Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650 [Reprint 2022 ed.] 9783112641200


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Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550–1650 [Reprint 2022 ed.]
 9783112641200

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Siegfried Wollgast Philosophie in Deutschland 1550—1650

Siegfried Wollgast

Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550 -1650 Mit einer Karte

Akademie - Verlag Berlin 1988

I S B N 3-05-000 001-5

E r s c h i e n e n im Akademie-Verlag, Leipziger Str. 3—4, D D R - 1086 Berlin © Akademie-Verlag Berlin 1988 L i z e n z n u m m e r 202 • 100/164/88 P r i n t e d in t h e German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 V E B Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6524 E i n b a n d g e s t a l t u n g : P e t e r Werzlau L S V 0115 Bestellnummer: 7526501 (6226) 09800

Inhalt

Vorwort

11

Siglenverzeichnis

23

Erstes Kapitel: Deutschland in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

25

Frühbürgerliche Revolution 25 Protestantisches Bildungswesen 31 ."Wirtschaftliche Entwicklung 35 Calvinismus und Luthertum 41 Protestantische Geistlichkeit 45 Formierung .der Gegenreformation 46 Dreißigjähriger Krieg 53 Geistiges Leben 61

Zweites Kapitel: Von der Naturphilosophie zur modernen Naturwissenschaft.

65

Renaissance und Naturwissenschaft 65 Naturwissenschaftliche Leistungen zwischen 1550 und 1650 67 Ingenieurkunst 70 Geographie 71 Theologie und Geographie. B. Keckermann 73 O. v. Guericke 75 A. Kircher 78 R. Boyle 80 Botanik und Biologie bei A. Cesalpin 82 W. Harvey 84 latrochemie 85 Grundzüge der Alchemie 86 Alchemie und latrochemie 92 J . B . van Helmont 94 Gnostische Überlieferung 97 Schwarze und weiße Magie 101 Theosophie, Pansophie 102 „Verborgene Qualitäten" und Mechanik 105 F. Bacon 106 R. Descartes 108 Entwicklungsdenken 111 Naturphilosophisches Denken der Renaissance 112 Naturmystik 116 Neue soziale Stellung der Naturwissenschaft 117 Renaissance und Mittelalter 123 Westeuropäische Philosophie und Deutschland 125

Drittes Kapitel: Die Schulphilosophie in Deutschland von 1550 bis 1650 . Reformation und Philosophie 128 Reformation und Humanismus 130 Ph. Melanchthon 133 Protestantismus und copernicanisches Weltbild 136 P. Ramus 139 Metaphysik 145 N. Taurellus 148 Protestantische Schulmetaphysik 153 C. Martini 157 Universität Helmstedt 159 H. Arnisaeus 162 Seine Staatslehre 164 Rang der Schulmetaphysik 167 B. Keckermann 169 G. Calixt und die Irenik 173 J . Gerhard 178 D. Stahl 179 Katholische Philosophie und F. Suärez 180 Chr. Scheibler 187 C. Timpler 189 J . H. Aisted 190 J . Althusius 196 Seine „Politica" 201 Entfaltung der Erkenntnistheorie. G. Gutke 211 Verfall der protestantischen Schulmetaphysik 213 Ihr Einfluß auf Leibniz 214 Auflösung der philosophischen Orthodoxie 216

128

6

INHALT

Viertes Kapitel: Das philosophische Weltbild Johannes Keplers. . . .

221

Theologie oder Naturwissenschaft? 222 Keplers Protestantismus 225 Stellung zur Renaissancephilosophie 228 Keplers Neuplatonismus 230 Planetengesetze 236 „Mysterium Cosmographicum" 238 Überkonfessionalismus und Rosenkreuzer 240 Eine naturwissenschaftliche Utopie 243 Kalenderschriftstellerei 245 Grundzüge der Astrologie 246 „Integrale Naturbetrachtung"? 249 Theologische und philosophische Positionen 251 Harmoniedenken, Quantität, Mathematik 254 Theologische oder naturwissenschaftliche Auffassung? 261

Fünftes Kapitel: Johann Valentin Andreae. Versuch eines Überblicks . .

263

1. Leben und Wirkungsfeld Studium in Tübingen 263 Reisen 265 Tübinger Freundeskreis 266 M. Bernegger 269 Superintendent in Calw 274 Hofprediger in Stuttgart 275 Beziehungen zu Comenius 277 Reformpläne von Unterricht und Erziehung 279

2. Die „Christianopolis" Andreaes Kritik an den deutschen Zuständen 282 Utopisches Denken und Schreiben 284 Stadtbild der Christianopolis 287 Ihre politische und soziale Struktur 288 Kulturelles Leben 292 Ausbildungswesen 293 Protestantismus und Humanismus bei Andreae 295 Verhältnis zu Campanellas ,,Sonnenstaat" 296

3. Andreae, die Rosenkreuzer und der Sozietätsgedanke Leibniz' und Descartes' Stellung zu den Rosenkreuzern 300 Älteres Rosenkreuzertum 301 Die „Chymische Hochzeit" 307 Eine neue Reformation? 314 Renati, die Wiedergeborenen 317 Generalreformation 320 Sozialkritik 323 Sozietäten als Träger der Generalreformation 325 Auflösungserscheinungen 328 Chiliasmus 332 Verbreitung der Rosenkreuzer 335 Chronologie 339 A. Libavius 340 Rosenkreuzerisches bei Böhme 343 Am Anfang einer neuen Zeit 345

Sechstes Kapitel: Der Sozinianismus in Deutschland Antitrinitarier 346

Uberlieferung und Rationalismus der Neuzeit 351

1. Zur Charakterisierung des Sozinianismus Hauptlehren 352 Keine natürliche Theologie 353 Rationalistischer Biblizismus 355 Vernunft und Offenbarung 356 Kritik der Trinität 359 Schöpfungsauffassung 361 Christologie 362 Abendmahl 363 Wandlungen der Lehre nach 1620 364

2. Kryptosozinianismus in Deutschland, vor allem in Altdorf Europäischer Sozinianismus 366 E. Soner in Altdorf, M. Ruar in Danzig 367 Universität Altdorf 368 Bedeutende deutsche Sozinianer 370 Deutsche Sozinianer in Polen 372 E. Soner 374 Entdeckung der geheimen Zirkel 375 Verhaftungen an den Universitäten 377 Soner als Philosoph 381 Erfahrung und Rationalität bei Soner 384 Zum heterodoxen

346

7

INHALT

Aristotelismus 386 Cesalpin als Soners stanz, Materie 393 Auferstehung der griffe bei Soner 397 Göttlicher Wille Soner 404 Verfolgung und Verbreitung

Quelle 389 Gott, abstrakte Subindividuellen Seele 395 Zeitbe399 Gottes Gerechtigkeit nach in Deutschland 407

3. Zeitgenössische Gegner und historische Wirkungen Zentren antisozinianischer Propaganda in Deutschland 409 Leibniz und Lessing 410 Einfluß auf Westeuropa 411 Frankreich, England 413 Sozinianismus und englischer Deismus 415 Wandlungen der Formel „supra rationem" 416 Kritik der Offenbaruug und Deismus 419 Sozinianischer Rationalismus und Aufklärung 421

Siebentes Kapitel: Joachim Jungius

423

1. Leben und Wirkungsfeld Studium in Rostock und Gießen 423 W. Ratke 424 Teilnahme an Ratkes Unterrichtsreform 424 Societas ereunetica. Medizinstudium in Padua 426 Hamburger Rektorat 427 Wissenschaftliche Leistungen 429 Goethes Eindruck von Jungius 431 Botanische Arbeiten 432 J . Morsius 434

2. Jungius und die Atomistik Anknüpfen an Demokrit 437 Disputationen von 1642 438 D. Sennert 439 Kein Eklektizismus 440 Atomistisches Denken und Mixis-Begriff 441 Korpuskularvorstellung bei J . Sperling 445 Jungius' Korpuskulartheorie 446 Quantitative Auffassung 447 Jungius'chemische Theorie 448 Jungius' Optik 450

3. Zur Philosophie des Joachim Jungius Jungius als „deutscher B a c o n " ? 452 Bacons Philosophie 452 Fehlinterpretationen Jungius' 456 Marxistische Einschätzung 457 Jungius über Mathematik und Philosophie 459 Auseinandersetzung mit Descartes 460 Jungius und Hobbes 461 Mathematische Klarheit in der Philosophie 462 Gegen Denkformen der Scholastik 464 Beobachtung und Gesetz 466 Jungius als „deutscher Descartes" 468

Achtes Kapitel: Friedrich von Spee und der Kampf gegen den Hexenaberglauben. Ein Beitrag zur Entwicklung des Toleranzdenkens in Deutschland 471 Malleus Maleficarum 471 Luthers Hexenglaube 472 Frauen als Hexen 473 Folterpraxis 474 Ideologische Zusammenhänge: Neuplatonismus, Pseudoaristotelismus 477 J . Weyer 479 Weitere Gegner der Hexenverfolgung 481 Spees Lebensgang 482 Die „Cautio criminalis" 485 Prominente Gegner Spees 492 Vorläufer Spees: A. Tanner 493 Wirkung der „Cautio criminalis" 494 Chr. Thomasius 495 Ende der Hexenprozesse 496 Geschichtliche Bezüge 496

8

INHALT

Neuntes Kapitel: Valentin Weigel 1. Weigels Leben und Schriften. Wirkungen in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts Eigenhändiger Lebenslauf 499 Geburtsstadt Hayn 500 Sächsische Fürstenschulen 500 Studium an der Universität Leipzig 501 Universität Wittenberg 504 Weigels Wittenberger Zeit 507 Pfarrer von Zschopau 508 Nachgelassene Schriften 511 Chr. Weichart 511 G. Biedermann 512 Drucke von Weigels Schriften seit 1609 512 Weigeliana und Pseudoweigeliana 514 Verlagsorte 517 Verbreitung von Weigels Ideen durch seine Söhne 518 Kursierende Manuskripte vor 1609 519 J . Arndts „Wahres Christentum" 520 Wirkungskreise der Weigelschen Schriften 522 Schelhammers Anti-Weigel 523 N. Hunnius als Weigel-Kritiker 526 Th. Thumms Weigel-Kritik 527 Weitere Weigel-Kritiker 530 Vorwurf des Müntzertums 532

2. Weigels Anschauungen Weigel als Philosoph 535 Die „Kirchen-Oder Hauspostill" 535 „Gnothi seauton" 537 „Vom Ort der W e l t " 541 Cusanische Dialektik bei Weigel 543 Idealistischer Pantheismus 544 Erkenntnistheorie 545 Anknüpfungen an Zeitströmungen 548 Inneres Christentum 550 Auferstehung 554 Soziale Orientierung 555 Nähe zu S. Franck 555 Auf dem „linken Flügel" der Reformation 557 Zweifacher Leib der Renati 559 Vorwurf des Müntzertums 562 Subjektivität des Glaubens 564 Gesellschaftsbezüge 566 Glaubensbegriff 568 Weigels Erkenntnistheorie 571 Rationalismus der Mystik 574

3. Die „Weigelianer" Anonyme Anhängerschaft 576 J . Bannier 577 N. Teting 578 Anna Ovenna Hoyers 579 Ph. H. Homagius und G. Zimmermann 580 Chr. A. Raselius 583 St. Grunius 583 Nürnberger Weigelianer 584 Verhöre der Nürnberger Gruppe 585 E. Stiefel 589 Sein Leben und Wirken 589 Geistige Charakteristik 592 J . Böhme über Stiefel 597 Quellen und Wirkungsrichtung der Häretiker 598

Zehntes Kapitel: Zur pantheistisch-mystischen Entwicklungslinie in der deutschen Philosophie zwischen 1550 und 165 0 „Enthusiasten" und „Fanatici" 601 Ideologische Funktion des Pantheismus 602 Zeitgenössische Auffassungen des Atheismus 604 Weigel als Theosoph? 606 Pantheismus 609 Idealistischer und materialistischer Pantheismus 612 Naturbegriffe 615 Pantheistische Denkformen 618 Mystisches Denken 621 Tauler als Vermittler der mystischen Tradition 624 Mystik und Humanismus 628 Die „Theologia deutsch" 630 Luther und die Radikalen der Reformation 633 Boethius-Rezeption der „mystischen Pantheisten" 636 Weigel und die Radikalen der Reformation 637 Th. Müntzer 638 Müntzer und die Mystik 645 Paracelsus 647 Sozialkritik bei Paracelsus 657 Paracelsus, Weigel, Böhme 662 A. Osiander d. Ä. 665 K. Schwenckfeld 667 Weigel-Interpretation im 19. Jahrhundert 671 Weigel-Interpretation im 20. Jahrhundert 672

INHALT

Elftes Kapitel: Jakob Böhme — Werk und Wirkung Lebensgang p l l Dialektik und paracelsisches Denken bei Böhme 679 Dialektische Naturauffassung 681 Anknüpfen an die Mystik 685 Mensch und Gott 687 Selbstentwicklung Gottes aus dem Ungrund 689 T r i n i t ä t 690 Existenz und Dialektik des Bösen 691 Materiebegriff 693 Dialektik in der ,, Aurora'' 695 Gesellschaftsauffassung 697 Soziale Orientierung 699 Gott und Natur 699 Gott als Werden aus dem Nichts 701 Die ,,sieben Quellgeister". Qual der Natur — Dualität in Gott 703 „Grimmigkeit" des Weltprozesses 705 Zur Rezeption und Forschungsliteratur 706 Hegel über Böhme 708 Feuerbach über Böhme 710 Luther und Böhme 712 Böhmes Anhänger 713 Gemeinsamkeiten von Böhme und Weigel 713 Chr. Hoburg 723 Chiliasmus, P. Felgenhauer 726 Böhmes Schriften in England 727 Newton von Böhme beeinflußt? 728 Newtons Gravitation bei Böhme vorgedacht? 731 Newtons theologische Interessen 735 Newtons protophysikalische Begriffsbildung 737 Rationale physikalische Begriffsbildung 739

Zwölftes Kapitel: Auf dem Wege zur Frühaufklärung Literatur und Philosophie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts 741 Sonderstellung Schlesiens 742

1. Schlesien und die Niederlande. Zum Neustoizismus Die Universität Leiden und das schlesische Geistesleben 744 Bürgerliche Verhältnisse in Holland 746 Deutsche Studenten und Professoren an niederländischen "Universitäten 748 D. Heinsius 751 J . Lipsius 751 „De constantia" 753 Fatum-Begriff in der „ C o n s t a n t i a " 754 Der Neustoizismus als geistige Strömung 756 Antike Stoa und Neustoizismus 760

2. Hans Theodor von Tschesch und Abraham von Franckenberg Niedergang des mystisch-pantheistischen Denkens 762 Lebensgang Tscheschs 763 Tschesc'hs „Vertrauliche Sendschreiben" 764 „Vitae cum Christo" 765 „Siebenfaches Gedenk-Ringlein" 768 „Sünde wider den Heiligen Geist" 768 „ B e r i c h t von der einigen wahren Religion" 769 Tschesch und Czepko 770 Apologie Böhmes 773 , .Aufmunternde Gründe zur Lesung der Schriften J a c o b B ö h m e n s " 774 Franckenbergs Leben 775 Seine Bildungsquellen 777 Kirchenkritik Franckenbergs 778 Seine Reformationsvorstellung : 781 Rosenkieuzertum 781 Theologie und R a t i o 782 „ R a p h a e l " 784 Franckenbergs Mystik 785 Zeitkritik in der Mystik 787 „Getreue Warnung vor der menschlichen Vernunft" 788 „Oculus sidereus" 789 Theoretisches Erbe und literarische Form 791 Gott und Mensch 792 Innerlichkeit des Christentums 794 „Gemma Magica" 796 Gesamtwertung Franckenbergs 798 Grundzüge der K a b bala 799 K a b b a l a in der Renaissance 802 Christliche K a b b a l a 804

3. Martin Opitz — Philosophie und Dichtung Führende Stellung in seiner Literaturepoche 806 Das Schönaichianum 807 Im Hause G. M. Lingelsheims 808 „Trostgedichte" 808 Diplomatische Stellung 809 Antikes Bildungsgut und Stoizismus 810 Religiosität und Stoizismus 812 Schicksalsauffassung, Intellektualismus 814 Spezifik seines Stoizismus 816 Adressatenkreis seiner Dichtung 817 Weitere stoische Einflüsse 820 Stoizistische Physik 821 Stoizismus in der E t h i k 822 Arbeit in der Stoa und bei Opitz 825

10

INHALT

4. Daniel Czepko Leben und Werke 826 Bildungsgüter und mystische ¡Tendenz 828 I m Kreise der Böhmisten 830 „Coridon und Phyllis" 831 Politische und sozialkritische Schriften 833 Sozialkritik 835 Geistige Stellung 836 Idealistischer Pantheismus 839 Heterodoxes in den ,,Monodisticha" 840 Czepkos Mystik 842 Pantheismus 847 Erkennen durch den Gegenwurf 848 Paracelsisches und Kabbalistisches 850

5. Andreas Gryphius Lebensweg 852 Danzig und sein Akademisches Gymnasium 853 Lebensweg 854 Lebenserfahrung und Werkausdruck 855 Einflüsse der Mystik und des Stoizismus 856 Vanitas-Idee 859 Staats- und Rechtsauffassung 860 Philosophische Wahlverwandtschaft: Descartes 863 Gryphius' Lut h e r t u m 864 Seine E t h i k und Nähe zur Frühaufklärung 866 VanitasIdee 867 Grauen des Krieges 868 Menschliche Beständigkeit 870

6. Johannes Scheffler (Angelus Silesius) Herkunft und Studium 871 Lebensgang. Übertritt zum Katholizismus 872 Pantheistisch-oppositionelle Lyrik 873 Pantheismus oder Katholizismus im „Cherubinischen Wandersmann" ? 874 Marxistische Einschätzung 878 Schefflers Stellung in der oppositionellen mystisch-pantheistischen Entwicklungslinie 881 Pantheismus im „Cherubinischen Wandersmann" 883 Dialektik im Pantheismus 885 Pantheismus und moderne Denkformen 887

Schlußbemerkungen

888

Aufbrechender Gegensatz zur Religion 888 Rationalisierende Säkularwirkung der Reformation 889 Wandlung des Gottesbegriffs in der Neuzeit 890 Sechs große Themenkreise der Metaphysik? 893 Die „Aufklärung" als geschichtlicher Prozeß 894 Frühaufklärung als geschichtliche Periode 896 Geschichtliches Einsetzen der Frühaufklärung 901

Tabellenanhang

905

Gründungsdaten der Universitäten

908

Karte: Mitteleuropäische Universitätsstädte 1648 Literaturverzeichnis

909

Sachregister

989

Personenregister

1000

Vorwort

Um 1550 haben das Luthertum und die Reformationskirchen überhaupt in Deutschland ihre größte territoriale Ausdehnung erlangt. In der sozial vielschichtigen reformatorischen Bewegung hatten sich jene städtebürgerlichen, frühkapitalistischen und adligen Kreise durchgesetzt, die sich auf das Zusammenwirken mit den Landesfürsten und den städtischen Obrigkeiten orientierten. Die Territorialstaaten hatten sich gegen die universale Kaiserpolitik Karls V. durchgesetzt. 1545—1563 tagte das Tridentiner Konzil, das die katholische Kirche so reformierte, daß sie wirksam die Gegenreformation tragen konnte. Das wichtige Machtinstrument der Gegenreformation, der Jesuitenorden — 1540 gegründet —, kam nach 1550 in erstaunlich schnellem Tempo zu Macht und Ausbreitung. Philosophisch-theologisch sind die Grundlagen des Luthertums und des Calvinismus bis 1550 geschaffen und gesichert, die Konkordienformel (1577) bezeichnete bereits eine Wende nach „rechts". Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 fixierte den „endgültigen* Verzicht auf die Wiederherstellung der Allgemeinherrschaft der römischen Kirche, er brachte die Anerkennung der Gleichberechtigung immerhin der Katholiken und der Anhänger der Confessio Augustana. Das Ende des hier von uns abgesteckten Zeitraums, 1650, läßt sich am besten durch das Jahr 1648 charakterisieren — das Ende des Dreißigjährigen Krieges.1 Zudem beginnt Anfang der 1650er Jahre, ausgehend von den Niederlanden und zuerst übergreifend auf die calvinistischen Hochschulen Westdeutschlands, der Siegeszug des Cartesianismus in Deutschland, womit die ganze philosophische Entwicklung in ein anderes Licht rückt. 4

Vgl. S. Wollgast, Zur Philosophie in Deutschland von der Reformation bis zur Aufklärung, Berlin 1982, S. 3—6 (Sitzungsber. der Sachs. Akad. d. Wissensch, zu Leipzig, Phil.-hist. Kl. 122/H. 6); Deutsche Geschichte, Bd. 3: Die Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus von den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts bis 1789, Autorenkollektiv u. Ltg. von A. Laube u. G. Vogler, Berlin 1983, S. 239—325. — In der bürgerlichen Forschung nutzen diese Periodisierung u. a.: E . W. Zeeden, Das Zeitalter der Gegenreformation. Von 1555 bis 1648, München 1979; H.-J. Schoeps, Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit, Bd. 2: Das Zeitalter des Barock. Zwischen Reformation und Aufklärung, Mainz 1978; H. Kamen, The Iron Century. Social Change in Europe 1560—1650, London 1971; Handbuch der europäischen Geschichte. Hg. v. Th. Schieder. Bd. 3: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa, hg. v. J. Engel, Stuttgart 1971; H. Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot, Stuttgart — Berlin(West) — Köln — Mainz 1980.

12

VORWORT

In der marxistischen Geschichtsschreibung ist die Zeit zwischen 1550 und 1650, etwa gegenüber der Zeit der Frühbürgerlichen Revolution, ziemlich stiefmütterlich behandelt worden. Das gilt auch für die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. An philosophischen Arbeiten gibt es lediglich einige punktuelle Darstellungen zu einzelnen Bewegungen und Persönlichkeiten. Allerdings sah es im bürgerlichen Bereich lange nicht viel besser aus. Leichte Verlegenheit breitete sich aus, wurde von der Zeit zwischen 1550 bis 1650 gesprochen. Da ist die Rede vom „Zeitalter der Orthodoxie" 2, und für den aus der „Frankfurter Schule" kommenden F. Borkenau ist das 17. Jh. auch philosophisch „eine der düstersten Zeiten der Menschheitsgeschichte"3. W. Zeller referiert zum 17. Jh. die weit verbreitete, von ihm nicht geteilte Auffassung: „Dem oberflächlichen Blick dünkt zunächst alles derart einheitlich und spannungslos, daß der Zeitraum vom Ende des Reformationsjahrhunderts bis hinein in das 18. Jahrhundert eine geschlossene, feste und immer mehr sich verfestigende geistige Welt zu umfassen scheint. Nimmt man noch den Eindruck des Begrenzten, ja Beengten hinzu, der sich für dieses Jahrhundert eipem aufdrängt, dann rundet sich das Bild der Epoche vollends ab. Wir meinen,, es mit einer Zeit zu tun zu haben, die, weil sich fast alle großen geschichtlichen Entscheidungen an ihren Grenzen oder gar außerhalb davon zu vollziehen scheinen, von dem Charakter eines ungestörten Gleichmaßes bestimmt ist. Ja, wir verhehlen uns nicht: es ist der Eindruck der Mittelmäßigkeit, der uns befällt." 4 Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele angeben. In den traditionellen bürgerlichen Philosophiegeschichten wird diese Zeit gar nicht, mit wenigen Sätzen oder wenigen Seiten abgetan; Hegel, Reinhold, Ueberweg, Windelband, Schwegler, Messer und Deussen gehen darin konform.5 Eine gewisse Ausnahme bezeichnet Johann Gottlieb Buhle, der immer? H. E . Weber, Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus im Zeit• a l t e r der Orthodoxie, Leipzig 1907. 3, F . Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934 (Reprint, Darmstadt " 1973), S. X I I . W . Zeller, Einleitung zu: Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts, hrsg. von W . ..Zedier, Bremen 1962, S. X I I I . — Positiver: B . Sutter, Wissenschaft und geistige . .Strömungen zwischen dem Augsburger Religionsfrieden und dem Dreißigjährigen Krieg, i n : Wissenschaftsgeschichte um Wilhelm Schickard, Vorträge bei dem S y m posium der Universität im 500. J a h r ihres Bestehens am 24. und 25. J u n i 1977, hg. von F . Seck, Tübingen 1981, S. 153—240; R . van Dülmen, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1 5 5 0 - 1 6 4 8 , Frankfurt/M. 1982. 5 Vgl. G, W. F . Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, B d . I I I , i n : Sämtliche Werke, hg. von H. Glockner, B d . 19, S t u t t g a r t 1929, S, 2 9 6 - 3 2 7 (dort wird ausschließlich B ö h m e behandelt); E . Reinhold, Handbuch der allgemeinen • Geschichte der Philosophie für alle wissenschaftlich Gebildeten, Zweiter Theyl, •Erste Hälfte, Gotha 1829 (selbst J . B ö h m e wird nicht behandelt); F . Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie der Neuzeit bis zum E n d e des X V I I I . J a h r . hunderts, neu bearb. Aufl. von M. Frischeisen-Köhler und W . Moog, Berlin 1924, behandelt die Entwicklung in Deutschland vom E n d e des 15. bis zum E n d e des 17. J h . zwar S. 88—153, ein gewichtiger Teil ist aber dabei den Reformatoren, Copernicus, den Humanisten des 16. J h . , Grotius u. a. gewidmet; A. Schwegler, Geschichte der Philosophie i m Umriß. E i n Leitfaden zur Uebersicht, 9. Aufl., S t u t t gart 1876, S, 1 3 0 - 1 3 1 (Die,deutsche Reformation), S. 1 3 4 - 1 3 6 (Böhmes Philoso-

VORWORT

13

hin die Philosophie des 16. und 17. Jh. ausführlich darstellt, wenn er auch die deutsche Entwicklung etwas zu kurz kommen läßt. 6 In der von Knittermeyer bearbeiteten Neuausgabe des „Vorländer" werden folgende Personen und Strömungen zwischen 1550 und 1650 immerhin für erwähnenswert befunden 7 : Johann Baptist van Helmont und Franz Mercurius van Helmont, Daniel Sennert, Valentin Weigel, Jakob Böhme und die protestantische Scholastik. Diese Zeit gibt aber philosophiehistorisch mehr her als lange angenommen. Das verbreitete Vorurteil gegen die vorkantische, die vorklassische Philosophie in Deutschland überhaupt wurzelt in der Aufklärung. Das theoretisch Voraufgegangene wird in ihr — fälschlich — ebenso radikal und einseitig negiert wie das Mittelalter und seine philosophischen Leistungen, womit die deutsche Aufklärung dem Renaissancedenken und den Humanisten des 16. Jh. folgt. Seit der Aufklärung gibt es das einseitig negative Bild von der Philosophie in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jh. Das 19. Jahrhundert vertrat einen bürgerlich-linearen Fortschritt ohne dialektische Widersprüche. In dieses Bild paßte der zugegebenermaßen langsame, zumeist in eine theologische Form gefaßte Erkenntnisstand und -fortschritt des 17. Jh. nicht. Selbst die Theologie gab lange die lutherische Orthodoxie preis, erst mit E . Troeltsch setzt 1891 eine Wende ein.8 Heute sind die Arbeiten zur Philosophie-, Kirchen-, Kultur- und allgemeinen Geistesgeschichte der zweiten Hälfte des 16. und des 17. Jh. im bürgerlichen Bereich fast unübersehbar. phie); W. Windelband, Die Geschichte der neuern Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen Wissenschaften dargestellt, Bd. I : Von der Renaissance bis Kant, Leipzig 1878, S. 84—114 (das scheint relativ ausführlich, dafür wird „Deutschland im X V I I . Jahrhundert" vor Leibniz, Tschirnhaus und Thomasius mit den S. 428—436 abgetan; Windelbands Arbeit hat 577 Druckseiten); P. Deussen behandelt S. 481—499 lediglich J . B ö h m e (P. Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, Bd. I I , 2. Abt., Leipzig 1915); A. Messer nennt (Geschichte der Philosophie im Altertum und Mittelalter, 2., verb. Aufl., Leipzig 1916, S. 150) die „Erneuerung des thomistischen Systems" als Folge der Reformation und behandelt (Geschichte der Philosophie von Beginn der Neuzeit bis Ende des 18. Jahrhunderts, 2., verb. Aufl., Leipzig 1917, S. 16—21) „Die Deutsche Renaissancephilosophie". Die philosophische Entwicklung in Deutschland bis Leibniz wird dann nicht mehr erwähnt. 6 Vgl. J . G. Buhle, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Literatur derselben, T. 6, 1. Hälfte, Göttingen 1800. — Buhle schätzt Suarez und wertet ihn hoch (S. 36—86). Im 20. Abschnitt „Geschichte der Philosophie im sechszehnten Jahrhundert bis auf Des Cartes" (S. 263—415) behandelt er zunächst „Peripatetische Philosophie" (S. 263ff.) und dann — übrigens auch mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis — Ramus, F. Patrizzi, J . Zabarella, kurz Luther und Melanchthon, darauf J . Lipsius, Paracelsus, J . Böhme, R . Fludd, die Rosenkreuzer, J . Pordage, B. Telesio, T. Campanella, H. Cardano, G. Bruno, L. Vanini. Im „Sechsten Theil, Zweyte Hälfte" seines Lehrbuchs (Göttingen 1801) wird erst mit S. Pufendorf explizit ein Deutscher behandelt (S. 715—725). 7 K. Vorländer, Philosophie der Renaissance. Beginn der Naturwissenschaft, bearb. v. H. Knittermeyer, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 67 - 69, 7 1 - 7 8 (Geschichte der Philosophie I I I ) . 8 E . Troeltsch, Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon, Göttingen 1891.

