ihr Fall sich an einander vereinzeln, indem die Gattung selbst ein Fall von Gattung des Falls ist. 3 Mit der satzförmigen Rede, die durch Vereinzelung von Bedeutungen Sachen als einzelne möglich macht, wächst den Menschen ein ungeheures Machtmittel zu. Macht ist Steuerungsfähigkeit, d. h. das Vermögen, einen Vorrat beweglicher Sachen, d. h. Etwasse – egal, worum es sich handelt –, in gerichtete Bewegung zu versetzen, diese im Verlauf zu führen und wieder anzuhalten. Solche Macht gewinnt der Mensch über Situationen durch satzförmige Rede. Er kann einzelne Bedeutungen und durch sie einzelne Sachen herausholen, diese beliebig trennen und verbinden und durch Kombination Netzwerke oder Konstellationen einzelner Faktoren herstellen, einerseits, um die Situation zu rekonstruieren, andererseits, um sie durch Umordnung zu überholen und an den entstehenden Modellen zu überlegen, was er aus ihr machen könnte. Er kann sie im Ausgang von den für ihn relevanten Programmen und Problemen, die er aus ihr herausliest oder aus anderen, gleichfalls von ihm explizierten Situationen an sie heranträgt, in den Griff nehmen und die zugehörigen Sachverhalte, die er einzeln auf Tatsächlichkeit zu prüfen vermag, in den Dienst dieser Programme und der Bewältigung der ausgewählten Probleme stellen. Sich selbst 2 3
Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg, München 2008, S. 33 f. Vgl. Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, a. a. O., S. 42.
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kann er durch Selbstzuschreibung, sich für etwas, d. h. für einen Fall von etwas, zu halten, zum einzelnen Subjekt und zur Person als Bewussthaber mit Fähigkeit zur Selbstzuschreibung erheben, wobei er in einem begrenzten Spielraum die Wahl aus einem Strauß von Gattungen hat, sich als Fall von dieser oder von jener zu verstehen. Satzförmige Rede verleiht Personen also Überlegenheit über alle im Leben aus primitiver Gegenwart befangenen Wesen, keineswegs aber eine Überlegenheit über das Leben aus primitiver Gegenwart selbst. Ganz im Gegenteil befindet sich die satzförmige Rede selbst in einem eigentümlichen Übergang von Leben aus primitiver Gegenwart zur Welt als dem Rahmen oder Feld möglicher Vereinzelung. Sie ist nämlich nur dadurch möglich, dass sie aus einer Sprache schöpft, indem sie sich von deren Sätzen, d. h. Rezepten zur Darstellung einzelner (auch vieler einzelner) Sachverhalte, Programme oder Probleme, führen lässt. Welche es sind, kann der Sprecher aber nicht wissen, ehe er spricht, falls er nicht einen schon fertigen Text bloß nachspricht. Vielmehr greift er blind, aber treffsicher in die Sprache hinein und expliziert aus ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit erst durch seinen sprechenden Gehorsam die Programme, d. h. Sätze, denen er gehorcht. Das ist dieselbe Weise des treffsicher vor Verwechslungen geschützten Umgangs mit absoluter Identität und Verschiedenheit, der im Leben aus primitiver Gegenwart z. B. die unwillkürlich geführte zweckmäßige Bewegung, etwa das geschickte Ausweichen, in Ordnung hält. Im Verhältnis zur Sprache lebt der Sprecher satzförmiger Rede aus primitiver Gegenwart, aber er benützt dieses Vermögen, um durch Explikation einzelner Bedeutungen und dadurch ermöglichte Vereinzelung von Sachen aller Art dem Leben aus primitiver Gegenwart in die Welt zu entkommen. Sein Vermögen, Situationen mehr oder weniger in Konstellationen aufzulösen, schöpft er aus dem Gehorsam seiner Sprache gegenüber, einer zuständlichen Situation, der er sich unterwirft, ohne sie bei dieser Gelegenheit antasten zu können. Dass der Mensch seine durch satzförmige Rede erlangte Macht über Situationen dem Gehorsam gegen mindestens eine Situation verdankt, vergisst oder übersieht er leicht, und dann ist er nah an der Gefahr des Konstellationismus, nicht mehr nur Situationen mit Konstellationen zu bearbeiten, sondern sie zu Gunsten der Konstel43 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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lationen zu verkennen und zu verleugnen, indem er die Welt als große Konstellation auffasst, als Netzwerk einzelner Faktoren. Es lässt sich streng beweisen, dass dieses Weltverständnis illusorisch ist, weil unmöglich alles einzeln sein kann, wenigstens nicht im Reich der Gattungen oder Bestimmungen, wovon etwas ein Fall sein kann, so dass es erst durch dieses Fallsein als einzelnes möglich wird. Wenn nämlich jede Bestimmung einzeln wäre, könnte nichts eine Bestimmung bekommen; alles wäre unbestimmt. Das ergibt sich daraus, dass jede Bestimmung dem, was sie bestimmt, zukommen muss. Dieses Zukommen der Bestimmung zum Bestimmten ist, von der anderen Seite gesehen, dasselbe wie das Bekommen der Bestimmung für das Bestimmte. Beides ist dasselbe Verhältnis. In der Kette, die die Bestimmung mit dem Bestimmten verbindet, ist jene, von oben gesehen, das erste und dieses das letzte Glied. Nun ist aber das Zukommen einer Bestimmung zu etwas selbst wieder eine Bestimmung dieser Bestimmung, und daraus lässt sich leicht ein regressus ad infinitum ableiten, der verhindert, dass die Kette ein letztes Glied hat, und damit, dass die Bestimmung beim Bestimmten ankommt. Diese Logik, die allen Sachen jede Bestimmtheit entzieht, trifft aber nur so lange zu, wie man an eine Kette denkt, in der sich einzeln Glied an Glied reiht, Bestimmung an Bestimmung. Diese Voraussetzung ist also falsch. Eine Sache kann nur bestimmt sein, wenn es unzählig viele Gattungen oder Bestimmungen gibt, die nicht einzeln sind. 4 Der Mensch verfügt über zwei gegensätzliche Formen satzförmiger, explikativer Rede, die ihn vor die Alternative stellen, entweder noch in der Explikation der explizierten Situationen eingedenk zu sein und bei ihnen zu verweilen oder sie bedenkenlos zu zerreißen, wobei es ihm nur auf einzelne Sachverhalte, die sich als Tatsache herausstellen, und einzelne als geltend bewährte Programme ankommt. Das ist der Gegensatz von poetischer und prosaischer Explikation. Poetisch ist satzförmige Rede, wenn sie mit den gesagten Sachverhalten, Programmen und Problemen einen so sparsam 4
Dieser Gedankengang wird ausgeführt Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, a. a. O., S. 36 f. und in: ders., Freiheit, Freiburg, München 2007, S. 88–92.
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und dünn gewebten Schleier bildet, dass die Situation oder das Situationengeflecht in unversehrter Ganzheit durchscheinen kann. Der Dichter kann solche Situationen auch heraufbeschwören; ein geeignetes Hilfsmittel dazu ist die poetische Metapher, der die Identifizierung der assoziativen, situationsartigen Bedeutungshöfe heterogener Wortvorstellungen als Zündung einer neuen Situation durch Verschmelzung dient. Auf der anderen Seite steht die Problemlösung als Musterfall prosaischer Explikation. Das mühsam zu lösende Problem ist selbst eine Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und partiellen Problemen, zusammengehalten durch den Problemdruck zur Lösung hin; diese wird als Befreiung aus der Situation erlebt, wobei es nur darauf ankommt, den als Tatsache explizierten Sachverhalt bei theoretischen Problemen bzw. das als geltend herausgestellte Programm bei praktischen festzuhalten, während der ganze Rest mit dem Problemdruck abgeworfen wird. Auf dem so von Situationen mehr und mehr freigeräumten Boden werden dann die Explikate zu Konstellationen vernetzt. In unserer Zeit gewinnt die prosaische Explikation ein entschiedenes Übergewicht über die poetische. Das zeichnet sich am Verfall der Autorität der Dichtung ab. Immer noch werden zahlreiche Dichtwerke, meist Romane, veröffentlicht, aber ihr Adressat ist hauptsächlich der Betrieb der Literaturkritik, ein spezielles Gewerbe. Im Anfang des vorigen Jahrhunderts waren lebende Dichter ragende Gestalten wie Rainer Maria Rilke, Stefan George, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann. Damit ist es vorbei. Der Vormarsch des Konstellationismus, etwa im Zeichen der fortschreitenden Digitalisierung, verdrängt das Kultursystem der Vergegenwärtigung von Situationen. Dass Abwertung der Dichtung und Konstellationismus zusammengehen, ist nicht neu. Es beginnt schon bei Platon, der Homer und die Tragödiendichter als drittklassige Nachahmer ohne Wahrheit abtut, die bloß aus Unkenntnis z. B. Feldherrn oder Schuster darstellten, statt selbst als Feldherr bzw. Schuster tätig zu sein. 5 Platon ist insofern der erste Konstellationist, als er seinen Sokrates systematisch das Geschäft betreiben lässt, Situationen zu zersetzen und 5
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in Konstellationen umzudeuten. Das geschieht durch dessen Definitionsverlangen, mit dem er die Könner eines Tugendverständnisses, einer zuständlichen Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, dazu zwingen will, diese Kompetenz durch Zusammensetzung einzelner Begriffsmerkmale zu ersetzen. Das widerfährt dem Feldherrn Laches, der sich sein Bescheidwissen über Tapferkeit tatsächlich ausreden lässt 6 , ebenso wie dem klügeren Protagoras hinsichtlich der bürgerlichen Tugend. 7 In der griechischen Gesellschaft sind die Redner die Verwalter der Situationen; sie entdecken an ihnen die Kunst der Nuancierung, die sich daraus ergibt, dass die binnendiffuse Bedeutsamkeit latente Unverträglichkeiten toleriert und daher von verschiedenen Seiten mit unterschiedlichem Ergebnis beleuchtet werden kann. Diese Kunst, »die schwächere Rede zur stärkeren zu machen«, kann zwar missbraucht werden, ebenso aber auch den Blick günstig erweitern, indem man lernt, eine Sache von verschiedenen Seiten zu sehen. Platon verschmäht solche rhetorische Kompetenz für Situationen auf das Heftigste 8 und setzt an ihre Stelle als wahre Redekunst ein bis ins Speziellste detailliertes Netzwerk des Wissens über Differenzierungen der Rede, der Hörerseele und der behandelten Thematik. 9 Die gleiche konstellationistische Auflösung bestimmt Platons Staatsidee, die die Einheit des Ganzen nicht einer gemeinsamen Situation überträgt, in deren binnendiffuser Bedeutsamkeit – wie nach Protagoras7 – die bürgerliche Gesinnung gleich einer Muttersprache10 enthalten wäre, sondern es der Regierung anheim stellt, als Einheit stiftende Klammer die Bevölkerungsgruppen zusammenzuhalten, was sie nur mit rücksichtsloser Gewalt (und List) vermag. 11 Aristoteles hat diese Einseitigkeit mit dem Leitbild des sozialen Organismus zu heilen versucht, ist 6
Platon, Laches 194b. Vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 83–87; ders., Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Bd. I, Freiburg, München 2007, S. 132–138. 8 Platon, Phaidros; ders., Theätet 172d-173b. 9 Platon, Phaidros 277a-c. 10 Platon, Protagoras, 328a. 11 Vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, a. a. O., S. 87–91; ders., Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. I, a. a. O., S. 239–242. 7
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dadurch aber auf eine zu konservative, für die in gemeinsamen Situationen angelegte Dynamik bis zur Sprengkraft zu wenig aufgeschlossene Sichtweise gedrängt worden. 12 Nachdem das Christentum der Zersetzung gemeinsamer zuständlicher Situationen, in die die Persönlichkeiten (die persönlichen Situationen) eingewachsen sind, zwar nicht in der Lebenswirklichkeit, wohl aber durch Höllenangst und daraus folgende penible Sündensuche im menschlichen Selbstverständnis mächtig und noch seinen Widersacher und Erben in der Neuzeit, die Aufklärung, prägend vorgearbeitet hatte 13 , erneuert und radikalisiert um 1600 Thomas Hobbes den Konstellationismus Platons. Nach Hobbes sind die Menschen von Natur einander Feind aus Misstrauen, das sie zu Präventivschlägen zwingt, weil gar kein Nomos einer gemeinsamen Situation, keine bürgerliche Gesinnung im Geist des Protagoras, sie spontan so verbindet, dass sie sich auf einander verlassen können; daher bleiben sie zur Vereinigung wie bei Platon auf eine Verklammerung angewiesen, nach Hobbes in Gestalt der Unterwerfung unter die künstliche Ordnung eines Machthabers, der genau so viel Vollmacht zur rücksichtslosen Machtausübung benötigt wie der König des platonischen Politikos. 14 Aber nicht nur Platons Erbe in der politischen Philosophie ist Hobbes, sondern viel direkter in der theoretischen Philosophie der Erbe Wilhelms von Ockham. Singularismus ist der falsche, vorhin zurückgewiesene Glaube, dass alles ohne weiteres einzeln ist; in der Scholastik war er längst latent vorhanden und leitend, namentlich durch das unklare, von Aristoteles übernommene Einheitsverständnis mit dem Axiom, dass jedes Seiende ein Eines ist, aber erst bei Wilhelm bricht er mit noch nie dagewesener Radikalität geschichtsmächtig durch. 15 Jede Sache, sogar jede Eigenschaft ist für Wilhelm ein absolutes Seiendes von sich aus (a se); es gibt keine Universalien 12
Vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, a. a. O., S. 91–93; ders., Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. I, a. a. O., S. 298–302. 13 Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, a. a. O., S. 37–64, 239–242. 14 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Bd. II, Freiburg, München 2007, S. 224–227. 15 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. II, a. a. O., S. 78–83, 133–154.
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und keine verbindenden Beziehungen mehr, auch nicht als Weltordnung. 16 Alles wird, aus seinem Gefüge gelöst, verschiebbar; technisches Machen versteht Wilhelm nicht mehr, wie Aristoteles (und Platon), als Realisierung eines dem Techniker eingegebenen Leitbildes, sondern als bloße Verschiebung im Raum mit Folge qualitativer Änderung. 17 Dem Machen wird damit das Basteln, das beliebige Ausprobieren freigegeben und so der Weg in die moderne Technik in einer Weise, die Bacon aufgegriffen hat 18 , eröffnet. Seit Raimundus Lullus, einem Zeitgenossen Wilhelms, gibt es demgemäß die Kombinatorik als philosophische Universalmethode, gipfelnd bei Leibniz. Die neuzeitliche Naturwissenschaft und Technik hat den Singularismus Wilhelms und den daraus sich ergebenden Konstellationismus begeistert aufgenommen, begleitet von den an ihr sich orientierenden Denkern wie Hobbes und Kant, dem ersten, für den der Singularismus so selbstverständlich ist, dass er auf keine Alternative Rücksicht nehmen muss. 19 So ist der Konstellationismus zur herrschenden Meinung geworden, ungeachtet einiger Gegenstimmen wie in der historischen Schule (besonders Rechtsschule) der deutschen Romantik. Das zeitgenössische katholische Gegenstück des protestantischen Hobbes ist Baltasar Gracián. Beide erben von der Erziehung des menschlichen Selbstverständnisses durch das Christentum die Zersetzung implantierender Situationen. Gracián wendet den christlichen Gegensatz zwischen Gott und der bösen Menschenwelt in die Auseinandersetzung des wendigen Hofmanns mit der bösen Welt um ihn, einen Kriegsdienst 20 gleich dem Krieg aller gegen alle 16
Wilhelm von Ockham, Opera philosophica et theologica, 2. Abteilung: Opera theologica, Bd. IX: Quodlibeta septem, St. Bonaventure 1980, S. 729 f. (Quaestio 8, Z. 56–66). 17 Wilhelm von Ockham, Opera philosophica et theologica, 1. Abteilung: Opera philosophica, Bd. IV: Expositio in libros Physicorum Aristotelis. Prologus et libri I-III, St. Bonaventure 1985, S. 219 (Buch II, c. 1, § 4, Z. 94 f., 102–105, 288– 295). 18 Vgl. Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. II, a. a. O., S. 214 f. 19 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. II, a. a. O., S. 323–326. 20 »Das Leben des Menschen ist ein Krieg gegen die Bosheit der Menschen.« (Bal-
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nach Hobbes. Die wichtigste Waffe in diesem Krieg ist die Wendigkeit: »Sich fügen zu wissen – ein kluger Proteus, gelehrt mit den Gelehrten, heilig mit den Heiligen. Eine große Kunst, um alle zu gewinnen: denn Übereinstimmung erwirbt Wohlwollen. Man beobachte die Gemüter und stimme sich nach dem eines jeden. Man lasse sich vom Ernsten und vom Genialen fortreißen, indem man eine politische Verwandlung mit sich vornimmt.« 21 Damit vergleiche ich einen Aphorismus, den Friedrich Schlegel 1787 drucken ließ: »Ein recht freier und gebildeter Mensch müsste sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.« 22 Auch das ist Wendigkeit, aber in anderem Geist. Inzwischen hatte das neuzeitlich-naturwissenschaftliche Denken die Atomisierung und Versachlichung des Subjekts so weit fortgetrieben, dass Hume sich nur noch als einen Haufen beliebiger Perzeptionen fand, denen niemand ansehen kann, dass es sich um ihn selber handelt. Dagegen rebellierte Johann Gottlieb Fichte, indem er das Ich in eine Tathandlung zurückzog, die nichts tut als sich selbst. Da er es bei dieser Isolierung nicht belassen konnte, ersetzte er die Einsamkeit des Ich durch das Schweben der Einbildungskraft zwischen Unvereinbaren, nämlich zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Daraus machte Friedrich Schlegel die romantische Ironie der absoluten Wendigkeit, sich von jedem Standpunkt zurückziehen und eben deshalb auf jeden versetzen zu können. Das war ein Geniestreich, der aus der Not eine Tugend machte. Die Not war die Unfähigkeit, sich in der Welt der objektiven als vermeintlich aller Tatsachen zu finden und dadurch in ein Niemandsland, in eine rätselhafte Schwebelage über oder zwischen allen, zu geraten. Die Tugend war die Kunst, diese Not in die Macht des ungebundenen tasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übers. v. Arthur Schopenhauer, hrsg. v. Karl Voßler, Stuttgart 12 1978, § 13.) 21 Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, a. a. O., § 77. 22 Friedrich Schlegel, Lyceum-Fragment 55, in: ders., Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe, Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), Darmstadt 1967, S. 154.
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Rollenwechsels umzutauschen. Diese Wendigkeit ist nicht mehr strategisch wie bei Gracián, nicht mehr Gestalt des konsequenten Wollens der Selbstbehauptung und Durchsetzung in der bösen, feindlichen Umwelt. Sie ist die Wendigkeit freien Spiels ohne jede Bindung. Max Stirner hat daraus drohenden Ernst gemacht. Mit der romantischen Ironie eröffnet Friedrich Schlegel geschichtsmächtig das ironistische Zeitalter, das bis heute anhält. Im 19. Jahrhundert bedurfte der Ironismus noch der aktiven Leistung des Dandys, der eine undurchdringliche Maske trägt, mit der er starr am Rand des Lebens verharrt, bis er in unberechenbaren Vorstößen die Bürger provoziert. Als Stimmung gehört dazu der Weltschmerz Lord Byrons und Giacomo Leopardis, als Abschied der schwebenden Subjektivität von der objektivierten Welt. Im 20. Jahrhundert, und mit immer rascherem Tempo bis heute, ist der aristokratische Ironismus vulgär geworden; man ist nicht mehr Dandy, sondern cool. Nicht mehr die Einbildungskraft schwebt, sondern das leicht gemachte beliebige Wählen zwischen unübersehbar vielfältigen unter sich vernetzten Angeboten der Event-Freizeit, des Verkehrs, des Fernsehens, des Internets usw. Dabei werden nicht einmal die Situationen aufgelöst, aber die zuständlichen Situationen werden durch aktuelle ohne den Hintergrund zuständlicher Situationen ersetzt. An die Stelle des Lebenspartners tritt der Lebensabschnittspartner, und die Abschnitte können sehr kurz werden, vielleicht eine Nacht lang. Das konsequente Wollen hat man sich durch die ironische Souveränität beliebigen Wechsels zwischen vorgefertigten Angeboten abgewöhnt. Die von Platon, Wilhelm von Ockham und Fichte eingeleitete Entwicklung führt zu einer Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage, die von verschiedenen Traditionen aufgebaut sind. Auf der Seite des Angebotes steht das Ergebnis des Situationen zersetzenden Konstellationismus in Gestalt eines riesenhaften Vorrats an Möglichkeiten, die von der durch Naturwissenschaft geleiteten Maschinentechnik bereitgestellt werden. Auf der Seite der Nachfrage stehen ungebundene Menschen, die ihre Selbstverwirklichung in einer Folge aktueller Situationen suchen, ohne zu bedenken, dass ihre Persönlichkeit, die zu verwirklichen wäre, eine zuständliche Situation ist. In scheinbarer Souveränität greift der ironisierte Mensch das ihm beliebende An50 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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gebot auf und verstrickt sich dadurch in das auf dem Markt bereitgestellte Netzwerk, das ihn führt, bis er springt, um sich abermals zu verstricken. Das verhüllte Leben in Situationen, das nicht abgeworfen werden kann, dreht sich um in ein verstricktes Leben in Konstellationen. Literatur Gracián, Baltasar, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übers. v. Arthur Schopenhauer, hrsg. v. Karl Voßler, Stuttgart 12 1978. Ockham, Wilhelm von, Opera philosophica et theologica, 2. Abteilung: Opera theologica, Bd. IX: Quodlibeta septem, St. Bonaventure 1980. Ockham, Wilhelm von, Opera philosophica et theologica, 1. Abteilung: Opera philosophica, Bd. IV: Expositio in libros Physicorum Aristotelis. Prologus et libri I–III, St. Bonaventure 1985. Schlegel, Friedrich, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801), hrsg. v. Hans Eichner, Darmstadt 1967. Schmitz, Hermann, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999. Schmitz, Hermann, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, 2 Bände, Freiburg, München 2007. Schmitz, Hermann, Freiheit, Freiburg, München 2007. Schmitz, Hermann, Logische Untersuchungen, Freiburg, München 2008.
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Von der Maigret-Kultur zur Sherlock Holmes-Kultur Oder: Der phänomenologische Situationsbegriff als Grundlage einer Kulturkritik
I. Der melancholische Meister der Situationen und die neue Zeit Kommissar Maigret versteht die Welt nicht mehr, genauer: seinen Arbeitsplatz. Die Pariser Kriminalpolizei soll reorganisiert werden. Maigrets Problem ist der Einbruch eines gesellschaftlichen Machtfaktors in seine vertraute Umgebung, den man heute unter Begriffen wie »Consulting«, »Controlling«, »Qualitätsmanagement« kennt: »Gebildete junge Leute aus den besten Familien Frankreichs waren um Effizienz bemüht und untersuchten alles in der Stille ihrer Büroräume. Aus ihren tiefschürfenden Überlegungen gingen prachtvolle Pläne hervor, die sich wöchentlich in neuen Verordnungen niederschlugen.« 1 Der Autor Georges Simenon hat seinen Helden damit in eine Lage gebracht, die seit einigen Jahren für immer mehr Arbeitnehmer Realität geworden ist: Mehr oder weniger gebildete junge Leute mit den besten Abschlussnoten kommen frisch von der Universität, um in Arbeitsbereichen, von denen sie keine Ahnung haben, für höhere Effizienz zu sorgen. Kommissar Maigret macht noch eine zweite verstörende Erfahrung mit dem Wandel der Zeit: »Vor nicht so langer Zeit leitete man eine Abteilung noch ohne viel Diplome, aber dafür hatte man im Bereich des Menschlichen nahezu alles kennengelernt.
1
Georges Simenon, Maigret und der faule Dieb (1961), übers. v. Stefanie Weiss, Zürich 1988, S. 21.
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Von der Maigret-Kultur zur Sherlock Holmes-Kultur
Nichts wunderte einen. Und nichts empörte einen.« 2 Die Verwissenschaftlichung seines Berufs macht Maigrets eigenes Vorgehen zunehmend anachronistisch. Wichtiger als die technischen Einzelheiten, die die neuen wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden liefern, ist ihm das menschliche Umfeld des Verbrechens.3 Wer wie Maigret als einfacher Streifenpolizist angefangen und seinen Beruf von der Pike auf gelernt hat, verfügt über eine große Menge an implizitem Erfahrungswissen, das immer mehr durch das offiziell anerkannte technische Wissen überholt und entwertet wird. Aber Kommissar Maigret ist doch nur eine literarische Figur – wird man spätestens an dieser Stelle einwenden. Was der Kriminalautor Simenon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinem Helden an Problemen angedichtet hat, mag man als bloße Literatur abtun. Hier wird nichts analysiert, ja streng genommen nicht einmal etwas behauptet. Georg Bollenbeck wird seine Vorbehalte gegen die tendenziell begriffslose und unsystematische Kulturkritik bestätigt sehen 4 ; auf der anderen Seite wird Ralf Konersmann auf seine These der Entgrenzung moderner Kulturkritik verweisen, der zufolge auch Trivialliteratur ein Medium von Kulturkritik sein kann.5 II. Situationen und Konstellationen Es ist damit Zeit, an dieser Stelle der Philosophie das Wort zu geben, die die Aufgabe hat, das Unbehagen in der Gegenwartskultur begrifflich zu artikulieren. Es lässt sich zeigen, dass das scheinbar unwichtige Unbehagen einer nur literarischen Figur philosophisch rekonstruiert werden und repräsentative Qualität entwickeln kann. Bereits die angesprochene Diskreditierung des Erfahrungswissens 2
Georges Simenon, Maigret verteidigt sich, übers. v. Wolfram Schäfer, Zürich 1979, S. 130. 3 Vgl. Georges Simenon, Madame Maigrets Liebhaber, übers. v. Ingrid Altrichter, Inge Giese, Josef Winiger, Zürich 1989, S. 29 f. 4 Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. 5 Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008.
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beispielsweise kann man mit Hilfe eines älteren, aber gerade heute aktuellen Ansatzes aus der englischen politischen Philosophie begrifflich zu fassen versuchen: Michael Oakeshott hat zwei Arten des Wissens unterschieden, technisches Wissen und praktisches Wissen. 6 Technisches Wissen kann in einzelnen Regeln, Prinzipien, Anweisungen, Maximen und in umfassender Weise in Lehrsätzen formuliert werden. Praktisches Wissen ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es einer solchen Formulierung nicht zugänglich ist. Es findet seinen gewohnten Ausdruck in der gebräuchlichen oder traditionellen Weise, in der Dinge getan werden; es hat damit den Anschein der Ungenauigkeit und der Ungewissheit. Anlass zu kulturkritischen Überlegungen ist nun die zu beobachtende Neigung, praktisches Wissen überhaupt nicht mehr als Wissen zu akzeptieren, die Tendenz zur These, dass es genau genommen nur technisches Wissen gebe. Der intensive Kulturwandel auf diesem Gebiet führt nicht nur zu Unbehagen, sondern auch zu Konflikten, etwa auf dem Gebiet der Medizin, wo die so genannte »Evidence-based-Medicine« nach eigenem Verständnis angetreten ist, das diffuse, unsichere Praktikerwissen durch ein empirisch geprüftes Wissen zu ersetzen, das in besonders kontrollierten Universitätsstudien gewonnen wird. Der Anspruch, dass durch die »Evidence-based-Medicine« echtes Wissen kanonisiert und falsches Wissen entlarvt werden kann, wird von einigen Praktikern zurückgewiesen. Sie wehren sich gegen Eingriffe in die ärztliche Therapiefreiheit durch eine situationsferne »Kochbuchmedizin« 7 mit Alleinvertretungsanspruch. Wie weit der Konflikt zwischen den Praktikern und den Vertretern der »Evidence-based-Medicine« gehen kann, zeigen die Worte eines Universitätsprofessors, der sich gegenüber einem erfolgreichen Praxis-Arzt auf die »externe Evidenz« seiner Universitätsstudien beruft: »Sie können sich zu diesem Komplex kein Urteil bilden, weil Sie nicht 6
Vgl. Michael Oakeshott, Der Rationalismus in der Politik, in: ders., Rationalismus in der Politik, übers. v. Klaus Streifthau, Neuwied, Berlin 1966, S. 9–45. 7 Vgl. die Bemerkungen von Oakeshott zur Rolle des Kochbuches für die Kunst des Kochens in: Michael Oakeshott, Der Rationalismus in der Politik, a. a. O., S. 17 und ders., Politische Erziehung, in: ders., Rationalismus in der Politik, übers. v. Klaus Streifthau, Neuwied, Berlin 1966, S. 123–147, S. 131.
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in der Lage sind, eine randomisierte Doppelblindstudie mit über 100 Probanden durchzuführen.« Zum Hintergrund: Der so angegriffene Praktiker hat 100 Behandlungsfälle die Woche, der Professor 4 (genauer: vier sehr genau selektierte Privatpatienten). Die Diskreditierung des praktischen, impliziten Wissens, des »tacit knowing« (Michael Polanyi) 8 , ist ein auffälliger Zug unserer Zeit, der in Kommissar Maigrets Unbehagen angesichts der Verwissenschaftlichung und theoretischen Regulierung seines Berufs nur einen frühen literarischen Ausdruck gefunden hat, ein Zug, der inzwischen immer mehr Bereiche des realen Berufslebens prägt. Üblicherweise würde man – eher provisorisch und eher defensiv – von Bürokratisierung, Formalisierung, Digitalisierung, Fragmentierung, Quantifizierung, Ökonomisierung, Technokratisierung o. ä. sprechen. Die Vielzahl der Ausdrücke suggeriert dabei eine Vielzahl von Prozessen. Um zu zeigen, dass es sich um eine einheitliche und umfassende Entwicklung handelt, gesteuert von einer in allen Bereichen der Gesellschaft dominanten Hintergrundideologie, ziehe ich statt dessen ein abstraktes Begriffspaar aus der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz heran, Situation und Konstellation. 9 Beide Ausdrücke sind uns aus der Alltagssprache bekannt, müssen hier aber wesentlich allgemeiner gefasst werden. Eine Konstellation ist, vereinfacht gesagt, ein Netz aus lauter einzelnen Faktoren. Eine Situation ist dagegen eine binnendiffuse Ganzheit, aus der Einzelheiten erst expliziert werden müssen. Die Situation behält auch nach der Explikation einen chaotisch-mannigfaltigen Hintergrund und lädt zu weiterer Explikation ein. Definierend für eine Situation sind drei Merkmale 10 : 1. Ganzheit, d. h. Zusammenhalt in sich und Abgeschlossenheit nach außen. 2. Bedeutsamkeit, bestehend in Sachverhalten (dass etwas ist), Programmen (dass etwas sein möge) und Problemen (ob etwas ist), wodurch das Ganze gleichsam etwas zu sagen hat; die Probleme, 8
Vgl. Michael Polanyi, The tacit dimension, London 1966. Vgl. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005, S. 18–32. 10 Vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 21. 9
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selten auch die Programme können fehlen, nicht aber die Sachverhalte. Beispiele für Sachverhalte sind die Selbstverständlichkeiten der Menschen, das, worauf sie unwillkürlich erwartend und vertrauend gefasst sind. Beispiele für Programme sind Zwecke, Wünsche, Hoffnungen, Konventionen, Spielregeln, Gewissensgebote. Beispiele für Probleme sind Sorgen, Nöte, Skrupel, »Komplexe«. 3. Binnendiffusion (sonst auch »chaotische Mannigfaltigkeit« genannt) der ganzheitlichen Bedeutsamkeit in dem Sinn, dass nicht alles, was an Sachverhalten, Programmen und Problemen darin vorkommt, einzeln ist. Ein plötzlich aufsteigender, reichhaltiger Einfall ist beispielsweise eine Situation, in der die Sachverhalte, Programme und Probleme alle schon vorhanden sind, aber noch nicht als einzelne. Wer dann in einer Diskussion seinen Einfall Satz für Satz expliziert, greift dabei auf diesen Vorrat zurück. Der Situationsbegriff hat in der Philosophie des 20. Jahrhunderts bei Autoren wie Martin Heidegger, Karl Jaspers, Arnold Gehlen, Hans Freyer, Nicolai Hartmann, Erich Rothacker, Hans Lipps, Josef König, Helmuth Plessner, Otto Friedrich Bollnow, Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre eine durchaus beachtliche Karriere absolviert. 11 Allerdings wird »Situation« im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr zu einer Größe der praktischen Philosophie: Die Situation ist eine Aufgabe und sie ruft auf zu einem Verhalten. Es gilt, ihrer Herr zu werden (Jaspers), sie praktisch zu erledigen (Lipps), sie zu meistern (König), sie anzupacken und anzueignen (Freyer), sie durch Entscheidungen zu erledigen (Hartmann, Plessner, Bollnow), sie zu wählen und zu gestalten (Sartre). Das Erkennen der Situation findet eigenartigerweise immer weniger Interesse. Mit der Neuen Phänomenologie, so kann man sagen, kehrt der Situationsbegriff in die theoretische Philosophie zurück. Das ist verbunden vor allem mit einer erheblichen Erweiterung, denn die älteren Situationskonzepte orientieren sich noch sehr an der Alltagsbedeutung des Wortes. Wir sprechen ja davon, dass man sich 11
Vgl. Michael Großheim, Erkennen oder entscheiden – Der Situationsbegriff zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd. 1 (2002), S. 279–300.
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Von der Maigret-Kultur zur Sherlock Holmes-Kultur
»in einer unangenehmen Situation befindet«, dass »die Situation brenzlig zu werden beginnt« usw. Meist ist dabei ein räumliches »in« mitgedacht, so dass man solchen Situationen durch Ortswechsel entgehen kann. Der Situationsbegriff der Neuen Phänomenologie ist demgegenüber abstrakter und nicht auf ein bloß räumliches »in einer Situation Stehen« einzuschränken. Ein Vorteil der Abstraktheit liegt darin, dass man auf diese Weise der vorhandenen Vielfalt von Situationen gerecht werden kann, und das ist verbunden mit einer Abkehr von Einzahl-Konzepten (»die Umwelt des Menschen«, »die Welt des Menschen«). Weltbegriff und Situationsbegriff stehen gleichermaßen gegen Positionen, wie man sie kurz und knapp ausgedrückt findet z. B. in Nicolai Hartmanns Satz: »Vom Subjekt aus gesehen ist Erkenntnis ein Erfassen des Objekts.«12 Das damit angesprochene Problem, eine Brücke von einem einzelnen und primär isolierten Subjekt zu einem einzelnen Objekt zu errichten, wird von den Situationstheoretikern als Scheinproblem betrachtet; sie betonen das Verstricktsein, das Eingebettetsein in Situationen 13 : »Die umgreifende Situa-
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Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921), Berlin 1949, S. 61. – Vgl. zu Heideggers Kritik an Hartmanns Erkenntnistheorie: Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, S. 213, Anm. 27. 13 Zum Eingebettetsein in Situationen vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 137 (Aph. 337), 186 (Aph. 581). Diesen und weitere Aspekte des Situationsbegriffs thematisiert Hans-Georg Gadamer, ausgehend von der Einsicht, dass eine Situation nicht einfach Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein kann: »Allzu deutlich liegt ja in diesem Begriff der Situation das Umfangende und Befangende, das dem forschenden Subjekt die Distanz gegenüber der Welt der Objekte verwehrt. Allzu deutlich fordert das Wesen der ›Situation‹ ein Wissen, das nicht die Objektivität anonymer Wissenschaftlichkeit hat, sondern durch Horizont und Perspektive, durch Engagement und erhellende Einsicht in die eigene Existenz geprägt ist« (Hans-Georg Gadamer, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt a. M. 1977, S. 204). Vgl. auch Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, Leer 1959, S. 17: »Mensch sein heißt in Geschichten verstrickt sein […].« »Wir meinen, daß wir nicht nur jederzeit in gewisse gegenwärtige Geschichten verstrickt sind, sondern daß wir ständig in viele, um nicht zu sagen unzählige gegenwärtige Geschichten verstrickt sind und daß dies Verstricktsein oder vielleicht auch Verstricktgewesensein unser Sein aus4
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tion (als Spielfeld für Züge der Explikation) […] ersetzt die additive Konfrontation.« 14 Dahinter steht das Bemühen um eine grundsätzliche Korrektur der traditionellen Ontologie, verstanden als eine Wissenschaft von den allgemeinsten Strukturen. Die Bedeutung der Ontologie wird leicht unterschätzt von denjenigen, die auf unbefragt akzeptierten Grundlagen konkrete Arbeit leisten, und verkannt von denjenigen, die sie lediglich als abstrakte Spekulation (etwa über das Verhältnis von Sein und Nichts) auffassen. Die Rolle der Ontologie in der Philosophie und in den von ihr beeinflussten Wissenschaften ist demgegenüber eine außerordentlich bedeutsame. Sie prägt und überprüft die Leitbilder, an denen die menschliche Vergegenständlichung der Welt sich orientiert. Diese Leitbilder fallen in der Regel kaum als solche auf, und auch, wenn man sich eigens auf sie besinnt, imponieren sie meist als alternativlose Selbstverständlichkeit. Das in unserer alltäglichen Orientierung immer noch dominierende Leitbild der Ontologie ist der Festkörper, gedacht als Substanz. Die philosophische Erfolgsgeschichte des Festkörpermodells seit der Antike ist von Hermann Schmitz ausführlich rekonstruiert worden. 15 Seine eigene Vorstellung grenzt er ab von den beiden klassischen ontologischen Rezepten, die die Situationen in ein Konzert von Substanzen mit innewohnenden Eigenschaften und verknüpfenden Relationen oder von Ereignissen mit verknüpfenden Relationen auflösen wollen. 16 In dieser Hinsicht ist unser Denken bereits an Konstellationen orientiert, in denen von vornherein einzelne Dinge, Substanzen oder Ereignisse vorhanden sind und dann durch Verknüpfungen zusammentreten. Man kann sich diese kulturelle Prägung am alltäglichen Sprachgebrauch verdeutlichen. Wenn wir sagen: »jemand tritt mit jemand in eine Beziehung«, dann werden hier Relationen zwischen Substanzen aufgebaut, wähmacht« (S. 5). »Wir sind ständig darin«; es ist keine Annäherung, kein Hineinkommen, kein Heimischwerden nötig (S. 14). 14 Hermann Schmitz, Hegels Logik, Bonn 1992, S. 367. 15 Vgl. Hermann Schmitz, Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988. 16 Vgl. Hermann Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 33.
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rend die Theorie der Situation davon sprechen würde, dass man sich mit jemand in einer gemeinsamen, beide umgreifenden Situation befindet (z. B. in einer aktuellen Konfliktsituation oder einer zuständlichen Familiensituation). Wenn man die Eigenart der Situationen von den traditionellen Modellen abgrenzen möchte, kann man von Schmitz’ These ausgehen: »Situationen sind das Gegenteil von Konstellationen.« 17 Zur Illustration des Gegensatzes von Situation und Konstellation soll zunächst ein schlichtes Beispiel aus der lebensweltlichen Erfahrung dienen: Man kann einen Gegenstand wie die Stadt Paris auf zwei Wegen kennenlernen. Der erste Weg (die Stadt als Konstellation): Hier würde man das Metro-Netz studieren, dem Branchenfernsprechbuch die Anzahl der Allgemeinärzte entnehmen, dem Vorlesungsverzeichnis die Anzahl der Studierenden an der Sorbonne usw. Das Ergebnis wäre ein Inventar »harter Fakten« (»hard facts«). So könnte man vieles über Paris wissen, ohne die Stadt zu kennen. Der zweite Weg (die Stadt als Situation): Man kann dem »Eindruck«, der »Atmosphäre« nachgehen (im wörtlichen Sinne), dem »Flair«, »Charme«, der »Physiognomie«, dem »Klima«, dem »Charakter«. Das Ergebnis wären »soft facts«, aber eingebettet in eine reichhaltige Ganzheit, die immer weiter expliziert werden kann (aus der Erinnerung, bei einem erneuten Besuch). Ein weiteres Beispiel aus der Literatur (cum grano salis): Die Dramenfiguren Goethes beeindrucken als reichhaltige Situationen, diejenigen Schillers wirken dagegen wie schlichte Konstellationen. Diese These geht auf Georg Simmel zurück, der die Kunst der großen Menschenschilderer mit dem gestaltpsychologischen Grundsatz verbindet, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei. Die Teile sind hier die auf der Bühne vorzuführenden einzelnen Äußerungen und Handlungen, das Ganze die darin zum Vorschein kommende Persönlichkeit. Die Gestalten großer Dichter fallen 17
Hermann Schmitz, Höhlengänge, a. a. O., S. 109. – Demgegenüber beschreibt Jürgen von Kempski die Struktur von Situationen als Verkettung von Relationen. Vgl. Jürgen von Kempski, Handlung, Maxime und Situation, in: Studium generale, Bd. 7 (1954), S. 60–68, S. 62.
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nach Georg Simmel dadurch auf, »dass alles, was sie sagen und tun, nur als der zufällig beleuchtete, zu Worte kommende, dem Beschauer zugewandte Teil einer ganzen, gerundeten, eine Unendlichkeit anderer möglicher Äußerungen einschließenden Persönlichkeit erscheint.«18 Goethes Gestalten gehen nicht in den vorgeführten Einzelheiten auf, sondern bilden »jene geheimnisvolle, über alle einzelnen Äußerungen hinausreichende Sphäre um sich«, die man phänomenologisch als eine hintergründige, explikationsfähige und explikationsbedürftige Situation bezeichnen kann. Sie lassen, wie Simmel erklärt, »mit jeder noch so objektiven oder zufälligen Äußerung die Ganzheit eines einheitlichen, unmittelbar nicht ausgesprochenen und nicht auszusprechenden Lebens« mitklingen. Der Vergleich mit den Figuren Schillers zeigt dagegen, dass diese sich in überschaubaren Konstellationen erschöpfen. Simmel schreibt: »Was uns an diesen so oft unerträglich theatralisch und papieren vorkommt, ist eben dies: dass sie keine seelische Innerlichkeit und Leben haben, außer dem, das sie in den Worten ihrer Rolle aussprechen.« Man könnte auch sagen, sie seien situationsarm. Schließlich ein drittes Beispiel aus der praktischen Medizin: Der Patient »als Mensch« ist eine reichhaltige Situation, aus der der Arzt bei jeder Begegnung und auch bei späterem Nachdenken weitere Einzelheiten (Sachverhalte, Programme, Probleme) schöpfen kann. Etwas ganz anderes, nämlich eine Konstellation, ist der Patient als Datensammlung in den Akten oder als Abrechnungsgegenstand bei den Krankenkassen. Vor einiger Zeit eingeführte Richtlinien verlangen vom Arzt, die komplexe gemeinsame Situation mit dem Patienten in Zahlencodes, also Konstellationen, zu überführen – ein weiteres Indiz für den gegenwärtigen Siegeszug des einseitigen Denkens in Konstellationen. Das klingt nun so, als ob das Interesse an Konstellationen grundsätzlich verwerflich sei. Dagegen ist festzuhalten: Um uns in der Welt zurechtzufinden und behaupten zu können, müssen wir 18
Georg Simmel, Über Goethes und Kants moralische Weltanschauung. Aus einem Vorlesungszyklus (1908), in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908, Bd. II, hrsg. v. Alessandro Cavalli und Volkhard Krech, Frankfurt a. M. 1993 (Gesamtausgabe Bd. 8), S. 416–423, S. 421 f.
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ständig aus Situationen Auszüge machen, Konstellationen bilden. Hermann Schmitz betont daher ausdrücklich die unentbehrliche Rolle der Konstellationen: »Der Mensch ist berufen und herausgefordert, so zu konstruieren, aber er soll sich hüten, über den Konstrukten die Situationen zu vergessen, aus denen er beim Konstruieren schöpft.« 19 Bildlich gesagt: Über den bunten, mannigfaltig gemusterten Teppich der Situationen legen wir das übersichtliche, orientierende Netz der Konstellationen. Das ist legitim. Wichtig ist dabei aber, dass man sich des abkünftigen und immer provisorischen Charakters der Konstellationen bewusst bleibt. Die Vernachlässigung oder Verachtung der Situationen führt zum Konstellationismus: »Konstellationismus ist die Überzeugung, dass die Welt als Netzwerk einzelner Faktoren rekonstruiert werden kann, weil gemäß der Voraussetzung des Singularismus alles von vornherein einzeln ist. Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen sinken zu verworrenen oder verschwommenen Vorstufen der Auflösung in Netzwerke herab.« 20 Die Situationen werden als bloße Vorstufen bewertet, obwohl sie vielmehr die Quellen der Konstellationen sind und darüber hinaus noch nicht erschöpfte Reservoire für weitere Explikationsvorgänge darstellen. Darin steckt eine Überschätzung der Explikate und eine Unterschätzung der Explikation; diese doppelte Fehleinschätzung hat Folgen für die Verortung des Menschen zwischen seinen Grundmöglichkeiten Empfangen und Gestalten. Das Empfangen als ein Explizieren aus gegebenen, nicht gemachten Situationen wird vernachlässigt, während das Gestalten als ein Operieren mit vorliegenden Explikaten bevorzugt wird. Wichtig ist hier also eine Ergänzung: Zum Konstellationismus gehört nicht nur die Überzeugung, dass die Welt als Netzwerk einzelner Faktoren rekonstruiert werden kann, sondern dass sie so auch effektiv manipuliert werden kann. Der Konstellationist ist fast naturgemäß auch ein Macher und Planer, weil die Einflussnahme auf 19
Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen, a. a. O., S. 9, vgl. auch S. 28. 20 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Bd. II, Freiburg, München 2007, S. 812.
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lauter einzelne Faktoren aussichtsreich erscheinen muss. Das Ergebnis konstellationistischer Projekte ist zwar in der Regel enttäuschend – es kommt immer anders als man denkt, weil Situationen anders als die aus ihnen gewonnenen Konstellationen immer für Überraschungen gut sind –, aber das führt nie zu einer grundsätzlichen Analyse der Situationsvergessenheit als des entscheidenden Fehlers. III. Das literarische Verbrechen als Situation und als Konstellation Die eingeführten Begriffe der Situation und Konstellation sind aber noch zu profillos, als dass eine unmittelbare Übertragung auf Probleme der Gegenwartskultur überzeugend sein könnte. Den Unterschied zwischen einem Verhalten, das sich an Situationen orientiert, und einem, das sich auf Konstellationen konzentriert, möchte ich daher an zwei literarischen Figuren erläutern, von denen uns eine schon begegnet ist. Georges Simenons Kommissar Maigret nenne ich einen Meister der Situation; ihm stelle ich gegenüber Arthur Conan Doyles Detektiv Sherlock Holmes als einen Meister der Konstellation. Worin besteht der Unterschied konkret? Kommissar Maigret ist der Hermeneutiker unter den Ermittlern, das Schlüsselwort für sein ganzes Tun ist »Verstehen«: »So wie er da im Zimmer saß, sah er ganz einfach wie ein dicker, gutmütiger Mann aus, der sich ehrlich bemühte, die Dinge zu verstehen.«21 »Das gehörte zu seiner Arbeitsmethode: das Sichbemühen zu verstehen, allmählich in das Leben von Leuten einzudringen, die er am Tage zuvor noch nicht gekannt hatte.«22 »Von Bedeutung war lediglich, das alles zu verstehen. Aber noch
21
Georges Simenon, Madame Maigrets Freundin, übers. v. Roswitha Plancherel, Zürich 1979, S. 50. 22 Georges Simenon, Maigret und der Clochard, übers. v. Hansjürgen Wille, Barbara Klau, Köln, Berlin 1964, S. 81.
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war es so, daß er die Sache nicht verstand, sondern um so mehr im dunkeln tappte, je besser er die Beteiligten kennenlernte.«23 Als Hermeneutiker der dunklen Seite des Lebens kann Maigret seine Fälle nicht vom Schreibtisch aus lösen; ihm genügen nicht die in Akten gesammelten Daten-Extrakte aus Situationen, er braucht die leibliche Kommunikation mit den Situationen selbst. 24 Er ist angewiesen auf den unmittelbaren Umgang mit den beteiligten Menschen, den Kontakt mit einem Milieu, die Begegnung mit der Atmosphäre einer Wohnung, die Wahrnehmung einer Stimme, einer Geste, einer Körperhaltung usw., kurz: Maigret sammelt Eindrücke, impressive Situationen. In einem Gespräch mit einem Vorgesetzten muss der Kommissar sich für seine hermeneutische Methode rechtfertigen: »›Was nennen Sie meine Methode?‹ ›Das wissen Sie besser als ich. Sie mischen sich meist in das Leben der Leute ein, Sie kümmern sich mehr um ihre Mentalität und selbst um das, was sie vor zwanzig Jahren erlebt haben, als um handgreifliche Indizien.‹« 25 Die handgreiflichen Indizien (als isolierte Tatsachen) treten zurück vor der reichhaltigen persönlichen Situation eines Menschen mit ihrem nicht ausmessbaren Hintergrund. Ihr gilt Maigrets primäre Aufmerksamkeit. Äußerlich betrachtet wirkt der Kommissar häufig passiv und planlos; tatsächlich aber braucht er die Zeit für seine mühsame Explikationsarbeit: »Bei fast allen seinen Untersuchungen erlebte Maigret zu Anfang dieses mehr oder weniger lange Im-dunkeln-Tappen, während 23
Georges Simenon, Maigret und die kopflose Leiche, übers. v. Wolfram Schäfer, Zürich 1980, S. 155. 24 Vgl. z. B. Georges Simenon, Maigret und die braven Leute, übers. v. Hansjürgen Wille und Barbara Klau, Köln, Berlin 1963, S. 86: »Es verlangte ihn, den Kontakt mit der Rue Notre-Dame-des-Champs aufrechtzuerhalten. Manche behaupteten, er wolle immer alles selber machen, auch das langweilige Überwachen verdächtiger Personen, als ob er kein Vertrauen zu seinen Inspektoren habe. Sie verstanden nicht, daß es für ihn eine Notwendigkeit war, sich selber ein Bild von dem Leben der Leute zu machen, zu versuchen, sich an ihre Stelle zu versetzen.« 25 Georges Simenon, Maigret und sein Neffe, übers. v. Hansjürgen Wille, Barbara Klau, München 1966, S. 103.
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er, wie seine Mitarbeiter verstohlen sagten, an einem Problem knabberte.« 26 »Er schlenderte weiter, er wußte nichts, er überlegte nicht, aber er spürte, daß etwas Gestalt annahm und daß man nicht voreilig sein durfte.« 27 »All das war gewiß noch recht verworren, aber etwas Tatsächliches begann sich doch darin abzuzeichnen.« 28 »Er witterte die verschiedensten Dinge, wie immer bei Beginn einer Untersuchung, aber er hätte nicht sagen können, wie und wann sich dieser Gedankennebel schließlich auflösen würde.« 29 Die Auflösung eines Verbrechens besteht für Maigret also nicht in der folgerichtigen Verknüpfung von wenigen bekannten mit weiteren, nicht bekannten Einzelheiten, sondern im Gewinnen der relevanten Einzelheiten aus der chaotisch-mannigfaltigen Ganzheit einer Situation: »Ein Verbrechen ist keine Rechenaufgabe. Es geht dabei um Menschen, von denen man am Tag zuvor noch nichts wußte. Aber plötzlich wird jede ihrer Gesten, jedes ihrer Worte bedeutsam, und ihr Leben wird bis in den letzten Winkel durchleuchtet.«30 Dass man ein Verbrechen dennoch als Rechenaufgabe betrachten kann, zeigt zumindest in der modernen Kriminalliteratur Kommissar Maigrets Antipode, Sherlock Holmes. Während Maigrets Vorgehen mit dem Stichwort »Verstehen« charakterisiert werden kann, wird die Tätigkeit von Sherlock Holmes immer wieder als »Deduzieren« beschrieben (ob zu Recht oder nicht, sei hier dahingestellt 31 ). Diese Gegenüberstellung ist kein belangloses, bloß lite26
Georges Simenon, Maigret und der Dieb, übers. v. Hansjürgen Wille, Barbara Klau, München 5 1977, S. 84. 27 Georges Simenon, Maigret in Nöten, übers. v. Hansjürgen Wille, Barbara Klau, Köln/Berlin 1960, S. 73. 28 Georges Simenon, Maigret und die Tänzerin Arlette, übers. v. Hansjürgen Wille, Barbara Klau, Köln/Berlin 1954, S. 169. 29 Georges Simenon, Mein Freund Maigret, übers. v. Annerose Melter, Zürich 2001, S. 95. 30 Georges Simenon, Maigret und der Dieb, a. a. O., S. 84. 31 Vgl. dazu Thomas A. Sebeok, Jean Umiker-Sebeok, »Du kennst meine Methode«. Charles S. Peirce und Sherlock Holmes, Frankfurt a. M. 1982.
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rarisches Spiel mit extremen Figuren; philosophisch betrachtet stehen dahinter zwei verschiedene Arten von Intelligenz (verstanden als eine Geschicklichkeit zum Erkennen). Hermann Schmitz hat eine »hermeneutische Intelligenz« von einer »analytischen Intelligenz« unterschieden32 , die auf den dargestellten Gegensatz zwischen Maigret und Holmes angewendet werden kann. Analytische Intelligenz ist nach Schmitz die Geschicklichkeit im Explizieren eines Maximums relevanter Sachverhalte und die Geschicklichkeit im Kombinieren dieser Sachverhalte zu einer Anordnung, die für das Lösen von Problemen als Aussieben der Tatsachen unter ihnen zweckmäßig ist. Pascals »Esprit de géométrie« würde hierher gehören. 33 Auf der anderen Seite, bei der hermeneutischen Intelligenz, volkstümlich auch als »Augenmaß« oder »Fingerspitzengefühl« bezeichnet, findet man entsprechend Pascals »esprit de finesse«. Hermeneutische Intelligenz setzt bei Eindrücken (als Situationen) an und versucht durch geschmeidige Korrektur solcher Eindrücke mit Hilfe sparsamer Explikation an Hand von Erfahrungen, die beim Umgang mit solchen Eindrücken gemacht werden, ein »Bild« der Situation zu gewinnen. Das »Bild«, das man sich von einem Menschen, einer Gegend, einem Buch oder ähnlichem macht, ist eigentlich ein vielsagender, nun aber als verlässlich imponierender und auch bewährter Eindruck im angegebenen Sinn. Das Verfahren der hermeneutischen Intelligenz erbringt weniger einzelne Aufschlüsse als das der analytischen; es hat aber größere Aussicht, der Gefahr zu entgehen, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen, d. h. die zu explizierende Situation in ihrer für die Explikation fruchtbaren Ganzheit zu vernachlässigen. Anders als der Hermeneutiker Maigret, der sich gerne persön32
Vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 221 f. Früher auch als »intuitive« und »analytische Intelligenz« bezeichnet. Vgl. ders., Naturwissenschaft und Phänomenologie, in: ders., Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 28–46, S. 42 und ders., Zur Rehabilitierung des Verstehens als wissenschaftlicher Aufgabe, in: ders., Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 47–58, S. 52 f. 33 Vgl. Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, hrsg. v. Jean-Robert Armogathe, übers. v. Ulrich Kunzmann, Stuttgart 2002, S. 324–327.
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lich ein Bild von der Sache macht, ist Holmes nun überhaupt nicht daran interessiert, möglichst viel vor Ort zu sein; sein Stolz ist vielmehr die Lösung eines Falles vom Schreibtisch aus: »Im Studierzimmer sind durch den Verstand Probleme lösbar, an denen all jene verzweifelt sind, die eine Lösung mit Hilfe ihrer Sinne gesucht haben.« 34 Der Schreibtisch ist (nicht nur hier) das Symbol für die Distanz zur Situation als der Realität des Lebens. Situationen mit ihrer reichhaltigen Bedeutsamkeit spielen im Ansatz von Sherlock Holmes nur eine flüchtige Rolle. Er verwandelt alles Begegnende augenblicklich in Konstellationen. Ein Beispiel: Seinen Freund Dr. Watson – in erkenntnistheoretischer Hinsicht so etwas wie der Stellvertreter aller Leser – verblüfft Holmes einmal mit der doppelten Mitteilung, er habe offensichtlich ein sehr ungeschicktes und unaufmerksames Dienstmädchen und er praktiziere wieder als Arzt. Die erste Einsicht hat Holmes aus der Beobachtung einer Einzelheit geschlossen, der groben Reinigungsweise von Watsons Schuhen, die auffällige Spuren hinterlassen hat; die zweite stützt Holmes auf die Beobachtung dreier Einzelheiten: den Geruch von Jodoform, den Watson mitbringt, den schwarzen Silbernitratfleck an seinem rechten Zeigefinger sowie die Ausbuchtung an der Seite seines Zylinders, die zeigt, wo er sein Stethoskop versteckt. Holmes nimmt sozusagen von vornherein lauter Einzelnes wahr, so wie David Hume kühn in Bezug auf Ereignisse formuliert hat: »Alle Ereignisse erscheinen durchaus unzusammenhängend und vereinzelt.«35 Arthur Conan Doyles Darstellung unterschlägt damit den elementaren Vorgang der Explikation, die Situationen werden nicht als unentbehrliches Ausgangsmaterial gewürdigt und damit einfach übergangen. Wenn der kriminalistische Übermensch Holmes seinem anscheinend begriffsstutzigen Partner Dr. Watson 34
Sir Arthur Conan Doyle, Die Abenteuer des Sherlock Holmes, übers. v. Gisbert Haefs, Zürich 1984, S. 137. Vgl. ders., Seine Abschiedsvorstellung, übers. v. Leslie Giger, Zürich 1988, S. 119 (hier erklärt eine andere Person, dass sie vom Lehnstuhl aus ein exzellentes Sachverständigengutachten abzugeben in der Lage sei, wenn man ihr nur die Details bringen würde). 35 David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, hrsg. v. Raoul Richter, Hamburg 1973, S. 90.