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VORWORT

Wer es unternimmt, die Geschichte der deutschen Philosophie zwischen Reformation und Aufklärung darzustellen, steht schon mit der Themenstellung vor dem Problem, was Philosophiegeschichte eigentlich sei. Gerade diese Zeit steht so sehr im Schatten „großer Zeiten" der philosophischen Entwicklung — zwischen Renaissance und Humanismus, Reformation und Frühbürgerlicher Revolution auf der einen, der Aufklärung und schließlich der großen Systeme der klassischen deutschen bürgerlichen Philosophie auf der anderen Seite —, daß wir noch mehr als beim Mittelalter, das wir wieder zu entdecken beginnen, von einem philosophisch „finsteren" Zeitalter zu sprechen geneigt sind. Es scheint eine Zeit der Stagnation, des Eklektizismus und orthodoxen Theologengezänks zu sein, vollkommen überschattet vom Dreißigjährigen Krieg und von seinen furchtbaren Folgen, so daß die unauffällige Arbeit der Philosophie vor dem Hintergrund tatsächlichen Geschehens verblaßt. Was aber ist in diesem von der Forschung so sehr vernachlässigten Jahrhundert geschehen? Was war und bedeutete Philosophie in dieser Zeit, und was kann sie uns heute bedeuten? Die Suche nach einer Antwort führt uns wie in wenigen anderen Zeiten zur Frage nach der Methode philosophiehistorischer Arbeit. Die Interpretation, die der Autor auf Hunderten von Seiten darbietet, stützt sich ja immer nur aüf einen Ausschnitt aus der unendlichen Summe des Gewesenen. Darzustellen ist, wie in der betreffenden Periode der Fortschritt philosophischen Denkens sich entwickelte und daß der Entwicklungsgang des philosophischen Denkens nie linear verläuft, sondern den Gesetzen der Negation der Negation, der Einheit und des Kampfes der Gegensätze u . a . unterliegt. Antwort verlangt auch die Frage: Soll man die Geschichte der Philosophie als Geschichte großer Persönlichkeiten darstellen oder gleichzeitig mit der Darstellung der Höhepunkte philosophischen Denkens auch „weniger bedeutende" Philosophen erfassen?9 In der bürgerlichen Philosophiegeschichtsschreibung dominiert — eigentlich seit Herausbildung und Konsolidierung der Philosophiegeschichte als wissenschaftliche Disziplin — die erstgenannte Darstellungsweise der Aneinanderreihung bzw. ideengeschichtlichen Abfolge „großer Philosophen" bzw. „großer Systeme". 10 Kuno Fischers, nicht Hegels Auffassung macht also hier bis heute Schule. Was aber sind große Philosophen? Unvoreingenommen wird man sagen müssen, daß es ein zuverlässiges Kriterium zu ihrer Bestimmung bislang nicht gibt. In der Geschichte der Philosophie konzentrieren sich die ideologisch-philosophischen Auffassungen der verschiedenen Schichten und Klassen. Vgl. dazu: R. O. Gropp, Geschichte und Philosophie. Beiträge zur Geschichtsmethodologie, zur Philosophiegeschichte und zum dialektischen Materialismus, hg. v. W . Förster, Berlin 1977; S. Wollgast, Zu methodologischen Problemen der Philosophiegeschichte, in: Struktur und Prozeß, hg. von K.-F. Wessel, Berlin 1977, S. 281-298. 10 Vgl. etwa: K. Jaspers, Die großen Philosophen, Bd. I, München 1957, S. 43, S. 45. Ähnlich: L. Kolakowski, „Wielki Filosof" jako kategoria historyczna, in: Fragmenty filozoficzne, Warszawa, Seria 3 (1967) S. 568, S. 575. Selbst in der marxistischen Philosophie finden sich entsprechende Tendenzen. Vgl. I. S. Narskij, Zapadnoevropejskaja filosofija X V I I I veka, Moskva 1973, S. 8. 9

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Jede gesellschaftliche Klasse, Schicht, Gruppe wirkt zu jeder Zeit philosophisch, hat philosophische Ideen (unabhängig davon, ob sie schriftlich fixiert sind oder nicht). Politisch wie ökonomisch, ideologisch wie in der Bildung kultureller Tradition sind dem Willen der herrschenden Klassen Grenzen gesetzt, die als passive Hindernisse in Erscheinung treten, die der geschichtliche Prozeß aber in zahlreiche Inhalte des gesellschaftlichen Lebens verwandelt. Die überlieferten Daten und Dokumente dieses Prozesses sind schweigende Denkmale dieser Auseinandersetzung zwischen „oben" und „unten", zwischen „rechts" und „links", zwischen der Kultur der Herrschenden und der der Beherrschten. Jene Überlieferung verstehen heißt, diese Auseinandersetzungen zu entschlüsseln, hinter dem Buchstaben den Geist, hinter dem geistigen das soziale Spannungsfeld zu rekonstruieren, in dem sich die Träger der vergangenen Auseinandersetzungen zu orientieren suchten. Wir kommen schließlich, wenn wir dies beachten, auch einem Verständnis des Verhältnisses von „großen" und „kleinen" Philosophen näher. Beschränkt man die Geschichte der Philosophie nur auf das Wirken einzelner hervorragender Philosophen, so erfaßt man damit nur die Spitze eines Eisberges. Nun sagt man bisweilen: zugegeben, neben diesen großen Persönlichkeiten in der Philosophie hat es auch noch „kleinere Geister" gegeben — aber ihr Einfluß hat eben nicht weit gereicht, sie haben die Entwicklung der Weltphilosophie nicht weitergebracht. Es wäre einfach unbillig und falsch, die Leistungen der „kleinen Geister" nur als Wiederholung und Popularisierung aufzufassen. Diese „kleinen Geister" bereiten oft das Werk der „großen Philosophen" vor; das Neue bahnt sich bei ihnen an und kann in seinem historischen Zusammenhang nur verstanden werden, wenn man auch ihre Arbeit berücksichtigt. Selbst als „Bewahrer" haben sie eine umfassendere Aufgabe als die der Verbreitung und Popularisierung: sie halten oft Gedanken fest, die dann später von den „größeren Geistern" wieder aufgenommen werden. Kriterien der Bewertung sind damit aber kaum gewonnen. Auch in der Philosophie wurden Persönlichkeiten zu ihrer Zeit in den Rang eines „doctor admirabilis et universalis" erhoben, doch schon bald nach ihrem Tode verfielen sie der, oft durchaus verdienten, Vergessenheit. Nicht weniger häufig ist das Gegenteil zu verzeichnen. Nicht nur Leibniz, Locke, Wolff usw. gehören zu den Ahnen der klassischen deutschen Philosophie, sondern auch Oetinger und Valentin Weigel, Jakob Böhme ebenso wie weniger bekannte Vertreter der Wolffischen rationalistischen Schule. Wollte man nur die Linie der „großen Philosophen" verfolgen, so wäre mancher wertvolle Gedanke nicht in seiner Entwicklung erkennbar. Oder man begriffe das System nicht. Wie steht es um Leibniz' oder Descartes' Beziehungen zu den Rosenkreuzern? War nicht auch der Brief— Max Wundt formuliert, daß wir die „Gesamtbewegung der Philosophie in der Geschichte . . . nur verstehen, wenn wir die Philosophie nicht als das einsame Höhengespräch einiger erlauchter Geister auffassen, das in dieser Weise niemals stattgefunden hat, sondern als eine umfassende, das ganze Leben durchdringende geistige Bewegung, von welcher auch jene Großen dahergeführt werden" (M. Wundt, Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt, Jena 1932, S. 3).

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Wechsel zwischen Leibniz und Gabriel Wagner anregend für die Entwicklung der Weltphilosophie? War nicht dabei auch Wagner gebend und anregend? Hat nicht der Sozinianismus für den Übergang zum Deismus wesentliche Voraussetzungen geschaffen? Die Beispiele ließen sich vermehren. Jacques d'Hondt hat sehr beweiskräftig am Beispiel Hegels gezeigt, wie „kleine" Philosophen das Werk „großer" vorbereiten.11 Wollten wir uns in der marxistischen Geschichtsschreibung nur auf große Persönlichkeiten festlegen, würde das zur Verarmung der nationalen Philosophiegeschichte eines Volkes und der Weltgeschichte der Philosophie führen. Wollte man für die hier dargestellte Periode ausschließlich die Rolle „großer Philosophen" in der Geschichte untersuchen, so müßte man sich wohl auf einige Vertreter der deutschen Reformation und einige „Nachfahren" wie J . Böhme usw. beschränken. Einer solchen Konzeption vermag ich nicht zu folgen. Die Emanzipation des deutschen Bürgertums in der Theorie — wie erfolgte sie bis zur Aufklärung philosophisch? In welche Formen kleidete sich das philosophische Denken der „kleinbürgerlichen", plebejischen und vorproletarischen Schichten? Welche internationalen Einflüsse und Verbindungen sind dabei nachweisbar? Wie mündete all dies in den Strom der Weltphilosophie ein? Das sind einige Fragen, die in dieser Arbeit untersucht werden. Die philosophische Leistung einer großen Persönlichkeit oder einer Richtung muß letztlich im eigenen nationalen Boden wurzeln, hier entsprechende ideologische bzw. philosophisch-geistige Voraussetzungen vorfinden. Diesen Voraussetzungen soll in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden. Natürlich läßt sich Philosophie in Deutschland nicht von der geistigen Entwicklung in anderen Ländern Europas trennen. Schon im 16. Jh. beginnt die Zeit des Reisens, der Kavalierstouren; jahrhundertelang gab es einen persönlichen Austausch zwischen Gelehrten verschiedenster Länder, dessen Intensität uns heute in Staunen versetzt. Diese Aufenthalte und Kontakte beeinflussen entweder die Philosophie des Gastlandes, oder es werden Ideen des Gastlandes in spezifischer Weise rezipiert. Häufig wird die Entwicklung der progressiven Philosophie in Deutschland vom 16. Jh. bis auf Kant ausschließlich oder fast ausschließlich auf Einflüsse von Descartes, Locke, Gassendi, Spinoza u. a. reduziert. Lediglich Leibniz wird noch Wirkung zugestanden. Natürlich haben gerade die großen philosophischen Systeme des 17. Jh. Deutschland beeinflußt. Aber den Einfluß zu verabsolutieren hieße, die Philosophie in Deutschland zwischen 1550 und 1650 ausschließlich als epigonal zu charakterisieren, und das ist sie keinesfalls. Schon H. Heine hat das unter Berufung auf Martin Luther und die von seiner Reformation ausgehenden philosophischen Impulse entschieden betont. Die Rezeption westeuropäischer Ideen konnte zudem nur erfolgen, weil die Bedingungen dafür in Deutschland vorhanden waren. Gleichzeitig entstehen auf deutschem Boden eigenständige philosophische Ideen und Systeme. Auch das wird in den folgenden Kapiteln zu belegen versucht. 11

Vgl. J . d'Hondt, Verborgene Quellen des Hegeischen Denkens, Berlin 1972; 2. Aufl., Berlin 1983.

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Vieles von mir Dargestellte tangiert den Bereich der Kirchengeschichte. Zwischen 1550 und 1650 gibt es nun einmal noch keine Trennung von Profanund Kirchengeschichte, und das betrifft auch die Philosophie. Wer die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte scheut, wird für diese Zeit — und das. gilt für Deutschland bis weit in die klassische Philosophie, ja, über Strauß, Feuerbach und B. Bauer bis zu den kritischen Auseinandersetzungen des jungen Marx — kein akzeptables philosophiehistorisches Konzept zustande bringen. Für Arbeiten, die alles in der vulgärmarxistischen Manier Borkenaus aus der Sozialökonomie ableiten, etwa die „Konkurrenz der vielen Religionen" im 16. und 17. Jh. nur als einen „ideologischen Reflex der Konkurrenz der vielen nationalen Handelskapitalien" begreifen12, läßt sich nur mit Juvenal achselzuckend konstatieren: „Difficile est satiram non scribere". Der protestantische Kirchenhistoriker Winfried Zeller faßt Kirchengeschichte ausschließlich als theologisches Problem.13 Er verschließt sich damit von vornherein Einsichten und Ergebnissen, die nicht nur im Bereich der protestantischen Kirchen, sondern auch im katholischen Lager diskutiert werden.14 Trotz seiner nicht haltbaren Grundprämisse gelangt Zeller zu wichtigen Ergebnissen. Auf sie stütze ich mich mit großem Gewinn, etwa was seine Forschungen zu Valentin Weigel angeht. Was für mein Verhältnis zu Zeller gilt, gilt für eine Vielzahl der von mir benutzten bürgerlichen Arbeiten, z. B. auch für Max Wundt, der trotz seiner ideologischen Nähe zum deutschen Faschismus zu wertvollen Einzelergebnissen gelangte. Und wenn die Philosophen für bestimmte Perioden bzw. Personen keine Ergebnisse vorgelegt haben, Theologen aber dafür um so mehr, so benutze ich selbstverständlich deren Ergebnisse. Gemeint sind die sorgfältigen Tatsachenforschungen der genannten Autoren, ihrer Darstellung der allgemeinen Zusammenhänge gegenüber befinde ich mich jedoch fast immer in entschiedenem Gegensatz. Es folgt dies aus dem notwendig und unvermeidlich parteilichen Charakter der philosophischen Forschung, den Lenin umfassend herausgearbeitet hat.15 Ernst Troeltsch unterscheidet drei Formen der „Selbstorganisation der christlich-religiösen Idee": Kirche, Sekte und Mystik.16 Dieser Gruppierung folge'kh nicht. „Sekte" ist abwertend. Auch Troeltschs Definitionen von Kirche und Mystik rufen Bedenken hervor. Tatsache ist, was Troeltsch betont, daß die Mystik sich mit der „Philosophie der Neuzeit" berührt, zu ihr hinführt. H. Bergmann/P. Rüben, Dialektik und Systemdenken in der französischen Aufklärung, in: H. Bergmann u. a.: Dialektik und Systemdenken. Historische Aspekte, Berlin 1977, S. 66. 13 Vgl. W. Zeller, Kirchengeschichte als theologisches Problem, in: ders., Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze, hg. von B. Jaspert, Bd. 1, Marburg 1971, S. 1 - 8 . 14 Vgl. Kirchengeschichte heute. Geschichtswissenschaft oder Theologie ? Hg. von R. Kottje, Trier 1970. Vgl. meine Rezension in: Deutsche Literaturzeitung, Berlin 92 (1971), Sp. 484-487. 15 Vgl. W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: LW, Bd. 14, Berlin 1962, S. 347. 16 E. Troeltsch, Epochen und Typen der Sozialphilosophie des Christentums, in: E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Tübingen 1925, S. 125-127.

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Tatsache ist, daß sich in „Sekten", in Sondergemeinschaften, vorwiegend Vertreter der unteren Gesellschaftsschichten sammelten. Von der Mystik und den „Sekten" gehen nächst Luther die größten Impulse für die Aushöhlung des Feudalsystems, d. h. seines Überbaus, und für die Herausbildung der neueren Philosophie aus. Deshalb zolle ich diesen Richtungen in Deutschland besondere Aufmerksamkeit. Dabei zielen diese oppositionellen Bewegungen — wie an einigen Beispielen ausführlich zu zeigen sein wird — auf Pantheismus. Pantheismus und von ihm abgeleitete oder teilweise mit ihm verbundene heterodoxe Mystik eignen sich als revolutionierendes Element für breitere Volksschichten. Im heterodoxen Neuplatonismus veranlaßt die Annahme der platonischen Weltseele jene Konzeption des Pantheismus, mit der philosophisch auf die Einheit der Welt und über die deificatio, die Gottwerdung des Menschen, auf radikale Veränderung der Gesellschaftsstruktur reflektiert wird. Natürlich steht die gesamte geistige und kulturelle Entwicklung großer Teile Europas und in erster Linie Deutschlands unter den positiven Folgen der deutschen Frühbürgerlichen Revolution, in der Martin Luther ein Ehrenplatz zukommt. Wenn dieser Aspekt meiner Darstellung nicht immer deutlich wird, so sei er doch nachdrücklich betont. In einigen Kapiteln wird Luthers nachhaltiger Einfluß explizit ausgewiesen (auf Andreae, Weigel, Böhme u. a.). Ein Desiderat ist auch in dieser Darstellung die Wirkung des späten Luther. In Geschichte und Gegenwart verbindet sich mit dem Begriff „Atheismus" unterschiedlicher Bedeutungsinhalt. Sokrates mußte nicht als a&eog, sondern wegen aasßeiix. den Schierlingsbecher trinken. „Mit der Überlieferung des .Falles' Sokrates wird Atheismus zu einem geläufigen Vorwurf gegen mehr oder minder weltanschaulich begründete Ansichten, denen gesellschaftliche Konsequenzen anhaften. Ein Schwerpunkt liegt stets in der Annahme, diese Ansichten wollten Politik, Sitte und Religion ändern . . . Atheist zu sein, kommt damit meist einer Beschuldigung gleich, die der Betroffene in der Regel von sich zu weisen sucht, da er sich anderenfalls freiwillig aus der staatlichen Gemeinschaft ausgeschlossen hätte." 17 Historisch wurden aber auch Positionen als atheistisch deklariert, die ausgesprochen idealistisch sind, so neben den scholastischen Auffassungen etwa die Lehre des Piaton oder der Neuplatonismus. Nun begegnet'im 16. und 17. Jh. der Vorwurf des Atheismus sehr häufig. Von einem Atheismus im modernen Sinne läßt sich hier aber zumeist nicht sprechen. Als „Atheist" wird der Andersgläubige verketzert. Da zudem im 16. und 17. Jh. die Moral weitgehend mit dem Staat verwoben ist — eine säkularisierte Ethik hat sich noch nicht von der christlichen eindeutig abgehoben —, gilt der „Andersgläubige" zugleich als sittenlos oder als Staatsfeind. Wir haben allerdings in der Mystik und anderen Bewegungen dieser Zeit (etwa im So17

H. Ley, Atheismus - Materialismus - Politik, Berlin 1978, S. 7-8. - F. Engels schreibt 1884 an E. Bernstein: „. . . daß Atheismus nur eine Negation ausdrückt, haben wir selbst schon vor 40 Jahren gegen die Philosophen gesagt, nur mit dem Zusatz, daß der Atheismus, als bloße Negation der Religion und stets sich auf Religion beziehend, ohne sie selbst nichts, und daher selbst noch eine Religion ist." (F. Engels, Brief an E. Bernstein vom Juli 1884, in: MEW, Bd. 36, Berlin 1967, S. 186.)

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zinianismus) zum Atheismus hinführende Bestrebungen. Sie sind in jedem Falle antikonfessionalistisch, was von atheistisch wohl zu unterscheiden ist. Allerdings gibt es im 16. und 17. Jh. eine Atheismus-Diskussion.18 Der offene Streit um den Atheismus entfaltete sich in Deutschland nach 1648 und erreicht zwischen 1670 und 1720 seinen Höhepunkt. Wohlgemerkt: die meisten der in dieser Zeit als Atheisten Verketzerten sind nur Vertreter eines anderen Glaubensbekenntnisses oder minder orthodoxe Vertreter der gleichen Konfession — höchstens Indifferentisten, Deisten und Naturalisten. Der Begriff „Atheist" wirkt also irreführend, wenn man dabei etwa heutige Maßstäbe anlegt. Bis ins 18. Jh. entwickelt sich der Klassenkampf unter religiösem Banner. Dabei werden unterschiedliche Funktionen progressiv oder orthodox genutzt, die in der Religion angelegt sind und die K. Marx so zusammenfaßt 19 : Auf der einen Seite Erzeugung eines falschen Weltbewußtseins (was m. E. auch progressiv genutzt werden kann — als Flucht aus der bestehenden Staatlichkeit) und repressive Funktion. Auf der anderen Seite Protestation gegen das wirkliche Elend und Tröstung über herz- und geistlose Zustände als Seufzer der bedrängten Kreatur (letzteres wieder kann auch reaktionär genutzt werden). Die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Bewußtsein spitzte sich, nach Engels, im Mittelalter — wir möchten meinen, auch später — dahin zu: „Hat Gott die Welt geschaffen, oder ist die Welt von Ewigkeit da?"20 Verständlich, daß somit das mehr oder weniger verschleierte Ablehnen der Schöpfung bereits ein geheimes Zeichen zur Unterscheidung der Richtungen war, selbst wenn diese sich völlig orthodox gaben. Dabei dürfte etwa den lateinischen Averroisten der Schule von Padua subjektiv nichts ferner gelegen haben als Atheismus. Man glaubte an Gott, aber es war nicht der orthodoxe Schöpfergott. Er war pantheistisch oder deistisch, oder er war der Gott Piatons, der keine Schöpfung aus dem Nichts kennt, sondern als Baumeister des Stoffs bedarf. Aber schon ein solcher Gott war geeignet, das traditionelle Dogma der herrschenden Kirche als der ideologisch-theoretischen Stütze der Feudalmacht zu unterhöhlen. Insofern bezeichnete frontales oder verstecktes Angehen gegen den Schöpf ergott, die Annahme neuplatonischer Ideen, einen Fortschritt. Zu beachten ist auch der Unterschied zwischen eigentlicher Religionskritik (Dogmen-, Theologie- und Bibelkritik), d. h. Lehrkritik, und Kirchenkritik (Antihierokratismus, Antihierarchismus und überhaupt Antiklerikalismus, Frontstellung gegen geistlichen Feudalismus, Kritik am Kirchenbegriff, an der Ekklesiologie), d. h. Institutionenkritik. Die Kirchenkritik war eine Form der Gesellschaftskritik und bestand vornehmlich aus Kleruskritik. Bei Reli18

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Vgl. E. H. Leube, Die Bekämpfung des Atheismus in der deutschen lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Gotha — Stuttgart, Bd. 43 N F 6 (1924) S. 2 2 7 - 2 4 4 ; H.-M. Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971. Vgl. K. Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, Berlin 1957, S. 378. F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, Berlin 1962, S. 275.

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gionskritik handelte es sich meist um Konfessionskritik: Sie richtete sich verbal nicht so sehr gegen die christliche Religion als solche wie gegen bestimmte christliche Konfessionen und Lehren. Religions- oder Kirchenkritik und Fortschrittlichkeit waren zudem nicht immer gleichbedeutend. Es gab orthodoxe Zeloten, die gegen Fürsten und Adlige eiferten und aristokratische Freigeister, die sich als Unterdrücker aufführten. Antiklerikalismus und Dogmenkritik waren schon in Renaissance und Reformation deshalb so ausgeprägt, weil sie sich gegen schwächere Kettenglieder des feudalen Herrschaftsgefüges richteten. Der direkte Angriff auf dessen Hauptbastion, auf die weltliche Fürsten- und Adelsherrschaft, war für Verfasser, Drucker und Verleger weit gefährlicher. Schließlich gilt für die von uns behandelte Zeit noch uneingeschränkt: „Es ist klar, daß . . . alle allgemein ausgesprochenen Angriffe auf den Feudalismus, vor allem Angriffe auf die Kirche, alle revolutionären, gesellschaftlichen und politischen Doktrinen zugleich und vorwiegend theologische Ketzereien sein mußten. Damit die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angetastet werden konnten, mußte ihnen der Heiligenschein abgestreift werden." 21 Und es ist Hermann Ley in folgender Behauptung gerade für das 16. und 17. J h . voll zuzustimmen: „Das relative Gefälle zwischen den verschiedenen Konfessionen, formierten und informellen Gruppen vermag nicht weniger, manchmal sogar stärker eruptiv gesellschaftlichen Progreß auszulösen als die hektische, atheistisch gemeinte Invektive." 2 2 Materialismus bedeutet stets Vorhandensein auch atheistischer Momente. „Atheistisch wirken dabei im Ansatz solche philosophischen und in der Forschung benötigten Sachverhalte wie: — Abbildung der begegnenden Wirklichkeit der Natur im Bewußtsein. — Auffindung von Strukturen, die im Gegensatz zu dem Erscheinungsbild der Erfahrung stehen und hinter die Erscheinungen weiterführen, ein für das Enträtseln sogenannter Wunder benötigter Vorgang . . . Allmähliches Fortschreiten wissenschaftlicher Erkenntnis, die den ständigen Widerspruch zu geoffenbarter Weisheit der Genesis in das allgemeine Bewußtsein einbringt. — Idee der Regelmäßigkeit und der Gesetzmäßigkeit von Naturerscheinungen, die keine Durchbrechung von Naturgesetzen zuläßt. — Einbeziehen von Unstimmigkeiten in die Gesetzmäßigkeit natürlichen und später gesellschaftlichen Geschehens, da ein Abweichen von 51 22

F . Engels, Der deutsche Bauernkrieg, i n : M E W , B d . 7, Berlin 1960, S. 3 4 3 - 3 4 4 H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, B d . 3/1, Berlin 1978, S. 7. — K a r l Mannheim meinte einmal, wenn der Protestantismus atheistisch werde, habe er die Tendenz zum Pantheismus. Werde der Katholizismus atheistisch, so entsteht Materialismus. (K. Mannheim, Wissenssoziologie, Berlin [West] — Neuwied 1964, S. 462.) Das wäre in bezug auf den Protestantismus eine Fortführung der These L. Feuerbachs. Gegenbeispiele dafür lassen sich leicht anführen. E s handelt sich um eine unzulässige Generalisierung. F . E n g e l s konstatiert übrigens noch für 1845: E s galten „in allen deutschen Staaten entweder die römisch-katholische oder die protestantische Religion oder beide als wesentlicher Bestandteil des im Lande herrschenden Rechts. Und ebenso bildete in allen diesen Staaten der Klerus der anerkannten Konfession oder Konfessionen einen anerkannten Bestandteil des bürokratischen Regierungsapparates. E i n Angriff auf die protestantische oder katholische Orthodoxie . . . bedeutete also einen versteckten Angriff auf die Regierung selbst." (F. Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, i n : M E W , B d . 8, Berlin 1960, S. 26.) Wieviel mehr gilt dies für die von uns behandelte Zeit!

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der erwarteten strengen Determination die Quelle .wunderbarer' Erscheinungen zu sein pflegt. — Das Behaupten umgekehrt strenger Determination in allen Erscheinungen, weil ein Abgehen von dem Gewohnten als Quelle der Bekräftigung von Religion und damit des Übernatürlichen angesehen wird.— Versuchter Nachweis von Veränderungen der Erde, des Himmels, der Tiere und der Pflanzen, da sie gegen einen einmaligen Schöpfungsakt sprechen." 23 Es ist zwischen 1550 und 1650 eine Hinführung zum Materialismus zu konstatieren, kein ausgebildeter Materialismus oder Atheismus. Zudem wirkt Antikonfessionalismus letztlich atheistisch bzw. aufklärerisch. Es wäre unschwer anzugeben, was in dieser Arbeit alles fehlt. Wahrscheinlich ist die souveräne Darstellung eines solchen großen Zeitabschnitts der Philosophiegeschichte ein Lebenswerk. Nun gibt es aber meines Wissens bisher keine zusammenfassende Arbeit über die Philosophie in Deutschland zwischen 1550 und 1650. Im bürgerlichen Bereich ist, vor allem seit dem Ende des zweiten Weltkrieges, allerdings eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen erschienen. Sie kamen vorrangig aus dem Bestreben, eine lineare Beziehung zwischen Luther und der klassischen deutschen Philosophie zu konstatieren. Zuweilen soll auch die Theologie aufgewertet werden. Zwar leugne ich keineswegs, daß eine philosophische Linie von der Reformation in die klassische deutsche Philosophie führt. Aber in ihr gibt es neben Kontinuität auch Diskontinuität. Vergißt man das, wird man der Wahrheit nicht gerecht. Viele Fakten mußten erst aufgearbeitet werden, denn es läßt sich schwer über geistige Prozesse schreiben, wie sie sich etwa in der Schulmetaphysik der ersten Hälfte des 17. Jh. vollziehen, wenn die Tatsachen weitgehend unbekannt sind. Möglicherweise bin ich auch gelegentlich der Gefahr erlegen, besonders das breiter auszuführen, was meine Konzeption stärkt, mir neu erscheint usw. Aber dieses subjektive Element bleibt wohl nie aus. Das Referieren von Auffassungen erscheint mir auch angesichts der Tatsache gerechtfertigt, daß prominente deutsche bürgerliche Philosophiegeschichten, von ausländischen ganz zu schweigen, die Zeit von 1550 bis 1650 in Deutschland zumeist sehr global abtun. Darauf wird in den einzelnen Kapiteln an Beispielen verwiesen werden — auch auf erfreuliche Ausnahmen und deren ideologische Tendenz. Ich habe versucht, die vorhandene bzw. mir zugängliche Literatur aufzuarbeiten, wobei die Fülle der vorhandenen Quellen und auch der Sekundärliteratur stellenweise ein Referieren erforderlich machte. Deutlich wurde mir im Fortgang meiner Arbeit, daß in der marxistischen Philosophie zu solchen Grundströmungen wie Aristotelismus, Neuplatonismus, Neustoizismus, Neuscholastik, ihren unterschiedlichen Ausprägungen und ihren Verhältnissen zueinander noch wichtige Forschungsarbeit zu leisten ist. Ich sah mich nicht imstande, diese Lücke so zu schließen, wie ich es wohl gewünscht hätte. Die ausführliche Bezugnahme auf die Entwicklung der Wissenschaften, vor allem der Naturwissenschaften, in dem von mir behandelten Zeitraum (vgl. bes. Kap. II) halte ich für unumgänglich. Wissenschaftsund Philosophiegeschichte sind nur in ihrer wechselseitigen Durchdringung voll verständlich. Mag sein, daß mir die Darstellung ihrer engen Wechselwir23

H, L e y , Atheismus — Materialismus — Politik, a. a. O., S. 84—85.

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kung nicht immer gelungen ist, daß gelegentlich das Faktum die Darstellung des Zusammenhangs überwuchert. Aber wenn der Zusammenhang zwischen philosophischer und wissenschaftlicher Entwicklung in dieser Zeit überhaupt deutlich wird, ist schon viel erreicht. Zudem ist die Leistung der Wissenschaften in Deutschland in dem von mir behandelten Zeitraum zumindest ebenso unterschätzt worden wie die der Philosophie. Die vielen Zitate aus Quellen in zahlreichen Bibliotheken mögen nicht immer ohne Fehler und Ungenauigkeiten sein. Ich habe mich dabei auf meine über Jahre zusammengetragenen Exzerpte und Notizen verlassen müssen und bin auf die Nachsicht des Lesers angewiesen. Die vorliegende Arbeit ist das Produkt mehr als zehnjähriger Bemühungen, wobei die Alltagszwänge, die spezifischen Forschungsanliegen einer Technischen Universität u. a., immer erneute Unterbrechungen hervorriefen. Daß diese Arbeit überhaupt vollendet wurde, verdanke ich einer Reihe von Personen und Umständen. Vertreter verschiedenster Disziplinen haben mich immer wieder zu ihrer Fertigstellung ermuntert. Das gilt in besonderem Maße für Helga E. Hörz und Herbert Hörz (Berlin), die stets ein offenes Ohr für meine Probleme hatten und mir halfen, wo sie nur irgend konnten. Die Sächsische Landesbibliothek Dresden und ihr Direktor, Prof. Dr. sc. B. Burgemeister, haben mir , jede nur mögliche Unterstützung gewährt und meine nicht immer im Bereich des Normalen liegenden Bücher- und Bibliographiewünsche zu erfüllen gesucht. Mit wahrhaft unermüdlicher Akribie hat mir Herr Christian Zühlke bei der Vorbereitung und Durchsicht des Manuskripts und bei der Fertigstellung des wissenschaftlichen Apparates geholfen. Die Erarbeitung des Literaturverzeichnisses und des Personenregisters lag weitgehend in seiner Hand. Ich bin ihm für die vieljährige, ununterbrochene Hilfsbereitschaft zu großem Dank verpflichtet. Von vielen Kollegen habe ich mancherlei Anregungen erhalten, besonders von Prof. Dr. sc. phil. Gerhard Brendler (Berlin) und Frau Dr. Elisabeth Lea (Leipzig). Dem Akademie-Verlag bin ich für sein Verständnis bei der langwierigen und schwierigen Erarbeitung dieses Buches und seine Bereitschaft, immer wieder Kraft in seine Verbesserung zu investieren, verpflichtet. Besonderer Dank gebührt dabei dem Lektor Klaus Wolfram, der auch das Sachregister erarbeitet hat. Der Verlag hat es überdies in dem sehr aufwendigen Herstellungsprozeß ermöglicht, eine ganze Reihe später erschienener Literatur sowie nachträglicher Wertungen und Bemerkungen in das Buch aufzunehmen. Bibliotheken und Archive — einige sind in den Anmerkungen angeführt — stellten mir bereitwillig Material zur Verfügung. Ihnen allen danke ich — und nicht zuletzt meiner Frau Edith für ihr Verständnis und ihre Selbstlosigkeit, mit der sie mich immer wieder unterstützt hat. Dresden, im März 1983

Siegfried Wollgast

S i glenVerzeichnis

ADB

Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 1—55, Leipzig 1875—1910.

BSS

Jakob Böhme, Sämtliche Schriften. Theosophia revelata oder: Alle Göttliche Schriften, Bd. 1—11. Faks. —Neudr. d. Ausg. v. 1730, neu hg. v. Will-Erich Peuckert, Stuttgart 1942-1961.

BSW

Jakob Böhme, Sämmtliche Werke. Hg. v. K. W. Schiebler, Bd. 1 - 7 , Leipzig 1831-1847. (Reprint 1922.)

DZfPh

Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 1953 ff.

HP

Valentin Weigel, Handschriftliche Predigtensammlung (1573—1574), i n : Valentin Weigel, Sämtliche Schriften. Hg. v. Will-Erich Peuckert u. Winfried Zeller, Lfg. 6 - 7 , Stuttgart - Bad Cannstatt 1977-1978.

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Valentin Weigel, Kirchen-Oder Hauspostill. . ., Newenstatt 1617.

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W. I. Lenin, Werke, Bd. 1 - 4 0 , Berlin 1955-1971.

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Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 1 - 4 2 , Berlin 1956-1983.

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WA

Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1—61, Weimar 1883-1983.

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Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, Bd. 1 - 1 8 , Weimar 1930-1985.

WAT

Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Tischreden, Bd. 1—6, Weimar 1912-1921.

ZfG

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin 1952 ff.

ERSTES KAPITEL

Deutschland in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

I m ausgehenden Mittelalter hatte die Umgestaltung der sozialen Beziehungen der europäischen Menschheit im Italien der Renaissance zu einem letzten kulturellen Höhepunkt im Rahmen des tradierten politischen und ideologischen Gesellschaftsaufbaus geführt. Doch die Kultur der Renaissance war vor allem Kultur der feudalen Oberschichten. Anfang des 16. Jahrhunderts zeigte sich der Niedergang der Feudalordnung in politischen und ideologischen Kämpfen aller großen gesellschaftlichen Interessengruppen. Dieser allgemeinen Krise gab zuerst in Deutschland die lutherische Reformation Bewußtsein, Form und Gegenstand. Was als gesamtnationale Bewegung in Deutschland begonnen hatte, erfuhr bald eine vielfältige Differenzierung und zunehmende Verflechtung in die territoriale und europäische Politik jener Zeit. Nach der deutschen Frühbürgerlichen Revolution erreichten die inneren Auseinandersetzungen der europäischen Gesellschaften ihren politisch sichtbaren Höhepunkt in den bürgerlichen Revolutionen der Niederlande und Englands. Die Revolutionsarmeen setzen sich aus Bauern, „Kleinbürgern" und plebejischen Elementen der Städte zusammen und bieten das Bild eines Bürgerkrieges. Was als religiöse Bewegung in Deutschland begonnen hatte, entwickelte sich zu einer gesamteuropäischen politischen und gesellschaftlichen Umgestaltung, die eine historische Epoche ausfüllte. Nach 150 Jahren Krieg und Bürgerkrieg treten um die Mitte des 17. Jh. die Konturen des europäischen Staatensystems und das Bild der bürgerlichen Produktionsweise hervor, die die weitere Entwicklung der Neuzeit bestimmen. Mitte des 16. Jh. beginnt die Manufakturperiode der industriellen E n t wicklung. 1 Marx hat die Spezifik ihrer Gesetzmäßigkeiten vor allem im Übergewicht des Handelskapitals gesehen, das damals die industrielle Hegemonie eines Landes sichert. Dabei tritt das Handelskapital zu dieser Zeit nicht als „Kapital in einer besondren Funktion" auf, wie in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, sondern existiert noch als „Kapital schlechthin", dessen selbständige Entwicklung „im umgekehrten Verhältnis zur allgemeinen ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft" 2 steht. Freilich wirkte das Handelskapital damals nicht nur ausschließlich in der Zirkulationssphäre. In 1 K. Marx, Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 356. 2 K. Marx, Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, Berlin 1969, S. 3 3 9 - 3 4 0 . Vgl. dazu: Das Handelskapital. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1980, S. 11—28.

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den verschiedensten Formen bemächtigte es sich der Produktion: als Fürkäufer und Verleger, Händler und Unternehmer, die verschiedene Manufakturen — meist heterogene — gründeten, um sich mit Waren zu versorgen, nach denen erhöhte Nachfrage bestand, oder um über den üblichen Handelsgewinn hinaus noch einen zusätzlichen Profit einzustreichen usw. Der Weg führte vom Handel — und in seinem Interesse — zur Produktion und nicht umgekehrt wie beim industriellen Kapital. Dementsprechend hatte auch nicht „der Industrielle", sondern der Kaufmann den Vorrang. 3 Im Manufakturstadium ist der Sieg der bürgerlichen Entwicklung nur lokal gesichert, im Maßstab einzelner Länder, nicht aber gesamteuropäisch oder im Weltmaßstab. Selbst diese Erfolge werden nur dadurch erreicht, daß die betreffenden Länder anfangs gesamtkontinentale Ressourcen ausnutzen; später werden sie auf Kosten kolonialer Ausbeutung neuentdeckter Länder erzielt. Notwendig entsteht für die sich kapitalistisch entwickelnden Länder daraus ein Kampf um die Herrschaft auf dem sich herausbildenden Weltmarkt. Nur diese sichert ihnen ein die anderen europäischen Staaten überflügelndes Tempo und Niveau der bürgerlichen Entwicklung wie auch eine (zeitweilige) industrielle Überlegenheit. Die großenteils Ende des 15. bzw. bis zur Mitte des 16. Jh. gemachten geographischen Entdeckungen und neuen technischen Erfindungen trugen ihre Früchte erst im 17. Jh., jedoch hatten Spanien, Portugal, die Niederlande und England bereits ein System von Kolonien ausgebaut, der Handel war zum Welthandel geworden: „Welthandel und Weltmarkt eröffnen im 16. Jahrhundert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals." 4 Die Bedürfnisse des Kolonialmarktes stimulierten die Manufakturproduktion, die mit der Handwerksproduktion konkurriert und sie an bestimmten Orten bereits übertrifft. In England bilden sich im 16. Jh. mehr und mehr kapitalistische Verhältnisse in der Landwirtschaft heraus. 5 Spanien und Portugal treten Ende des 16. Jh. politisch bereits in den Hintergrund, obwohl durch den Anschluß Portugals an Spanien (1580) faktisch die ganze „Neue Welt" unter spanische Herrschaft kam. Niemals seit den Tagen des alten Rom hatte ein europäischer Herrscher so gewaltige und ausgedehnte Unternehmungen durchgeführt wie Philipp II. von Spanien. Aber der äußere Glanz Spaniens kontrastierte mit innerer Morschheit. Den entscheidenden Schlag gegen das feudalklerikale Spanien brachte die niederländische bürgerliche Revolution (1566— 1609). In England führte die schnelle Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse Mitte des 17. Jh. zur bürgerlichen Revolution (1642—1660). In der zweiten Hälfte des 17. Jh. wird England, nachdem es Spanien und auch Holland niedergerungen hat, zur Herrscherin der Meere. Gleichzeitig verstärkt sich auf dem Kontinent die Macht Frankreichs; der zentralisierte Absolutismus bricht den Widerstand der großen Feudalherren und ihre Macht. In Osteuropa erstarkt der Moskauer Staat. 6

3 Ebenda, S. 348. < K. Marx, Das Kapital, Erster Band, in: MEW, Bd. 23, a. a. O., S. 161. 5 Ebenda, S. 741-791. 6 Vgl. E . Donnert, Rußland an der Schwelle der Neuzeit. Der Moskauer Staat im

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In Deutschland hatte Martin Luther 1517 mit seinen 95 Thesen gegen den päpstlichen Ablaßhandel die Reformation ausgelöst, die zur Spaltung der christlichen Papstkirche führte. Aber sie spaltete nicht nur die Institution der Kirche, die die beherrschende öffentliche Instanz der Gesellschaft war, sie verlieh auch den sozialen Interessengegensätzen der Zeit schärferen Ausdruck. Die ideologische Durchschlagskraft der religiösen Emanzipation ermöglichte, daß die wirtschaftliche Bedrückung der deutschen Bauern zu politischem Handeln von noch nicht dagewesener Energie führte. Im Deutschen Bauernkrieg gerieten 1524/26 große Teile der deutschen Bauern in revolutionäre Bewegung und versuchten, unter den Losungsworten der Reformation ihre ökonomischen Interessen gegenüber den Feudalherren zur Geltung zu bringen. Die Bewegung der Bauern trieb über ihren bäuerlichen Charakter hinaus und zog sowohl plebejische Elemente der Städte als auch geistliche und adlige Führerpersönlichkeiten an. Nach der Niederschlagung des deutschen Bauernkrieges setzten sich in der vielschichtigen reformatorischen Bewegung jene städtebürgerlichen, frühkapitalistischen und adligen Kreise durch, die sich auf die Zusammenarbeit mit den Landesfürsten und den städtischen Obrigkeiten orientierten. Sehr schnell wurden nun die Schweiz, die Niederlande, dann England zum Ort der Fortführung und Vertiefung der reformatorischen Bewegung. Ihre Träger waren innerhalb dieser ökonomisch entwickeltsten Länder überall „gerade die damals ökonomisch aufsteigenden .bürgerlichen' Mittelklassen" 7 . Dem deutschen Luthertum folgte dort der Genfer Calvinismus als führende refonnatorische Ideologie. Es ist kein Zufall, daß der Calvinismus gerade in den Gebieten zur herrschenden Ideologie wurde, in denen die Produktionsfaktoren des Kapitalismus bereits diejenigen an Bedeutung überragten, die die feudale Basis reproduzierten. Das gilt im 16. Jh. vor allem für die Niederlande und später für England.8 Der Calvinismus konnte sich in der Regel dort, wo

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16. Jahrhundert, Berlin 1972; R. T. Davies, Spaniens goldene Zeit 1501-1621 München — Berlin 1939. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I,Tübingen 1920, S. 20. — Bei allem Streit um seine allgemeinen Schlußfolgerungen hat sich Weber bei der konkreten Erforschung dieses Prozesses große Verdienste erworben. Bedenkenswert erscheint die Feststellung E. Engelbergs: „Der Zusammenhang zwischen der frühbürgerlichen Revolution und der Entwicklung des Verlags- und Manufakturkapitalismus ist noch wenig erforscht. Tatsache ist aber, daß er sich in breiter Front erst nach der frühbürgerlichen Revolution mit ihren mannigfachen direkten und indirekten Auswirkungen entfaltete. Die eigentliche Manufakturperiode . . . setzte erst nach der frühbürgerlichen Revolution ein. E s darf also die symbolbildende Kraft der ursprünglich lutherischen Ideologie und ihrer Weiterführung durch Calvin, überhaupt der frühbürgerlichen Revolution nicht übersehen werden." (E. Engelberg, Zu methodologischen Problemen der Periodisierung, in: E. Engelberg, Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft. Gesammelte Aufsätze, hg. von W. Küttler u. G. Seeber, Berlin 1980, S. 145-146.) Vgl. zur Manufakturentwicklung in Deutschland und zu ihrem regional unterschiedlichen Stand u. a.: H. Krüger, Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen, Berlin 1958; R. Forberger, Die Manufaktur in Sachsen. Vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1958; G. Slawinger, Die Manufaktur in Kurbayern, München 1966.

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starke kapitalistische Elemente vorhanden waren, mehr als in seinem Ursprungsort zur eigentlichen Ideologie der Manufakturperiode, d. h. ihrer ersten frühmanufakturellen Phase, weiterentwickeln. Dies gilt besonders für die calvinistische Prädestinationslehre. In ihrer entwickelteren Form negierte sie in ihrem klassenmäßigen Inhalt die Feudalordnung. Alle Privilegien und Monopole der Feudalgesellschaften konnten im Gegensatz zum beruflichen Erfolg im Sinne des Kapitalismus nach dieser Doktrin nicht gewährleisten, von Gott auserwählt zu sein. (In dieser Form findet sich die Prädestinationslehre noch nicht bei Calvin selbst, sondern erst bei seinen Schülern und Nachfolgern, etwa bei John Knox in Schottland.) Der bürgerliche Handelsherr und der bürgerliche Manufakturunternehmer, der sein Vermögen ständig vermehren mußte, fühlte sich von einer Lehre angezogen, die, anders als die katholische Kirche, seine Art des Erwerbs nicht diffamierte, sondern „heiligte". Anders als das Luthertum durchbrach der Calvinismus auch die allgemeine Gehorsamspflicht gegenüber dem Staat und begrenzte sie auf die Gebiete, wo dem göttlichen Gebot, wie der Calvinismus es verstand, Folge geleistet wurde. Die Grenze des Gehorsams der Untertanen war erreicht, wenn die Obrigkeit „widergöttlich" handelte und den Fortschritten der Herrschaft Gottes durch die „Auserwählten" entgegentrat. Aus Calvins „Institutio religionis christianae" (1536) geht hervor, daß dem Fürsten dann — aber auch nur in diesem Fall — der Gehorsam verweigert werden darf, wenn er sich gegen Gott erhebt. In der niederländischen Revolution tritt der Calvinismus zum ersten Mal als ideologisches Banner in einem gesamtstaatlichen Bürgerkrieg auf. Damit war eine neue Etappe der Klassenauseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Feudalklasse erreicht. Bei Auslösung der Revolution spielte die katholische Gegenreformation als Antwort des Feudalismus auf die Entwicklung des Kapitalismus, als Versuch, die Erfolge der Lutherischen Reformation zunichte zu machen, eine wesentliche Rolle. Die weitere Herausbildung des Kapitalismus erforderte eine neue Moral, die sich auch in einer neuen Arbeitsdisziplin niederschlagen mußte. Die traditionalistische Auffassungsweise der Erwerbstätigkeit, wie sie die katholische Kirche vertrat und im allgemeinen Selbstverständnis befestigt hatte, betrachtete die Berufsarbeit als ein Mittel zum Unterhaltszweck, nicht als Selbstzweck. Luther hatte aber an die Stelle der katholischen Werkheiligkeit zusammen mit dem sola-fide-Gedanken den weltlichen Beruf gesetzt, in dem sich der Mensch vor seinem Gott zu bewähren habe. Der Calvinismus verschärfte die lutherische Rechtfertigungsauffassung in seiner Prädestinationslehre zur strengen Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens in der Berufstätigkeit. Allein durch die ökonomisch meßbaren Erfolge seines Erwerbslebens kann der Gläubige nun vor seinem Gott bestehen. Der weltliche Gütergenuß, die Konsumtion, wird in dieser Theologie eingeschränkt, der Gütererwerb aber schrankenlos gerechtfertigt, „das äußere Ergebnis [ist] naheliegend: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang."9 Im Laufe der Zeit entwickelt sich mit 9

M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist desKapitalismus, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, a. a. O., S. 192. — E s wäre übrigens

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dem Bewährungsgedanken die mit dem Calvinismus erst zu konsequenter Strenge ausgeprägte „innerweltliche Askese". „Der Calvinismus ist zunächst die Konfession nichtkapitalistischer Gruppen, die auf den kapitalistischen Zersetzungsprozeß mit einer Anpassungsbewegung reagieren. Sie . . . sind . . . ein Konglomerat verschiedenartigster Schichten, die durch die gleiche Entwicklungstendenz zusammengeführt werden und sich im Laufe der Entwicklung immer mehr angleichen, nämlich immer mehr verbürgerlichen." 10 In Deutschland wurden calvinistisch: 1563 die Kurpfalz, 1581 Bremen, 1596 Anhalt, 1599 Baden-Durlach, 1602 Lippe, 1605 Hessen-Kassel, 1613 Brandenburg sowie kleinere Gebiete. In der deutschen Geschichte setzt mit der Niederlage der revolutionären Bauern 1525—1526 sukzessiv eine neue Periode ein. Es gibt zunächst noch eine starke volksreformatorische Bewegung, die sich u. a. in der Täuferbewegung, den Ereignissen in Lübeck um Jürgen Wullenweber und im Täuferreich von Münster 11 äußert. Auch breitete sich nach 1525 bis in die dreißiger Jahre hinein vornehmlich in Nordwest- und Norddeutschland eine von den Fürsten unabhängige stadtbürgerliche Reformation aus. In Oberdeutschland bzw. der Schweiz gehört dazu die Bewegung Zwingiis ab 1523. Die radikal-bürgerlichen und plebejischen Oppositionsbewegungen bestehen danach zwar weiter, aber sie sind eine Opposition unter den Bedingungen der fortbestehenden Feudalgesellschaft. Unter diesen Bedingungen bilden sich neue kulturelle Formen der Klassenauseinandersetzung heraus. Sie äußern sich u. a. in Ablehnung jeglicher Obrigkeit, in Hohn und bitterem Spott gegenüber dem neuen Landeskirchentum der evangelischen Kirchen, in Mißachtung von Predigt und Sakramentsempfang, in der Pflege des universellen Toleranzgedankens. Diese Opposition ist zumeist unorganisiert, es ist oft der — nach innen gekehrte — Protest Einzelner. Daß die Ideologie der Ausgebeuteten und Unterdrückten auch Widerstand und Empörung atmet, bezeugen u. a. die Lieder aus dem oberösterreichischen Bauernaufstand von 1626. Gerade im • Volkslied läßt falsch, d e m Calvinismusbild Max Webers auch im einzelnen zu folgen. E r b e u r t e i l t den Calvinismus nach den Ergebnissen der D o r d r e c h t e r Synode (1619) u n d s p ä t e ren D o k u m e n t e n . Das h a t t e schon Troeltsch m o n i e r t . Der Calvinismus n a c h 1619 bzw. nach der Synode von W e s t m i n s t e r (1643) ist d u r c h a u s von kapitalistischen Schichten getragen, noch s t ä r k e r ist er allerdings feudal. 10 F. Borkenau, Der Übergang v o m feudalen zum bürgerlichen Weltbild. S t u d i e n zur Geschichte der Philosophie der M a n u f a k t u r p e r i o d e , a. a. O., S. 157. — Z u m Genf Calvins u n d zu J . Calvins W e l t a n s c h a u u n g vgl.: H. Ley, Geschichte der A u f klärung u n d des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 51—99; M. S t e i n m e t z , J o h a n n Calvin. Mensch — W e r k — W i r k u n g . Zum 400. T o d e s t a g a m 27. Mai 1964, i n : W e i t e Welt u n d breites Leben, Leipzig 1966, S. 251-264. 11 Vgl. G. Brendler, D a s Täuferreich zu Münster 1534/35, Berlin 1966. - Vgl. zur Gesamteinschätzung der S i t u a t i o n in Deutschland zwischen 1525 u n d 1648: G r u n d riß der deutschen Geschichte. Von den A n f ä n g e n der Geschichte des d e u t s c h e n Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der D e u t schen Demokratischen Republik. Klassenkampf — T r a d i t i o n — Sozialismus, 2 Berlin 1979, S. 159—174; Deutsche Geschichte, Bd. 3: Die E p o c h e des Übergangs v o m F e u dalismus zum K a p i t a l i s m u s von den siebziger J a h r e n des 15. J a h r h u n d e r t s bis 1789, Autorenkollektiv u. Ltg. von A. L a u b e u. G. Vogler, a. a. O., S. 239—325.

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sich die Anklage und Empörung der Bauern über die ungerechten sozialen Zustände gut ablesen. Wir kennen aus der 2. Hälfte des 16. und der 1. Hälfte des 17. Jh. Bänkellieder gegen Gutsherren und Reiche, Lieder der Dorfarmut, aber auch Lieder der unterdrückten und kämpfenden Handwerker und anderer gesellschaftlicher Schichten dieser Zeit. Besonders reichhaltig sind Bergmannslieder erhalten geblieben.12 Nach dem Ende der Frühbürgerlichen Revolution in Deutschland gab es nicht nur Misere, sondern auch Auflehnung, auch ideologischen und sozialen Fortschritt, der aber keine große geschichtliche Gestalt mehr gewinnt. E r stützt sich darauf, daß die Reformation als Kirchen- und als kulturelles Ereignis Bestand hatte und es der Gegenreformation trotz aller Anstrengungen nicht gelang, den status quo ante herzustellen. Die lutherische Landeskirche war zweifellos ein Fortschritt gegenüber der päpstlichen Universalkirche. Durch Melanchthon wurden die Lehren der lutherischen Reformation systematisiert. Es entstand ein großer Teil der Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche. In den vierziger Jahren des 16. Jh. wurde versucht, durch Religionsgespräche die Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten zu mildern oder gar auszugleichen. Durch die Reformation hatten die geistlichen Fürstentümer Deutschlands weitgehend an politischer Bedeutung eingebüßt; die größeren weltlichen Territorien hatten sich hingegen allmählich zu wirklichen Machtzentren entwickelt. Die Landesfürsten traten jedem politischen Zentralisierungsversuch im Reichsmaßstab entgegen. Die landesherrliche Gewalt war im Wachsen begriffen und setzte sich im Inneren der Territorien immer mehr über ständische Ansprüche hinweg. Die Ständeversammlung (Landtag) bestand in der Regel aus Repräsentanten der Geistlichkeit, des Adels und der Städte. Im Gegensatz zu den Vertretern des Stadtbürgertums mußte der Weg der Territorialfürsten zum Absolutismus über die Entmachtung der Ständeversammlungen führen. Der Ausbau der landesfürstlichen Administration geschah auf Kosten der ständischen Ämter, indem deren Zuständigkeitsbereich immer mehr eingeschränkt wurde. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Macht der Stände gegen deren erbitterten Widerstand immer mehr ausgehöhlt und abgebaut. Allerdings gelang den Territorialfürsten die Durchführung des Absolutismus oft nur auf zentraler Ebene. Auf der lokalen Ebene z. B. der Städte blieb die ständische Struktur weitgehend erhalten und die Machtausübung des Patriziats überwiegend unangetastet. Der Ausbau des fürstlichen Verwaltungsapparates, die Auseinandersetzung zwischen Fürsten und Ständen verlangten im 17. Jh. auf beiden Seiten qualifizierte Beamte, in der Regel Juristen. Dies eröffnete der bürgerlichen Gelehrtenschicht Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, sowohl im Dienst der Höfe als auch der Stände und Städte. Für die Beamtenlaufbahn wurden neben juristischen auch rhetorische Fähigkeiten als geeignet betrachtet. Die protestantischen Fürsten traten zugleich an die Spitze des landeskirchlichen Regiments. 12

Vgl. dazu W. Steinitz,-Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd. I, Berlin 1954, S. 2 5 - 3 9 ; W. O. Hüttel, Zur Geschichte des deutschen Volksliedes im siebzehnten Jahrhundert, Phil. Diss. der HumboldtUniversität zu Berlin, 1957, T. II, S. 208-229.