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immer wieder entgegenhält: »Sie sehen, aber Sie beobachten nicht«, bedeutet das: Dr. Watson, als ein gewöhnlicher Vertreter der Gattung Mensch 36 , nimmt Situationen wahr, in denen vielerlei noch nicht expliziert ist, so wie es Menschen eben die meiste Zeit über tun. Er hat zwar die Treppe auch gesehen, aber er hat nicht sofort gesehen, dass sie siebzehn Stufen hat. Holmes hat also – anders als Maigret – die eingehende und anstrengende Auseinandersetzung mit Situationen nicht nötig, ihm genügt eine Konstellation aus mehreren einzelnen Tatsachen, ja, im Idealfall soll sogar eine einzige Tatsache ausreichend sein: »Aus einem Wassertropfen […] könnte ein Logiker auf die Möglichkeit eines Atlantiks oder eines Niagara schließen, ohne von diesen gehört oder sie gesehen zu haben. So betrachtet ist alles Leben eine große Kette, deren Wesen sich erhellt, wann immer wir ein einziges ihrer Glieder zu Gesicht bekommen.« 37 »Der ideale Denker wird, wenn man ihm eine einzige Gegebenheit mit ihrer ganzen Tragweite gezeigt hat, daraus nicht nur die ganze Kette von Ereignissen deduzieren, die zu dieser Tatsache geführt hat, sondern auch alle Ergebnisse, die daraus folgen müssen.« 38 Diese »Kette« aus lauter einzelnen Ereignissen ist ein gutes Beispiel für eine Konstellation. Allerdings versteckt sich in der Formulierung »mit ihrer ganzen Tragweite« ein Platzhalter für die unterschlagene Situation. Welche »Tragweite« eine einzelne Tatsache besitzt, weiß man niemals aus der Beobachtung der isolierten Tatsache allein, sondern immer aus ihrer Einbettung in ganzheitliche Situationen. Seine konstellationistische Verachtung der Situationen, insbesondere der impressiven, bringt Sherlock Holmes in einer entsprechenden Maxime zum Ausdruck: »Vertrauen Sie niemals allgemeinen Eindrücken, mein Lieber, sondern konzentrieren Sie 36
Man könnte auch darüber nachdenken, ob Watson nicht ein etwas einfältiger Konstellationist sei, der stets von vorgefertigten Schemata ausgeht und insofern blind für Situationen ist. Diese Anregung verdanke ich Herrn Prof. Dr. Pawel Dybel, Warschau. 37 Sir Arthur Conan Doyle, Eine Studie in Scharlachrot, übers. v. Gisbert Haefs, Zürich 1984, S. 25 f. 38 Sir Arthur Conan Doyle, Die Abenteuer des Sherlock Holmes, a. a. O., S. 137.
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sich auf Einzelheiten.« 39 Der Detektiv erkennt alle relevanten Tatsachen immer sofort; im Gegensatz zu dem trägen Hermeneutiker Maigret scheint der Blitzmerker Holmes keine mühselige, langwierige Explikationsarbeit nötig zu haben. Auf den noch nicht explizierten Rest der hintergründigen Situation ist er in der Folge nicht mehr angewiesen, er kann ihn ignorieren und ad acta legen. Vor dem Hintergrund dieser Gegenüberstellung kann man auf die kulturkritische These zurückkommen, die die bisherigen Ausführungen implizit geleitet hat: Die Meister der Konstellation lösen die Meister der Situation ab, weil der Sinn für die Eigenart von Situationen in der Philosophie erst zu spät geweckt wird, mit dem bereits behandelten Ergebnis, dass Situationen erst theoriepolitisch und dann auch praktisch in die Defensive geraten. Sie werden nur noch als verworrene oder verschwommene Vorstufen der Auflösung in Netzwerke ernst genommen. In diesen Kontext gehört nun Arthur Conan Doyles berühmter Detektiv: Holmes ist nicht nur einfach ein etwas exzentrischer Vertreter des zeitgenössischen Wissenschaftsoptimismus oder ein Dandy des späten 19. Jahrhunderts. Von heute aus gesehen muss diese immer noch faszinierende Figur neu bewertet werden: Sherlock Holmes gehört nämlich zur Avantgarde des Konstellationismus und kann geradezu als ein literarischer Repräsentant moderner Situationsvergessenheit angesprochen werden40 – wenn man zugleich 39
Sir Arthur Conan Doyle, Die Abenteuer des Sherlock Holmes, a. a. O., S. 79. Holmes ist auch in anderer Hinsicht ein Repräsentant modernen Geistes, nämlich als Ironiker. Ein kurzer Vergleich mit Kierkegaards »Ästhetiker« kann diesen Zusammenhang deutlich machen. Das Leben des Kierkegaardschen Ästhetikers verläuft zwischen zwei Gegensätzen: Zuweilen hat er eine maßlose Energie, zuweilen eine ebenso große Indolenz (Sören Kierkegaard, Entweder-Oder. Teil I und II [1843], hrsg. v. Hermann Diem, Walter Rest, übers. v. Heinrich Fauteck, München 4 1996, S. 749). Damit liefert Kierkegaard die Skizze für die Existenzweise einer seit Ende des 19. Jahrhunderts berühmten literarischen Figur, die auch ein Ästhetiker genannt zu werden verdient und die dementsprechend auch mit all den vom Ethiker prophezeiten Problemen zu kämpfen hat. Das Leben von Arthur Conan Doyles Detektiv Sherlock Holmes wechselt ständig zwischen den Polen äußerster Apathie und äußerster Betriebsamkeit. Die gefährliche Lethargie, das Leiden an der Monotonie des Daseins, seinen ennui, bekämpft der Detektiv mit Drogen oder der Lösung außerordentlicher, anspruchsvoller Verbrechen. Dieses Streben nach »mental 40
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auch konzedieren muss, dass dem Gegenwarts-Konstellationismus jegliche genialische Komponente fehlt. Zum Abschluss dieses Ausfluges in die Welt der Kriminaldarstellung soll noch auf einen aufschlussreichen Wechsel der Leitbilder aufmerksam gemacht werden. Wenn man von dem eben an Sherlock Holmes exemplifizierten Befund ausgeht und die gegenwärtig wohl wirksamste Inszenierung von Kriminalfällen, diejenige des Fernsehens, heranzieht, lässt sich beobachten, dass die Meister der Konstellation den Meistern der Situation längst den Rang abgelaufen haben: Technik statt Psychologie – so kann man die allgemeine Tendenz der letzten Jahre zusammenfassen. Die Lösung des Kriminalfalles gelingt in der Regel nicht mehr durch das so simple wie anspruchsvolle hermeneutische Verfahren, die gemeinsame Situation des bekannten Opfers mit dem zunächst noch unbekannten Täter zu explizieren. Die Lösung des Falles gelingt vielmehr durch den Einsatz hochentwickelter Kriminaltechnik, durch Obduktion, DNA-Vergleich, Handy-Ortung, digitale Bild- und Tonbearbeitung, Auswertung von Computer-Festplatten, Datenbanken oder Video-Aufzeichnungen, Erstellung von Telefon-Nutzungsprofilen, Untersuchung von Faserspuren etc. Vor allem das früher aufwendig entwickelte Motiv der Tat tritt in den Hinterexaltation« hat er mit dem Ästhetiker gemeinsam, und wie dieser ist er als Occasionalist ausgeliefert, gemäß der Sentenz des Ethikers: »Wer ästhetisch lebt, erwartet alles von außen« (Sören Kierkegaard, Entweder-Oder, a. a. O., S. 817). Allerdings ist hier die Emotionslosigkeit (mit Ausnahme der genannten beiden Felder) weitaus stärker ausgeprägt als beim breiter interessierten Ästhetiker. Das Rollenspiel beherrschen beide Gestalten gleichermaßen. Die Verbrecherjagd wird nicht im Namen der Gerechtigkeit betrieben, gar um der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen, sondern als ganz persönlicher Sport. Für Holmes ist bezeichnend die Auffassung der Verbrechensbekämpfung als einer L’art pour l’art (»It’s art for art’s sake.«). An Menschen nimmt er nur Anteil, soweit und solange sie Bestandteil eines »interessanten« Falles sind. Danach verlieren sie sofort ihre Bedeutsamkeit. Vgl. dazu auch: Manfred Pfister, Bernd Schulte-Middelich, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Die »Nineties«. Das englische Fin de siècle zwischen Dekadenz und Sozialkritik, München 1983, S. 9–34, hier S. 24. Detaillierter dazu: Werner von Koppenfels, Mysterium und Methode. Sherlock Holmes als Heldenfigur des Fin de siècle, in: Manfred Pfister, Bernd Schulte-Middelich (Hrsg,), Die »Nineties«. Das englische Fin de siècle zwischen Dekadenz und Sozialkritik, München 1983, S. 164–180, bes. S. 166 f.
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grund, und zwar deshalb, weil es nicht technisch zugänglich ist, sondern nur hermeneutisch. Neue Leitfigur ist der Gerichtsmediziner, für den das Verbrechen nur ein wissenschaftliches Problem darstellt, ohne jede Einbettung in eine zu explizierende gemeinsame Situation unter Menschen. IV. Die Universität unter der Herrschaft des Konstellationismus Der gewöhnliche Hochschullehrer findet sich heute unversehens in der Lage des grantelnden Kommissar Maigret, der seine berufliche Umgebung nicht mehr versteht. Sein Arbeitsplatz, die Universität, ist ein besonders gutes Beispiel für den Siegeszug konstellationistischen Denkens; ursprünglich war sie entworfen und lange Zeit auch erfolgreich als eine »universitas magistrorum et scholarium«, eine Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden und damit als eine gemeinsame Situation. Die in unseren Jahren stattfindende weitgehende Verwandlung der Universität in eine Konstellation lässt sich daran ablesen, dass sie immer mehr ihr Selbstverständnis in Zahlen auszudrücken bemüht ist. Hierher gehören z. B. folgende Änderungen, die vor allem in die letzten Jahre fallen: – das präzise Berechnen und Aufteilen der studentischen Arbeitszeit durch das System der Leistungspunkte41 ; – das Denken in einzelnen, kombinierbaren »Modulen«; – die Definition von konkreten Lernzielen, von zu erwerbenden einzelnen Kompetenzen je Modul; – das Abfragen von Prüfungsleistung, Publikationsleistung, Drittmittelbeschaffungsleistung bei den Dozenten; – das Berechnung von Forschungsleistung z. B. durch ImpactFaktoren; – das Aufstellen von Zitierungshierarchien und Universitäts-Rankings; 41
Zur Erläuterung: Einem studentischen Arbeitsaufwand von 30 Stunden entspricht 1 Leistungspunkt. Der erfolgreiche Abschluss eines 12 LP-Moduls entspricht also einem Arbeitsaufwand von 360 Stunden.
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– das Registrieren von Auslastungsquoten und Abschlusszahlen in den Fächern. Derartige Maßnahmen sollen den politischen »Entscheidern« der Gegenwart, die – im Gegensatz zu historischen Vertretern der preußischen Universitätsverwaltung wie Friedrich Theodor Althoff oder Carl Heinrich Becker – mit der komplexen Situation »Universität« nicht mehr ausreichend vertraut sind, einen rasch anzueignenden und verwertbaren Vertrautheitsersatz bieten. Einerseits kann der universitäre Konstellationismus also als eine Kompensation für verlorengegangene Kompetenzen der politischen Klasse interpretiert werden. Andererseits gibt es eine akademische Ausbreitung des Konstellationismus auch schon vor und unabhängig vom Bologna-Projekt. Dazu gehe ich aus von den kritischen Bemerkungen zweier älterer Professoren, die einen Wandel der Universität in den letzten Jahrzehnten diagnostizieren. Der 1922 geborene Hochschullehrer Peter Wapnewski schreibt über die Entwicklung der deutschen Universität: »Die ehemals weitgehend subjekt- und persönlichkeitsgeprägte Institution wurde zum technisierten System, zu einem Betrieb.« 42 Sein 1935 geborener Kollege Joachim Dyck erklärt in einem Rückblick ähnlich: »An die Stelle der wissenschaftlichen Persönlichkeit als Leitfigur trat die Theorie.« 43 Was ist damit gemeint und wie lässt sich das deuten? Natürlich hat es stets beides gegeben, Persönlichkeiten und Theorien. Aber innerhalb dieses Gefüges hat sich der Schwerpunkt verschoben. In den fünfziger und sechziger Jahren studierte man bei Ernst Robert Curtius, bei Gerhard Ritter, bei Wolfgang Schadewaldt, bei Emil Staiger, bei Hugo Friedrich, bei Heinrich Lützeler, bei Joachim Ritter. Namen waren auch insofern Programm, als sie für grundsätzliche Entscheidungen standen: In Bonn studierte man Germanistik entweder bei Benno von Wiese oder Richard Alewyn. Diese Orientierung an Forscherpersönlichkeiten bedeutete eine Auseinander42
Peter Wapnewski, Mit dem anderen Auge. Erinnerungen 1959–2000, Berlin 2006, S. 69. 43 Joachim Dyck, Wie die Philosophie im herrenlosen Gemurmel zur Vorgeschichte des Kinos wurde, in: Die Welt, 22. 11. 2004.
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setzung mit impressiven Situationen; davon sprach Max Weber in »Wissenschaft als Beruf«, als er die Persönlichkeit des Wissenschaftlers an sachliche Arbeit zurückbinden wollte. Heute dagegen studiert man ohne engere Bindung an eine Forscherpersönlichkeit, stattdessen herrscht Theorie-Loyalität: Man macht Strukturalismus, Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus, Systemtheorie, Diskursanalyse, Kulturalismus, Neo-Positivismus etc. Anders als Persönlichkeiten sind Theorien von vornherein mindestens als Konstellationen gedacht. Und Theorien kann man auch an Fern-Universitäten studieren. Dass diese Verschiebung auch ein kulturkritisch zu bedauernder Verlust ist, weil im Umgang mit reichhaltigen, ausdifferenzierten und dennoch hintergründig bleibenden Persönlichkeiten auch viel zu lernen ist, können in erster Linie diejenigen ermessen, die – wie die eben aufgerufenen Zeugen – lange genug in der Lage waren, den Prozess zu beobachten. Alle anderen sind gezwungen, den grundlegenden Wandel der Universität notdürftig mit Hilfe der Lektüre von Erinnerungsbüchern zu rekonstruieren. Im schlimmsten (und wahrscheinlichsten) Fall aber wissen sie gar nicht, was ihnen entgeht. V. Kulturkritik und Neue Phänomenologie – Eine Liebe auf den zweiten Blick Die Kulturkritik hat heute ohne Zweifel einen schlechten Leumund – dafür gibt es viele Gründe. Einer steckt in dem starken Anteil subjektiver Motive (im weitesten Sinne des Wortes), den man ihr nachsagt. Die Kritiker der Kulturkritik kommen hier aus ganz verschiedenen Lagern. So erklärt etwa Arnold Gehlen in seinem Werk »Urmensch und Spätkultur«, die Kulturkritik verfahre meist nur als »locker rationalisierter Ausdruck subjektiven Unbehagens«. 44 Noch mehr untergräbt Gehlen den Anspruch der Kulturkritik in einem wenig bekannten Aufsatz Anfang der fünfziger Jahre. Er fragt sozio44
Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 2 1964, S. 61.
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logisch und psychologisch: Wer betreibt Kulturkritik und warum? Gehlen entdeckt eine Schicht von Kulturträgern, die »in der technischen Gesellschaft in Gefahr gerät, sozial funktionslos zu werden« und die daher versucht, ihren überlebten Habitus durch zusätzliche Bewusstseinsmotive, durch »motivational support«, zu stützen.45 Thema der Kulturkritik ist nach Gehlen also ein bloßes Gefühl, und ihre Ursache ist eine Anpassungsstörung. Für den Gehlen nicht unbedingt nahestehenden Soziologen René König ist Kulturkritik ganz ähnlich »ein Versuch von Menschen, die in unserer Gegenwart nicht zu Hause sind, diese Gegenwart durch Anlegung eines Wertmaßstabs zu entwerten, der in Wahrheit trotz aller Emphase jeglicher Substanz ermangelt«. 46 Nicht anders sieht es in der neueren Publizistik zum Thema aus. In Wolfgang Ullrichs Augen ist Kulturkritik so etwas wie eine Erfindung von Intellektuellen zum Zwecke effektiverer Selbstdarstellung. 47 Für Michael Naumann sind die Kulturkritiker von einer »aggressiven Melancholie« geprägt, einer »eschatologischen Grundstimmung«, einem »Geschichtspessimismus aus dem Vuitton-Koffer«; all das behindere diejenigen, die mit konkreter praktischer Politik etwas verändern wollten. 48 Und Ulf Poschardt schließlich fordert die Kulturkritiker auf, sich endlich vom Gestern zu verabschieden, zu lernen, sich auf die Gegenwart einzulassen, eine »neue Offenheit« zu entwickeln »für das, was kommt«. 49 Auf diese Appelle zur Versöhnung mit dem Gegebenen und Kommenden kann man zunächst nur mit dem simplen Hinweis reagieren: In der Gegenwart nicht ganz zu Hause zu sein, ist über45
Vgl. Arnold Gehlen, Mensch trotz Masse. Der Einzelne in der Umwälzung der Gesellschaft, in: Wort und Wahrheit, Bd. 7 (1952), S. 579–586, S. 582 f. 46 René König, Einleitung, in: ders., Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze, Köln, Berlin 1965, S. 9–13, S. 10; zit. n. Volker Kruse, »Geschichts- und Sozialphilosophie« oder »Wirklichkeitswissenschaft«, Frankfurt a. M. 1999, S. 32 f. 47 Vgl. Wolfgang Ullrich, Ein Nachruf auf die Kulturkritik, in: Neue Rundschau, Bd. 110 (1999), S. 9–23. 48 Vgl. Michael Naumann, Raus aus der Schwermutshöhle! Wider die Hoffnungslosigkeit des Feuilletons. Eine Polemik, in: Die Zeit, 17. 09. 1998. 49 Ulf Poschardt, Pop mit Seehofer. Die Kulturkritiker Gustav Seibt und Diedrich Diederichsen beweisen, wie schwierig es für Bürgerliche und Linke sein kann, in der Gegenwart anzukommen, in: Der Spiegel 44/2005, S. 150–153.
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haupt die Voraussetzung für jegliche Kritik, die etwas Wesentliches zu sagen hat. 50 Deshalb sucht ja gerade die Kulturkritik so gerne nach einem fremden Faktor, einem Außerhalb des Ganzen, einem vernachlässigten, unterdrückten, verschütteten, ignorierten Gegenstand, einer mobilisierenden Instanz, eben nach einem Hebel der Kritik. 51 Deshalb ist die Verwendung einer kulturellen Kontrastfolie so beliebt (synchron: Exotik, z. B. der bei Rousseau beliebte »Karibe«; diachron: Antike, z. B. Sparta oder Rom), vor deren Hintergrund der Charakter der Gegenwartskultur deutlich werden soll, teilweise durch eine verfremdete Perspektive.52 Dass die Kulturkritik mit der Gegenwart nicht einverstanden ist, darf man ihr also nicht vorwerfen. Zweitens ist erstaunlich, dass man den Kulturkritiker unbedingt auf die Couch legen möchte. Warum will man – vorausgesetzt es ist denn möglich – die inhaltlich-argumentative Auseinandersetzung partout vermeiden? Der Kulturkritiker könnte doch in der Sache recht haben. Es kommt also den angeführten Vorwürfen von Philosophen, Soziologen und Publizisten gegenüber zunächst auf eine Entpsychologisierung und Entsoziologisierung im herkömmlichen 50
Vgl. etwas pathetisch Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2 1988, S. 243–334, S. 285: »Und wenn ihr nach Biographien verlangt, dann nicht nach jenen mit dem Refrain ›Herr So und So und seine Zeit‹, sondern nach solchen, auf deren Titelblatte es heißen müsste ›ein Kämpfer gegen seine Zeit‹.« 51 Vgl. z. B. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, übers. v. Alfred Schmidt, Neuwied, Berlin 1967, S. 80, 84, 186 f.; ders., Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, übers. v. Marianne v. Eckardt-Jaffé, Frankfurt a. M. 1965, S. 12. 52 Vgl. z. B. Montesquieu, Persische Briefe (1721), übers. u. hrsg. v. Peter Schunck, Stuttgart 1991. Bei Rousseau ist es ein Bewohner irgendeiner fernen Gegend, der sich ein Bild von den europäischen Sitten zu machen suchte. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft (1750), in: ders., Schriften zur Kulturkritik, eingel., übers. u. hrsg. v. Kurt Weigand, Hamburg 1995, S. 1–59, S. 15. Andere Beispiele sind: Hans Paasche, Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland (1912/13), Bremen 2010 und Erich Scheurmann, Der Papalagi. Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea (1920), Bergisch Gladbach 2003.
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Bild der Kulturkritik an. Der Kulturkritiker darf weder psychologisch als Patient noch soziologisch als Modernisierungsverlierer behandelt werden. Drittens ist das, was Gehlen an Kritik am »Zeitalter des Subjektivismus« übt, selber Kulturkritik. In »Urmensch und Spätkultur« kündigt Gehlen eine »Philosophie der Institutionen« an, die im Hinblick auf die neuzeitlichen Erlebnis- und Verhaltensformen dargestellt werden soll. Deren Merkmal ist die Subjektivität, die man nach Gehlen als das »Stigma des Menschen in einer Zeit des Institutionen-Abbaues verstehen muß«. 53 Demgegenüber sei die Geschlossenheit primitiver Gesellschaften nur erreichbar gewesen, weil hier die »Unendlichkeit des bloß Subjektiven« keine öffentliche Bedeutung hatte. 54 In diese selber kulturkritische Abwertung der Subjektivität baut Gehlen nun die von ihm verabscheute Form zeitgenössischer Kulturkritik als eine bedeutende Teilerscheinung des Subjektiven ein. Er bringt damit allerdings den Anthropologen in sich zum Schweigen. Dessen Aufgabe wäre eine nüchterne und uneingeschränkte Würdigung von Subjektivität in ihrer sachlich tragenden Rolle für menschliches Leben gewesen. Das ist nun ein zentrales Thema der Neuen Phänomenologie. 55 Wie ist es um das Verhältnis von Kulturkritik und Phänomenologie bestellt? Georg Bollenbeck fasst die Bedenken gegen die Kulturkritik zusammen, wenn er erklärt, sie sei »subjektiv-wertend«, umgehe eine »analytische Vertiefung«; und einer ihrer Vordenker, Friedrich Nietzsche, denke »nicht analytisch in Kategorien gesellschaftlicher 53
Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a. M., Bonn 2 1964, S. 9, vgl. dort auch S. 12, 19, 22 f., 29, 43, 54, 61, 69, 72, 86, 110 f., 120, 255 ff., 258 f. Vgl. ders., Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 74 ff. (Abschnitt »Übersteigerung der Subjektivität durch Institutionenabbau«) und ders., Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 57 ff. (Abschnitt »Der neue Subjektivismus«). 54 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, a. a. O., S. 22. 55 Vgl. zur phänomenologischen Kritik an Gehlens Subjektivitätskonzept: Michael Großheim, Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002, S. 24 ff.
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Strukturanalysen, sondern phänomenologisch«. 56 Lässt man die Wertung hier einmal beiseite, ist man versucht zu fragen: Gibt es vielleicht eine besondere Nähe zwischen Phänomenologie und Kulturkritik? Wenn man die Kritik nicht als ein Projekt weniger aufgeklärter Geister versteht, die der großen Menge weit überlegen sind, sondern als eine Zusammenarbeit, in der die Kulturkritiker Formulierungshilfe für das anfangs nur gespürte Unbehagen leisten, dann ist die Nähe beider Ansätze groß. Die Neue Phänomenologie kritisiert, dass das Denken sich durch entscheidende Weichenstellungen in der Antike zu weit von der unwillkürlichen Lebenserfahrung entfernt hat und zentrale Phänomene unter den Tisch gefallen sind (Leib, Subjektivität, Situationen etc.). Neue Phänomenologie ist, wie Schmitz immer wieder betont hat, eine grundsätzliche Kritik der europäischen Intellektualkultur in ihrer Einseitigkeit. Ihr geht es darum, das Vergessene dem Begreifen zugänglich zu machen, es aus der Sprachlosigkeit herauszuholen. Hierher gehört auch Schmitz’ These, dass Phänomenologie weniger ein Sehenlernen als ein Sprechenlernen sei. Knapp zusammengefasst heißt das: Die Kulturkritik muss sich mit der Subjektivität in Gestalt des bloß gespürten, aber noch nicht artikulierten Unbehagens versöhnen, wenn sie überleben will. Ihr gelegentlich beklagtes »Verschwinden« in der Gegenwart ist bereits selbst wieder Gegenstand einer neuen, allerdings wesentlich leiseren Kulturkritik geworden. Genau genommen ist jedoch eigentlich nur eine bestimmte historische Variante der Kulturkritik aus unserer Aufmerksamkeit verschwunden, nicht die Denkform insgesamt. Das Dilemma des Kulturkritikers besteht heute darin, dass er als Aristokrat in einer Massengesellschaft leben muss. Soll er sich von vornherein als Sprachrohr der Menge verstehen? Soll er für die Plausibilität seiner Thesen werben? Versprengte Bildungsbürger und sentimental gestimmte Kulturkritiker wie Gustav Seibt kokettieren daher immer einmal wieder mit der aristokratischen Pose des Rückzugs aus der Massengesellschaft und ziehen es dann z. B. vor, »im menschenleeren Hinterland der Love-Parade ein Buch mit den 56
Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O., S. 19, 194.
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Oden antiker Meister zu lesen«. 57 Aber das bleibt inkonsequent und kraftlos. Die Rolle des Kulturkritikers im fortgeschrittenen Massenzeitalter ist unsicher geworden. Welche Kompetenz, welche Autorität kann er z. B. als Kritiker des Massengeschmacks in Anspruch nehmen? Worauf kann er sich im Zeitalter der Quote noch berufen? Diskreditiert ist der Propheten-Gestus, die Pose des hegelianisierenden, alles und jeden entlarvenden Epigonen der »Kritischen Theorie« (gut erkennbar an seinem Lieblingsattribut »falsch«). 58 Ralf Konersmann bemerkt in diesem Sinne treffend, dass die Kritik aufgehört hat, dogmatisch, überlegen und arrogant zu sein, dass sie auf Utopien verzichtet und sich nicht mehr auf »Mastersubjekte« wie die Wahrheit, die Vernunft und die Geschichte beruft. Aber Konersmann schüttet das Kind mit dem Bade aus, wenn er die Kulturkritik der Zukunft durch »Vorläufigkeiten, Kurzlebigkeiten, Notbehelfe, Ironien« u. ä. dominiert sieht. 59 Wenn die Kulturkritik vom Geist kühner Projekte Abschied nimmt und stattdessen Besonnenheit pflegt, so ist das ausdrücklich zu begrüßen. Vermutlich wird sie sich in Zukunft mehr auf Verhütungsleistungen konzentrieren als sich um Gestaltungsleistungen zu bemühen. Worin könnte vor diesem Hintergrund eine Überlegenheit des Kulturkritikers bestehen, die Beachtung verdient? Er zeichnet sich aus durch eine erhöhte Problem-Sensibilität. Er hört gewissermaßen das Gras wachsen und denkt über den Tag hinaus. Der Kulturkritiker ist eine Art Frühwarnsystem, das die Probleme schon bemerkt, wenn sie noch ganz klein sind. Er beschäftigt sich mit der Frage: Wohin wird das führen? Er ist ein Experte für Kulturfolgenabschätzung, der in Gestalt von »Wenn-dann-Szenarios« Bedenken artikuliert: Wenn ihr das weiter macht, dann wird das voraussichtlich zu folgendem Ergebnis führen. Wollt ihr das wirklich? In diesem Sinne hat Botho Strauß vor einigen Jahren in der 57
Gustav Seibt, Kulturkritik? Allerdings! Über Historisierung, kulturkritische Diätetik und das Pathos des Stammhirns, in: Neue Rundschau, Bd. 110 (1999), S. 23–32, S. 32. 58 Hinzu kommt die heute nicht mehr nachvollziehbare Lust an dialektischen Spielereien. 59 Vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 14, 7.
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Wochenzeitung »Die Zeit« einen großen kulturkritischen Artikel unter die Frage gestellt: »Wollt ihr das totale Engineering?« 60 VI. Phänomenologisch fundierte Kulturkritik an den Kulissen des Konstellationismus Mit Botho Strauß’ Warnung vor der unbehaglichen Vision eines totalen Gesellschafts-Engineerings ist die Untersuchung wieder beim Thema »Kritik des Konstellationismus« angelangt. Ein passendes Wenn-dann-Szenario hat der Frankfurter Soziologe Tilmann Allert unter der Überschrift »Rechnen reicht nicht« in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« entwickelt. Allert verlängert das gegenwärtig überall zu beobachtende Bemühen, zwischen Mensch und Situation eine Konstellation zu stellen, in die Zukunft: »Es wird der Tag kommen, an dem wir uns mit unseren Kindern erst nach Abschluss einer entsprechenden Zielvereinbarung zum Spaziergang verabreden und das gemeinsame Pflücken der Maiglöckchen von der Erzieherin im Kindergarten nachmittags in einen Evaluationsbogen unter der Rubrik ›Mustererkennung‹ eingetragen wird.« 61 Was ist das Problematische an dieser Tendenz, unseren Alltag durch forcierte Explikation besser zu ordnen, ihn vorzubereiten und auszuwerten? Am ehesten kann man die Verlustseite für diejenigen menschlichen Beziehungen plausibel machen, bei denen die weitgehende Schonung ihres Situationscharakters die Grundlage für Lebendigkeit und Innigkeit bildet. Das betrifft also besonders Ehe, Familie, Freundschaft. Hier hat es schon frühzeitig, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, entsprechende Warnungen gegeben. Als Chiffre für die Verwandlung der empfindlichen gemeinsamen Situation in eine handhabbare, aber auch entfremdete Konstellation gilt seitdem der Vertrag. In einer Novelle von Ludwig Tieck beschwört eine der beiden Hauptfiguren die besondere Be60
Botho Strauß, Wollt ihr das totale Engineering?, in: Die Zeit, 20. 12. 2000. Tilmann Allert, Rechnen reicht nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 06. 2005.
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hutsamkeit, die Menschen in den gemeinsamen Situationen walten lassen sollten, welche ihnen bedeutsam sind: »Aber Treue, echte Treue – wie so ganz anders ist sie, wie ein viel Höheres als ein anerkannter Kontrakt, ein eingegangenes Verhältnis von Verpflichtungen.« 62 Gerade Freundschaften bedürfen in dieser Hinsicht einer Schonung, denn Tieck scheint zu befürchten, dass ansonsten die Gemeinsamkeit auf eine Art do-ut-des-Kalkül reduziert werden könnte (wie es heutzutage von den Homunculi in manchen analytischen Theorien von Handlung und Entscheidung durchexerziert wird). Die Sorge vor einer Zerstörung der gemeinsamen Situation von Menschen durch ihre Umbildung in eine nüchterne, interessendefinierte Konstellation ist es auch, die den Historiker Leopold von Ranke veranlasst hat, sich auf Heraklits Wort »Die verborgene Harmonie ist besser als die offenbare« zu berufen. 63 Das »innerliche Zusammenhalten«, so heißt es, sei besser als »alle Form des Vertrages«. »Innerlich« steht hier – wie übrigens auch bei Friedrich Carl von Savigny und Joseph von Eichendorff – für den Status weitgehender Unexpliziertheit der gemeinsamen Situation. Der »Vertrag« wiederum, der als eine Konstellation einzeln aufgeführter Tatsachen und Programme von Ranke bis Ferdinand Tönnies kulturkritische Bedenken nährt, hat in dieser Zeit eine unaufhaltsame Karriere hinter sich gebracht, zuletzt namentlich als »Kontraktmanagement« im Rahmen des »Neuen Steuerungsmodells« der öffentlichen Verwaltung, vor allem aber natürlich in Gestalt der »Zielvereinbarung«. Tilmann Allerts Schreckensvision der familiären Zielvereinbarung kontrastiert mit Rankes Beteuerung: »Zwischen Eltern und Kindern, zwischen Brüdern und den Gliedern der Familie ist keine Konfarreation vonnöten.«64 Der Geist einer Familie leidet, wenn 62
Ludwig Tieck, Des Lebens Überfluß, Stuttgart 1990, S. 20 f., 41–43, besonders S. 41, wo die »Schonung« der »lieblichen Dämmerung« (d. h. der Unexpliziertheit) in engen zwischenmenschlichen Verhältnissen gefordert wird. 63 Leopold von Ranke, Politisches Gespräch. Mit einer Einführung von Friedrich Meinecke, München, Leipzig 1924, S. 49. 64 Leopold von Ranke, Politisches Gespräch, a. a. O., S. 49 (Konfarreation = eine besonders bindende Form der römischen Eheschließung).
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die Beziehungen der einzelnen Mitglieder durch derartige rechtliche Vorschriften geregelt werden. Man könnte auch noch knapper sagen: Sozialer Konstellationismus macht einsam. Der schnellste Weg zum Ende einer Ehe ist, wenn man jeden Tag mit einer Zielvereinbarung beginnt und mit einer Evaluation beschließt. Damit ist noch nicht das ganze Problem erfasst, das im Glauben an Zielvereinbarungen und Evaluationen steckt. Wenn der Sinn für Situationen weiter verloren geht, werden wir kulturell kurzsichtig; wir bemerken dann die Situationen hinter den Konstellationen, an denen wir uns orientieren, nicht mehr. Es besteht die Gefahr, dass wir uns den Blick auf die reichhaltige Welt der Situationen durch konstellationistische Kulissen verbauen. Dieser Kulissenbau geschieht im Namen von Motiven, die wir spontan gutheißen: z. B. Sicherheit, Hygiene, Qualitätsmanagement. Weil wir so überzeugt sind von der hohen Bedeutung dieser Zwecke für unser Leben, achten wir weniger auf die Qualität der Mittel. Diese Ignoranz gegenüber den Mitteln schlägt sich nieder in einem immer dichter gestrickten Netz aus Vorschriften, das uns nur deshalb nicht tiefer befremdet, weil jeder es nur in einem kleinen Ausschnitt kennenlernt. Mit der von Bollenbeck der Kulturkritik nachgesagten Neigung zur Dramatisierung möchte ich sagen: Überall wurden in den letzten Jahren und werden weiterhin in hohem Maße Konstellationen aus Anweisungen und Warnungen, aus dem Programm- und Problemanteil von Situationen, gebildet. Ein kurzer Blick auf einige beliebige Beispiele aus dem Alltagsleben soll diese These anschaulicher machen: Auf implizites Wissen oder gesunden Menschenverstand kann man sich offenbar nicht mehr verlassen; deshalb müssen z. B. Mitarbeiter regelmäßig durch ihren Vorgesetzten über die richtige Handhabung einer Trittleiter explizit belehrt werden: »Vor der Inanspruchnahme ist die Trittleiter auf mögliche Schäden zu inspizieren.« Ein großes internationales Unternehmen verpflichtet seine Angestellten, aus Sicherheitsgründen beim Treppensteigen die Hand am Treppengeländer zu führen. Grundschulen schließen mit ihren Schülerinnen und Schülern einen »Schulvertrag«, in dem Punkt für Punkt festgehalten wird, was geboten und was verboten ist (z. B. freundlicher Umgang miteinander oder Störung des Unterrichts). Lehrer, die einen Schü80 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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ler mit einem Heftpflaster verarzten, müssen dies in einem Verbandskastenprotokoll eintragen. Zahnärzte haben jeden einzelnen Sterilisationsvorgang in ihrer Praxis zu dokumentieren, d. h. jedes einer Sterilverpackung entnommene Gerät muss einem bestimmten Sterilisationsvorgang zugeordnet werden; Aufkleber in den Patientenkarten ermöglichen diese Zuordnung, mit der Folge, dass die Patientenkarten mittlerweile wie Litfaßsäulen aussehen. Die Liste der Beispiele lässt sich mühelos verlängern. Auf diese Weise werden die Menschen von vielerlei konstellationistischem Müll in Anspruch genommen. Wenn man diese eigenartige Liebe zur detaillierten Regelung alltäglicher Vorgänge einmal zu Ende zu denken versucht, kann man zu dem Resultat kommen, dass hier offenbar eine Universalisierung des Prinzips der Gebrauchsanweisung im Gange ist. Eines Tages besitzen wir dann vielleicht eine umfassende Betriebs- und Reparaturanleitung für die Welt. Die menschliche Aufmerksamkeit wäre von einer Fülle fertig abgepackter Explikate absorbiert. Die alten Meister der Situationen würde man zu einer vergangenen und überwundenen Epoche der Menschheitsgeschichte rechnen, Kommissar Maigret wäre endgültig im Ruhestand. Literatur Allert, Tilmann, Rechnen reicht nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 06. 2005. Bollenbeck, Georg, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Doyle, Sir Arthur Conan, Die Abenteuer des Sherlock Holmes, übers. v. Gisbert Haefs, Zürich 1984. Doyle, Sir Arthur Conan, Eine Studie in Scharlachrot, übers. v. Gisbert Haefs, Zürich 1984. Doyle, Sir Arthur Conan, Seine Abschiedsvorstellung, übers. v. Leslie Giger, Zürich 1988. Dyck, Joachim, Wie die Philosophie im herrenlosen Gemurmel zur Vorgeschichte des Kinos wurde, in: Die Welt, 22. 11. 2004. Gadamer, Hans-Georg, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt a. M. 1977.
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Von der Maigret-Kultur zur Sherlock Holmes-Kultur
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Michael Großheim
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Clemens Albrecht
Taylorismus 2.0 Die Wissensproduktion in Netzwerken und ihre Abhängigkeit von Meta-Erzählungen
Wir können »bei uns mit Deutlichkeit beobachten: daß die neueste Entwicklung des Universitätswesens auf breiten Gebieten der Wissenschaft in der Richtung des amerikanischen verläuft. Die großen Institute medizinischer oder naturwissenschaftlicher Art sind ›staatskapitalistische‹ Unternehmungen. Sie können nicht verwaltet werden ohne Betriebsmittel größten Umfangs. […] Die technischen Vorzüge sind ganz unzweifelhaft, wie bei allen kapitalistischen und zugleich bürokratisierten Betrieben. Aber der ›Geist‹, der in ihnen herrscht, ist ein anderer als die althistorische Atmosphäre der deutschen Universitäten. Es besteht eine außerordentlich starke Kluft, äußerlich und innerlich, zwischen dem Chef eines solchen großen kapitalistischen Universitätsunternehmens und dem gewöhnlichen Ordinarius alten Stils. Auch in der inneren Haltung.« 1 So lautet die Analyse von Max Weber aus dem Jahre 1919 in seiner berühmten Schrift »Wissenschaft als Beruf«. Rund vierzig Jahre später, genauer am 24. Juni 1960, hält der Soziologe Helmut Schelsky seine Antrittsvorlesung in Münster. Thema: »Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen Universität«. Schelsky rekonstruiert den sozialen Vorstellungsgehalt der Humboldtschen Universitätsidee, deren Freisetzung von einer zunftgebundenen Berufsausbildung der entscheidende Akt zu einer neuen Autonomie der Wissenschaft dargestellt habe. Während die Aufklärer eine Umwandlung der Universitäten in berufsbezogene Spezialhochschulen nach dem Vorbild der napoleonischen Grandes Écoles gefordert hätten, bot das idealistische Menschenbild eine 1
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 5 1982, S. 582–613, S. 584 f.
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Clemens Albrecht
Grundlage, Wissenschaft als Medium zur Charakterbildung zu begreifen. Schelsky erklärt: »Die Freiheit, die diese Universitätsidee in Anspruch nimmt, beruht vor allem darauf, daß sie versittlichend wirkt, daß sie die normative Grundeinstimmung des Lebens durch Selbsttätigkeit in der Wissenschaft erzeugt, und das ist ihre Bildung.« 2 Heute aber, so folgert Schelsky, könne diese idealistische Zielbestimmung nicht mehr als Leitidee für die Organisation und Funktion von Universitäten dienen. Der Humboldtschen Idee stünden drei soziale Entwicklungen entgegen: 1. die Tatsache, dass sich aus dem allgemeinen Gelehrtentum akademische Berufe entwickelt hätten, 2. dass die persönlichen Lehrbeziehungen im Forschungsbetrieb der Universitäten durch sachliche Arbeitsbeziehungen abgelöst seien, und 3. die generelle Verwissenschaftlichung der sozialen Praxis in unserer Zivilisation. Wissenschaft sei längst zur Substanz des praktischen Handelns geworden und könne sich nicht mehr durch Bildung über das praktische Leben und seine Zweckanforderungen erheben. 3 Die neuen funktionalen Führungsschichten der Gesellschaft aber benötigten keine Bildung mehr, sondern spezialisiertes Fachwissen, das freilich verknüpfungsfähig zu halten sei. Das institutionelle Konzept einer neuen Universitätsgründung – Bielefeld stand an 4 – müsse sich deshalb nicht mehr an der universitas orientieren, sondern an der Konzentration auf einige Fächer, die in ausreichender Stärke für fachinterne Spezialisierungen vertreten sein müssten. Diese Fächer sollten dann allerdings in einem interdisziplinären Zentrum wieder zusammengebunden werden – dem berühmten Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF). Wiederum etwa 40 Jahre später publizierte der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke einen köstlichen kleinen Artikel über die Paradoxologie des deutschen Hochschulwesens. Neben dem Be2
Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen Universität, Münster 1960, S. 24. 3 Vgl. Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, a. a. O., S. 26 ff. 4 Vgl. Paul Mikat, Helmut Schelsky, Grundzüge einer neuen Universität. Zur Planung einer Hochschulgründung in Ostwestfalen, Gütersloh 1966.
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Taylorismus 2.0
rufungs-, dem Zukunfts- und dem Gutachterparadox skizziert er auch die Grundlinien des Paradoxons der Wissenschaftsplanung. Nachdem die zentrale Stellung des Ordinarius zerschlagen worden sei, dominierten Drittmittelgeber die Leitlinien der Forschung. Sie aber präferierten Forschungsverbünde, woraus sich eine Fassade des Antragswesens und der Abstimmungsapparate gebildet habe: »Aber auch wenn es für Wissenschaftsbürokraten provokant klingen mag: Wie im Leben, so ist auch in der Wissenschaft das Modell Vollversammlung, bei dem immer nur einer redet und alle anderen zuhören müssen, dem Modell Kneipe, bei dem man sich die interessanten Gesprächspartner aussucht und im allgemeinen Stimmengewirr jederzeit wechseln kann, an kommunikativer Intelligenz hoffnungslos unterlegen.« 5 Deshalb verhindere gerade die Innovationsplanung die Innovation. Koschorke weiß, wovon er spricht: Er ist gegenwärtig Sprecher des Netzwerkes »Transatlantische Kooperation«, gehört dem Beirat der Forschungsstelle »Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären« an, ist Sprecher des Graduiertenkollegs »Die Figur des Dritten«, Vorstandsmitglied des Forschungskollegs »Norm und Symbol« und im Konstanzer Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration«. Die Ämter bei Zeitschriften, OnlinePortalen und in Institutionen übergehe ich. Drei Stimmen zur Lage der Wissenschaft aus 90 Jahren deutscher Wissenschaftsgeschichte. Alle drei beschreiben das gleiche Phänomen: den zunehmenden Betriebscharakter der modernen Wissenschaft, geprägt auf der einen Seite durch immer größere Spezialisierung der Einzelforschung, auf der anderen durch die institutionellen Zwänge der organisatorisch herbeigeführten Synthese durch Institute oder Netzwerke. In allen drei Beschreibungen der Lage schwingt freilich eine leichte Wehmut mit, gespeist aus dem Ideal der Humboldtschen Universitätskonzeption, deren Differenz zur 5
Albrecht Koschorke, Wissenschaftsbetrieb als Wissenschaftsvernichtung. Einführung in die Paradoxologie des deutschen Hochschulwesens, in: Dorothee Kimmich, Alexander Thumfart (Hrsg.), Universität ohne Zukunft?, Frankfurt a. M. 2004, S. 142–157, S. 148.
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sozialen Wirklichkeit der Wissenschaft mit der gleichen schmerzlichen Unvermeidlichkeit attestiert wird, mit der man das eigene Altern bemerkt. Vor diesem Hintergrund ist es nur plausibel, wenn die traditionelle Leitidee der deutschen Universität unter Ideologieverdacht gerät. Die Historikerin Sylvia Paletschek hat gezeigt, wie Konzept und Beschreibung der Humboldtschen Universität erst um 1900 von Adolf von Harnack und Eduard Spranger erfunden wurden.6 Die berühmte Denkschrift, so weist sie nach, war bis dahin nicht bekannt. Einige Elemente der Humboldtschen Reform wie die Zusammenarbeit von Professoren mit fortgeschrittenen Studenten waren vorbildlich und wurden von anderen Ländern übernommen, andere (Ordinarien-Prinzip, Gymnasium als Vorbereitung) allerdings nicht. Gleichwohl blieb die Berufung auf die Humboldtsche Universität eine Konstante in der Reflexion vor allem auf die naturwissenschaftliche Grundlagenforschung und die Geisteswissenschaften. Noch heute wirbt der Konstanzer Exzellenzcluster mit dem Hinweis, neben der Vernetzung auch Raum für einsames Forschen zu bieten. 7 Gleichwohl wird allenthalben bemerkt, wie weit sich die Praxis und die Anforderungen an wissenschaftliche Forschung von dieser Leitidee entfernt haben, und zwar seit Weber. Nicht zuletzt deshalb spricht Paletschek und sprechen maßgebliche Wissenschaftspolitiker dem Humboldtianismus einen ideologischen Charakter zu. 8 Der Hiatus zwischen der Ideologie von »Bildung durch Wissenschaft in Einsamkeit und Freiheit« und dem arbeitsteiligen, auf berufliche Ausbildung und technische Innovation ausgerichteten Forschungs- und Lehrbetrieb an der Massenuniversität sei heute unüberbrückbar. Humboldt ist tot, lautet die Devise, und verantwortliche Wissenschaftspolitik habe endlich die Konsequenzen zu ziehen und mit den neuen Organisationsformen auch 6
Vgl. Sylvia Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie, Bd. 10 (2002), S. 183–205. 7 http://www.exc16.de/cms/wiss-komponenten.html (Stand 18. 02. 2010). 8 Vgl. Mitchell G. Ash (Hrsg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien 1999.
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ein neues Leitbild für Universitäten durchzusetzen, das realitätsadäquater ist: die unternehmerische Universität. 9 Was sind ihre Grundlagen? Zunächst: Das Konzept der unternehmerischen Universität wurde im England der Thatcher-Ära entwickelt, als der öffentliche Dienst in den Generalverdacht der Ineffizienz geriet. Durch Senkung der finanziellen Zuweisungen und durch Schaffung finanzieller Anreize sollten die Universitäten zu selbständigen ökonomischen Akteuren werden. 10 Die Entwicklungslinien bis zur Übernahme dieses Konzepts unter der Regierung Gerhard Schröder sind bekannt, ich nenne hier nur die Stichworte: Bildung als Bürgerrecht, Chancengleichheit, Wandel zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, Bildungsexpansion, Ausbau der Massenuniversitäten, Untertunnelungsstrategie, globaler Wettbewerb und Deregulierung der Kapital-, Waren- und Arbeitsmärkte. Gleichzeitig können wir den Aufstieg einer neuen Vorstellung von Rationalität beobachten, die sich nicht mehr an bürokratischer Kontrolle, Transparenz und Verfahrensgerechtigkeit festmacht, sondern an Wettbewerb, unternehmerischer Dezision und der Relation zwischen eingesetzten Mitteln und Ertrag (Effizienz). Staatliche Planung, bis in die 70er Jahre noch die Vollendung gesellschaftlicher Rationalität, gilt nun als ineffektiv, weil die ausdifferenzierte Wirklichkeit, die Vielzahl der Akteure und Situationen mit ihren Interessen und Freiheiten letztlich nicht als feste Größen einplanbar sind. Der Staat wird, um ein bekanntes Diktum zu wiederholen, zum Problem, die invisible hand des Marktes zur Lösung, die die unübersehbare Vielzahl der Faktoren durch allgemeine Regelungen zu steuern vermöge. Das ist das Ende eines konstellationistischen Ordnungsmodells, des Plans, und der Beginn eines neuen, des Marktes. Auch ihm liegen generalisierte Begriffe zugrunde, die jenseits der Situationen in unterschiedlichen Lebensbereichen 9
Vgl. Sabine Maasen, Peter Weingart, Unternehmerische Universität und neue Wissenschaftskultur, in: Hildegard Matthies, Dagmar Simon (Hrsg.), Wissenschaft unter Beobachtung. Effekte und Defekte von Evaluationen (Leviathan, Sonderheft 24), Wiesbaden 2008, S. 141–160. 10 Vgl. Dietmar Braun, Die politische Steuerung der Wissenschaft. Ein Beitrag zum »kooperativen Staat«, Frankfurt a. M. 1997, S. 199 ff.
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übertragen werden, etwa das ökonomische Wettbewerbsmodell der Konkurrenz auf Sport, Wissenschaft, Familie, Schule etc. 11 Erst damit kommt das neue Zauberwort der Politik auf, das die alten Planungseuphorien ablöst: Steuerung. Eine neue Metaphorik erobert die Stäbe und Gremien der intermediären Organisationen. Nicht mehr der Bauplan eines Architekten mit der Abfolge von Skizze, Zeichnung, Bauabschnitten, Umsetzung und Logistik der Bauelemente liefern die Bilder, sondern die Elektrotechnik. Vielleicht zeigt sich hier die erste Generation, die in den Jugendclubs und Diskotheken groß geworden ist, denn der Equalizer 12 liefert die Matrix: Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft lassen sich in eine begrenzte Anzahl von relevanten Steuerungsgrößen zusammenfassen, die in Kennzahlen objektivierte Informationen an ein zentrales Steuerungspult liefern, auf dem wiederum die Schieberegler nach Bedarf und in Feinabstimmung mit anderen Faktoren auf- oder zugedreht werden. Zu wenig Lehrer? Werbeetat erhöhen, Referendariat verkürzen, aus anderen Bundesländern abwerben. Konzentration der Hochschullehrer auf die Forschung? Preise für Lehrqualität ausschreiben, Deputate erhöhen. Zu wenig Nobelpreise? Exzellenzinitiative starten: 1,9 Milliarden Euro Forschungsförderung können ihr Ziel nicht verfehlen. Das große Versprechen in der Umstellung von Planung auf Steuerung durch Anreiz besteht also darin, eine ad-hoc-Kontrolle einrichten zu können, die flexibel auf neue Situationen reagiert. Politik fährt, wie es seit spätestens der Finanzkrise heißt: auf Sicht, d. h. überschaut in ihrer Planung bewusst nur einen begrenzten Horizont mit stets wechselnden Zielen. Deshalb steht auch der FünfJahres-Plan wieder auf: Hochschulpakt I, Hochschulpakt II, Hochschulpakt III. Wurde die Hochkonjunktur der Planung noch von 11
Es wäre eine wichtige Aufgabe, die Fruchtbarkeit der Neuen Phänomenologie in der Soziologie zu erproben, indem die Situationslogik unterschiedlicher Lebensbereiche herausgearbeitet wird: Wettbewerb in der Wissenschaft bedeutet, die Kraft des besseren Arguments zu suchen, gerade auch gegen die eigenen Einwände; Wettbewerb im Sport, den Ausgang des Spiels dem Spielen selbst unterzuordnen; Wettbewerb mit den eigenen Kindern bedeutet, den Sieg des anderen zu wollen etc. 12 Vgl. Torben Schubert, New Public Management an deutschen Hochschulen. Strukturen, Verbreitung und Effekte, Stuttgart 2008, S. 17.
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recht konkreten Vorstellungen über Modernität auch normativ geleitet, so ist die neue Phase der Steuerung durch einen inhaltsindifferenten Begriff bestimmt, der präsentisch bleibt: Anpassung. Anpassung an Markt und Bedarf, Anpassung an internationale Standards, Anpassung an Effizienzvorgaben. Konkret setzen sich diese generellen Vorstellungen in der Wissenschaftspolitik durch das New Public Management um. Dabei handelt es sich um ein Gesamtkonzept zur Führung und Überwachung, zur Steuerung und Kontrolle öffentlicher Einrichtungen, das eben nicht mehr nach einem hierarchischen Planungs- und Umsetzungsmodell arbeitet, sondern nach einer Mischung aus Anreiz und Kontrolle. Ideelle Ausgangslage ist die Einsicht von Ökonomen, dass die Trennung von Eigentum und Kontrolle, wie sie in öffentlichen Einrichtungen moderner Staatlichkeit unvermeidbar ist, zu geringer Effizienz führe. 13 Als Folge trete eine »Unterdeterminiertheit der Agenten« 14 auf, die man durch intrinsische Motivation nicht kompensieren könne, um den moral hazard zu verhindern. Ich übersetze: Wissenschaftler tendieren, wie alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst, strukturell zur Faulheit. Genau dies war die Entdeckung des amerikanischen Arbeitsforschers Frederick Winslow Taylor. Die Arbeiter der Midwale-Stahlwerke, so beobachtete er, könnten ohne gesundheitliche Schäden wesentlich mehr leisten, wenn man wissenschaftliche Methoden zur Gestaltung der Arbeitsabläufe umsetze. 1899 brachte Taylor einen Arbeiter dazu, statt 12,5 t Roheisen 47,5 t pro Tag zu verladen, indem er ihm mit der Uhr in der Hand die Bewegungsabläufe diktierte. 15 Die Zerlegung des Arbeitsprozesses in kleinste Elemente (die Zeiteinheit TMU beträgt ein Tausendstel einer Stunde) und ihre neue Zusammensetzung nach rationalen Verfahrensabläufen ist die bekannteste Me13
Warum diese Einsicht nie auf Aktiengesellschaften und ihr Management übertragen wurde, etwa durch lebenslange Zwangshaltung der Aktionoptionen, ist nicht ersichtlich. 14 Torben Schubert, New Public Management an deutschen Hochschulen, a. a. O., S. 18. 15 Vgl. Gertraude Mikl-Horke, Organisierte Arbeit. Einführung in die Arbeitssoziologie, München, Wien 1984, S. 30 f.
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thode des Taylorismus. Durch eine Beteiligung des Arbeiters am Produktivitätsgewinn (ca. 10 % des Mehrwerts wurden als Akkordlohn ausgezahlt) konnte man die Arbeiter nun auch ohne Zwang zu dieser Mehrleistung motivieren. Taylor sah diese Neustrukturierung der Arbeit gerechtfertigt durch zwei seiner Grundannahmen: 1. Das Glück des Menschen entsteht durch Wohlstand; 2. Wohlstand ist die Verfügung über möglichst viele Güter. 16 Die Prinzipien des Taylorismus werden heute in novellierter Form auf die Wissenschaft übertragen. Das New Public Management (ursprünglich für einfache Verwaltungen erdacht, keine seiner Vorannahmen passt auf die Universitäten 17 ) hält nun eine ganze Reihe von Instrumenten bereit, auch Beschäftigte im öffentlichen Dienst zum effizienten Einsatz für die Wohlstandsgenerierung zu gewinnen. Dazu zählt in erster Linie die Rekrutierung des Führungspersonals. Solange es korporatistisch gewählt wird, verfolgt es eher die Ziele seiner Klientel durch den üblichen Interessenausgleich in der akademischen Selbstverwaltung. Deshalb sollte das Führungspersonal extern besetzt werden, damit die Ziele der Politik implementiert werden können. Die von Taylor geforderte Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit wird durch Einführung einer professionellen Management-Ebene an den Universitäten umgesetzt. Nötig ist weiter der Abschied von der alten kameralistischen Rechnungsführung, die eine enge Kontrolle der Finanzmittel nach Verwaltungsregeln vorsah, gleichzeitig jedoch dem Personal weitgehende Autonomie in den fachlich-inhaltlichen Fragen zumaß: der humboldtianische Professor hatte einen schmalen und bürokratisch kontrollierten Etat, aber Vogelfreiheit in der Wahl seiner Forschungs- und Lehrthemen. Die neue Vollkostenrechnung dagegen gibt den Verwaltungseinheiten (Universitäten, Fakultäten, Instituten) nun die operative Autonomie im Einsatz der global zugewiesenen Mittel, kontrolliert deren effizienten Einsatz aber verstärkt über 16
Vgl. André Héron, Der Taylorismus. Grundsätze, Methoden, Doktrin, in: Kursbuch, Bd. 43 (1976): Arbeitsorganisation – Ende des Taylorismus?, S. 1–11, S. 6. 17 Vgl. Torben Schubert, New Public Management an deutschen Hochschulen, a. a. O., S. 16 f.
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den Output (Evaluation, Zielvereinbarung) und beansprucht nun auch die inhaltliche Steuerung der Wissenschaft (Profilbildung, Auftragsforschung). Die Regelungslücke, die durch den Rückzug staatlicher Detailplanung entstanden ist, wird gefüllt durch das Satzungsrecht und durch detaillierte, etwa curriculare Vorgaben. Zum zentralen Mittel der Effizienzsteigerung wird jedoch der Wettbewerb nach dem Konkurrenzmodell, auf allen Ebenen. 18 Ich kann hier kein Vollbild des neuen Steuerungssystems zeichnen, sondern muss mich mit einer Skizze begnügen, die jeder sich aber aufgrund eigener Erfahrung gedanklich ausmalen kann. Das neue Leitbild der unternehmerischen Universität wird jedenfalls gegenwärtig mit Verve durchgesetzt. Bologna-Prozess, Exzellenzinitiative, leistungsgerechte Besoldung, neues Hochschulrecht mit verstärkter Entscheidungsgewalt der Leitungsebenen und finanzielle Autonomie weisen alle in die gleiche Richtung: Ist unter der Leitidee des Humboldtianismus der Wissenserwerb primär als Erkenntnis- und Bildungsprozess auf das Individuum ausgerichtet, der dann durch unbestimmte Übersetzungsprozesse in die soziale Umwelt ausstrahlt und dort seine Wirkung entfaltet, so wird nun die Universität zur Wissensfabrik, die das Produkt Innovation als zentrales Element des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Standorten unter Effizienzgesichtspunkten zu liefern hat – so zumindest sehe es der implizite Vertrag zwischen Gesellschaft und dem durch sie finanzierten Wissenschaftssystem vor. 19 Ich bezeichne im Folgenden diese neuen Leitvorstellungen für die Wissenschaft als »Ökonomismus«, in der Sprache der Neuen Phänomenologie ist er eine Variante des Konstellationismus 20 . Meine zentrale Frage ist, ob dieser Ökonomismus tatsächlich als eine Leitidee gelten kann, die den Hiatus zwischen Ideal und Praxis überbrückt, indem sie unsere Vorstellungen von Wissenschaft an den Stand der gesellschaftlichen Entwicklung angleicht. Handelt 18
Vgl. Torben Schubert, New Public Management an deutschen Hochschulen, a. a. O., S. 28. 19 Vgl. Torben Schubert, New Public Management an deutschen Hochschulen, a. a. O., S. 3. 20 Vgl. z. B. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005.