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Melanchthon hatte das neue gelehrte Unterrichtswesen des lutherischen Protestantismus organisiert. Als erste protestantische Universität wurde 1529 Marburg gegründet (kaiserlich privilegiert erst 1541). Ihre Ordnung folgte der Wittenbergs — als des Vorbildes aller protestantischen neuorganisierten bzw. neu gegründeten Universitäten. So wurden nach Wittenberger Vorbild Tübingen (1536) und Leipzig (1539) reorganisiert, es folgten Frankfurt/Oder und die 1544 eröffnete Universität Königsberg. Hinzu kam die faktische Neueröffnung von Greifswald (1539) und der Sieg der Reformation an der Universität Rostock (1546). Heidelberg wurde 1544-46 reformiert. Jena entstand 1558 als Abzweigung von Wittenberg völlig neu. Schließlich wurde 1576 noch die Universität Helmstedt gegründet. Die Anfang des 17. J h . gestifteten protestantischen Universitäten Gießen (1607), Rinteln (1621) und Altdorf (1622) sind aus Akademischen Gymnasien entstanden. Seit der zweiten Hälfte des 16. Jh. „wird Gymnasium neben Acadetnia, Lyceum nicht selten auch von der Universität gebraucht . . . Doch wird gymnasium auch jede Schule genannt, die einen vollständigen humanistischen Kursus, jedenfalls in den beiden [alten — S. W.] Sprachen gibt. Diejenigen Schulen, die. . . über die artes dicendi hinausgehen und auch den philosophischen Unterricht, vielleicht auch die Elemente der Fakultätswissenschaften hereinziehen, erhalten wohl noch ein schmückendes Beiwort g. academicum, illustre oder ähnlich. Fürsten- oder Landesschulen heißen Gelehrtenschulen, sofern sie von den Landesherrn für Landeszwecke errichtet werden, Klosterschulen werden dieselben Anstalten (z. B. in Württemberg) genannt, weil sie regelmäßig in Klöstern eingerichtet und mit deren Gut dotiert worden sind. Der Name Paedagogium bezeichnet ebenfalls eine vollständige Gelehrtenschule, in der Regel mit Alumnat. Die geringeren Schulen behalten den alten Namen schola particularis . . . oder trivialis (vom trivium). Da sie seit der Reformation regelmäßig unter städtischer Verwaltung stehen, so heißen sie auch Stadt- oder Ratsschulen, auch, im Unterschied von den allmählich entstehenden deutschen Schulen, Lateinschulen, große Stadtschule oder ähnlich." 13 Zu diesen Gelehrtenschulen gehörten im Albertinischen Sachsen Pforta, Meißen und Grimma (1543). Ihnen folgten viele andere, so das Paedagogium Erfurt (1561), die Landesschule Zerbst (1582), das Gymnasium zu Gotha, die Landesschule z;u Coburg (1605), die Landesschule zu Hanau (1607), die akademischen Gymnasien zu Herborn (1584) und Danzig (schon 1558). Welche Ergebnisse wurden erreicht? „Im Jahre 1604 bestanden im Herzogtum Württemberg (mit 160 Quadratmeilen) außer den Klosterschulen [Adelberg und Hirsau, erst 1715 kamen Denkendorf, Blaubeuren, Bebenhausen und Maulbronn hinzu — S. W.] und den beiden Pädagogien in Stuttgart und Tübingen 47 lateinische Schulen mit 47 Präzeptoren und 28 Kollaboratoren. Um 1590 wurden in denselben ungefähr 2400 Schüler gezählt." 14 Vgl. F . Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen Unterricht, 3. erw. Aufl., Leipzig 1919, S. 330—331; S. Wollgast, Zur Stellung des Gelehrten in Deutschland im 17. Jahrhundert, Berlin 1984 (Sitzungsber. d. Sachs. Akad. d. Wissensch, zu Leipzig, Phil.-hist. Kl. 125/2). « Ebenda, S. 311.

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Ähnliches gilt für andere Territorien. So ergibt sich zumindest für einige Territorien ein verhältnismäßig hoher Stand des Schulwesens. In Deutschland kämpften etwa ab 1536 nicht mehr antagonistische Klassen gegeneinander, sondern lediglich Fraktionen der herrschenden Feudalklasse. Die Yolksmassen waren nicht mehr primär handelndes Subjekt, und die Auseinandersetzungen, die nun ausgetragen wurden, „waren kein historischer Beitrag zur Herausbildung der deutschen Nation, sondern Machtkämpfe zwischen feudalherrlichen Kontrahenten und Koalitionen . '. . Die fraktionellen Gegensätze — bestehend im Widerspruch zwischen dem Partikularismus, ja Separatismus der deutschen Fürsten und den auf die Errichtung eines katholischen Universalstaates hinauslaufenden Bestrebungen des Kaisers — bildeten nunmehr den Hauptinhalt der Aktionen . . ." 1 5 Die breiteren Volksinteressen wurden dabei von keiner Seite verfochten. „Das Luthertum fand durch den Augsburger Religionsfrieden von 1555 reichsrechtliche Anerkennung. In der Abwehr der katholischen Gegenreformation und in Abgrenzung zum Kalvinismus verschanzte es sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hinter dem Buchstaben der lutherischen Lehren und bildete eine eigene Orthodoxie heraus." 16 Nach Luthers Tod (1546) und endgültig mit der Konkordienformel (1577) bildete sich der theologische und organisatorische Apparat der protestantischen Landeskirchen zu einer Orthodoxie um, die das Werk Luthers nur mehr von einer Verteidigungsposition aus gegenüber den weitergehenden Folgerungen festschreiben wollte, die andere Strömungen im deutschen Protestantismus daraus zogen. Die Theologie der führenden Universitäten Wittenberg, Jena und Leipzig erstarrte z.T. zu einem Formalismus der „reinen Lehre", die eine systematische Dogmatik in der logischen Schultradition der Scholastik aufbaute und sich in theologischen Fachstreitigkeiten mit dem Katholizismus, vor allem aber mit dem Calvinismus abarbeitete. Den Schulungsaufgaben des neuen Pfarrstandes, den die Landeskirchen aufbauen, ausbilden und kontrollieren mußten, war diese Theologie noch gewachsen, aber die selbständigen und tiefergehenden geistigen Strömungen der Zeit konnte sie nicht mehr aufnehmen, geschweige denn artikulieren. Die progressiven Geister traten in der Regel gegen diese lutherische Orthodoxie, gegen ihre verknöcherte Theologie und Philosophie auf. Man muß ihre Kampfstellung gegen die Orthodoxie immer von ihrer Stellung zu Luther unterscheiden. Alle fortschrittlichen Ideologen der nachreformatorischen Zeit gingen von Luther aus und sind ohne Luther nicht zu verstehen. Sie wuchsen über Luther hinaus, weil es die soziale und kulturelle Entwicklung tat, aber sie setzten sich damit nicht von dem Luther der Reformation ab, sondern von dem Luthertum der Orthodoxie. M. Steinmetz, Deutschland von 1476—1648. Von der frühbürgerlichen Revolution bis zum Westfälischen Frieden, 2. Überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1978, S. 215—216. — In der marxistischen Geschichtswissenschaft und Philosophiegeschichte gibt es bislang keine eindeutige Festlegung, was im Feudalismus unter dem Begriff „Volksmassen" zu fassen ist. Vgl. G. Brendler/W. Küttler, Volksmassen, Fortschritt und Klassenkampf im Feudalismus, in: ZfG, Berlin 26 (1978) S. 8 0 3 - 8 1 7 . 16 Thesen über Martin Luther. Zum 500. Geburtstag. Ausgearb. von e. Arbeitsgruppe unter Ltg. v. H. Bartel, Berlin 1981, S. 27.

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Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 erbrachte zwar die Anerkennung der Gleichberechtigung von Katholiken und Anhängern der „Confessio Augustana"17, Zwinglianer, Calvinisten und Täufer blieben aber von ihm ausgeschlossen. Er bildete ein Provisorium, die Säkularisationen wurden auf der Grundlage des Besitzstandes von 1552 anerkannt. Der Augsburger Religionsfrieden beendete zwar den Krieg, nicht aber den Streit der Fürsten um die geistlichen Besitzungen. Die staatliche Zersplitterung Deutschlands wurde durch die konfessionelle vertieft. Die deutsche politische Geschichte im 16. Jh. weist nach dem Augsburger Religionsfrieden keinerlei dramatische Höhepunkte mehr auf, an denen sie in der ersten Hälfte des 16. Jh. so reich war. Seit 1555 verläuft sie nur in dynastischen Aktionen: „Es ging um die Sicherung der Errungenschaften der Fürstenreformation, um Stabilisierung der territorialen Herrschaftsapparate, um Legitimierung der fürstlichen Libertät." Die konfessionellen Bekenntnisse hatten sich „aus ursprünglich weitgehend klassengebundenen Ideologien in immer stärkerem Maße zur Staatsdoktrin entwickelt. Sie stellten nach außen hin die Paniere für die staats- und machtpolitischen Auseinandersetzungen. . ."18 Diese Tatsache verhindert aber nicht, daß religiöse und konfessionelle Vorstellungen sich auch in dieser Zeit eigenständig weiterentwickeln, ebenso wirken die ideologischen Kämpfe auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurück. Die Herren der Landeskirchen, die jeweiligen Fürsten, wurden sich in der zweiten Hälfte des 16. Jh. immer mehr bewußt, daß die Kirche als institutionelle Stütze des Staates zu nutzen war. Ernst Walter Zeeden konstatiert: „Der Glaubensstreit, die ,spaltige Religion', und die Konfessionsbildung waren . . . ein politisches Faktum ersten Ranges. Kein Religionsgespräch, kein verbindliches Kirchengesetz, kein Konzil und kein Religionsfriede kam ohne die Beteiligung der weltlichen Machthaber zustande. Die Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und kirchlichen Instanzen variierten nach Konfession und Situation. In der Sache selbst war man sich einig: Die Kirche unter katholischem, lutherischem, calvinistischem oder sonstigem Vorzeichen zu reformieren gehörte nach dem Selbstverständnis der Zeit in den hoheitüchen Kompetenzbereich eines Regenten, desgleichen die Verfolgung und strafrechtliche Aburteilung derjenigen, die sich dem Landesbekenntnis nicht unterwarfen . . . Jedes Staatswesen steckte in kirchlichen Bindungen und betrachtete die christliche Religion als tragendes Fundament seiner Existenz."19 17

Vgl. den Text der Confessio Augustana, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 1930, S. 33—137. — Vgl. ferner P. Tschackert, Die Entstehung der lutherischen und der reformierten Kirchenlehre samt ihren innerprotestantischen Gegensätzen, Göttingen 1910. 18 G. Zschäbitz, Zur Problematik der sogenannten „zweiten Reformation" in Deutschland, in: Wiss. Z. der Karl-Marx-Universität Leipzig, ges.-sprachwiss. Rhe., Leipzig 14 (1965) S. 505. — Der Gang der historischen Ereignisse wird von uns relativ knapp und punktuell abgehandelt. Nach wie vor ist ein Standardwerk: M. Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555-1648), Bd. 1: (1555-1586), Stuttgart 1889; Bd. 2: (1586-1618), Stuttgart 1895; Bd. 3: Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart und Berlin 1908. 19 E. W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556—1648 (PropyläenGeschichte Europas Bd. 2), Frankfurt/M. - Berlin (West) - Wien 1977, S. 11. 3

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Einig im Ziel, die christliche Kirche strukturell und religiös zu erneuern, getragen von dem Bewußtsein, auf dem Boden des „exklusiv wahren Glaubens" zu stehen, bekämpften sich seit Mitte des 16. Jh. Katholiken und Calvinisten quer durch Europa. Das schloß nicht aus, daß sie sich mit kämpferischem Elan entsprechend der örtlichen Gegebenheiten auch gegen Lutheraner, Anglikaner und Vertreter von religiösen Sondergemeinschaften wandten. Andererseits verfolgten die Lutheraner und Anglikaner ihrerseits ebenfalls die Calvinisten und unterdrückten die in ihrem Machtbereich verbliebenen Katholiken. Vorwiegend aber standen sich in der Zeit von 1556—1648 Calvinisten und Katholiken gegenüber. Eben sie verliehen den Macht- und „Glaubens"kämpfen des Zeitalters einen überstaatlich-europäischen Charakter. „Weil der Religionsgegensatz bis in die politischen Entscheidungen hineinwirkte und gar nicht selten zum auslösenden Moment für Krieg und Aufruhr wurde, hat man sich daran gewöhnt, von einem Zeitalter der Glaubenskämpfe zu sprechen. Es war nahezu identisch mit der zweiten Phase der protestantischen Reformation, die durch Calvin europäische Ausmaße gewann, und lief zeitlich parallel mit der katholischen Konkurrenzreformation, die als ein vielschichtiger Vorgang von Verteidigung, Rückeroberung und innerer Erneuerung in Erscheinung trat. Dies alles bahnte sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts an." 2 0 Die katholische und protestantische Kirche ist mit der Einschätzung dieser Zeit noch immer nicht fertig. War sie eine „Zeit der Gegenreformation" (L. von Ranke), eine „Zeit der Glaubenskämpfe" (M. Ritter, E. W . Zeeden), ein „Zeitalter der katholischen Reform und der Gegenreformation" (H. Jedin) ? Mir scheinen diese Termini alle nicht treffend, weil sie — rein geistesgeschichtlich geprägt — nur an der ideologischen Erscheinung der sozialgeschichtlichen Entwicklung orientiert sind. U m 1556 gilt: „Sieht man von den geistlichen Fürstentümern und von kleinen Splittern ab, so waren im ganzen Reich von mächtigeren Städten Aachen und Köln, von weltlichen Fürstentümern außer Jülich-Cleve, in dem es aber längst gärte, nur noch Bayern und der Bereich der österreichischen Erblande äußerlich katholisch. Denn selbst in diesen weiten Gebieten von der oberen Donau bis tief ins Alpenland und von hier bis nach Böhmen und Mähren gab es eine, nicht einheitlich faßbare, aber an unzähligen Orten beobachtete protestantische Bewegung. Eine Zeitlang kam es hier sogar zu wirklichen, stellenweise schweren Kämpfen." 2 1 Bayern war der entscheiEbenda, S. 12—13. — Nach Grimm lassen sich die drei Begriffe „Counter-Reformation, Catholic Reaction and Catholic Reformation" synonym gebrauchen. Er konstatiert: „Among the positive forces which found expression in the Catholic Reformation (Grimm bevorzugt dieses Wort — S. W.) were (1) the persistence of a strong medieval piety, strengthened by a new mysticism and reverence for the traditions of the church; (2) Christian humanism, which generally remained loyal to Catholicism, despite its emphasis upon the value of pagan culture and philosophy; and (3) a revived scholasticism, purged of its late-medieval formalism and sharpened during the controversies with the Protestants." (H. J. Grimm, The Reformation Era 1500-1650, New York 1954, S. 266.) 21 K. Brandi, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, 3. Aufl., Leipzig 1941, S. 345-346.

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dende Damm gegen den Protestantismus. Das Herzogtum rundete in dieser Zeit sein Gebiet ab, „saugte" kleinere, bisher unabhängige und dazu weitgehend lutherisch gewordene Herrschaften auf. Nicht zuletzt kam es in Bayern dabei auch zu Säuberungsmaßnahmen und einer straffen äußeren und inneren Organisation der katholischen Kirche. Indem sich die politische Machtfrage der Frühbürgerlichen Revolution in Deutschland zugunsten der Territorialfürsten entschied, verminderte sich auch die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem sich im 16. Jh. rasch ausweitenden Weltmarkt. Die für die ökonomische Blüte Deutschlands zu Beginn dieses Jahrhunderts herausragenden Säulen der Wirtschaft — der Bergbau und das oberdeutsche Handelskapital — verloren um die Mitte des 16. Jh. an Bedeutung. In der Handelswelt finden wir gegen Ende des Jahrhunderts kaum noch einen jener bekannten Namen, die an seinem Beginn den Reichtum Deutschlands repräsentierten. Die Bildung kleiner und mittlerer Vermögen setzte sich zwar fort; sie vermochten das Gewerbeleben und den Handel mit nahen und ferneren Absatzgebieten zu fördern, waren aber in der Regel zu schwach, um im internationalen Fernhandel großen Stils und in Bankgeschäften europäischen Ausmaßes ins Gewicht zu fallen. Durch das Ansteigen der Silberproduktion in Südamerika verringerte sich allmählich die Bedeutung des Bergbaus in Europa. Allmählich versiegten auch die deutschen Erzlagerstätten. Zugleich riefen die europäischen Silberimporte eine Preisrevolution hervor. Sie belastete am stärksten die unteren Schichten der Stadtbevölkerung und die Bauern. In der Textilproduktion dagegen (z. B. in der Lausitz, in Sachsen, Schlesien und Westfalen) blühte die Leinenerzeugung auf. Neben der städtischen entstand im größeren Maße eine nicht durch Zunftschranken gehemmte ländliche Leinenweberei. Der Schwerpunkt des deutschen Wirtschaftslebens verschob sich im Laufe des 16. Jh. allmählich von Oberdeutschland in den sächsisch-thüringischen und den westfälischen Raum. Auch in der deutschen Wirtschaft des späten 16. Jh. fanden sich relativer Fortschritt. Stagnation und Rückfall nebeneinander. Die Folgen des Bauernkrieges waren eher gesellschaftspolitisch als ökonomisch negativ. Schon F. Engels stellte 1850 fest, daß sich die Lage der Bauern nach dem Bauernkrieg bis 1618 ökonomisch nicht wesentlich verschlechtert hat. 22 Die niederländische Revolution hatte wesentliche Auswirkungen auf Deutschland. 23 Während in der Zeit der Frühbürgerlichen Revolution, entsprechend der bis zum vierten Jahrzehnt des 16. Jh. anhaltenden ökonomischen Vormachtstellung Deutschlands, das deutsche Handelsbürgertum das niederländische Handelsbürgertum überragte, vor allem in der Beherrschung wichtiger Produktionszweige, wie des Bergbaus und des Hüttenwesens, 22 23

3*

Vgl. F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, a. a. O., S. 409—410; vgl. J . Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 1 : 1 6 0 0 - 1 6 5 0 , Berlin 1980, S. 5 5 - 6 9 . Vgl. G. Schilfert, Die Stellung der bürgerlichen Revolutionen des 16.—18. Jh. im. welthistorischen Prozeß u. deren Auswirkungen bes. auf Deutschland, Ms.druck, hg. als Arbeitsmaterial f. d. V. Historiker-Kongreß der DDR, Dresden 12.—15. Dezember 1972, Berlin 1972; G. Schilfert, Zur Geschichte der Auswirkungen der Niederländischen Revolution auf deutsche Territorien, in: ZfG, Berlin 23 (1975) S. 49—62.

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änderte sich das Verhältnis zunehmend im Laufe der zweiten Hälfte des 16. Jh. Das deutsche Handelsbürgertum büßte seit dieser Zeit mehr und mehr an Bedeutung ein (allerdings durchaus ungleichmäßig und mit erheblichen regionalen und örtlichen Unterschieden), das niederländische erwarb Weltgeltung. In den Niederlanden wurden nicht, wie vor allem bei der süddeutschen Handelsbourgeoisie, große frühkapitalistische Vermögen der geldlichen Unterstützung feudaler Staaten, besonders der Habsburger, und zunehmend auch der feudalen Konsumtion zugeführt, sondern sie dienten der Zirkulation bzw. der Schaffung von Verlags- und Manufakturunternehmungen, die vom Handelskapital abhängig waren. Es ist bezeichnend für diesen Wandel der Verhältnisse, daß nordniederländische Handelshäuser, die in der ersten Hälfte des 16. Jh. im Vergleich mit oberdeutschen, wie den Fuggern u. a., noch keine größere Bedeutung beanspruchen konnten, jetzt die Fugger, die vor allem durch das spanische Zahlungsunvermögen sehr geschwächt worden waren, weitgehend überflügelten. Nicht zufällig gewannen die niederländischen Firmen fast in eben dem Maße eine völlige ökonomische Unabhängigkeit, besonders von der spanischen Wirtschaft, als sich die Fugger zu ihrem Unheil in den finanziellen Niedergang Spaniens verstrickten (1575 kam es im Spanien Philipps II. zum Staatsbankrott). Der nationale und soziale Freiheitskampf der Niederländer fiel in eine Zeit, in der sich in Deutschland die feudale Konterrevolution, vor allem in Gestalt der „Gegenreformation", im Vormarsch befand und die revolutionäre Volksbewegung in den meisten Gebieten Deutschlands zurückgegangen war. Daher wirkte die niederländische Revolution nur mit verminderter Kraft in Deutschland in antifeudaler Richtung stimulierend. Das deutsche Bürgertum war, von Ausnahmen abgesehen, nicht imstande, sich gegen die zunehmende niederländische Wirtschaftsmacht zu behaupten, noch die revolutionären Handlungen der niederländischen Bourgeoisie richtig zu begreifen, geschweige denn, ihnen nachzueifern. Das entscheidende Hemmnis, das zur Verzögerung und Deformierung der gesellschaftlichen und manufakturmäßigen Arbeitsteilung im nationalen Rahmen Deutschlands führte, war die sich um diese Zeit vollziehende Konsolidierung der Territorialstaaten.24 Durch deren Autarkiepolitik wurde für einen zunehmenden Teil des Bürgertums der räumlich beengte, relativ kleinliche territorialstaatliche Rahmen zur Basis und häufig auch Grenze seiner Existenz, die zudem im Gefolge kriegerischer Auseinandersetzungen und Erbteilungen zwischen den Territorialfürsten sowie bei Wechsel der „Staatsreligion" in Gefahr geriet. Der zweite Faktor, der das deutsche Bürgertum bei der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte behinderte, war die mit 24

Vgl. H. Hoffmann/I. Mittenzwei, Die Stellung des Bürgertums in der deutschen Feudalgesellschaft von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1789, in: ZfG, Berlin 22 (1974) S. 1 9 0 - 2 0 7 ; I. Mittenzwei, Zur Klassenentwicklung des Handels- und Manufakturbürgertums in den deutschen Territorialstaaten, in: ZfG, Berlin 23 (1975) S. 179-190. Vgl. zum Forschungsstand: H. Eichler, Die Stellung des Bürgertums in der deutschen Feudalgesellschaft, in: ZfG, Berlin 22 (1974) S. 1109-1111; W. Küttler, Stadt und Bürgertum im Feudalismus. Zu theoretischen Problemen der Stadtgeschichtsforschung in der DDR, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus, Berlin 4 (1980) S. 75-112.

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dem Ausbau der territorialfürstlichen Macht einhergehende relative Einengung der Ware-Geld-Beziehungen der unmittelbaren Produzenten, besonders auf dem Lande, zugunsten des Adels. In der Landwirtschaft verknöcherten die feudalen Klassenbeziehungen zwischen Bauern und Adel. Die Fürsten hatten die „spolia opima" aus der Frühbürgerlichen Revolution erzielt.25 Ihr Streben nach Ausbau und Festigung der Landesherrschaft griff direkt ins Leben der ländlichen Bevölkerung ein und fand in der weiten Ausdehnung der sog. territorialen Leibeigenschaft seinen Ausdruck. Die alte Leibeigenschaft blieb daneben trotz ständiger Abschwächungen bestehen. Besonders östlich der Elbe, wo sich die Bauern mit geringen Ausnahmen 1525 nicht erhoben hatten, erzwang der niedere Adel im 16. Jh. eine neue Form der Leibeigenschaft sowie die Errichtung großer, vornehmlich für den Export produzierender adliger Eigenwirtschaften. Dabei eignete sich der Adel Schritt für Schritt selbst landesherrliche Rechte an. Es kam zur „zweiten Leibeigenschaft". Die Einengung des inneren Marktes im Zuge ihrer allgemeinen Durchsetzung traf auch die westlich der Elbe überwiegenden grundherrlichen Gebiete. In Ostelbien führte die Ausbildung der zweiten Leibeigenschaft zu einer Verschärfung des Klassenkampfes. Es gab in der Zeit zwischen Frühbürgerlicher Revolution und Dreißigjährigem Krieg eine Vielzahl von Unruhen, einzelnen Aufständen, Volksbewegungen unterschiedlichster Art, sowohl im städtischen als auch im ländlichen Bereich. Diese klassenkämpferischen Aktionen, in ihrer Gesamtheit gegen die Auswirkungen des Refeudalisierungsprozesses auf die Lage der Volksmassen gerichtet, blieben jedoch in der Regel lokal begrenzt und führten nur selten zu Teilerfolgen. In der Zeit zwischen Frühbürgerlicher Revolution und Dreißigjährigem Krieg waren kaum Bedingungen für ein wirksames Bündnis zwischen städtischen und bäuerlichen Schichten im antifeudalen Kampf gegeben. Die Rolle der Bauern in den Klassenauseinandersetzungen blieb auf den bäuerlichen Klassenkampf im engeren Sinne beschränkt. Der bäuerliche Widerstand verstärkte sich erneut in der zweiten Hälfte des 16. Jh. und erreichte einen Höhepunkt an der Wende vom 16. zum 17. Jh., als es zu einer ganzen Kette von Bauernaufständen im süddeutsch-alpenländischen Raum und in den Habsburgischen Erblanden kam. Es handelt sich in unserem Zeitraum über26

Vgl. F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, a. a. O., S. 411; Grundriß der deutschen Geschichte, a. a. O., S. 157. — Zum bäuerlichen Widerstand vgl.: H. Schultz, Bäuerlicher Klassenkampf und „zweite Leibeigenschaft". Einige Probleme des Kampfes in der Zeit zwischen frühbürgerlicher Revolution und Dreißigjährigem Krieg, in: Der Bauer im Klassenkampf. Studien zur Geschichte des Deutschen Bauernkrieges und der bäuerlichen Klassenkämpfe im Spätfeudalismus, hg. von G. Heitz, A.Laube, M. Steinmetz, G. Vogler, Berlin 1975, S. 391-404; W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart — Bad Cannstatt 1980, S. 50 ff.; W. Schulze, Oberdeutsche Untertanenrevolten zwischen 1580 und 1620. Reichssteuern und bäuerlicher Widerstand, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschr. für Günther Franz zum 80. Geb. am 23. 5. 1982, hg. von P. Blickle, Stuttgart 1982, 120-147; H. Harnisch, Bauern - Feudaladel - Städtebürgertum. Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Feudalrente, bäuerlicher und gutsherrlicher Warenproduktion und den Ware-Geld-Beziehungen in der Magdeburger Börde und dem nordöstlichen Harzvorland von der frühbürgerlichen Revolution bis zum Dreißigjährigen Krieg, Weimar 1980, S. 81—97.

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wiegend um lokal begrenzte Formen des Klassenkampfes, der die Grenzen einer Herrschaft zumeist nicht überschritt. Davon zeugt u. a. der bäuerliche Aufstand in Schlesien (Löwenberg und Hirschberg, 1587—1589), in Thüringen (Schweinau, Gumpelstadt, Steinbach und Waldfisch, 1603) sowie in Kursachsen (Weesenstein, 1609). Die Verschärfung der Klassenkämpfe stand in ursächlichem Zusammenhang mit dem Refeudalisierungsprozeß, der im agrarischen Bereich als Angriff der Feudalherren auf die ökonomische, soziale und politisch-rechtliche Position der Bauern erfolgte. Insgesamt läßt sich zur ökonomischen Entwicklung dieser Zeit in Deutschland sagen: „Vermochte die deutsche Wirtschaft zu Beginn des 16. Jh. noch eine zentrale, in einigen Bereichen sogar führende Stellung in Europa zu behaupten, so konnte gegen Jahrhundertende davon keine Rede mehr sein. Zwar hatten sich frühkapitalistisches Verlagswesen und Manufaktur in der gewerblichen Produktion weiter verbreitet, doch blieb Deutschland infolge der fürstenstaatlichen Zersplitterung hinter den wirtschaftlich fortgeschritteneren und zentralisierten westeuropäischen Staaten zurück. Die Entwicklung stagnierte keineswegs allgemein und absolut; aber im Vergleich mit anderen Ländern, die günstigere Voraussetzungen boten, ging sie langsamer und widerspruchsvoller vor sich."26 Die sozialökonomischen und politischen Verhältnisse in den deutschen Territorien ermöglichten es der alten herrschenden Klasse, die Entfaltung der Ware-Geld-Beziehungen in ihrem Interesse und zu Lasten der bürgerlichen Kräfte auszunutzen. Zugleich erschwerten diese Verhältnisse die Herausbildung des nationalen Marktes und die Differenzierung der inneren gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Sie behinderten das Entstehen einer kräftigen Basis für die manufakturmäßige Arbeitsteilung. Die geringe Größe und Aufnahmefähigkeit der territorialen Märkte erhöhte für das Bürgertum der kleinen und Zwergstaaten sowie der größten Reichsstädte die Bedeutung des sich ausbildenden Weltmarktes und der damit verbundenen internationalen Arbeitsteilung. Im Unterschied zu den westeuropäischen verfügten die deutschen bürgerlichen Kräfte jedoch weder über einen stark entwickelten Binnenmarkt als Rückhalt noch über einen Nationalstaat, der gegenüber ausländischer Konkurrenz zu wirksamen Schutzmaßnahmen fähig gewesen wäre. Gleich große Schwierigkeiten wie bei der Entwicklung der Produktivkräfte entstanden seit Mitte des 16. Jh. bei der ursprünglichen Kapitalakkumulation. Trotz verschiedentlicher Versuche konnten sich die deutschen Handelsund Geldkapitalisten an der Ausplünderung überseeischer Kolonialgebiete sowie an Seekriegen nicht erfolgreich beteiligen. Zwar nahm der Handel der deutschen Seestädte im Rahmen der sich erweiternden europäischen Ware-Geld-Beziehungen in der zweiten Hälfte des 16. Jh. noch einen erheblichen Aufschwung, und die hansischen wie die oberdeutschen Kaufleute 26

M. Steinmetz, Deutschland von 1476-1648, a. a. O., S. 241; vgl. H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. I, 6. bearb. Aufl., Berlin 1983, S. 225—315; H. Schultz, Bäuerliche Klassenkämpfe zwischen frühbürgerlicher Revolution und Dreißigjährigem Krieg, in: ZfG, Berlin 25 (1972), S. 156—173; vgl. zu unserem Thema generell: H. Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. I: Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 1977, S. 213-295, S. 405-408.