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es sich, politisch formuliert, um eine moderne Idee von Wissenschaft, die zur modernen Gesellschaft passt? Oder tauschen wir nur eine Ideologie, den alten Humboldtianismus, durch eine neue aus? Diese Frage möchte ich im Folgenden durch eine nähere Betrachtung der arbeitsteiligen Forschungspraxis in Netzwerken klären, die die unternehmerische Universität generiert, und zwar zuerst aus der Perspektive der Konstellation, dann der Situation. Unter der ökonomistischen Leitidee entfaltet sich ein neues Forschungsideal, das sich an arbeitsteiligen Produktionsprozessen orientiert. Im Humboldtianismus stellt die Fragmentierung und Spezialisierung des neu erschlossenen Wissens an sich kein Problem dar, findet sie doch ihr Ziel in einer spezifischen Bedeutung für den Einzelnen, die unabhängig vom Grad der partikularen Zersplitterung des Wissens ist. Max Weber hat das in »Wissenschaft als Beruf« klassisch formuliert: »Eine wirklich endgültige und tüchtige Leistung ist heute stets: eine spezialistische Leistung. Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern. Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das ›Erlebnis‹ der Wissenschaft nennen kann. Ohne diesen seltsamen, von jedem Draußenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft, dieses: ›Jahrtausende mussten vergehen, ehe du ins Leben tratest, und andere Jahrtausende warten schweigend‹ : – darauf, ob dir diese Konjektur gelingt, hat einer den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes. Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann.«21 Unter der ökonomistischen Leitidee allerdings wird die fachliche und sachliche Spezialisierung zum Problem, enthält sie doch in den seltensten Fällen den eigentlichen Zweck wissenschaftlicher Forschung: das Produkt, die Anwendung, die sich wiederum in die ökonomische Wertschöpfungskette einbinden lässt. Gerade deshalb drängt die unternehmerische Universität die Forschung in 21
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, a. a. O., S. 588 f.
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Verbünde und Netzwerke, versucht, die spezialistischen Detailergebnisse einzubinden in einen komplexeren, mechanisch oder biologisch verstandenen Kontext mit anderen Erkenntnissen.22 Die Wissensproduktion in Netzwerken schafft gleichsam durch die imaginierte Klammer, die verschiedene Spezialisten verbindet, auf einer allgemeineren Ebene den Berührungspunkt zu den »gesellschaftlichen und politischen Zielen«, indem sie die Netzwerke bündelt – bei technischen Fächern nach konkreten Produktvorgaben, bei geisteswissenschaftlichen nach Generalthemen, die vorgeblich gemeinsam bearbeitet und einer Klärung zugeführt werden. Diese Rahmen-Narrative für den spezialistischen Erkenntnisfortschritt nenne ich Meta-Erzählungen. Nur sie müssen dann einpassbar sein in gesellschaftliche Zweckvorgaben, sie sind gleichsam die utilitaristischen Andockstellen. Ich möchte dies zunächst an einem Beispiel erläutern. Obgleich jeder Sonderforschungsbereich ausreichend Material liefert, wähle ich hierfür den bereits erwähnten Konstanzer Exzellenzcluster, er war der erste geisteswissenschaftliche überhaupt. Es trägt den Titel »Kulturelle Grundlagen von Integration«. Welche Meta-Erzählung verbirgt sich dahinter? Hier ist ein ausführlicheres Zitat erforderlich: »Die Forschungen des Exzellenzclusters bewegen sich im Spannungsfeld zwischen zwei Begriffen: Kultur und Integration. Der Ausdruck ›Kulturelle Grundlagen‹ ist nicht nur gewählt, um den grundlagentheoretischen Anspruch des Unternehmens zu betonen. Er soll darüber hinaus schon im Titel die Arbeitshypothese markieren, dass kulturelle Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten bereits auf der Ebene basaler gesellschaftlicher Steuerungen wirksam sind. ›Kultur‹ wird somit nicht auf ein Gemeinsamkeit verbürgendes Substrat reduziert. Integration dagegen ist eines der Schlüsselwörter der Sozial- und Systemtheorien. Allerdings wird auch dieser Begriff keinesfalls in einem traditionellen, normativen Sinn verstanden. Integration meint für den Cluster ganz allgemein den Aufbau sozialer Ord22
Vgl. Sabine Maasen, Peter Weingart, Unternehmerische Universität und neue Wissenschaftskultur, a. a. O., S. 147 ff.
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nungsmuster jeglicher Qualität, die eine bindende Wirkung entfalten. Dass dies gelingt, ist keineswegs selbstverständlich. Man darf Integration nicht als Regelfall ansehen, von dem Desintegration dann die Abweichung wäre. Vielmehr stellen Integration und Desintegration gleichursprüngliche und für die Einsicht in soziale Prozesse gleichrangige Möglichkeiten dar. Soziale Ordnung ist ein in mehrfacher Hinsicht voraussetzungsreiches und unwahrscheinliches Phänomen. Sie muss sich fortlaufend selbst garantieren und ist dabei auf kulturelle Ressourcen angewiesen: auf Kohärenz stiftende und zugleich Variation ermöglichende Rituale, Symbole, Narrative, Gründungsmythen und Selbstbilder, in denen sie sich als Einheit und Ganzheit imaginiert. ›Kultur‹ ist aber nicht allein dafür zuständig, gegebene soziale Verhältnisse mit Sinn und Legitimation zu beliefern. Kulturelle Semantiken und soziale Strukturen bilden sich nicht isomorph aufeinander ab, sondern stellen zwei interdependente Größen dar, die sich auf spannungsreiche und dynamische Weise wechselseitig hervortreiben, bedingen und irritieren. Das wissenschaftliche Konzept des Clusters geht von der Arbeitshypothese aus, dass in Anbetracht jüngster Entwicklungen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Prozessen der Globalisierung, Beschreibungsmodelle für dezentrierte Organisationsweisen des Sozialen gefunden werden müssen. Dies stellt eine erhebliche sozialwissenschaftliche, historische, kulturtheoretische und epistemologische Herausforderung dar. Mit der Entscheidung, Integration und Desintegration als beobachterabhängige und sich vielfältig überlagernde Vorgänge zu behandeln, statt den Begriff der Integration normativ zu privilegieren, verbindet sich deshalb eine entsprechende Umstellung des verwendeten Kulturbegriffs. ›Kultur‹ soll nicht vorrangig darauf verpflichtet werden, sozialen Konsens zu gewährleisten, sondern umfasst das Kontinuum aller Abweichungsgrade innerhalb von Praktiken und Diskursen und bringt dadurch einen Möglichkeitsüberschuss hervor, ohne den – so die Vermutung – Gesellschaften nicht hinreichend elastisch auf ihre innere Uneinheitlichkeit und Kontingenz zu reagieren vermöchten. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen kulturellen Dynami96 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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ken und sozialen Dispositionen zählt zu den Kernfragen aller Kulturtheorien. Sie lässt sich nicht sub specie aeternitatis beantworten, sondern bedarf historisch breit gefächerter empirischer Studien. Im Spektrum der Untersuchungsgegenstände von Gruppen, die auf face-to-face-Interaktion beruhen, bis hin zu virtuellen Nachbarschaften im Rahmen globaler Vergesellschaftung haben kulturelle Faktoren jeweils ganz unterschiedliche Auswirkungen auf Prozesse der Integration/Desintegration. Es ist davon auszugehen, dass besondere soziale bzw. politische Ordnungen eine ›Kulturalisierung‹ oder ›De-Kulturalisierung‹ ihrer Integrationsgrundlagen erfahren. Für diesen Umstand müssen hinreichend komplexe Beschreibungsmodelle gefunden werden. Und genau dies zu unternehmen, hat sich der Konstanzer Exzellenzcluster ›Kulturelle Grundlagen von Integration‹ zum Ziel gesetzt.« 23 Ich muss feststellen, dass mir diese Zielbeschreibung noch keine rechte Vorstellung vom Forschungsgegenstand in Konstanz ermöglicht. Ich schlage deshalb auf den Seiten nach, die für die Presse vorgesehen sind. Dort lese ich: »Integration und Desintegration stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen der Konstanzer Wissenschaftler. Anders als meist üblich, betrachten sie aber Integration nicht als Normalfall und tun Desintegration als Abweichung davon ab. Denn beide Phänomene lassen gleichermaßen interessante Rückschlüsse auf Ursprung und Wirkung sozialer Prozesse zu. Letztlich geht es um die Frage, wie gesellschaftliche Strukturen entstehen, wie sie sich behaupten und/oder verändern, und wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist. Bei der Erforschung kultureller Grundlagen gehen die Wissenschaftler nicht vorrangig von der Idee einer gemeinsamen Kultur als einem Vorrat gemeinsamer Werte aus, auf der soziale Identitäten wie auf einem Fundament fußen. Vielmehr interessiert Kultur sie vor allem als Zwischenraum, als Kontaktzone und Austragungsort von Differenzen. Insofern versprechen die Forschungsergebnisse auch aufschlussreiche Einblicke in hochaktuelle Themen wie Migrantenströme, zerfallende Staaten und Europäische Integration.« 24 23 24
http://www.exc16.de/cms/wiss-konzept.html?&L=0 (Stand 18. 02. 2010). http://www.exc16.de/cms/344.html?&cHash=9aaefca2a1&tx_ttnews[backPid]
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Diese Formulierungen sind hilfreicher. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mir in der Frage, wie gesellschaftliche Strukturen entstehen und wie soziale Ordnung überhaupt möglich wird, vielleicht interessante neue Gedanken, aber keinen entscheidenden Wissensdurchbruch vom Cluster verspreche, der Integration und Desintegration dann etwa steuerbar macht. Wohl aber denke ich, dass tatsächlich innovative Teilstudien zu Einzelaspekten der Migration, der failing states oder der europäischen Integration entstehen, sie werden ja von äußerst kompetenten Kollegen geleitet. Auch die Anwendung des im Cluster produzierten Wissens kann ich mir gut vorstellen: Integrationsbeauftragte von Bund, Ländern und Kommunen werden in ihm nach Wegen suchen, etwa die Türken der Dritten Generation besser in die deutsche Gesellschaft zu integrieren (Türkisch für Anfänger, interkulturelle Kochkurse), Vertreter von Entwicklungsorganisationen schlagen nach, warum einzelne Staaten scheitern und wie man dies künftig verhindern kann, um der somalischen Piraten Herr zu werden, und Europapolitiker werden Ansatzpunkte zur verbesserten Integration finden, um etwa der deutschen Bevölkerung erklären zu können, warum sie durch gemeinsame Anleihen die Staatsschulden der Griechen und Iren begleichen müssen. Wie sieht nun die Forschungspraxis aus, aus welchen Elementen und Teilstudien setzt sich der Cluster zusammen? Ich lasse die organisatorischen Strukturen aus und konzentriere mich auf Inhaltliches: Zunächst werden vier Forschungsfelder genannt: 1. Identitätskulturen, 2. Erzähltheorie als Kulturtheorie, 3. Transkulturelle Hierarchien, 4. Die Kulturdynamik von Religion. 25 Alle vier Felder sind an die Meta-Erzählung angebunden. In welche konkreten Projekte realisieren sich die Forschungsfelder? Ich zähle auf: 26 1. Ambivalente Identitäten in Einwanderungsgesellschaften
=265&tx_ttnews[day]=04&tx_ttnews[month]=12&tx_ttnews[tt_news]=33&tx_ ttnews[year]=2007 (Stand 18. 02. 2010). 25 http://www.exc16.de/cms/forschungsfelder.html?&L=0 (Stand 18. 02. 2010). 26 http://www.exc16.de/cms/forschungsprojekte.html (Stand 18. 02. 2010).
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2. Autonomer Normsetzungsanspruch und europarechtliche Vorwirkung dargestellt am Beispiel des türkischen Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts 3. Bad Habits. Second Nature between Environment and Self-control 4. Comparative Aesthetics and Indonesian Islamic Critiques of Modernity Amongst the Ruins of Area Studies 5. Cultural integration of the ›disabled subjects‹ and transforming ›arts of governance‹ 6. (De-)Figurationen von Gesellschaft: Metaphern des Sozialen bei Marcel Proust 7. Die Doppelkarriere eines Konzepts: »Reflexivität« als Zeitdiagnose und als Forschungsstrategie im sozialwissenschaftlichen Diskurs 8. ›Economists in-between‹ : The epistemic profile of macro-economic experts in the financial industry 9. Die Ehe im Spätmittelalter 10. Eigenzeit oder Einheitszeit? Untersuchung divergierender politischer und sozialer Zeitsysteme in Europa und ihr Einfluss auf den Integrationsprozess der EU 11. Escaping the Enlightenment 12. Existenz zwischen Erweckung und Endzeit 13. Failing States and Dark Networks 14. Formen der Kriegsbeendigung in Konflikten mit Heiden und Häretikern 15. Forschungsprojekt im Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz I 16. Forschungsprojekt im Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz II 17. Forschungsprojekt im Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz III 18. Genealogie und Praxis des Kreativsubjekts 19. Georgien und Russland 20. Geschichte(n) der Gegenwart. Zeitdiagnostik im Europa der Zwischenkriegszeit (1918–1939) 21. Geschlecht, Namenwahl und Eheschließung 22. Grenzerzählungen in transnationalen Räumen. Ostgalizien, 19./20. Jh. 23. Hegemoniale Semantiken und radikale Gegennarrative 24. Das Heilige und das Profane 25. »Der Hölle entronnen …« Eine Fallstudie zur Krisenkommunikation in der chemischen Industrie 26. Imaginarration. Bilder erzählen – Ekphrasis und Ikonoklasmus 27. The Influence of Culture on Decision-Making in Transnational Organisations 28. The Iron Curtain Call 29. Of Irony and Understanding 30. Katholische Poetik 31. »Poetik und Hermeneutik«. Eine historische Epistemologie geisteswissenschaftlicher Forschung 32. Konstruktion kollektiver Identität und Dynamik organisationalen Lernens in UN-Friedensmissionen 33. Krieg und Integration. Deutsch-Amerikaner und die Kriege der USA von 1861–65, 1898 und 1917–18
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34. Kritiken der Exklusion. Zum Phänomen sozialer Ausgrenzung im Feld neuerer Sozialtheorien 35. Kultur der Wunde. Zur visuellen Veralltäglichung des kulturellen Traumas in Serbien 36. Das kulturelle Gedächtnis der Stalinzeit 37. Kulturelle und interkulturelle Dimensionen des biographischen Porträts 38. Kulturelle Poetologie des Auftretens 39. Kulturtheorien des Gabentausches 40. Lady Teheran 41. Legalität und Legitimität politischer Gewalt 42. Die Lehre von den vier Säften 43. Lotman und die Kulturtheorie 44. Loyalitätskonzepte im modernen Europa 45. Luxus und Dekadenz. Kulturelle Grundlagen von Integration und Desintegration im alten Rom 46. Mediale Repräsentationen der Fatwah gegen Salman Rushdie 47. Die Modellierung von Zeitschichten an städtischen Orten der Transformation 48. Nachdenken über Gewissheit 49. Narrating Terror: Terrorism and the English Novel 50. Narrative Diaspora in der deutsch-türkischen Literatur und im deutsch-türkischen Film: Eine andere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte 51. Narrativität und der Wissenschaftsanspruch der Geschichtswissenschaft 52. Nationale Verwaltungen in der transnationalen Integration 53. Partisanenkampf zwischen nationalem Mythos und politischer Tabuisierung 54. The Past in the Present. Dimensions and Dynamics of Cultural Memory 55. Post-Hegemoniale Affektpolitik 56. Postsoziale Mechanismen der Integration 57. Prekäre Organisationen 58. La preocupació 59. Public narration of ›science scares‹ 60. Die »regulierte Selbstregulierung« in der angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Literatur 61. Reichsverwandlungen 62. Religion in der Differenz 63. Religiöse Spaltungslinien und der Klassenkompromiss in westlichen Demokratien 64. Religiöse Symbole im Russland der 1920er und 1930er Jahre 65. Risikoperzeptionen und Risikokommunikationsstrategien moderner Protektorate 66. Rome’s imperial discourse 67. Samenspender, Leihmütter, Retortenbabies 68. »[S]o real die Klasse ist, so sehr ist sie selber schon Ideologie« (Adorno) 69. Sozialkapitalwelten
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70. Soziale Marktwirtschaft – Wirtschaftswunder: Die Gründungsmythen der Bonner Republik in rechtshistorischer Analyse 71. Soziale Ordnung und Randgruppen in der Sowjetunion 72. Soziologischer Sentimentalismus und naturalistischer Roman 73. Die Sprache der Vernunft im aufklärungsfernen Raum 74. Sprache und Politik 75. Die Stadt als Zeit-Raum 76. Standards und Symbole. Transkulturelles Verwalten in modernen Protektoraten 77. Der subversive Stundenplan 78. Die Theokratie und ihre politischen Folgen 79. Terminologie und Rezeption neuer Regulierungsstrategien in einer globalisierten Welt 80. Ungleichheit, Identität und Konflikt 81. Visuelle Repräsentationen von Arbeit und Konsum als Integrationsstrategie in den ostdeutsch-sowjetischen Beziehungen (1953–1964) 82. Wandel und Beschleunigung 83. Wartezeiträume um 1900 84. »The Waste Land«: Transnational Moral Panics and Collective Identities 85. Wechsel-Geschichten: Zum Narrativ von Konversion und Kredit im 19. und 20. Jahrhundert 86. »Wir gewinnen im Kleinen, und verlieren im Großen.« Literarisierung von Geschichtsphilosophie um 1800 87. Wissenschaftliche Integrität im Kontext von Integration und Wettbewerb 88. Die Zeit der Reformation 89. Zeit-Maschinen im Kirchenraum. Die Produktion sakraler Zeiten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit 90. Zwischen globaler Sehnsucht und lokaler Angst: Eine Kultur- und Sozialgeschichte des Zirkus in Deutschland 91. Zwischen Tyrannis und Gottesgnadentum
Die konstellationistische Wissenschaftssteuerung erwartet nun, dass der Erkenntnisfortschritt aus der Kombination der einzelnen Teilprojekte sich als Synergie-Effekt einstelle und im Generalthema, der Meta-Erzählung, zusammenlaufe. Aus der Summe der Teilprojekte ergibt sich eine Antwort auf die Frage nach den kulturellen Grundlagen von Integration und Desintegration. Ist das realistisch? Ich vermute: in seinem General-Thema, der Meta-Erzählung von den kulturellen Grundlagen der Integration, wird der Cluster auf ganzer Länge scheitern, weil sich die Komplexität der theoretischen Fragestellung nicht anwendungsorientiert umsetzen und nur in abstrakten, entsprechend inhaltsleeren Begriffen zusammenfas101 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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sen lässt. Dass eine neue Supertheorie durch einen kollektiven Akteur geschaffen wird, ist eher unwahrscheinlich. In seinen Einzeluntersuchungen allerdings wird der Cluster durchaus spannende und innovative Ergebnisse in die einzelnen Fachwissenschaften einbringen und deren Spezialisierungsprozess weiter vorantreiben, allein schon durch den geforderten Output, die Masse der Publikationen, die andere dann wieder kennen und lesen müssen, um selbst zum Fortschritt beitragen zu können. In der Forschungspraxis löst sich die neo-tayloristische Vorstellung vom Synergieeffekt der Netzwerkforschung schnell auf, die Meta-Erzählungen degradieren zum Etikett, und übrig bleiben Kommunikationsakte zwischen denen, die sich verstehen, leiden können und nicht gerade Streit haben, kurz: die Situationen. Das hat es früher auch schon gegeben: Im Marburger Hause Max Kommerells entwickelte Rudolf Bultmann unter dem intellektuellen Einfluss der Kollegen die Entmythologisierungsthese, bei Max und Marianne Weber begann Ernst Bloch seinen Prophetengang durch die deutsche Wissenschaft.27 Aber, so mögen nun Wissenschaftsplaner und -politiker fragen, ist diese Desintegration wissenschaftlicher Kooperationsnetzwerke nicht ein typisches Phänomen geisteswissenschaftlicher Chaotentruppen? Die ersten empirischen Studien zur Begleitung ingenieurwissenschaftlicher Forschungsprojekte in Netzwerken weisen darauf hin, dass es hier ganz ähnliche Mechanismen gibt, die sich allerdings nur aus den Situationen herauslesen lassen. Jüngst hat die Soziologin Carmen Baumeler einen Artikel publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer ethnographischen Begleitstudie zur unternehmerischen Universität zusammenfasste. 28 Das Projekt, an einer angesehenen technischen Universität angesiedelt, umfasste Elektroingenieure, Informatiker, Bildwissenschaftler, Physiker und eine Soziologin. Ziel (Meta-Erzählung) des Projekts war, 27
Vgl. Hubert Treiber, Karol Sauerland (Hrsg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der »geistigen Geselligkeit« eines »Weltdorfes« 1850–1950, Opladen 1994. 28 Vgl. Carmen Baumeler, Entkopplung von Wissenschaft und Anwendung. Eine neo-institutionalistische Analyse der unternehmerischen Universität, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 38 (2009), S. 68–84.
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tragbare Computer herzustellen, die mit der alltäglichen Umgebung so verschmelzen, dass sie vom Anwender nicht mehr als eigene Apparate wahrgenommen werden, etwa indem sie in Kleidung integriert sind (»wearable computing«). Der Projektantrag enthielt ein wissenschaftliches Ziel, mehrere Promotionen, und ein anwendungsorientiertes, die Herstellung eines Demonstrators, also des Prototyps eines tragbaren Computers. Als die Gruppe mit der Arbeit begann, stellte sich schnell heraus, dass keiner der beteiligten Wissenschaftler die langweilige engineering-Arbeit übernehmen wollte, weil jeder sich für die nicht-anwendungsorientierten Fragen seiner Disziplin interessierte. Deshalb stellte man eigens einen Techniker als »Lötknecht« ein. Die wissenschaftlichen Arbeiten schritten gut voran, schon bald konnte man eine Serie von Artikeln vorweisen, die sich freilich alle mit Grundlagen- und Spezialfragen auseinandersetzten. In der Anwendung suchte der Projektleiter vergeblich nach einem Anwendungsszenario (etwa: Vorlesungsbrille, auf der mit Gesten die richtigen Folien aufgelegt, die Anwesenheitsliste gezeigt und Kontakt zu den Computern der Studenten hergestellt werden). Alle angepeilten Anwendungsszenarien erwiesen sich als nicht praktikabel oder wenig nützlich. Zur Halbzeit wurde das Projekt durch ein Audit evaluiert. Als Demonstrator wurde ein Gerät vorgeführt, das es erleichtern sollte, bei Konferenzen die Körperreaktionen der Anwesenden zu erfassen (Kopfschütteln) und im Ergebnisprotokoll zu verzeichnen. In der entscheidenden Sitzung der externen Audit-Kommission versagte der Demonstrator, das Programm kollabierte. Die Interdisziplinarität des Projektes wurde jedoch durch eine einheitliche Formatvorlage für die Power-Point-Folien demonstriert. Außerdem war der Wissenschaftler der Kommission nur an guten Dissertationen interessiert, der Vertreter der Wirtschaft an der Distribution des Wissens der Doktoranden, nicht aber am Demonstrator. Das Audit wurde vergeben, dem Projekt erfolgreiche Arbeit bestätigt. Gegen Ende des Projektes kamen jedoch erneut Überlegungen auf, den Demonstrator tatsächlich zu bauen: 1. sähe das im Lebenslauf der Studenten gut aus, 2. liefere man der Forschungskommission der Universität das erhoffte Erfolgszeichen, und 3. benötige 103 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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die Presseabteilung dringend ein vorzeigbares Ergebnis. So wurde ein handelsüblicher Kleincomputer gekauft und so umgerüstet, dass er als Assistent für Ärzte bei der Aufnahme von Patientengesprächen dienen konnte. Die Ärzte, die man dazu befragt hatte, beendeten jedoch die Zusammenarbeit aus Zeitmangel und weil sie den Sinn der wearable nicht erkannten. Die Beobachterin schließt: »Der Demonstrator avancierte damit zum Symbol der unternehmerischen Universität, die in Zeiten des Sparzwangs ein Artefakt in den Händen halten wollte, das den gesellschaftlichen Nutzen der gesamten Hochschule demonstrieren sollte.« 29 Wie wohl der Demonstrator in Konstanz aussehen wird? Jedenfalls würde sich eine ethnographische Begleitstudie zum Exzellenzcluster als qualitative Ergänzung der quantitativen Projektevaluation empfehlen. Die Beobachtung zeigt, dass das Leitbild der unternehmerischen Universität nicht nur in den Geisteswissenschaften die Struktur der formalen Anforderung, die Konstellationen, von den Aktivitäten innerhalb wissenschaftlicher Forschung, den Situationen, entkoppelt. Hier tut sich ein neuer Spalt auf, der Hiatus zwischen sinnvoller wissenschaftlicher Forschung und ihrer organisierten Dokumentation, Überprüfung und Steuerung. Ich schließe: Der Ideologiegehalt des Ökonomismus, d. h. der Hiatus zwischen Leitidee und sozialer Praxis, scheint höher zu sein als der des Humboldtianismus. Situationen, so meine Beobachtung, entfalten im Konstellationismus einen subversiven Charakter, sie unterwandern ihn. Aber: Ist man sich ihrer nicht bewusst, degradieren sie zu bloßen Störfaktoren. Das Leben vollzieht sich gegen die eigenen Intentionen, wird aber nicht geführt. Ich möchte am Ende auf das Eingangszitat von Max Weber zurückkommen und einerseits nach der sozialen Form, andererseits nach der inneren Haltung fragen, die beide Leitideen für Wissenschaft erzeugen. »Gib acht, wie du die Wirklichkeit deutest, sie wird so«, formulierte einmal Erich Heller. Das ist nicht konstruktivistisch zu verstehen, sondern handlungstheoretisch: Wir schaffen 29
Carmen Baumeler, Entkopplung von Wissenschaft und Anwendung, a. a. O., S. 80.
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uns unsere Welt. Die soziale Form des Humboldtianismus ist die akademische Geselligkeit, die innere Haltung die des Leidens an der Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Die soziale Form des Ökonomismus ist der instrumentell-strategische Umgang mit Normen, die Korruption, 30 die innere Haltung der Karrierezynismus. Ich ergänze Heller mit Weber: Gib acht, wie du die Wirklichkeit deutest, du wirst so. Gerade deshalb weiß ich, warum ich die Ideologie des Humboldtianismus der Ideologie des Ökonomismus vorziehe. Literatur Ash, Mitchell G. (Hrsg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien 1999. Baumeler, Carmen, Entkopplung von Wissenschaft und Anwendung. Eine neo-institutionalistische Analyse der unternehmerischen Universität, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 38 (2009), S. 68–84. Braun, Dietmar, Die politische Steuerung der Wissenschaft. Ein Beitrag zum »kooperativen Staat«, Frankfurt a. M. 1997. Héron, André, Der Taylorismus. Grundsätze, Methoden, Doktrin, in: Kursbuch, Bd. 43 (1976): Arbeitsorganisation – Ende des Taylorismus?, S. 1–11. Koschorke, Albrecht, Wissenschaftsbetrieb als Wissenschaftsvernichtung. Einführung in die Paradoxologie des deutschen Hochschulwesens, in: Dorothee Kimmich, Alexander Thumfart (Hrsg.), Universität ohne Zukunft?, Frankfurt a. M. 2004, S. 142–157. Maasen, Sabine, Weingart, Peter, Unternehmerische Universität und neue Wissenschaftskultur, in: Hildegard Matthies, Dagmar Simon (Hrsg.), Wissenschaft unter Beobachtung. Effekte und Defekte von Evaluationen (Leviathan, Sonderheft 24), Wiesbaden 2008, S. 141–160. Mikat, Paul, Schelsky, Helmut, Grundzüge einer neuen Universität. Zur Planung einer Hochschulgründung in Ostwestfalen, Gütersloh 1966. Mikl-Horke, Gertraude, Organisierte Arbeit. Einführung in die Arbeitssoziologie, München, Wien 1984. Paletschek, Sylvia, Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie, Bd. 10 (2002), S. 183–205. 30
Vgl. Tanjev Schultz, Fälschen und Forschen: Im Kampf um Gelder greifen Wissenschaftler zum Betrug, in: Süddeutsche Zeitung, 04. 05. 2009.
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Schelsky, Helmut, Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen Universität, Münster 1960. Schmitz, Hermann, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005. Schubert, Torben, New Public Management an deutschen Hochschulen. Strukturen, Verbreitung und Effekte, Stuttgart 2008. Schultz, Tanjev, Fälschen und Forschen: Im Kampf um Gelder greifen Wissenschaftler zum Betrug, in: Süddeutsche Zeitung, 04. 05. 2009. Treiber, Hubert, Sauerland, Karol (Hrsg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der »geistigen Geselligkeit« eines »Weltdorfes« 1850–1950, Opladen 1994. Weber, Max, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 5 1982, S. 582–613.
Quellen im Internet http://www.exc16.de/cms/344.html?&cHash=9aaefca2a1&tx_ttnews[backPid]= 265&tx_ttnews[day]=04&tx_ttnews[month]=12&tx_ttnews[tt_news]=33&tx_ ttnews[year]=2007 (Stand 18. 02. 2010). http://www.exc16.de/cms/forschungsfelder.html?&L=0 (Stand 18. 02. 2010). http://www.exc16.de/cms/forschungsprojekte.html (Stand 18. 02. 2010). http://www.exc16.de/cms/wiss-komponenten.html (Stand 18. 02. 2010). http://www.exc16.de/cms/wiss-konzept.html?&L=0 (Stand 18. 02. 2010).
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Verdrängung und (Wieder-)Entdeckung des Informellen und Impliziten in der Arbeitswelt Grenzen der Objektivierung und Formalisierung 1 Hermann Schmitz charakterisiert das konstruierende Denken als ein Denken, das darauf aus ist, möglichst viel zu zerlegen, um es in anderer Form wieder zusammensetzen zu können, sowohl in gedanklicher Arbeit als auch im technischen Herstellen. 2 Ich richte im Folgenden die Aufmerksamkeit vor allem auf Letzteres – verstehe dabei allerdings technisches Herstellen in einem eher umfassenden Sinn als praktisches Handeln und Gestalten. Mein empirischer Gegenstand ist die Welt der Arbeit, genauer die industrielle Arbeit – aber auch hier in einem umfassenden Verständnis. Es bezieht sich nicht nur auf Produktionsarbeit, sondern auch auf Dienstleistungsund Wissensarbeit. Ein wesentliches Merkmal des »Industriellen« ist in diesem Verständnis die systematische Organisation und Technisierung der Arbeit auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und Verfahren. Sowohl in der Vergangenheit als auch Gegenwart findet das konstruierende Denken bei der Organisierung und Technisierung von Arbeit in besonderer Weise eine praktische Anwendung. Doch je »erfolgreicher« dies geschieht, umso mehr gerät zugleich das vom konstruierenden Denken Ausgeblendete und Verdrängte in den Blick. Ich beziehe mich dabei auf empirische und theoretische Untersuchungen zur Rolle des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns und der informellen Kooperation und werde versuchen, Zusammenhänge zwischen den Ergebnissen dieser Untersuchungen und der Neuen Phänomenologie von Schmitz aufzuzeigen. 1
Für Diskussion und Hinweise auf die Schriften von Hermann Schmitz danke ich Dirk Fross sowie Walter Burger. 2 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Hermann Schmitz.
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Fritz Böhle
I. Verwissenschaftlichung von Arbeit und konstruierendes Denken Trotz unterschiedlicher Analysen und Einschätzungen der industriell-kapitalistischen Produktionsweise besteht doch in einer Hinsicht weitgehend Einigkeit: Einer ihrer wesentlichen Unterschiede gegenüber der vorindustriellen landwirtschaftlichen und handwerklichen Produktion besteht in der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Verfahren. In der Tradition der Aufklärung wird die Entwicklung und gesellschaftliche Anerkennung der neuzeitlichen (Natur-)Wissenschaften zumeist als Ablösung von der Vorherrschaft von Religion und Kirche gedeutet. Die neuzeitlichen (Natur-)Wissenschaften treten aber gleichermaßen auch in Konkurrenz zu dem im praktischen Handeln gewonnenen technischinstrumentellen Wissen. In der Antike und (noch) im Mittelalter sowie auch in anderen Kulturen war demgegenüber Wissenschaft von der materiellen Produktion abgesondert. 3 Die für Landwirtschaft und Handwerk notwendigen Kenntnisse und Verfahren wurden dementsprechend von jenen erworben und weitergegeben, die unmittelbar darin eingebunden und hierfür zuständig waren. Zu dem im Handwerk wie auch in der Landwirtschaft traditionell entwickelten Erfahrungswissen existieren kaum Aufzeichnungen, da es nicht dokumentiert wurde. 4 Doch die wenigen Hinweise, die hier vorliegen, machen auf teils erstaunliche Leistungen der sinnlichen Wahrnehmung aufmerksam: So wurde beispielsweise von einem Hufschmied gefordert, dass er allein am Klappern der Hufe eines Pferdes ohne Ansehen des Pferdes die Größe des Hufeisens bestimmen kann. 5 Untersuchungen über den Gebrauch der »niederen« Sinne wie das Riechen verweisen auf ihre traditionelle Bedeutung als Orientierungshilfe. So wurden tierische und menschliche Exkremente beispielsweise im ländlichen Bereich 3
Vgl. Richard Münch, Die Struktur der Moderne, Frankfurt a. M. 1992, S. 212 ff. Vgl. Gerhard Timmermann, Handwerk, Volkstechnik und Ingenieurtechnik und ihre gegenseitigen Beziehungen, in: Technikgeschichte, Bd. 37 (1970), S. 130–145, S. 132. 5 Vgl. Frank Siebeck, Arbeitserfahrung als berufsfeldwissenschaftliche Kategorie in der chemiebezogenen Berufsbildung, Dresden 1999. 4
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Verdrängung und (Wieder-)Entdeckung des Informellen und Impliziten
nicht nur als Düngemittel, sondern auch als Medizin verwendet. Ihr Geruch wurde keineswegs als unangenehm oder Ekel erregend empfunden. 6 Noch im 18. Jahrhundert zählte es zu einer wichtigen Kompetenz von Ärzten, den gesunden oder krankhaften Zustand des Körpers nach dem Geruchssinn zu beurteilen. Für den Besuch am Krankenbett musste der Arzt gelernt haben, »mit Überlegung zu riechen«. Vor allem auf dem Land konnte die Bevölkerung dem Arzt über Veränderungen des Geruchs von Schweiß, Exkrementen usw. berichten.7 Auch der Tastsinn spielte eine wichtige Rolle. So war es üblich, menschliche Organe aus Wachs nachzubilden, um sie auf diese Weise mit den Händen erfühlen und begreifen zu können. 8 Des Weiteren ist für technische Leistungen auf der Grundlage praktischer Erfahrungen der Brückenbau ein gut belegtes Beispiel. Noch bis zum 18. Jahrhundert wurden Brücken ohne ingenieurwissenschaftliche Kenntnisse und Hilfsmittel gebaut, und ein wesentlicher Anstoß für die Verwissenschaftlichung waren nicht primär Mängel handwerklichen Wissens und Könnens, sondern das Bedürfnis städtischer und staatlicher Auftraggeber nach einer Absicherung ihrer Aufträge. Ingenieurwissenschaftliche Kenntnisse schienen eher als Beweis der Zuverlässigkeit geeignet, da sie in anderer Weise mitteilbar sind als das in praktisches Handeln eingebundene Erfahrungswissen. 9 Ein weiteres bekanntes Beispiel für die Leistungen des handwerklichen Erfahrungswissens ist die Auseinandersetzung zwischen den lombardischen Baumeistern und den wissenschaftlich orientierten Ingenieuren beim Bau des Mailänder Doms, der zu Gunsten der praktischen Handwerker aus6
Vgl. Carmen Thomas, Ein ganz besonderer Saft – Urin, München 1993, S. 12 ff., S. 97 ff. 7 Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984, S. 58 ff. 8 Vgl. Sabine Weishaupt, Körperbilder und Medizintechnik. Die Verwissenschaftlichung der Medizin und ihre Grenzen, in: ISF München u. a. (Hrsg.), Jahrbuch Sozialwissenschaftliche Technikberichterstattung 1994, Schwerpunkt: Technik und Medizin, Berlin 1994, S. 239–262, S. 242 f. 9 Vgl. Ulrich Wengenroth, Brücken in die Moderne, in: Ulrich Beck, Martin Mulsow (Hrsg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, Frankfurt a. M. 2010 (im Druck).
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ging. 10 Schließlich wurden aber ebenso technische Entwicklungen, trotz Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften und ihres Anspruchs auf Nützlichkeit, sowohl vor wie auch noch nach der industriellen Revolution überwiegend auf der Basis praktischen Erfahrungswissens hervorgebracht.11 Zumeist erklärten die Wissenschaften erst »neue Technologien im Nachhinein«.12 Auch in der industriellen Produktion, die gemeinhin als Domäne des wissenschaftlich-technischen Fortschritts gilt, war praktisches Erfahrungswissen eine wichtige Grundlage für sowohl technische Entwicklungen als auch die Beherrschung von Produktionsprozessen. Das gilt für die eher handwerklich geprägten Branchen des Maschinenbaus 13 ebenso wie im Hinblick auf die so genannten Science-BasedIndustries, z. B. die chemische Industrie. 14 Bemerkenswert ist im Rahmen von Untersuchungen zum Verhältnis von Handwerk und Ingenieurtechnik in der frühen Neuzeit die Feststellung, dass zwar der »Handwerker bei seinem Schaffen die von der Natur gegebenen Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen« muss – »er tut das aber rein gefühlsmäßig, ohne im Allgemeinen ihre genauen zahlenmäßigen Zusammenhänge zu kennen«15 . Die Verwissenschaftlichung von Arbeit wird zumeist mit Technisierung assoziiert, da Technik in besonderer Weise für die prakti10
Vgl. Serge Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt a. M. 1982, S. 224 ff. 11 Vgl. Ulrich Wengenroth, Zur Differenz von Wissenschaft und Technik, in: Daniel Bieber (Hrsg.), Technikentwicklung und Industriearbeit, Frankfurt a. M., New York 1997, S. 141–151, S. 141 ff. 12 Wolfgang Krohn, Die Verschiedenheit der Technik und die Einheit der Techniksoziologie, in: Peter Weingart (Hrsg.), Technik als sozialer Prozess, Frankfurt a. M. 1989, S. 15–43, S. 32. 13 Vgl. Peter Kalkowski, Otfried Mickler, Fred Manske, Technologiestandort Deutschland. Produktinnovation im Maschinenbau. Traditionelle Stärken, neue Herausforderungen, Berlin 1995 und Wolfgang König, Konstruieren und Fertigen im deutschen Maschinenbau unter dem Einfluß der Rationalisierungsbewegung. Ergebnisse und Thesen für eine Neuinterpretation des »Taylorismus«, in: Technikgeschichte, Bd. 56 (1989), S. 183–204, S. 189 ff. 14 Vgl. Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1989. 15 Gerhard Timmermann, Handwerk, Volkstechnik und Ingenieurtechnik und ihre gegenseitigen Beziehungen, a. a. O., S. 133.
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sche Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis steht. In der Entwicklung industrieller Arbeit wurde aber nicht nur die Technisierung, sondern vor allem auch die Organisierung von Arbeit zu einem besonderen Anwendungsfeld von Wissenschaft. Paradigmatisch hierfür ist die von dem Ingenieur Frederick Winslow Taylor entwickelte und zunächst in der Automobilindustrie angewandte und weiterentwickelte »wissenschaftliche Betriebsführung«. Taylor verband damit explizit das Ziel, die »Faustformel der Arbeiter« in (ingenieur-)wissenschaftlich begründete Verfahren zu transformieren. 16 Die wissenschaftliche Betriebsführung zeigt anschaulich, in welcher Weise sich die Verwissenschaftlichung nicht nur auf die praktische Anwendung rational begründeten Wissens beschränkt. Es vollzieht sich damit auch eine tiefgreifende Umstrukturierung praktischen Handelns nach Maßgabe eines planmäßig objektivierenden Handelns. 17 Einen unmittelbar sichtbaren Ausdruck findet dies in der Trennung von geistig-planender und körperlich-ausführender Arbeit sowie der Unterordnung der Letzteren unter Erstere. Zugleich wird dabei aber auch die körperliche Arbeit nach Maßgabe wissenschaftlicher Analysen und Verfahren neu gestaltet. Zumeist beschränken sich die hierauf bezogenen Beschreibungen auf das Prinzip der Arbeitszerlegung (Arbeitsteilung) einerseits und Standardisierung einzelner Arbeitsvollzüge andererseits. Max Weber hat demgegenüber – bereits im Anfangsstadium der wissenschaftlichen Betriebsführung – sehr viel präziser die sich damit vollziehende Umgestaltung des Arbeitshandelns beschrieben. Eine Schilderung, die in besonderer Weise die Praxis des konstruierenden Denkens veranschaulicht: »Hier wird der psychophysische Apparat des Menschen völlig den Anforderungen, welche die Außenwelt, das Werkzeug, die Maschine, kurz die Funktion an ihn stellt, angepaßt, seines, durch den eigenen organischen Zusammenhang 16
Frederick Winslow Taylor, Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, München 1919. 17 Siehe hierzu allgemein auch Fritz Böhle, Wissenschaft und Erfahrungswissen. Erscheinungsformen, Voraussetzungen und Folgen einer Pluralisierung des Wissens, in: Stefan Böschen, Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 143–177, S. 154 ff.
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gegebenen, Rhythmus entkleidet und unter planvoller Zerlegung in Funktionen einzelner Muskeln und Schaffung einer optimalen Kräfteökonomie den Bedingungen der Arbeit entsprechend neu rhythmisiert.« 18 Pointiert stellt Weber fest, »die Betriebsdisziplin beruht […] hier völlig auf rationaler Basis, sie kalkuliert zunehmend, mit Hilfe geeigneter Messungsmethoden, den einzelnen Arbeiter ebenso, nach seinem Rentabilitätsoptimum, wie irgendein sachliches Produktionsmittel« 19 . In einer ähnlichen Weise deutet der Nationalökonom Werner Sombart – ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die Verwissenschaftlichung industrieller Produktion als »Herauslösung aus organischer Gebundenheit«20 . Die wissenschaftliche Betriebsführung zerlegt nicht nur die einzelnen Arbeitstätigkeiten und fügt sie neu zusammen. Es geschieht dies in gleicher Weise auch mit dem Zusammenwirken, der Kooperation zwischen den einzelnen Arbeiten. Nicht nur im Handwerk, sondern auch in den Manufakturen des frühen 19. Jahrhunderts erfolgte sowohl die Gestaltung der einzelnen Arbeitstätigkeiten als auch der Kooperation zwischen ihnen durch die Arbeiter selbst. Mit der wissenschaftlichen Betriebsführung geschieht demgegenüber sowohl die Teilung der Arbeit als auch deren Zusammenfügen und Koordination »von außen« durch das Management und erhält ihren Ausdruck in der Organisation und Technik. Karl Marx beschrieb dies am Beispiel der Maschinerie als eine Entwicklung, durch die »der kooperative Charakter des Arbeitsprozesses« eine »durch die Natur des Arbeitsmittels selbst diktierte technische Notwendigkeit« 21 wird. Und auch hier wiederum findet sich ein anschaulicher Verweis auf die praktischen Wirkungen des konstruierenden Denkens: Das »subjektive Prinzip der Teilung fällt weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier objektiv, an und für sich betrachtet, in seinen konstituierenden Phasen analysiert, und das Problem, jeden Teilprozeß auszuführen und die 18
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln, Berlin 1956/1964, S. 873. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, a. a. O., S. 873 20 Werner Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 1919, S. 34 ff. 21 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I (= MEW, Bd. 23), Berlin 1972, S. 407. 19
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verschiednen Teilprozesse zu verbinden, durch technische Anwendung der Mechanik, Chemie usw. gelöst« 22 . Sowohl einzelne Arbeitstätigkeiten als auch die betriebliche Organisation insgesamt nehmen dabei zunehmend den Charakter der von Schmitz beschriebenen Konstellationen an. Einzelne Arbeitstätigkeiten und übergreifende Arbeits- und Produktionsprozesse werden (erst) in einzelne Elemente zerlegt, um (dann) in neuer Weise verbunden zu werden. Der Betrieb wird damit zu einem »Geflecht von einzelnen Sachen«23 . Mit diesen Entwicklungen verbindet sich ein Verständnis von Arbeit als eines planmäßig-objektivierenden Handelns. Arbeit vollzieht sich demnach nach Maßgabe einer geistigen Analyse und Planung und darauf beruhender praktischer Durchführung. Letztere hat den Rang der bloßen Ausführung oder bestenfalls Überprüfung und Korrektur vorangegangener Entscheidungen und Planungen. Dem Körper und den Sinnen kommt in einem solchen Handeln nur ein untergeordneter Stellenwert zu. Sie dienen nur zur Ausführung und Durchführung von Handeln. Das eigentlich Menschliche der Arbeit ist der geistige Anteil. Die Ersetzung körperlicher Anstrengung durch Technik erscheint dementsprechend als eine Befreiung von der Mühsal der Arbeit. Dass Arbeit hierdurch ggf. auch noch von Anderem »befreit« wird, kommt nicht in den Sinn. Soweit die geistige Entscheidung und Planung des Arbeitshandelns auf sinnliche Wahrnehmungen angewiesen ist, beschränken diese sich – ähnlich wie technische Instrumente – auf möglichst eindeutig und exakt definierbare sowie verstandesmäßig erfassbare Eigenschaften konkreter Gegebenheiten. Quantifizierund Messbares ebenso wie Regelhaftes entsprechen dem am ehesten. 24 Ein solches Verständnis von Arbeit veranschaulicht geradezu exemplarisch die von Hermann Schmitz als Merkmal westlichen Denkens herausgestellte sensualistische Reduktion und die damit 22
Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, a. a. O., S. 401. Vgl. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 27. 24 Siehe speziell hierzu ausführlicher auch Fritz Böhle, Vom Objekt zum gespaltenen Subjekt, in: Manfred Moldaschl, Gerd Günter Voß (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit, Bd. 2, München 2003, Abschnitt 3.3 (Implikationen zweckrationalen Handelns). 23
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korrespondierende Introjektion. Die Außenwelt in Gestalt von Werkzeugen und Technik, Organisation, Materialien wie auch Kollegen und Vorgesetzten erscheint nur soweit als handlungsrelevant, als sich ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen »auf wenige Klassen standardisierbarer Merkmale, die leicht identifizierbar, quantifizierbar und manipulierbar sind« 25 , beschränken. Alles, was sich dem nicht unmittelbar einfügt, erscheint nur mehr als »bloß subjektiv« und wird in eine eigens dafür konstruierte Innenwelt verschoben. »Alles Atmosphärische, Eindruckshafte, das den Menschen ergreift oder zumindest eigentümlich berührt, fällt von diesen Konturen ab« 26 . Dem entspricht »z. B. die Umdeutung der Wärme in eine ›bloß subjektive‹ Empfindung, als deren objektives Äquivalent etwa das Steigen der Quecksilbersäule an der durch primäre Sinnesqualitäten markierten Temperaturskala des Thermometers in Frage kommt« 27 . Obwohl die wissenschaftliche Betriebsführung in ihren Wirkungen für die Arbeitenden von Anfang an sowohl von den Gewerkschaften als auch von den Human- und Sozialwissenschaften massiv kritisiert wurde, bestand zugleich kaum ein Zweifel an ihrer praktischen Realisierbarkeit und Wirksamkeit. Praktische Erfahrungen wie auch Untersuchungen, die trotz aller Verwissenschaftlichung und Planung auf eine notwendige »Selbsttätigkeit« der Arbeitenden hinwiesen, wurden kaum beachtet und bestenfalls als Indiz für eine »noch« nicht vollzogene Verwissenschaftlichung gewertet 28 . In der organisationswissenschaftlichen Forschung wurden zwar informelle Beziehungen unterhalb und neben der formellen Organisation entdeckt und als ein substanzieller Bestandteil formaler Organisation ausgewiesen, jedoch mit einer nicht unbedeuten25
Hermann Schmitz, Wozu Neue Phänomenologie?, in: Michael Großheim (Hrsg.), Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion, Berlin 1994, S. 7–18, S. 10. 26 Hermann Schmitz, Wozu Neue Phänomenologie?, a. a. O., S. 10. 27 Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 6. 28 Vgl. hierzu beispielsweise die Untersuchung von Thomas Konrad, Die betriebliche Situation der Arbeiter, Stuttgart 1964 und – hierauf Bezug nehmend – Harald Wolf, Arbeit und Autonomie. Ein Versuch über Widersprüche und Metarmophosen kapitalistischer Produktion, Münster 1999.
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den Akzentuierung: Das Informelle ist in dieser Sicht Resultat des menschlichen Bedürfnisses nach sozialen Kontakten, wohingegen es in seiner sachlich-funktionalen Wirkung nicht – oder wenn, dann mit Skepsis – beurteilt wird 29 . Vor allem in den Humanund Sozialwissenschaften wurde die Trennung zwischen geistig-planender und körperlich-ausführender Arbeit zu einem zentralen Kritikpunkt. Sie wurde zum Indiz für die Deformation und Inhumanität industrieller (Produktions-)Arbeit. Gleichwohl war dabei aber als Referenzfolie für die Kritik auch hier ein Verständnis von Arbeit als eines wissenschaftlich geleiteten planmäßig-objektivierenden Handelns leitend. 30 In einem Klassiker der industriesoziologischen Forschung der 50er Jahre werden dementsprechend in der Hoffnung auf die Befreiung von körperlicher Mühsal durch Technik die Auswirkungen der Technisierung bei qualifizierter Facharbeit wie folgt gedeutet: »Das Kennzeichen der Dreharbeit ist, daß in ihr die technische Einrichtung voll objektiviert wird. […] Wenn ein Dreher seine Arbeit rasch und gut erledigt, so ist dies in erster Linie darauf zurückzuführen, daß er die richtige Arbeitsmethode gewählt hat, und daß sich in seinen Bearbeitungsplan kein Denkfehler und keine Denkflüchtigkeiten eingeschlichen haben. […] Das Gefühl des Schmiedes nützt ihm wenig.« 31 Doch fast 50 Jahre später wird deutlich, dass durch die Technisierung zwar körperliche Anforderungen und Belastungen reduziert wurden, das »Gefühl« aber nach wie vor eine wichtige Rolle im Umgang mit Technik spielt. Bevor dies nachher ausgeführt und erläutert wird (III), noch einige An29
Siehe hierzu als Überblick: Fritz Böhle, Annegret Bolte, Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit Kooperation im Arbeitsalltag, Frankfurt a. M., New York 2002, S. 36 ff. 30 Siehe zum Verhältnis zwischen Verwissenschaftlichung und planmäßig-rationalem Handeln ausführlicher: Fritz Böhle, Wissenschaft und Erfahrungswissen, a. a. O., S. 154 f. Siehe zum Konzept planmäßig-rationalen Handelns in der arbeitsund industriesoziologischen Forschung ausführlicher: Fritz Böhle, Arbeit als Handeln, in: ders., Gerd Günther Voß, Günter Wachtler (Hrsg.), Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2009, S. 151–176. 31 Heinrich Popitz, Hans Paul Bahrdt, Ernst August Jüres, Hanno Kesting, Technik und Industriearbeit. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie, Tübingen 1957, S. 136 f.
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merkungen zum aktuellen Wandel von Arbeit durch neue Organisationskonzepte. II. Neue Organisationskonzepte – Ende oder Kontinuität konstruierenden Denkens Seit Mitte der 1980er Jahre vollziehen sich in der industriellen Arbeitswelt Veränderungen, die vor allem in der Managementliteratur als ein »Ende des Taylorismus« tituliert werden. Weithin unerwartet und überraschend scheint sich die Trennung von geistig-planender und körperlich-ausführender Arbeit aufzulösen: Zum einen scheint Arbeit insgesamt zur geistigen Wissensarbeit zu werden, zum anderen werden traditionelle Aufgaben des Managements nun nach »unten« auf die Mitarbeiter verlagert. Selbstverantwortung und Selbststeuerung werden zu neuen Anforderungen. Die traditionelle Kritik an der industriellen Arbeit scheint sich dadurch quasi von selbst zu erledigen. 32 Sieht man die wesentlichen Merkmale der wissenschaftlichen Betriebsführung in der Trennung zwischen geistig-planender und körperlich-ausführender Arbeit sowie der Arbeitszergliederung und Standardisierung einzelner Arbeitsvollzüge, so vollzieht sich ohne Zweifel durch mehr Selbstverantwortung, komplexe Arbeitsaufgaben und Flexibilität ein weit reichender Wandel. Sieht man jedoch in der wissenschaftlichen Betriebsführung eine besondere Erscheinungsform des konstruierenden Denkens und des Reduktionismus, so zeigt sich in diesem Wandel zugleich eine bemerkenswerte Kontinuität. Sie wird allerdings nur dann erkennbar, wenn nicht nur neue Formen der Arbeitsorganisation, wie beispielsweise Gruppen- und Projektarbeit, sondern auch neue Formen der Steuerung und Kontrolle von Arbeit beachtet werden. Diese richten sich vor allem darauf, selbstverantwortliches und selbstgesteuertes Ar-
32
Siehe zu diesen Entwicklungen aus arbeitssoziologischer Sicht: Manfred Moldaschl, Gerd Günter Voß (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit, Bd. 2, München 2003.
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beitshandeln an objektivierbare und formalisierbare Standards zurückzubinden. Neben und an Stelle technisch-organisatorischer Sachzwänge und Anweisungen durch Vorgesetzte tritt die Steuerung durch Kennzahlen. Seinen konkreten Ausdruck findet dies in informationstechnisch gestützten Steuerungs- und Planungsinstrumenten wie beispielsweise ERP-Systemen (Enterprise Ressource Planning). Hierdurch werden Kennzahlen als Richtgrößen für das Arbeitshandeln vorgegeben und dessen Ergebnisse in Zahlen erfasst, womit ein permanenter Soll-Ist-Vergleich möglich wird. Kontrolle und Steuerung richten sich damit vor allem auf Rahmenbedingungen und Ergebnisse der Arbeit. Sie werden daher in der arbeitssoziologischen Forschung auch als Kontextsteuerung 33 oder »indirekte Steuerung« 34 bezeichnet. Neben Rahmenbedingung und Ergebnis erfolgt aber auch ein Einfluss auf die konkrete Gestaltung der Arbeit. Dies geschieht über die Festlegung von Verfahrensweisen, deren konkrete Anwendung zwar offen ist, an denen es sich aber gleichwohl im konkreten Fall zu orientieren gilt. In der Praxis wird dies zumeist als Standardisierung bezeichnet; es handelt sich jedoch genau gesehen um eine flexible Standardisierung oder – allgemein ausgedrückt – Formalisierung. Vielfach, nahezu unmerklich geschieht dies über neue Informations- und Kommunikationstechnologien. Auch wenn im Umgang mit diesen Technologien Handlungsspielräume bestehen und teils sogar erweitert werden – wie z. B. bei der Arbeit am PC –, werden einzelne Verfahrensweisen dem Benutzer vorgegeben. Auf diese Weise lassen sich, auch ohne direkte Arbeitsanweisungen, Arbeitsprozesse steuern und auf dem Wege datentechnischer Aufzeichnung darüber hinaus kontrollieren. Dabei sind – als ein weiterer Unterschied zu den traditionellen 33
Manfred Moldaschl, Internalisierung des Marktes. Neue Unternehmensstrategien und qualifizierte Angestellte, in: ISF-München u. a. (Hrsg.), Jahrbuch sozialwissenschaftliche Technikberichterstattung 1997. Schwerpunkt: Moderne Dienstleistungswelten, Berlin 1998, S. 197–250. 34 Klaus Peters, Dieter Sauer, Indirekte Steuerung – Eine Herrschaftsform. Zur revolutionären Qualität des gegenwärtigen Umbruchprozesses, in: Hilde Wagner (Hrsg.), »Rentier’ ich mich noch?« Neue Steuerungskonzepte im Betrieb, Hamburg 2005, S. 23–58.