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versuchten, sich der Verlagerung der Welthandelswege anzupassen. Aber es gelang ihnen aufgrund des relativ geringen ökonomischen und politischen Rückhalts nicht, die Schwächung ihrer Welthandelsposition gegenüber den mit nationalstaatlicher Unterstützung tätigen holländischen, englischen, schwedischen und dänischen bürgerlichen Kräften zu verhindern. In den bedeutendsten Städten Deutschlands — so in Hamburg, Emden und Frankfurt a. M., zum Teil auch in Leipzig — wurde der ökonomische Aufschwung wesentlich von einwandernden niederländischen Kaufleuten getragen. Für Emden und Hamburg spielte außerdem die enge Verbindung zu England eine wichtige Rolle, für Breslau, Danzig und Königsberg der Osthandel. Schwerwiegende Rückschläge im Prozeß der ursprünglichen Akkumulation entstanden durch Verluste im wichtigsten Produktionszweig der ersten Hälfte des 16. Jh., dem Bergbau, infolge der seit der Mitte dieses Jahrhunderts sprunghaft ansteigenden amerikanischen Edelmetalleinfuhr nach Europa. Die mittel- und unmittelbaren Verluste durch Kriege, insbesondere durch den Dreißigjährigen Krieg, schränkten dann die Kapitalkraft und die ursprüngliche Akkumulation der deutschen im Vergleich zur niederländischen und englischen Bourgeoisie ebenfalls erheblich ein. Es wird hier aber die ökonomische Lage Deutschlands vor dem Dreißigjährigen Krieg im Unterschied zu der nach 1648 skizziert.27 Vielerorts gingen die Handels- und Geldkapitalisten im Interesse der Erhaltung ihres Vermögens verstärkt dazu über, dieses teilweise oder sogar ganz in feudalem Großgrundbesitz anzulegen. Robert Mandrou weist nach, daß zwischen dem beginnenden 16. Jh. und dem Jahre 1618 die Fugger 633 Erwerbungen tätigen konnten, die sich hauptsächlich auf Lehensherrschaften, Domänen, Äcker, Wiesen, Wälder und Gewässer erstreckten. Insgesamt gaben die Fugger für diese Landerwerbungen über zweieinhalb Millionen Gulden aus. 28 Der Zusammenbruch der größten — zumal oberdeutschen — Handelshäuser leitete strukturelle Verschiebungen innerhalb der sich herausbildenden Handels- und Manufakturbourgeoisie ein. Handelskapitalisten mit geringerer Kapitalkraft nahmen nun stärkeren Einfluß auf die Produktion (besonders hinsichtlich Textilgewerbe, Eisen- und Buntmetallgewinnung sowie -Verarbeitung). Dadurch ergaben sich auch Veränderungen in der qualitativen Entwicklung der Kräfte des Bürgertums in Deutschland. Im Unterschied zu den in der ersten Hälfte des 16. Jh. stark hervorgetretenen großen kapitalistischen Betrieben des Edelmetallbergbaus und -hüttenwesens überwog von der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein eine breitere Schicht kleinerer Verleger und — in 27

28

Vgl. J . Kuzcynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 1, a. a. O., S. 41—82; F . L ü t g e , Die w i r t s c h a f t l i c h e Lage D e u t s c h l a n d s vor A u s b r u c h des Dreißigjährigen Krieges, in : F. Lütge, Studien zur Sozial- u n d W i r t s c h a f t s g e schichte, Gesammelte Abhandlungen, S t u t t g a r t 1963, S. 336—395. R . Mandrou, Les Fugger, propriétaires fonciers en Souabe, 1560—1618. É t u d e de c o m p o r t e m e n t s socio-économiques à la fin du X V I e siècle, Paris 1969, S. 38—39. — Vgl. Das Handelskapital, a . a . O . , S. 19—21; Grundlinien des ökonomischen Denkens in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s , Autorenkollektiv, Berlin 1977, S. 136ff.

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schwächerem Maße — Manufakturkapitalisten, die vor allem in der Textilherstellung, meist in Form von Einzel- oder Zunftverlag, die Produktion beherrschten. Insgesamt verfügten sie in der ersten Etappe der eigentlichen Manufakturperiode über günstigere Entwicklungsbedingungen als die während dieser Zeit dominierende niederländische Handels- und Manufakturbourgeoisie bzw. die englischen oder französischen Handels- und Manufaktur kapitalisten. Die Konsolidierung der Territorialstaaten und die damit verbundenen Hindernisse für die Herausbildung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im nationalen Rahmen störten den nationalen Zusammenschluß der bürgerlichen Kräfte und hemmten die Entwicklung gesamtnationaler Interessen gegen die sich festigende Macht der Feudalgewalten. Durch die Wirtschaftspolitik der absoluten Fürsten wurde eine Verlagerung der wirtschaftlichen Zentren in absolutistische Territorien erzwungen. Die Rolle der Residenzstädte wuchs. Das traf vor allem die Handelskapitalisten der alten Reichsstädte, die gegen die Zerreißung der alten gewachsenen Arbeitsteilung und für deren weitere Ausgestaltung kämpften. Die Zerstückelung und teilweise Ersetzung der im Reichsverband gewachsenen Arbeitsteilung durch eine territorialstaatlich eingeengte Organisation verkleinerte und komplizierte die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der bürgerlichen Kräfte und verhinderte für den sich im territorialstaatlichen Rahmen herausbildenden Teil des Handels- und Manufakturbürgertums vorerst eine Interessengleichheit mit dem Bürgertum der alten Wirtschaftszentren sowie der übrigen Territorialstaaten. Die Handels- und Manufakturkapitalisten in den absolutistischen Staaten waren infolge des gering ausgebildeten inneren Marktes stark an den Territorialfürsten mit seinem feudalen Konsum, an Hof, Heer und Beamtenschaft gebunden und mußten sich mit diesen politischen und ökonomischen Bedingungen arrangieren, da sie durch den absolutistischen Staatsapparat weitgehend vor der Konkurrenz des Bürgertums anderer deutscher Territorien geschützt wurden. Zur gleichen Zeit aber waren für die Handels- und Manufakturkapitalisten der westeuropäischen Staaten die Herausbildung eines inneren nationalen Marktes und, davon abgeleitet, der beschleunigte nationale Zusammenschluß charakteristisch. Der bürgerlich-aristokratische Staat der Niederlande wie auch die noch feudale englische und französische nationale Monarchie waren von ausschlaggebender Bedeutung für den Prozeß der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Die Ausnutzung der mit der manufakturkapitalistischen Entwicklung in den westeuropäischen Staaten zusammenhängenden Agrarkonjunktur durch die feudalen Grundbesitzer Ostelbiens und die gleichzeitige Festigung der feudalen Beziehungen auf dem Lande verringerten die spezifische Bedeutung der bürgerlichen Kräfte in Deutschland. Einengung des inneren Marktes und die Behinderung der ursprünglichen Akkumulation beschränkten die Entwicklungsmöglichkeiten der deutschen Handels- und Manufakturkapitalisten. Die verzögerte Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse bewirkte, daß sich in den deutschen Territorien der Zersetzungsprozeß des alten Städtebürgertums widerspruchsvoller und langsamer als in den westeuro-

C A L V I N I S M U S UND L U T H E R T U M

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päischen Staaten vollzog. Die Schwächung der Position der deutschen Handelskapitalisten war mit einer relativen Stärkung der Position der Zünfte verbunden. Das machte sich in den Kämpfen zwischen Zünften und Handelskapitalisten oft zuungunsten des Handelskapitals bemerkbar. Überhaupt war die verzögerte Entwicklung des Handels- und Manufakturkapitals von einer gewissen Stabilisierung der zünftigen Organisation städtischer kleiner Warenproduzenten begleitet, wie sie in staatlichen Zunft- und Gewerbeordnungen der Territorialstaaten ihren Ausdruck fand. Dabei intervenierte die Fürstenmacht oft im Zuge der Durchsetzung absolutistischer Herrschaftsformen zugunsten der gegen die Herrschaft des Rates opponierenden Handwerker. Obwohl die kleinen Warenproduzenten an der gesamten gewerblichen Produktion zunehmend stärker beteiligt waren als die Handels- und Manufakturkapitalisten, konnten es die Zunftproduzenten nicht verhindern, daß sich am Anstieg der gewerblichen kleinen Warenproduktion immer mehr verarmte Meister, „ewige" Gesellen und zahlreiche Verarmte aus anderen Schichten in Stadt und Land beteiligten, die die Bannmeilenrechte und Privilegien der Handwerks- und Kleinhändlerzünfte durchbrachen. Der Prozeß der sozialen Differenzierungen und Zersetzung des alten Städtebürgertums fand im ständigen Anwachsen der armen Bevölkerungsschichten seinen Ausdruck. Diese soziale Schicht hatte nur noch beschränktes, meist gar kein Bürger- und Zunftrecht, häufig auch keinerlei Eigentum an Produktionsmitteln mehr. Sie wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jh. durch die rapid ansteigenden Preise und die Vergrößerung der „Preisschere" zwischen Agrar- und gewerblichen Produkten noch erheblich vermehrt. Die Verschärfung der sozialen Gegensätze in den Städten trug dazu bei, daß sich — besonders in Norddeutschland und in den großen rheinischen Städten — seit dem Ausgang des 16. Jh. bis in die zwanziger Jahre des 17. Jh. hinein eine Welle städtischer Volksbewegungen unterschiedlichen Klassencharakters ausbreitete. Als Beispiel seien die Auseinandersetzungen in Braunschweig (1601-1604, 1614), Aachen (1608-1611), Köln (1611), Frankfurt/M. (1612-1614), Kolberg (1601), Stralsund (1612) und Stettin (1616) genannte Die Festigung der feudalen Verhältnisse auf dem Lande und die langsamere Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Gewerbe blieben nicht ohne Auswirkungen auf die Stellung des Bürgertums in den politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit. Die erstarkenden Kräfte der feudal-klerikalen Reaktion, die sich seit Mitte des 16. Jh. darum bemühten, die Ausbreitung der Reformation im „Reich" aufzuhalten, erzielten Erfolge. Der Calvinismus, der in den wirtschaftlich fortgeschrittenen europäischen Staaten zum ideologischen Kampfbanner in der Auseinandersetzung mit den spanischen Habsburgern und der feudalen Reaktion überhaupt wurde, konnte sich im deutschen Bürgertum gegen die sich festigende lutherische Orthodoxie nur begrenzt und nur in spezifischen Ausprägungen durch59

Vgl. K. Czok, Zu den städtischen Volksbewegungen) in deutschen Territorialstaaten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Die Städte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert, hg. von W. Rausch, Linz/Donau 1981, S. 23. r- Dort auch (S. 35ff.) weiterführende Literatur.

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setzen. E r wurde von einigen deutschen Territorialfürsten aus machtpolitischen Interessen im Kampf gegen die Habsburger ausgenutzt. Das prägnanteste Beispiel dafür ist die Kurpfalz. Harold J . Grimm schildert, wenn auch stark vereinfacht, die Verbreitung des Calvinismus auf dem lutherischen Boden der Pfalz: Kurfürst Friedrich I I I . beschäftigte sich, beunruhigt durch die heftigen Kontroversen über das Abendmahl in seinem Land im Jahre seiner Thronübernahme (1559), eingehend mit diesem Sakrament. Überzeugt, daß die calvinistische Interpretation der Luthers vorzuziehen war, berief er calvinistische Professoren an seine Heidelberger Universität. Zwei von ihnen, Caspar Olevianus und Zacharias Ursinus, verfaßten unter aktiver Beteiligung des Kurfürsten 1563 den Heidelberger Katechismus. Er stellte eine modifizierte Interpretation des Calvinismus dar und vermied kontroverse Momente hinsichtlich des Abendmahls. Der Standpunkt des Heidelberger Katechismus wurde nicht nur für die Kurpfalz sowie für andere reformierte Kirchen in Deutschland zur dogmatischen Richtschnur, sondern auch für die „Philippisten", die Anhänger Melanchthons. Aber ungleich der Kirche Calvins in Genf, verblieb die der Kurpfalz unter der Kontrolle des Staates. Der Kurfürst stützte seine Machtvollkommenheit mittels eines Konsistoriums, das drei Geistliche und drei Laien umfaßte. Thomas Erastus, bis 1583 Leibarzt des Kurfürsten und Professor cler Medizin in Heidelberg, war ein offener Gegner der Genfer Verfassung und propagierte statt dessen eine strenge staatliche Kontrolle von Lehren und Ordnung der Kirche. In England und Schottland tendierten die Calvinisten zu einer Staatskirche, die nach ihm als „erastianisch" bezeichnet wurde.30 Auch andere Formen des Calvinismus entstanden. Bedeutungsvoll wird der Cryptocalvinismus, der für den ideologischen Kampf zwischen Lutheranern und Calvinisten eine große Rolle spielen sollte, vor allem in Kursachsen. Die enge Verflechtung von Konfession und Machtpolitik in der zweiten Hälfte des 16. J h . läßt sich in den sächsischen Territorien besonders deutlich erkennen. 31 Im albertinischen Sachsen (bis 1547 Herzog-, dann Kurfürstentum) hatte Herzog Moritz die Zentralisation des Territoriums — wenn auch verspätet — mit Hilfe der fürstenfreundlichen Reformation durchgesetzt. Das war eine der Voraussetzungen für die von ihm betriebene aggressive Außenpolitik. Theologisch triumphierte nach 1547 im neu entstandenen und erweiterten Kurstaat der sächsischen Albertiner die Melanchthonische Lehrauffassung. Den Philippisten, unter deren Einfluß der ab 1553 regierende Kurfürst August stand, war es gelungen, sich als streng lutherisch auszugeben. Die Flacianer (Gnesio-Lutheraner) vermochten sich nicht durchzusetzen. Wenn Kursachsen dennoch zum Zentrum der konservativen Richtung in der reformatorischen Bewegung wurde und getreu dem Augsburger Religionsfrieden der in Kursachsen, vor allem auch in Wittenberg, geachtete Philippismus (bzw. Kryptocalvinismus) aufgegeben wurde, so hatte das so Vgl. H. J. Grimm, The Reformation Era, a. a. O., S. 355-356. 31 Vgl. zum folgenden G. Zschäbitz, Die Auswirkungen der Lehren Philipp Melanchthons auf die fürstenstaatliche Politik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Philipp Melanchthon 1497—1560, Bd. 1: Humanist — Reformator — Praeceptor Germaniae, Berlin 1963, S. 209-217.

CALVINISMUS UND L U T H E R T U M

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außenpolitische Ursachen. Kurfürst August suchte ein Gleichgewicht der Kräfte in Deutschland zu erhalten. Die Versuche der Pfalz, den Augsburger Religionsfrieden auch auf die Reformierten auszudehnen, schienen ihm dieses Gleichgewicht zu stören. August befürchtete zudem, durch den Einfluß der kurpfälzischen Ideologie, mit der die sächsischen Kryptocalvinisten sympathisierten, in politische Verwicklungen mit dem Hause Habsburg zu geraten, denn die Kurpfalz hatte aus durchaus weltlichen Gründen den Calvinismus angenommen. Die sächsischen Philippisten erfreuten sich lange Zeit des landesherrlichen Wohlwollens, nahmen wichtige Stellen bei Hofe ein und bildeten eine theologische Parteiung, die auf eigene Faust Politik zu machen suchte. Kurfürst August von Sachsen hatte nur vorübergehend mit den Ambitionen seines Pfälzer Kollegen geliebäugelt, der auf einen relativ zentralisierten deutschen Staat Kurs nahm und einer kämpferischen protestantischen Politik das Wort redete. Kursachsen war und blieb dagegen trotz gelegentlicher Schwankungen stets mit Habsburg verbunden — ungeachtet des anderen Glaubensbekenntnisses. Der abgefangene Brief eines prominenten sächsischen Theologen, worin aus der Sympathie der sächsischen Philippisten für die kämpfenden Niederländer und Hugenotten kein Hehl gemacht wurde, war der letzte Anstoß, der Kurfürst August zum Handeln brachte. E r fürchtete — zu Recht — die Konspiration seiner Theologen mit der Kurpfalz und Sabotage seiner eigenen kaisertreuen Territorialpolitik. Über die führenden Köpfe des kursächsischen Kryptocalvinismus, darunter über Melanchthons Schwiegersohn Caspar Peucer, wurden hohe Strafen verhängt (1573). Die „calvinistische Hydra" schien zerschlagen. Aber eines blieb noch nachzuholen: E s „wurde ein exakt formuliertes Bekenntnis notwendig, um die Verwirrungen zu beseitigen, die sich in die Kreise cler Pfarrer eingeschlichen hatten. Das Machtinstrument .Landeskirche' mußte in alter Schärfe erhalten bleiben. Alle Einflüsse Melanchthons, die nach der .Gefahrenzone' der Kurpfalz wiesen, galt es sorgsam zu tilgen." 3 2 Eine 1576 eingesetzte Kommission verwarf Melanchthons „Corpus doctrinae" und seine „Variata" zur Augsburgischen Konfession. Über mehrere Zwischenstufen entstand im Zusammenwirken verschiedener Territorialfürsten als neues Glaubensbekenntnis 1577 die „Konkordienformel". Sie war das Ergebnis eines Kompromisses zwischen dem älteren und dem jüngeren orthodoxen Luthertum und schloß selbst die geringste Nuance einer Verständigung mit dem Calvinismus und den Philippisten (Kryptocalvinisten) aus. In Kursachsen zwang eine Kommission die Pfarrer zur Anerkennung der neuen Bekenntnisformel. Im Bereich der jeweiligen Superintendenturen rief man Geistliche, Schulmeister und Küster zusammen, damit sie durch ihre Unterschrift ihre Zustimmung bekundeten. Wer sich weigerte, sollte seine Stelle verlieren. Im ganzen Lande fanden sich daher nur ein Pfarrer, ein Lehrer und ein Küster, die nicht unterzeichneten. Der Volksspott legte besorgten Pfarrfrauen die Bitte an ihre Männer in den Mund: Schreibt, lieber Herre, schreibt. Daß Ihr bei der Pfarre bleibt.33 32 Ebenda, S. 219. 3 3 Zit. nach: G. Droysen, Geschichte der Gegenreformation, Eerlin 1893, S. 123.

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Das Welt- und Menschenbild, wie es im allgemeinen in der literarischen Entwicklung zwischen der zweiten Hälfte des 16. und dem Ausgang des 17. Jh. in Erscheinung trat, erhielt seine Prägung durch folgende Momente: „Einerseits wurde die Freisetzung des Individuums aus ständischen und patriarchalischen Bindungen bei allen damit verknüpften Kämpfen zu einer unverrückbaren Tatsache. Andererseits zeichnete sich auf dieser Basis in mehr oder weniger konturierter Form das Bemühen um eine neue gesellschaftliche Reintegration ab, bei der sich eine breite Spannweite zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit menschlicher Existenz bemerkbar machte. Zugleich war weiterhin das Bestreben vorhanden, in die Verhältnisse von Natur und Gesellschaft tiefer einzudringen und die dabei gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse für die eigene Praxis zu nutzen, obgleich die Selbstsicherheit und der Optimismus der Renaissance geschwunden waren, Mikrokosmos und Makrokosmos nunmehr wesentlich komplexer erschienen als ursprünglich angenommen und die Gegenreformation mit aller Macht die Dogmen des Glaubens allen neueren Einsichten zum Trotz aufrechtzuerhalten suchte und eine ideologische Offensive eröffnete. In der Literatur verstärkten sich in diesem Zusammenhang wie in der bildenden Kunst die Tendenzen, die Wirklichkeit des Alltags näher in Augenschein zu nehmen. Insbesondere die vielfältigen, widersprüchlichen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft erfuhren gegenüber der vorangehenden Periode eine viel eingehendere Betrachtung. Die menschliche Selbstbehauptung angesichts der neuaufkommenden gesellschaftlichen Verhältnisse, d. h. der Ansprüche des Feudalabsolutismus, der kirchlichen Orthodoxie und der mit dem Anwachsen der kapitalistischen Elemente sich konturierenden sachlichen Abhängigkeit, erwies sich als ein zentrales Problem, für das auf der Ebene literarischer Gestaltung sich jeweils recht unterschiedliche Grundhaltungen, Perspektiven und Lösungen bekundeten. Dabei trat der Widerstreit zwischen den retrograden und progressiven Tendenzen vielfach in recht komplexer Weise zutage. Der weiteren Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse standen die Bestrebungen nach Refeudalisierung gegenüber, und die kirchliche Orthodoxie trat offensiv gegen die Tendenzen der weiteren Verweltlichung auf. Mit dem fortschreitenden Aufkommen der kapitalistischen Elemente hingen der Ausbau einer selbständigen weltlichen Laienbildung und die Entwicklung einer innerweltlichen Moral mittelbar zusammen, die auf der Autonomie der menschlichen Vernunft fußte. Gegenüber dem Druck der Gegenreformation war das Bestreben unverkennbar, durch konsequente Trennung von Vernunft und Glauben die Entfaltung der naturwissenschaftlichen Forschung ideologisch abzusichern."34 Nicht nur im Deutschland dieser Zeit galt Häresie ähnlich wie Gotteslästerung als Verbrechen; sie wurde als Verfehlung gegen Gott und die Menschen angesehen. Wer ihr anhing, erschien den Andersgläubigen verstockt, bösartig, lasterhaft, kurz: als sittlich defekt. Was aber Ketzerei sei, das bestimmten von Land zu Land unterschiedliche Gesetze oder gesetzesähnliche Verfü3* W. Bahner, Ein Dilemma literarhistorischer Periodisierung: Barock — Manierismus, in: Renaissance — Barock — Aufklärung, Epochen- und Periodisierungsfragen, hg. von W. Bahner, Berlin 1976, S. 137-138.

PROTESTANTISCHE

GEISTLICHKEIT

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gungen, Edikte, Landes.ordnungen und Mandate. Daraus ergibt sich auch: Nicht alles, was jeweils als häretisch galt oder bezeichnet wurde, war auch progressiv bzw. wirklich oppositionell. Das trifft auch für die Yerketzerung als Atheist zu. Die Schilderung der Zustände von Pfarrstand und -gemeinde im sächsischen Kurkreis im 16. Jh. dürfte auch für andere protestantische Territorien zutreffen.35 Der Kurkreis gehörte seit 1547 zum Herrschaftsbereich der Albertiner, also zum Kurfürstentum Sachsen. Zwischen 1560 und 1590 war es im wachsenden Maße gelungen, die Pfarrstellen mit akademisch ausgebildeten Pfarrern zu besetzen. Wittenberg war — mit Abstand — für Sachsen der bevorzugteste Studienort der Theologen, ihm folgte Leipzig. Nach Angaben für das Jahr 1555 belief sich die Studiendauer der späteren Pfarrer durchschnittlich auf 3,7 Jahre, sie schwankte bei einzelnen Pfarrern zwischen einem und zehn Jahren. Die Mittelwerte von 1575 und 1577 ergeben eine durchschnittliche Studiendauer von 3,1 bzw. 3,7 Jahren. Die Visitationsberichte von 1555, 1574—1575 und 1577—1586 bringen zahlreiche Belege für das Überwechseln vom Schulmeister zum „Pfarramt". 36 Ende des 16. Jh. besteht ein krasser Unterschied zwischen den einfachen Dorfgeistlichen und den theologisch geschulten Stadtpfarrern. Die Weiterbildung der Pfarrer blieb bis zu den nach der Annahme der Konkordienformel durchgeführten Lokalvisitationen der Jahre 1577 bis 1586 der Eigeninitiative der einzelnen Geistlichen überlassen. Nach ihren Ergebnissen war schon allein durch die Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Kryptocalvinisten eine solche Weiterbildung gebieterisch gefordert. Im letzten Viertel des 16. Jh. finden sich in den Pfarrbibliotheken vornehmlich das „Corpus doctrinae", die „Loci communes" und das Torgische Bekenntnis vom Abendmahl.37 Das Einkommen der Stadtpfarrer lag bedeutend höher als das der Dorfgeistlichen, z. T. machte es das Doppelte aus. Viele Vgl. G. Tietz, Das Erscheinungsbild von Pfarrstand und Pfarrgemeinde des sächsischen Kurkreises im Spiegel der Visitationsberichte des 16. Jahrhunderts, Phil. Diss. Tübingen 1971. — Zur Gesamtproblematik: A. Tholuck, Das kirchliche Leben des siebzehnten Jahrhunderts, Abt. 1: Die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bis zum westphälischen Frieden, Berlin 1861; Paul Drews, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, Jena 1905. 36 Ebenda, S. 27, S. 29. Für Wittenberg in den Jahren 1558-1568 stellte bereits G. Buchwald fest: „Abgesehen von einigen Buchdruckern (4), Küstern (23), Schreibern (15), Tuchmachern (3), je einem Steiger, Schankwirt, Buchbinder, Messerschmied, Schneider, Bauer, Mönch, Glöckner, Organisten und Schichtmeister gehen die Ordinanden aus dem Lehrerstande hervor oder haben ein gutes Gymnasium — insbesondere treten die Fürstenschulen hervor — und die Universität besucht." (G. Buchwald, Wittenberger Ordiniertenbuch, Bd. 2: 1560-1572, Leipzig 1895, S. I.) 37 Vgl. zum ff. ebenda, S. 52—53. — Zum Torgischen Abendmahl vgl.: Kurtze Bekentnis vnd Artickel / vom heiligen Abendmal des Leibes vnd Bluts Christi. Daraus klar zu sehen / was hieuon in beyden Uniuersiteten / Leipzig und Wittemberg / vnd sonst in allen Kirchen und Schulen des Churfürsten zu Sachssen / bißher öffentlich gelehret / gegleubet vnd bekant worden / Auch was man für Sacramentirische irrthumb vnd schwermerey gestrafft hat / und noch straffet. Ubergeben vnd gehandelt in jüngstem Landtage zu Torgaw / Vnd auff Churfürstliche Verordnung vnd begnadung Erstlihc gedruckt zu Wittemberg . . . 1574. (Noch im selben Jahr erschienen weitere Auflagen, gleich im Inhalt, aber abweichend im Druck und in der Blattzahl.) 35

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Pfarrer suchten ihre Bezüge durch Nebenverdienste aufzubessern, besonders durch Bierbrauen. Auf dem Lande generell, z. T. auch in der Stadt, betrieb der Pfarrer eine eigene kleine Landwirtschaft. Sehr wahrscheinlich haben auch sächsische Adelige versucht, ihre Dorfpfarrer als Jagdtreiber, Boten und Schreiber zu mißbrauchen. 38 Nach Tietz wurde im Sächsischen Kurkreis zu dieser Zeit der Pfarrstand nicht besonders hoch eingeschätzt. Der Grund lag auch bei den Pfarrern selbst, die teilweise unmäßig tranken, streitsüchtig waren, in ihren eigenen Familien keine Ordnung hielten usw. Oft wurden ihnen von Adel und Bürgerlichen die ihnen zustehenden Bezüge verweigert. So gab es ständige wirtschaftliche Existenzkämpfe zwischen Pfarrer, Gemeinde und Junker. Dennoch haben Ansehen und Achtung der Geistlichen, sowohl im protestantischen wie im katholischen Bereich, während des 16. Jh. insgesamt wieder zugenommen. Es dürfte nicht zuletzt daraus zu erklären sein, daß sich die Landesherrn in wachsendem Maße der ideologischen Bedeutung „ihrer" Geistlichkeit bewußt wurden. Nach Tietz gab es Klagen über den Besuch des Gottesdienstes; mancherorts zog man unter der Bevölkerung Wettschießen, Spiel und Tanz oder Spazierengehen dem Gottesdienst vor. 3 9 Tanzen, Trinken, unzüchtiges Betragen, die wachsende Zahl von unehelichen Kindern — das sind immer wiederkehrende Beschwerdepunkte in den Visitationsprotokollen. Sie berichten auch von Anschuldigungen wegen Zauberei und Hexenwesen. Ebenso wird über Gotteslästerung und häufiges Fluchen, vor allem bei Gesellen, Knechten und Halbwüchsigen, geklagt. Als Beispiel gibt Tietz: „Was predigt der loße Pfaff von Gott? wer weiß, wer Gott ist, ob auch ein Gott sei? er wird ie auch anfang und ende haben" 40 . Leider wissen wir zuwenig über derartige Äußerungen, sie sind noch nicht genügend bzw. systematisch untersucht. Sie zeugen aber für die These vom latenten Strom des Atheismus bzw. Antikonfessionalismus. Seit Beginn der zweiten Hälfte des 16. J h . trat die katholische Kirche in Deutschland in eine neue Entwicklungsphase ein. Die Politik des Renaissancepapsttums war gescheitert. Die katholische Restauration ging von Spanien aus, nachdem die Reformation bereits europäische Ausmaße angenommen hatte. 4 1 „Die Politik der Rekatholisierung war reaktionär, weil sie mit der Verschärfung der feudalen Ausbeutung einherging, der Konservierung 38 Ebenda, S. 61. 39 Vgl. ebenda, S. 138-141. « Ebenda, S. 167. 41 Vgl. M. Steinmetz, Weltwirkung der Reformation, in: Weltwirkung der Reformation. Internationales Symposium anläßlich der 450-Jahr-Feier der Reformation in Wittenberg vom 24. bis 26. Oktober 1967, Bd. 1, Berlin 1969, S. 7-56; G. Brendler, Reformation und Fortschritt, in: 450 Jahre Reformation, hg. von L. Stern, und M. Steinmetz, Berlin 1967, S. 58—69. — Die reichhaltige Literatur zur Wirkung der lutherischen Reformation, die 1983 erschien, konnte hier nicht mehr ausgewertet werden. Vgl. dazu: Martin Luther — geschichtliche Stellung und historisches Erbe. Internationale Wissenschaftliche Konferenz vom 18. bis 21. Oktober 1983 in Halle; Pressebulletin — Martin-Luther-Ehrung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, den 9. 11. 1983.