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Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung – die Beschäftigten keineswegs nur in einer passiven Opferrolle gegenüber der Steuerung und Kontrolle ihrer Arbeit. Wesentlich ist vielmehr, dass sie nun auch aktiv hierin einbezogen sind und hierzu beizutragen haben. Kennzahlen werden als Orientierungsgrößen für das eigene Arbeitshandeln nicht nur registriert, sondern die Steuerung durch Kennzahlen verwandelt Beschäftigte »in Recheninstanzen, die selbstgängig weiter- und gegenrechnen«35 . Besonders deutlich wird die aktive Rolle der Beschäftigten in der Verpflichtung zur Dokumentation ihrer Arbeit und – beispielsweise bei der Projektarbeit – Darlegung und Begründung der Vorgehensweisen und Problemlösungen. Vor allem im Rahmen des Qualitätsmanagements gilt die laufende Dokumentation als Garantie für die Einhaltung festgelegter Standards sowie deren Nachvollziehbarkeit »von außen«. Und schließlich beruhen auch unterschiedliche personalpolitische Instrumente wie Mitarbeitergespräche, Personalbeurteilung und Zielvereinbarungen auf einer Objektivierung, Formalisierung von Arbeitsleistung, Arbeitszielen und Kompetenzen. Da die Arbeitenden somit selbst in die Objektivierung und Formalisierung ihres Arbeitshandelns eingebunden sind und dazu beitragen müssen, lässt sich dies auch als Kontrolle und Steuerung durch eine Selbstobjektivierung beschreiben. 36 Das konstruierende Denken zeigt sich hier vor allem in der Abbildung und Verdoppelung konkreter Arbeitsabläufe und Prozesse durch Informationen, insbesondere in Form von Zahlen. Diese werden quasi zu einer eigenen Realität, in der sich einzelne Elemente weitgehend ungehindert von ihrer konkreten Einbindung isolie35
Hendrik Vollmer, Folgen und Funktionen organisierten Rechnens, in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 33 (2004), S. 450–470, S. 461. 36 Siehe hierzu und zum Vorangegangenen ausführlicher: Fritz Böhle, Sabine Pfeiffer, Stephanie Porschen, Nese Sevsay-Tegethoff, Herrschaft durch Objektivierung. Zum Wandel von Herrschaft in Unternehmen, in: Wolfgang Bonß, Christoph Lau (Hrsg.), Herrschaft der Uneindeutigkeit, Weilerswist 2010 (im Druck) sowie Sabine Pfeiffer, Arbeitsvermögen. Ein Schlüssel zur Analyse reflexiver Informatisierung, Wiesbaden 2004, S. 195 ff. und dies., Montage und Erfahrung. Warum ganzheitliche Produktionssysteme menschliches Arbeitsvermögen brauchen, München 2007, S. 47 ff.
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ren, manipulieren und kombinieren lassen. In besonders markanter Weise kommt dabei der Reduktionismus bei der Steuerung durch Kennzahlen zum Vorschein. Er dominiert in gleicher Weise aber auch bei der Festlegung formalisierter Verfahren, der Dokumentation, Zielvereinbarung und Leistungsbeurteilung. Was zählt, ist auch hier nur das, was messbar, eindeutig definierbar und in Algorithmen formulierbar ist. Soweit bisher die geschilderten Entwicklungen kritisch reflektiert werden 37 , bleibt dies – ganz ähnlich wie bei der Kritik der wissenschaftlichen Betriebsführung – überwiegend in den Prämissen der Objektivierung und Formalisierung verfangen. Das NichtObjektivierbare und Nicht-Formalisierbare entzieht sich nur allzu leicht gerade auch der human- und sozialwissenschaftlichen Analyse. Die Annahme, dass damit die Einflussfaktoren und Wirkungszusammenhänge, von denen die Funktionalität konkreter technischer und organisatorischer Prozesse abhängt, sich vollständig objektivieren und formalisieren lassen, wird kaum in Frage gestellt. Doch um zu erkennen, dass und weshalb die mit der Objektivierung und Formalisierung verbundenen Ansprüche und Versprechungen nicht einlösbar sind, bedarf es eines konzeptuellen Zugangs, der nicht selbst wiederum, trotz aller kritischen Reflexion, letztlich hierauf beruht. III. Grenzen der Objektivierung und Formalisierung – Ein neuer Blick auf Arbeit, Technik und Organisation Ich möchte nun Ergebnisse von Untersuchungen vorstellen, in denen versucht wurde, einen neuen Blick auf das Nicht-Objektivierbare und Nicht-Formalisierbare zu entwickeln, und zwar sowohl beim menschlichen Arbeitshandeln als auch bei technischen und 37
Z. B. bei Klaus Peters, Dieter Sauer, Indirekte Steuerung – Eine Herrschaftsform, a. a. O., S. 23–58 und Uwe Vormbusch, Accounting. Die Macht der Zahlen im gegenwärtigen Kapitalismus, in: Berliner Journal für Soziologie, Bd. 14 (2004), S. 33–50 sowie Hilde Wagner (Hrsg.), »Rentier’ ich mich noch?« Neue Steuerungskonzepte im Betrieb, Hamburg 2005.
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organisatorischen Prozessen. Dabei geht es – im Unterschied zu einer vorherrschenden Lesart – nicht darum aufzuzeigen, dass es auch (oder selbst) in der Arbeitswelt nicht immer so rational und technisch zugeht, wie dies gemeinhin angenommen wird. Dies wäre genau gesehen auch keine neue Erkenntnis. Wesentlich ist vielmehr, das »Andere« nicht nur wahrzunehmen, sondern es vor allem »anders« als bisher wahrzunehmen. Dies heißt vor allem zu erkennen, dass Arbeit ebenso wie Technik und Organisation nicht nur in dem besteht, was sich objektivieren und formalisieren lässt, und dass, was sich dem entzieht, von substantieller Bedeutung sowohl für die Leistungen menschlicher Arbeit als auch Funktionalität technisch-organisatorischer Prozesse ist. Ich möchte dies an zwei Beispielen näher ausführen: Der Arbeit mit hochtechnisierten Maschinen und Anlagen einerseits und der Kooperation im Rahmen von Gruppen und Teamarbeit sowie der Abstimmung zwischen verschiedenen Teilbereichen und -prozessen in Unternehmen andererseits. Ich werde dabei jeweils Ergebnisse der hierzu vorliegenden Untersuchungen vorstellen und diese dann nochmals unter Bezug auf die Arbeit und Erkenntnisse von Hermann Schmitz interpretieren und weiterführen. III.1 Bewältigung von Unwägbarkeiten hochtechnisierter Systeme Mit der Weiterentwicklung der Informatik und Mikroelektronik ergaben sich seit Mitte der 80er Jahre neue Anstöße und Möglichkeiten zur Technisierung und Automatisierung. Zum Gegenstand der Technisierung wurde nun vor allem die Steuerung technischer Abläufe. An die Stelle weitgehend starrer maschineller Abläufe, wie bei Automaten oder der menschlichen Steuerung von maschinellen Abläufen, trat nun die Programmierung. Sie eröffnete eine bis dahin nicht bekannte Verbindung von Automatisierung und Flexibilität sowie technische Beherrschung komplexer Wirkungszusammenhänge im Unterschied zu einfachen mechanistischen Gesetzmäßigkeiten. Menschliche Arbeit schien nun bei der Bearbeitung und Umwandlung physikalischer und chemischer Materialien weitgehend technisch ersetzbar (die Diagnose und Prognose einer Er120 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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setzung industrieller Produktionsarbeit durch Wissensarbeit oder gar die Ersetzung von Arbeit durch Wissen gehen explizit oder implizit von einer solchen Entwicklung industrieller Produktionsarbeit aus). Doch entgegen solchen Diagnosen und Prognosen wird menschliche Arbeit bei fortschreitender Technisierung und Automatisierung keineswegs überflüssig, sondern erhält einen neuen Stellenwert. 38 Wie sich in der Praxis zeigt, gelingt es nicht, die komplexen Wirkungszusammenhänge hochtechnisierter Produktionsanlagen vollständig wissenschaftlich zu durchdringen und informationstechnisch zu erfassen und abzubilden. Es ist dies bestenfalls bei – in ihrer Funktion und Wirkungsweise stark eingegrenzten – Automaten und unter stabilen und kontrollierbaren Rahmenbedingungen, wie sie im Labor gegeben sind, lösbar. Demgegenüber wird z. B. die Wirkungsweise komplexer technischer Anlagen in der chemischen Industrie, die im Freien stehen, durch die Witterung und Temperatur beeinflusst (sie reagieren im Winter anders als im Sommer). Charakteristisch für hochtechnisierte Anlagen sind daher Unwägbarkeiten, die weder antizipierbar noch wissenschaftlich-technisch beherrschbar sind. Ihre Ursachen liegen in der Vielzahl und laufenden Veränderung von sowohl externen als auch internen Einflussgrößen. Diese reichen von Qualitätsunterschieden bei (gleichen) Materialien und nicht-linearen, nicht gesetz- und regelmäßigen Wirkungszusammenhängen bis hin zu Verschleißerscheinungen und Verschmutzungen an Ventilen, Reglern wie auch Sensoren. Es wird daher zu einer wichtigen Aufgabe menschlicher Arbeit, solche Unwägbarkeiten zu bewältigen. Dies ist allerdings vielfach (noch) eine Anforderung an menschliche Arbeit, die aus der Sicht des Managements kaum gesehen und offiziell definiert ist. Die hier maßgeblichen menschlichen Leistungen bleiben gerade in dem Maße, wie sie erfolgreich sind, zumeist unsichtbar. Es entsteht »von außen« der Eindruck, dass alles so läuft wie geplant. Nur dann, wenn Fehler auftreten, wird das menschliche Handeln sichtbar, 38
Siehe hierzu und zum Folgenden insbesondere: Horst Kern, Michael Schumann, Ende der Arbeitsteilung?, München 1984 und Fritz Böhle, Helmuth Rose, Technik und Erfahrung – Arbeit in hochautomatisierten Systemen, Frankfurt a. M., New York 1992.
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allerdings zumeist unter dem Vorzeichen »menschlichen Versagens«, was wiederum Anlass gibt zur weiteren Technisierung. Doch die Unwägbarkeiten lassen sich damit nicht beseitigen, sondern entstehen immer wieder auf neuem Niveau. 39 Die von Max Weber als für das westliche Denken charakteristisch herausgestellte Auffassung, »alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen zu können« 40 , wird angesichts dieser Entwicklung fragwürdig, ebenso wie die vielzitierte Gegenüberstellung zwischen Unberechenbarkeit des »Human Factor« und der Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit naturhafter, technisch-materieller Prozesse. Eine damit zusammenhängende, ebenfalls weithin unerwartete und überraschende Entwicklung betrifft das menschliche Arbeitshandeln. Angesichts der Unwägbarkeiten technischer Systeme erweist sich das Modell planmäßig-rationalen, objektivierenden Handelns als wenig erfolgreich. Unwägbarkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass zu ihrer Bewältigung weder auf Routinen noch formalisierte Verfahren und exaktes Wissen zurückgegriffen werden kann. Zugleich besteht auch kaum Zeit für eine umfassende Analyse vorhandener Informationen wie auch zu zusätzlicher Informationsgewinnung. Dennoch gelingt es erfahrenen Fachkräften immer wieder aufs Neue, Unwägbarkeiten zu bewältigen und einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Fragt man in der Praxis nach den hierfür notwendigen Fähigkeiten, so erhält man Hinweise auf »das Erahnen einer Störung« oder das »Gespür für die Anlage«.
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Sabine Pfeiffer unterscheidet dabei systematisch zwischen »Unwägbarkeiten, die der Materialität von Realprozessen entstammen; Unwägbarkeiten, die von abstrakter Stofflichkeit von Informatisierungsartefakten herrühren; und Unwägbarkeiten, die aus den Verwerfungen zwischen Realprozess und Informatisierungsprozess entstehen. In der betrieblichen Realität und damit als Anforderungen im alltäglichen Arbeitshandeln überlagern sich alle drei Ebenen.« (Sabine Pfeiffer, Montage und Erfahrung, a. a. O., S. 26.) 40 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 3 1968, S. 582–613, S. 593.
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Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln In unseren Untersuchungen haben wir – inspiriert durch unterschiedliche disziplinübergreifende Forschungsansätze – das Arbeitshandeln bei der Bewältigung von Unwägbarkeiten genauer untersucht und das Konzept des erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns entwickelt. Die Bezeichnung »erfahrungsgeleitet« betont die besondere Rolle des Erfahrens und Erfahrung-Machens; die Bezeichnung »subjektivierend« unterstreicht die Rolle so genannter subjektiver Faktoren wie Gefühl, subjektives Erleben und Empfinden einerseits und andererseits der Wahrnehmung von materiellen und immateriellen Objekten als oder wie Subjekte, die in ihrem Verhalten nicht vollständig determiniert und berechenbar sind. In unseren Untersuchungen haben wir das erfahrungsgeleitetsubjektivierende Handeln durch vier eng miteinander verbundene Merkmale näher beschrieben und bestimmt. 41 Im Unterschied zu einem planmäßigen Vorgehen nach dem Grundsatz »erst denken, dann handeln« werden die konkreten Ziele und Verfahren erst im und durch das praktische Handeln entwickelt. Von außen entsteht hier leicht der Eindruck eines Sich-treiben-lassens oder eines Improvisierens und planlosen Aktivismus. Genauer betrachtet entpuppt sich dies jedoch als ein dialogisch-interaktives Vorgehen. Typisch hierfür sind Aussagen wie »beim Gegensteuern muss man die Antwort der Anlage abwarten«. Es ist nicht möglich, exakt und präzise abzuschätzen, welche Wirkungen durch einen bestimmten Eingriff erzielt werden. Man tritt »in einen Dialog« mit den Dingen, um durch praktisches Tun zu erfahren, wie etwas wirkt und was zu tun ist. Ein solches Vorgehen lässt sich auch als ein Herantasten beschreiben, da es nicht möglich ist, allein durch die gedankliche Analyse den notwendigen und erfolgreichen 41
Siehe hierzu als Überblick ausführlicher auch Fritz Böhle, Erfolgreiche Bewältigung des Unplanbaren durch »anderes« Handeln, in: Peter Pawlowsky, Peter Mistele (Hrsg.), Hochleistungsmanagement. Leistungspotenziale in Organisationen gezielt fördern, Wiesbaden 2008, S. 79–96 sowie unter Bezug auf disziplinübergreifende Forschungsansätze Fritz Böhle, Weder rationale Reflexion noch prä-reflexive Praktik. Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln, in: ders., Margit Weihrich (Hrsg.), Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009, S. 181–207.
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Eingriff zu entwickeln. Typisch hierfür sind auch Beschreibungen, dass man »mit der Anlage kämpft« oder »mit ihr zusammenarbeiten« und sich »auf sie einstellen« muss. Die Wahrnehmung konkreter Gegebenheiten beschränkt sich dabei nicht auf möglichst eindeutig und exakt definierte Informationen, wie sie etwa durch die technischen Anzeigen vermittelt werden. Eine wesentliche Rolle spielen vielmehr die diffusen Äußerungen, Eigenschaften und Verhaltensweisen der technischen Systeme, die in Arbeitsanweisungen und technischen Beschreibungen kaum als Informationen aufscheinen. Ein Beispiel hierfür sind Geräusche. Sie werden von qualifizierten Fachkräften weder als diffuser Lärm noch lediglich in ihren messbaren Eigenschaften, wie Lautstärke und Frequenz, wahrgenommen. Sie werden als »warm«, »rund«, »stimmig« oder »schief« und »schräg« wahrgenommen. In einer Halle mit mehreren unterschiedlichen Maschinen erkennen die Arbeiter unterschiedliche Töne und vergleichen dies mit Klängen »unterschiedlicher Instrumente in einem Orchester« oder sprechen davon, dass jede Anlage ihre »eigene Melodie« hat. Des Weiteren werden technische Anzeigen und Informationen auf Monitoren nicht einzeln, sondern »als Bild« wahrgenommen. Und zugleich wird die Wahrnehmung von Informationen und technischen Anzeichen mit (sinnlichen) Vorstellungen über die konkreten Abläufe »vor Ort« verbunden – und zwar gerade dann, wenn kein unmittelbarer Sichtkontakt besteht. Man sieht auf diese Weise »mehr als man sieht«. Eine solche Wahrnehmung unterliegt keiner verstandesmäßigen Anleitung, Kontrolle und Reflexion. Dies besagt aber nicht, dass mentale Prozesse ausgeschaltet sind; sie vollziehen sich jedoch durch ein in praktisches Handeln eingebundenes »mitlaufendes Denken«. Denken vollzieht sich hier wahrnehmungs-, verhaltens- und handlungsnah und ist assoziativ, analog und bildhaft. Und schließlich erscheint auch das Technische als etwas »Lebendiges« mit einem »Eigenleben«, zu dem eine persönliche Beziehung der Nähe und Gemeinsamkeit entwickelt wird. So erscheint eine großdimensionierte, räumlich entfernte technische Anlage wie ein »Werkzeug«, das man »in der Hand« hat, das »zu einem gehört« und mit dem man sich »verbunden« fühlt. Diese hier nur in Kürze sehr verdichtet wiedergegebenen empirischen Befunde zur Arbeit mit 124 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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hochtechnisierten Anlagen finden sich auch in anderen Arbeitsbereichen, wie etwa der Steuerung von Projekten, sowie auch bei Dienstleistungen im Umgang mit Kunden, etwa bei der Softwareentwicklung oder mit Klienten im Bereich der Pflege. 42 Erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln und Neue Phänomenologie 43 Eine Begegnung mit den Arbeiten von Hermann Schmitz ergab sich für uns nach den ersten Anläufen, einen neuen Blick auf das Nicht-Objektivierbare und Nicht-Formalisierbare zu entwickeln.44 Im weiteren Verlauf wurden die Arbeiten von Schmitz jedoch zu einer wichtigen Stütze und Ermutigung, unsere Untersuchungen weiter zu führen, ohne dass allerdings bisher eine systematische Aufarbeitung und Verbindung erfolgte. Wir legten den Akzent vor allem auf den empirischen Nachweis, dass gerade im Zuge fortschreitender Verwissenschaftlichung, Objektivierung und Formalisierung technischer und organisatorischer Prozesse menschlicher Arbeit zunehmend die Rolle der Bewältigung technisch-wissenschaftlich nicht beherrschbarer Unwägbarkeiten zukommt und dass angesichts dieser Entwicklung das vorherrschende Verständnis von Arbeit als planmäßig-rationales, objektivierendes Handeln modifiziert und erweitert werden muss. Eine theoretische Vertiefung und Begründung dieser »anderen« Seite professionellen Handelns muss demgegenüber weiteren Arbeiten vorbehalten bleiben. Ich sehe hier 42
Siehe hierzu ausführlicher Fritz Böhle, Sabine Pfeiffer, Nese Sevsay-Tegethoff (Hrsg.), Die Bewältigung des Unplanbaren. Fachübergreifendes erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen, Wiesbaden 2004 und Fritz Böhle, Jürgen Glaser (Hrsg.), Arbeit in der Interaktion – Interaktion als Arbeit. Arbeitsorganisation und Interaktionsarbeit in der Dienstleistung, Wiesbaden 2006. 43 Siehe hierzu auch: Fritz Böhle, Dirk Fross, Erfahrungsgeleitete und leibliche Kommunikation und Kooperation in der Arbeitswelt, in: Thomas Alkemeyer, Kristina Brümmer, Rea Kodalle, Thomas Pille (Hrsg.), Ordnung in Bewegung. Choreographien des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung, Bielefeld 2009, S. 107–126. 44 Fritz Böhle, Brigitte Milkau, Vom Handrad zum Bildschirm. Eine Untersuchung zur sinnlichen Erfahrung im Arbeitsprozess, Frankfurt a. M., New York 1988.
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vor allem zwei wesentliche Berührungspunkte zu den Arbeiten und Erkenntnissen von Schmitz: Das Konzept der Situation und vielsagenden Eindrücke sowie der leiblichen Kommunikation. Wenn an hochautomatisierten Anlagen Unwägbarkeiten auftreten, kommt es darauf an, dass sie frühzeitig erkannt werden und gegengesteuert wird. Nur hierdurch ist es möglich zu verhindern, dass sie sich zu einer umfangreichen Störung »aufschaukeln«, die zum Stillstand des Systems oder folgenreichen Unfällen führt. Im Unterschied zum automatisierten Ablauf entsteht bei Unwägbarkeiten eine Situation, die sich mit der von Hermann Schmitz beschriebenen Situation des Autofahrers vergleichen lässt, der »auf dicht und mit hoher Geschwindigkeit befahrener Straße durch augenblickliches Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen einem drohenden Unfall gerade noch entgeht. Er muß dafür von den Sachverhalten der relevanten Umstände und ihrer voraussichtlichen Modifikation in den nächsten Sekunden oder Sekundenbruchteilen Notiz nehmen, ferner von den Problemen, die sich dadurch zu einer aktuellen Gefahr für ihn zusammenballen – nicht nur von Seiten der entgegenkommenden Fahrzeuge, sondern auch wegen statischer Hindernisse wie Bäume, Straßenrand oder Leitplanken – sowie von den Programmen möglicher Rettung, die sich auf Grund dieser Häufung von Problemen ihm noch anbieten. Er hat aber keine Zeit, um diese Sachverhalte, Programme und Probleme aus der Ganzheit, die sich ihm darbietet, einzeln herauszulösen, vielleicht bis auf das eine oder andere Programm, das ihm blitzartig als einzelnes deutlich wird […]«. 45 Die bei Unwägbarkeiten an technischen Anlagen entstehende Situation unterscheidet sich in einer ähnlichen Weise wie die soeben beschriebene Situation des Autofahrens merklich vom ungestörten, automatisch gesteuerten Ablauf. Die folgende Beschreibung soll dies verdeutlichen: »Eine Leitwarte in der chemischen Industrie. Ein büroähnlicher, nüchtern eingerichteter Raum. Zwei Männer sitzen entspannt auf bequemen Bürostühlen und betrachten auf sechs Monitoren, die vor ihnen stehen, eine Vielzahl von Daten und schematischen Darstellungen einer chemischen Anlage. Es scheint, dass es kaum etwas zu tun 45
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gibt. Es herrscht eine ruhige Atmosphäre. Hin und wieder betätigen die Männer die vor ihnen liegenden Tastaturen und wechseln die Bilder auf den Monitoren. Doch plötzlich entsteht eine Unruhe und die Körperhaltung der Männer wird angespannt. Ihr Blick richtet sich konzentriert auf die Monitore, und in unregelmäßigen Abständen bedienen sie häufig die Tastatur. Nach ungefähr zehn Minuten sitzen die Männer wieder entspannt auf ihren Stühlen. Auf die Frage, was hier gerade passiert sei, antwortet einer der Männer: ›Da lief etwas schief‹. Aber es gab weder einen Alarm noch eine Fehlermeldung. ›Das ist es ja gerade. Man muss dem System zuvorkommen, sonst schaltet es ab. Man merkt es irgendwie.‹« 46 Schmitz beschreibt eine solche Situation als »chaotisch mannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören, die, meist zusammen mit Programmen und Problemen, den die Ganzheit integrierenden Hof der Bedeutsamkeit der Situation bilden« 47 . Sachverhalte zeigen sich dabei in für Außenstehende oft kaum merklichen Veränderungen bei technischen Anzeigen in Form von Zahlen und grafischen Darstellungen wie Kurvenverläufen sowie insbesondere bei den geschilderten Geräuschen und auch Vibrationen oder Gerüchen. Programme bestehen in dem Ziel gegenzusteuern, um einen Stillstand oder Unfälle zu verhindern und einen reibungslosen Ablauf – so wie geplant – zu gewährleisten. Probleme ergeben sich daraus, dass bei Unwägbarkeiten weder die Ursachen noch die notwendigen Maßnahmen, um sie zu bewältigen, bekannt sind. Die Feststellung von Schmitz, dass Situationen »vielsagend« sind, »weil sie dank des chaotischen, mannigfaltigen Hofes ihrer Bedeutsamkeit mehr zu verstehen geben, als sich einzeln sagen läßt« 48 , erklärt, wie eine Störung »erahnt« und eine »anbahnende« Unregelmäßigkeit erkannt wird. Da sich dafür kaum einzelne Informationen, die hierüber zuverlässig Auskunft geben, ausmachen lassen, sind es offenbar die vielsagenden Eindrücke des Gesamten, 46
Entnommen aus: Fritz Böhle, Erfolgreiche Bewältigung des Unplanbaren durch »anderes« Handeln, a. a. O., S. 79–82. 47 Hermann Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 55. 48 Hermann Schmitz, Wozu Neue Phänomenologie?, a. a. O., S. 13.
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»die dadurch vielsagend sind, daß sie uns mehr an Bedeutsamkeit mitteilen, als wir sagend aus ihnen herausholen können«49 . »Man hat es also mit einem Mannigfaltigen zu tun, das prägnant geschlossen und abgehoben ist, aber doch eigentümlich binnendiffus: Die vorschwebenden Sachverhalte usw. sind nicht alle einzeln und lassen sich deshalb auch nicht aufzählen, weil in ihrem Verhältnis zueinander nicht oder nicht in allen Fällen feststeht, welche mit welchen identisch und welche von welchen verschieden sind.« 50 Vieles weist darauf hin, dass es sich im Falle von Unwägbarkeiten um »impressive Situationen« handelt, »deren ganzheitlich-binnendiffuse Bedeutsamkeit« auf einen Schlag zum Vorschein kommt. 51 Die zuvor geschilderten empirischen Befunde belegen nachdrücklich, dass auch im Bereich technisch-instrumentellen Handelns gerade materielle Dinge nicht nur wie »rohe Fakten« wahrgenommen werden, sondern von einem »Hof der Bedeutsamkeit« umgeben sind. Solche Bedeutungen entstehen nach Schmitz jedoch nicht durch gesellschaftlich herausgebildete, symbolische Zuschreibungen und Konventionen – so wie dies in der soziologischen Handlungstheorie etwa der Symbolische Interaktionismus beschreibt –, sondern durch affektives Betroffensein. Grundlegend ist hierfür ein Verständnis von Wahrnehmung als »Gegebenheit oder Sichpräsentieren von etwas in leiblicher Kommunikation« 52 . An der geschilderten Wahrnehmung von Geräuschen lässt sich illustrieren, in welcher Weise – über das eigenleibliche Spüren hinaus – ein leibliches Spüren der (Außen-)Welt durch eine »synästhetische Wahrnehmung« zuwege gebracht wird. 53 Und zugleich eröff49
Hermann Schmitz, Was ist ein Phänomen?, in: Dirk Schmoll, Andreas Kuhlmann (Hrsg.), Symptom und Phänomen. Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen, Freiburg, München 2005, S. 16–28, S. 22. 50 Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 19. 51 Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005, S. 104. 52 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. III/5: Die Wahrnehmung, Bonn 1978, S. 36. 53 Vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 133 f.
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net (erst) die Beachtung leiblichen Spürens und der Einleibung einen Zugang zum Verständnis, worauf eine solche spürende und empfindende Wahrnehmung beruht und wodurch sie möglich ist. Die akustische Wahrnehmung wird verbunden mit Qualitäten leiblichen Spürens wie warm, rund, stimmig oder schräg, kreischend und schmerzhaft. Das Warme, Runde und Stimmige korrespondiert im leiblichen Spüren mit protopathischer Weitung und dementsprechend Entspannung; das Schräge, Kreischende und Schmerzhafte demgegenüber mit epikritischer Engung und entsprechend Anspannung. Ein weiteres Beispiel für eine solche synästhetische Wahrnehmung ist das Gespür für die »Trägheit der Anlage«. Dies ist wichtig, um die zeitliche Differenz zwischen Auslösung eines technischen Steuerungsbefehls und der hierdurch beabsichtigten praktischen Wirkungen an den Anlagen einschätzen zu können. Weitere Beispiele für leibliches Spüren sind, dass man bei der »Ahnung« einer Unregelmäßigkeit »unruhig« wird oder ein »Kribbeln im Bauch« bekommt und »Anspannung« keineswegs nur ein geistiger Vorgang, sondern vor allem ein leiblich-körperlicher Zustand ist. Die Wahrnehmung von »Bewegungssuggestionen« 54 gibt Aufschluss darüber, weshalb erfahrene Fachkräfte in der Lage sind, anhand grafischer Darstellungen wie in Form von Kurvenverläufen noch nicht eingetretene Ereignisse vorauszusehen. Man erkennt an der Gestalt des Kurvenverlaufs, »wie es sich weiter entwickelt«. Und schließlich wird (erst) unter Bezug auf das Phänomen der Einleibung verstehbar, wodurch eine Auflösung der – gerade in der Arbeitswelt als angemessen und normal unterstellten – Trennung und Distanz zwischen Mensch und Technik zustande kommt und weshalb sie keineswegs nur metaphorischen Charakter hat, so wie dies in der Schilderung zum Ausdruck kommt: Man »hat die Anlage wie ein Werkzeug in der Hand, das zu einem gehört« oder »man kämpft mit der Anlage«. Schmitz beschreibt dies u. a. anschaulich beim unmittelbaren körperlich-taktilen Kontakt: »Ein Beispiel dafür ist die ›zentaurische‹ Verbundenheit leidenschaft54
Vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 131 f.
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licher Auto- und Motorradfahrer mit ihrem Fahrzeug, das durch Rückmeldung wechselseitiger Einleibung ihre motorischen Impulse ebenso anstacheln kann, wie bisweilen das Pferd die des Reiters. Im Ernst wird kein Fahrer seine Maschine für ein Lebewesen mit eigener Subjektivität halten, aber in unwillkürlicher Du-Evidenz präsentiert sie sich ihm dennoch so. Gefährliche Ausbrüche des Geschwindigkeitsrausches mit der Folge von Unfällen können Folge einer Symbiose sein, in der sich Mensch und Maschine durch Oszillieren der Dominanz in wechselseitiger Einleibung gegenseitig ›hochschaukeln‹«.55 Bemerkenswert ist allerdings bei der Arbeit mit hochtechnisierten Systemen, dass hier die Einleibung weitgehend ohne unmittelbaren Kontakt erfolgt. Die Überwachung und Steuerung erfolgt durch dazwischen geschaltete Informationsund Steuerungstechnologien. Allerdings werden für einen souveränen Umgang mit einer solchen technischen Mediatisierung der Überwachung und Steuerung unmittelbare Erfahrungen »vor Ort« als unverzichtbar angesehen. Man muss wissen und erfahren haben, wie es »hinter den Monitoren« aussieht und was dort geschieht. In der Ausbildung ist daher wichtig zu lernen, dass die Anzeigen und Darstellungen auf den Monitoren informationstechnische Abbildungen und nicht der eigentliche Gegenstand der Arbeit sind. III.2 Laufende Kooperation im Arbeitsalltag Ein weiteres Beispiel für Grenzen der Objektivierung und Formalisierung ist die Kooperation und Koordination zwischen unterschiedlichen Funktionsbereichen sowie im Rahmen von Gruppenund Projektarbeit. Ein Ziel neuer Organisationskonzepte ist die Verbesserung der Kooperation zwischen unterschiedlichen Funktionsbereichen. Hierzu wird u. a. die traditionelle funktionale Gliederung durch eine prozessorientierte Organisation ersetzt: Anstelle von für jeweils unterschiedliche Produkte, Marktsegmente und Kunden zuständigen zentralen Funktionen wie Vertrieb, Einkauf, Fertigung und Ent55
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wicklung werden nun produkt- oder kundenbezogene Einheiten geschaffen. Damit soll die aufgabenbezogene Zuordnung und wechselseitige Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Funktionsbereichen verbessert werden. Um eine reibungslose Abstimmung zu gewährleisten, sollen insbesondere die Schnittstellen zwischen einzelnen Funktionsbereichen und Teilprozessen exakt und unmissverständlich definiert werden. 56 Einen besonderen Ausdruck findet dies in durch Informationstechnologien gesteuerten Informationsflüssen und einem hierauf bezogenen Informationsmanagement. Zugleich wird mit neuen Organisationskonzepten aber auch versucht, die Flexibilität zu erhöhen. Hierdurch ergeben sich jedoch auch bei gleichbleibenden organisatorischen Abläufen – ganz ähnlich wie bei den zuvor geschilderten technischen Systemen – ex ante nicht vorhersehbare Variabilitäten. So kommt es beispielsweise auch bei Standardprodukten zu laufenden Produktänderungen und -optimierungen, oder es ergeben sich Varianzen in der Qualität extern gelieferter Materialien usw. Zugleich soll mit neuen Organisationskonzepten auch die Flexibilität erhöht werden. Dies hat zur Folge, dass für die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Funktionsbereichen nahezu kontinuierliche Abstimmungen notwendig sind. Da durch die Erweiterung von Selbstverantwortung Managementaufgaben auf die Mitarbeiter verlagert werden, wird die Abstimmung zwischen unterschiedlichen Funktionsbereichen zu einer neuen Anforderung an die Mitarbeiter. In den Unternehmen besteht dabei die Tendenz, die Selbst-Abstimmung durch die Mitarbeiter in Form von »Meetings« zu organisieren. Damit erfolgt eine vergleichsweise hohe Formalisierung der Kooperation. Das Meeting hat einen institutionalisierten Charakter: Die Kooperation findet getrennt vom eigentlichen Arbeitsplatz an besonderen Orten (Besprechungsräumen etc.) statt, der Zeitpunkt, die Themen und die Teilnehmer werden festgelegt und der Inhalt und Ablauf wird dokumentiert. Ziel solcher Abstimmungen ist festzulegen, wie »etwas« gemacht werden soll, die konkrete Durchführung erfolgt 56
Siehe hierzu und zum Folgenden ausführlicher auch: Fritz Böhle, Annegret Bolte, Die Entdeckung des Informellen, a. a. O., S. 46 ff.
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»an anderer Stelle«. Doch auch dann, wenn solche Meetings häufig stattfinden und die daran beteiligten Mitarbeiter detaillierte Kenntnisse über die konkreten Begebenheiten vor Ort haben, treten bei der Durchführung nicht vorhersehbare Unwägbarkeiten auf. Damit werden zusätzliche Abstimmungen in laufenden Prozessen notwendig. 57 Informelle Kooperation Um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten, erfolgt daher in der Praxis die wechselseitige Abstimmung auch neben den Meetings in der alltäglichen Arbeit. Es handelt sich hier um eine informelle Kooperation. Der informelle Charakter resultiert jedoch nicht allein daraus, dass sie von den offiziell vorgesehenen Formen der Abstimmung abweicht. Das Informelle resultiert vielmehr daraus, dass sich diese Form der Abstimmung grundsätzlich nicht oder nur begrenzt formalisieren und objektivieren lässt: Anlass und Inhalt ergeben sich aus jeweils situativ auftretenden Problemstellungen. Die beteiligten Mitarbeiter sind unmittelbar betroffen, und die Verständigung erfolgt sowohl durch Sprache als auch wesentlich durch Bezugnahme auf Gegenstände und praktische Handlungen vor Ort. 58 Beispiel für Letzteres ist die Verständigung vor Ort an Maschinen und Anlagen oder anhand von (Teil-)Pro57
Wenn sich dabei die Mitarbeiter an die offiziell vorgesehene Form der Abstimmung durch Meetings halten, so führt dies sehr schnell zu einer »Meeting-Spirale«. Meetings werden dann nicht zu einem Instrument der Problemlösung, sondern eher der Problemgenerierung und Belastung für die Mitarbeiter. Ein grundlegendes Problem der Meetings ist, dass hier die Verständigung nahezu ausschließlich sprachlich erfolgt und dabei die in Frage stehenden Sachverhalte explizit beschrieben und Entscheidungen durch objektivierbare Informationen und Argumente begründet werden müssen. Oft erweisen sich jedoch die zur Verfügung stehenden Informationen als unzureichend oder/und es ergeben sich bei der Diskussion mehr Fragen als Antworten. Anstelle der Entscheidungsfindung werden Meetings dann eher zu »Entscheidungs-Killern«. Siehe hierzu ausführlicher: Annegret Bolte, Judith Neumer, Stephanie Porschen, Die alltägliche Last der Kooperation. Abstimmung als Arbeit und das Ende der Meeting-Euphorie, Berlin 2008. 58 Siehe hierzu ausführlicher: Fritz Böhle, Annegret Bolte, Die Entdeckung des Informellen, a. a. O., S. 165 ff.; Annegret Bolte, Stephanie Porschen, Die Organisa-
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dukten. Sprachliche Verständigung beschränkt sich hier oftmals nur auf Andeutungen und unvollständige Sätze, da wichtige »Informationen« über die Gegenstände vermittelt und ausgetauscht werden. Diese werden in die Hand genommen, in Bewegung gebracht und damit durch gemeinsames praktisches Erkunden sowie Experimentieren »zum Sprechen« gebracht. Damit wird auch eine Verständigung über Sachverhalte möglich, die sich nicht oder nur mit großem Aufwand exakt beschreiben lassen. 59 Auch hier spielt die Wahrnehmung, wie sie zuvor bei der Arbeit mit hochtechnisierten Systemen beschrieben wurde, eine wichtige Rolle. Des Weiteren erfolgt die Verständigung unter Bezug und auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen und Erlebnisse sowie anhand von »Geschichten«.60 Eine solche informelle Kooperation findet sich auch im Rahmen von Projektarbeit neben und ergänzend zu den offiziellen Abstimmungs- und Planungstreffen zwischen den Projektmitarbeitern oder bei komplexen Projekten zwischen unterschiedlichen Partnern.61 Eine weitere Erscheinungsform informeller Kooperation ist die Kooperation in Arbeitsgruppen in der Produktion. Obwohl hier teilweise durch technische Systeme und die Arbeitsorganisation einzelne Arbeitstätigkeiten stark festgelegt sind und die Zuteilung der einzelnen Arbeitstätigkeiten in regelmäßig stattfindenden Gruppengesprächen vereinbart und festgelegt wird, ist es in den laufenden Arbeitsprozessen erforderlich, ergänzend selbsttätig zu kooperieren. So ist es beispielsweise notwendig, wahrtion des Informellen. Modelle zur Organisation von Kooperation im Arbeitsalltag, Wiesbaden 2006, S. 51 ff. 59 Siehe hierzu auch Stephanie Porschen, Austausch impliziten Erfahrungswissens. Neue Perspektiven für das Wissensmanagement, Wiesbaden 2008, S. 202 f. 60 Siehe hierzu ausführlicher: Stephanie Porschen, Fritz Böhle, Geschichten-erzählen im Arbeitsalltag – Storytelling und erfahrungsgeleitete Kooperation, in: Gabi Reinmann (Hrsg.), Erfahrungswissen erzählbar machen – narrative Ansätze für Wirtschaft und Schule, Lengerich 2005, S. 52–67 und Sabine Pfeiffer, Eric Treske, Erfahrung lernen – Gestaltungsperspektiven (nicht nur) für (Tele-)Service, in: Fritz Böhle, Sabine Pfeiffer, Nese Sevsay-Tegethoff (Hrsg.), Die Bewältigung des Unplanbaren. Fachübergreifendes erfahrungsgeleitetes Arbeiten und Lernen, Wiesbaden 2004, S. 245–266. 61 Hierzu ausführlicher: Markus Bürgermeister, Christoph Schambach, Beim Entwickeln kooperieren, München 2005.
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zunehmen, ob jemand am anderen Arbeitsplatz Unterstützung braucht und den eigenen Rhythmus der Arbeit mit anderen laufenden Arbeitsprozessen abzustimmen. Typisch hierfür sind Aussagen wie »also muss da einer hin, wo es sich aufläuft, wo es sich staut, und dann macht der diese Arbeit« oder »beim Arbeiten, das ist wie ein Tanz, als hätten alle das geübt«. 62 Informelle Kooperation und Neue Phänomenologie Die zuletzt genannte Erscheinungsform informeller Kooperation ist ein anschauliches Beispiel für das, was Hermann Schmitz als solidarische Einleibung bezeichnet. Ebenso wie bei den von Schmitz genannten Beispielen leiblicher Kommunikation, etwa beim Ringen, Rudern oder gemeinsamen Sägen eines Baumstammes, sind auch hier unmittelbare körperliche Abstimmungen sowohl zwischen den Mitarbeitern wie auch den Mitarbeitern und technischen Arbeitsmitteln notwendig. Die Zusammenarbeit in Arbeitsgruppen gelingt nur dann, wenn ein »Sich-einspielen und Eingespieltsein auf einander« stattfindet63 , wobei dies nicht allein durch Routine gewährleistet werden kann, sondern eine permanente situative Gestaltung erfordert. Auf der Grundlage vorliegender Handlungstheorien sind solche Abstimmungsprozesse kaum erklärbar. Dies gilt beispielsweise auch für die Interaktion im Rahmen personenbezogener Dienstleistungen wie beispielsweise der Pflege. Es sind hier in der Praxis subtile körperliche Abstimmungen und eine »Kommunikation ohne Worte« zwischen den Pflegekräften und den Pflegebedürftigen notwendig. 64 Auch bei der Kommunikation und Kooperation in laufenden Arbeitsprozessen, neben und ergänzend zu Meetings, führt die Beachtung leiblicher Kommunikation zu einer tieferen Einsicht in die 62
Sabine Pfeiffer, Montage und Erfahrung, a. a. O., S. 157. Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, a. a. O., S. 66. 64 Siehe hierzu in Bezug auf die leibliche Kommunikation ausführlicher: Fritz Böhle, Dirk Fross, Erfahrungsgeleitete und leibliche Kommunikation und Kooperation in der Arbeitswelt, a. a. O. und Charlotte Uzarewicz, Michael Uzarewicz, Das Weite suchen. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie der Pflege, Stuttgart 2005. 63
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Grundlagen und Bedingungen gemeinsamer Verständigungen. Typisch dafür sind Aussagen wie »man taucht« in ein gemeinsames Problem ein oder »man hat die gleiche Wellenlänge«. Im Unterschied zu offiziellen Meetings spielen daher die selbstbestimmte Wahl der Kooperationspartner für eine Problemlösung und ein »Sich-kennen-lernen« über gemeinsames praktisches Tun eine wichtige Rolle. Und schließlich wird bei der Schilderung solcher Formen der Kooperation die Wahrnehmung einer Atmosphäre genannt. Man spürt, ob die Atmosphäre stimmt oder ob eine angespannte Atmosphäre besteht und etwas in der Luft liegt. Solche Beschreibungen finden sich auch bei offiziellen Treffen in Meetings. In welcher Weise auch hier eine leibliche Kommunikation stattfindet und möglich ist, wäre weiter zu klären. Damit stellt sich die Frage nach der Rolle leiblicher Kommunikation in Interaktionen (Kommunikation und Kooperation), bei denen die sprachliche Verständigung vorherrscht und ggf. auch kein unmittelbar physischer Kontakt besteht. Hieran schließt sich auch die Frage an, in welcher Weise sich die leibliche Kommunikation auch auf übergreifende organisatorische Zusammenhänge beziehen kann. So wird in der Praxis durchaus davon gesprochen, dass man ein »Gefühl« und ein »Gespür« für die Organisation (insgesamt) hat oder braucht. Man muss herausfinden, wie ein Unternehmen »tickt« und was sich jenseits offizieller Regelungen abspielt. IV. Schlussbemerkung Ich habe versucht, in meinem Beitrag einige Informationen zur Entwicklung des konstruierenden Denkens in der Welt der Arbeit zu geben und darauf aufmerksam zu machen, dass trotz der sehr weit reichenden Entwicklung und praktischen Wirksamkeit des konstruierenden Denkens »Anderes« ein unverzichtbares und substantielles Element praktischen Arbeitshandelns ist und – wie es scheint – auch bleiben wird. Da die Welt der Arbeit, und insbesondere industriell organisierter Arbeit, in modernen Gesellschaften als ein besonderes Anwendungsfeld des technisch-instrumentellen 135 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Handelns und der Verwissenschaftlichung gilt, wäre dieser Befund ein Anlass für eine grundlegende Korrektur der wissenschaftlichen und praktischen Auseinandersetzung mit der Organisation von Arbeit. Obwohl hierzu bereits Forschungen und auch praktische Ansätze vorliegen, ist es jedoch (noch) eine weiterhin offene Frage, ob sich dies gegenüber der Dominanz und Kontinuität des konstruierenden Denkens durchsetzen kann. Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die (Wieder-)Entdeckung dieses »Anderen« derzeitig noch eher eine Angelegenheit der Forschung ist; gleichwohl bestehen aber auch in der Praxis hierzu Ansätze. 65 Die von Hermann Schmitz begründete Neue Phänomenologie trägt dabei wesentlich zur Erkenntnis und zum Verständnis bei, nicht nur »Anderes« wahrzunehmen, sondern dies auch »anders« als bisher wahrzunehmen. Literatur Bauer, Hans G., Böhle, Fritz, Munz, Claudia, Pfeiffer, Sabine, Woike, Peter, HighTech-Gespür, Bielefeld 2006. Böhle, Fritz, Vom Objekt zum gespaltenen Subjekt, in: Manfred Moldaschl, Gerd Günter Voß (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit, Bd. 2, München 2003, S. 101–133. Böhle, Fritz, Wissenschaft und Erfahrungswissen. Erscheinungsformen, Voraussetzungen und Folgen einer Pluralisierung des Wissens, in: Stefan Böschen, Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 143–177. Böhle, Fritz, Erfolgreiche Bewältigung des Unplanbaren durch »anderes« Handeln, in: Peter Pawlowsky, Peter Mistele (Hrsg.), Hochleistungsmanagement. Leistungspotenziale in Organisationen gezielt fördern, Wiesbaden 2008, S. 79–96. 65
Zu Ansätzen hierzu siehe im Bereich der Technikgestaltung Hans Martin, CeA – Computergesteuerte erfahrungsgeleitete Arbeit, Berlin 1995 sowie Sabine Pfeiffer, Arbeitsvermögen. Ein Schlüssel zur Analyse (reflexiver) Informatisierung, Wiesbaden 2004. Zur Organisationsentwicklung vgl. Annegret Bolte, Stephanie Porschen, Die Organisation des Informellen, a. a. O. und Fritz Böhle, Annegret Bolte, Markus Bürgermeister, Die Integration von unten. Der Schlüssel zum Erfolg organisatorischen Wandels, Heidelberg 2008 sowie zur beruflichen Bildung Hans G. Bauer, Fritz Böhle, Claudia Munz, Sabine Pfeiffer, Peter Woike, High-Tech-Gespür, Bielefeld 2006.
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Gernot Böhme
Das Gegebene und das Gemachte
I. Phänomenologie als Kritik In meinem Beitrag zur Festschrift anlässlich des 80. Geburtstages von Hermann Schmitz 1 habe ich deutlich gemacht, dass der Phänomenologie in unserer gegenwärtigen Lebenssituation eine kritische Funktion zukommt – insbesondere der Neuen Phänomenologie. Mit ihr macht man die seltsame Erfahrung, dass man wirklich Neues entdeckt. Sollte die Phänomenologie nach der Definition von Martin Heidegger eigentlich nur zeigen, was sich von selbst zeigt, so sind die Phänomene, die man durch die neue Phänomenologie kennen lernt, häufig solche, die man im bisherigen Leben übergangen hat oder, was schlimmer ist, überhaupt nicht kennen gelernt hat, weil sie durch den Habitus in der technischen Zivilisation verdeckt sind. Phänomenologie kann sich in einer solchen Situation nicht auf reine Beschreibung beschränken, weil sie häufig bestimmte Phänomene erst gegen die Verdeckungs- und Verdrängungstendenzen der durchschnittlichen Lebensform aufdecken muss. Es handelt sich hier insbesondere um Leiberfahrungen, dann um die Erfahrung von Gefühlen als ergreifende Mächte und schließlich um die Situation als Quelle des Selbst. Die Phänomenologie kann die damit benannte wichtige gesellschaftliche Aufgabe aber nur wahrnehmen, wenn sie sich auf den Zusammenhang von Zugangsweisen und Phänomenalität einlässt, d. h. wenn sie zur
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Gernot Böhme, Phänomenologie als Kritik, in: Michael Großheim (Hrsg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg, München 2008, S. 21–36.
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Das Gegebene und das Gemachte
genetischen Phänomenologie 2 wird. Dann bestünde ihre Arbeit nicht einfach darin zu zeigen, was ist, sondern Anleitungen zu geben, wie man sich zu verhalten hat, um bestimmte Erfahrungen zu machen. Sie ist damit wie auch sonst oft in der Nähe von Goethe, der ja bekanntlich in seiner Farbenlehre seine Theorie der Farben nicht als solche vorträgt, sondern als Didaktik, d. h. als Anleitung, wie bestimmte Farberfahrungen gewonnen werden können. In diesem Beitrag soll nun die Spannung, in die die Phänomenologie als kritisches Unternehmen in der technischen Zivilisation gerät, an der Dichotomie des Gegebenen und des Gemachten verdeutlicht werden. Auch dafür ist Goethe ein guter Lehrmeister. Um die Grenzen des konstruierenden Denkens zu bezeichnen, schreibt er in seiner Morphologie, dass die Methode des Zerlegens und Zusammensetzens zur Erforschung des Lebendigen sehr erfolgreich gewesen sei. Doch dann fügt er kritisch hinzu: »Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachtheil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben.« 3 Goethe hat sehr deutlich erkannt, dass die Methode der modernen Naturwissenschaft die der Erkenntnis durch Rekonstruktion ist. Das Gegebene wird in Elemente zerlegt und aus diesen rekonstruiert. Descartes hatte das in seinen »Discours de la méthode« als die Maxime formuliert, man müsse die Natur so erkennen wie die Tätigkeiten der Handwerker, also unter dem Gesichtspunkt des Herstellens. 4 Tatsächlich ist die Naturwissenschaft in der Moderne so verfahren, und zwar auch in der Erkenntnis des Lebens, insbesondere des Menschen. Anatomie und Physiologie sind die historischen Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis des Menschen. Heute ist diese Zugangsweise bis in die Gentechnik fortgesetzt worden, wobei in diesem Fall die Erkenntnisunterneh2
Zu diesem Begriff siehe Gernot Böhme, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003. 3 Johann Wolfgang Goethe, Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, in: ders., Weimarer Ausgabe, 2. Abteilung, Band 6: Zur Morphologie. Erster Teil, Weimar 1891, S. 8–15, S. 8. 4 Vgl. René Descartes, Discours de la méthode, übers. u. hrsg. v. Holger Ostwald, Stuttgart 2001, S. 115/117.
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Gernot Böhme
mung bereits als solche Technik genannt wird. Natürlich kann man sagen, dass jedes analytisch-synthetische Verfahren zunächst einmal das Gegebene voraussetzt, doch Goethes Kritik geht weiter. Er behauptet, dass man durch die Synthesis, also durch Rekonstruktion das Gegebene auch letzten Endes nicht wieder erreicht. Es bleibt eine Differenz zwischen dem Gegebenen und dem Gemachten. Selbst wenn die Differenz nicht so drastisch sein muss, wie Goethe meint, dass nämlich das Rekonstruierte ein Totes ist, so lohnt es sich doch, anhand des Begriffspaares des Gegebenen und des Gemachten zu untersuchen, ob der neuzeitliche hoffnungsvolle Aufbruch des Menschen, seine gegebenen Lebensverhältnisse in gemachte zu verwandeln, mit einem Verlust an Humanität erkauft wird. II. Die Entgegensetzung des Gegebenen und des Gemachten Wenn man das Gegebene und das Gemachte einander entgegensetzt, so knüpft man dabei an eine ganze Reihe traditioneller Dichotomien an. Die wichtigste dürfte die von Natur und Technik sein, wie wir sie ausformuliert bei Aristoteles finden. Doch ihr entspricht beispielsweise bei Heidegger in »Sein und Zeit« der Unterschied von Faktizität und Entwurf wie auch die Entgegensetzung des Pathischen und des Poetischen. Natur und Technik sind bei Aristoteles auch ontologische Begriffe und sie bezeichnen dann eine Klassifizierung des Seins: Es gibt das Seiende, das das Prinzip seiner Bewegung und damit auch seiner Reproduktion in sich hat – das ist das von Natur aus Seiende; und es gibt das Seiende, das das Prinzip seiner Bewegung und insbesondere seine Herstellung dem Menschen verdankt, das ist das technisch Seiende. Natur ist, wie Aristoteles sich auch ausdrückt, das, was von selbst da ist. Wir können also Natur als das Gegebene betrachten. Der von Aristoteles genannte Gegensatz geht nun mitten durch die Menschen hindurch. Der Mensch ist sich zum Teil selbst gegeben, zum Teil macht er sich zu dem, was er ist, etwa durch Erziehung, heute aber eben auch durch Einsatz von Technik. Heidegger hat dieser anthropologischen Situation entsprochen, indem er die 142 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Das Gegebene und das Gemachte
Existentialien der Geworfenheit und des Entwurfes einführt. In der Geworfenheit hat der Mensch mit seiner Faktizität zu tun. Er ist sich selbst gegeben, im Entwurf macht er sich selbst zum Projekt. Man kann diese Entgegensetzung durch das klassische Paar von Handeln und Erleiden, von actio und passio bezeichnen. Wenn es bei der actio sich um eine Herstellung, also insbesondere um eine Selbstbildung handelt, kann man diesen Gegensatz auch mit den Ausdrücken des Pathischen und des Poetischen bezeichnen. Das Pathische ist dasjenige, was einem widerfährt und was man als gegeben hinnehmen muss, und das Poetische ist dasjenige, das man nach Plan und durch Handlung hervorbringt. Im Zusammenhang unserer technischen Zivilisation geht es inzwischen darum, inwieweit man bereit ist, etwas an sich selbst als gegeben hinzunehmen. Dass wir uns zunächst und zumeist gegeben sind, steht außer Zweifel. Es handelt sich dabei nicht bloß um das Leibliche und die leibliche Konstitution, sondern auch um die Lebensverhältnisse, um den sozialen Rahmen des Lebens von der Familie bis zum Staat, aber auch um so etwas wie die Muttersprache. Das alles wird zunächst als natürlich hingenommen. Es sind Bestände, in denen man sich erkennt, und ein Umfeld, in dem man sich findet. Die europäische Neuzeit ist nun bewusst aufgebrochen, sich das Gegebene anzueignen, und zwar, um es zu rekonstruieren und dabei zu verbessern. Diese Maxime, das Gegebene in ein Gemachtes zu verwandeln, könnte man überhaupt erst als Grundmaxime der Neuzeit bezeichnen.5 Es geht dabei um die Natur, die Geschichte, die gesellschaftlichen Verhältnisse und schließlich um uns selbst, um jeden Einzelnen. Die Natur hat Galileo Galilei schon zum Projekt gemacht, indem er das Gegebene nicht als solches, sondern im technischen Zusammenhang untersuchte. Die Geschichte ist nach Giambattista Vico nicht als Schicksal, also als Gegebenes zu untersuchen, sondern als Produkt. Sein Diktum verum et factum convertuntur 6 gilt genau dann, wenn man »factum« wörtlich als das Ge5
Siehe dazu Gernot Böhme, Einführung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 2001. 6 Vgl. dazu Giambattista Vico, Liber metaphysicus. De antiquissima Italorum 4
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machte versteht. Ferner ist durch die gesellschaftlichen Programme von Montesquieu, John Locke und Jean-Jacques Rousseau die Gesellschaft zum Projekt geworden. Auch wenn es historisch sich nicht so ereignet hatte, wie Rousseau unterstellt, nämlich dass Gesellschaft durch einen Vertrag ihrer Mitglieder zustande kam, so sollte doch in Zukunft menschliche Gesellschaft auf diese Weise gestaltet werden. Die französische und alle weiteren Revolutionen sind eine Konsequenz dieses Denkens. Gesellschaftliche Verhältnisse werden nicht hingenommen, insbesondere nicht als gottgegeben. Vielmehr müssen sie übernommen und gestaltet werden. Schließlich der Mensch selbst: Hier hat auf der Linie von Johann Comenius bis Immanuel Kant ein Denken in dem Bereich der Erziehung des Menschen Einzug gehalten, nach der, wie Kant es schließlich formuliert, der Mensch nur Mensch wird durch Erziehung. 7 Ein großer Teil der Gegenwartsprobleme muss darin gesehen werden, dass die Ambivalenzen dieses Aneignungsprozesses deutlich geworden sind. Das ist insbesondere im Bereich der menschlichen Verhältnisse, also der Bildung des Individuums und der Gesellschaft spürbar, und zwar, weil hier die von der Aufklärung bis zu Karl Marx gefeierte Selbstproduktion des Menschen von der pädagogischen und politischen zu einer technischen geworden ist. Wir haben heute mit einer Technik zu tun, die man als invasiv bezeichnen muss 8 , insofern sie tief in die menschlichen Verhältnisse eindringt. Technik ist in unserer historischen Periode nicht mehr einfach ein Mittel, mit dem Zwecke erreicht werden oder auch nur effizienter erreicht werden, sondern sie entwickelt sich zu einer Infrastruktur, die definiert, was überhaupt noch als menschliche und gesellschaftliche Verhältnisse möglich ist. Es handelt sich hier vor allem um die medizinischen Technologien, die von Steuerungsdrogen bis zu technischen Implantaten tief in die leibliche Existenz des sapientia liber primus (1710), übers. aus dem Lat. und Ital. v. Stephan Otto und Helmut Viechtbauer, München 1979, S. 35, 37, 45, 149. 7 Immanuel Kant, Über Pädagogik (1803), in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1964, S. 691–761, S. 699 (A 7). 8 Siehe dazu Gernot Böhme, Invasive Technisierung. Technikphilosophie und Technikkritik, Kusterdingen 2008.
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Menschen eindringen, es handelt sich um Kommunikations- und Verkehrsinfrastrukturen, die eine ganz neue Art von gesellschaftlichem Zusammenhang und gesellschaftlicher Existenz des Einzelnen definieren. Angesichts der damit verbundenen Ambivalenzen wird eine Revision der Moderne nötig, und es bietet sich an, diese mit dem Begriffspaar des Gegebenen und des Gemachten zu versuchen. Freilich muss man damit vorsichtig sein, um nicht in eine konservative Kulturkritik zu verfallen. Es kann sich keineswegs darum handeln, einfach schlicht auf die unmittelbare Gegebenheit von Natur zu rekurrieren. Selbstverständlich sind auch wir heute in unserem Bemühen der Selbstgestaltung – auch der technischen – auf Gegebenes angewiesen, und jeder einzelne Mensch, der seiner bewusst wird, findet sich zunächst als gegeben vor. Doch es gilt zu beachten: 1. Was uns gegeben ist, ist historisch und gesellschaftlich geworden. 2. Die Gegebenheitsweise ist selbst von Zugangsweisen abhängig. Hier kommt also erneut die Phänomenologie als genetische ins Spiel. III. Wie viel Natur braucht der Mensch? Da in unserer technischen Zivilisation ein unmittelbarer Rekurs auf Natur nicht mehr möglich ist, bedarf es auf der einen Seite eines bestimmten Könnens, das Gegebene überhaupt aufzusuchen und als solches gelten zu lassen, und ferner einer ethischen Grundhaltung, in der Selbstgegebenheit als ein Grundelement menschlichen Selbstverständnisses anerkannt wird. Für das Erste ist die Bewegung für natürliche Geburt, die durch den Arzt Grantly Dick-Read ausgelöst wurde, ein bezeichnendes Beispiel. Dick Read plädierte mit Recht gegen die zu seiner Zeit herrschende medizinische Ideologie von der programmierten Geburt für Geburt als einen natürlichen Vorgang. Dabei implizierte die von ihm vorgeschlagene Methode jedoch, dass die Frauen durch Aufklärung und Übung sich überhaupt erst in eine Lage bringen mussten, in der das Von-selbst im Geburtsvorgang wieder wirksam wurde. Für das Zweite – um ein Beispiel aus demselben Bereich, nämlich der Reproduktionsmedizin zu nehmen – ist die Haltung von Eltern zu nennen, ein Kind zu 145 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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erwarten, es also als Segen oder auch als Schicksal hinzunehmen, eine Haltung, die gegen die Suggestion von Manipulation auf Grund pränataler Diagnostik sich behaupten muss, eine Haltung, die heute angesichts des gesellschaftlichen Druckes bereits eine starke ethische Grundhaltung verlangt. Das heißt, Natur, also das Gegebene, im menschlichen Leben zu akzeptieren, macht sich nicht von selbst, es bedarf der Übungen einerseits und der moralischen Argumentation andererseits. Was also spricht dafür, sich überhaupt auf Natur zu beziehen? Zunächst ist festzuhalten, dass die Einstellung »alles ist machbar« auf einer Illusion beruht. Jedes Machen setzt ein Gegebenes voraus, mit dem man arbeitet. Typisch für dieses Verhältnis ist die Zweiheit von Materie und Form, die seit der Antike handwerklichtechnisches Denken bestimmt: Der Handwerker oder Techniker verleiht durch seine Tätigkeit der gegebenen Materie eine Form. Nun muss man natürlich sagen, dass im Zuge der modernen Technik das Formgebungsprinzip immer tiefer in die Materie eingedrungen ist, so dass man heute für den technischen Gestaltungsprozess nicht mehr auf die natural vorgegebenen Materien angewiesen ist. Die Materialwissenschaft und die damit verbundene Technik hat ja geradezu das Ziel, Materialien für bestimmte Zwecke überhaupt erst zu komponieren. Aber sie bleibt natürlich auf einer tieferen Schicht auf etwas natural Vorgegebenes angewiesen, seien es die Moleküle oder noch tiefer die Elemente oder gar Elementarteilchen. Diese Angewiesenheit auf etwas Gegebenes ist im menschlichen Bereich noch deutlicher. Selbst wenn die Möglichkeiten genetischer Manipulation auch beim Menschen angewendet würden, so wären die Verfahren doch auf die Vorgegebenheit des menschlichen Genoms angewiesen. Beim Einzelmenschen, der sich durch Doping oder Schönheitschirurgie modelliert, gilt dasselbe. Was er modelliert, ist ihm gegeben, seine ursprüngliche leibliche Ausstattung und Konstitution. Damit stellt sich als Nächstes die Frage, warum man das, als was man sich gegeben vorfindet, überhaupt hinnehmen sollte. Gegen eine Haltung, nach der man alles an sich als manipulierbar ansieht, spricht die damit verbundene Selbstentleerung des Ich. Wenn man, was einem gegeben ist, der Leib und seine Konstitution, die Mut146 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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tersprache und im weiteren Sinne die Herkunft als bloßes Material der Selbstgestaltung ansieht, dann ist damit eine Entleerung des Ich verbunden, wie sie Sokrates in seinem Gespräch mit Alkibiades im platonischen Dialog »Alkibiades I« so eindrucksvoll vorführt. 9 Was dabei als Ich herauskommt, ist das leere inhaltslose Zentrum von Reflexion und Aktion. Bei Sokrates’ Argumentation kommt diese Entleerung des Selbst durch die Einführung des Unterschiedes zwischen dem Gebrauchenden und dem, was das Gebrauchende gebraucht, zustande. Dadurch erweist sich das Selbst als das Gebrauchende, während alle menschlichen Inhalte wie Leib, Sprache, Freunde, Ansehen, Besitz usw. zum bloßen instrumentellen Material des Gebrauchens herabgewürdigt werden. Will man dieser Entleerung des Ich-Selbst, dessen, was ich selbst bin, entgegensteuern, so muss man umgekehrt Leib, Muttersprache, Herkunft als Quellen des Selbst würdigen, d. h. ein Selbstbewusstsein entwickeln, das in betroffener Selbstgegebenheit seinen Grund hat. Das impliziert zugleich eine Anerkennung des Pathischen als einer Quelle von Lebensinhalten. Die vorherrschende Lebenshaltung, nach der man sich wesentlich in dem erkennt, was man tut und was man auch als solches zu verantworten hat, hat eine Tendenz zur biographischen Beliebigkeit, zum »welch herrliches Nirgend-sein ist meine Seele«, das Sartre Orest in den Mund legt. 10 Ohne gleich im emphatischen Sinne von Schicksal reden zu müssen, sind einem die Inhalte der eigenen Biographie doch weitgehend gegeben. Es sind Konstellationen und Ereignisse, die einen treffen und dem Lebenslauf so Konturen verleihen. Wenn man Biographie als Kontingenzbewältigung bezeichnet, so klingt das so, als ob man, was einen trifft, durch Sinngebung wegarbeiten müsste. Doch umgekehrt ist das Kontingente gerade dasjenige, was einem Lebenslauf seine je eigene Kontur verleiht. Schließlich darf man nicht vergessen, dass es so etwas gibt wie ein ästhetisches Bedürfnis nach Natur. Die überwältigende Rolle, die Natur und Naturformen in der ästhetischen Ausgestaltung des 9
Vgl. z. B. Platon, Alkibiades I 127d-130c. Jean-Paul Sarte, Die Fliegen, übers. v. Gritta Baerlocher, in: ders., Gesammelte Dramen, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 7–65, S. 18.
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Lebens haben, selbst wenn es sich auch nur um Tapetenaufdrucke und Plastikblumen handelt, zeigt, dass es ein Grundbedürfnis des Menschen nach etwas gibt, das von selbst da ist, was auf ihn zukommt und eine Ordnung und, wie Kant sagen würde, Zweckmäßigkeit zeigt, die nicht menschengemacht ist. Diese ästhetische Präferenz von Natur bedarf sicher einer historisch-genetischen Erklärung. Man kann sie aber im Wesen des Ästhetischen selbst begründet sehen, handelt es sich doch bei Ästhetik wie bei der Phänomenologie um ein Weltverhältnis des Menschen, in dem das Gegebene als solches gewürdigt wird. IV. Phänomenologie als Bewahrerin des Gegebenen Phänomenologie hat sich seit ihrer Begründung durch Edmund Husserl als Anwalt des Gegebenen vorgestellt. Sie sei eine Erkenntnismethode, durch die die Phänomene als solche bewahrt würden. Sehr deutlich ist das übrigens auch im Titel von Henri Bergsons Dissertation ausgesprochen: »Essai sur les données immédiates de la conscience« – also: Die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins. Dabei wurde aber immer unterstellt, dass es keineswegs so einfach sei, das, was sich zeigt, als solches zu erfassen. Phänomene würden nämlich stets durch Begrifflichkeiten, Theorien und insbesondere Erklärungshintergründe formiert und namentlich – das ist vor allem Husserls Punkt – durch das Urteil über ihre Existenz sanktioniert. Bei einem Phänomen als solchem, bei einer Gegebenheit des Bewusstseins käme es aber nicht darauf an, ob diese etwas Wirkliches repräsentierten oder nicht. Diese Lage zwang schon immer die Phänomenologie zu einer Methode – bei Husserl die berühmte Epoché. 11 Dabei wurde jedoch immer unterstellt, dass das Phänomen sich jedenfalls von selbst zeigt, ja Heidegger definiert das Phänomen geradezu als das sich selbst Zeigende. Diese Auffassung wurde von Hermann Schmitz noch verschärft, indem er als 11
Vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Methode. Erstes Buch (= Husserliana, Bd. III/1, hrsg. v. Karl Schuhmann), Den Haag 1976, S. 65 f.
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Phänomen nur akzeptiert, was sich unleugbar aufdrängt. Die Methode der Epoché zur Bestimmung dessen, was wirklich Phänomen ist, wurde deshalb von ihm durch das Prinzip der Variation ersetzt: »Was […] übrig [bleibt], […] wenn alle in Urteilsform formulierbaren Annahmen so frei wie möglich variiert werden« 12 – das sei als Phänomen anerkannt. In jedem Fall kann man sagen, dass die Phänomenologie als Methode das Phänomen gegenüber dem epistemischen Zugriff durch Begrifflichkeit bewahren sollte. Für unserem Zusammenhang kommt nun jedoch etwas Weiteres hinzu, was der Phänomenologie eine Art dialektischen Aspekt verleiht. Die Phänomene geraten nämlich in eine Dialektik von Entdecken und Verdecken. Wir müssen damit rechnen, dass die Lebensformen in der technischen Zivilisation von der Art sind, dass wir zunächst und zumeist, wie Heidegger sagen würde, mit dem Gemachten zu tun haben, nicht mit dem Gegebenen. Natürlich ist auch das Gemachte in gewisser Weise gegeben, nur ist dessen Formation gewissermaßen ernster als es die bisherige Phänomenologie unterstellte, weil es in seiner Formation nicht bloß um epistemische Vorgänge geht, also beispielsweise begriffliches Erfassen oder Erklären, sondern um praktische, nämlich herstellende. Das zentrale Beispiel dafür ist die Beziehung von Körper und Leib. Der moderne Mensch in der technischen Zivilisation versteht sich wesentlich als Körper. Das ist sicherlich auch im klassischen Sinne eine epistemisch präformierte Hinsicht, insbesondere, wie ich sagen würde, die Sicht auf die eigene Natur vermittelt durch den Blick des Anderen, vor allem der Wissenschaft. Nur ist die Situation ernster, insofern sich der Mensch in der modernen, also der Arbeitsund Verkehrswelt auch praktisch cartesianisch zu sich verhält, d. h. er stellt seine Befindlichkeiten durch Einsatz von Pharmaka den aktuellen Funktionen entsprechend her. Der extremste Fall in dieser Hinsicht ist der von dem Parkinsonkranken Helmut Dubiel 13 berichtete, der sich selbst mit Hilfe eines Hirnimplantats umschalten kann: In einem Zustand ist er der geläufig sprechende Dozent, der 12
Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. III/1: Der leibliche Raum, Bonn 2005, S. 1. 13 Helmut Dubiel, Tief im Hirn, München 2006.
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Gernot Böhme
jedoch von parkinsonschem Zittern geschüttelt wird, im anderen Zustand ist er der ruhig Gehende und Stehende, der jedoch des Sprechens nicht mehr mächtig ist. Der Alltag des Lebens in der technischen Zivilisation sieht harmloser aus, doch der extreme Fall macht deutlich, dass die Phänomenologie heute, will sie an das, was sich von selbst zeigt, herankommen, mehr verlangt als epistemische Regeln. Sie verlangt nämlich einen weitgehenden oder zumindest vorübergehenden Verzicht auf Selbstmanipulation und eine Haltung zu sich selbst, in der das, worin wir uns gegeben sind, auch als das Eigene anerkannt wird. Literatur Böhme, Gernot, Einführung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 4 2001. Böhme, Gernot, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003. Böhme, Gernot, Invasive Technisierung. Technikphilosophie und Technikkritik, Kusterdingen 2008. Böhme, Gernot, Phänomenologie als Kritik, in: Michael Großheim (Hrsg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg, München 2008, S. 21–36. Descartes, René, Discours de la méthode, übers. u. hrsg. v. Holger Ostwald, Stuttgart 2001. Dubiel, Helmut, Tief im Hirn, München 2006. Goethe, Johann Wolfgang, Zur Morphologie. Die Absicht eingeleitet, in: ders., Weimarer Ausgabe, 2. Abteilung, Band 6: Zur Morphologie. Erster Teil, Weimar 1891, S. 8–15. Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Methode. Erstes Buch (= Husserliana, Bd. III/1, hrsg. v. Karl Schuhmann), Den Haag 1976. Kant, Immanuel, Über Pädagogik (1803), in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1964, S. 691–761. Sarte, Jean-Paul, Die Fliegen, übers. v. Gritta Baerlocher, in: ders., Gesammelte Dramen, Reinbek bei Hamburg 1969, S. 7–65. Schmitz, Hermann, System der Philosophie, Bd. III/1: Der leibliche Raum, Bonn 2005. Vico, Giambattista, Liber metaphysicus. De antiquissima Italorum sapientia liber primus (1710), übers. aus dem Lat. und Ital. v. Stephan Otto und Helmut Viechtbauer, München 1979.
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Kampf um Identitäten Perspektiven einer phänomenologisch fundierten Kulturkritik
Der Begriff der »Identität« steht auf einem schwimmenden Boden. Identitäts-Konzepte sind spannungsreich, heterogen, in ihrer Relationalität voraussetzungsvoll und mit vielfältigen theoretischen Konnotationen beladen. 1 Identität suggeriert die empirische Auffindbarkeit von Einzelnem, das von anderem Einzelnen durch Verschiedenheit klar getrennt werden könnte. Wenn diese Erwartung durch die Erfahrung mit ähnlichen Dingen auch genährt werden mag, so findet sie im sozialen Kosmos menschlichen Lebens keinen Halt. Was durch biographische Verwicklungen in Geschichten2 , Kraftfelder der Sozialisation oder Situationen des Zufalls auf die Bildung einer individuellen Person einwirkt, ist letztlich doch nicht durch Identität geprägt, sondern durch eine mitunter vielfach gebrochene, von Differenzen und Widersprüchen getragene Ordnung, die eine personale Einheit erst als Vielfalt vorstellbar macht, welche durch das gelebte Leben einer Person individuell-biographisch zusammengehalten wird. Die Verfugung des Vielen zu einem Ganzen lässt sich auch insofern nur schwerlich als »Identität« (im Sinne eines mit sich identischen Wesens) beschreiben, weil das von einer Person lebbar gemachte Viele in wechselhaften Zeiten biographisch oft nicht von Dauer ist. Die individuell fließenden Lebens-Bewegungen konstituieren Identität eher in Momentaufnahmen. Schon jede Erinnerung an vergangene Situationen eige1
Vgl. Hans Ineichen, Probleme der Identität, in: Jure Zovko (Hrsg.), Identität?, Berlin 2008, S. 61–75. 2 Wilhelm Schapp wirft durch die Perspektive gelebter Geschichten einen systematischen Blick auf die Werdung menschlicher Identität (vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Wiesbaden 1976).
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nen Lebens baut »das Ganze« – wenn auch nur in Spurenelementen – aus der Erlebnis-Perspektive einer immer neuen Gegenwart um. Identität hat die Gestalt eines chaotisch verzweigten Wurzelsystems und nicht die eines ordentlich gegliederten Gebäudes. 3 Sie verändert sich in der Zeit – je nach der Art eines gelebten Lebens – mehr oder weniger grundlegend und nachhaltig, so dass für die Zuerkennung von Identität wenig Grund besteht. Dennoch bietet sich der Begriff für eine phänomenologisch orientierte Kulturkritik an, weil er den Menschen im Ganzen in den Blick nimmt. I. Identität – zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung Für die Erziehungswissenschaft, die sich paradigmatisch und bildungstheoretisch als Disziplin der Unterstützung und forschenden Begleitung von Prozessen der Identitätsbildung entwirft, ist der Identitäts-Begriff erwartungsgemäß von theoretisch tragender Bedeutung. Identität wird hier aber auch verstanden als ein »Bewusstsein […], das ein Individuum von sich selbst hat« 4 . Zwar wird die Entstehung und Veränderung von Identität fokussiert und die Herausbildung von Charakter und Persönlichkeit als soziale Konstruktion aufgefasst. Identitätsbildung wird dabei auf einem konstruktivistischen Hintergrund kognitivistisch gedacht. Dieses Verständnis führt mitunter zu pathologisierenden Abgrenzungen, wonach schon das Gefühl, dass die »Konsistenz unterschiedlicher Aspekte des Selbst und die Kontinuität der eigenen Identität über Raum und Zeit […] nicht (mehr) vorhanden« 5 ist, als »Identitätsstörung« 3
Deshalb bezieht Hermann Schmitz theoretische Distanz zu Persönlichkeitsbegriffen, zu denen auch der der Identität gehört: »Die meisten Formeln für den Persönlichkeitsbegriff muß ich ablehnen, weil sie […] ein die Person im Wesentlichen umspannendes Ganzes oder organisiertes System unterstellen, ohne daß zuvor geklärt wäre, ob und in welchem Sinn eine solche integrierende Gesamtform vorkommt.« (Hermann Schmitz, System der Philosophie, Bd. IV: Die Person, Bonn 1980, S. 306.) 4 Heinz-Elmar Tenorth, Rudolf Tippelt, Beltz Lexikon Pädagogik, Weinheim, Basel 2007, S. 331. 5 Heinz-Elmar Tenorth, Rudolf Tippelt, Beltz Lexikon Pädagogik, a. a. O., S. 334.
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Kampf um Identitäten
angesehen wird. Dieses Denken bringt nicht eine eingeschränkte hermeneutische Perspektive zum Ausdruck. Es forciert ein Menschenbild, das die systematische Konzeptionalisierung von Erziehungs- und Bildungsprozessen in einen rationalistisch durchoperationalisierten Prozessmaschinismus stellt und sich deshalb bruchlos in die positivistische Programmatik von PISA-Studien und ähnlichen Daten sammelnden Aktionen fügt, die nicht den Erfolg von Bildungs-, sondern Ausbildungsprozessen evaluieren. Und es erklärt mit seiner konsistenten Vorstellung von Identität die »Identitätsstörung« zum Normalfall von Identität schlechthin; welche auch nur weitgehend klarsichtige Person sollte schon von sich behaupten, dass die unterschiedlichen Aspekte ihres Selbst über Raum und Zeit fortbestehen. Ein solcherart aseptisch gegen jede Lebensdynamik gereinigter Identitäts-Begriff idealisiert ein Gleichgewicht, das es nicht gibt. Die Pathologisierung von Ungleichgewichten sieht darüber hinweg, dass gerade in »chaotischer Mannigfaltigkeit« (im Sinne von Hermann Schmitz) die identifizierbare Besonderheit eines unterscheidbaren Ganzen begründet sein kann. Dieses an disziplintheoretisch zentraler Stelle so asymmetrische Identitätsverständnis macht die Notwendigkeit einer Erweiterung des Identitäts-Denkens deutlich, ebenso aber auch die Dringlichkeit der Ausweitung von Kulturkritik auf die Diskurskultur wissenschaftlichen Denkens und die davon ausgehenden Ausstrahlungen in das lebensweltliche Denken der Menschen. Personen schreiben sich – aus einem generativen und kreativen Vermögen zur Selbstkonstitution – selbst (physische wie psychologische) Identität zu. Wenn diese im Wesentlichen auch durch das individuelle Handeln aufgebaut wird, so werden Personen im Zuge ihrer Vergesellschaftung doch auch zu Objekten der Fremdzuschreibung von Identität. So werden nicht nur kulturell herrschende Denkstile und Aufmerksamkeiten, sondern auch habituelle Dispositionen auf dem Niveau einer »Haltung« 6 in das eigene Selbst integriert. Das ist bei Dingen – die ihrerseits Identität haben 6
Haltung sei hier verstanden im Sinne von Jürg Zutt (vgl. Jürg Zutt, Die innere Haltung, in: ders., Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Schriften, Berlin u. a. 1963, S. 1–88), der sie in einem unmittelbaren Aus-
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– anders. Was als ihre Identität gilt, wird ihnen aus kulturellen Hintergründen zugeschrieben. Bei komplexen Gegenstandsordnungen, die ganze Realitätsausschnitte und Wirklichkeiten repräsentieren, wird dies deutlich. Deshalb können auch Landschaften, selbst wenn sie sich in ihrer komplexen Realität ähneln wie ein Haar dem anderen, nicht einmal in landschaftsökologischer Hinsicht in ihren Struktur- und Prozesseigenschaften als identisch angesehen werden. Noch nicht einmal ein und dieselbe Landschaft ist mit sich selbst identisch, denn als Folge wachstumsbedingter, jahreszeitlicher, wetterbedingter u. a. Zyklen verändert sie sich in ihrer Physiognomie kontinuierlich in einer Weise, die in der sinnlichen Wahrnehmung als Veränderung in phasenartigen Sprüngen erlebt wird. Gleichwohl bleibt sie durch die in ihrer Gegend besondere Verklammerung charakteristischer Merkmale »diese« Landschaft, deren Identität in einer spezifischen Mannigfaltigkeit besteht und situativ ganzheitlich zusammengehalten wird. Diese Form von Identität setzt innere Verschiedenheit nicht nur voraus; sie ist auch durch sie bestimmt. Bevor einer Landschaft aktuell von Menschen Identität zugeschrieben wird, ist sie in historisch gewachsene Bedeutungsordnungen eingewoben, denen je herrschende Symbolisierungsroutinen und damit verbundene Gefühlserwartungen zugrunde liegen. Solche Bedeutungs-Collagen haben semiotische Zentren und Peripherien. Die Zentren können über ihre Macht Wahrnehmungsroutinen und damit eine tendenziell serielle Erlebniskultur begründen. Mit der Thematisierung von Prozessen der Zuschreibung von Identität will ich zwei Fragen der Kulturkritik verbinden; zum Ersten (siehe II) die Frage nach Fremdzuschreibungen von Identität. Diese fungiert als eine Praktik der Einweisung eines Individuums oder Gegenstandsbereichs in eine Identifizierungsschablone, die im Falle kulturell zentraler Bedeutungsfelder (z. B. die typisch romantische Landschaft des 19. Jahrhunderts) an das Erleben in gemeinsamen Situationen kultureller Gruppen adressiert ist. Fremdzuschreibung von Identität hat damit weit über die Programmatik der Phänomenologie hinaus soziologische, politische und psychodrucksverhältnis zur Sprache, dem Denken sowie anderen Ausdrucksäußerungen sieht.
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logische Relevanz. Zum Zweiten (siehe III) will ich der Frage nachgehen, inwieweit die Neue Phänomenologie als erkenntnistheoretische Methode der Selbst- und Welterschließung als eine Form der Kulturkritik angesehen werden kann, die sich auf die Reflexion der Prozesse an der Schnittstelle von Fremd- und Selbstzuschreibung von Identität anwenden lässt und damit auch lebensweltlich bedeutsam wäre. Dabei gehe ich davon aus, dass sie Prozesse der Identitätsbildung in einer Weise verständlich macht, die ein Lebenswissen generiert, das in seiner individuellen Anwendung eine Form gelebter Kulturkritik zur Geltung zu bringen vermag. Dies setzt zunächst einen wenigstens knappen Umriss dessen voraus, was im Folgenden unter Kulturkritik verstanden werden soll. Der etymologische Bedeutungskern von »Kritik« rückt die Kunst fachmäßigen Beurteilens in den Mittelpunkt.7 Kritik gilt als die höchste Funktion des Verstandes und scheint damit eine rein intellektuelle Aufgabe zu sein. Dennoch geht sie nicht in rationalen Handlungen auf, liegen jeder Kritik doch auch gefühlte Urteile zugrunde. 8 Sigmund Freud merkte zur Kulturkritik an, »daß die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden […]« 9 . Kritik beginnt aber schon mit der Bereitschaft, sich in einer Gestimmtheit auf sie einzulassen. Damit verliert Kritik ihren allein rationalistischen Charakter, der in den Wissenschaften idealisiert wird. Diese sind – in neoliberalen Zeiten wissenschaftlicher Wissensproduktion allzumal – als Folge ihrer impliziten Distanzierung von einem aufklärungsorientierten Wissenschaftsverständnis vornehmlich an kognitivistisch-aseptischen Wissenszuwächsen orientiert. Deshalb sind sie systemisch gegenüber dem Umstand blind, dass schon ein irritierender oder idiosynkratischer Eindruck – eine »Laufmasche« im Erleben eines stimmig erscheinenden Ganzen – in einer Macht des Plötzlichen gerinnen kann und der Entfaltung 7
Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Leipzig 1991, S. 2334. 8 Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, a. a. O., S. 2335. 9 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931, Frankfurt a. M. 5 1976, S. 419–506, S. 505.
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der Gegenwart und damit der Umwandlung von Identität eine Richtung gibt, die sich als Kritik ihren Weg bahnt. Kulturkritik ist selbst ein kultureller Ausdruck und deshalb nur aus ihrer jeweiligen Zeit heraus zu verstehen, nicht zuletzt, weil sie durch wissenschaftstheoretische Trends und Moden paradigmatisch »formatiert« wird. Kulturkritik bezieht sich auf Kultur und damit (etymologisch) nicht auf ein Gewebe abstrakter Werte und Normen, sondern auf das, was Menschen im Sinne der »Pflege, Bearbeitung und Vervollkommnung einer Sache zu einem bestimmten Zweck« tun. 10 Im Unterschied dazu hat sich das gegenwärtige Verständnis von Kultur – und damit der Gegenstand von Kulturkritik – durch den so genannten cultural turn entgrenzt. Der cultural turn überwölbt in den Sozialwissenschaften tendenziell das gesamte theoretische Feld der menschlichen Identitätsbildung. Kultur wird damit zu einem so kontingenten Gegenstand, dass es schwer fällt, Dinge, Praktiken, soziale Beziehungen bzw. Situationen dies- oder jenseits von Kultur auszumachen. 11 Folglich sammelt das engmaschige Netz der Kulturkritik tendenziell alles ein, was die Lebenswirklichkeit von Menschen betrifft. II. Identität durch Kritik? Der Umstand, dass Kritik einem affektiven Impuls folgt, macht darauf aufmerksam, dass ein Wille zur Kritik, »der mit einer Stimmung, einer Leidenschaft, einem Gefühl, mit einer Moral oder Ethik der Kritik verbunden ist« 12 , jeder z. B. sprachlich ausgedrückten Kritik vorausgeht. Der eine bestimmte Form der Kulturkritik tragende Affekt wird aus dem Hintergrund einer persönlichen oder gemeinsamen Situation gespeist. Dieser ist aber nicht als etwas Einzelnes identifizierbar, sondern in die chaotische Mannigfaltigkeit 10
Friedrich Kirchner, Carl Michaëlis, Johannes Hoffmeister, Arnim Regenbogen, Uwe Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998, S. 367. 11 Vgl. Stephan Moebius, Kultur, Bielefeld 2009. 12 Alex Demirovic, Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik, in: ders., Kritik und Materialität, Münster 2008, S. 9–40, S. 10.
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persönlich, lebensgeschichtlich oder gemeinschaftlich verklammerter Bedeutungszusammenhänge eingewickelt. Letztlich lässt sich das eine Kritik zündende Gefühl auch nur selten auf exakte Gründe zurückführen 13 , weil der Komplexitätscharakter einer Situation der Vereinzelung eines ihrer Momente entgegensteht. So ist auch die explizierende Zuspitzung eines subjektiv hinreichend deutlichen Bedürfnisses auf ein singuläres »So-ist-es« nicht möglich. Kritik, in die ein Individuum affektiv involviert ist, ist nicht nur Ausdruck von Identität und Persönlichkeit (im Sinne der persönlichen Situation 14 ). Sie wirkt auch auf diese zurück. Grundsätzlich kann sie als Oszillieren zwischen persönlicher und gemeinsamer Situation 15 verstanden werden. Deshalb fragt Alex Demirovic, was wir tun, wenn wir kritisieren, »welche Macht wir kritisierend ausüben, wohin uns die Kritik führen wird, welche Identität wir durch die Kritik erlangen.« 16 Wo kommen die Kriterien der Kritik her? Meistens aus einer Situationsbewertung, die von der Idee eines »besseren« Lebens ausgeht. Bevor etwas subjektiv zu einem Thema der Kulturkritik wird, muss ein bestimmtes So- oder Anders-leben von Menschen zum Anlass einer Erregung werden. Wenn diese Erregung nicht nur individuellen Charakter hat, sondern Ausdruck entfalteter Gegenwart in gemeinsamen Situationen ist, bringt sie eine allgemeine kulturkritische Grundstimmung zum Ausdruck. So herrschte in den 1960er und 1970er Jahren in der Praktizierung von Kulturkritik eine von Grund auf andere Situation als in der Gegenwart. Die stimmungskritische Sensibilität zur Identifizierung von Problemen war durch den historischen Hintergrund der Nachkriegsgeschichte disponiert. Die gleichsam nervöse Alarmbereitschaft, deren affekti13
Vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, Bonn 1994, S. 230. 14 Die persönliche Situation beschreibt Hermann Schmitz auch als »persönliche Eigenwelt« (Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 180). 15 Zur Differenzierung zwischen persönlicher und gemeinsamer Situation bei Schmitz vgl. im Sinne einer Zusammenfassung z. B. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, a. a. O., Kap. 1.7 (S. 67–84). 16 Alex Demirovic, Leidenschaft und Wahrheit, a. a. O., S. 9.
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ve Sensoren für schnell wiederkehrende Irritationen sorgten, sind in der Gegenwart – allzumal in intellektuellen akademischen Kreisen – anders getaktet. An die Stelle einer kulturkritischen Grundstimmung ist heute ein Gefühl der weitgehenden Zustimmung zu gesellschaftlichen Verhältnissen getreten. Hohe Problemsensibilität ist in postkritische Indifferenz umgeschlagen. Als Folge dieser veränderten gemeinsamen Situation wandeln sich auch persönliche Identitäten (wie die Art und Weise von Kulturkritik durch die persönliche Identität eines Kritik Übenden geprägt wird). Artikulierter Kulturkritik liegt eine – wissenschafts- bzw. »diskurs-kulturell« meist übersehene – persönliche Beziehung zum Gegenstand von Kulturkritik zugrunde, die einen gefühlsmäßigen Charakter hat. Themen wie »Selbstbestimmung« und »individuelle Freiheit« zeigen sich 40 Jahre nach einer virulenten Zeit kultureller und politischer Umbrüche mit einem anderen Gesicht. Heute gilt noch nicht einmal die Tauschwertlogik als erste Rationalität in der universitären Produktion wissenschaftlichen Wissens als überwindungsbedürftig. In der Alltagskultur wird der Konsum von Gütern und Dienstleistungen als Weg persönlicher Selbstverwirklichung und Findung von Sinn gelebt. An die Stelle einer kulturkritischen Haltung gegenüber hegemonialen Strukturen in Politik und Ökonomie ist eine Bereitschaft zum gefühlsmäßigen Mitschwimmen in diesen Systemen getreten. Eine allgemeine Desensibilisierung gegenüber Belangen der Gesellschaft, die bestenfalls in lokalen Einheiten noch den Charakter gemeinsamer Situationen hat, spiegelt sich auch im Wissenschaftssystem wider, das begonnen hat, sich zu einem Maschinismus serieller Produktion geldwerter Tauschgüter zu transformieren und das individuelle Denken am Maßstab (hochschul-)politischer Akzeptanz zu messen. Vor allem der wissenschaftliche Nachwuchs unterliegt einem starken emotionalen Druck diskursiver Disziplinierung, der Folge systemischer Fremdzuschreibungen von Identität ist. Gesellschaftliche Konfliktfelder dringen als Herd von Problemen (durch Betroffenheit) nur unter bestimmten institutionellen und meist ökonomischen Vorbedingungen in den Affektbereich der persönlichen Situation vor. Folglich werden persönliche Interessen weniger durch individuelle Aufmerksamkeiten getaktet als durch 158 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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außengeleitete Disziplinierungen und soziale Kontrollmechanismen. 17 Beide Prozesse führen zu einer Serialisierung der Produktion wissenschaftlichen Wissens, die u. a. in der Ausgrenzung so genannter Orchideenforschung zum Ausdruck kommt, schleichend und viel nachhaltiger aber noch mittels der Kanalisierung von Forschungsgeldern durch politische und ökonomische Schleusen gesteuert werden kann. Die offene und verdeckte Disziplinierung des Denkens ist so mächtig geworden, dass sie auch die materielle Thematisierung von Fragen der Kulturkritik konditioniert hat. So wird auf dem Wege der Fremdzuschreibung von Identität letztlich auch die affektive Identifikation mit Themen, Theorien, Intentionen, Schreibhaltungen etc. programmatisch justiert und eingedämmt. Individuelles Wissen-wollen wird zunehmend durch den herrschenden Diskurs der Disziplin kolonisiert. Die diskursive Macht der Disziplinen präjudiziert damit (qua Zuschreibung) auch wissenschaftliche Theorien (Konstruktivismus, Methodologischer Individualismus etc.). Diese Macht setzt sich über eine Atmosphäre der Disziplinierung in eine affektive Disposition zur Anpassung um. So entsteht in größerem Stil keine Kulturkritik mehr, die nicht durch den herrschenden Diskurs des Mainstreams schon gedeckt wäre. Ein Defizit an Kulturkritik abseits des wissenschaftlichen Mainstreams führt innerhalb der Wissenschaftskultur zu Transformationsprozessen an der Schnittstelle zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung von Identität. Systemisch vermittelte Fremdzuschreibung von Identität bewirkt nicht zuletzt die individuelle Anpassung an Gratifikationssysteme, aber auch einen Verzicht, Bestimmtes in thematischer und methodischer Hinsicht zu tun. Solche Fremdzuschreibung von Identität ist keiner personalen Macht zuzuordnen und kann deshalb auch nicht in Vis-á-vis-Gesprächen Konfliktcharakter bekommen und folglich auch nicht »aus der Welt geschafft« werden. Die Foucaultsche Macht der Diskurse garantiert die stumme Einbettung in ein diskursives Netz der Akzeptabilität.
17
Vgl. auch Clemens Albrecht, Barbaren vor den Toren der Wissenschaft, in: Forschung & Lehre, Bd. 14 (2007), S. 452–455.
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So reinigt der herrschende Diskurs das Denken von »ver-rückten« Gedanken. Hermann Schmitz spricht solche Macht als »anonyme Macht« an. 18 III. Phänomenologie als Methode der Kulturkritik? Kulturkritik vom Stile Kritischer Theorie der Frankfurter Schule ist in Verruf geraten. 19 Unstrittig ist dagegen, dass zur modernen Kultur auch ihre Kritik gehört. 20 In Frage steht nur die Art und Weise, sie zu betreiben. Im Modus der Ideologiekritik gilt sie heute als normativ überladen. Nach Ralf Konersmann verlangt das Ethos der Kulturkritik »die Einstellung der Nicht-Arroganz« 21 ; deshalb sieht er »die Praxis postrestitutiver Kulturkritik […]« auch als modernitätsbewahrend: »Sie ist Ausdruck und Agentin der Moderne, sie ist ihr lebendiger Vollzug.« 22 Phänomenologisch ausgerichtete Kulturkritik unterscheidet sich dadurch grundlegend vom sozialwissenschaftlichen Modus der Kulturkritik, dass nicht »objektive« gesellschaftliche Verhältnisse im Zentrum der Kritik stehen, sondern die machtvollen Kraftquellen subjektiver Sachverhalte, in denen sich diese gesellschaftlichen Verhältnisse auf einer Erlebnisebene spiegeln. Thema der Kulturkritik sind dann nicht objektivierbare Strukturen in Ökonomie, Politik, Administration, Technologie etc., sondern das affektive Betroffen-Sein von ihren besonderen Ausdrucksformen. Es sind dies subjektive Sachverhalte, die allein eine Person im eigenen Namen zum Ausdruck bringen 18
Vgl. z. B. Hermann Schmitz, Geld als Macht und Ohnmacht, in: ders., Jenseits des Naturalismus, Freiburg, München 2010, S. 98–110. 19 Auch existiert die Differenz zwischen Anspruch und Erwartung nicht mehr in so linearer Weise wie zur Hochzeit der Kritischen Theorie. Die Utopien sind abgeklärt, an die Stelle überhöhter Erwartungen ist das Arrangement mit dem Gegebenen getreten; vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 11. 20 Vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O., S. 11 und Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008, S. 133. 21 Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 132. 22 Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 133.
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kann.23 In den Mittelpunkt rücken damit Eindrücke, die in persönlichen und/oder gemeinsamen Situationen keimen. Kulturkritik setzt den Gebrauch von Werten und Normen voraus. Wenn die Essenz von Kritik im fachmäßigen Beurteilen einer Sache liegt, dann geht solches Beurteilen notwendig auf Werte und Normen zurück. Kulturkritik, die sich nicht ideologiekritisch, sondern methodologisch versteht, wendet Werte und Normen nicht auf die Kritik materieller Lebensformen an, sondern z. B. auf die innerhalb wissenschaftlicher Communities diskursiv mächtig gemachten Praktiken der Erkenntnisgewinnung. Phänomenologie ist in dieser Hinsicht eine Form der Kulturkritik, weil sie die wissenschaftshistorisch entwickelten erkenntnistheoretischen Rahmenbedingungen von Kulturkritik ebenso zum Gegenstand von Kritik macht wie die kulturimmanente Produktion von Wissen. Solche Kritik verfolgt notwendig zwei Richtungen. Zum einen zielt sie auf die Kritik der zivilisationshistorischen Diffusion bestimmter kultureller selbst- wie weltbezogener Denk- und Empfindungsregime ab, die zutiefst von der Mythologie des Christentums geprägt sind und weniger rational als emotional in ein kollektives Unbewusstes einverleibt sind. 24 Zum anderen macht sie – als konkretisierende Konsequenz hieraus – das Denken und Fühlen der Menschen zum Gegenstand der Reflexion, denn erst in konkreten Lebenssituationen drückt sich aus, in welcher Weise einverleibte affektlogische Muster handlungsrelevant werden. Phänomenologische Kulturkritik zielt in diesem Sinne auf die kritische Revision der identitätsspezifischen Selbstkonstitution der Individuen im Allgemeinen wie im Besonderen. Durchgreifende Kulturkritik praktiziert die Neue Phänomenologie schon, indem sie die Alphabetisierung des individuellen Ausdrucksvermögens von Gefühlen reklamiert. Darin entfaltet sich insofern eine Form gelebter Kulturkritik, als Individuen durch eine Vergrößerung ihres selbst- wie weltbezogenen Sprechvermögens in die Lage versetzt werden, sich Wirkungsweisen der Fremdzuschrei23
Vgl. Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 59. Vgl. dazu besonders Fritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaften, Leipzig 1881.
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bung von Identität durchschaubar und damit revidierbar zu machen. So kommt ein Anspruch auf Genauigkeit in jenen Bereichen der Reflexion menschlichen Lebens zur Geltung, der von den Sozialwissenschaften im Allgemeinen übergangen wird – im Bereich des sinnlichen Erlebens und des davon berührten leiblichen Befindens. Was Hermann Schmitz an den Methoden der exakten Naturwissenschaften kritisch sieht, lässt sich auf die modernen Sozialwissenschaften übertragen. Sie bleiben oberflächlich, »weil sie Sensibilität nicht nähren« 25 und das Individuum im Allgemeinen als beinahe ausschließlich rational handelndes Subjekt voraussetzen und darin so tun, als sei auf der Ebene rationaler Handlungen Ordnung im Chaos menschlichen Lebens zu schaffen – als gehe das Individuum in reinem Akteur-Sein auf. Rüdiger Bittner greift den dem methodologischen Individualismus inhärenten Reduktionismus mit einem Verweis auf das Vermögen von Tieren an. Danach können nämlich auch Tiere als Handelnde angesehen werden: »Aus Gründen Handelnde sind Tiere, die sich ihren Weg durch die Welt schnüffeln. Sie haben die Welt nicht unter Kontrolle. Sie sind hingegeben dem, worauf sie treffen.« 26 Bittner sieht den Menschen zwar als handelndes, aber auch als vitales und leibliches Wesen, das nicht allein durch Intellektualität geprägt ist. Der Mainstream der Sozialwissenschaften weist paradigmatisch eine defizitäre Sensibilität gegenüber nicht-rationalen Widerfahrnissen, Begegnungen, Erlebnissen wie emotionalen Mächten auf, die den eigenen Leib berühren und auf verdeckten Wegen das Denken und Tun in Richtungen weisen. So kehren wissenschaftstheoretische Sichtblenden auf einem ethnomethodologischen Niveau wieder, weil sie über ihre Einverleibung zu einem Moment der lebendigen Person des Wissenschaftlers geworden sind – zu einer Facette seiner Identität – und so dessen persönliche Sichtblenden konstituieren. Letztlich forscht ja nie »die« oder irgendeine Wissenschaft, sondern dieses oder jenes individuelle Subjekt, das existierenden Regeln Geltung verleiht und über das eigene forschende Tun Macht gewinnen lässt. »Sensibilität für das, was unwillkürlich 25 26
Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, a. a. O., S. XIV. Rüdiger Bittner, Aus Gründen handeln, Berlin, New York 2005, S. 198.
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betroffen macht, auch in den zartesten Nuancen«27 , fällt nicht in die Zuständigkeit der paradigmatischen Programme der Sozialwissenschaften, die in der Frage der Kulturkritik eine MonopolZuständigkeit anmelden. Konkret folgt aus solcher Kritik an der Wissenschaftskultur die Aufgabe, die Schicht des vermeintlich Selbstverständlichen im wissenschaftlichen Handeln vertiefend zu durchdringen. 28 IV. Andere Räume als Katalysatoren phänomenologischer Kulturkritik Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung von Identität vollziehen sich stets ortsbezogen. Sie geschehen aber in keinem abstrakten Raum, sondern an Orten, die situativ von Bedeutungen überlagert sind und diese zugleich hervorbringen. Dieser Zusammenhang von Ort, Bedeutung und persönlicher Identität konkretisiert sich nicht an allen Orten gleichermaßen, wenn er auch überall im Leben wirksam ist. Die von Michel Foucault mit dem Begriff der Heterotopien angesprochenen Anderen Räume zeichnen sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, die mit je orts- und funktionstypischen Ausdrucksmitteln Grenzen im sozialen Kosmos der Gesellschaft ziehen. IV.1 Was sind Andere Räume? Andere Räume sind mit Gefühlen hoch aufgeladen. Als atmosphärische Räume wirken sie nach innen, indem sie ihre Insassen bzw. Benutzer binden. Sie wirken nach außen, indem sie eine symbolische Ordnung innerhalb der Gesellschaft bekräftigen und durch eine bedeutungskomplementäre Gefühlsarchitektur stützen. Der Andere Raum ist zur Wahrung seiner besonderen Funktion dem 27
Hermann Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, a. a. O., S. XIII. Vgl. Hermann Schmitz, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfildern 1998, S. 7.
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freien Fluss der sozialen Ströme im offenen Raum der Gesellschaft entzogen. Andere Räume haben deshalb auch einen deutlich begrenzten Orts-Charakter, wie z. B. Gefängnisse, Altenheime, Ferienzentren, Frauenhäuser, Friedhöfe, Hospize, Gärten etc. Andere Räume sind »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind; gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«29 Heterotopien sind symbolisch ordnende Räume: »Heterotopia do not exist in the order of things, but in the ordering of things.« 30 Ihre ordnende Funktion erfüllen sie tatsächlich und im Medium des Mythischen. Das Altenheim sichert »tatsächlich« die pflegende Sorge um die Alten in speziellen Häusern, zugleich aber auch eine Entsorgung der Alten wie eine psychologische Anästhesierung und Neutralisierung des Bewusstseins eigenen Alterns. So sind Heterotopien maskierte Orte, die ihre mythische Macht der Normalisierung am wirkungsvollsten in der Einverleibung des Symbolisierten entfalten können. Ihren Zweck erreichen sie in einem doppelten Funktionieren: sie organisieren die tatsächliche Abweichung – z. B. die Delinquenz (im Gefängnis), das gebrechliche Altern (im Altersheim), die Verluste im Artenreichtum der Natur (im Zoo), die Entfremdungen in der Arbeitswelt (auf den Kreuzfahrtschiffen) u. v. a. – und sie ordnen diese Brüche zwischen dem Glauben an eine Ordnung und den Spannungsverhältnissen, die das tatsächliche Leben fern dieser Utopien hervorbringt. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen die Heterotopien Brüche und Widersprüche des erlebten Lebens verbergen. Gegen ihre mögliche Desavouierung sind sie deshalb auch durch die Masken ihrer Äußerlichkeit ge-
29
Michel Foucault, Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46, S. 39. 30 Kevin Hetherington, The Badlands of Modernity. Heterotopia and social ordering, London, New York 1997, S. 46.
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schützt. Die Schutzeffekte verdanken sich auch vielfachen Umfriedungen: architektonischen Grenzen zwischen Drinnen und Draußen, ästhetischen Grenzen durch Raum- und Geländegestaltungen, differenzierten Regelwerken in Form von Satzungen und Ordnungen. So wird auf den verschiedenen Wegen der Wechsel zwischen den Welten reguliert. Heterotopien verhindern auf diese schweigende Weise, »daß dies und das benannt wird« 31 . Wenn Edward Soja die Heterotopien als »hidden signifiers« bezeichnet32 , dann kommt darin dieses doppelte Verstecken einer machtvollen Geste der situativen Kommunikation von Bedeutung zur Geltung. Der systemische Sinn dieses Versteckspiels läuft darauf hinaus, möglichem lebensweltlichen Verstehen durch eine ästhetische, organisatorische, architektonische, ethische etc. Verwirrung der Codes zuvorzukommen. Den Effekt der Unsichtbarkeit des heterotopen Charakters eines Anderen Raumes sieht Helmut Willke in den Wirkungen einer kunstvoll aufgebauten Indifferenz gegenüber Unterschieden.33 Die meisten Heterotopien haben ihren angestammten Ort im Raum der Stadt. Eine durch und durch moderne Heterotopie ist das Parkhaus, das neben seiner pragmatischen Funktion die Utopie der Funktionsfähigkeit des motorisierten Individualverkehrs in einem mythischen Sinne rettet, wenn er ökologisch wie stadtplanerisch in seinem Scheitern auch nur noch schwer zu verschleiern ist. 34 Gegenwärtig erfüllt die postmoderne Architektur eine Aufgabe in diesem Prozess der Verschleierung, indem sie die ästhetisierende Fetischisierung des Automobils als »hohes« Kulturgut in glänzenden Prachtbauten arrangiert und so vor seiner politischen Kritik bewahrt. Hinter der nur scheinbar profanen Fassade einer Nutzarchitektur wirkt aber ein Mythos, der sich nur vermeintlich 31
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt a. M. 1974, S. 20. Edward W. Soja, Heterotopologies. A Remembrance of Other Spaces in the Citadel-LA, in: Sophie Watson, Katherine Gibson (Hrsg.), Postmodern Cities and Spaces, Oxford, Cambridge 1995, S. 13–34, S. 31. 33 Helmut Willke, Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 8. 34 Vgl. Jürgen Hasse, Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld 2007. 32
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über das visuelle Bild der Architektur kommuniziert, viel mehr aber über deren ganzheitliches Erscheinen Gefühle anspricht. Der Zoo ist ein Anderer Raum, in dem im romantisierenden Rahmen der Gefühle und Ideale zusammenkommt, was in den globalen Ökosystemen auseinanderbricht. So rettet der Zoo in seiner atmosphärischen Inszenierung die Utopie einer Artenvielfalt, die es tatsächlich von Jahr zu Jahr weniger gibt. Deshalb muss der Zoo als begehbares paradiesisches Bild erlebt werden können – weit weg von den tatsächlichen Lebensräumen der ausgestellten Tiere. Heterotopien sind hinter Grenzen versteckte und zugleich präsente Orte. Die Art und Ästhetik der Grenzziehungen stiftet Ordnung, ohne der Worte, Aussagen und Argumente zu bedürfen. Die Grenzen werden auf dem Wege leiblicher Kommunikation gezogen. Die Menschen fühlen sich in die strukturierte Programmatik einer heterotopen Situation ein und stimmen selbst ihren Habitus auf die Erfordernisse des Innen ein und ab. Foucault macht in diesem Sinne an vielen Stellen seiner Argumentation deutlich, dass die Diskurse nicht allein im Wort zu Hause sind, sondern ihre Macht gerade in einem diskursiven Außen entfalten. Die Analyse Anderer Räume vermag im Fokus phänomenologischer Kulturkritik deutlich zu machen: • in welcher Weise persönliche Situationen durch ihre Einbindung in eine gemeinsame Situation auf dem Wege der Zuschreibung weitgehend geschlossener Identitäten gleichsam »formatiert« werden können; • wie Programme zur Zuspitzung von Identität eingesetzt und als Medien der Macht durchgesetzt werden; • welche Bedeutung Gefühlen als Medien der Kommunikation und Suggestion von Identität zukommt; • wie programmatisch eingesetzte Atmosphären auf die Herausbildung von Identität einwirken und damit im Rahmen einer sich rationalistisch definierenden Gesellschaft Macht über Gefühle gewinnen und gesellschaftliche Veränderungen bewirken können; • dass politisch und ökonomisch bedeutsame Gefühlsräume nicht allein von Akteuren in intentionaler Absicht programmiert werden, sondern auch als Ausdruck von Traditionen, sozialen Kräf166 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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teverhältnissen oder als Folge von Synergieeffekten gleichsam »ohne Autor« entstehen und hoch wirksame Aufgaben erfüllen. IV.2 Für eine phänomenologische »Autopsie« der Heterotopien Weil Heterotopien unsere von Widersprüchen durchzogene soziale Welt immer engmaschiger strukturieren, provozieren sie aus der Perspektive der phänomenologischen Aufmerksamkeit die Kulturkritik an einer versteckten Fremdzuschreibung wie einer verdeckten Selbstzuschreibung von Identität. Solche Kulturkritik liefe auf die Desavouierung der Heterotopien hinaus, denn diese können ihre Wirkungen nur im Halbdunkel öffentlicher Aufmerksamkeit entfalten. Die Autopsie der Heterotopien könnte über die Preisgabe heimlicher Bewirkungen die verdeckten dysfunktionalen Bruchzonen der Utopien der Kritik zuspielen – wenn diese dann auch nicht mehr Sache der Phänomenologie sein mag. Die Neue Phänomenologie bietet eine Methode für diese Autopsie, die an den Eindrücken ansetzt, die von den szenischen, atmosphärischen und symbolisch verdeckten Arrangements Anderer Räume ausgehen. Darin besteht eine gewisse Nähe zum Spätwerk Foucaults – der »Hermeneutik des Selbst«. Wenn es auch große Differenzen zwischen Schmitz und Foucault gibt, so soll an dieser Stelle eine Gemeinsamkeit betont werden, die in der Zentrierung von Subjektivität besteht und nicht in einer Hinwendung zu Substanzen und symbolischen Chiffren bzw. objektiven Strukturen der Dinge, des Marktes, der Institutionen, der Technologien usw. So wird die Aufmerksamkeit gegenüber jenen Wirkungen von Vergesellschaftung geschärft, die am eigenen Leibe spürbar werden, denn das, was »die Menschen […] selber sind und was sie höchst persönlich angeht«, können sie »nicht allein an objektiven Tatsachen ablesen« 35 . In der Hinwendung zu den subjektiven Sachverhalten – an der Schnittstelle von Gefühl und Kognition – wird das sich seiner leiblichen Existenz gegenüber strukturell fremde Selbst 35
Hermann Schmitz, Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 429.
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in die Denkwürdigkeit getrieben. Die Phänomenologie ist in ihrer Anwendung auf die Kritik des eigenen Lebens eine besondere »Technologie des Selbst« im Sinne einer »Hermeneutik des Selbst«. Schmitz wie Foucault streben mit ihren philosophischen Programmen das Ziel an, die Macht über das eigene Leben nach Maßgabe selbstbestimmter Lebensführung auszudehnen. Kulturkritik pluralisiert damit ihre Orte; sie vollzieht sich nicht mehr allein in den Zentren der Wissenschaft, sondern stärkt die individuelle Verfügungsmacht über die persönliche Situation. Kolonisierende Prozesse der Fremdzuschreibungen von Identität können auf dem Hintergrund einer individuell gelebten Hermeneutik des Selbst im Spiegel der Selbstzuschreibung zu Identität aufgelöst werden. Am Beispiel der Heterotopien wird letztlich nur in besonderen Kontraststärken deutlich, in welcher Weise Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung von Identität über komplexe Wechselwirkungen verschränkt sind. Das (selbst-)erkenntnisvermittelnde Vermögen der Phänomenologie entfaltet sich daher mit hohen Erträgen in gleicher Weise im Leben diesseits der Heterotopien an den Orten alltäglichen Lebens im »normalen« sozialen Raum der Gesellschaft. Literatur Albrecht, Clemens, Barbaren vor den Toren der Wissenschaft, in: Forschung & Lehre, Bd. 14 (2007), S. 452–455. Bittner, Rüdiger, Aus Gründen handeln, Berlin, New York 2005. Bollenbeck, Georg, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Demirovic, Alex, Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik, in: ders., Kritik und Materialität, Münster 2008, S. 9–40. Foucault, Michel, Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt a. M. 1974. Foucault, Michel, Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter (Hrsg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34–46. Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. XIV: Werke aus den Jahren 1925–1931, Frankfurt a. M. 5 1976, S. 419– 506. Grimm, Jacob, Grimm, Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Band 11, Leipzig 1991.
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Kampf um Identitäten
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Heiner Hastedt
Ambivalenz im Leben des modernen Nomaden 1 »Kulturkritik ist Reflexion in der veränderten Welt.« 2 »Das Bekannte überhaupt ist, darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.« 3
Vor der Kulturkritik steht die empiriehaltige Deutung der eigenen Zeit – so wie medizinisch die Diagnose der Therapie vorangeht. So enthält jede Kulturkritik indirekt eine Zeitdiagnose. Bevor vermeintlich bekannte Verhältnisse reflektiert werden können, müssen sie auf den Begriff gebracht werden – und sei es wie im Folgenden mit Hilfe einer Metapher: Der moderne Nomade bereist nicht zu Pferde oder auf dem Kamel, im Zelt übernachtend, die Welt, sondern eignet sich als Metapher, um typische Phänomene der Gegenwart in kulturkritischer Absicht zu benennen. 4 Abgesehen von der Erscheinungsform einer kulturellen Avantgarde unter Künstlern und Weltenbummlern ist der moderne Nomade vorrangig ein Jobnomade und ein Wohlstandssucher; die 1
Dieser Text basiert auf Heiner Hastedt, Moderne Nomaden. Erkundungen, Wien 2009. 2 Ralf Konersmann, Das kulturkritische Paradox, in: ders. (Hrsg.), Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, Leipzig 2001, S. 9–37, S. 21. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (Werke Bd. 3), Frankfurt a. M. 1970, S. 35. 4 Metaphern sind in ihrer philosophischen Bedeutung umstritten, doch Odo Marquards Lob von Hans Blumenbergs Metaphorologie trifft einen wichtigen Punkt, um ihre Faszination zu benennen: »Keine Wissenschaft und keine Philosophie kommt aus ohne Bilder und Mythen: jede ist metaphernpflichtig. […] Wie beim Grog gilt: Wasser darf, Zucker soll, Rum muß sein, so gilt bei der Philosophie: Formalisierung darf, Terminologie soll, Metaphorik muß sein; sonst nämlich lohnt es nicht: dort nicht das Trinken und hier nicht das Philosophieren.« (Odo Marquard, Entlastung vom Absoluten, in: Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Hrsg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1999, S. 17–27, S. 23.) Vgl. insgesamt Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998.
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Ambivalenz im Leben des modernen Nomaden
ökonomische Veranlassung des Nomadischen bleibt beim traditionellen und modernen Nomaden gleich. Das Ökonomische verlangt und verstärkt in der Moderne Haltungen des Flexiblen, die in andere Lebensbereiche ausstrahlen, so dass der durch Arbeit an Wanderschaft Gewöhnte oft Teil einer Mobilität erfordernden Wochenendpartnerschaft ist und gerne touristisch reist. 5 Die ökonomisch globalisierte Welt wird wieder von Nomaden bevölkert, nachdem frühere Stadien der Kultur gerade die Sesshaftigkeit nahe legten. In der Kulturgeschichte der Menschheit gehört es zu den verbreiteten Annahmen, dass die Sesshaftwerdung des Menschen durch Ackerbau und danach in der Verstädterung einen großen Fortschritt darstellt. Heute werden wir Zeuge eines umgekehrten Vorganges: Aus sesshaften Menschen werden wieder Nomaden. Während der wandernde Handwerksgeselle, der Schäfer, der Schausteller oder auch der Obdachlose nur als gesellschaftliche Minderheit einen nomadischen Charakter hatten, werden moderne Nomaden heute mehrheitsfähig und gehören in die Mitte der Gesellschaft. Nicht mehr ein immobiles Kleinbürgertum dominiert das Zeitalter, sondern zunehmend die Mobilität in allen Schichten der Gesellschaft. Vor allem sind es Ortswechsler und Ortswechslerinnen, die wegen der Suche nach Arbeit und Wohlstand ihre angestammten Wohnorte verlassen. Nomaden gehören zur modernen Welt nicht nur in Europa, sondern beispielsweise auch in Amerika und zunehmend wohl auch in China. Neben die immer wieder auf Statik angelegten Ortswechsel treten zunehmend Arbeitsverhältnisse, die von vornherein zeitlich befristet sind: So wird mobile Arbeit zum Besuch fremder Welten, indem er oder sie beispielsweise als Manager, Sprachlehrer, Schiffsingenieur, Montagearbeiter oder Diplomat von Ort zu Ort zieht. Tages- und Wochenendpendler, die versuchen, Paar- und Familienleben mit einer Arbeit an anderen Orten in Einklang zu bringen, komplettieren das Bild des Nomaden: Was arbeitsbezogen beginnt, wird im persönlichen Leben als Notwendigkeit in Kauf genommen oder gar als freiwilliger Lebens5
Vgl. bereits Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Reinbek 1998 und Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997.