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der feudalen Ordnung diente und sich der bürgerlich-kapitalistischen Umgestaltung entgegenstellte. Mit Hilfe der Gegenreformation wollten die Habsburger ihr politisches Ziel realisieren und eine katholische Universalmonarchie errichten." 42 Zu den geistigen Triebkräften der Gegenreformation bzw. Restauration gehörten die orthodoxe Mystik, eine mit ihr verbundene Erhitzung der religiösen Phantasie und inbrünstige Frömmigkeit. Aber erst der von Ignatius von Loyola geschaffene Jesuitenorden „lehrte die Vereinigung von Katholizismus und Mystik und betrieb sie mit soldatischer Strenge".43 Mit der Bulle „Regimini militantis ecclesiae" vom 27.9. 1540 hatte Papst Paul III. den Jesuitenorden bestätigt. Seine ersten Erfolge erzielte dieser in Italien. 1550 wurde in Rom das „Collegium Romanum" gegründet, 1552 das „Collegium Germanicum", das die Aufgabe hatte, Ordensmitglieder für die Rekatholisierung Deutschlands auszubilden. „Etwa um 1550 hatte Ignatius von Loyola die Regeln und die Gliederung des Ordens in einer endgültigen Verfassung niedergelegt, die noch heute gültig ist. Ein auf Lebenszeit gewählter General übt eine fast uneingeschränkte Gewalt aus. Es gibt drei Ränge von Mitgliedern: die Novizen, die nach einer kurzen Prüfzeit zwei Jahre lang im Probestand bleiben. Dann können sie entweder entlassen oder in den zweiten Rang der Scholastiker erhoben werden, in dem sie mindestens sieben Jahre verbleiben und ein gründliches Studium der Philosophie und Theologie absolvieren. Die nächste Stufe ist nur wenigen zugängig: Die Mitglieder dieses Ranges, die geistlichen Koadjutoren, legen neben den üblichen Gelübden der Keuschheit, Armut und des Gehorsams noch ein besonderes Gehorsamsgelübde gegenüber dem Papst ab. Damit entstand eine überaus disziplinierte, flexible und loyale Elitetruppe." 44 Der Jesuitenorden wurde mit seiner straffen Organisation und mit seinen ausgeklügelten Methoden innerer und äußerer Disziplinierung zum Vorkämpfer der Gegenreformation. Der Mensch soll durch rastlose Arbeit in seinem Beruf, als Astronom, Jurist, Mathematiker, Edelmann, Soldat, Politiker, seine Geistesgaben Gott aufopfern, alles zur höchsten Ehre Gottes leisten, Grundriß der deutschen Geschichte, a. a. O., S. 165. « M. Steinmetz, Deutschland von 1476-1648, a. a. O., S. 243. - Stark verharmlost wird diese Rolle bei Green: „What was the Jesuit contribution to the Counter-Reformation movement? The bull of 1540 defined the Jesuits' task as, 'per publicas praedicationes . . . et nominatim per puerorum ac rudium in Christianismo institutionem ac Christifidelium in confessionibus audiendis' — the hearing of confessions, teaching and preaching. As confessors to kings and princes, they excerted an unseen, butpowerful, andat times dreaded, influence Over politics and diplomacy." (V. H. H. Green, Renaissance and Reformation. A Survey of European History between 1450 and 1660, 2. ed., London 1954, S. 183.) —Noch immer unentbehrlich ist für die Geschichte des Jesuitenordens die — obzwar apologetische — Arbeit: B. Duhr SJ, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge. Bd. 1 : Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge im XVI. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1907; Bd. 2, T. 1—2: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 1913. 44 S. H. Thomson, Das Zeitalter der Renaissance. Von Petrarca bis Erasmus, München 1969, S. 526—527. — Vgl. aus katholischer Sicht: H. Rahner SJ, Ignatius von Loyola als Mensch und Theologe, Freiburg — Basel — Wien 1964.

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der Jesuit selbst „in actio contemplativus", im Tun der Welt zu Gott entrückt sein. Eine weitere Waffe der Gegenreformation wird die neue katholische Mystik, die im wesentlichen von Teresa von Avila 4 5 ausgeht und gesamteuropäische Dimensionen gewinnt. Sie ist vor allem ein Mittel, dieW iederbelebung der Volksopposition im Zeichen der Reformation zu verhindern. Ein Schwerpunkt ihrer Tätigkeit lag für die Jesuiten im Schul- und Hochschulwesen. Für den katholischen Bereich suchten sie das Gegenstück zu den vornehmlich von Ph. Melanchthon inaugurierten protestantischen Einrichtungen auch im Universitätsbetrieb zu schaffen. Lehrstühle an theologischen und philosophischen Fakultäten wurden seit dem 16. Jh. im katholischen Deutschland vorwiegend Jesuiten anvertraut. Ebenso entstanden Jesuitenschulen bzw. -gymnasien. Ein Zentrum der jesuitischen Bildung und Erziehung bildete die Universität Ingolstadt. Hier trafen auf Bitte des bayerischen Herzogs bereits 1549 die ersten Jesuiten als Professoren ein, 1556 wurde ihnen ein eigenes Kolleg errichtet. Bis zu seiner Aufhebung 1773 blieb der Orden der bayerischen Landesuniversität, die 1800 nach Landshut und 1826 nach München verlegt wurde, verhaftet. Etwa 1560 bis 1640 war die „hohe Zeit" der Jesuiten in Ingolstadt.46 (Vgl. Kap. III.) Köln und Freiburg blieben bedeutende katholische Universitäten, die katholischen Universitätsneugründungen der ersten Hälfte des 17. Jh. — Dillingen, Würzburg, Paderborn, Osnabrück und Bamberg — gerieten weitgehend unter jesuitischen Einfluß. Die Jesuiten wurden die Vorkämpfer für die Wiederherstellung der Alleinherrschaft der römisch-katholischen Kirche auch auf publizistischem Gebiet. Sie hatten von der Wirkung gelernt, die von den Reformationsflugschriften ausgegangen war, und bedienten sich jetzt der gleichen Mittel im Sinne der alten Kirche. Wo kein ihnen wiilfähriger Territorialfürst herrschte, propagierten die Jesuiten das Prinzip der Volkssouveränität. „Für die Staatslehre der Jesuiten bildet den Grund zum Vorgehen gegen einen Fürsten, wo neben der allgemeinen Phrase von der .Schädigung des öffentlichen Wohles' überhaupt ein konkreter Fall genannt wird, Ketzerei des Staatsoberhauptes; entscheiden, ob die Tyrannei unerträglich geworden, sollen Geistliche, Bischöfe, der Papst." 47 Allerdings ist Volkssouveränität für Deutschland nicht Argumentationsschwerpunkt der Jesuiten. Hier trachten sie, „den Glauben an die ewige Gültigkeit des Religionsfriedens zu erschüttern. Durch alle Mittel der Sophistik suchte man das Kaiserhaus und die übrigen katholischen Fürsten Deutschlands zu überzeugen, der Religionsfriede [von 1555 — S. W.] sei nach der Beilegung aller streitigen Punkte im Tridentinum erloschen, er sei überhaupt ungültig, oder um höherer Pflichten willen außer Acht zu lassen, und man hoffte, dieselben dadurch zu thatkräftigem Einschreiten gegen die Ketzer 45

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Vgl. G. Papäsogli, Teresa von Avila, München — Paderborn — Zürich 1959. — Die Monographie von M. Auclair (Das Leben der Heiligen Teresa von Avila, Leipzig 1977) ist für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar. Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten, Bd. 1, hg. v. L. Böhm, J. Spörl, Berlin (West) 1972; M. Lundberg, Jesuitische Anthropologie und Erziehungslehre in der Frühzeit des Ordens (ca. 1540—ca. 1650), Uppsala 1966. R. Krebs, Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, Halle 1890, S. 15 (Reprint, Leipzig 1976).

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zu bestimmen." ',8 Dabei traten diese Absichten zunächst nicht offen hervor. Den Zwist zwischen Calvinisten und Lutheranern nutzten die Jesuiten geschickt aus. Allmählich steigerte sich der Haß gegen die Jesuiten als Propagandazentrale der Katholiken. 1593 erschien die erste Gegenschrift gegen den ganzen Orden von dem „durchgebrannten" Jesuiten Elias Hasenmüller/'9 Seine Arbeit ist nicht seriös, diente aber als Beleg für viele folgende Angriffe gegen die Jesuiten. Wie die Katholiken Luther verunglimpften, so jetzt die Lutheraner Ignatius von Loyola.50 Dabei floß viel persönlicher Unflat ein. Die Protestanten entdeckten die — allerdings von den Jesuiten in dieser Form abgestrittene — „jesuitische" These, einem Ketzer brauche man sein Wort nicht zu halten. Der erste große Erfolg der Gegenreformation war die Restauration des Papsttums auf dem Konzil in Trient (1545—1563). Hier wurde eine straffe Zusammenfassung aller katholischen Kräfte unter einer geschlossenen und entschlossenen Leitung erreicht. Gleichzeitig paßte sich das katholische feudale Weltbild den neuen Bedürfnissen des z. T. schon kapitalistisch wirtschaftenden Frühbürgertums an. Durch ihre Zentralisation erreichte die katholische Gegenreformation eine Überlegenheit über das zersplitterte protestantische Lager. Schon die konziliarische Bewegung des 15. Jh. hatte das Ziel verfolgt, die Kirche „an Haupt und Gliedern", vom Papst und von der Kurie bis zum geringsten Gemeindepfarrer, zu reformieren. Die Renaissancepäpste, insbesondere Paul II., Sixtus IV., Innocenz VIII. und Julius II., widersetzten sich einem Reformkonzil, obwohl sie vielfach von Reformen sprachen. Das Volk und selbst Teile des Klerus forderten dagegen stürmisch und sehnsüchtig ein solches Konzil. Etwa ab 1520 laufen in der katholischen Kirche verschiedene Reformbestrebungen zusammen: die politisch-ekklesiastischen Reformbemühungen der Fürsten und der Kurie einerseits und die dem Gedankengut der Mystiker, der gläubigen Laien und der Humanisten entspringenden Bestrebungen andererseits. Es kam aber nicht zum Reformkonzil der Gesamtkirche, sondern zur Kirchenspaltung durch die Reformation, die in Deutschland den Beginn der Frühbürgerlichen Revolution bezeichnete. Dadurch wurde ein Konzil für die katholische Kirche noch dringlicher. Nach langen Bemühungen kam 1545 das Konzil von Trient zustande. Das Concilium Tridentinum, eine der wichtigsten Synoden in der Geschichte der katholischen Kirche, trat in drei Sitzungsperioden zusammen: die erste unter Papst Paul III. (Dezember 1545 bis September 1549); die zweite unter Papst Julius III. (Januar 1551 bis April 1552); die dritte unter Papst Pius IV. (Januar 1562 bis Dezember 1563). Während dieser achtzehn Jahre nahm « Ebenda, S. 19. Hasenmüllers „Historia Jesuitici Ordinis" erschien 1594 in deutscher Ausgabe: HISTORIA IESVITICI ORDINIS // Das ist: Gründliche // vnd außführliche Beschreibung deß Jesuiti // sehen Ordens // unnd jhrer Societet: Darinnen von dem // Stiffter dieser Gesellschaft: jhrem Namen: Graden / Digniteten // . . .gehandelt wirdt. Anfängklich in Lateinischer Sprach beschrie // ben / Durch M. Eliam Hasenmüllern . . . auß dem Latein ins // Teudtsche gebracht // Durch // MELCHIOREM LEPORINUM // . . . Franckfurt am Mayn 1594. 50 Vgl. R. Krebs, Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner, a . a . O . , S. 25-30. 49

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die katholische Kirche unter dem Eindruck der Angriffe von protestantischer Seite wie auch aus den eigenen Reihen eine endgültige Formulierung ihrer Lehre vor und verfolgte dabei eine konservativ-scholastische Linie. Der Bruch zwischen Protestantismus und Katholizismus wurde als vollständig erkannt und festgeschrieben. Nun wandelte sich die katholische Reform zur Gegenreformation. Die alte Kirche ging aus der Verteidigung mit neuen Waffen, unter neuen Führern und in einem neuen Geist zum Angriff über. Das vollzog sich nicht ohne innere Kämpfe, nicht ohne einen radikalen Prozeß des Umdenkens. Das Konzil beschloß, Bibel und Überlieferung seien gleichzustellen und von der Kirche „pari pietatis affectu et reverentia" (mit gleich frommer Hingabe und Ehrerbietung) hinzunehmen. Das stand in direktem Gegensatz zur protestantischen Grundthese, der christliche Glaube beruhe ausschließlich auf der Bibel als der Heiligen Schrift und die Überlieferung gelte nur, wenn sie mit der Bibel übereinstimme. Die protestantischen Lehren über die Erbsünde und die Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch den Glauben allein wurden zurückgewiesen. Die katholische „Werkheiligkeit", wie sie Luther nannte, wurde festgeschrieben und eben damit als mentales Prinzip der katholischen Kirche anerkannt. Die Lehre von den sieben Sakramenten, die Lehre von der Transsubstantiation und das Meßopfer wurden bestätigt. Für die dritte Konzilsperiode spielte schon eine Rolle, daß die „zunehmende Wirksamkeit und der Ruf des neuen Ordens der Jesuiten . . . vielen Mitgliedern der Kurie die Überzeugung (gab), daß man die Protestanten am besten mit ihren eigenen Waffen bekämpfen könne: durch Predigten, Lehren, Belehrung und durch Reformen m der Verwaltung und der Moral." 51 In der dritten Konzilsperiode wurde Einigkeit in einer Reihe von bedeutsamen Punkten erreicht, so hinsichtlich der Priesterweihe. Die für die Bischofsweihe erforderlichen Voraussetzungen wurden genau umgrenzt und damit den schlimmsten Mißbräuchen päpstlicher Macht aus der vortridentinischen Zeit ein gewisser Riegel vorgeschoben. Außerdem wurde den Bischöfen die Überwachung der niederen Geistlichkeit zur Bedingung gemacht und Maßnahmen für die Erhöhung des Bildungsstandes der Geistlichen festgelegt. Die zentrale Stellung des Papstes, seine Autorität in Fragen der Lehre und der Ausübung des geistlichen Amtes wurden bestätigt. Nach Meinung des protestantischen Kirchenhistorikers Kurt Dietrich Schmidt erlangte das Konzil von Trient durch drei Momente wahrhaft geschichtliche Bedeutung: ,,a) Dadurch, daß es die zwischen Wittenberg, Zürich, Genf und Rom strittigen Fragen in einem antiprotestantischen Sinn entschied, hat es die konfessionelle Aufspaltung des Abendlandes endgültig gemacht; b) Durch die Umformung der römisch-katholischen Kirche zu einer Konfessionskirche, und zwar nicht nur durch die dogmatische Fixierung wichtiger Lehren, die vorher unentschieden waren, sondern vor allem durch die 1564 erfolgende Zusammenfassung dieser Lehren in einem .Bekenntnis', der Professio fidei Tridentinae, die fortan jeder katholische Priester beschwören mußte; c) dadurch, daß es die entscheidende Größe für die innere Reform der römisch-katholischen Kirche wurde, indem es a) auf dem Gebiet der Lehre den Nominalis51

S. H. Thomson, Das Zeitalter der Renaissance, a. a. O., S. 522.

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mus überwinden konnte, ß) den Anhängern der alten Kirche die dogmatische Sicherheit zurückgab, die sie weithin verloren hatten, y) für die Reform der kirchlichen Verwaltung und des kirchlichen Lebens die universal-kirchliche Grundlage schuf." 5 2 In Deutschland war Bayern zum Vorkämpfer der Gegenreformation geworden, und am Beginn des Dreißigjährigen Krieges war die Reformation in weiten Teilen Deutschlands zurückgedrängt. Das erklärt sich „einerseits aus der Schwäche des protestantischen Lagers, aus dessen Zersplitterung und Uneinigkeit, andererseits aus der geschickten Ausnutzung und Übernahme gewisser Elemente des Neuen, die die katholische Kirche zur Bekämpfung jeglichen Fortschritts verwendete". 53 Die Gegenreformation vermochte aber trotz all ihrer Erfolge nicht, die Fürstenreformation und das im Augsburger Religionsfrieden sanktionierte Nebeneinander von Protestantismus und Katholizismus aufzuheben, selbst nicht durch den Dreißigjährigen Krieg. Kulturell schlug sich der konfessionelle Gegensatz entlang der sogenannten Rhein-Main-Linie nieder: „Der überwiegend katholische Westen und Süden öffnete sich bereitwillig den italienischen mediterranen Einflüssen [mit Ausnahme des Kirchenstaates und der Republik Venedig gehörte Italien seit dem Frieden von Cateau-Cambrösis — 1559 — zum spanischen Herrschaftsbereich der Habsburger — S. W.] ; der beinahe durchgehend protestantische Norden, die Mitte und der Osten lebten in engerer Kommunikation mit dem skandinavisch-britisch-niederländischen Nordostseeraum. Auf dem weiten Feld der Wissenschaft und des Denkens entwickelte der Protestantismus die stärkeren Kräfte; in den bildenden Künsten dominierte der katholische Süden." 54 52

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K. D. Schmidt, Die katholische Reform und die Gegenreformation. Postum hg. von M. Jacobs, Göttingen 1975, S. 24—25 (Die Kirche in ihrer Geschichte. Lfg. L : Bd. 3, T. 1). — Die erste umfassende und materialreichste Geschichte des Tridentinismus gibt: H. Jedin, Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1: Der Kampf um das Konzil, 2. Aufl. Freiburg 1951. Der Band umspannt den Konzilsgedanken vom Basler bis zum fünften Laterankonzil; dazu die entsprechenden Theorien der Orthodoxie und der katholischen Reformpartei sowie „Die Vorgeschichte des Trientiner Konzils 1517-1545" (S. 135-462). Bd. 2: Die erste Trienter Tagungsperiode 1545/47, Freiburg 1957. Bd. 3: Bologneser Tagung (1547/48). Zweite Trienter Tagungsperiode (1551/52), Freiburg — Basel — Wien 1970. Bd. 4 : Dritte Tagungsperiode und Abschluß; Hlbbd. 1: Frankreich und der neue Anfang in Trient bis zum Tode der Legaten Gonzaga und Seripando, 1975; Hlbbd. 2 : Überwindung der Krise durch Morone, Schließung und Bestätigung, 1975. Jedin durfte das Vatikanische Archiv benutzen. So entstand ein — wenn auch durch die katholische Grundhaltung oft ideologisch verzerrtes — Standardwerk. M. Steinmetz, Deutschland von 1476—1648, a. a. O., S. 251. — In der bürgerlichen Geschichtsschreibung stellt man die Gegenreformation und ihre Ziele auch so dar: „It is clear that the Counter-Reformation stopped the rot within the Church, led to an improved standard of life, prayer and scholarship and to a recovery of some of the land lost to the Protestants. If the Roman Church emerged with a diminished following by the middle of the seventeenth century, it was more spiritually alive in 1660 than it had been at the beginning of the previous century." „But the whole point of the Counter-Reformation lies quite simply in the fact that it was a corporate impulse in which many individuals combined to revive the standards of Church life." (V. H. H. Green, Renaissance and Reformation, a. a. O., S. 177, 195.) E . W. Zeeden, Hegemonialkriege und Glaubenskämpfe 1556—1648, a. a. O., S. 22. —

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Die Reformationskirchen waren beim Ansturm der Gegenreformation in ihren theoretischen Auffassungen gespalten. Die orthodoxen Lutheraner (Gnesio-Lutheraner) bekämpften die Anhänger Melanchthons (Philippisten) und umgekehrt. In Deutschland suchten sich die Calvinisten mit den fortschrittlichen Kräften des Luthertums, den Philippisten, zu einer Barriere gegen Habsburg und damit gegen die mittelalterliche Reichsverfassung zu vereinen. In einigen Gebieten Deutschlands wurde der Calvinismus im 16. Jh. eingeführt — „von unten" und „von oben". Zentrum des deutschen Calvinismus wurde die Kurpfalz. Besonders auf dem Gebiet der Wissenschaft hat sich der Calvinismus in Deutschland Verdienste erworben. Die orthodoxen Lutheraner bekämpften neben den Calvinisten vor allem die „KryptoCalvinisten", die z. T. eher Kryptophilippisten waren. 55 Auf den politischen Hintergrund solcher Kämpfe wurde bereits am Beispiel Sachsens eingegangen. Mit der Aufteilung des ausgedehnten Habsburgischen Länderkomplexes (1555—1556) wurde das Kaisertum trotz seines römischen Namens zu einer vorwiegend deutschen Institution. Es büßte dabei weiter an Macht ein. Die Nachfolger Karls V., Ferdinand I. und Maximilian II., vermochten, ungeachtet ihrer Bereitschaft zu Konzessionen, den Machtverlust nicht aufzuhalten. Als Rudolf II. 1576 den Thron bestieg, hatte sich die Situation zwischen Kaiser und Territorialfürsten wesentlich verschärft. Um die Jahrhundertwende war die Frage immer drängender geworden, ob protestantische Landesherren berechtigt seien, über den Reichsstand von 1552 bzw. 1555 katholische Kirchengüter einzuziehen. Beim Reichstag spitzten sich die Meinungsverschiedenheiten schließlich zu auf den Streit um die Erneuerung des Religionsfriedens, genauer um den Zusatz, mit dem allein die Katholiken ihn erneuern wollten, daß nämlich alles gegen den Religionsfrieden Erworbene restituiert werden sollte. 1608 wurde wegen dieser Frage der Reichstag gesprengt; er wurde von den entschiedenen protestantischen Kräften verlassen, der Religionsfrieden wurde nicht erneuert. Unmittelbar nach diesen Vorgängen, aber unabhängig von ihnen, vereinigten sich vornehmlich süddeutsche protestantische Fürsten am 14. Mai 1608 in Ahausen (nördlich von Oettingen an der Wörnitz) zur schon oft geplanten „Union". Sie wurde auf zehn Jahre geschlossen. Die Katholiken sammelten sich (1609) in der von Bayern geführten „Liga". Damit war Deutschland in zwei militärisch organisierte, konfessionell-politische Lager gespalten. „Die Gesamtlage Deutschlands in der zweiten Hälfte des 16. Jh. war dadurch gekennzeichnet, daß es nicht unmittelbar von außen bedroht wurde, wodurch die starken inneren Widersprüche zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Feudalklasse vorübergehend überwunden worden wären. Im Inneren des Landes aber spitzten sich die Gegensätze in einem Maße zu, daß nur ein militärischer Kampf eine kurzfristige Regelung zu erzwingen vermochte. Deutschland stand am Vorabend eines Krieges, der zu einer europäischen Auseinandersetzung auf deutschem Boden

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Zur geistigen Entwicklung in Süddeutschland vgl. u. a. R. J. W. Evans, The making of the Habsburg Monarchy 1550—1700. An Interpretation, Oxford 1979. Vgl. J . Moltmann, Christoph Pezel (1539—1604) und der Calvinismus in Bremen, Bremen 1958.

DREISSIGJÄHRIGER K R I E G

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zu werden drohte."56 Die gesamteuropäischen Auseinandersetzungen um das politische System, das von der Habsburger Dynastie dominiert wurde und das die endgültige kontinentale Umklammerung Frankreichs zum Ziel hatte, s chlugen nun auf Deutschland zurück. Am Beginn des 17. Jh. standen sich in Europa zwei Mächtegruppierungen gegenüber. Einmal das habsburgisch-spanische Lager, das unter der Flagge eines militanten Katholizismus stand und durch Geheimverträge miteinander verbunden war. Andererseits können alle europäischen Staaten, die von den feudal-gegenreformatorischen Absichten der Habsburger und deren Hegemonie- und Expansionsbestrebungen bedroht waren, zum antihabsburgischantikatholischen Lager gezählt werden. Ein zentraler Platz kam in diesem Lager den Generalstaaten der Niederlande zu. H. Langer differenziert: das spanisch-habsburgische Lager und das (im Kern) niederländisch-französische. „Zum ersteren zählten die Weltmacht Spanien mit ihren niederländischen und italienischen Besitzungen, die deutschen Habsburger, der Papst, Bayern und einige kleinere deutsche Fürsten; zum zweiten stießen, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten, die befreiten Niederlande, England, Frankreich, Dänemark, Schweden, Siebenbürgen, Venedig und die protestantische Fürsten-Union mit der Pfalz an der Spitze. Das erste .Lager' war in sich stabiler, aber geographisch zerstreut, das zweite zwar zusammenhängender, aber politisch instabiler."57 Der Dreißigjährige Krieg hatte damit zwei Seiten, eine reichsinterne und eine gesamteuropäische. Es ging — gesamteuropäisch — um die Entscheidung zweier weltgeschichtlicher Fragen: erstens um die Verfestigung des ersten bürgerlich-republikanischen Staatswesens in den nördlichen Niederlanden, zweitens um die Entscheidung zwischen dem überlebten kaiserlich-universalen und dem nationalstaatlichen Entwicklungsweg, den vor allem Frankreich verkörperte. Dieser Kampf wurde im Dreißigjährigen Krieg auf dem Rücken des deutschen Volkes ausgetragen. Das politisch zersplitterte Deutschland bildete den Hauptkriegsschauplatz; der Krieg warf Deutschland in seiner Entwicklung gegenüber anderen europäischen Staaten weit zurück. Am 23. Mai 1618 traten die böhmischen Stände, Vertreter der antihabsburgisch-klerikalen Partei zusammen und opponierten gegen die kaiserlichen 5« M. Steinmetz, Deutschland von 1476-1648, a. a. O., S. 268-269. - Gleich anderen Historikern meint Langer, daß Kaiser und Fürsten, unfähig zur Lösung ihrer Herrschaftskrise auf politischem Wege, Anfang des 17. Jh. einen Volksaufstand befürchteten. Als dessen treibende Kraft und Beispielgeber sahen sie die Niederlande an. „Diese würden, schrieb ein württembergischer Korrespondenzrat gutachterlich i m Dezember 1614, in ihrem Bestreben, die katholischen und nichtkatholischen Fürsten zu vertreiben und ein .demokratisches Regiment' zu errichten, i m Reich Unterstützung finden. Als mögliche Helfer und Verbündete der Niederlande werden genannt: die ins Reich eingewanderten glaubensverfolgten Kalvinisten sowie die Bürgerschaft — weniger das Patriziat — der Hanse- und Reichsstädte. Vor allem die Bürgerschaft suche nichts mehr, ,als eine Universaldemokratie aufzurichten'. Das geschlossene Vorgehen dieser städtischen Fürstengegner würde ,den gemeinen Pöbel und das Landvolk' ermuntern, zu den Waffen zu greifen . . . und wider die Obrigkeit zu ziehen." (H. Langer, Hortus bellicus: Der 30jährige Krieg. Eine Kulturgeschichte, 2. Überarb. Aufl., Leipzig 1980, S. 50.) 67 H. Langer, Hortus bellicus, a. a. O., S. 11.