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Heiner Hastedt
stil gesucht – mit der gesellschaftlichen Tendenz, aus Familien mit Kindern kinderlose Paare oder gleich Singles werden zu lassen. Zu den modernen Nomaden können auch Arbeits- und Wohlstandsimmigranten, Asylsuchende und Flüchtlinge gerechnet werden, die nicht selten – der Not entfliehend – aus eher traditionsbezogenen Milieus kommen und sich jetzt erstmalig mit der Mobilität in der modernen Welt konfrontiert sehen. Zur Charakterisierung des Nomadischen in der Moderne stehen Ortswechsel und Mobilität im Zentrum, während das Wiederkehrende und Regelmäßige der Bewegungen eines traditionellen Nomaden zurücktritt oder angesichts des Verlustes von Selbstverständlichkeiten sogar ganz aufgegeben ist. Behauptungen wie solche über das Leben moderner Nomaden erfordern Belege und empirische Quellen, die einem Philosophen als solchem nicht zu Gebote stehen. Ein Philosoph ist kein (empirischer) Wissenschaftler, dies ist seine Schwäche – und seine Stärke zugleich; denn so kann er auf eigenes Risiko und ohne Sicherheitsnetz nachdenken. Speziell phänomenologische Philosophen beanspruchen, direkt über offen zu Tage Tretendes zu schreiben. Die phänomenologische Weltannäherung hofft auf ähnliche Evidenzerlebnisse beim Leser; wo diese ausbleiben, kann man nicht argumentieren, sondern muss weiterziehen. Edmund Husserl propagiert in den frühen Logischen Untersuchungen die Urteilsenthaltung als Weg zu den Sachen selbst. Auch der spätere Husserl hält in den Cartesianischen Meditationen noch an diesem Programm fest: »Statt in der Weise des bloß sachfernen Meinens ist in der Evidenz die Sache als sie selbst, der Sachverhalt als er selbst gegenwärtig, der Urteilende also seiner selbst inne«. 6 Husserl benennt überzeugend, dass Meinungen die Sachen in ihrer Erhellung verstellen können. Gleichzeitig mutet es merkwürdig naiv an zu glauben, dass sich die Sachen in der Evidenz des Urteils von selbst erschließen. In einer Tradition der Philosophie, die gleichermaßen von Immanuel Kant und Ludwig Wittgenstein geprägt ist, grenzt ein Vertrauen auf 6
Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, in: ders., Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (= Husserliana, Bd. I, hrsg. v. Stephan Strasser), Den Haag 2 1963, S. 41–183, S. 51.
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Evidenz an ein erkenntnistheoretisches Wunder. Deshalb sollte kein Wahrheitsanspruch unter Umgehung wissenschaftlicher Theorien und philosophischer Begriffe erhoben werden. Evidenzerlebnisse schaffen es nicht, direkt zur Sache zu kommen, sondern sind immer vermittelt durch Nachdenken; denn in der Evidenz ist selbst die Urteilskraft am Werk, die das Evidente als solches einschätzt. Letztlich ist in der Philosophie die Urteilskraft gefragt und nicht die Evidenz. In Auseinandersetzung mit der Erfahrung und mit empirischen Theorien versuchen philosophische Reflexionen, sich einen Reim auf Erfahrung und auf die Vielfalt wissenschaftlicher Theorien zu machen. Da die empirischen Wissenschaften angesichts der Spezialisierung in der Gefahr stehen, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen, besteht ein Bedarf an nachdenklichen Fokussierungen, die mit Hilfe der Urteilskraft kulturkritische Einschätzungen versuchen – dabei immer offen für Einwände bleibend. Die Philosophie verdoppelt nicht einfach die Empirie, sollte sich allerdings auch nicht von ihr lösen, sonst entwickelt sich die Reflexion zur bloß noch schlechten Abstraktion. Urteilskraft ist auch gefordert, um in einer Gratwanderung die Extreme einer überspezialisierten Konkretion in den empirischen Wissenschaften und einer abgehobenen Abstraktion der reinen Spekulation zu vermeiden. Ergebnisse der Einzelwissenschaften legen sich nicht selbst aus, sondern bedürfen der reflektierten Vermittlung in der Alltagssprache, um sie auf andere Einsichten zu beziehen und so in ein abgewogenes Verhältnis untereinander zu setzen. I. Das Verschwinden der Allmende »Kulturkritik zu betreiben, heißt Verluste und Gewinne zu bilanzieren, die Verschiebung von Balancen zu verdeutlichen und den Wandel der kulturellen Formgebungen und Figurationen aufzuweisen.«7
Bei aller Distanz zu Sesshaften brauchen (traditionelle) Nomaden eine Allmende – Weiden, die von allen genutzt werden können. 7
Ralf Konersmann, Das kulturkritische Paradox, a. a. O., S. 37.
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Allmende-Güter sind keineswegs nur öffentliche Weiden, Fischgründe oder Holzbestände, sondern ebenfalls Sicherheit, soziale Hilfe und Vertrauen. Gibt es heute einen Verlust der Allmende? Garret Harding hat in Auseinandersetzung mit Umweltproblemen die Tragödie der Allmende diagnostiziert und es als zwangsläufig angesehen, dass Allgemeingüter übernutzt und nach und nach zerstört werden. 8 Ist das moderne Nomadentum in einem analogen Sinne ein parasitärer Allmendezerstörer? Nutzen Nomaden soziale Ressourcen, die sie selbst weder geschaffen haben noch zu deren allgemeiner Unterhaltung sie Substantielles beitragen? Wie im Altgriechischen nomos mit Weide und Gesetz zwei Grundbedeutungen in sich trägt und dem Nomaden sprachlich benachbart ist, so werfen die dem Gemeinwohl verpflichteten Regeln der Allmende Fragen für die Lebensform des Nomaden auf: Sind moderne Nomaden also Parasiten des Gemeinwohls und Verächter einer gemeinwohlorientierten Politik? Die Entstehung der Allmende im übertragenen Sinne verdanken wir der attischen Demokratie, die sozial getragen wurde von freien Männern mit viel Zeit, da sie ja die Arbeit ihren Sklaven und ihren Frauen überlassen konnten. Eine direkte Gemeinwohldemokratie scheint darauf zu basieren, dass die Akteure nicht allzu sehr von anderen Dingen absorbiert werden. Wer unabhängig vom Ort in den realen und sozialen Netzen involviert ist, hat zunehmend weniger freie Kapazitäten für die Allmende vor der eigenen Haustür. Wenn die Allmende etwas mit einem freien Kopf zu tun hat, steht es schlecht um sie. Albert O. Hirschman hat eine Pendelbewegung der Bürger zwischen »Privatwohl und Gemeinwohl« beobachtet, die von eher privaten Konsuminteressen zur politischen Rebellion und umgekehrt vom politischen (Über-)Engagement zum privaten Rückzug wechselt. Den Ausgangspunkt der Beobachtungen Hirschmans bildet die Erfahrung nach 1968, dass das politische Engagement vieler Aktiver bereits innerhalb eines Jahrzehnts in biographisch unterschiedlich motivierte Rückzüge mündete. Politik in komplexen Ge8
Garret Harding, The Tragedy of the Commons, in: Science, Bd. 162 (1968), S. 1243–1248.
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sellschaften ist aufwändig, so dass »unter modernen Lebensverhältnissen politische Beteiligung Gefahr läuft, den Bürger zeitlich zu überfordern.« 9 Mit Hirschmans Beobachtungen lässt sich indirekt der Verlust der Allmende analysieren: Ein besonders nachdrückliches Engagement für die Allmende ist zeitraubend und führt im Täglichen keineswegs zu einer Befriedigung des Idealismus. Der Aktivist der Allmende ist tendenziell frustriert und sehnt sich nach seiner eigenen Weide zurück. Der bloß alle vier Jahre wählende Allmendebürger fühlt sich unterfordert und lässt die Allmende gleich ganz links liegen. Private Abwanderung und öffentlicher Widerspruch stehen der Sache nach und vor allem in ihren Akteuren in keinem spannungsfreien Verhältnis. Der moderne Nomade hat eine stärkere Affinität zur Abwanderung als Möglichkeit der Opposition: Da er ohnehin mobil ist, wird er eben weiterziehen, wenn sich die lokalen Verhältnisse aus seiner Perspektive negativ entwickeln. Den Widerspruch der mobilen Nomaden nutzbar zu machen, ist eine wichtige Herausforderung für die Politik, damit die Außenperspektive auf die eigenen Verhältnisse nicht verloren geht. Für den Nomaden selbst kann es zwischen Abwanderung und Widerspruch als Aufgabe gesehen werden, dass er nicht – quasi habituell jeweils zu früh – für sich zum Schluss kommt: »Ich gehe!« Widerspruch und Abwanderung stehen in einem Ergänzungsverhältnis, das sich möglichst nicht in die ausschließliche Richtung der Abwanderung entwickeln sollte. Abwanderung als Oppositionshaltung ist im Einzelfall wirksam, verallgemeinert lässt sie irgendwann jedoch die Frage entstehen, wohin ein Nomade noch auswandern kann. Der moderne Nomade, der schnell zum Weggehen neigt, ist also weiterhin auf Widerspruch und Politik verwiesen, wenn es um die Gestaltung der Allmende geht. Zwischen engagierter Überpolitisierung, die bald zu einer Enttäuschung der Akteure führt, und privater Abwan9
Albert O. Hirschman, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt a. M. 1984, S. 106 f. Vgl. S. 108: »Daß politische Aktivitäten die Zeit des modernen Staatsbürgers über Gebühr in Anspruch nehmen, hat Oscar Wilde treffend als Einwand gegen den Sozialismus formuliert. Er werde nicht funktionieren, sagte er, weil er zu viele freie Abende koste.«
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derung ist es schwierig geworden, Politik für moderne Nomaden anziehend zu gestalten. Ulrich Beck gehört zu den Sozialwissenschaftlern, die ein Ende überzogen staatsorientierter Politikmodelle diagnostizieren. Dabei zeichnet er mit Sympathie eine jugendliche Politikverleugnung nach, die er selbst »hochpolitisch« nennt; denn das »verbale Lob der Freiheit verwandelt sich in Alltag«, so dass »wir mehr oder andersartige Freiheiten verstehen, anerkennen und verkraften müssen als im Bilderbuch der gesprochenen und versprochenen, aber nicht gelebten Demokratie vorgesehen« sind. In diesem Sinne sind moderne Nomaden Kinder der Freiheit 10 , die sich ihre Freiheit oft nicht selbst erkämpfen mussten und zugleich wenig Verständnis für alte Politikrituale aufbringen. Insofern der Nomade seine Weideflächen verlagern kann, kümmert ihn der lokale Zustand der Allmende immer weniger. Auch wenn emphatische Politikverständnisse zurückgedrängt werden, müssen gesellschaftliche Institutionen gleichwohl weiter funktionieren. Manche Ansprüche an direkte Demokratie (sei es im Allgemeinpolitischen oder innerhalb von Institutionen) scheitern am Mangel an Interesse für eine solche Beteiligung. Auf ein Minimum an Gemeinschaftsorientierung können allerdings auch Nomaden nicht verzichten, denn das bloß Nomadische ist politisch nicht verallgemeinerungsfähig. Die Mobilität des modernen Nomaden ist auf jeden Fall ein Belastungsfaktor für die Allmende: Mobile und von Entwurzelung bedrohte Nomaden müssen ihre Allmenden quasi mitnehmen; die stationären und lokalen Allmenden werden von ihnen jedenfalls kaum gepflegt. Die Deutung dieses Sachverhaltes rechtfertigt allerdings keine einseitigen Schlussfolgerungen: Zum einen ist der Zustand der Allmende vor dem Auftreten des modernen Nomaden auch nicht tadellos gewesen; der Gemeinwohlanspruch wurde oft nur unverhohlen für partikulare Interessen erhoben. Zum anderen gibt es auch weiterhin Möglichkeiten, direkt an die Interessen des Nomaden anzuknüpfen, um die Allmende zu erhalten, denn dies ist im wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse aller Akteure. 10
Ulrich Beck, Kinder der Freiheit. Wider das Lamento über den Werteverfall, in: ders. (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt a. M. 1997, S. 9–33, S. 11.
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II. Virtuelles Leben, Entleiblichung und Beschleunigung »Kulturkritik ist ein osmotisches Denken mit Weltdeutungsanspruch, das vom Zeitgeist lebt, wenngleich es sich gegen die eigene Zeit wendet.«11 »Wir können auch anders!« 12
Wo das Internet zur Verfügung steht, muss die Verwahrlosung der Flächen in der Nachbarschaft nicht beunruhigen. Nomaden sind überall und nirgends – im Zweifelsfall im Netz (oder per Handy) verbunden mit gerade nicht körperlich Anwesenden. In der Netzwerkgesellschaft, die vor allem durch das Internet und durch mobile Kommunikation realisiert wird, verschärft sich der lokale Verlust der Allmende. Die Anschlussfrage drängt sich auf, ob an die Stelle des Lokalen virtuelle Allmenden treten können. Howard Rheingold weist in seiner Analyse der smart mobs darauf hin, dass hoch individualisierte Gemeinschaften keineswegs steuerlos agieren, sondern dass sich selbst organisierende Gruppen entstehen, die sich vor allem durch Handy-Kommunikation spontan bilden. 13 Das Internetlexikon Wikipedia, das immer stärkere Verbreitung findet und hauptsächlich auf selbst organisierter Arbeit basiert, ist ein eindrückliches Beispiel für die Gestaltungskraft der kreativen Arbeit im Netz. Peter Sloterdijk stellt demgegenüber die entleiblichte Kommunikation primär in den Zusammenhang der Beschleunigung in der globalisierten Welt: Für ihn hat der »Synchronstress« im Weltmaßstab so große Fortschritte gemacht, dass für asozial gilt, wer sich ihm verweigert: »Erregbarkeit ist jetzt die erste Bürgerpflicht.« 14 Der Vorteil der Netzkommunikation ist die Ermöglichung von virtueller Anwesenheit weltweit; damit ist tatsächlich eine enorme Steigerung der Geschwindigkeit von Kommunikation möglich. Als 11
Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 11. 12 Deutscher Filmtitel (»road movie«) von Detlef Buck (1993). 13 Howard Rheingold, Smart Mobs. The Next Social Revolution. Transforming Cultures and Communities in the Age of Instant Access, Cambridge 2002. 14 Peter Sloterdijk, Hans-Jürgen Heinrichs, Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 83.
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Warnung, solche Veränderungen zu schnell kulturkritisch auszudeuten, mag Marshall McLuhans Bericht über eine wenig geglückte Tagung zur Automation im Analogieschluss anregend sein: »Es war genauso, als ob die Pferdekutscher um 1905 eine Versammlung einberufen hätten, um über die gesellschaftlichen Folgen des Automobils zu diskutieren. Ein Professor hält eine sehr gelehrte Vorlesung über die Umschulung von Pferden. Ein anderer legt statistische Unterlagen vor, um nachzuweisen, daß durch das Automobil die Nachfrage nach Pferden und ihr Wert stark steigen werden; man werde ja soviel mehr als bisher brauchen, um Automobile aus dem Graben zu ziehen.«15 McLuhan betont zu Recht: Neue Kommunikationsformen ermöglichen neue Lebensformen, die man sich durch eine fundamentale Ablehnung in ihren Möglichkeiten nicht vorschnell verschließen sollte. Vor dem Hintergrund kontroverser Einschätzungen, die sich nicht einfach in eine Richtung auflösen lassen, ist schon viel damit gewonnen, wenn die Veränderungen überhaupt diagnostisch wahrgenommen werden. Der von Gundula Englisch vorgestellte Jobnomade ist sicher (noch) nicht typisch, doch für ein nomadisches Leben mit Netzanschluss in seiner Extremform exemplarisch: »Er hat keinen festen Arbeitsplatz, kein eigenes Auto, kein Haus – noch nicht einmal eine feste Bleibe. Doch Alexander Stenzel ist weder arm noch arbeitslos. Auf der Suche nach schönen Orten, interessanten Leuten und guten Ideen umrundet der Fotograf und Künstler mehrmals im Jahr den Globus. Der 35-jährige Kosmopolit ist Millionär, und trotzdem passt sein ganzes Hab und Gut in zwei handliche Reisetaschen: Laptop, Digitalkamera, Handy und einige Kleidungsstücke. ›Wer ständig in Bewegung ist, sollte sich nicht mit unnötigem Besitz belasten‹, sagt er. Außerdem könne man im Zeitalter der Information und Kommunikation mehr denn je auf materiellen Ballast verzichten. Alexander Stenzels einziger fester ›Wohnsitz‹ ist von jedem Ort auf der Welt zu jeder
15
Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, Düsseldorf u. a. 1992. Der Herausgeber dieses Werkes gibt einleitend (S. 9) die zitierte Erzählung McLuhans wieder.
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Zeit und von jedermann zu erreichen: Es ist eine Homepage im Internet.«16 Wenn die eigene Homepage und überhaupt das Netz die neue Heimat bilden, dann rückt der Zugang zum Netz ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Jeremy Rifkin charakterisiert dementsprechend die Gegenwart als ein Zeitalter des Netzzugangs bei gleichzeitiger Abnahme der Bedeutung des physischen Eigentums, wie es für die Welt der Sesshaften zentral war. 17 Der Netzzugang charakterisiert das Leben der modernen Nomaden besonders gut und unterscheidet sie von den Menschen des Industriezeitalters – »weniger daran interessiert, Dinge zu sammeln, als daran, aufregende und unterhaltsame Erfahrungen zu machen, fähig, simultan in parallelen Welten zu interagieren, rasch dabei, die eigene Persönlichkeit zu ändern, um sie irgendeiner neuen Realität, die ihnen – ob simuliert oder echt – begegnet, anzupassen.« 18 Für den modernen Nomaden zählt demnach vor allem der Zugang; nicht vernetzt zu sein, bedeutet das Ende der sozialen Existenz. Das Internet könnte einen ohnehin schon laufenden Trend verschärfen und die Standardisierung der Lebensformen vorantreiben. Coca Cola ist immer schon da – und sei es nur virtuell. Insgesamt nimmt der weltweite Pool von Lebensmöglichkeiten und Lebensstilen möglicherweise ab – auch mit Blick auf zukünftige Generationen. Sherry Turkle legt in ihren empirischen Untersuchungen zur Computer- und Internetnutzung allerdings sehr differenzierte Ergebnisse vor, die keineswegs einseitig kulturkritische Konsequenzen bestätigen. Neben dem Vereinheitlichungssog gibt sie auch Belege für eine neue Vielfalt. 19 Für viele verspricht das Internet eine Schöne Neue Welt in einer Art körperloser Ewigkeit als »Cyber-Seele« – frei von Alter, Tod und 16
Gundula Englisch, Jobnomaden. Wie wir arbeiten, leben und lieben werden, Frankfurt a. M. 2001, S. 17. 17 Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums. Warum wir weniger und mehr ausgeben werden, Frankfurt a. M. 2002, S. 21. 18 Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums, a. a. O., S. 251 f. 19 Sherry Turkle, Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek 1998 und vgl. das ältere Werk ders., Die Wunschmaschine. Der Computer als zweites Ich, Reinbek 1986.
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Krankheit: »Die Idee, dass die ›Essenz‹ eines Menschen von seinem Körper getrennt werden und in das flüchtige Medium von Computer-Codes umgewandelt werden kann, ist eine klare Zurückweisung der materialistischen Ansicht, dass der Mensch nur aus Materie besteht.«20 Im Cyberspace benötigt der Mensch für die Kommunikation die eigene Leiblichkeit angeblich nicht; eine Neuauflage des alten Leib-Seele-Dualismus drängt sich daher auf, die den Menschen als »bipolares Wesen« sieht. Im Zweifelsfall muss es die Leiber der Kommunizierenden im Internet gar nicht (mehr) geben. Kulturkritiker sehen elektronische Einsamkeit als Folge der Entleiblichung an; doch vermutlich sehen die vielen Millionen, die täglich im Chat miteinander im Kontakt sind, dies ganz anders. Margaret Wertheim lädt die Internetgemeinde gleichwohl ein, die eigene Leiblichkeit nicht im Cyberspace zu verlieren: »Das Leben in Fleisch und Blut ist nicht einfach ›ein weiteres Fenster‹, und wir sollten dem Versuch widerstehen, es dafür auszugeben.« 21 Im Zeitalter des modernen Nomaden ergänzen sich Virtualität und Entleiblichung und werden beide in ihrer entwurzelnden Wirkung durch Beschleunigung gesteigert. Menschen konnten zwar immer schon als sich selbst bewegende Wesen gedeutet werden, typisch für den modernen Nomaden ist jedoch eine Bewegung, die der Beschleunigung unterliegt und die gleichwohl nicht notwendigerweise als zeitsparend erlebt wird. Schon Michael Endes Momo hat das Problem benannt: »Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir«. So führen technische Neuerungen oft zu keiner Verringerung des Zeitverbrauches; vielmehr wird die eingesparte Zeit sofort für andere Aktivitäten oder Produktivitätssteigerungen genutzt. Dies lässt sich zum Beispiel beim Reisen beobachten, wo trotz aller Geschwindigkeitserhöhungen die Reisezeiten in der Summe nicht minimiert werden: »Stattdessen wird der beschleunigungsbedingte Zeitgewinn in häufigere und weitere Reisen investiert, so dass es den Anschein hat, die im Zeitbudget festgelegte Zeit für Transport sei invariant gegenüber der Fortbewegungsgeschwin20
Margaret Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet, Zürich 2000, S. 296. Das folgende Zitat S. 297. 21 Margaret Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace, a. a. O., S. 274.
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Ambivalenz im Leben des modernen Nomaden
digkeit.« 22 Bei der touristischen Flugreise wird dies besonders evident: Die Zahl der Reisen hat sich erhöht, so dass die Tempoerhöhung durch das Flugzeug in der Zeitsumme die am Flughafen, auf dem Weg dorthin und im Flugzeug selbst verbrachte Zeit gegenüber der früheren, aber seltener unternommenen Reise nicht verkleinert. Am Ende steht das Paradox: »Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen.«23 III. Mobilität und das Leben in Optionen »Kulturkritik […] ist Kritik der Kultur im Namen der Kultur.« 24
Nomadische Mobilität taucht nicht nur die soziale Welt in ein neues Licht, sondern auch die psychische. Gundula Englisch fasst »fundamentale Eigenschaften des Nomadentums« zusammen: »die Fähigkeit, Mangel zu managen; die Geschicklichkeit, informelle soziale Netze zu knüpfen; die Kraft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren; die Kunst, reich zu werden in der Erfahrung und nicht im Besitz; und schließlich die heikle Balance zwischen Bewegung und Ruhe, die erstaunliche Eigenschaft, gleichermaßen Wurzeln und Flügel zu haben.« 25 Doch nicht immer gerät alles so gut: Viele moderne Nomaden leiden unter der Leistungsanforderung in allen Bereichen des Lebens, die sie als Unternehmer in eigener Sache erbringen müssen. Eine leibliche Reaktion auf die geforderte Flexibilität und die allgegenwärtige Leistungsorientierung ist der Schwindel; zu viel Mobilität bringt den Nomaden in weniger glücklichen Tagen aus dem Gleichgewicht. Überforderung durch Leistungsorientierung und Beschleunigung kann schwindlig machen, zumal im Alltag immer seltener Entscheidungen durch Selbstverständlichkeiten erleichtert werden. Die Ortsfrage erfordert besondere Aufmerksamkeit, da berufliche und private Anforderungen an den verschie22
Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 121. 23 Hartmut Rosa, Beschleunigung, a. a. O., S. 11. 24 Ralf Konersmann, Das kulturkritische Paradox, a. a. O., S. 24. 25 Gundula Englisch, Jobnomaden, a. a. O., S. 15.
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denen Orten ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Die kreatürliche und natürliche Seite des Menschen – Geburtlichkeit, Alter, Krankheit, Tod – bleibt aber von der spezifischen Lebenssituation des Nomaden unberührt; die Beschleunigung im Leben des Nomaden ändert seine Sterblichkeit nicht. Der Schwindel ist eine physiognomische Reaktion auf die Überforderung des nomadischen Alltags. In einer anderen Sprache kann von den Kosten der Mobilität beim modernen Nomaden gesprochen werden. Psychisch gibt es einen enormen Aufwand an Komplexitätsverarbeitung; eigentlich ist es erstaunlich, wie wenig Nomaden in der Psychiatrie landen. Der moderne Nomade muss eine Menge aushalten (auch wenn er in den Augen der Sesshaften doch ein reines Luxusleben führt): »Nerven aus Stahl sind die Eigenschaft, deren ein kontingentes Wesen, das sich seiner eigenen Kontingenz bewusst ist, am meisten bedarf.« 26 Symptome der Überforderung, der »Nervosität«, wie Joachim Radkau in seiner Studie herausarbeitet, nehmen zu: »Ewig muss man zweifeln, ob man den richtigen Beruf, den richtigen Partner und die richtige Lebensweise gewählt hat und die entsprechenden Anforderungen erfüllt.« 27 Kann man sich den modernen Nomaden als alten und kranken Menschen vorstellen? Oder gehen Alter und Krankheit einher mit einer erneuten Sesshaftwerdung (und sei es an einem selbst gewählten Ort irgendwo auf der Welt)? Altwerden gehört jedenfalls nicht ins Lebenskonzept des Nicht-Sesshaften: »In der modernen Welt konnte man Swinger, bisexuell, transsexuell, Sodomit oder Sadomaso sein, aber es war verboten, alt zu sein.« 28 Können moderne Nomaden überhaupt erwachsen werden, wenn sie schon kein Konzept vom Alter haben: »Ich glaube nicht an die Theorie, wonach man beim Tod seiner Eltern richtig erwachsen wird; man wird nie richtig erwachsen.«29 Menschen haben sich in keinem Zeitalter so viel zu Vergnü26
Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 299. 27 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München, Wien 1998, S. 23. 28 Michel Houellebecq, Die Möglichkeit einer Insel, Köln 2005, S. 191. 29 Michel Houellebecq, Plattform, Köln 2002, S. 11.
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gungszwecken von Ort zu Ort fortbewegt wie in unserem: »Meine Träume sind beschränkt. Wie alle Bewohner Westeuropas möchte ich reisen.« 30 Unser Zeitalter ist das Zeitalter des Tourismus – im wörtlichen und im übertragenen Sinne: Alles ansehen, alles berühren, aber zu nichts wirklich Kontakt aufnehmen – das Leben als road movie. Zygmunt Bauman hat den Touristen zum Schlüsselcharakter der Gegenwart erklärt. 31 Auf Tour zu gehen, erfordert ein spezifisches Weltverhältnis: Einerseits wird das eigene Zuhause verlassen, ohne andererseits wirklich in der besuchten Welt anzukommen. Ausgehend vom realen Tourismus verbreitet sich die Haltung des Touristischen auch in anderen Lebensfeldern; »wie die touristischen Eskapaden einen immer größeren Anteil an Lebenszeit ausmachen«, so wandelt sich »das Leben selbst zu einer ausgedehnten Eskapade« und »das touristische Verhalten zur Lebensform«. Am Ende ist es immer unklarer, »welcher Besuchsort nun das Zuhause und welcher nur einen Touristenaufenthalt bedeutet.« Ein Tourist ist gedanklich immer an mehreren Stellen, nämlich mindestens am besuchten Ort und am Ort des Reisebeginns: »Das ›Heim‹ hält sich am Horizont des Touristenlebens als eine unheimliche Mischung aus Schutzraum und Gefängnis.« Das Touristische – wörtlich und im übertragenen Sinne – kommt für Bauman aus einer Besuchsmentalität nicht heraus; denn aus den »Erfahrungen in einer solchen Welt erwächst keine widerspruchsfreie und zusammenhängende Lebensstrategie« und das Resultat ist die »Fragmentierung der Zeit in Episoden«. So steht der Tourist für die »Furcht vor Gebundenheit und Festlegung« und fördert die Tendenz, »menschliche Beziehungen fragmentarisch und diskontinuierlich werden zu lassen«. Das Fragmentierte orientiert sich nicht mehr an vereinheitlichenden Zielen oder gar Lebensplänen, sondern folgt nur noch einer »Metaanstrengung« als der »Anstrengung, fit zu bleiben für seine Anstrengungen«. 30
Michel Houellebecq, Plattform, a. a. O., S. 32. Schon im Titel Zygmunt Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, a. a. O. Die folgenden Zitate dieses Absatzes S. 158, 159, 148, 149, 163 und 184. Vgl. Sarah Kuttner, Das oblatendünne Eis des halben Zweidrittelwissens. Kolumnen, Frankfurt a. M. 2006, S. 85: »Was war noch mal das Schlimme an Touristen? Der Plural.«
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Eine Gefahr für den modernen Nomaden ist das Leben in einer Vielzahl von Möglichkeiten: Optionen ersticken die Wirklichkeit. Schon Buridans Esel ist verhungert, weil er sich zwischen zwei Heuhaufen nicht für einen der beiden entscheiden konnte. Bereits getroffene Entscheidungen lösen ein Aber und neue Fragen und Zweifel aus. Wäre die genau gegenteilige Entscheidung nicht doch besser? Gerade weil alles möglich ist, muss auch alles bedacht werden. Dies kann anstrengend sein; denn Entscheidungen müssen einen selbst als entscheidende Person und ebenso andere überzeugen. Es gibt allerdings keine Entscheidungen, die in jeder Hinsicht einleuchten, so dass bereits getroffene Entscheidungen in der Gefahr stehen, immer neu zur Disposition gestellt zu werden. Was auf große Themen des Lebens wie zum Beispiel die Berufswahl bezogen ganz richtig sein mag, nämlich gründlich über verschiedene Lebenswege nachzudenken, erschwert den Alltag beträchtlich, wenn jede Selbstverständlichkeit wie beispielsweise die Gestaltung eines Familientages in die Möglichkeitsform gebracht wird. Wenn es soweit gekommen ist, dass jede alltägliche Handlung zur Frage geworden ist, dann leuchtet der anthropologische Spruch »Menschsein heißt überfordert sein« unmittelbar ein. Auch Wohlstandskinder schaffen sich ihre Überforderungen, wenn sie aus der Sicht älterer Generationen schon keine wirklichen Probleme haben. Gerade weil viele Selbstverständlichkeiten verschwunden sind, wird alle Kraft gebraucht, selbst für banale Entscheidungen des Alltags. Sehnsüchte und Utopien für das persönliche Leben (ganz zu schweigen vom politischen) gibt es immer weniger: »Zukunftsvisionen sind inzwischen nicht viel mehr als ein Schwächezustand des überinformierten Verstands. Die unbekannte Zeit beginnt hinter den Mülldeponien von Zukunftsbildern, die jeden Tag von hundert Instituten beliebig ausgestoßen und wieder verworfen werden.« 32 Die eigene und die gesellschaftliche Zukunft ist selbst Teil der Optionen geworden. Ohne auf Zukunft bezogene Sehnsüchte haben moderne Nomaden, die in ihrem Leben schon vieles gesehen haben, weniger Resistenz gegenüber den Schwankungen des Alltags. Ohne Anker in der Vergangenheit und ohne Zukunftssehn32
Botho Strauß, Die Fehler des Kopisten, München, Wien 1997, S. 58.
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süchte löst sich alles in Optionen auf. Optionen unterliegen der Vervielfältigung und werden zahlreicher, je länger sie betrachtet werden. Da muss einem schwindlig werden; denn stabile Eindeutigkeiten lassen sich aus der Struktur der Optionalität nicht gewinnen. IV. Philosophie als Denken ohne festen Wohnsitz »Kulturkritik ist […] philosophisch imprägniert, aber selten fachphilosophisch.« 33 »Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, dass unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist.« 34
Mich beschäftigt, wie der moderne Nomade seine Nicht-Sesshaftigkeit und Flexibilität existentiell und gedanklich bewältigen kann. Bisher erlebt sich der moderne Nomade oft als defizitär – vor allem gegenüber den tatsächlich oder vermeintlich Sesshaften an den diversen Orten, an denen er sich aufhält. Was als Schwäche erlebt wird, bedeutet aber zugleich eine große Stärke des modernen Nomaden: Es ist die Fähigkeit zu einem Denken in Relationen, das manchem Orts- und Gesinnungsfesten abgeht. Nicht jeder empirisch als moderner Nomade zu kennzeichnende Mensch wird unbedingt am Denken in Relationen Gefallen finden. Im Herzen ist der Nomade Skeptiker, selbst wenn er dies manchmal durch Fanatismus übertönt. So ist immer damit zu rechnen, dass gerade der Nicht-Sesshafte nach dem festen Halt im Denken sucht, um die Bewegungen des realen Lebens wenigstens kompensatorisch draußen zu halten. Es wäre ein Missverständnis, den Nomaden als Relativisten zu deuten; diesem Missverständnis sitzt aber manch Ortsfester ganz gerne auf. Auch wenn Nomaden in besonderer Weise mit dem Relativismus konfrontiert sind, so sind sie selbst doch keine Relativisten. Angesichts ihrer Kenntnis verschiedener Orte scheuen sie vor 33 34
Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O., S. 11 f. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 18.
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einem rigiden und kontextlosen Wertebekenntnis – in welcher Form auch immer – zurück. Moderne Nomaden sind Ortswechsler auch im Denken; sie denken in Relationen genauso wie der liberale Kosmopolit, der keineswegs gesinnungslos ist, aber gleichwohl verinnerlicht hat, dass an unterschiedlichen Orten (wörtlich und metaphorisch gemeint) unterschiedliche Gepflogenheiten herrschen.35 Ein Wertekonservativismus, der nach mehr Verbindlichkeit ruft, setzt andere Prioritäten als ein Denken in Relationen. So hat beispielsweise Joseph Kardinal Ratzinger kurz vor seiner Wahl zum Papst wirkungsmächtig das Schlagwort von der Diktatur des Relativismus geprägt, der »nichts als definitiv anerkennt« und der »als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten läßt« 36 . Haben nicht entgegen der Diagnose Ratzingers auch moderne Nomaden Werte, die allerdings aus der Perspektive der Sesshaftigkeit schwerer wahrnehmbar sind? Vielleicht gibt es gar keine Diktatur des Relativismus, sondern ein Ringen um Antworten und Anwendungen nach dem Zusammenbruch von Selbstverständlichkeiten und in der Konfrontation verschiedener Werte. Relativismus ist trotz der großen Verschiedenheiten im alltäglichen Lebensstil eine Position, zu der sich niemand gerne bekennt. So handelt es sich vermutlich nur um ein Klischee, dass wir in einem relativistischen Zeitalter leben und dass es auch die Aufgabe der Philosophie ist, einen Damm gegen den Relativismus zu errichten oder wenigstens zu stabilisieren. Gegen einen Wertekonservatismus behaupte ich, dass die Fähigkeit zur Relativierung einen Teil des modernen Lebens ausmacht und als Denken in Relationen zu einer universalistischen Perspektive gehört, die im Prinzip alle Menschen einbezieht. Das Denken in Relationen hebt Verschiedenheit und Vielfalt besonders hervor, um den philosophischen Universalismus besser vor partikularen Lesarten zu schützen. Methodisch wird eine dicht 35
Kwame Anthony Appiah, Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, New York, London 2006. 36 Zitiert nach Heinz-Joachim Fischer, Wider die Diktatur des Relativismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 04. 2005, S. 3. Vgl. Joseph Kardinal Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg u. a. 1993.
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am einzelnen Problem bleibende Untersuchung ohne Verweltanschaulichung bevorzugt – zur Vermeidung einer Vergrundsätzlichung, die Ernst Wilhelm Händler kritisch hervorhebt: »Philosophie ist die unerbittlichste Form der Rechthaberei, die es gibt.« 37 So wird nach Begründungen und Prinzipien – manchmal auf immer neuen Metaebenen – gesucht, obwohl mit einer weniger grundsätzlich ansetzenden Idee und ihrer Begründung eine Debatte ebenfalls argumentativ vorangebracht werden könnte. Im Gestus von Ludwig Wittgensteins philosophischem Therapiekonzept könnte man sagen, die philosophischen Probleme sind verschwunden, wenn sie verschwunden sind. 38 Philosophie soll Probleme lösen und keine schaffen. Doch auf der theoretischen Seite gibt es nicht nur in der Philosophie eine Praxisverachtung, die bloße Reflexion über Praxis für theoretisch zu wenig anspruchsvoll hält. 39 Als Infragestellung von Selbstverständlichkeiten ist Philosophie ein Denken ohne festen Wohnsitz und per definitionem nomadisch. In der Tradition der Philosophie hat sich aber nicht jeder Entwurf immer an diese Lesart des Philosophischen gehalten; sei es als Systemphilosophie, die Offenheit in ein großes Ganzes einschließt, oder als verwissenschaftlichte und gelehrte Philosophie, der die großen Fragen abhanden kommen, gibt es einen breiten Traditionsstrom der geschlossenen Philosophie. 40 Friedrich Nietzsche ist einer 37
Ernst-Wilhelm Händer, Kongreß, München 1998, S. 148. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe Bd. 1), Frankfurt a. M. 9 1993, S. 225–580, S. 360, 378: »Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit« (§ 255). »Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen« (§ 309). 39 Vgl. die Begründung einer solchen Diagnose bei Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 7 1992. 40 Vgl. Pedro Vasco de Almeida Prado, Über Täuschung und Selbstbetrug in der Philosophie, London 1899. Zitiert nach Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München, Wien 2001, S. 7: »Es gibt zwei Arten von Philosophen, denen ich mißtraue. Die einen sind die Techniker, die sich die Genauigkeit der Mathematik zum Vorbild nehmen und glauben, die Klarheit liege in der Formel. Die anderen sind die Hagiographen, in deren Händen Philosophie zur endlosen Auslegung heiliger Texte wird. Sollte es tatsächlich philosophische Einsicht geben, so müßte sie auf andere Weise zustande kommen: 38
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der wenigen Philosophen, der das geistige Nomadentum ausdrücklich zum Ideal erklärt: »Wohl aber dürften wir uns ›freizügige Geister‹ in allem Ernste […] nennen, weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen und im Gegensatz zu den gebundnen und festgewurzelten Intellecten unser Ideal fast in einem geistigen Nomadentum sehen – um einen bescheidenen und fast abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen.« 41 Das geistige Nomadentum passt zu jenen, die das Leben wagen, nachdem die geschlossene Philosophie überwunden ist. Nomaden sind bei Nietzsche die Menschen, die keine Angst vor der Freiheit haben. Literatur Appiah, Kwame Anthony, Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, New York, London 2006. Arendt, Hannah, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 7 1992. Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M. 1995. Bauman, Zygmunt, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg 1997. Beck, Ulrich, Kinder der Freiheit. Wider das Lamento über den Werteverfall, in: ders. (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt a. M. 1997, S. 9–33. Bieri, Peter, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München, Wien 2001. Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1998. Bollenbeck, Georg, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Englisch, Gundula, Jobnomaden. Wie wir arbeiten, leben und lieben werden, Frankfurt a. M. 2001. Fischer, Heinz-Joachim, Wider die Diktatur des Relativismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 04. 2005. Händer, Ernst-Wilhelm, Kongreß. München 1998.
durch ein Nachdenken, dessen Klarheit, Genauigkeit und Tiefe in der Nähe zu der Erfahrung bestünde, die ein jeder mit sich selbst macht, ohne sie recht zu bemerken und ohne sie zu verstehen.« 41 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 2, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2 1988, S. 367–704, S. 469.
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Wertheim, Margaret, Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet, Zürich 2000. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Tractatus logicophilosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe Bd. 1), Frankfurt a. M. 9 1993, S. 225–580.
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Der Aufstand gegen die verwaltete Welt Kulturkritik als Selbstreflexion des Liberalismus
Der Liberalismus steht wieder einmal im Zentrum der Kritik. Ihm wird angelastet, das globale Finanzsystem ruiniert und die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds getrieben zu haben. Aber nicht nur das. Schon seit längerem sieht sich der Liberalismus umzingelt von einer Armada an Anklägern, die ihm alle möglichen Vergehen vorwerfen. Das Sündenregister ist lang. Der Liberalismus wird verantwortlich gemacht für die Entfesselung des Individualismus und den Zerfall moralischer Werte, für die Erosion des Gemeinsinns und die Ausbreitung des Egoismus. Er wird beschuldigt, der Diktatur des Marktes den Weg bereitet zu haben, die sämtliche Lebensbereiche den Prinzipien des Wettbewerbs und der Leistung unterwirft und nur das Maß der Berechenbarkeit und Effizienz gelten lässt. Viele sehen im Liberalismus deshalb die Ursache für entfremdete Lebensverhältnisse und ungleich verteilten Wohlstand, für die Ausbeutung der Entwicklungsländer, den Raubbau an der Natur und – in jüngster Zeit – für die Klimakatastrophe. Die Kritik am politischen und ökonomischen Liberalismus hat eine lange Tradition. Besonders virulent waren die Einwände gegen die liberale Gesellschaft im Umfeld der Weimarer Republik, die als historische Umbruchphase stark von kulturkritischen Angriffen auf die Grundfesten von Demokratie, Parlamentarismus und Kapitalismus geprägt war. Viele der heutigen Einwände gegen die globale Marktwirtschaft und ihre Krisenanfälligkeit entstammen dem kulturkritischen Repertoire dieser Epoche. Umso wichtiger erscheint ein Blick zurück auf die Argumente und Einwände der Weimarer Kulturkritik gegen den politischen und ökonomischen Liberalismus. Möglicherweise enthält die damalige Kulturkritik ein zeit191 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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diagnostisches Potential, das dabei hilft, die Selbstgefährdungen des Liberalismus besser zu verstehen. Der Rückgriff auf die Weimarer Kulturkritik ist freilich nicht unproblematisch. Denn die Kulturkritik hat, ganz ähnlich wie der Liberalismus, keinen guten Ruf. Kulturkritiker sind Menschen, so die weit verbreitete Meinung, die mit ihrer Zeit unzufrieden sind und sich in eine heile und wohlige Vergangenheit zurücksehnen. Entsprechend haftet dem Begriff der Kulturkritik etwas Altmodisches und Nostalgisches an. Wer die Kultur seiner Zeit kritisiert, ist nicht so recht auf ihrer Höhe. Er hat den Anschluss verpasst und widersetzt sich dem unvermeidlichen Lauf der Dinge. Kulturkritiker gelten als widerspenstige und ressentimentgeladene Geister. Sie lassen sich von Gefühlen und Vorurteilen leiten und streben die Konservierung oder gar Restauration überholter Zustände an. Mit der Moderne stehen sie auf dem Kriegsfuß, und zur Vernunft haben sie angeblich ein gespanntes Verhältnis. Kulturkritik gilt, mit einem Wort, auch heute noch vielen als anachronistisch, irrationalistisch und als antimodernistisch. Diese Einschätzung ist umso erstaunlicher, als eine ziemliche Unklarheit über den Begriff der Kulturkritik selbst herrscht. Man hat sich daran gewöhnt, allerhand Unterschiedliches mit ihm zu bezeichnen und ihn auf durchaus verschiedene Problem- und Themenfelder anzuwenden. Ich nenne hier nur die Felder der Rationalitätskritik und der Gesellschaftskritik, aber auch der Ethik und politischen Philosophie, in die das herkömmliche Unternehmen der Kulturkritik immer stärker hineinreicht. Dabei lassen sich Bestrebungen beobachten, dem Begriff der Kulturkritik seinen gegenaufklärerischen und vernunftskeptischen Charakter zu nehmen. Kulturkritik, so die Definition von Ralf Konersmann, ist »Kritik der Kultur im Namen der Kultur« 1 und damit, wie Herbert Schnädelbach es formuliert hat, »der unvermeidliche und unabschließbare Begleitdiskurs des Lebens in reflexiv gewordenen Kulturen« 2 . Die Ansicht, dass Kulturkritik nicht bloß Ausdruck eines kon1
Ralf Konersmann, Das kulturkritische Paradox, in: ders. (Hrsg.), Kulturkritik. Reflexionen in der veränderten Welt, Leipzig 2001, S. 9–37, S. 24. 2 Herbert Schnädelbach, Kultur und Kulturkritik, in: ders., Zur Rehabilitierung
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servativen Affektes gegen die Moderne ist, sondern auch für die Selbstreflexion der fortgeschrittenen Kulturen steht, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie vor unklar ist, worin genau die Domäne der solcherart aktualisierten und auf den neuesten Stand gebrachten Kulturkritik besteht. Indem man die Kulturkritik als »Reflexion in der veränderten Welt« 3 beschreibt, ist erst einmal noch nicht viel gewonnen. Es müsste vielmehr deutlich gemacht werden, worin diese Reflexion besteht, was sich im Spiegel der Kulturkritik zeigt und warum sie für die Selbstreflexion der modernen Kultur und Gesellschaft unerlässlich ist. Ich möchte mich zu diesem Zweck mit einem besonderen Ausschnitt der Kulturkritik befassen, und zwar der Kritik der Bürgerlichkeit und des Bürgertums, durch die vor allem das geistige Umfeld der Weimarer Republik geprägt war. Die antibürgerliche Stoßrichtung bildet zwar nur einen Teil der damals vorherrschenden Kulturkritik. Sie bildet allerdings einen Teil, der paradigmatisch für die Kulturkritik dieser Zeit und damit auch für die Kritik der liberalen Gesellschaft und ihrer ökonomischen und politischen Grundlagen ist. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass die Kritik an der bürgerlichen Denk- und Lebensform durch eine besondere Dialektik, um nicht zu sagen Paradoxie gekennzeichnet ist: Indem die Kulturkritiker im Umfeld der Weimarer Republik die Gestalt des Bürgers und das Prinzip der Bürgerlichkeit attackieren, üben sie genau betrachtet Kritik an ihrer eigenen Lebensform, an dem bürgerlichen Umfeld und den Grundfesten der liberalen Gesellschaft, der sie mehrheitlich entstammen. In der Kulturkritik der Weimarer Republik findet – wie Christian Graf von Krockow es ausgedrückt hat – ein »Kampf des Bürgertums gegen sich selbst« 4 statt, der wesentliche Defizite und Fehlentwicklungen der bürgerlich-liberalen Gesellschaft freilegt. des animal rationale (Vorträge und Abhandlungen 2), Frankfurt a. M. 1992, S. 158–182, S. 167. 3 Ralf Konersmann, Das kulturkritische Paradox, a. a. O., S. 21. 4 Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958, S. 28.
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Diese Defizite und Fehlentwicklungen möchte ich im weiteren Verlauf im Rückgriff auf die kulturkritische Tradition der Weimarer Epoche skizzieren und damit deutlich machen, dass die Kulturkritik ein immer noch – und heute gerade wieder – aktuelles Deutungsmuster moderner Gesellschaften darstellt. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der antibürgerliche Affekt, der die Weimarer Tradition der Kulturkritik kennzeichnet, entschärft und mit einem revidierten Verständnis von Bürgerlichkeit verbunden wird. Unter dieser Voraussetzung lässt sich die Kulturkritik zu einem Reflexionsmodus des Liberalismus machen, der seine eigene Krisengefährdung durch ein ökonomistisch verkürztes Selbstverständnis und die Herauslösung aus sozio-kulturellen Rahmenbedingungen im Blick behält. I. Kritik der bürgerlichen Denk- und Lebensform Die Kritik der Bürgerlichkeit im Umfeld der Weimarer Republik hat verschiedene Ursachen. Und sie hat vor allem eine lange Tradition. So beklagt schon Jean-Jacques Rousseau in der Mitte des 18. Jahrhunderts den Sittenverfall seiner Zeit durch Müßiggang, Luxus, Geldwirtschaft und die Vorherrschaft des Nützlichkeitsdenkens. »Wir haben Physiker, Geometer, Chemiker, Astronomen, Poeten. Musiker, Maler, aber wir haben keine Bürger mehr.« 5 Eine ähnliche Verfallsdiagnose des bürgerlichen Standes, der sich durch zunehmende Spezialisierung und Versachlichung in eine mechanische, seelenlose Gesellschaft hineinmanövriert habe, findet sich einige Jahrzehnte später bei Friedrich Schiller: »Und so wird denn allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt, damit das Abstrakte des Ganzen sein dürftiges Dasein fristet, und ewig bleibt der Staat seinen Bürgern fremd, weil ihn das Gefühl nirgends findet.« 6 5
Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft (1750), in: ders., Schriften zur Kulturkritik, eingel., übers. u. hrsg. v. Kurt Weigand, Hamburg 3 1978, S. 1– 59, S. 47. 6 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5: Erzählungen, Theoretische Schrif-
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Im 19. Jahrhundert ist es vor allem Friedrich Nietzsche, der den Bürger in der Gestalt des Bildungsphilisters als »Gegensatz des Musensohns, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen« attackiert und dem Nietzsche vorwirft, dass er allerhöchstens zu einem »System der Nicht-Kultur«, der »stilisierten Barbarei« in der Lage sei. 7 Für Karl Marx und Friedrich Engels bildet die Bourgeoisie schließlich den Totengräber ihrer eigenen Klasse, weil sie durch ihr kapitalistisches Gewinnstreben die Kräfte der Entzauberung und Entfremdung freigesetzt hat: »Sie [die Bourgeosie; L. H.] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenslose Handelsfreiheit gesetzt.« 8 Die Kritik des Bürgers, das machen diese Beispiele deutlich, ist nicht erst eine Angelegenheit der historischen Endphase des traditionellen Bürgertums, die mit der Bismarckschen Reichsgründung einsetzt, in der Zeit des ersten Weltkriegs ihren Höhepunkt erreicht und durch die Weimarer Republik besiegelt wird. 9 Die Bürgerlichkeitskritik ist vielmehr ein integraler Bestandteil der bürgerlichen ten, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1959, S. 570– 669, S. 585. 7 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2 1988, S. 157–242, S. 165, S. 166. 8 Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx, Auswahl und Einleitung von Franz Borkenau, Frankfurt a. M. 1956, S. 98– 116, S. 100. 9 Das bürgerliche Zeitalter lässt sich als historische Epoche definieren, die vom späten 18. Jahrhundert bis 1918 dauert. Jürgen Kocka hat diese Epoche in drei Phasen untergliedert: die »Konstitutionsphase«, die vom späten 18. Jahrhundert bis in die 1840er Jahre reicht; die »Kulminationsphase«, welche die 1840er bis 1870er Jahre umfasst; und die »Phase der Defensive und Ausdifferenzierung«, die sich von den 1870er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg erstreckt. Vgl. Jürgen Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: ders. (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Einheit und Vielheit Europas, Göttingen 1995, S. 9–94.
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Gesellschaft selbst. Sie ist ein »innerbürgerliches Phänomen« 10 , das in immer wieder neuen Gestalten, Figurationen und Motiven die klassische Epoche der Bürgerlichkeit wie ein Schatten, oder vielleicht besser: wie ein Vexierspiegel begleitet. Die Gründe hierfür sind vielschichtiger Natur. Sie dürften in erster Linie in dem besonderen Spannungsverhältnis von Staat, Gesellschaft und kulturellem Bürgertum zu suchen sein, das die deutsche Geschichte auszeichnet. So befindet sich in der preußischen Reformära das deutsche Bildungsbürgertum in einem spannungsvollen Verhältnis zwischen politischer Anpassung und kultureller Hegemonie, das es durchaus erlaubt, wirtschaftsliberale Bestrebungen mit neuhumanistischen Bildungsidealen zu verbinden. Da Bildung primär als Angelegenheit der geistigen Person, nicht des sozialen Individuums verstanden wird, stellen kultureller Idealismus und gesellschaftlicher Fortschritt keinen Gegensatz dar. Der metapolitische Charakter erlaubt es, Bildung und Kultur als Motor der bürgerlichen Emanzipation einzusetzen und zugleich auf Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft, zur erwerbstreibenden Bourgeoisie zu gehen, während man sich mit dem Staat als förderndem »Kulturstaat« arrangiert. 11 Kulturstaat und Volksaufklärung, Bildungswissen und Leistungsethik bilden bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine Einheit, mit der der Kulturbürger sich in mehr oder weniger stabiler Übereinstimmung befindet. Diese Übereinstimmung löst sich mit der zunehmenden Industrialisierung und Bürokratisierung, den wachsenden Ansprüchen der Arbeiter- und Angestelltenklasse und der Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Marktwirtschaft auf. Technik und Naturwissenschaften lösen die Deutungshoheit der Geisteswissenschaft ab, die geistige Bildung wird als »Kulturballast« (Paul de Lagarde) verurteilt und das Bürgertum als Agent des Wirtschaftsliberalismus und der kulturellen Vermassung angeprangert. Die 10
Hannes Siegrist, Bürgerlichkeit und Antibürgerlichkeit in historischer Perspektive, in: Günter Meuter, Henrique Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 35–50, S. 37. 11 Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M., 1996, S. 164–186.
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Allgegenwärtigkeit des Kulturbegriffs bei gleichzeitiger Entfesselung eines ziel- und richtungslosen Fortschrittsprozesses wird als Menetekel dafür gedeutet, dass der Bildungsbürger seine intellektuelle Vormachtstellung vor dem Bourgeois und dem Besitzbürger verloren hat und mit ihm gemeinsame Sache macht. 12 Die kulturellen Eliten entwickeln eine stetig wachsende Abneigung gegen alles Bürgerliche, gegen ein zur politischen und sozialen Ohnmacht verurteiltes Bildungsbürgertum, das seine Marginalisierung durch Besitzdenken, liberale Überzeugungen und kulturellen Massengeschmack überspielt. Im Verein mit einem erwachten Nationalbewusstsein und der Suche nach neuen Autoritäten wächst die Kritik am bürgerlichen Humanismus, an der bürgerlichen Zivilisation und am bürgerlichen Rationalismus. Unterstützt werden die antibürgerlichen Tendenzen durch die Entstehung der ästhetischen Avantgarde, die gegen die bürgerliche Kunst gerichtet ist und mit ihrem ausgeprägten Stil- und Formbewusstsein einen Angriff auf den bürgerlichen Funktionalismus und Utilitarismus darstellt. Das Resultat besteht in einer Radikalisierung kultur- und zivilisationskritischer Bewegungen, die paradoxerweise gerade dadurch forciert werden, dass der bürgerliche Kulturbegriff sich gegenüber Technik und Wissenschaft geöffnet hat und die bildungsbürgerlichen Institutionen wie Universitäten, Museen und Forschungseinrichtungen ökonomischen Interessen und sozialen Fortschrittserwartungen entgegenkommen. Die antibürgerliche Kulturkritik setzt somit in dem Moment ein, in dem die bildungsbürgerlichen Schichten nicht mehr Träger des Kulturprozesses sind und ihre alte Deutungshoheit, sei sie faktisch vorhanden oder eingebildet gewesen, einzubüßen beginnen. Die Kritik an der Bürgerlichkeit geht aus den eigenen Reihen eines entmachteten Bildungs- und Kulturbürgertums hervor. Sie beruht auf enttäuschten bildungs- und kulturbürgerlichen Erwartungen, die eine wachsende Aversion gegen das gesamte Feld bürgerlicher Denk- und Handlungsmuster nach sich zieht. 13 Die Ursache für diese Selbstkritik des Bürgertums besteht nicht nur in der Inhomo12 13
Vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur, a. a. O., S. 225 ff. Vgl. Panajotis Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebens-
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genität der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland, in der unterschiedliche Lebensformen, Mentalitäten und Milieus nebeneinander existieren und in der es dem Bürgertum schwer fiel, aufgrund einer fehlenden (oder besser unterentwickelten) Nationalstaatlichkeit eine eigene Identität auszubilden. Die Ursache liegt auch in der Fixierung auf den Staat, der in Gestalt des Kultur- und Machtstaates als schützende Hülle für die geistige und seelische Bildung des deutschen Bürgers und als Schutzwall vor den unberechenbaren Kräften der freien Marktwirtschaft und sozialer Konkurrenz fungieren sollte. Vor diesem Hintergrund, dem bürgerlichen Kultur-Utopismus mit seiner Staatsorientierung und der deutschen Kulturfrömmigkeit mit ihrer Sehnsucht nach dem Absoluten, wirkt die beschleunigte Modernisierung nach der Jahrhundertwende wie ein Schock, der entsprechende Gegenbewegungen gegen das bürgerliche Zeitalter und Selbstverständnis hervorruft. Aus den Reihen des Bürgertums spalten sich Parteien, Fraktionen und intellektuelle Einzelkämpfer ab, die zum Sturm auf die Festung der Bourgeoisiegesellschaft und des bürgerlichen Liberalismus ansetzen. Mit der zunehmenden Technisierung und Industrialisierung, der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der Lebensverhältnisse, der Heraufkunft der Massengesellschaft, vor allem aber einem fehlenden Nationalbewusstsein, das durch die Niederlage des ersten Weltkrieges und die (für die konservativen Schichten schmachvolle) Gründung der Weimarer Republik zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen wird, wächst der Affront gegen das bürgerliche Dasein, bürgerliche Vernunft und bürgerliche Politik. II. Aufstand gegen die verwaltete Welt Die antibürgerliche Kulturkritik ist eingebettet in einen umfassenden Aufstand gegen die verwaltete und demokratisierte Welt, der sich an mehreren Fronten abspielt und durch unterschiedliche Entform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991, S. 51 ff.