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Übergriffe auf ihre Rechte. Vom Prager Carolinum begab sich eine Deputation, der sich die Bevölkerung anschloß, zum Hradschin, wo man zwei Kaiserliche Räte — einen Geheimschreiber als Zugabe — aus dem Fenster in den Burggraben warf. Dieser „Prager Fenstersturz" wird allgemein als Beginn des Dreißigjährigen Krieges angesehen. Die böhmischen Stände, auf Hilfe ihrer Glaubensgenossen, vor allem der Niederländer und Englands hoffend, setzten ihren König Ferdinand aus dem Hause Habsburg ab und wählten Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz zum böhmischen König. Geschlossen stellten sich Liga, Kaiser, Spanien und Rom gegen diese „Rebellion". Am 4. November 1619 wurde der Pfälzer Kurfürst im Prager Veitsdom feierlich zum König gekrönt. Am 8. November 1620 schlugen die Truppen des Kaisers und seiner Verbündeten die böhmischen Streitkräfte und die von ihnen geworbenen Söldner in der Schlacht am Weißen Berge vernichtend. Friedrich, der „Winterkönig", wie er wegen seiner kurzen Regierungszeit genannt wurde, floh und verfiel der Reichsacht. Die kaiserlichen Sieger nahmen furchtbare Rache. Ihre Maßnahmen brachten die böhmischen Länder für drei Jahrhunderte um ihre politische Unabhängigkeit. Unter den am 21. Juni 1621 auf dem Altstädter Markt zu Prag hingerichteten 27 „Rädelsführern" des böhmischen Aufstandes befanden sich auch enge Freunde J . Keplers. Nach Verhängung der Reichsacht über den Pfälzer Kurfürsten eroberte und verheerte die katholische Reaktion mit Hilfe spanischer Hilfstruppen die Pfalz. Nachdem der Herzog von Braunschweig die Partei des „Winterkönigs" ergriffen hatte, erfaßte der Krieg große Teile Süd- und Nordwestdeutschlands. Im Speyer er Gebiet, bei Wimpfen am Neckar, bei Höchst in der Nähe von Frankfurt am Main wurden Schlachten geschlagen. Der Feldherr der Liga, Johann Graf von Tilly, eroberte Heidelberg, zerstörte es und raubte die berühmte Bibliothek. Mannheim und andere Städte wurden durch spanische und ligistische Truppen gebrandschatzt, Westfalen und Ostfriesland vom Krieg überzogen. 1625 trat der dänische König auf Seiten der protestantischen Union in den Krieg ein; auch Niedersachsen wurde damit zum Kriegsschauplatz. Als die Lage für die kaiserliche Partei bedrohlich geworden war, stellte Albrecht Eusebius von Wallenstein (eigtl. Waldstein) binnen weniger Monate ein Söldnerheer von 30000 Mann auf, mit dem er durch Franken und Hessen gegen die Feldherren des antihabsburgischen Lagers zog. Gemeinsam mit Tilly eroberte Wallenstein 1627 ganz Norddeutschland. Zeitgenössische Chroniken, so der Chronist der Stadt Cottbus, wissen zu berichten, daß Wallensteins Soldaten überall „in der Stadt und den Dörfern mit Brennen, Ehrenschänden, Plündern, Anfällen, Forttreibung der Pferde" die Untertanen zu Bettlern machten.58 Allerdings verhielten sich die anderen Söldnerheere nicht besser — auch die Truppen des Schwedenkönigs Gustav Adolf, der 1630 mit französischer Finanzhilfe und 58

Zit. nach: M. Steinmetz, Deutschland von 1476—1648, a. a. O., S. 340. — Zur marxistischen Einschätzung Wallensteins vgl. ebenda, S. 361—366 sowie H. Langer, Hortus bellicus, a . a . O . , S. 134—155. Zu Wallenstein vgl. weiter: G.Mann, Wallenstein, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1971. Die Zahl aller Bücher und Artikel über Wallenstein dürfte heute nicht mehr weit von 3000 entfernt sein. Vgl. G. Manns WallensteinBibliographie {ebenda, S. 1185—1203). Die Literatur zum Dreißigjährigen Krieg ist

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russischer Unterstützung gegen Kaiser und katholische Liga in den Krieg eingriff, benahmen sich schon zu seinen Lebzeiten zuchtlos und verwüsteten das Land. Mitten im Krieg plante Kaiser Ferdinand II. die Rückgabe aller der katholischen Kirche seit 1552 bzw. 1555 entrissenen Gebiete. Die geplanten Veränderungen hätten Grenzänderungen in ganz Nord- und Mitteldeutschland nach sich gezogen. Fürsten, durch säkularisierten Besitz reich geworden, wären mit einem Schlag auf die Stufe des niederen Adels herabgesunken. Besitzrechte, die die Billigung von drei Generationen hatten, wären aufgehoben, Adlige aus ihren Ländereien und Bürger aus ihren Städten verjagt worden, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Folgen. Dennoch verkündete Ferdinand am 6. März 1629 für Deutschland sein Restitutionsedikt. „An erster Stelle sprach es den Calvinisten die gesetzliche Daseinsberechtigung ab ; an zweiter Stelle versagte es Protestanten das Recht, kirchliches Land zu erwerben, weil solches Land unveräußerlich sei und nicht rechtmäßig verkauft werden könne . . . Drittens, und das war der wichtigste Punkt, sprach es jedem vorangegangenen Rechtsurteil, das Kirchenländereien betraf, die Gültigkeit ab und nahm so für den Kaiser das Recht in Anspruch, Gesetze und gesetzliche Entscheidungen nach eigenem Gutdünken zu ändern." 59 Wallensteins Heer wurde zur Durchsetzung des Edikts eingesetzt. Testfall waren Magdeburg und Augsburg, das letztere fast eine heilige Stadt des Luthertums. Zwar gingen 30000 Augsburger in die Verbannung, aber es gab keinerlei konzentrierten Widerstand gegen das Edikt. Inzwischen war Wallenstein, die Stütze des Kaisers, zum mächtigsten Mann im Reiche geworden. Er vermochte eine eigene Politik zu betreiben und machte im wachsenden Maße von dieser Möglichkeit Gebrauch. Das wiederum beunruhigte die katholischen wie die protestantischen Fürsten, die um ihre Rechte bangten. Im Juli 1630 trat in Regensburg ein Kurfürstentag zusammen. Ferdinand II. wurde mit einem allgemeinen Bund der Reichsstände gedroht, falls er nicht auf Wallenstein als Generalissimus verzichte. Der Kaiser entfast ebenso unübersehbar. An bürgerlichen Arbeiten seien hier genannt: das v o n E. W. Zeeden erarbeitete Kapitel „Das Zeitalter der Glaubenskämpfe", in: Handbuch der deutschen Geschichte, bearb. von B. Gebhardt. Hg. v. H. Grundmann, 8. völlig neubearb. Aufl., Bd. 2: Von der Reformation bis zum Ende des Absolutismus. 16. bis 18. Jh., Stuttgart 1955, S. 1 0 5 - 2 0 2 ; E. Préclin/V.-L. Tapié, Le X V I l e Siècle. Monarchies centraliseés, 1610-1715, 2. korr. Aufl., Paris 1949 (Clio 7,1). G. Pages, La Guerre de Trents Ans, Paris 1949; Propyläen-Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte. Hg. von G.Mann, A. Heuss u. A. Nitschke, Bd. 7: Von der Reformation zur Revolution, Berlin (West) 1964. Einen guten Überblick über die neue Literatur zum Dreißigjährigen Krieg, seine unterschiedlichen Wertungen und Einordnungen gibt : J. Polisensky, Der Krieg und die Gesellschaft in Europa 1618— 1648, Praha 1971. Zahlreiche Literaturhinweise auch zur allgemeinen Geschichte der Epoche bei: F. X. Seppelt/G. Schwaiger, Geschichte der Päpste, B d . V, München 1959. An größeren Aktenpublikationen sind vor allem zu nennen: Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, Abt. I., Bd. I (1618/20), bearb. von G. Franz, München 1966, Abt. II., Bd. IV (1628/29), bearb. v o n W. Goetz, München 1948; Abt. II., Bd. V (1629/30), bearb. von D. Albrecht, München 1964. 59 Vgl. C. V. Wedgwood, Der Dreißigjährige Krieg. Mit einer bibliographischen N o t e von D. Albrecht, München 1967, S. 211. — Die englische Ausgabe dieses Buches erschien bereits 1937. Wertvoll ist es noch heute, weil es den Dreißigjährigen Krieg in seinen europäischen Dimensionen zu fassen sucht.

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sprach schließlich dem Drängen der feudalen Partikulargewalten und beraubte sich damit selbst seiner wichtigsten Stütze, die seine Unabhängigkeit gegenüber den zwei Fürstengruppen sicherte. Am 12. August 1630 mußte Wallenstein sein Kommando niederlegen, er zog sich auf seine böhmischen Besitzungen zurück. Der Krieg aber ging noch achtzehn Jahre weiter. E r war — vor allem in seiner zweiten Hälfte — ein allseitiger feudaler Raubkrieg, der mit einem Kompromiß zwischen dem habsburgischen und antihabsburgischen Lager endete. In der marxistischen Literatur hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß das spanisch-habsburgische Lager — wenigstens in der ersten Hälfte des Krieges — die aggressivste Macht darstellte. 60 Eine neue Etappe begann 1630 mit dem Eingreifen Schwedens unter Gustav Adolf auf Seiten der Union. Der Schwedenkönig hatte ideologisch in Deutschland seine „protestantische Sache" vorbereitet. J e t z t wurde Deutschland endgültig zum Schauplatz europäischer Machtkämpfe. Die entscheidenden Gegner auf dem Kampfplatz Deutschland waren jetzt Frankreich und Spanien. Gustav Adolf, letztlich ein Werkzeug Richelieus, unterzeichnet mit Abgesandten Richelieus einen förmlichen Bündnisvertrag. E r wurde veröffentlicht. „Gustav Adolf, so aufrichtig seine religiöse Überzeugung war, kämpfte für die materielle Erstarkung Schwedens und um die Ostseeküste. Seine Feinde waren nicht die Katholiken, sondern alle, die für die Festigung Deutschlands eintraten. Ihr Führer war Johann Georg [von Sachsen — S. W.]. Drei wesentliche Gegensätze bedingten die Lage. D a war der Streit zwischen Katholiken und Protestanten, um den es sich nach außen hin zwischen Ferdinand und Gustav Adolf drehte und der . . . dem Durchschnittseuropäer noch immer die schwierigste und hauptsächlichste Frage zu sein schien. Außerdem bestand zwischen den Habsburgern und den Bourbonen eine politische Rivalität, welche die offizielle Politik von Paris, Madrid und Wien beherrschte. Unter diesen Gegensätzen verborgen klaffte die Spaltung zwischen den bodenständigen Deutschen und dem schwedischen Eindringling." 61 Nachdem Wallenstein in fast auswegloser Lage des Kaisers erneut das Oberkommando über die kaiserlichen Truppen übernommen hatte, kam es zur letztlich unentschieden verlaufenden Schlacht bei Lützen (1632), in der Gustav Adolf fiel. Sein Tod entfachte in Deutschland einen Funken Friedenshoffnung. Aber Schweden, Frankreich und Spanien brauchten weiter den Krieg. Johann Georg I. von Sachsen und sein Feldherr Johann Georg von Arnim verhandelten mit Wallenstein um einen Friedensschluß. Zwischen dem schwedischen Kanzler Oxenstierna und Johann Georg kam es zu einem offenen Kampf um die Führung der protestantischen Partei im Reich. Im März 1633 erkannte die Mehrzahl der protestantischen Fürsten Deutschlands in Heilbronn die Oberhoheit Oxenstiernas an. Frankreich erreichte bei dieser Zu60

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Vgl. H. Langer, Neue Forschungen zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Literaturbericht, in: ZfG, Berlin 16 (1968) S. 9 4 2 - 9 4 3 . C. V. Wedgwood, Der Dreißigjährige Krieg, a. a. O., S. 244. — Vgl. dazu aus marxistischer Sicht: H. Langer, Gustav Adolf — Versuch einer Neubewertung, in: Wissenschaftl. Zeitschr. d. Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Ges. u. Sprachwiss. Rhe, Greifswald 32 (1983) H. 1 - 2 , S. 5 5 - 6 1 .

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sammenkunft eine engere Bindung der deutschen Fürsten an die französischen Interessen. Wallenstein wurde in der Nacht vom 25. zum 26. 2. 1634 in Eger (Cheb) ermordet. Am 6. 9. 1634 kämpften die Schweden bei Nördlingen gegen das vereinigte spanisch-habsburgische Heer. Sie wurden vernichtend geschlagen. Die Schlacht war „militärisch . . . der Todesstoß für den Ruf des schwedischen Heeres und die Ruhmeskrone des spanischen; politisch aber brachte die Schlacht Richelieu die Lenkung der protestantischen Sache ein und ließ den Vorhang zum letzten Akt der deutschen Tragödie hochgehen, in dem die Bourbonen und die Habsburger endlich ihren Kampf bis zum unvermeidlichen Ende offen ausfochten . . . Im Kampf der beiden Dynastien mußten die Bourbonen, die eine gesündere Politik trieben und elastischere Kräfte besaßen, die Habsburger besiegen, die von der Morschheit Spaniens angefault waren." 62 In dieser Zeit bildete sich nach YVedgwood der Nationalismus heraus. „Während eine gesteigerte Voreingenommenheit für die Naturwissenschaften der gebildeten Welt eine neue Philosophie erschlossen hatte, waren durch die traurigen Ergebnisse der in die Tat umgesetzten Glaubenslehren die Kirchen als Staatenlenker in Verruf gekommen. Nicht etwa, daß die Frömmigkeit der Massen nachgelassen hätte; selbst Gebildeten und Grüblern gab der Glaube noch immer einen starken Halt, aber er war persönlicher geworden, mehr zu einer Angelegenheit zwischen dem Einzelnen und seinem Schöpfer . . . Die Ausdrücke .protestantisch' und .katholisch' verloren allmählich ihre Bedeutungskraft, und die Bezeichnungen .Deutscher', ,Franzose', .Schwede' nahmen nach und nach einen bedrohlichen Klang an. Der Kampf zwischen der Dynastie der Habsburger und ihren Gegnern hörte auf, ein Streit zwischen zwei Religionen zu sein, und wurde zu einem Kampf der Nationen um das europäische Gleichgewicht. Die politische Welt erhielt einen neuen Maßstab von Recht und Unrecht. Die alte Ethik zerbrach, als der Papst sich zum Gegner des habsburgischen Glaubensfeldzuges aufwarf und das katholische Frankreich unter der Leitung seines großen Kardinals dem protestantischen Schweden Subsidien gab. Danach wich das Kreuz unmerklich, aber rasch der Nationalflagge . . ." 63 Meines Erachtens überhöht die Autorin diesen Prozeß. Sicher: die Dichtungen von Opitz und Gryphius, um nur zwei Beispiele zu nennen (vgl. Kap. XII), beklagen die verhängnisvollen Folgen des Krieges für das Vaterland, für Deutschland. Aber auch schon die Humanisten der ersten Hälfte des 16. Jh. fachten den Nationalgedanken an. Zudem ist der Begriff des Vaterlandes selbst noch bei Opitz ziemlich verschwommen — wie in der ganzen Dichtung dieser Zeit. Und daß der Dreißigjährige Krieg in vielen Aspekten auch als Glaubenskrieg zu fassen ist, steht für mich außer Zweifel. Eine immer größere Rolle spielte — hervorgerufen auch durch die Kriegsgreuel — der Toleranzgedanke. Er begegnet uns in der Irenik (vgl. Kap. III und XII), aber auch in der Volksdichtung. Leider können wir das Problem der Friedens- und der Toleranzidee in dieser Zeit in unserer Arbeit nicht näher verfolgen. Es sei aber darauf hingewiesen, daß gerade das Toleranzdenken, durch die Erfahrungen des Krieges verstärkt, eine neue Qualität gewann. « Ebenda, S. 332. 63 Ebenda, S. 335-336.

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Offiziell trat Frankreich 1635 endgültig in den Krieg ein. Immer mehr begann er sich in eine Reihe von Einzelaktionen aufzulösen, vor allem, weil die Heerführer Entscheidungsschlachten auswichen, die sie wegen der völlig demoralisierten Soldateska auch nicht wagen konnten. Schließlich starb der Krieg an allgemeiner Erschöpfung. „Während eines ganzen Menschenalters wurde Deutschland die Kreuz und Quer durchzogen von der zuchtlosesten Soldateska, die die Geschichte kennt. Überall wurde gebrandschatzt, geplündert, gehängt, genotzüchtigt, gemordet . . . als der Friede kam, lag Deutschland hilflos, zertreten, zerfetzt, blutend am Boden." 64 „Die Gesamtverluste, die der Dreißigjährige Krieg und seine apokalyptischen Begleiterscheinungen — Teuerung, Hunger, Seuchen, Krankheiten — verschuldet haben, können wegen der Ungenauigkeit der Überlieferung nur grob angegeben werden. Sie bewegten sich um ein Viertel der Bevölkerung, also etwa vier bis fünf Millionen." 65 Am Beginn des Krieges war Deutschland noch ein blühendes Land: „An Bevölkerungsdichte stand das Reich an fünfter Stelle in Europa; es beherbergte ein Fünftel aller Einwohner des Kontinents. Etwa 80 bis 85 Prozent der Bevölkerung fanden ihre Beschäftigung in der Landwirtschaft. In gewerblich entwickelten Gebieten wie Sachsen waren es nur 70 Prozent, im Bergbaugebiet des Westerzgebirges sogar 50 Prozent." 66 Wie übertrieben die Berichte und Zahlenangaben der Verluste durch die Zeitgenossen auch sein mögen, sie geben doch einen allgemeinen Eindruck von den Zuständen nach dem Westfälischen Frieden. Die Schweden allein wurden beschuldigt, fast 2000 Schlösser, 18000 Dörfer und über 1500 Städte zerstört zu haben. Bayern behauptete, 80000 Familien und 900 Dörfer verloren zu haben, Böhmen fünf Sechstel seiner Dörfer und drei Viertel seiner Bevölkerung. In Württemberg war nach diesen Berichten die Zahl der Einwohner auf ein Sechstel gesunken, in Nassau auf ein Fünftel und in der verwüsteten Pfalz auf ein Fünfzigstel der ursprünglichen Zahl. Die Bevölkerung von Colmar war auf die Hälfte gesunken, die Wolfenbüttels auf ein Achtel, die Magdeburgs 64

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F. Engels, Die Mark, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1969, S. 328. - Zur Widerspiegelung des Dreißigjährigen Krieges in der Volksdichtung vgl.: F. W. Freiherr von Ditfurth, Die historisch-politischen Volkslieder des dreißigjährigen Krieges, hg. von K. Bartsch, Heidelberg 1882 (Reprint Leipzig 1979). H. Langer, Hortus bellicus, a. a. O., S. 8. — In der Literatur wird der Dreißigjährige Krieg zunehmend — auch bei G. Mann — als ein Bündel von Kriegen bezeichnet. Vgl. zum Beispiel V. H. H. Green: „The Thirty Years' War, which is really a series of wars rather than one single war, occurred because a number of different developments converged to produce a situation as a result of which peoples were plunged by an accidental and even trifling incident from a ,cold' war into the violence of full — blooded conflict." (V. H. H. Green, Renaissance and Reformation, a . a . O . , S. 293.) D. Ogg unterscheidet „three main stages" des Dreißigjährigen Krieges: „I. The loss of the Palatinate and the collapse of German Protestantism, complete by 1629; II. The restoration of Protestantism by Sweden, 1630—1635; and III. The intervention of France, 1635—1648. The advantage of this devision is that it keeps clear motives as much as campaigns . . . This third and final section will deal also with the Peace of Westphalia." (D. Ogg, Europe in the Seventeenth Century, 8. rev. ed., London 1961, S. 120). Traditionell auch: H.Lutz, Reformation und Gegenreformation, München — Wien 1979, S. 104. (Grundriß der Geschichte, 10). H. Langer, Hortus bellicus, a. a. O., S. 16; vgl. J. Kuczynski, Geschichte des Alltags des deutschen Volkes, Bd. 1, a. a. O., S. 84.

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auf ein Zehntel und die von Olmütz auf weniger als ein Fünfzehntel. Minden, Hameln, Göttingen und Magdeburg waren nach ihren eigenen Angaben Trümmerhaufen.67 Handel und Gewerbe lagen weitgehend darnieder. Eine entscheidende Ursache für die Bevölkerungsverluste lieferten neben den unmittelbaren Kriegsverlusten die Pest und andere Seuchen. Die Volksmassen setzten sich in der Zeit des großen Krieges an verschiedenen Orten gegen die vielfachen Bedrückungen der verschiedensten Art zur Wehr. Vor allem organisierten sich die Bauern selbsttätig in der Abwehr gegen die raubende und mordende Soldateska (u. a. oberösterreichischer Bauernaufstand 1626, Aufstand der oberschwäbischen Bauern im Jahre 1632 gegen Gustav Adolf, die Rebellion im Sundgau 1633, oberbayrischer Bauernaufstand 1633/34).68 Aber auch lähmende Mutlosigkeit und tiefste Verzweiflung breiteten sich aus. In der ersten Hälfte des 17. Jh. ging der Kampf um die Überwindung der mittelalterlichen feudalen Ideologie weiter. Dabei erfolgte dieser Kampf teilweise verdeckt. Immer wiederkehrende theoretische Themen und Fragestellungen waren: „Weiterführung der alten reformatio, Erkämpfung einer wahren Reformation, Verteidigung des wahren Christentums, Überwindung des Dogmas von der Verderbtheit der Welt und des Menschen sowie der Lehre, daß Dulden und Leiden gottgefällig sei, Fortsetzung der in der Renaissance begonnenen systematischen und wissenschaftlichen Forschertätigkeit, insbesondere im Bereich der Natur, und schließlich intensive theoretische Bemühungen um das Bild einer neuen Gesellschaftsordnung auf der Grundlage vernunftgemäßer Einsicht." 69 Mit welchen Mitteln die Vertreter der herrschenden Klasse z. B. gegen Schwär67

Vgl. C. V. Wedgwood, Der Dreißigjährige Krieg, a . a . O . , S. 444; vgl. d i e Zahlenangaben bei J . Kulischer, Allgemeine W i r t s c h a f t s g e s c h i c h t e des Mittelalters u n d der Neuzeit, Bd. 2: Die Neuzeit, Berlin 1954. S. 1 9 - 2 0 ; vgl. G. F r a n z , D e r Dreißigjährige Krieg u n d das deutsche Volk, 4. n e u b e a r b . u. verm. Aufl., S t u t t g a r t — New York 1979; S. H . Steinberg (Der Dreißigjährige K r i e g : E i n e neue I n t e r p r e t a t i o n , i n : Der Dreißigjährige Krieg. P e r s p e k t i v e n u n d S t r u k t u r e n , hg. v o n H . U. R u d o l f , D a r m s t a d t 1977, S. 51—67) h ä l t dagegen die Folgen dieses Krieges f ü r weit weniger gravierend, die Angaben f ü r Verluste a n Menschen, P r o d u k t i o n s m i t t e l n usw. f ü r stark übertrieben. 68 Vgl. N. Goldenbogen, Die Widerspiegelung der K l a s s e n k ä m p f e u n d m a c h t p o l i tischen Auseinandersetzungen während der e r s t e n J a h r e des D r e i ß i g j ä h r i g e n Krieges in der zeitgenössischen F l u g b l ä t t e r - u n d F l u g s c h r i f t e n l i t e r a t u r (1618 bis 1621/ 1622), Phil. Diss., Pädagog. Hochschule Dresden 1976. — „Der K a m p f u m die n a c k t e Existenz m i t den einfallenden Söldnern t r ü b t e d e n B a u e r n d e n Blick f ü r d e n f u n d a m e n t a l e n , u n ü b e r b r ü c k b a r e n Gegensatz zu ihren .eigenen* H e r r e n u n d zerrieb in zahllosen E i n z e l a k t i o n e n die Energie d e r u n t e r d r ü c k t e n Klasse, so d a ß in d e n folgenden J a h r h u n d e r t e n große Bauernkriege in D e u t s c h l a n d ausblieben. I n diesem Abebben bäuerlicher Streitbarkeit i m K l a s s e n k a m p f ist wohl die nachteiligste sozialpolitische Folge des Dreißigjährigen Krieges zu sehen." (H. Langer, H o r t u s bellicus, a. a. O., S. 126.) Siehe f e r n e r H . Langer, Der dreißigjährige Krieg — „endgültiger Abschluß der deutschen R e v o l u t i o n " des 16. J a h r h u n d e r t s ? , i n : Rolle u n d F o r m e n der Volksbewegung im bürgerlichen Revolutionszyklus, hg. v o n M. K o s sok, Berlin 1976, S. 1 6 - 3 6 . 69 Geschichte der deutschen L i t e r a t u r . Von d e n A n f ä n g e n bis zur G e g e n w a r t . H g . von K. Gysi, K . B ö t t c h e r u. a., Bd. 5 : 1600-1700, hg. v o n J . G. Boeckh u. a., 2. d u r c h ges. Aufl., B e r l i n 1963, S. 234.

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mer und Chiliasten schon in der zweiten Hälfte des 16. J h . vorgingen, mögen folgende Beispiele erhellen. In Leipzig wurde im Juli 1574 ein Leineweber zum Tode verurteilt, weil er gegen die Taufe „gesündigt" und hinsichtlich der Trinität Irrtümer verfochten habe. Ein ähnliches Urteil wurde im Oktober 1583 vom gleichen Gericht über einen anderen Angeklagten gefällt, weil er gegen die Trinität, die Verdienste Christi und andere Artikel des christlichen Glaubens sich vergangen habe. 70 Nach einer sächsischen Anweisung sollten die Schwärmer in Körben beerdigt werden, wobei die Pfarrer Schmähworte zu rufen hatten. 7 1 Chiliasmus war zu dieser Zeit noch eine wesentliche und massenwirksame Form des Protestes gegen die bestehenden Zustände. So wurde er auch von der herrschenden Klasse verstanden. Das gilt ebenso für Eschatologie und Apokalyptik. Wir werden auf theoretische Äußerungen dieses Protestes noch eingehen (vgl. Kap. I X und X I ) . Der Widerspruch zwischen den fürstlichen Einkünften, die vorwiegend feudaler Natur waren, und den neuen Ausgaben für die Staatsverwaltung sowie das stehende Heer — ebenfalls eine Neuerung — führte zu einer Uberspannung des Kredits. Die Beschaffung von Geld wurde zu einem Hauptproblem der absolutistischen Herrscher. Diesem Zweck diente das monetaristische wie das merkantilistische Wirtschaftssystem. Vor allem durch Schutzzölle, Einfuhrverbote usw. wurde eine aktive Handelsbilanz angestrebt. Gelenkte Münzverschlechterungen führten im 16. und 17. J h . zu „Preisrevolutionen". 72 Die Folge waren Naturalentlohnung, Niedergang des Kaufmannsstandes, Ruinierung des öffentlichen Kredits, Emporschnellen der Zinssätze. Die Münz Verschlechterungen zogen in Deutschland die „Kipper- und Wipperunruhen" nach sich, die Anfang 1622 ihren Höhepunkt erreichten und eine Form des Protestes der Volksmassen darstellten. In den einzelnen Territorialstaaten wälzte der Adel die Steuerlast auf die verschuldeten Städte ab, hier besonders auf die kleinen Zunftmeister und die plebejischen Schichten. Der Absolutismus in den einzelnen deutschen Ländern — von einem deutschen Absolutismus läßt sich kaum sprechen — brachte für Deutschland vornehmlich eine regionale und territoriale Zentralisation und eine Kräftigung des Partikularismus. Zugleich existierten bestimmte regionale Sonderregelungen und ständische Rechte weiter. Die Übel der deutschen Zerrissenheit wurden in einer Zeit, da sich die Entwicklung eines deutschen Nationalbewußtseins und die Schaffung eines zentralisierten Staates als historisch notwendig erwiesen, durch diesen Absolutismus noch vertieft. Der Sieg der Zersplitterung bedeutete die Konsolidierung der „Zentralisation innerhalb der Zersplitterung" 73 . Die landesherrlichen Gewalten hatten Vgl. J . Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 5, 12. Aufl., Freiburg i. Br. 1886, S. 444. 71 Vgl. G. Schilfert, Die englischen Independenten und die deutschen Sekten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: ZfG, Berlin 12 (1965) S.-H., S. 84-95. 72 Vgl. G. Schilfert, Deutschland von 1 6 4 8 - 1 7 8 9 . Vom Westfälischen Frieden bis zum Ausbruch der Französischen Revolution, 3., erw. Aufl., Berlin 1975, S. 51—55; P. Anderson, Die Entstehung des absolutistischen Staates, Frankfurt/M. 1979. r'3 F. Engels, Der deutsche Bauernkrieg, a. a. O., S. 332. — Zum Diskussionsstand der Absolutismus-Forschung bei marxistischen Historikern vgl.: H. Langer, Fragen der Absolutismus-Forschung, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus, Berlin 70

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sich nicht nur endgültig gegenüber dem Kaiser gefestigt, sondern auch gegenüber den kleinen Feudalherrn und den Städten. Die umfassende Zentralisation durch den Kaiser war endgültig gescheitert. Bestehen blieb die beschränkte Zentralisation durch die Landesfürsten. Auch in Deutschland wurden die Höfe zu — nicht ausschließlichen — Zentren einer vom Absolutismus beeinflußten Kunst und Literatur. Außerdem entwickelten die oberen Schichten des Bürgertums durch ihre eigene wirtschaftliche Macht und auch die Gelehrten an Schule und Universität gewisse Grundlagen für ein eigenständiges, bürgerlich bestimmtes Kulturbewußtsein. Es wäre falsch, in der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands im 17. Jh. nur eine Misere zu sehen. Auch in Deutschland befindet sich der Feudalismus in einer Krise. Trotz ihrer Besonderheiten ist die deutsche Geschichte dieser Zeit ein Teilprozeß des weltgeschichtlichen Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus. Anders wären die oppositionell-bürgerlichen Ideologien im Deutschland dieser Zeit nicht zu erklären, wäre für den späteren Pietismus, als Frühform der bürgerlichen Aufklärung, und die deutsche Aufklärung selbst kein Boden bereitet gewesen.7'1 Nach 1648 erlebte das Bürgertum in einigen deutschen Territorien inmitten der allgemeinen verheerenden Situation einen gewissen Aufschwung.75 „Das wesentliche politische Resultat des Dreißigjährigen Krieges war die Beendigung des jahrhundertelangen politischen Kampfes zwischen den Fürsten und dem Kaiser zugunsten der Fürsten. Die Fürsten hatten ihre Souveränität errungen und waren völlig unabhängig geworden. Es stand ihnen sogar ausdrücklich das Recht zu, Bündnisse untereinander und mit ausländischen Staaten abzuschließen. Damit war die Zersplitterung Deutschlands, die sich schon früher herausgebildet hatte, konsolidiert. 2000 souveräne Territorien, darunter 360 größere geistliche und weltliche Fürstentümer, kennzeichneten dieses traurige Bild."7« Sicher: Deutschland partizipierte am Außenhandel mit den überseeischen Gebieten infolge seiner geographischen Lage, infolge des fehlenden Nationalstaates und der Absperrung vom kolonialen Markt durch seine Eroberer recht wenig. Dennoch erweiterte sich vom 16. bis 18. Jh. auch der äußere Markt für deutsche gewerbliche Waren, vor allem nach Osteuropa hin, in besonderem Maße nach Polen und Rußland. Außerdem muß betont werden, daß die Kämpfe des Dreißigjährigen Krieges zu keinem Zeitpunkt alle deutschen Lande erfaßten. Das ist für die kulturelle und wissenschaftliche Situation von Bedeu3 (1979) S. 365—391. Die Entwicklung des Absolutismus in Deutschland bleibt dabei weitgehend ausgespart. 74 Vgl. u . a . : G. Schilfert, Die Revolutionen beim Übergang v o m Feudalismus zum Kapitalismus, in: ZfG, Berlin 17 (1969) S. 1 7 1 - 1 9 3 ; G. Schilfert, Zur Problematik von Staat, Bürgertum und Nation in Deutschland in der Periode des Übergangs v o m Feudalismus zum Kapitalismus, in: ZfG, Berlin 11 (1963) S. 515—534; H. Langer, Fortschrittspotenzen in den gesellschaftlichen Wandlungen der Übergangsepoche v o m Feudalismus zum Kapitalismus, in; ZfG, Berlin 30 (1982) S. 9 3 2 - 9 4 2 ; S. Wollgast, Wesenszüge der deutschen Frühaufklärung, in: Dresdner Hefte, Dresden (1983) H. 4, S. 4 - 1 0 . 75 Vgl. E. Winter, Frühaufklärung, Berlin 1966, S. 2 0 - 1 0 6 . 76 H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, a. a. O., S. 231.