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wicklungen forciert wird. Wesentlich für die Verschärfung kulturkritischer Tendenzen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist die Erfahrung der Massengesellschaft. An die Stelle des Individuums und seiner Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung treten anonyme Prozesse, die sich nach eigenen Gesetzen entwickeln und verändern. Volk, Klasse, Nation und Rasse lösen die Kategorie des Individuums ab, gesellschaftliche Vorgänge beruhen auf »sozialen Tatsachen« (Émile Durkheim) und gehorchen nicht mehr dem moralischen Willen des Einzelnen. Der Eindruck, dass es anonyme Mächte sind, die sich über die Köpfe der Beteiligten hinweg entfalten, wird verstärkt durch die »Herrschaft des Apparats« 14 , der zur Einpassung des Menschen in sachliche Operationen, zu taktischer Rücksichtslosigkeit und zur Dominanz zweckrationalen Handelns führt. Max Weber hat in diesem Zusammenhang die bekannte Warnung ausgesprochen, dass »›Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz‹« eine »nie vorher erreichte Stufe des Menschentums«15 ersteigen werden, wenn sich das ›stahlharte Gehäuse‹ der kapitalistischen Organisation weiter um den Einzelnen schließt. Ein weiterer wichtiger Verstärker der Kulturkritik dieser Zeit ist der Vormarsch der Technik und der Industrialisierung, der mit dem Wuchern der »großen Stadt« (Oswald Spengler), der »Mechanisierung« (Walther Rathenau) der Arbeits- und Lebenswelt sowie dem ökologischen Raubbau an der Natur einhergeht, durch den das »Antlitz der Festländer sich«, so Ludwig Klages, »allgemach in ein mit Landwirtschaft durchsetztes Chicago« 16 verwandelt. Auf politischer Ebene steht die Ausbreitung der Demokratie im Vordergrund. Sie geht mit der Etablierung der Gewaltenteilung, der Verankerung von Grundrechten und parlamentarischen Entscheidungsverfahren einher, die von zahlreichen konservativen Intellektuellen als »Geschwätz«17 abgetan und für die Entmachtung des 14
Vgl. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1932), Berlin, New York 1979, S. 45–48. 15 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1934, S. 204. 16 Ludwig Klages, Mensch und Erde (1916), in: ders., Mensch und Erde. Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1956, S. 1–25, S. 10. 17 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1920, S. 16. 5
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souveränen Staates verantwortlich gemacht werden. Schließlich bildet auch die kapitalistische Marktwirtschaft einen dominierenden Faktor in dieser Zeit, in der das Schlagwort vom »Mammonismus« kursiert und der entfesselte Geld- und Warenverkehr angeklagt wird, die Entfremdung zwischen den Menschen zu verstärken und eine materialistische Lebenseinstellung zu befördern, die in alle Fasern der Gesellschaft und ihrer kulturellen Verfassung eindringt. Die Fronten, die sich als Gegenreaktion auf die Massengesellschaft, die Herrschaft des Apparats, den Vormarsch der Technik und Industrie, die parlamentarische Demokratie und die kapitalistische Markwirtschaft bilden, sind entsprechend weit gespannt. Es sind vor allem drei Feindlinien, die von unterschiedlichen Seiten aus gezogen werden, um den Gegner dingfest zu machen und die bedrohte Kultur zu schützen. Der erste Feind ist relativ schnell ausgemacht. Es ist der politische und wirtschaftliche Liberalismus mit seiner Betonung der individuellen Freiheit, der sozialen Gleichheit, der ökonomischen Privatinteressen und finanziellen Handelsbeziehungen. Dem Liberalismus wird vorgeworfen, überlieferte Traditionsbestände durch den Kult des Neuen zu zerstören, die gewachsene Volksgemeinschaft in der künstlichen Gesellschaft aufzulösen und die staatliche Hoheit durch Geschäftsbeziehungen und Parteienpolitik zu ersetzen. 18 Der zweite Gegner ist der aufklärerische Rationalismus, der auf der Vorherrschaft der wissenschaftlichen Vernunft, des kritischen Geistes und dem nüchternen Verstand beruht. Im Rationalismus sieht man die Ursache für die Entzauberung und Entwertung der Wirklichkeit, für die Neutralisierung substantieller Beziehungen, die Abtötung des Lebenswillens und die Nivellierung natürlicher Rangunterschiede. Der dritte Gegner ist etwas schwerer zu verorten. Es handelt sich bei ihm um den Komplex aus Industrie, Technik und Bürokratie, der für die Verselbständigung des Fortschritts und die Entfesselung der Systeme verantwortlich gemacht wird. In der Eigendynamik der Systeme macht man die Ursache dafür aus, dass die moderne Welt immer gestaltloser und gleichförmiger wird, sich anonyme Kräfte ausbrei18
Vgl. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 51–59.
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ten, die ohne menschlichen Willen ihre zerstörerischen Kräfte entfalten und in den planetarischen Raum hineinwirken, der sich zunehmend der Steuerung und Einflussnahme entzieht. III. Kampf des Bürgers gegen sich selbst In diesen Frontverläufen verschärfen sich die Attacken auf den bürgerlichen Geist der liberalen Ära. Bürger und Bürgertum werden zu Synonymen einer Epoche, die sich im Untergang befindet. 19 In seinem 1930 gehaltenen »Appell an die Vernunft« drückt Thomas Mann diese Situation mit folgenden Worten aus: »Mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Mittelklasse verband sich eine Empfindung, die ihm als intellektuelle Prophetie und Zeitkritik vorausgegangen war: die Empfindung einer Zeitenwende, welche das Ende der von der Französischen Revolution datierenden bürgerlichen Epoche und ihrer Ideenwelt ankündigte. Eine neue Seelenlage der Menschheit, die mit der bürgerlichen und ihren Prinzipien: Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung, Optimismus, Fortschrittsglaube, nichts mehr zu schaffen haben sollte, wurde proklamiert und drückte sich künstlerisch im expressionistischen Seelenschrei, philosophisch als Abkehr vom Vernunftglauben, von der zugleich mechanistischen und ideologischen Weltanschauung abgelaufener Jahrzehnte aus, als ein irrationalistischer, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des Denkens stellender Rückschlag, der die allein lebensspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich-Chtonische, die heilig gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte.«20 19
Vgl. Günter Meuter, Henrique Otten, Der Bürger im Spiegelkabinett seiner Feinde, in: dies. (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 9–33. 20 Thomas Mann, Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft (1930), in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XI: Reden und Aufsätze 3, Frankfurt a. M. 1990, S. 870–891, S. 877.
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Bei Paul Tillich heißt es 1926 dazu: »Die in sich selbst ruhende Diesseitigkeit der bürgerlichen Kultur und Religion wird aus ihrer Ruhe gebracht. An allen Punkten erheben sich Fragen und Fragwürdigkeiten, die in eine Jenseitigkeit des Zeitlichen weisen und die Sicherheit der vom Ewigen her gelösten Gegenwart bedrohen. Die durchgängige Vernünftigkeit der großen Mächte Wissenschaft, Technik und Wirtschaft beginnt zweifelhaft zu werden; überall tun sich Abgründe auf und überall ringt die Seele um Erfüllungen, die aus tieferen Schichten des Lebens hervorbrechen sollen.« 21 In Anbetracht des Umstandes, dass die meisten der zeitgenössischen Autoren, die sich kritisch zur Kultur ihrer Zeit äußern, im weitesten Sinn bürgerlichen Schichten zugehören und durch bürgerliche Wert- und Lebensvorstellungen geprägt sind, ist es durchaus berechtigt, von einem »Kampf des Bürgertums gegen sich selbst« 22 zu sprechen, um die Formulierung von Christian Graf von Krockow zu benutzen. Dies lässt sich besonders für die Protagonisten der so genannten Konservativen Revolution geltend machen, die allesamt mehr oder weniger bürgerlich verfassten Milieus entstammen. »Es gab«, so Stefan Breuer, »selbständige wirtschaftliche Existenzen mit eigenem ökonomischen Kapital – beispielsweise Ernst Jünger père, der eine Apotheke besaß, oder der Vater von Leopold Ziegler, der Kaufmann war; Angehörige des ›absteigenden Kleinbürgertums‹, die als Uhrmacher (Stapel) oder Feilenhauermeister (Niekisch) arbeiteten; Mitglieder des ›exekutiven Kleinbürgertums‹, die als kaufmännische Angestellte (Schmitt) oder Postsekretäre (Spengler) tätig waren; und Vertreter des Bildungsbürgertums, die vergleichsweise hohes kulturelles Kapital mit geringem ökonomischem Kapital verbanden: Der Vater von Moeller van den Bruck war Architekt im Staatsdienst (Königlich-Preußischer Baurat); derjenige Spahns war Verwaltungsjurist und brachte es später sogar bis zum preußischen Justizminister. Die Väter von Jung, Freyer und Zehrer nahmen als Gymnasialprofessoren und Postdirektoren ebenfalls respektable Plätze in der sozialen Hierarchie ein.« 23 21 22 23
Paul Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, Berlin 1926, S. 26. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung, a. a. O., S. 28. Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, a. a. O., S. 25.
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Als Reaktion auf die Krisenerscheinungen des Liberalismus setzen die Kulturkritiker mit einem ganzen Arsenal an Motiven zum Angriff auf die Bastionen der bürgerlichen Gesellschaft an. Dazu gehört eine durchgehende Aufwertung des Lebens, die sich gegen den bürgerlichen Formalismus, die Erstarrung des Daseins in routinisierten und normalisierten Abläufen, aber auch gegen den bürgerlichen Rationalismus, die einseitige Berechnung und Versachlichung der Dinge richtet. Im Anschluss an Nietzsche, Henri Bergson und Wilhelm Dilthey wendet man sich dem »Sein selbst« (Max Scheler) zu; Intuition und Erleben treten an die Stelle von Intellekt und Erkenntnis. Die Suche nach einer volleren Wirklichkeit, die nicht bloß auf Funktion und Organisation beruht, sondern auf Faszination und Ereignishaftigkeit, spiegelt sich in zahlreichen bürgerlich-gegenbürgerlichen Bewegungen wider, die vom Wandervogel über die Lebensreform und Jugendbewegung bis zu alternativen Siedlungsprojekten reichen.24 Dabei geht es nicht nur um die Gestaltung einer naturgemäßeren Lebensweise, die durchaus im Einklang mit den technischen Entwicklungen der Zeit steht, sondern auch um die Freilegung ursprünglicher Erfahrungsschichten, die wie in der Liebe und Erotik, in der Gefahr und im Abenteuer unter den bürgerlichen Konventionen verborgen liegen. Die Aufwertung des Lebens geht mit einer Rehabilitierung des Mythischen und Elementaren einher, die gegen die bürgerliche Oberflächlichkeit und Ursprungsvergessenheit gesetzt werden. »Nur im Mythus«, so Carl Schmitt, »liegt das Kriterium dafür, ob ein Volk oder eine andere soziale Gruppe eine historische Mission hat und sein historischer Moment gekommen ist. Aus den Tiefen echter Lebensinstinkte, nicht aus einem Räsonnement oder einer Zweckmäßigkeitserwägung, entspringt der große Enthusiasmus, die moralische Dezision und der große Mythus.«25 Der Mythos ist eine dezidiert antibürgerliche Figur, weil er gegen rationale Kommuni24
Vgl. Thomas Rohkrämer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880–1933, Paderborn 1999, S. 141–162, der dort zwischen »bürgerlicher« Jugendbewegung und »antibürgerlicher« Siedlungsbewegung und Bohème unterscheidet. 25 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1926), Berlin 6 1985, S. 80.
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kation, öffentliche Diskussion und parlamentarische Verfahren gerichtet ist. »Unter dem Gesichtspunkt dieser Philosophie [des Mythos; L. H.] wird das bürgerliche Ideal friedlicher Verständigung, bei dem alle ihren Vorteil finden und ein gutes Geschäft machen sollen, zu einer Ausgeburt feigen Intellektualismus; die diskutierende, transingierende, parlamentierende Verhandlung erscheint als Verrat am Mythus und an der großen Begeisterung, auf die alles ankommt. Dem merkantilen Bild von der Balance tritt ein anderes entgegen, die kriegerische Vorstellung einer blutigen, definitiven, vernichtenden Entscheidungsschlacht.«26 Ein weiteres Motiv ist die Kritik des bürgerlichen Sicherheitsbedürfnisses. Dazu heißt es bei Ernst Jünger: »Das Bestreben des Bürgers, den Lebensraum hermetisch gegen den Einbruch des Elementaren abzudichten, ist der besonders gelungene Ausdruck eines uralten Strebens nach Sicherheit, das in der Natur- und Geistesgeschichte, ja in jedem einzelnen Leben überall zu verfolgen ist.« 27 Das bürgerliche Sicherheitsbedürfnis ist Illusion und Täuschung, es entspringt dem Wunsch nach Ordnung und der Eliminierung des Schicksals. Die bürgerliche Welt, so Ernst Jünger, »offenbart sich im umfassenden Aufbau eines Versicherungssystems, durch das nicht nur das Risiko der äußeren und inneren Politik, sondern auch das des privaten Lebens gleichmäßig verteilt und damit der Vernunft unterstellt werden soll – in Bestrebungen, in denen man das Schicksal durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzulösen sucht.«28 An die Stelle der bürgerlichen Domestizierung des Außergewöhnlichen und Riskanten soll deshalb die Anerkennung existenzieller Untiefen und Unwägbarkeiten treten. »Nunmehr aber«, heißt es bei Jünger, »flammen die gesicherten Bezirke der Ordnung selbst wie Schießpulver auf, das lange trockengelegen hat, und das Unbekannte, das Außergewöhnliche, das Gefährliche wird nicht nur das Gewöhnliche – es wird auch das Bleibende.« 29 26
Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, a. a. O., S. 81. 27 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 1982, S. 48. 28 Ernst Jünger, Der Arbeiter, a. a. O., S. 51. 29 Ernst Jünger, Der Arbeiter, a. a. O., S. 57.
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Als Heilmittel gegen die bürgerliche Normalitätsversessenheit tritt als weiteres Grundmotiv die Sehnsucht nach Härte und Schwere, die sich exemplarisch bei Martin Heidegger in seiner Vorlesung »Grundbegriffe der Metaphysik« von 1929/30 beobachten lässt. 30 Heidegger setzt dort zum Angriff auf den »Normalmenschen« an, der »seine dünnen Furchtsamkeiten zum Maßstab dessen« mache, »was als Schrecken und Angst gelten darf«, und »seine satten Behäbigkeiten zum Maßstab dessen« nehme, »was als Sicherheit bzw. Unsicherheit gelten kann«.31 Gegen die »Leere« und »Langeweile« der bürgerlichen Existenz fordert Heidegger eine neue »Not«, die mit der »Zumutung« einher geht, sein Dasein als Ganzes zu übernehmen und sich auf die »Spitze des schärfsten Augenblicks« zu stellen, um so zum eigentlichen Seinkönnen zu gelangen. 32 Gewalt und Entscheidung, Ausnahme und Opfer, Stärke und Kraft bilden die Grundmotive einer antibürgerlichen Haltung, die gegen die Orientierungs- und Bindungslosigkeit des Bürgers gerichtet ist, der irgendwo in der diffusen Mitte zwischen dem Abbau alter Bestände und dem Errichten neuer Ordnungen stecken geblieben ist. Was dem Bürger fehlt, sind die Tugenden der Hingabe und Unterwerfung, der Glaube an höhere Mächte und Autoritäten. »Der Sieg des Bürgers über den Soldaten« 33 , wie der Untertitel einer 1934 erschienenen Schrift von Carl Schmitt lautet, besteht darin, dass der liberale Bürger der demokratischen Selbstgesetzgebung vertraut, dem Humanitarismus huldigt und sich mit seinen privaten Interessen in die souveränen Entscheidungen des Staates einmischt. Die Folgen bestehen in der Auflösung politischer Macht 30
Vgl. Winfried Franzen, Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« von 1929/30, in: Annemarie Gethmann-Siefert, Otto Pöggeler (Hrsg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 78–92. 31 Martin Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (= Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1983, S. 32. 32 Martin Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik, a. a. O., S. 243–249. 33 Carl Schmitt, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934. Siehe auch Bogislav von Selchow, Der bürgerliche und der heldische Mensch, Leipzig 1934.
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und der Herrschaft sozialer Anarchie. 34 Die Bürger haben das politische Zeitalter in einen funktionalen »Betrieb« verwandelt und die transzendenten Werte mit ihrem gierigen Materialismus heillos säkularisiert. Sie wollen, so Schmitt schon 1916, »den Himmel auf der Erde, den Himmel als Ergebnis von Handel und Industrie, der tatsächlich hier auf der Erde liegen soll, in Berlin, Paris oder New York, einen Himmel mit Badeeinrichtungen, Automobilen und Klubsesseln, dessen heiliges Buch der Fahrplan wäre« 35 . Hervorstechendes Kennzeichen des bürgerlichen Typus ist sein individualistischer Charakter, der sämtliche Hierarchien zersetzt und durch kraftlose Entscheidungen und Unterscheidungen ersetzt. Der Bürger ist in den Augen Schmitts ein Bruder des Romantikers, der in seinem Handeln von bloßen Stimmungen und ästhetischen Attitüden geleitet wird. »Nur in einer individualistisch aufgelösten Gesellschaft konnte das ästhetisch produzierende Subjekt das geistige Zentrum in sich selbst verlegen, nur in einer bürgerlichen Welt, die das Individuum im Geistigen isoliert, es an sich selbst verweist und ihm die ganze Last aufbürdet, die sonst in einer sozialen Ordnung in verschiedenen Funktionen hierarchisch verteilt war.« 36 Die Romantik ist nach Schmitt »ein Produkt bürgerlicher Sekurität« 37 . Der romantische Occasionalismus, der durch die ironische Umwertung überkommener Werte und die ästhetische Rebellion gegen die bestehenden Verhältnisse gekennzeichnet ist, bildet die Konsequenz des bürgerlichen Individualismus, der sich selbst zum Absoluten aufgespreizt hat: »Das vereinzelte, isolierte und emanzipierte Individuum wird in der liberalen, bürgerlichen Welt zum Mittelpunkt, zur letzten Instanz, zum Absoluten.« 38 Gegen die bürgerliche Flucht in den »romantischen Raum« 39 , 34
Vgl. Nikolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt. Ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München, Wien 1991, S. 22–30. 35 Carl Schmitt, Theodor Däublers »Nordlicht«. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes (1916), Berlin 1991, S. 60. 36 Carl Schmitt, Politische Romantik (1919), Berlin 3 1968, S. 26. 37 Carl Schmitt, Politische Romantik, a. a. O., S. 141. 38 Carl Schmitt, Politische Romantik, a. a. O., S. 141. 39 Ernst Jünger, Der Arbeiter, a. a. O., S. 53. Der Romantiker erkennt nach Jünger
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der durch ein wirklichkeitsentlastetes und damit folgenloses Handeln gekennzeichnet ist, wird die Notwendigkeit überzeitlicher Orientierungen und unhinterfragbarer Autoritäten gesetzt und die Eingliederung in ein übersubjektives Ganzes gefordert, das neue Bindungen und intensivere Erfahrungen stiften soll. Ein weiteres zentrales Motiv der antibürgerlichen Modernitätskritik ist die existentielle Konversion, die sich auf dem Feld der Politik, aber auch der Kunst vollzieht. Wo der Bürger sich mehr oder weniger leidenschaftslos mit den Verhältnissen arrangiert, stürzen sich zahlreiche Intellektuelle und Artisten in neue Glaubensformationen und Gemeinschaftsprojekte, in politische Programme und künstlerische Experimente, die den brüchig gewordenen, wenn nicht gar verlorenen Kontakt mit der modernen Wirklichkeit wieder herstellen sollen. 40 Die existentielle Konversion dient dem Zweck, die Entfremdung von der eigenschaftslos gewordenen, anonymen Mächten unterworfenen Wirklichkeit durch die Schaffung künstlicher Ordnungen zu bewältigen – nicht indem man vor dem Auflösungsprozess der bürgerlichen Lebensform in harmonische Idealwelten flüchtet, sondern diesem Prozess mit nüchterner Entschlossenheit standhält. Dieses Standhalten zeigt sich auch in einem weiteren Motivbereich, nämlich der Vorliebe für das Tragische, den Ernst und unauflösbare Konflikte, die auf scheinbar konträre Weise mit der Verteidigung der Form und dem Lob der Sachlichkeit verbunden wird. 41 Paradigmatisch hierfür ist vor allem die 1911 veröffentlichte »Metaphysik der Tragödie« von Georg Lukács, in der dieser eine Kampfansage an den entscheidungsunfähigen Geist seiner Epoche formuliert und das Tragische zu einer neuen, gegenrevolutionären »die Unvollkommenheit der bürgerlichen Welt, der er doch kein anderes Mittel als die Flucht entgegenzustellen weiß« (S. 54). 40 Siehe hierzu Michael Großheim, Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002, bes. S. 150–153. 41 Vgl. Ludger Heidbrink, Ende des tragischen Zeitalters? Zur Ambivalenz eines kulturkritischen Deutungsmusters, in: Günter Meuter, Henrique Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 209–232, S. 219 ff.
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Utopie der Freiheit steigert. Der tragische Kampf richtet sich gegen die »Anarchie« des Lebens, die durch die Unterwerfung unter das Gesetz einer »überpersönlichen, geschichtlichen Notwendigkeit« 42 gebändigt werden muss. Dabei bildet die Form »die höchste Richterin des Lebens« 43 , sie wird »zu einem kategorischen Imperativ der Größe und Selbstvollendung«, zu einer ethischen Kraft, die »unabhängig von ihrem Befolgtsein« Gültigkeit besitzt und »das Dasein alles Problematischen vergessen und es für immer aus seinem Reich verbannen« 44 soll. Lukács hat unmissverständlich darauf hingewiesen, dass die tragische Ethik der Form mit dem liberalen Geist der Demokratie unvereinbar ist – wie übrigens schon Leopold Ziegler, der in seiner 1902 erschienenen »Metaphysik des Tragischen« davon spricht, dass die »zahme, staatsbürgerliche Zeit des Liberalismus« 45 keinen Sinn für die Tragik der Existenz mehr besitze, und Miguel de Unamuno, der 1925 die Aussichtslosigkeit beschrieben hat, das »tragische Lebensgefühl« 46 auf dem Boden des bürgerlichen Materialismus und Kompromissdenkens adäquat zu erfassen. »Vergebens wollte unsere demokratische Zeit«, so Lukács, »eine Gleichberechtigung zum Tragischen durchsetzen; vergeblich war jeder Versuch, den seelisch Armen dieses Himmelreich zu öffnen. Und Demokraten, die ihre Forderung nach gleichem Recht für alle klar zu Ende dachten, bestritten auch immer die Daseinsberechtigung der Tragödie.« 47 Eine ähnliche Bejahung des tragischen Kampfes findet sich auch bei Ernst Jünger: »So ist die Schlacht für den Krieger ein Vorgang, der sich in hoher Ordnung vollzieht, der tragische Konflikt für den Dichter ein Zustand, in dem der Sinn des Lebens besonders deutlich zu erfassen ist, und eine brennende oder vom Erdbeben verwüstete Stadt für den Verbrecher ein Feld gesteigerter Tätigkeit.« 48 42 43 44 45 46 47 48
Georg Lukács, Die Seele und Formen, Neuwied, Berlin 1971, S. 219, 247. Georg Lukács, Die Seele und Formen, a. a. O., S. 248. Georg Lukács, Die Seele und Formen, a. a. O., S. 250. Leopold Ziegler, Metaphysik des Tragischen, Leipzig 1902, S. 27. Miguel de Unamuno, Das tragische Lebensgefühl, München 1925, S. 137. Georg Lukács, Die Seele und Formen, a. a. O., S. 248 f. Ernst Jünger, Der Arbeiter, a. a. O., S. 50.
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Die Affirmation des Tragischen bildet die Reaktion auf die Entfesselung überpersönlicher Kräfte, die nach Jünger »eine Rüstung bis ins innerste Mark, bis in den feinsten Lebensnerv erforderlich« 49 machen. Der Bürger mit seiner Sorge um Freiheit und Gleichheit ist der totalen Mobilmachung der Technik, der Wirtschaft und der Industrie nicht gewachsen. Jünger fordert deshalb, dass an die Stelle bürgerlicher Kleidung die »Uniform« treten müsse, da »Arbeitscharakter und Kampfcharakter identisch«50 geworden seien. Diese Forderung zielt auf eine Versachlichung des sozialen Verhaltens, die vor dem Einbruch überpersönlicher Mächte in die Lebenswelt durch das Verfahren der Entpersönlichung schützen soll. In diesem Zusammenhang müssen auch Helmuth Plessners Rede von der »Pflicht zur Gesellschaft«51 und seine Forderung nach Diplomatie und Takt gesehen werden, die gegen sich ausbreitende Verhaltensformen der Nähe und Unmittelbarkeit gerichtet sind. Die von zahlreichen Intellektuellen der Weimarer Ära propagierten »Verhaltenslehren der Kälte« 52 dienen der Wiederherstellung der Distanz, der Disziplin und Askese, die mit der modernen Massengesellschaft verloren gegangen sind. Die Panzerungen des Ich, die Aufwertung des Typus und der Gestalt sollen den entfesselten Liberalismus unter Kontrolle halten, der letzten Endes für den Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform verantwortlich gemacht wird.
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Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung (1930), in: ders., Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Bd. 7: Essays I. Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 119–142, S. 126. 50 Ernst Jünger, Der Arbeiter, a. a. O., S. 125. 51 Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V, hrsg. von Günter Dux, Odo Marquard u. a., Frankfurt a. M. 1981, S. 7–133, S. 112. 52 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994.
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IV. Selbstreflexion der liberalen Gesellschaft Winfried Gebhardt hat darauf hingewiesen, dass das Leben in der kalten Gesellschaft für die mehrheitlich aus bürgerlichen Milieus stammenden Intellektuellen dieser Zeit »keine Selbstverständlichkeit« war, sondern vielmehr »ein dezisionistischer, ein heroischer Akt« 53 . Die anti-bürgerliche Haltung mit ihren Attacken auf den materialistischen und zersetzenden Geist des Liberalismus entspringt selbst einer höchst destruktiven Einstellung. Die Kritiker des bürgerlichen Zeitalters betreiben keinen Ausgleich von Gegensätzen, sondern treiben die Logik der Mobilmachung, der Entfremdung und Künstlichkeit bewusst auf die Spitze. Die antibürgerliche Kulturkritik ist so gesehen nichts anderes als eine radikalisierte Form der bürgerlichen Selbstkritik. Sie beruht auf einem »Kampf des Bürgertums gegen sich selbst« (Krockow), durch den zwar wesentliche Fehlentwicklungen des liberalen Zeitalters sichtbar werden, der aber letztlich keine produktiven Gegenentwürfe hervorbringt. Thomas Mann hat in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« diese überzogene Selbstkritik des bürgerlichen Geistes sehr klar erkannt und ihr ein Plädoyer für eine neue Form der Bürgerlichkeit entgegen gestellt, deren Eigenschaften er als »Ordnung, Folge, Ruhe, ›Fleiß‹ – nicht im Sinne der Emsigkeit, sondern der Handwerkstreue« bestimmt. 54 Mann bezieht sich in seiner Verteidigung der Bürgerlichkeit auf den frühen Lukács, der in seinem Storm-Essay geschrieben hatte: »Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens bedeutet in erster Linie das Primat der Ethik im Leben […]. Mit anderen Worten: die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von Sensationen gespeist wird.« 55 Mann sieht aus diesem Grund das zentrale Moment des bürger53
Winfried Gebhardt, »Warme Gemeinschaft« und »kalte Gesellschaft«. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur, in: Günter Meuter, Henrique Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 165–184, S. 182. 54 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, Berlin 1918, S. 71. 55 Georg Lukács, Die Seele und die Formen, a. a. O., S. 84.
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lichen Künstlers nicht in der »asketisch-orgiastischen Verneinung des Lebens« 56 , sondern in der ethisch-disziplinierten Schaffung des Werkes. Der bürgerliche Künstler ist Handwerker, nicht Ästhet; er ist Kultur- und Geistesmensch, nicht politischer Akteur. Der Bürger ist »romantischer Individualist«, denn »Artistik, Zigeunertum und Libertinage ist der überpolitische Teil des Menschlichen, jener Teil, der im Staatlich-Gesellschaftlichen nicht aufgeht« 57 . Die Eigenschaften des Bürgers sind Ironie und Zweifel, Abstandnahme und Beobachtung, die er gegen den Fanatismus des »gotischen Menschen« setzt, den Menschen der »neuen Intoleranz, der neuen Antihumanität des Geistes, der neuen Geschlossenheit und Entschlossenheit, des Glaubens an den Glauben« 58 . Bei Mann verbindet sich die ironische Haltung der Distanz mit dem ästhetischen Willen zum Werk, die spielerische Selbstinszenierung mit der disziplinierten Leistungsethik zu einer, wenn man es so nennen will, bürgerlichen Antibürgerlichkeit. Diese Haltung der bürgerlichen Antibürgerlichkeit bildet die eigentliche Erbschaft der kulturkritischen Zeitdiagnose im Umfeld der Weimarer Republik. Sie stellt einen Modus der Selbstreflexion der liberalen Gesellschaft dar, die nicht auf die Destruktion der demokratischen und ökonomischen Grundlagen des Liberalismus zielt, sondern auf ihre Reform und Umgestaltung. Aus kulturkritischer Perspektive offenbart sich der Liberalismus als krisengefährdetes System, weil er durch das Prinzip freier Konkurrenz, weltanschaulichen Pluralismus und fehlende Bindungen gekennzeichnet ist, die zu einer anhaltenden inneren Selbsterhaltungsschwäche führen. Was sich von den kulturkritischen Zeitdiagnosen übernehmen lässt, ist die Einsicht, dass – in Abwandlung des bekannten Satzes von Ernst-Wolfgang Böckenförde – freiheitlich verfasste Marktgesellschaften von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht garantieren können. Der österreichische Volkswirtschaftler Joseph Schumpeter hat diesen Umstand mit den Worten ausgedrückt, »daß die kapitalistische Ordnung nicht nur auf Pfeilern ruht, die 56 57 58
Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, a. a. O., S. 71. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, a. a. O., S. 106, S. 107. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, a. a. O., S. 507.
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aus außerkapitalistischem Material bestehen, sondern daß sie auch ihre Energie aus außerkapitalistischen Mustern des Verhaltens bezieht« 59 . Aus Sicht Schumpeters trägt vor allem die Selbstauflösung der »bürgerlichen Motivation« durch den »individualistischen Utilitarismus« 60 daran Schuld, dass das Gefüge des Kapitalismus der Gefahr einer permanenten »Zersetzung« ausgeliefert ist. Die Kulturkritik im Umfeld der Weimarer Republik hat diesen Prozess der bürgerlichen Selbstauflösung zutreffend diagnostiziert, ohne jedoch praktikable Gegenvorschläge zu liefern. Mit ihrer Therapie der gegenbürgerlichen Revolte ist sie über das Ziel hinausgeschossen, auch wenn ihre Attacken gegen den materialistischen und subjektivistischen Geist des Bürgertums in vielen Punkten richtig waren. Die außerkapitalistischen Muster des Verhaltens, die heute wieder im Fokus der Aufmerksamkeit stehen, wenn man an die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise denkt, lassen sich nicht durch die Überbietung oder den Ausstieg aus der bürgerlichen Lebensform erreichen, sondern nur durch ihre Wiedereinbindung in die Dynamik des liberalen Kapitalismus. Der Verweis auf Mann sollte deutlich machen, dass hierfür die Haltung einer bürgerlichen Antibürgerlichkeit erforderlich ist, die Disziplin mit Kreativität, Kontrolle mit Risikobereitschaft, Ordnung mit Rebellion verbindet. Wenn heute von der »Künstlerkritik«61 am Kapitalismus die Rede ist, die auf eine nicht entfremdete und authentische Lebensführung in der Konsum- und Massengesellschaft zielt, dann lassen sich hierfür in der Tradition der bürgerlichen Kulturkritik zahlreiche produktive Deutungsmuster finden, die auch unter Bedingungen der globalisierten Marktwirtschaft ihre Gültigkeit besitzen. Es besteht somit kein Grund zur Sorge, dass wir es mit einem veralteten Deutungsmuster zu tun haben, sondern allerhöchstens, dass es sich um einen immer noch unterschätzten »Reflexionsmodus der Mo59
Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 261. 60 Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, a. a. O., S. 252, S. 259. 61 Luc Boltanski, Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 449 ff.
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derne« handelt, mit dem sich auf produktive Weise Einspruch gegen ihre fortdauernden »Zumutungen« erheben lässt. 62 Literatur Bollenbeck, Georg, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1996. Bollenbeck, Georg, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007. Boltanski, Luc, Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. Breuer, Stefan, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. Franzen, Winfried, Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Über ein zum NS-Engagement disponierendes Motiv in Heideggers Vorlesung »Die Grundbegriffe der Metaphysik« von 1929/30, in: Annemarie Gethmann-Siefert, Otto Pöggeler (Hrsg.), Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, S. 78– 92. Gebhardt, Winfried, »Warme Gemeinschaft« und »kalte Gesellschaft«. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur, in: Günter Meuter, Henrique Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 165–184. Großheim, Michael, Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002. Heidbrink, Ludger, Ende des tragischen Zeitalters? Zur Ambivalenz eines kulturkritischen Deutungsmusters, in: Günter Meuter, Henrique Otten (Hrsg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert, Würzburg 1999, S. 209–232. Heidegger, Martin, Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (= Gesamtausgabe, Bd. 29/30, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann), Frankfurt a. M. 1983. Jaspers, Karl, Die geistige Situation der Zeit (1932), Berlin, New York 5 1979. Jünger, Ernst, Die totale Mobilmachung (1930), in: ders., Sämtliche Werke, 2. Abteilung, Bd. 7: Essays I. Betrachtungen zur Zeit, Stuttgart 1980, S. 119–142. Jünger, Ernst, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart 1982. Klages, Ludwig, Mensch und Erde (1916), in: ders., Mensch und Erde. Gesammelte Abhandlungen, Stuttgart 1956, S. 1–25. Kocka, Jürgen, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: ders. (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Einheit und Vielheit Europas, Göttingen 1995, S. 9–94.
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Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 10.
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Ludger Heidbrink
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Der Aufstand gegen die verwaltete Welt
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Steffen Kluck
»Wissen, was an der Zeit ist« – Der Zeitgeist als Werkzeug der Kulturkritik
In einem Artikel der »Neuen Preußischen Zeitung« vom 14. Juni 1892 wird über die damalige Gegenwart ein vernichtendes Urteil gesprochen: »Die Strafe steht vor der Thür, der Becher des Zorns ist bis an den Rand gefüllt.« Dieser apokalyptisch anmutenden Diagnose schickt der Autor die vordergründig paradoxe Frage nach, ob die am Abgrund befindliche Zeit wohl die Zeichen der Zeit verstehen werde. 1 Soll damit gesagt sein, die Zeit verstünde ihre eigenen Ausdrucksformen nicht? Wohl kaum, eher scheint es so, als würde der Begriff »Zeit« hier in zweierlei Weise verwendet: einmal im Sinne der bestehenden Verhältnisse, ein anderes Mal im Sinne einer heraufziehenden Veränderung der etablierten Ordnung. Dann müsste die Frage umformuliert in etwa lauten: Versteht die gegenwärtig bestehende Gesellschaft die Hinweise auf die heraufziehenden Wandlungen? Dies leuchtet als sinnvolle Frage und implizit als prophetische Warnung unmittelbar ein – solch eine doppelbödige Formulierung hätte auch, statt 1892, beispielsweise im Herbst 1989 in Ostdeutschland ihre Wirkung zu entfalten vermocht. 2 Zu klären bleibt aber, was mit den »Zeichen der Zeit« gemeint sein könnte. Offenbar handelt es sich um bestimmte Emana1
Zitiert nach Hans Delbrück, Die gute alte Zeit, in: ders., Erinnerungen, Aufsätze und Reden, Berlin 1902, S. 179–212, S. 179. – Delbrück erstellte eine umfassende, von der Figur des Nestor aus der »Ilias« bis in die Gegenwart der Jahrhundertwende reichende Sammlung von vergangenheitsorientierten »Paradies«-Vorstellungen. Die so erschlossenen Quellen bieten eine gute Immunisierung gegen einfältige Formen der Kulturkritik, die über eine kaum begründete Verdammung des Gegenwärtigen vor dem Hintergrund früherer, vermeintlich besserer Zustände nicht hinaus gelangen. 2 Man vergleiche nur die bekannte und häufig aufgegriffene Warnung Michael
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»Wissen, was an der Zeit ist«
tionen aus einem Zugrundeliegenden – es sind schließlich Zeichen, die daher auf etwas verweisen. Das, worauf verwiesen wird, kann nicht, wie sich aus dem Zitat klar ergibt, die bestehende Gesellschaftsordnung sein. Vielmehr muss es sich um eine Strömung handeln, die sich in Abgrenzung zum Status quo versteht und sich in besonderen Formen Ausdruck verschafft, die von den Zeitgenossen in ihrer Andersartigkeit zumindest prinzipiell verstanden werden können. In typischen Redewendungen heißt es dann oft, ein »anderer Geist« durchziehe das Objekt, zum Beispiel ein Kunstwerk oder einen Gesetzestext. Damit wird man auf ein Phänomen gestoßen, das für das Nachvollziehen kultureller Wirklichkeiten von zentraler Bedeutung ist – der Geist, der eine Zeit und deren Formen beherrscht, der Zeitgeist. Dieses Phänomen, auf das Kulturkritik häufig Bezug genommen hat, wenn auch unter sich wandelnden Terminologien, gab Anlass zur Bildung eines theoretischen Modells. Im Folgenden wird dafür argumentiert, dass das Konzept des Zeitgeistes ein sinnvoller Bestandteil eines kulturkritischen Begriffsapparates sein kann – vor allem vor dem Hintergrund der starken deskriptiven Leistungsfähigkeit, welche mit dem Zeitgeist-Modell verbunden ist. Im Zuge dieser Überlegungen relativiert sich die häufig betonte Trennung von Kultur- und Zeitkritik. 3 Die Entwicklung der These beginnt mit einer Klärung dessen, was unter dem Begriff »Zeitgeist« zu verstehen ist, um anschließend die Nach- und Vorteile des Konzepts darzulegen. Schließlich soll in einem noch groben Versuch gezeigt werden, wie sich das Phänomen Zeitgeist in den weitläufigeren Diskurs der Kulturkritik eingliedern ließe, wobei das Problem des Maßstabs bzw. Standpunktes aufgegriffen werden muss.
Gorbatschows an Erich Honecker vom 7. 10. 1989: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« 3 So zum Beispiel bei Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 12, 20, 29, 112, 233 und 291 sowie bei Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008, S. 23.
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Steffen Kluck
I. Was ist der Zeitgeist? Eine Geschichte des häufig in unterschiedlicher Bedeutung verwendeten Begriffs »Zeitgeist« kann auf zahlreiche Quellen aus mindestens den letzten drei Jahrhunderten zurückgreifen. Allerdings bliebe ein solches historisches Vorgehen in systematischer Hinsicht unbefriedigend, da sich die jeweiligen Konzepte kaum in einer klaren und distinkten Definition vereinen lassen. 4 Vielmehr bietet die Verwendungsgeschichte des Zeitgeist-Begriffs, wie Ralf Konersmann es formuliert, das Bild einer »fortgesetzten bricolage historisch-semantischer Bruchstücke dar« 5 . Ohne Zweifel sind unter der Fahne des Zeitgeistes immer wieder neue Inhalte angesprochen worden. Insofern ist für das Anliegen, das Konzept für die Kulturkritik als fruchtbar zu erweisen, aus einer detaillierten historischen Herangehensweise nur begrenzter Gewinn zu erwarten. Viel relevanter ist dagegen, dass abseits der faktischen semantischen Modifikationen der kultur- und zeitübergreifende Rekurs auf den Begriff »Zeitgeist« als Ausdruck einer unwillkürlichen Evidenz verstanden werden muss. Dem Terminus wohnt eine starke Überzeugungskraft inne, die darin begründet scheint, dass er auf klare Weise ein Phänomen der unmittelbaren Lebenserfahrung bezeichnet.6 Dieser 4
Für einen Überblick über die Herkunft des Zeitgeist-Konzepts vgl. Ralf Konersmann, Artikel »Zeitgeist«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel, Stuttgart 1971 ff., Bd. 12, Stuttgart 2005, Sp. 1266–1270 sowie ders., Der Hüter des Konsenses. ZeitgeistBegriff und Zeitgeist-Paradox, in: Michael Gamper, Peter Schnyder (Hrsg.), Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper, Freiburg, Berlin 2006, S. 247–263, Hans-Joachim Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte? Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung, Göttingen, Zürich, Frankfurt a. M. 1970, S. 15–32, Lothar Kempter, Herder, Hölderlin und der Zeitgeist. Zur Frühgeschichte eines Begriffs, in: Hölderlin-Jahrbuch, hrsg. v. Bernharnd Böschenstein und Ulrich Gaier, Bd. 27 (1990/91), S. 51–76 und Hermann Joseph Hiery, Der Historiker und der Zeitgeist, in: ders., Der Zeitgeist und die Historie, Dettelbach 2001, S. 1–6. 5 Ralf Konersmann, Der Hüter des Konsenses, a. a. O., S. 247. 6 Diese These steht ganz im Sinne Herders. Vgl. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (Herders Werke, hrsg. v. Heinrich Düntzer, Bd. 13), Berlin 1879, S. 71: »Was Geist ist, läßt sich nicht beschreiben, nicht zeichnen, nicht malen; aber empfinden läßt es sich […].«
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Spur gilt es nachzugehen, um auf diese Weise theoretischen Bedenken durch den Nachweis der lebensweltlichen Relevanz 7 des Zeitgeistes zu begegnen. Um einen Einblick in die Reichweite der Konzepte zu gewinnen, sollen zumindest einige wenige der Definitionen hier thematisiert werden. Es gibt drei Autoren, die besonders im deutschen Sprachraum das Konzept des Zeitgeistes durch ihre Schriften maßgeblich entwickelt und verbreitet haben – Johann Gottfried Herder, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Wilhelm Dilthey. Herder versteht unter dem Begriff Folgendes: »Geist der Zeiten hieße also die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrebungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit bestimmten Ursachen und Wirkungen sich äußern.« 8 Der Zeitgeist wird erkannt als die Sammlung von immateriellen Bestrebungen verschiedenster Art, die sich in konkret fassbaren Tatbeständen zeigen. Deutlich sieht man schon an Herders Bestimmung, dass Form (im Sinne der Veräußerung) und Wesen des Geistes voneinander unterschieden werden. Unklar bleibt bei diesem Definitionsversuch, ob es sich bei den Gedanken, Gesinnungen etc. um diejenigen der Individuen selbst oder um diejenigen einer überindividuellen Entität handelt. Für Hegel ist es hingegen eindeutig so, dass der Zeitgeist den Individuen »vorsteht«. Die individuellen Interessen und Tätigkeiten werden diesem, der selbst wiederum nur eine besondere, einzigartige Stufe im Gang des Weltgeistes ist, zu bloßen Mitteln.9 Dabei war er nicht nur ihnen als verborgener Herrscher vorgeordnet, sondern Hegel sah in ihm den Ursprung der uns als Gegenstände der Geistesgeschichte bekannten Entitäten: »Das Verhältnis der politischen Geschichte, Staatsverfassungen, Kunst, Religion zur Philosophie ist […] nicht dieses, daß sie Ursachen der Philosophie wären oder umgekehrt diese der Grund von jenen; sondern sie haben viel7
Ein Indiz für diese Relevanz ist der Fakt, dass sich das Wort »Zeitgeist« – anders als »Kulturkritik« – als in viele andere Sprachen übertragbar erwiesen hat. 8 Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, a. a. O., S. 72. 9 Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke Bd. 12), Frankfurt a. M. 1986, S. 40, 50 f., 54, 73. – Das Motiv der »List der Vernunft« gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang (vgl. S. 49).
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mehr alle zusammen eine und dieselbe gemeinschaftliche Wurzel – den Geist der Zeit.« 10 Nach Hegels Theorie kann man den jeweiligen Zeitgeist als den wahren Ursprung aller Vorkommnisse in einer Epoche ansehen, der unbeschadet hinter den vordergründigen Kämpfen der Interessen, Gesinnungen, Triebe usw. steht. Das Problematische dieses Ansatzes fällt unmittelbar ins Auge – der Dominanz des Zeitgeistes ist nicht zu entkommen. Wir haben ihn, so Hegels Bild, um uns wie eine Haut, aus der wir nicht fahren können. 11 Außerdem kann jeder Zeitgeist nur vor dem Hintergrund der Weltgeist-Teleologie interpretiert werden, das heißt im Blick auf den als zwangsläufig verstandenen Gang der geschichtlichen Entwicklung. Insofern man diese geschichtsphilosophische Prämisse bezweifelt, verliert der jeweilige Zeitgeist die ihm von Hegel als notwendig zuerkannte Berechtigung. Dennoch sollte man die aufschließende Kraft des Modells nicht unterschätzen. Abseits der prekären Komponenten, also der Teleologie und der unbeschränkten Allmacht, konnte Hegels Philosophie des Geistes fruchtbringend auf zahlreiche Felder der kulturellen Wirklichkeit angewandt werden. 12 Noch Karl Marx, der »Umkehrer« Hegels, bleibt dem Modell insofern treu, als er das Vorkommen des Geistes nicht per se leugnet, sondern dessen Basis neu, eben materiell interpretiert. 13 Für das Zeitgeist-Konzept wesentlich folgenreicher als Marx waren jedoch die Arbeiten Diltheys. Sein Verdienst ist es, der hegelschen Teleologie eine antimetaphysische, vielmehr an den Phänomenen selbst orientierte Lehre vom objektiven Geist gegenübergestellt zu haben. 14 Der objektive Geist ist der vom subjektiven Geist, 10
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (Werke Bd. 18), Frankfurt a. M. 1986, S. 74. 11 Dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, a. a. O., S. 74. 12 Einen neuen Versuch hat Herbert Schnädelbach vorgelegt. Vgl. Herbert Schnädelbach, Geist als Kultur? Über Möglichkeiten und Grenzen einer kulturtheoretischen Deutung von Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Bd. 2 (2008), S. 187–207. 13 Vgl. als frühen Beleg Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: ders., Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart 1971, S. 339–485, S. 348 f. 14 So verstand Dilthey sein Vorgehen selbst. Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1970, S. 183.
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»Wissen, was an der Zeit ist«
also dem Geist der Individuen, unterschiedene Träger des gemeinschaftlichen Seins. Indem Dilthey auf eine Teleologie und Vernunft-Metaphysik verzichtete, historisierte er den Zeitgeist, verstand ihn als konkreten Ausdruck einer einmaligen, besonderen lebensweltlichen Situation. Die historische Bedingtheit rückt damit in den Vordergrund. Dilthey ist wohl der erste, der die rein deskriptive Leistungsfähigkeit des Zeitgeist-Begriffs systematisch und wissenschaftlich zu nutzen bestrebt war. Das Konzept erfährt durch ihn sogar noch eine Präzisierung, indem er die Grenzen, welche der Zeitgeist den Individuen setzt – also die vermeintlich einschließende Haut bei Hegel –, als Limes der Möglichkeiten des Lebens interpretiert: »Der Einzelne, die Richtung, die Gemeinschaft haben ihre Bedeutung in diesem Ganzen nach ihrem inneren Verhältnis zum Geist der Zeit. […] In diesem Sinne spricht man vom Geist einer Zeit, vom Geist des Mittelalters, der Aufklärung. Damit ist zugleich gegeben, daß jede solcher Epochen eine Begrenzung findet in einem Lebenshorizont. Ich verstehe darunter die Begrenzung, in welcher die Menschen einer Zeit in bezug auf ihr Denken, Fühlen und Wollen leben.« 15 Es ist, so die These, nicht zu allen Zeiten alles und nicht in gleicher Weise möglich. Der Zeitgeist hat eine beschränkenden Faktor; dass er daneben auch einen entgrenzenden hat, wird jedoch oft übersehen. Man muss nämlich feststellen, dass er die Individuen über ihre Unmittelbarkeit, ihr schlichtes, naives Dasein erhebt. Der Geist zieht zu sich herauf, oder wie Nicolai Hartmann es formuliert: »alle Erziehung ist Erziehung zum objektiven Geist« 16 . Ist man Kind seiner Zeit, wird man in gewisser Hinsicht unfrei, in anderer Hinsicht überschreitet man aber so auch das Niveau, welches einem durch alleinige Arbeit lediglich zugänglich gewesen wäre. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an die Rolle der Tradition, des kulturellen Gedächtnisses usw. erinnert. Diese erschließende Leistung des Geistes gerät oft aus dem Blick. 15
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, a. a. O., S. 218. 16 Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin, Leipzig 1933, S. 217.
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Gerade die polemischen Wendungen gegen den Zeitgeist – man denke zum Beispiel an Johann Wolfgang Goethe 17 oder an Friedrich Nietzsche18 – haben die Wirkung des Konzeptes lange und im Grunde bis heute behindert. Neben Herder, Hegel und Dilthey gab es gerade im 20. Jahrhundert weitere Theoretiker, die sich dem Begriff »Zeitgeist« verschrieben haben, so der Soziologe Hans Freyer, 19 der schon genannte Philosoph Hartmann, in den 1970er Jahren der Historiker Hans-Joachim Schoeps 20 und zuletzt der Zukunftsforscher Matthias Horx 21 im Rahmen der neueren Trend-Forschung. Den kulturgeschichtlich umfangreichsten Gebrauch vom Zeitgeist-Konzept hat es dabei in den 1920er und 1930er Jahren gegeben. Zur Zeit der Weimarer Republik nutzen vor allem zahlreiche Kritiker der bestehenden Gesellschaft den Begriff, um ihrer Gegenwart mit dezidierter Missbilligung gegenüber zu treten. Die Namensliste der Autoren solcher Werke liest sich wie ein intellektuelles »Who is who« der Weimarer Zeit: Walter Rathenau, Karl Jaspers, Paul Tillich, Werner Sombart, Theodor Haering, Max Wundt, Ferdinand Tönnies, Theodor Litt. 22 Diese Aufzählung ließe sich ohne weiteres fortführen. An der Virulenz dieser Untersuchungen erweist sich erneut die Relevanz und Fruchtbarkeit des Zeitgeist-Konzepts, trotz der perspektivischen Einseitigkeiten und des mitunter fragwürdigen wissenschaftlichen Werts. Um für die folgenden Ausführungen und die Entwicklung der eingangs aufgestellten These eine Grundlage zu besitzen, muss 17
Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Faust I, Vers 577 f. Vgl. zum Beispiel Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1999, S. 335–427, S. 403. 19 Vgl. Hans Freyer, Theorie des objektiven Geistes. Eine Einleitung in die Kulturphilosophie, Leipzig, Berlin 1928. 20 Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte?, a. a. O. 21 Vgl. z. B. Matthias Horx, Die wilden Achtziger. Eine Zeitgeist-Reise durch die Bundesrepublik, München 1987. 22 Nicht alle genannten Autoren griffen dabei explizit das Konzept des Zeitgeistes auf, allerdings scheinen sie doch der Sache nach in dieselbe Richtung zu argumentieren. 18
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noch ein weiteres Zeitgeist-Modell thematisiert werden. Konersmann hat vorgeschlagen, zwischen einer geschichtsphilosophischen und einer kulturphilosophischen Verwendung zu unterscheiden. Die geschichtsphilosophische Verwendungsweise geht auf Hegel zurück und möchte von Sinnstiftungsleistungen der Geschichte profitieren, die kulturphilosophische entstand bei Herder und zeichnet sich dadurch aus, die Unüberschaubarkeit der Geschichte mittels der Suche nach Idiomatiken zu kompensieren. 23 Diese Unterscheidung ist berechtigt, vor ihrem Hintergrund erweist sich Diltheys Neuinterpretation Hegels als Übergang von der geschichts- in die kulturphilosophische Sphäre. Insofern soll im weiteren Verlauf der Ausführungen unter »Zeitgeist« ein solches Konzept verstanden werden, das bemüht ist, in der kulturellen Wirklichkeit der Gegenwart oder vergangener Zeiten sublime, dennoch aber prägnante physiognomische Züge zu entdecken unter alleiniger Berücksichtigung vorliegender Zeugnisse oder direkt erlebbarer Phänomene. 24 Damit allerdings zugleich die Suche nach einer Definition des Phänomens nicht gänzlich unbefriedigt bleibt, kann man die Eigenschaften, die gemeinhin mit dem »Zeitgeist« assoziiert werden, in einer bewusst generell gehaltenen Bestimmung binden: Der Zeitgeist ist ein überindividuelles, relativ eigenständiges, relativ stabiles Phänomen, das nicht endgültig fixierbar ist, das sich historisch wandelt, das sich selbst in Manifestationen verschiedenster Art zeigt und das in sich eine Ambivalenz seiner Wirkungen trägt. 25
23
Dazu Ralf Konersmann, Der Hüter des Konsenses, a. a. O., S. 248. So auch die Feststellung von Theodor Haering, Die Materialisierung des Geistes. Ein Beitrag zur Kritik des Geistes der Zeit, Tübingen 1919, S. 6, der die Grundlage für die Bildung des Zeitgeistes in der »Tatsache eine[r] sich aufdrängenden Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit […] einer bestimmten Zeit sieht«. Hier deutet sich schon die Verbindung zur Kulturkritik an, von der Gustav Seibt meint, sie sei »eine verallgemeinerungsfähige Phänomenologie von Zivilisation, die Physiognomie einer Kultur […].« (Gustav Seibt, Kulturkritik? Allerdings! Über historische, kulturkritische Diätetik und das Pathos des Stammhirns, in: Neue Rundschau, Bd. 110 (1999), S. 23–32, hier S. 28.) 25 Zu Berechtigung dieser Definition vgl. die detailliertere Begründung in: Steffen Kluck, Der Zeitgeist als Situation (= Rostocker Phänomenologische Manuskripte, hrsg. v. Michael Großheim, Heft 3 (2008)), Rostock 2008, v. a. S. 16–21. 24
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II. Probleme des Konzeptes Die Reserviertheit gegenüber dem Zeitgeist-Konzept, die der heutigen Kulturkritik attestiert werden muss, kann man nur verstehen, wenn man die theoretischen Probleme genauer zu fassen sucht. Es sind vor allem vier zu nennen: zum einen die offensichtliche Vagheit des Konzepts, des Weiteren die Schwierigkeit der Quantifizierung, außerdem der fehlende verbindliche Maßstab und schließlich die unklare Abgrenzung gegen kurzlebigere Phänomene ähnlicher Art. Alle diese Einwände sollen im Folgenden auf ihre Stichhaltigkeit hin geprüft werden. Die Vagheit des Terminus »Zeitgeist« ist schon von jeher bemängelt worden, und dem Befund kann man schwerlich widersprechen.26 Entscheidend ist jedoch allein der Umgang mit diesem Faktum. Anders als man das zumeist getan hat, nämlich darin nur ein Defizit zu bemerken, gilt es, diesen Umstand als sachgemäß zu verstehen und zu akzeptieren. Die Offenheit des Begriffs ist keineswegs bloße Schwäche, sondern ein Zeichen der Komplexität und der Beschaffenheit des zu beschreibenden lebensweltlichen Phänomens selbst. Viel zu wenig wird beachtet, inwiefern zu eng, zu streng definierte Begriffe, wenn sie auf ein empirisches Feld angewandt werden, dadurch mehr als nur epistemologischen Schaden anrichten. 27 Schon Aristoteles hatte darauf hingewiesen, dass wir »uns aber mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem 26
Diese Diagnose findet sich in ähnlicher Form unter anderem bei Ralf Konersmann, Der Hüter des Konsenses, a. a. O., außerdem bei Wolfgang Ullrich, Zentrifugalangst und Autonomiestolz. Ein Nachruf auf die Kulturkritik, in: Neue Rundschau, Bd. 110 (1999), S. 9–22, S. 14, 20. 27 Exemplarisch sie wegen ihrer Pointiertheit eine briefliche Äußerung des Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler an den eher reduktionistisch orientierten Philosophen Moritz Schlick zitiert, in der das genannte Problem falscher Begriffe angesprochen wird: »Uns trennt Manches in der Philosophie, in der Hauptsache eine verschiedene Gesamttendenz. Die Ihrige geht auf ein Minimum von Grundsätzen und eine bestimmte Art der Klarheit, die meinige auf Klarheit gewiss auch, aber mit einem ausgeprägten Wunsch, der Fülle der Erfahrung jedenfalls gerecht zu werden, und mir scheint nicht, dass – in der Gegenwart – dabei mit wenig einfach Hinzunehmenden auszukommen ist.« (Brief Wolfgang Köhler an Moritz Schlick, 27. 4. 1934.)
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gegebenen Stoffe entspricht.«28 Aus der angesprochenen kulturund zeitübergreifenden Beliebtheit des Konzeptes sollte man die heuristische Prämisse ableiten, den Begriff als empirisch sinnvoll zu beachten. Dass er nicht den strengsten Anforderungen an logische Schärfe genügt, darf vorderhand kein Ausschlusskriterium sein, sondern verweist auf eine bestimmte Eigenart des durch ihn beschriebenen Phänomens. Eng damit verbunden, im Grunde ein Spezialfall dieses Problems, ist die praktische Schwierigkeit, den Zeitgeist zu quantifizieren. Gerade in der heutigen Wissenschaftskultur, die sich anschickt (oder es vielmehr fast abgeschlossen hat), die Methoden der mathematisch orientierten Naturwissenschaften als Universalmethoden möglichst über alle Gegenstandsgebiete auszubreiten,29 wiegt dieser Einwand scheinbar schwer. Denn was sich nicht quantifizieren lässt, steht unter Irrationalismus-Verdacht. Hier liegt die Pervertierung gleichwohl offen zu Tage, denn indem der Maßstab für Rationalismus einem im weiten Sinne positivistischen Ideal anheim gegeben wird, muss alles, was dezidiert nicht-positivistisch ist, wie beispielsweise die Theorie des Zeitgeistes, als ein Schritt zum Irrationalismus hin erscheinen. 30 Diesem Irrationalismus-Verdikt braucht man sich jedoch nicht anzuschließen, denn dass ein Gegenstand sich nicht im Sinne der Naturwissenschaften quantifizieren lässt, bedeutet keineswegs, dass er nicht existiert oder irrelevant ist. Die Phänomenologie, insbesondere die Neue Phänomenologie, hat in dieser Richtung intensiv für eine Ausweitung des erkenntnistheoretischen Verständnisses von Empirie gekämpft. 31 Es ist daher 28
Aristoteles, NE 1094 b 11 ff. (Übers. nach Olof Gigon). Als Kuriosum, das zugleich frühes Symptom dieser Entwicklung ist, erscheint der Versuch von Wilhelm Fulda, sich der Kulturbewegung – worunter der Fortschritt der Kultur im weitesten Sinne zu verstehen ist – mittels einfacher mathematischer Formeln anzunähern. Vgl. Wilhelm Fulda, Die Kulturbewegung, in: Annalen der Naturphilosophie, Bd. 6 (1907), S. 451–458. 30 Dies hatte 1920 schon der junge Georg Lukács in seiner für die Zeitdiagnose wenig beachteten Schrift über den Roman festgestellt, wenn wohl auch mit anderer Bewertung. Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Neuwied, Berlin 1971, S. 9. 31 Vgl. dazu z. B. Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomeno29
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kulturdiagnostisch sinnvoll, den Zeitgeist gegenüber einem verengten Gegenstandsverständnis als eigenständige, bedeutsame Entität anzuerkennen. Eine dritte Schwäche, welche dem Zeitgeist-Konzept immer wieder nachgesagt wird, ist die ungeklärte Frage, woher ein Maßstab zu nehmen sei, der eine vergleichend-normative Aussage gestatte. Hierbei muss jedoch differenziert werden zwischen der Frage nach dem spezifischen Maßstab im Hinblick auf gegenwartsnahe Diagnosen und der Frage, welchen Maßstab Kulturkritik überhaupt anlegt. Auf letztere Problematik – das zentrale Dilemma von Kulturkritik schlechthin – wird später zurückzukommen sein. Der Vorwurf, eine gegenwartsimmanente Zeitdiagnose, die sich zutraut, ohne Distanz ein Urteil zu fällen, könne aufgrund ihrer begrenzten Perspektive nichts Gehaltvolles feststellen, entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität. Das in anderem Zusammenhang von Nietzsche akzentuierte »Pathos der Distanz« 32 fehlt der unmittelbaren Zeitgeist-Analyse und macht sie anfällig für eklatante Fehldiagnosen. Gerade die schon erwähnte Literatur der 1920er und 1930er Jahre bietet reichlich Belege solcher Fälle. Trotzdem wäre die Vermutung falsch, hier fehle es an dem Augenblick enthobenen und damit zumindest tendenziell überzeitlichen Maßstäben. 33 logie, Freiburg, München 2009, v. a. S. 11–18 und ders., Naturwissenschaft und Phänomenologie, in: ders., Neue Phänomenologie, Bonn 1980, S. 28–46. 32 Darunter ist eine Erhabenheitsgefühl aufgrund von Rangdifferenz zu verstehen, im konkreten Fall also die Erhabenheit der Zeitkritik über die ihrer Meinung nach niedere Gegenwart. Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1980, S. 9–244, S. 205 (Aphorismus 257) sowie ders.: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, in: ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 12, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1980, S. 13. – Vgl. auch Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 68, 81, 84, der den »Atopos« als Ort der älteren Kulturkritik kennzeichnet, sowie Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965, S. 281: »In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen.« 33 Vgl. ähnlich Clemens Albrecht, Rezension zu: Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt am Main 2008, in: H-Soz-u-Kult, 08. 08. 2008 (http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-095).
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Auch die quasi-präsentische Zeitgeist-Diagnose greift auf Kriterien für ihre Kritik zurück, die einer bloßen Ad-hoc-Polemik enthoben werden können. 34 Die Quelle ihres Maßstabes ist dieselbe wie für die explizit diachrone Betrachtungsweise, nur mit dem Unterschied, dass der zeitnahe Blick sich vorschnell auf bestimmte Erscheinungen in der Gegenwart einlässt, die sich dem abgeklärteren, distanzierteren Auge der diachronen Perspektive als bloße Epiphänomene erweisen. 35 Insofern kann man sagen, dass der Einwand partiell berechtigt ist, da die Zeitdiagnose mitunter vorschnell über die Gegenwart urteilt, aber auch, dass er unberechtigt ist, weil es sehr wohl dem unmittelbaren Moment enthobene Kriterien zu geben scheint. Darauf wird im Zusammenhang mit der allgemeinen Maßstabsproblematik zurückzukommen sein. Der vierte Einwand betrifft die fehlende Abgrenzung gegen kurzlebigere Phänomene. Am bekanntesten aus dieser Gruppe von Erscheinungen ist sicher die so genannte »Mode« – also eine schnell vorübergehende, massenwirksame Form der Geschmacksausrichtung. Ist etwas Mode, dann ist es »in«, »hip«, »angesagt«, »stylisch«, »en vogue« usw. Schon Herder hatte die »flüchtige Mode« als »unächte Schwester« 36 des Zeitgeistes abgekanzelt. Tatsächlich entspricht die Differenz zwischen kurzlebigen Phänomenen und dem Zeitgeist den eben bereits berührten perspektivischen Unterschieden zwischen der unmittelbaren und der dezidiert diachronen Betrachtungsweise. Zu oft entzündet sich Zeitkritik an bloßen Moden und übersieht die eigentlich relevanten Phänomene. Auf diesen Umstand zielt der Einwand, dass der Zeitgeist-Begriff sein Denotat 34
Vgl. Christine Pries, Minimaldistanz. Ralf Konersmann versichert uns, dass die »Kulturkritik« lebt, in: Frankfurter Rundschau Online, 11. 03. 2008 (http://www. fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/literatur_rundschau/? sid=bf21766f8ba10d380714ee2551076806&em_cnt=1301455). 35 Ernst Moritz Arndt beispielsweise definiert in diesem Sinne den Begriff »Zeitalter«, der dem Zeitgeist-Konzept entspricht, wie folgt: »Das allgemeine Leiden und Wirken der Menschen, was als das bestimmte Bild von allem endlich oben schwimmt, wenn das Kleine und Vorübergehende in der wilden Zeitflut mit untergeht, heißt Zeitalter.« (Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit. Erster Teil, hrsg. v. Heinrich Meisner, Leipzig 1908, S. 47.) 36 Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, a. a. O., S. 70.
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nicht streng genug von solchen Epiphänomenen abgrenzt. Dieser Vorwurf trifft faktisch zu, jedoch liegt ein Weg zu seiner Überwindung klar auf der Hand. Zeitgeist-Diagnosen werden nicht ein für alle Mal aufgestellt und dann als absolutes Wissen vergöttert, sondern sie bedürfen der fortwährenden Korrektur an der Lebenswelt. Nur durch Rückbindungen an Zeiterfahrungen können sie gelingen. Hierbei werden immer wieder Fehleinschätzungen vorkommen, werden sekundäre Erscheinungen zu Unrecht als Vorboten kommender Niedergänge oder Renaissancen verstanden. So lange aber die Zeitgeist-Analysen sich ihrer methodischen Probleme bewusst bleiben und sich als Geburten ihrer eigenen Zeit verstehen, die selbst immer wieder hinterfragt werden müssen, gestatten sie kulturkritischen »Erkenntnisgewinn«. Was nur Mode, was wirklich Zeitgeist ist, 37 bleibt für viele Entwicklungen noch jahrzehntelang fragwürdig und kann nur retrospektiv endgültig festgestellt werden. 38 Allein die intellektuelle Redlichkeit der Diagnostiker kann hier eine gewisse, immer aber fragile Gewähr für sinnvolle Analysen bieten. III. Vorteile des Konzeptes Neben den genannten, nicht völlig stichhaltigen Einwänden gibt es außerdem gewichtige positive Aspekte, welche mit dem Konzept des Zeitgeistes verbunden sind. Vor allem zwei Faktoren sind hierbei hervorzuheben: die Phänomennähe und der Blick in Richtung auf das »Ganze«. Die bereits mehrfach erwähnte Phänomennähe des ZeitgeistKonzepts bildet die Basis seiner wissenschaftlichen wie lebensweltlichen Fruchtbarkeit. Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum viele der Analysen des Zeitgeistes aus den 1920er und 37
Dabei wird hier aus denkökonomischen Gründen bewusst nicht beachtet, dass natürlich auch die Moden in bestimmter Weise an den Zeitgeist gebunden sind. Was Mode wird, ist nicht beliebig. 38 Vgl. zu diesem Problem besonders Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, a. a. O., S. 290–322.
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1930er Jahren für heutige Leser trotz ihrer unübersehbaren theoretischen Schwächen interessant und relevant bleiben. Nämlich deshalb, weil in ihnen unmittelbare Lebenserfahrungen sich niedergeschlagen haben, wie sie typisch für die okzidentale Moderne sind. Exemplarisch sei auf die Kritik am ökonomisch-monetären Geist der Zeit hingewiesen, so etwa hervorgebracht bei Max Wundt: »Für Geld ist alles zu haben. Es ist der Stolz der Zeit, jeden Wert, aber auch jeden und wäre es der höchste und heiligste, auf diesen allgemeinen Nenner des Lebens zu bringen.« 39 Die Phänomennähe macht es möglich, dass man – trotz eventuell abweichender Bewertung des Sachverhalts – durch die Analyse auf »Gesichter« der Zeit trifft. Diese Gesichter können von jedem Einzelnen anhand der Zeugnisse oder der eigenen Erfahrungen auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Zeitgeist-Untersuchungen sind inhaltsvolle, konkrete, erfahrungsnahe Wege zu einem Zeitverständnis, was sie deutlich von abstrakten, in der theoretischen Sphäre verbleibenden kulturkritischen Debatten abgrenzt. Mit dem Hinweis auf die Gesichter der Zeit ist zugleich der zweite entscheidende Vorteil in den Blick geraten. Anders als die heutige Kulturkritik im Sinne von Konersmann, dessen Vorschläge letztlich auf ein fast beliebiges »anything goes« hinauslaufen, wobei Kulturkritik zu einer gleichgültigen Begleitmusik moderner Kulturen wird, 40 greifen Zeitgeist-Diagnostiker in gewissem Sinne noch 39
Max Wundt, Vom Geist unserer Zeit, München 1922, S. 44. – Dieses Buch ist zugleich ein eindrücklicher Beleg dafür, wie leicht engagierte Kritik an der Zeit durch einen zu engen Horizont und fehlendes Problematisieren eigener Vorurteile Gefahr läuft, niveauarm zu werden. 40 Konersmann meint: »In den Gesellschaften der Moderne präsentiert sich die Kritik als ein vielköpfiges Gewirr unablässig vernehmbarer Kommentatorstimmen. […] Statt klare und starke Orientierungen vorzugeben, stellt sie die durchaus beträchtlichen Anforderungen einer spielerischen, einer informellen und zutiefst demokratischen Urteils- und Kritikkultur.« (Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 8.) – In besonderer Weise hat Clemens Albrecht das »Relativismusproblem« und daraus folgende Schwächen des kulturkritischen Modells von Konersmann beleuchtet. Vgl. dazu Clemens Albrecht: Rezension von: Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt a. M. 2008, a. a. O. In eine ähnliche Richtung argumentiert Christine Pries in ihrer Rezension des Werkes von Konersmann. Vgl. Christine Pries, Minimaldistanz, a. a. O.
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nach dem »Ganzen«. Statt sich in Einzelfallanalysen zu ergehen, 41 will der Zeitgeist-Adept eine Physiognomie, eine Topographie der Zeit erkennen. Dieser Blick auf das Ganze muss von der geschichtsphilosophischen Perspektive, wie sie bei Hegel zu finden ist, streng unterschieden werden. Deren Augenmerk richtete sich auf den im Ganzen des Geschichtsverlaufs (Hegels »historiam rerum gestarum« 42 ) erkennbaren teleologischen Gang. Gegen eine solche Perspektive bringt Konersmann zu Recht Bedenken vor. 43 Allerdings hat die postmoderne Angst vor dem auf das Ganze gerichteten Blick ihrerseits über die Stränge geschlagen, insofern sie auch Physiognomien, Gesichter, Gestalten, Stimmungen oder Lebensgefühle der Zeit in Misskredit meinte bringen zu müssen. Damit jedoch wird sprichwörtlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es lohnt sich vielmehr, den Anspruch auf totalere Perspektiven entschieden zu verteidigen, wenn man darunter den Wunsch versteht, in viele Einzelheiten zerfallende Phänomene möglichst prägnant zu fassen. 44 Die so gewonnenen Topographien ermöglichen eher als einzelfallgebundene Kommentare eine Kritik im Sinne eines Hinachtens auf das Wesentliche einer Kultur. Mit diesen Bestimmungen ist das Zeitgeist-Konzept in gewissen Grundzügen erkennbar geworden. Es ließen sich noch weitere Erwägungen anschließen. So wäre etwa die Frage nach den primären Trägern des Zeitgeistes zu stellen, ob er sich also besonders in den Massen, dem Durchschnitt oder womöglich den Eliten verkörpert. Aber diese und weitere Probleme mögen hier zurückgestellt bleiben
41
Vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 17. Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a. a. O., S. 83. 43 Vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 124. 44 Ein Spiegelbild dieses methodischen Streits um eine atomistische oder eher ganzheitlich orientierte Perspektive kann man in der Divergenz von quantitativer und qualitativer empirischer Sozialforschung sehen. Ein Beispiel für synchrone Zeitgeist-Forschung mit Blick auf Stimmungen, Physiognomien der Zeit, die sich anhand qualitativer empirischer Methoden vollzieht, bietet Stephan Grünewald, Deutschland auf der Couch. Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft, Frankfurt a. M., New York 2006. 42
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zugunsten eines systematischen Versuchs, das Zeitgeist-Konzept in den Diskurs der Kulturtheorie im engeren Sinne zu integrieren. IV. Zeitgeist und Kulturkritik Zunächst mag es nach dem bisher Gesagten verwundern, dass es überhaupt nötig ist, das Konzept eines Geistes der Zeit als kulturdiagnostisches und -kritisches Modell explizit verteidigen zu müssen. Besieht man allerdings eine der maßgeblichen und grundlegenden Publikationen der letzten Jahre zum Thema der Kulturkritik – das Werk von Georg Bollenbeck –, so fällt die strikte Trennung von Zeit- und Kulturkritik ins Auge. 45 Das Konzept des Zeitgeistes ist häufig als primäres begriffliches Werkzeug der Zeitkritik verstanden worden. Daher muss sich eine Apologie dieses Terminus unbedingt mit der genannten Dichotomie auseinandersetzen. Wodurch wird die Unterscheidung legitimiert? Man kann vier grundlegende Merkmale angeben, nach denen sich beide Formen der Kritik unterscheiden sollen. Zunächst versteht Bollenbeck Kulturkritik als Totalkritik, Zeitkritik hingegen als Partialkritik. Die Partialität der Zeitkritik wiederum bestehe in zwei wesentlichen Faktoren: zum einen habe sie keinen so weiten historischen Horizont wie die Kulturkritik, die mit einem Geschichtsbewusstsein von langer Dauer ausgestattet sei, zum anderen greife sie nur einzelne Missstände an. 46 Neben diesem Defizit fehle es, so Bollenbeck, der Zeitkritik an der wertenden Rekonstruktion unterschiedlicher zivilisatorischer Zustände. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal bestehe darin, dass Kulturkritik Auswege entwerfe, Zeitkritik nicht. Und schließlich sei Zeitkritik wissenschaftlich abstinent, vielmehr hauptsächlich publizistisch präsent. Wie kann man diese Charakteristika bewerten? Sie alle verwei45
Siehe hierzu und im Folgenden die Angaben in Fußnote 3. Hierin sind sich Bollenbeck und Konersmann im Grunde einig, denn während letzterer von moderner Kulturkritik gerade die Konzentration auf den Einzelfall statt auf die totale Perspektive fordert, diagnostiziert ersterer die moderne Dominanz ubiquitärer Partialkritik.
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sen auf den engen Begriff von Zeitkritik, welchen Bollenbeck seinen Überlegungen zugrunde legt. Er hat dabei anscheinend hauptsächlich tagesaktuelle, feuilletonistische Kommentare vor Augen, die ad hoc und ganz zeitimmanent einzelne als Missstände empfundene Sachverhalte – zum Beispiel zu hohe Managergehälter, zu schlechte Leistungen im PISA-Test oder ähnliches – thematisieren. Solch eine Form »kritischer Kulturbegleitung« verfügt sicher über die Merkmale, welche zuvor benannt worden waren. Aber kann man wirklich sagen, es handle sich dabei um Zeitkritik? Meint man nicht mit Kritik notwendig immer die Fähigkeit zu einer gewissen Form der Distanz, der Objektivierung, der Ausbildung einer reflexiven Einstellung? Schon Hegel hat dies insofern angedeutet, als er von der philosophischen Beschäftigung mit der Zeit keine bloße Kritik der Zustände forderte, sondern die möglichst adäquate Erkenntnis des Geistes selbst: »Es kann niemand seine Zeit überspringen, der Geist seiner Zeit ist auch sein Geist; aber es handelt sich darum, ihn nach seinem Inhalte zu erkennen.«47 Legt man diesen Anspruch zugrunde, dann wäre Zeitkritik im Sinne Bollenbecks deshalb abzulehnen, weil sie sich nicht dazu aufmacht, den Geist zu erkennen, sondern nur die Erscheinungen des Geistes. Einer solchen Form von Kritik fehlt reflexives Niveau, und Bollenbeck sondert sie zu Recht von der Kulturkritik ab. Sie ergeht sich in absoluter Immanenz und Unmittelbarkeit und ist gerade deshalb keine Kritik im engeren Sinne, sondern – wie ich zur strengeren Abgrenzung terminologisch vorschlagen möchte – bloßer Zeitkommentar. 48 Die vier geschilderten Differenzierungen charakterisieren demnach primär eine ganz bestimmte Form der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Trifft das Merkmalsraster aber auch das Zeitgeist-Konzept? Wie schon gezeigt, nutzen viele Denker den Begriff »Zeitgeist« gerade deshalb, weil er größere Formen der Kultur einer 47
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (Werke Bd. 19), Frankfurt a. M. 1986, S. 111. 48 Zugegeben werden muss, dass die Abgrenzung zwischen Zeitkommentar im dargelegten Sinn und Zeitkritik mitunter schwierig ist. Dennoch sollte man die beiden Typen kulturspezifischen Zu-sich-selbst-Verhaltens als allgemeine Muster zu unterscheiden suchen.
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Zeit sichtbar machen kann. Der Vorwurf der Partialität kann also nicht erhoben werden. 49 Ebenso wenig aber beruhigen sich die Zeitgeist-Analytiker mit bloß gegenwartsimmanenten Diagnosen. Es sei hier zum Beispiel auf Karl Jaspers’ berühmte Schrift »Die geistige Situation der Zeit« hingewiesen, die Verbindungslinien über mehrere Jahrhunderte zieht. 50 Auch kann man nicht behaupten, das Ansetzen beim Zeitgeist ermögliche keine Rekonstruktion vergangener Epochen und Zustände. Die Arbeit der Zeitgeistforschung im Sinne von Hans-Joachim Schoeps hat sich dies explizit vorgenommen und in Ansätzen erreicht. 51 Das zeigt, dass es sehr wohl Rekonstruktionen vergangener historischer Zustände mithilfe des Zeitgeist-Inventars geben kann. Allerdings sind solche Vorhaben bisher die Ausnahme, als Mittel dominiert das ZeitgeistKonzept de facto in Analysen gegenwartsnaher Zustände. Dieser Umstand ist jedoch rein kontingenter Natur. Ebenso trifft die These, Zeitkritik offeriere keine Auswege, den Zeitgeist-Ansatz nicht. Viele Analysen haben sich explizit zu einer Prognose durchgerungen. Ob jedoch Kulturkritik überhaupt immer einen Ausweg, sogar eine Utopie entwerfen sollte, bleibt fraglich. Sie hat ihr eigentliches Potential eher im Aufzeigen von (Fehl-)Entwicklungen und im Herausbilden der kulturellen Selbsterkenntnis, also dem Prozess des Erwachsen-Werdens der Kultur. 52 Schließlich wäre noch zu fragen, inwiefern die These, Zeitkritik sei verstärkt ein publizistisches, kein genuin wissenschaftliches Phänomen, auf Zeitgeist-Analysen zutrifft. Man kann zugestehen, dass 49
Ohnehin ist die Abgrenzung bei Bollenbeck zum Teil widersprüchlich. Während er nämlich an der Unterscheidung von Kultur- und Zeitkritik festhalten will (vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O., S. 291), gibt er gleichzeitig zu (vgl. S. 273), dass heutige Kulturkritik nur noch Partialkritik ist, sie also eine Eigenschaft besitzt, die zuvor allein der Zeitkritik (vgl. S. 29) zuerkannt wurde. 50 Vgl. etwa Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin, New York 1999, S. 8. 51 So zum Beispiel die Rekonstruktion des Zeitgeistes des Wilhelminischen Zeitalters (vgl. Hans-Joachim Schoeps (Hrsg.), Zeitgeist im Wandel. Bd. 1: Das Wilhelminische Zeitalter, Stuttgart 1967). 52 Konersmann stellt in diesem Sinne fest, moderne Kulturkritik sei keine »Variante des Utopismus« (Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 23).
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es eine breite »populärwissenschaftliche« Strömung gibt, die ihren Ausgangspunkt beim Zeitgeist-Begriff nimmt. Dieser Umstand ist jedoch nicht dem Konzept geschuldet, sondern der Intention der Autoren, was sich klar daran zeigt, dass es genuin wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die das deskriptive Potential des Begriffs zu nutzen verstehen – man denke an Jaspers’ genannte Schrift oder die frühen Arbeiten Hans Freyers. Damit ist gezeigt, wie wenig sich das Zeitgeist-Konzept die zum Teil durchaus berechtigten Einwände Bollenbecks gegenüber der Zeitkritik zu Eigen machen muss. Will man die verschiedenen Bereiche, die bisher in den Blick genommen wurden, voneinander trennen, so ergibt sich aus dem Gesagten das folgende Bild. Man kann cum grano salis eine Kulturkritik mit weitem Horizont von einem Zeitkommentar unterscheiden, der bloß zeitimmanente, einzelfallgebundene Untersuchungen hervorbringt. Außerdem gibt es noch eine Zeitkritik im engen Sinne, die als eine niedere Stufe von Kulturkritik verstanden werden kann, insofern sie ganz bewusst ihren Blick fokussiert, ohne deshalb aber naiv oder flach zu sein. Wie gehört nun aber der Zeitgeist in diesen Zusammenhang? Besieht man seine Verwendung, so steht er quer zu dieser Einteilung. Zu Beginn war zwischen dem Phänomen Zeitgeist und dem Begriff »Zeitgeist« unterschieden worden. Als Begriff bietet er einen Weg an, kollektive Phänomene fassbar zu machen. Insofern ist er ein Deskriptionsmittel, das an keine bestimmte Form der kritischen oder kommentierenden Auseinandersetzung gebunden ist. Der Begriff »Zeitgeist« kann von vielen Seiten instrumentalisiert werden. In diesem Sinne schlägt er eine Brücke zwischen den Kritiken, macht sie aneinander anschlussfähig, überwindet ihre vermeintliche Trennung. Indem er phänomenerschließend wirkt, funktioniert er wie ein Scharnier, welches verschiedenste Ebenen der kulturspezifischen Reflexion verbindet. Sein phänomenaler Gehalt, das heißt der Verweis des begrifflichen Konzeptes auf das Phänomen Zeitgeist, bindet die Kritiken und Kommentare an denselben Gegenstand, wodurch sie erst ihre eigentliche Erdung, ihren berechtigten Boden finden. Auf diese Weise kann das geschilderte Konzept für die Kulturkritik fruchtbar werden. Es ist gerade der unmittelbare Phänomenbezug, der das Zeit234 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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geist-Modell aus phänomenologischer Sicht besonders relevant erscheinen lässt. Ohne die Möglichkeit zu näherer Ausführung an dieser Stelle 53 sei darauf hingewiesen, dass das Zeitgeist-Phänomen als ein besonders relevanter Fall einer Situation im Sinne von Hermann Schmitz gelten kann. Zeitgeist ist eine ganzheitliche Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, aus der sich Menschen nur vermittels eines Explikationsprozesses einzelne Sachverhalte herausstellen können.54 Vor diesem Hintergrund sind Zeitgeist-Analysen als kulturspezifische Explikationsversuche zu verstehen. Damit genügen sie dem bereits benannten Anspruch Hegels, nach dem es darauf ankomme, den Geist der Zeit zu erkennen. Zeitgeist-Diagnosen lassen sich als Ansätze zu einer kulturellen Selbstverständigung interpretieren, womit sie der von Bollenbeck zu Recht eingeforderten »Sensibilisierung« für Wertungs- und Ordnungsschemata genügen. 55 Sind eine Kultur und ihre Kritiker derart aufmerksam gemacht, besteht auch nicht die Gefahr, dass sie dem Geist der Zeit bloß das Wort reden. Sie sind sich ihrer paradoxen Lage bewusst, aus ihm heraus gegen ihn zu sprechen, um ihn auf diese Weise in gewisser Hinsicht erst zu festigen. 56 Diesem Paradox ist nicht zu entgehen, gleichwohl kann es, ist es bekannt, bedacht und in seinen Folgen beschränkt werden. Das Problem der Gebundenheit an den eigenen Zeitgeist verweist auch auf das zentrale Dilemma der in der Moderne fragwürdig gewordenen Kulturkritik. Woher nämlich soll der Maßstab kommen, von dem her erst eine Kritik möglich wird? Wolfgang Ullrich hat in seinem Abgesang auf die Kulturkritik folgenden Gedanken formuliert: »Kulturkritik ist an ihr Ende gekommen. […] 53
Vgl. dazu näher Steffen Kluck, Der Zeitgeist als Situation, a. a. O., v. a. S. 21– 36. 54 Vgl. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005, S. 22. 55 Vgl. Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O., S. 10. 56 Diese paradoxe Lage ist häufig hervorgehoben worden. Vgl. z. B. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 12, 90 f., Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, a. a. O., S. 11 oder Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, München 1963, S. 7–26, S. 7.
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Anstatt sich allein durch Distanzierung und Kritik eine Identität aufzubauen und als originell zu erweisen, besteht eine große Herausforderung für den Intellektuellen mittlerweile darin, das Postulat der Postmoderne zu erfüllen, dem zufolge es nichts ›an sich‹ Wichtigeres oder weniger Wichtiges gibt.« 57 Wenn man die These vom Ende der Kulturkritik einmal akzeptiert, was bleibt dann noch? Konersmann und zum Teil wohl auch Bollenbeck scheinen den Weg in die Einzelfallanalysen vorzuziehen. Besonders bei ersterem aber führt dies meines Erachtens letztlich zum Verzicht auf wirkungsvolle Kritik überhaupt. Es gibt keinen Anspruch mehr auf Wahrheit oder zumindest Plausibilität der kritischen Erwägungen. Es wird ein Pluralismus der Zulässigkeiten propagiert, wobei jedoch unklar bleibt, was eigentlich noch weshalb kritisiert werden soll. Wenn alles gleich wichtig ist oder zumindest sein kann, wenn Kulturkritik »egalitär« und »demokratisch« 58 wird, dann wird sie auf längere Sicht unverbindlich und belanglos. Gleichwohl soll nicht bestritten werden, dass es keinen Weg mehr zurück zu den stabilen Werthierarchien früherer, »metaphysischer« Zeitalter gibt. Mit der Destruktion solcher fester Ordnungen hat die Moderne einen unhintergehbaren Schritt getan. Der Analogieschluss, deswegen den Anspruch auf stabile Kriterien und Maßstäbe insgesamt aufzugeben, ist jedoch falsch. 59 Vielmehr sollte die Kulturkritik bestrebt sein, sich selbst solche Bezugsrahmen zu geben, die sich als relativ stabil und invariant erwiesen haben. Ein mögliches Beispiel für einen solchen Maßstab wäre die »conditio humana«, hier allerdings nicht verstanden als ein unwandelbarer Kern alles mensch57
Wolfgang Ullrich, Zentrifugalangst und Autonomiestolz, a. a. O., S. 16. Vgl. in diesem Sinne Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 8, 126, 133. 59 Einen zwar nicht primär kulturkritischen, aber dennoch sehr bedenkenswerten Weg zu einer Rückgewinnung von verbindlichen Maßstäben in der modernen Zeit hat – von einem phänomenologischen Standpunkt aus – Heinrich Rombach aufgezeigt: »In Wahrheit aber bedeutet die Destruktion der Normativität von Welt und Dasein die Befreiung zur strukturalen Interpretation des Gegebenen, das nach seinem eigenen Maß verstanden, gebildet und besorgt sein will.« (Heinrich Rombach, Strukturontologie. Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg, München 1988, S. 54.) Ob allerdings der Rückgriff auf eine besondere Ontologie wirklich einen Maßstab sichern kann, erscheint doch fragwürdig. 58
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lichen Seins, sondern die historisch rekonstruierbare Eigenart der gegenwärtig existierenden Menschen. Vor dem Hintergrund eines so freigelegten Fundaments könnte die Kulturkritik dazu übergehen, aktuelle Entwicklungen in einer Art von Folgenabschätzung zu bewerten. So wäre es etwa möglich, die zunehmende Mobilität deshalb als problematisch zu kennzeichnen, weil sie dem humanen Wunsch nach Verwurzelung und Beheimatung widerspricht. Damit ist nicht gesagt, dass Mobilität abzulehnen sei, sondern nur, dass sie zu dem historisch gewachsenen Wesen der Menschen nicht passt. Da dieses Wesen gleichwohl wandelbar ist, liefe die kritische Problematisierung auf ein Aufmerksam-Machen hinaus. Sie bedeutet ein Hinweisen auf sich eröffnende und sich verschließende Möglichkeiten. Wenn sich die Menschen trotzdem für die Ausweitung der Mobilität entscheiden, dann ist ihnen in diesem Fall jedoch klar, dass dies auch eine Modifikation des Selbstverständnisses und des Weltbezugs zur Folge hat. Man sieht an diesem sehr groben Beispiel, dass es Sinn hat, sich möglichst beständige Kriterien zu suchen, die man allerdings nur in der Geschichte finden kann. Einen ähnlichen, allerdings anthropologisch statt kulturell fokussierten Entwurf zur historisch sensibilisierten Verteidigung von fundamentalen Werten hat Martha Nussbaum mit ihrem modifizierten aristotelischen Essentialismus vorgelegt. Und auch sie schreibt: »Wenn wir die Hoffnung auf eine transzendente metaphysische Grundlage für unsere Werturteile preisgeben, dann bleibt uns nicht allein das freie Spiel der Kräfte übrig. Wir haben nämlich alles, was wir in Wirklichkeit immer schon gehabt hatten: nämlich den Austausch von Gründen und Argumenten, vollzogen durch Menschen innerhalb der Geschichte, in der wir aus zwar historischen und menschlichen, aber deswegen keineswegs schlechteren Gründen gewisse Dinge für wertvoller halten als andere […].« 60 Also erst vor dem Hintergrund der ge60
Martha Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus, in: Micha Brumlik, Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 323–361, S. 332. – Die Übereinstimmungen meiner Ansicht mit Nussbaums Theorie liegen im Bereich der historischen Sensibilisierung, nicht jedoch in der Annahme überkultureller wesenhafter Werte.
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Steffen Kluck
schichtlichen Erdung und der von da aus gewonnenen Werte kann Gegenwartsdiagnostik gelingen. Diese Orientierung an relativ beständigen Traditionen hat nichts mit Ressentiments oder Anti-Modernismus zu tun, 61 sondern ist die sicherste Quelle für Kriterien, die dem Menschen gegeben ist. Sie nicht als Basis der Kritik anzuerkennen bedeutet, die Kritik erst Recht den kurzlebigen Strömungen der Zeit auszusetzen. In gewisser Weise greift selbst die unmittelbare Zeitkritik auf diesen Fundus zurück, denn ihre Empörung speist sich zumeist aus dem »common sense«, der selbst eine gewiss naive, unreflektierte, aber doch historisch gewachsene und daher unbewusst sensibilisierte Erscheinung ist. V. Das Ethos des Kulturkritikers Wenn Konersmann die Kulturkritik zu einer bloß immanenten, einzelfallbasierten Auslegung zu machen bestrebt ist, verwischt er das eigentliche Wesen der Kritik. Es kommt gerade auf den »Atopos« an, den distanzierten, aber sich über sich selbst klaren Standpunkt, der sehr wohl einen Maßstab mitbringen muss. Konersmann gibt zwar zu, dass Kulturkritik nicht in Indifferenz ausarten darf, was soviel heißt wie, sie dürfe nicht Beliebiges zulassen, 62 eine inhaltliche Füllung der Nicht-Indifferenz kann er jedoch nicht legitimieren. Dementsprechend sei das Ethos des Kulturkritikers der »moderne Heroismus« 63 , der sich durch allzeitige Gefasstheit, man könnte sagen: dauerhafte Coolness, Unengagiertheit auszeichnet.
61
Dies legt Konersmanns Polemik gegen das Ressentiment nahe (vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 109–113). Es gibt aber auch eine Orientierung und Hierarchisierung ohne starken Machtanspruch, die sich allein der bloßen Erkenntnis verschrieben hat. 62 Vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 131. 63 Vgl. Ralf Konersmann, Kulturkritik, a. a. O., S. 127 ff. – Wie sehr Konersmanns Heroismus-Vorstellung typisch »modern« ist, sieht man im Vergleich mit Ernst Moritz Arndt. Auch dieser hatte einen Heroismus im Angesicht der Zeitdiagnosen gefordert (vgl. Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, a. a. O., S. 52 f.), allerdings einen mutigen, engagierten.
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Gegen diesen Typus sollte man den ebenfalls nüchtern-rationalen, aber in gewisser Weise standpunktfesteren, für seine Sache und die historisch erkannten Werte engagierteren Kulturkritiker betonen. Er darf dabei nicht als Dogmatiker oder Programmatiker verstanden werden, er ist jedoch auch nicht der coole Gleichgültige. Vielmehr muss man in ihm den reservierten, reflektierten, historisch sensibilisierten Verfechter derjenigen Werte sehen, die er mit seiner Kulturkritik in die allgemeine Diskurssphäre einbringt. Seine Kritiken benennen Wesen und Herkunft des Maßstabes, benennen Diskrepanzen der modernen Wirklichkeiten zu diesen Kriterien und benennen zu erwartende Folgen. Dabei bleibt er offen für Korrekturen. Historisch hat es diesen Typus, glaubt man Karl Jaspers, bereits gegeben – in der Person Max Webers. 64 Das hier grob umrissene Ideal des Kulturkritikers ist letztlich unabhängig von den Phänomenen und Konzepten, mit denen sich auseinandergesetzt wird, weshalb es auch für die Zeitgeist-Diagnostiker gilt. Wenn die vorgenommene Argumentation überzeugend ist, dann kann man abschließend festhalten, dass die Analyse des Zeitgeistes ein wichtiges Instrument einer (Selbst-)Kritik der Kultur ist. Man muss dabei zweierlei besondere Leistungen des Zeitgeistes herausstellen. Zum einen bietet er sich dem Forscher als ein greifbares Phänomen dar, anhand dessen sowohl diachrone als auch synchrone Untersuchungen möglich werden. Zum anderen hat sich, ausgehend von diesem Phänomen, ein begriffliches Modell entwickelt, das es gestattet, unabhängig vom geschichtlichen Horizont der Methode – egal ob es sich um Zeit- oder Kulturkritik handelt – prinzipiell aufeinander beziehbare Analysen zu erstellen. Außerdem bietet das Konzept des Zeitgeistes Anknüpfungspunkte an weitere Traditionen philosophischen Denkens, wodurch ihm seine Aura des Irrationalen und Mythischen genommen wird – zum Beispiel 64
Für Karl Jaspers bildete Max Weber diesen Idealtypus, insofern er auf absolutes Wissen verzichtete, gleichwohl aber eine Erforschung der Konsequenzen menschlichen Handelns sich vornahm. Vgl. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, a. a. O., S. 140 f. Zur Vorbildfunktion Webers in dieser Hinsicht vgl. Richard Pohle, Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009, S. 105 und passim.
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die Interpretation des Zeitgeistes als Situation im Sinne von Hermann Schmitz oder als Denkstil im Sinne von Ludwik Fleck. 65 Wenn es außerdem richtig ist, dass Kritik immer einen besonderen Grad der kulturellen Reflexion voraussetzt, wird klar, wie sehr eine Selbstaufklärung der Individuen nötig ist. Denn sie erst erlaubt ein distanziertes Verhältnis zu der eigenen Gebundenheit, wie schon Jaspers gesehen hatte: Was in einer geistigen Situation wird, »hängt auch von dem ab, der in ihr steht, und davon, wie er sie erkennt.«66 Im Sinne des Prozesses der Aufklärung einer Kultur über sich selbst vermittels der Analyse ihres Zeitgeistes hat Emil Staiger den dafür benötigten Ethos in Worten zusammengefasst, die nach der hier vorgelegten Argumentation des »Pudels Kern« treffen: »Wir halten nur an der Meinung fest, daß stets noch einige da sein müssen, die geschickt sind, diesen Zeitgeist selber zu prüfen und mit dem Geist vergangener Tage zu vergleichen, nicht um sich besser und weiser zu dünken, sondern einzig dem Leben zuliebe, das nur im offenen Horizont wahrhaft lebendiges Leben bleibt.« 67 Literatur Adorno, Theodor W., Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, München 1963, S. 7–26. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, München 2000.
65
Vgl. dazu Steffen Kluck, Der Zeitgeist als Situation, a. a. O., S. 10–12, 36. Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, a. a. O., S. 23. – Vgl. auch ders., Max Weber. Rede bei der von der Heidelberger Studentenschaft am 17. Juli 1920 veranstalteten Trauerfeier, Tübingen 1921. 67 Emil Staiger, Der Zeitgeist und die Geschichte, in: ders., Geist und Zeitgeist, Zürich 1964, S. 9–28, S. 27. – Das Ziel, das Leben offen zu halten, entspricht dem kulturkritischen Leitmotiv der Lebensfülle (in Abgrenzung gegen »Verkürzungen, Verkünstelungen und Verbiegungen des Lebens«) bei Hermann Schmitz. Vgl. z. B. Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 379 f. oder ders., System der Philosophie. Bd. IV: Die Person, Bonn 2005, S. XIII. Schmitz könnte sich damit an Erich Rothacker und dessen »Kriterium der Fruchtbarkeit« angeschlossen haben. Vgl. Erich Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, in: Handbuch der Philosophie, hrsg. v. Alfred Baeumler, Manfred Schröter, Abt. II, München 1927, S. 1–171, S. 171. 66
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»Wissen, was an der Zeit ist«
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Steffen Kluck
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»Wissen, was an der Zeit ist«
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Hans Werhahn
Grenzen des konstruierenden Denkens
Als normal gebildete moderne Menschen befinden wir uns in einer erkenntnistheoretischen Falle: Nicht in einer Totschlagfalle, wie mit Speck als Köder für Mäuse vorgesehen, sondern in einer Kastenfalle, die das gefangene Lebewesen körperlich unversehrt lässt; mehr noch: Der Kasten, in dem wir leben, ist dreidimensional unbegrenzt ausdehnbar, so dass das Empfinden, in einer Falle gefangen zu sein, für den tatsächlich Gefangenen kaum aufkommen kann, weil er nirgendwo hart an eine Grenze stößt, die ihm die Begrenztheit seiner Gefangenschaft schmerzlich klarmacht. Der Kasten, in dem wir uns wie in einer Falle befinden, ist das so genannte »Weltbild der Physik«. Als ich, unmittelbar nach dem Krieg, Carl Friedrich von Weizsäcker kennen lernte, hieß das erste und für mich wichtigste Buch von ihm »Zum Weltbild der Physik« von 1943. Darin stand im Hinblick auf die »logische Paradoxie« der Unvereinbarkeit von »Teilchen- und Wellenbild« des Atoms der lapidare Satz: »Es versagt die Objektivierbarkeit der Natur« 1 . Dieser Satz hat mich während meiner Studienzeit nicht losgelassen, und schließlich habe ich in meiner Dissertation das sich immer wiederholende »Versagen der Objektivierbarkeit« als »Vorschreiten der Säkularisierung« 2 beschrieben. Bevor Hermann Schmitz Philosophie als »das Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung« definierte, fand ich, Philosophie sei das Bemühen des einzelnen Menschen, durch einen konzeptiven Entwurf der Wirklichkeit mit der Realität des ihm Begegnenden umgehen zu lernen und, wenn diese Konzep1 2
Carl Friedrich von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Leipzig 1943, S. 29 f. Hans Werhahn, Das Vorschreiten der Säkularisierung, Bonn 1969.
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Grenzen des konstruierenden Denkens
tion an der erfahrenen Welt-Realität mehr oder weniger unvermeidlich scheitert, die jeweilige Konzeption durch einen neuen Entwurf, eine modifizierte oder auch ganz andere Konzeption zu ersetzen. Säkularisierung hieß da: Anpassung an eine für den Einzelnen nicht verfügbare Realität. Carl Friedrich von Weizsäcker hat meine Dissertation gegenüber meinem kritischen Doktorvater Erich Rothacker Ende 1949 in meiner Studentenbude einen Abend lang bei einigen Flaschen »Wiltinger Kupp 1947« nachdrücklich verteidigt und sie dann auch an einen interessierten Martin Heidegger weitergereicht. Über drei Jahre lang habe ich dann versucht, Weizsäcker auf das Versagen der Objektivierbarkeit der Natur festzulegen, bis mir schließlich klar wurde, dass das »Versagen« für ihn nur ein Reparaturfall an seinem objektivistischen Weltbild war; diesen wollte er mit Hilfe einer (von Werner Heisenberg ja auch entworfenen) »Weltformel« beheben. Schließlich endeten Weizsäckers Überlegungen in einer Theorie der binären Totaldigitalisierung oder auch Atomisierung der Welt, deren Atom, als kleinste Einheit das »Ur« genannt, die »kleinste entscheidbare Alternative« sein sollte, für die er eine räumliche Größenordnung im Verhältnis zum Weltall von 1028 o. ä. annahm. Für mich dagegen war das »Versagen der Objektivierbarkeit der Natur« der Hinweis darauf, dass es gar keine objektive Welt »an sich« gibt, sondern dass die »Objektivierung der Natur« Sache des Subjekts ist, des sichbesinnenden Menschen, für den die Objektivierung der Welt eine Konzeption oder Interpretation des erfahrbar Begegnenden als dies oder das ist. Der dem »Leitbild der Physik« und der Naturwissenschaften zugrundeliegende konzeptive Atomismus – von Demokrit bis zum periodischen System der Elemente und darüber hinaus (die Kastenfalle also) – war für mich damals eine der allgemeinstmöglichen Interpretationen der Welt; sie interpretiert die Welt als unendlich ausgedehnten dreidimensionalen Körper, der von endlich ausgedehnten Körpern besetzt ist, wobei es dazwischen vielleicht noch das demokritische »Leere« gibt, nachdem der Äther abgeschafft war. Weil ich von der Einseitigkeit dieser Konzeption überzeugt war, versuchte ich mich an einer komplementären allgemeinsten Interpretation der Welt als »Energie« statt als unendlichem Körper. 245 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Hans Werhahn
Damit bin ich nicht zurande gekommen; mir scheint aber, dass es in dieser Richtung noch unerschlossene Möglichkeiten gibt, für die sich bisher allenfalls Ansätze in Science-Fiction-Romanen finden. Erst von Hermann Schmitz habe ich gelernt, dass mein Versuch einer Analogiekonstruktion zum Atomismusmodell, eben als Konstruktion, die »Grenzen des konstruierenden Denkens« nicht zu überschreiten vermochte, sondern nur der Versuch einer anderen Möblierung der erweiterten Kastenfalle war. Weiterhin habe ich gelernt, dass der gesamte Versuch von dem »Sichfinden«3 des Menschen im Vorschreiten der Säkularisierung wegführt in eine nicht unbedrohliche Sackgasse einer eventuell möglichen anderen Technik. Das »Sichfinden des Menschen« im Vorschreiten der Säkularisierung bedeutet nämlich den Vorrang der Subjektivität vor der Objektivität, den erst Schmitz mit seiner Aufdeckung der subjektiven Tatsachen überzeugend erläutert hat. Das Zerbrechen einer Konzeption bedeutet eine Erschütterung (ich vermied damals das Wort »Scheitern«, um dem Jargon der Heideggerschen Eigentlichkeit zu entgehen), und diese muss »leidend-leiblich« ausgehalten werden: »Der Mensch leidet vermöge seiner Leiblichkeit.« 4 Schmitz hat »mit der Neuinterpretation der Zusammenhänge von Tatsachen, Subjektivität und Objektivität gewissermaßen einen philosophischen Rubikon überschritten, jenseits dessen erst die ›Rehabilitierung des Subjektiven‹5 stattfinden kann«6 , wie der Titel der ersten Festschrift für ihn lautet. Deutlichster Ausdruck dieser Neuinterpretation ist die Entdeckung der subjektiven Tatsachen, die nur der Betroffene im eigenen Namen aussagen kann und die die Bindung des Subjekts an die Realität, die Wirklichkeit sind. In der Erfahrung der Wirklichkeit befindet sich das Subjekt, d. h. der konkrete Mensch nicht in der Kastenfalle, sondern in Situationen. Situationen präsentieren Wirklichkeit, unmissverständ3
Hans Werhahn, Das Vorschreiten der Säkularisierung, a. a. O., S. 59 f. Hans Werhahn, Das Vorschreiten der Säkularisierung, a. a. O., S. 68 f. 5 Michael Großheim, Hans-Joachim Waschkies (Hrsg.), Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993. 6 Hans Werhahn, Die Neue Phänomenologie und ihre Themen, Rostock 2002, S. 69. 4
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Grenzen des konstruierenden Denkens
liche, manchmal emotional aufgeheizte Ganzheiten, denen jeder Mensch ausgeliefert ist, mit denen er aber zugleich auch umgehen muss. Situationen sind die vorgegenständlichen Lebenserfahrungen des Menschen, das Nächstliegende und Umhüllende, das ihn und seine Umgebung verbindet. Aus ihnen heraus entwirft er seine objektivierenden Konzeptionen durch »Abschälung der Subjektivität«, wie Schmitz das nennt, im Interesse der intersubjektiven Verständigung mit anderen Menschen, aber auch einer mehr oder weniger lebensnotwendigen Welt-Bemächtigung. Als Menschen müssen wir ständig mit Konzeptionen, mit Bildern, Vorstellungen, Entwürfen umgehen; wenn wir etwas suchen, haben wir ein Erfahrungsbild des Gesuchten im Kopf, ein Hirnstrombild, wie ein Neurophysiologe vielleicht sagen würde, das mit der Umgebung abgeglichen wird. Das funktioniert meistens, aber nicht immer, wie Jakob von Uexküll 7 berichtet, als er bei Tisch das Trinkwasser im Tonkrug suchte und dabei den Glaskrug vor ihm übersah. Auch die Kastenfalle ist eine Konzeption: Ein unendlich ausgedehnter oder ausdehnbarer Raum, konstruiert mit einem dreidimensionalen Netzwerk von Koordinaten als Orientierungsmethode. Die anschauliche Nähe zur unmittelbaren unreflektierten Erfahrung der unbefangenen Einzelnen, nämlich der Unterschiede von groß und klein, von breit und eng und von dick und dünn, verleiht diesem Weltbild eine fast universale Anwendbarkeit, insbesondere durch die innerhalb des Kastens entwickelte Mathematik, Physik und Technik. Das Ergebnis ist, dass der heutige »normale Mensch« den Kasten für die Wirklichkeit hält, für das Universum, »in« dem sich alles abspielt, das den Anspruch auf Realität erhebt: Die Welt ist objektiv, und die menschlichen Subjekte befinden sich in dieser Objektivität und haben sich in ihr einzurichten. Dieses Weltbild der Physik ist heute noch das Weltbild zumindest der westlich gebildeten, als »kultiviert« geltenden Menschen. Es schließt zwar Entitäten wie Geist, Bewusstsein, Wille, Verstand, Vernunft, Gefühle, Schönheit u. a. nicht aus, ordnet aber all dies 7
Jakob von Uexküll, Streifzüge durch die Umwelten von Menschen und Tieren. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Hamburg 1956, S. 83.
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Hans Werhahn
unter dem Sammelbegriff »Seele« der – gegenüber der Objektivität entschieden untergeordneten – Subjektivität zu; damit eröffnet dieses Weltbild den subjektiven Bedürfnissen im gängigen Kulturbetrieb eine Spielwiese der Phantasie in unverbindlicher Beliebigkeit. Die »Rehabilitierung des Subjektiven« durch die Neue Phänomenologie will die verdrängte Wirklichkeit des angeblich »nur« Subjektiven als Basis des menschlichen Selbst-, aber auch Weltverständnisses der Besinnung jedes einzelnen Menschen wieder zugänglich machen und versteht auch das, was unter »Seele« gemeint sein kann, als leiblich, im Gegensatz zu den extremen Vertretern des Physikalismus, die auch die Seele mit allem, was darunter verstanden werden kann, einfach im Gehirn lokalisieren und damit die Kastenfalle hermetisch abdichten. Mit ihrer »Rehabilitierung des Subjektiven« kritisiert die Neue Phänomenologie einen Objektivismus, der die gesamte menschliche Kultur in der Kastenfalle unterbringen möchte mit vielleicht einigen Ausnahmen für Dichter, Denker und Kindsköpfe auf der eigens dafür präparierten Spielwiese. Gegen das konstruierende Denken innerhalb der Kastenfalle setzt sie ein »Denken in Situationen«8 , das sich an der unbefangenen Erfahrung dessen orientiert, was jeder als evident gelten lassen muss. Diese empirische Grundorientierung ist die fundamentale Kritik der Neuen Phänomenologie an der Kultur des gängigen Weltbildes der Physik. Literatur Großheim, Michael, Waschkies, Hans-Joachim (Hrsg.), Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Hermann Schmitz, Bonn 1993. Uexküll, Jakob von, Streifzüge durch die Umwelten von Menschen und Tieren. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Hamburg 1956. Weizsäcker, Carl Friedrich von, Zum Weltbild der Physik, Leipzig 1943. Werhahn, Hans, Das Vorschreiten der Säkularisierung, Bonn 1969. Werhahn, Hans, Die Neue Phänomenologie und ihre Themen, Rostock 2002.
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Hans Werhahn, Die neue Phänomenologie und ihre Themen, a. a. O., S. 33.
248 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Zu den Autoren
Clemens Albrecht, geb. 1959, Prof. Dr. phil. Promotion 1992, Habilitation 1999, seit 2002 Professor für Soziologie an der Universität Koblenz/Landau. Wichtigste Publikationen: Kultur und Zivilisation. Eine typisch deutsche Dichotomie?, in: Wolfgang König, Marlene Landsch (Hrsg.), Kultur und Technik. Zu ihrer Theorie und Praxis in der modernen Lebenswelt, Frankfurt a. M. 1993, S. 11–29; Zivilisation und Gesellschaft. Bürgerliche Kultur in Frankreich, München 1995; (mit Günther C. Behrmann, Michael Bock, Harald Homann, Friedrich H. Tenbruck) Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M., New York 1999; (als Hrsg.) Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden (= Kultur, Geschichte, Theorie – Studien zur Kultursoziologie, Bd. 1), Würzburg 2004; Massenkultur, Kanon und soziale Mobilität. Eine kleine Ideologiekritik des Konstruktivismus, in: Johannes Bilstein, Jutta Ecarius (Hrsg.), Standardisierung – Kanonisierung. Erziehungswissenschaftliche Reflexionen, Wiesbaden 2009, S. 77–93. Fritz Böhle, geb. 1945, Prof. Dr. rer. pol. Promotion 1975, Habilitation 1990, seit 1999 Professor für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt an der Universität Augsburg Wichtigste Publikationen: (mit Brigitte Milkau) Vom Handrad zum Bildschirm – Eine Untersuchung zur sinnlichen Erfahrung im Arbeitsprozeß, Frankfurt a. M., New York 1988; (mit Helmuth Rose) Technik und Erfahrung – Arbeit in hochautomatisierten Systemen, Frankfurt a. M., New York 1992; (mit Anne249 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Zu den Autoren
gret Bolte) Die Entdeckung des Informellen. Der schwierige Umgang mit Kooperation im Arbeitsalltag, Frankfurt a. M. u. a. 2002; (mit Lore Schultz-Wild) Mit Verstand und allen Sinnen: Arbeit im turbulenten Umfeld. Was erfolgreiche Profis »anders« machen, Bielefeld 2006; (als Hrsg. mit Annegret Bolte, Markus Bürgermeister) Die Integration von unten. Der Schlüssel zum Erfolg organisatorischen Wandels, Heidelberg 2008; (als Hrsg. mit Margit Weihrich) Handeln unter Unsicherheit, Wiesbaden 2009. Gernot Böhme, geb. 1937, Prof. Dr. phil. Promotion 1965, Habilitation 1973, von 1977 bis 2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt; Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. IPPh. Wichtigste Publikationen: (mit Hartmut Böhme) Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1985; Weltweisheit, Lebensform, Wissenschaft: Eine Einführung in die Philosophie, Frankfurt a. M. 1994; Atmosphäre, Frankfurt a. M. 1995; Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern 1998; Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001; Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003; (als Hrsg. mit Reinhard Olschanski) Licht und Zeit, München 2004; (mit Farideh Akashe-Böhme) Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen, München 2005; Goethes Faust als philosophischer Text, Kusterdingen 2005; (als Hrsg. mit Gregor Schiemann und Dieter Mersch) Platon im nach-metaphysischen Zeitalter, Darmstadt 2006; Architektur und Atmosphäre, München 2006; (als Hrsg. mit William R. LaFleur und Susumu Shimazono) Dark Medicine. Rationalizing Unethical Medical Research, Bloomington, Indianapolis 2007; Zeit als Medium von Darstellungen und Zeit als Form lebendiger Existenz (= Rostocker Phänomenologische Manuskripte, hrsg. v. Michael Großheim, Heft 5 (2009)), Rostock 2009; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bielefeld, Basel 2010.
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Zu den Autoren
Michael Großheim, geb. 1962, Prof. Dr. phil. Promotion 1993, Habilitation 2000, seit 2006 Inhaber der Hermann-Schmitz-Stiftungsprofessur für Phänomenologische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Wichtigste Publikationen: Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn 1991; (als Hrsg. mit Hans-Joachim Waschkies) Rehabilitierung des Subjektiven. Festschrift für Herrmann Schmitz, Bonn 1993; Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994; (als Hrsg.) Wege zu einer volleren Realität. Neue Phänomenologie in der Diskussion, Berlin 1994; (als Hrsg.) Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, Berlin 1995; Ökologie oder Technokratie? Der Konservatismus in der Moderne, Berlin 1995; (als Hrsg.) Perspektiven der Lebensphilosophie, Bonn 1999; Atmosphären in der Natur – Phänomene oder Konstrukte?, in: Rolf Peter Sieferle, Helga Breuninger (Hrsg.), Natur-Bilder. Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt a. M., New York 1999, S. 325–365; Politischer Existentialismus. Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement, Tübingen 2002; (als Hrsg.) Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg, München 2008; (als Hrsg.) Rostocker Phänomenologische Manuskripte, Rostock 2008 ff. Jürgen Hasse, geb. 1949, Prof. Dr. rer. nat. Studium der Geographie und Kunst in Oldenburg, Promotion 1979, ab 1983 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg, ab 1985 Hochschulassistent an der Universität Hamburg, Habilitation 1988, 1993 Berufung auf den Lehrstuhl für Geographie und Didaktik der Geographie an der Universität Frankfurt am Main. Wichtigste Publikationen: Bildstörung. Windenergie und Landschaftsästhetik (= Wahrnehmungsgeographische Studien zur Regionalentwicklung, Heft 18), Oldenburg 1999; Die Wunden der Stadt. Für eine neue Ästhetik unserer Städte, Wien 2000; Fundsachen der Sinne. Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens (= Neue Phänomenologie Band 4), Freiburg, 251 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Zu den Autoren
München 2005; Übersehene Räume. Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses, Bielefeld 2007; Unbedachtes Wohnen. Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft, Bielefeld 2009. Heiner Hastedt, geb. 1958, Prof. Dr. phil. Promotion 1987, Habilitation 1991, seit 1992 Professor für Praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Wichtigste Publikationen: Das Leib-Seele-Problem. Zwischen Naturwissenschaft des Geistes und kultureller Eindimensionalität, Frankfurt a. M. 1988; Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik, Frankfurt a. M. 1991; (als Hrsg. zusammen mit Ekkehard Martens) Ethik. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1994; Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus, Frankfurt a. M. 1998; (als Hrsg. zusammen mit Simone Dietz, Geert Keil, Anke Thyen) »Sich im Denken orientieren«. Festschrift für Herbert Schnädelbach, Frankfurt a. M. 1996; Gefühle. Philosophische Bemerkungen, Stuttgart 2005; Sartre, Leipzig 2005; Moderne Nomaden. Erkundungen, Wien 2009. Ludger Heidbrink, geb. 1961, Prof. Dr. phil. Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Münster und Hamburg. Promotion 1992, Habilitation 2002, seit 2003 Privatdozent an der Universität Kiel, seit 2009 apl. Professor an der Universität Witten-Herdecke. Wichtigste Publikationen: Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung, München 1994; (als Hrsg.) Entzauberte Welt. Der melancholische Geist der Moderne, München, Wien 1997; Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten, Weilerswist 2003; (zusammen mit Alfred Hirsch) Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips, Frankfurt a. M., New York 2006; Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung, Berlin 2007; (zusammen mit Alfred Hirsch) Verantwortung als marktwirtschaft252 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Zu den Autoren
liches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, Frankfurt a. M., New York 2008. Steffen Kluck, geb. 1980, M.A. seit 2006 Lehrbeauftragter und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Philosophie der Universität Rostock. Wichtigste Publikationen: (zusammen mit S. Kammler) »Ad fontes« – Zu den Quellen des Phänomenologen, in: Michael Großheim (Hrsg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg, München 2008, S. 59–78; Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Stationen einer bedeutsamen Beziehung, Freiburg, München 2008; (als Hrsg. zusammen mit Hans Jürgen Wendel) Zur Legitimierbarkeit von Macht, Freiburg, München 2008; Der Zeitgeist als Situation (= Rostocker Phänomenologische Manuskripte, hrsg. v. Michael Großheim, Heft 3 (2008)), Rostock 2008. Hermann Schmitz, geb. 1928, Prof. Dr. phil. Promotion 1955, Habilitation 1958, ab 1958 Assistent am Institut für Philosophie der Universität Kiel, dort von 1971 bis zur Emeritierung 1993 Professor für Philosophie, Begründer der Neuen Phänomenologie. Wichtigste Publikationen: System der Philosophie (5 Bände in 10 Büchern), Bonn 1964 ff. u. ö.; Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit, Bonn 1988; Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990; Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994; Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997; Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999; Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999; Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg, München 2005; Freiheit, Freiburg, München 2007; Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung (2 Bde.), Freiburg, München 2007; Logische Untersuchungen, Freiburg, München 2008; Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg, München 2009; Jenseits des Naturalismus, Freiburg, München 2010; Bewusstsein, Freiburg, München 2010. 253 https://doi.org/10.5771/9783495860076 © Ver
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Zu den Autoren
Hans Werhahn, geb. 1923, Dr. phil. Promotion 1950, Industrieberater. Wichtigste Publikationen: Das Vorschreiten der Säkularisierung, Bonn 1969; Die Neue Phänomenologie und ihre Themen, Rostock 2003; Aufsätze zur Industrie- und Politikberatung.
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