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tung. „Schon allein die Tatsache, daß im 17. Jahrhundert in Deutschland nicht weniger als 11 Universitäten gegründet wurden, davon vier sogar während des Dreißigjährigen Krieges, freilich in seinem Anfangsstadium, zeigt, daß zu dieser Zeit das geistige Leben in Deutschland nicht ohne Kraft gewesen sein kann. Mitten im Dreißigjährigen Krieg schritt die Universität Erfurt an eine groß angelegte Universitätsreform . . ," 77 Soweit eine kurze Darstellung der sozialökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse, unter denen die hier zur Behandlung stehenden wissenschaftlichen und philosophischen Auffassungen bzw. Gruppierungen sich entwickelten. Dieser Überblick wäre unvollständig, würden hier nicht auch einige andere Aspekte erwähnt. Bei aller Anerkennung der Eigenständigkeit der Philosophie in Deutschland sind doch die Einflüsse aus dem Ausland (bei aller Wechselseitigkeit) außerordentlich stark. Karl Lamprecht ist in gewisser Hinsicht zuzustimmen: „Das Zeitalter vom 16. zum 18. Jahrhundert umfaßt die Periode stärkster Beeinflussung unserer nationalen Kultur von außen her." 78 Dazu gehören italienische, französische, spanische, englische und niederländische Einflüsse. Hinzu kommt natürlich die Rezeption der Antike, vermittelt über die Renaissancephilosophie. An der Wende zum 17. Jh. „kam zunächst für den deutschen Adel, dann auch für die besseren Angehörigen des Bürgertums die Sitte auf, zur Entwicklung der heimischen Erfahrung und zum Abschluß der Jugendbildung eine längere Reise zu unternehmen, die später so genannte Kavalierstour. Und fast ausnahmslos führte diese in fremde Länder, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts umfaßte sie bei voller Ausdehnung der Regel noch die Niederlande, England, Frankreich und Italien." 79 Das mußte zum Einfluß fremder Kulturen in der Heimat führen. Auch die Verschiedenheit der Konfessionen hatte ihre Wirkung: Süddeutschland war weitgehend katholisch, es kommunizierte in dieser Hinsicht stark mit Italien und Spanien. Der primär protestantische Norden pflegte vornehmlich den Verkehr zu den Niederlanden und den französischen Hugenotten. Schon im 16. Jh. gelangten flüchtige italienische Protestanten in die Schweiz, Franzosen in die Rheinlande, spanisch-protestantische Gemeinden gab es z. B. in Frankfurt/M. und Basel. Lamprecht meint weiter: „Allein im ganzen . . . ist Deutschland bei weitem mehr befruchtet worden, als es befruchtet hat; es weist in der internationalen Bewegung dieser Jahrhunderte die Eigenschaften mehr eines empfangenden als eines schöpferischen Organismus auf . . ," 80 Ich kann Lamprecht in dieser Schärfe nicht zustimmen. Eine solche Auffassung vergißt, daß die Reformation in Deutschland entstanden war, daß sie eine Weltwirkung ausübte und das Luthertum keineswegs nur auf Nord- bzw. Mittel- und Ostdeutschland beschränkt blieb. Sie vergißt, daß Deutschland das Mutterland vieler Häresien " E. Winter, Frühaufklärung, a. a. O., S. 53. - Vgl. dazu S. H. Steinberg, Der Dreißigjährige Krieg. Eine neue Interpretation, a. a. O. 78 K. Lamprecht, Deutsche Geschichte. Abt. II: Neuere Zeit, Bd. 3/1, Freiburg i. Br. 1905, S. 3. 79 Ebenda, S. 4. — Vgl. S. Wollgast, Zur Stellung des Gelehrten in Deutschland im 17. Jahrhundert, a. a. O., S. 4 1 - 4 2 . 8« Ebenda, S. 6.

GEISTIGES

LEBEN

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war, die ihre Entfaltung dann allerdings erst in Holland und später in England zu nehmen vermochten. Vergessen wird der Einfluß von Andreae auf R. Fludd, von Jungius auf Boyle, von Böhme auf die häretische Bewegung in den Niederlanden und in England, die Mittlertätigkeit E. Soners in Altdorf und vieler anderer deutscher Sozinianer, das europäische Weiterwirken des Paracelsismus usw. Es ist gerade auch ein Anliegen dieser Arbeit, diese Einflüsse zu verdeutlichen. Nach Lamprecht lassen sich generell drei Etappen ausländischen Kultureinflusses auf Deutschland konstatieren: „die eines vornehmlich italienischen bis etwa zum Jahre 1620 . . .; dann eine Periode vorwiegend niederländischen Einflusses . . . schon früh, seit etwa 1580, beginnend und etwa ein Jahrhundert, ja länger fortwährend; und endlich eine Periode vorwiegend französischen Einflusses, deren Höhepunkt zwischen 1680 und 1720 liegt . . . " 8 1 Daneben spiele der spanische Einfluß bis in die zweite Hälfte des 17. Jh., der englische vornehmlich seit Beginn des 18. Jh., eine bemerkenswerte Roñe. Diese Periodisierung ist bedingt zutreffend, aber stets mit der nationalen, eigenständigen Geistesentwicklung zu verbinden. Bei der Schilderung des italienischen Einflusses lassen sich Rezeption der Antike und Aufnahme der italienischen Renaissance (außer vielleicht in der Literatur) kaum trennen. Seit dem 16. Jh. zeigt sich — bis weit ins 17. J h . — der italienische Einfluß in Deutschland in der Malerei, Baukunst, Musik, Ingenieurkunst. Gleiches ist für die entsprechende Zeit hinsichtlich des Einflusses der niederländischen Kultur nachzuweisen. Wir folgen uneingeschränkt Lamprechts folgender Feststellung: Was die „wissenschaftlich tätigen Köpfe" zu Beginn des 17. Jh. zusammenführte, „waren . . . nicht so sehr bestimmte Probleme oder ein absolut verwandter methodischer Zug des Denkens, sondern weit mehr das allgemeine Bedürfnis gemeinsamen Daseins in einer den Wissenschaften zu-, dem Dogmatismus und der Scholastik abgewandten Weltanschauung, gleichviel, ob diese sich speziell politisch, national oder dichterisch oder im engeren Sinne des Wortes wissenschaftlich äußerte". 82 So entstanden erste wissenschaftliche Vereinigungen. Sie pflegten sowohl Natur- als auch Gesellschaftswissenschaften, die deutsche Sprache wie die Poesie. Hierher gehören die 1617 von Ludwig von Anhalt-Köthen mit einigen Freunden in Weimar begründete „Fruchtbringende Gesellschaft" sowie Sprachgesellschaften in Straßburg, Nürnberg, Hamburg u. a. 1622 gründete J . Jungius in Rostock das „Collegium philosophicum", auch „academia ereunetica" genannt. Bei alldem ist zu sehen, das gesamte Leben ist in dieser Zeit noch religiös geprägt! 8 3 Bedenken wir: Als im 17. Jh. in Paris ein Gelehrtenstreit zwischen Korpuskulartheoretikern und Peripatetikern ausbricht, wird nicht mit naturwissenschaftlichen, sondern hauptsächlich mit moralischen Argumenten gekämpft. Die Scholastiker werfen der Atomistik ihre schon seit Epikur bestehende Verbindung mit angeblich unmoralischer Lebensanschauung vor und 81 Ebenda, S. 9. 82 Ebenda, S. 5 7 - 5 8 . 83 Vgl. H. Langer, Religion, Konfession und Kirche in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: ZfG, Berlin 32 (1984) S. 110—124.

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glauben sie schon allein deswegen abweisen zu müssen. Die Atomistik führe unweigerlich zum Materialismus und widerspreche daher der Religion wie der Moral. Als Gassendi die Verteidigung der Atomistik übernimmt, sucht er ihre Überlegenheit zunächst nicht mit physikalischen Argumenten zu belegen oder sich gegen die Verquickung von Wissenschaft und Moral zu verwahren. Er sucht zuerst, Epikur moralisch zu rehabilitieren und alle sittlichen Verfehlungen, die man ihm nachsagt, als pure Verleumdungen zu erweisen. Das geschieht in den beiden ersten Büchern seiner „De vita, moribus et doctrina Epicuri" (1647) sowie im „Syntagma philosophiae Epicuri" (2. Appendix zu Gassendis „Animadversiones in decem librum Diogenis Laertii, qui est De Vita, Moribus, Leiden 1649). Im Jahre 1624 sollte in Paris eine öffentliche Disputation zugunsten der Atomistik stattfinden. Sie wurde mit Hilfe der kirchlichen und staatlichen Autorität gewaltsam vereitelt. Seither wagte für die nächsten zwanzig Jahre kein Autor in Frankreich mehr, ein Werk mit atomistischen Auffassungen erscheinen zu lassen. Die Fortführung und Weiterentwicklung der atomistischen Theorie erfolgte nur im vertraulichen privaten Verkehr der Gelehrten mit M. Mersenne im Mittelpunkt, einem Mann, der mit vielen Gelehrten der Zeit in ständiger Verbindung stand und für Gedankenaustausch zwischen ihnen sorgte, was er als seine eigentliche Lebensaufgabe ansah. Auch Gassendi unterdrückte zunächst die weiteren Bücher seines Werkes über die epikureische Philosophie, in denen er von der moralischen Argumentation zu einer sachlichen Verteidigung des Atomismus und Bekämpfung der aristotelischen Elementenlehre vorstößt. Er übt gleichsam Selbstzensur. Über Mersenne wurde ihr Inhalt trotzdem allen maßgeblichen Gelehrten in kurzer Zeit bekannt, gleichzeitig mit dem System Descartes'. Gassendi konnte sie aber erst 1649 gedruckt veröffentlichen. Descartes selbst emigrierte nach Holland, um ungestört von der Zensur und der progressive geistige Bewegungen unterdrückenden katholischen Kirche arbeiten zu können. Wenn die Unterdrückung fortschrittlicher Gedanken bei Gelehrten im gesellschaftlich entwickelteren Frankreich schon der Fall war, so galt dies in noch stärkerem Maße für Deutschland. Dennoch wäre es ahistorisch, zu behaupten, Deutschland sei in dieser Zeit des relativen ökonomischen Zurückbleibens auch weitgehend oder absolut theoretisch zurückgeblieben. Ein solches Urteil beruht vornehmlich auf Unkenntnis, und für einen den dialektischen Entwicklungsgedanken vertretenden Wissenschaftler ist es einfach unannehmbar. Dabei ist das theoretisch Neue weitgehend auch in den vielen Spielarten des theologischen Denkens zu suchen. Die folgenden Kapitel wollen diese These fundieren.

ZWEITES K A P I T E L

Von der Naturphilosophie zur modernen Naturwissenschaft

Die Wissenschaft der Neuzeit ist in der ständigen Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsverständnis ausgebildet worden, das die Scholastik tradiert hatte. Die Durchsetzung des neuen wissenschaftlichen Denkens spiegelt sich zuerst in der von der Renaissancephilosophie 1 vorgetragenen Kritik der Allgemeinbegriffe wider, die Naturwissenschaft und Philosophie gemeinsam haben. Endliches und Unendliches, Eins und Ganzes, Ort und Raum, Bewegung und zeitliche Dauer, Gesetz und Freiheit, Subjekt und Objekt usw. werden in einer Weise aufeinander bezogen, in der sich das gedankliche Koordinatensystem ankündigt, in dem Newton dann 1687 den ersten axiomatischen Aufbau einer mathematischen Naturwissenschaft vollenden kann. Die Naturphilosophie der Renaissance vermittelt den Übergang von der scholastischen Metaphysik zu der rationalen Denkweise, die in Galileis physikalischer Begriffsbildung zum Durchbruch kommt. Um 1600 endet die Periode, in der eine reine naturphilosophische Spekulation den begrifflichen Fortschritt in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu repräsentieren vermag. Nach John D. Bemal erfolgt der eigentliche Prozeß der Herausbildung der modernen Naturwissenschaft nach 1650.2 Jahreszahlen sind als Periodeneinschnitte weitgehend relativ. 1650 soll hier lediglich für den ungefähren Zeitpunkt stehen, wo die Summe der gemachten Erfindungen und Entdeckun1 2

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Vgl. E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Studien der Bibliothek Warburg X, Leipzig - Berlin 1927, bes. S. 1 8 6 - 2 0 1 . J. D. Bemal, Die Wissenschaft in der Geschichte, 3., bearb. Aufl., Berlin 1967, S. 280. — Marie Boas faßt dagegen „den Zeitabschnitt zwischen 1450 und 1630 [als] eine abgeschlossene Epoche in der Geschichte der Naturwissenschaften". 1630 wird gesetzt, weil in diesem Jahr Galileis „Dialog über die beiden Hauptsysteme der Welt" vollendet wurde. (M. Boas, Die Renaissance der Naturwissenschaften 1450-1630. Das Zeitalter des Kopernikus, Gütersloh 1965, S. 14.) - Webster stellt fest: „It is not an exaggeration to claim that between 1626 and 1660, a philosophical revolution was accomplished in England." (Ch. Webster, The great Instauration. Science, Medicine and Reform 1626—1660, London 1975, S. XIII.) Untersuchungen wie die Websters über England — und das gesamte (630 S. umfassende) Buch ist nur eine von ihnen — fehlen für Deutschland. D a aber die englischen Quellen bekannt sind, wird oft unzulässig von ihnen auf Deutschland extrapoliert — zumeist negativ. — Für das ganze Kap. ist anregend: W. Krohn, Die „neue Wissenschaft" der Renaissance, in: G. Böhme/W r . van den Daele/W. Krohn, Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt/M. 1977, S. 13-128. Wollgast

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gen in die allgemeine Anerkennung ihrer neuen Methode umschlägt, wo zugleich die Theorien von F. Bacon und R. Descartes — die in unterschiedlichem Grade auch den erreichten neuen Stand der Entwicklung in Naturwissenschaft und Technik reflektieren — von den meisten der progressiven Naturwissenschaftler und z. T. auch von den Philosophen akzeptiert wurden. Die meisten durchschlagenden Erfolge in den Naturwissenschaften wurden in der zweiten Hälfte des 17. Jh., und zwar in der Mehrheit außerhalb Deutschlands erreicht. 1661 macht R. Boyle im „Sceptical Chemist" die Atomistik in Anlehnung an P. Gassendi in der Chemie fruchtbar. 1673 beschreibt Chr. Huygens im „Horologium oscillatorium" seine berühmte Pendeluhr, womit zugleich die Grundlagen der Systemmechanik formuliert sind. 1684 publiziert G. W . Leibniz die Differentialrechnung, die I. Newton als Fluxionsrechnung schon 1669 besitzt. 1696 erscheint das erste Lehrbuch der Infinitesimalrechnung von G. F. A . de L'Hospital. Spätestens um die Mitte des 17. Jh. wurde die irdische und himmlische Mechanik ein Zentrum, die einzelwissenschaftliche Grundlage der theoretischen Reflexionen der Philosophen und Naturwissenschaftler. Die Mechanik hatte als einziger Zweig der Naturwissenschaften im 17. Jh. durch die mathematische Fassung ihrer Elementarbeziehungen eine wissenschaftliche Form gewonnen. Das ergab sich vornehmlich aus dem technischen Entwicklungsstand, der gesellschaftlichen Praxis und den Bedürfnissen der Manufakturperiode; sie gruppierten sich vor allem um Probleme der Mechanik. Bei der relativen Dürftigkeit der überlieferten naturwissenschaftlichen Kenntnisse war es nicht verwunderlich, ja unausbleiblich, daß „die elementarste Naturwissenschaft, die Mechanik der irdischen und himmlischen Körper, den ersten Rang ein [nahm], und neben ihr, in ihrem Dienst, die Entdeckung und Vervollkommnung der mathematischen Methoden. Hier wurde Großes geleistet." 3 In den Naturwissenschaften wurden jedoch bereits vor 1650 nicht zu unterschätzende Erfolge erzielt. Esist noch immer die Zeit der großen Entdeckungsfahrten, die neue naturwissenschaftliche, geographische usw. Erkenntnisse vermittelten. Die beiden größten wissenschaftlichen Errungenschaften des 16. Jh. sind die Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes durch N. Copernicus und die erste vollständige Anatomie des menschlichen Körpers, die Andreas Vesalius in seinem Werk „De humani corporis fabrica" (1543) gab. Sie liegen beide vor 1550. Ebenso die meisten Werke des Georgius Agricola, seine Schrift „De re metallica" — „wahrscheinlich die beste jemals verfaßte technische Abhandlung" 4 , erschien postum 1556. Hier wurden nicht nur die Metalle und Minerale, sondern auch die Praxis und sogar die Ökonomie des Bergbaus behandelt. K . Gesner, G. Rondelet und Pierre Belon gaben ausgezeichnete Beschreibungen der Tiere und Pflanzen der Alten wie der Neuen Welt. 5 Gesners Arbeit wollte Aristoteles' „historia i 3 F. Engels, Dialektik der Natur, in: MEW, Bd. 20, Berlin 1962, S. 313. J. D. Bernal, Die Wissenschaft in der Geschichte, a. a. O., S. 239. — Vgl. G. Agricola, De re metallica libri X I I , übers, v. G. Fraustadt und H. Prescher, in: G. Agricola, Ausgewählte Werke, hg. von H. Prescher, Bd. 8, Berlin 1974. 5 Vgl. u. a. G. Rondelet, Libri de Piscibus Marinis, in quibus verae Piscium effigies expressae sunt. T. 1—2, Lugduni 1554—1555; ders. : L'Histoire entière des poissons,

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RENAISSANCE UND

NATURWISSENSCHAFT

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animalium" ersetzen, auch Rondelet geht mit seiner Arbeit über die Meerestiere über Aristoteles hinaus. Carlo Ruini edierte eine für mehrere Generationen nicht übertroffene Monographie „Über Anatomie und Krankheit des Pferdes" (Bologna 1598). Dazu kamen fast unzählige Berichte über die Erforschung der neuen Länder. Gesners Lebenswerk ist eine große Naturgeschichte der Pflanzen und Tiere. In seinen Abbildungen begegnen uns erstmalig genaue Zeichnungen der Blütenteile und Früchte, die seine Vorgänger stark vernachlässigt hatten. In der Zeit von 1550—1650 wird die Verbindung von Beobachtung, Experiment, Messung und mathematischer Theorie allgemein. Eine Vielzahl von Geräten und Instrumenten wird erfunden. Auch Aristoteles hatte sich auf die Erfahrung bezogen, und auch im Mittelalter wurde experimentiert. Aber bei Aristoteles ging es um die Sinnes-, die Alltagserfahrung. Das aktive Eingreifen in die Natur wird als nicht im Einklang mit der Natur stehend betrachtet. Daher die Unterschätzung der Mechanik und der mechanischen Künste — im Gegensatz zur Physik — bei Aristoteles und seinen Kommentatoren. Zudem ist bei Aristoteles — im Gegensatz zu den Pythagoreern — die Mathematik kein Mittel zur Naturerkenntnis. Er trennt Mathematik, Physik und Philosophie. In der mit der Renaissance beginnenden neuen Naturwissenschaft dient Erfahrung primär zur Bestätigung, oder Widerlegung, von Naturgesetzen. Der Erfahrungsbegriff gewinnt eine neue Qualität. Das Mathematikverständnis des Neuplatonismus wird jetzt stärker benutzt und weiterentwickelt. Die wissenschaftliche Forschung wendet sich etwa seit dem 16. Jh. neuen Bereichen der Physik zu, besonders der Akustik, der Wärmelehre, den Erscheinungen der Elektrizität und des Magnetismus. Dabei blieb die Mechanik die „Königin" der Wissenschaften und beeinflußte alle anderen Entdeckungen und Erfindungen. Wo die Mechanik Königin war, da war mathematische Theorie das methodische Ideal. Um 1590 soll der holländische Brillenmacher Zacharias Janssen das zusammengesetzte Mikroskop, um 1608 der aus Wesel stammende und seit 1594 in Middelburg lebende Brillenmacher Hans Lipperhey das Fernrohr erfunden haben. Von Galilei und vor allem von Kepler bzw. Christoph Scheiner wurde das Fernrohr vervollkommnet. Die grundlegenden Entdeckungen und Erfindungen Galileo Galileis sind zu bekannt, als daß sie hier noch der erneuten Darlegung bedürfen.6 Unbestritten liegen seine Hauptverdienste im Bereich der Dynamik und der Statik. Die Dynamik als Zweig der Mechanik hat Galilei faktisch erst geschaffen, die Fundamente der Statik waren schon in der Antike gelegt

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T. 1—2, Lyon 1558; P. Belon, L'histoire de la nature des oyseaux, avec leurs descriptions, et naifs portraits retirez du nature]: escrite en sept livres, Paris 1555; C. Gesner, Historiae Animalium, Lib. I: de Quadrupedibus uiuiparis; Lib. II: de Quadrupedibusouiparis; Lib. III: qui est de Auium natura;Lib. IV: qui est de Piscium et Aquatilium animantium natura; lib. V: De serpentinum natura, Zürich 1551—1587. Vgl. zusammenfassend: F. Dannemann, Die Naturwissenschaften in ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammenhange, Bd. 2, Leipzig 1911, S. 15—50; E. J. Dijksterhuis, Die Mechanisierung des Weltbildes, Berlin (West) — Göttingen — Heidelberg 1956, S. 371—399; aus marxistischer Sicht: B. G. Kuznecov, Von Galilei bis Einstein. Entwicklung der physikalischen Ideen, Berlin 1970, S. 37—74. — Zum

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NATURWISSENSCHAFT

worden. Vor allem verdanken wir Galilei jene eigentümliche Verbindung statischer und dynamischer Grundsätze, die wir heute als das Prinzip der virtuellen oder möglichen Geschwindigkeiten bzw. Verschiebungen bezeichnen. Unklarheiten hatte Galilei hinsichtlich des Gesetzes vom Parallelogramm der Kräfte, auch in bezug auf Wesen und Wirkung des Stoßes. Grundlegend waren seine Untersuchungen über die Festigkeit, wenn er auch unter dem Einfluß der Lehre vom horror vacui unrichtige Vorstellungen ausbildete. Verdienste kommen Galilei schließlich hinsichtlich der Mechanik flüssiger Körper zu. Von Galilei ausgehend, auf ihm fußend, bildete sich in Florenz die Academia del Cimento (1657—1667) heraus, der u. a. die Galilei-Schüler Vincenzo Viviani und Evangelista Torricelli, der Anatom A. G. Borelli, Nicolaus Steno, Francesco Redi und Giovanni Domenico Cassini angehörten. In dieser empirisch arbeitenden Schule wurde das erste Thermometer konstruiert. Mancher Satz, den Galilei ausgesprochen, aber nicht auf seine Richtigkeit hin geprüft hatte, wurde in der Academia experimentell erhärtet. Francesco Maria Grimaldi fand die Beugung des Lichtes und lieferte die erste Beschreibung des durch ein Prisma erzeugten Sonnenspektrums. Simon Stevin verdanken wir die erste systematische Darstellung des Rechnens mit Dezimalbrüchen. Er fand die heutige Bezeichnung von Potenzen und führte die gebrochenen Exponenten ein. Seine Symbole wurden später von Descartes in die einheitliche Form x 2 , x 3 usw. gebracht. Verfahren, die zuvor in Worten ausgedrückt worden waren, hatten sich seit dem Ende des 15. Jh. allmählich in Symbolen wie + , —, = , usw. durchgesetzt, so daß in den ersten Jahrzehnten des 17. Jh. Algebra und Arithmetik im großen und ganzen bereits in die heute gebräuchliche Form gebracht worden waren. Etwa zur gleichen Zeit vollzogen sich bedeutende Fortschritte in der Geometrie (die Einführung der analytischen Geometrie und die Herausbildung der Infinitesimalrechnung) . Grundlegend waren hier die Arbeiten von P. de Fermat und R. Descartes. Stevin gelangte auch zu bemerkenswerten Erkenntnissen im Bereich der Mechanik. 1586 beschrieb er ein später fälschlich Galilei zugeschriebenes Experiment, das die Aristotelische Anschauung widerlegte, wonach schwere Körper schneller fallen als leichte, wenn sie gleiches spezifisches Gewicht besitzen. Als Stevin das alte Problem erörterte, wie es dazu kommt, daß Gegenstände auf dem Grunde eines Sees oder des Meeres nicht von dem Gewicht der Wassermassen um sie her zerdrückt werden, gelangte er zur Formulierung des hydrostatischen Paradoxes, wonach der Druck einer Begriff der Erfahrung und zum Experiment vgl.: M. Heidelberger/S. Thiessen, Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Reinbek b. Hamburg 1981. — E r s t im 17. J h . wurden drei zentrale Komponenten der neuzeitlichen Wissenschaft miteinander verknüpft, die zuvor durchaus schon existierten: „ I n d e r Wissenschaft werden Gesetze der Natur gesucht, die Suche geschieht experimentell, die Forschungsergebnisse gelten als Fortschritte gegenüber den bisherigen Kenntnissen." Im Gegensatz zum Gesetz ist das Experiment von der Praxis her konstituiert. Fortschritt ist schließlich primär eine soziale Kategorie, der moderne wissenschaftliche Fortschritt setzt Arbeitsteilung und Kooperation voraus (W. Krohn, Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, in: E . Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, hg. u. übers, von W . Krohn, Frankfurt/M. 1976, S. 8).

NATURWISSENSCHAFTLICHE

LEISTUNGEN

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Flüssigkeit auf einen in sie eingetauchten festen Körper proportional der Höhe der Wassersäule unmittelbar über ihm ist und nicht dem Gesamtvolumen der Flüssigkeit, in die er eingetaucht ist. Stevins logische, quasi-mathematische Methode ähnelt der später von Pascal angewandten. Stevin war besonders stolz auf seine Erklärung der Gleichgewichtsverhältnisse von Körpern auf einer schiefen Ebene, die er auf der Titelseite der „Elemente der Wiegekunst" (veröffentlicht holländisch im Jahre 1586) illustrierte, zusammen mit einem Motto, das zeigen sollte, wie er einem scheinbaren Wunder den Charakter des Wunderbaren genommen habe. Stevin besaß auch schon ein intuitives Verständnis für das Kräfteparallelogramm, ein Verfahren zur Ermittlung der Resultierenden zweier Kräfte, die weder zusammenfallende noch parallele Wirkungslinien besitzen. Ausdrücklich wurde diese Methode erst 1687 von Newton und Varignon beschrieben. F. Vieta führte eine allgemeine Buchstabengröße in die Mathematik ein und verknüpfte die Trigonometrie mit der Algebra. Er fand schon eine Methode, Zahlenwerte der Wurzeln von Polynomen zu berechnen. Früheren Mathematikern waren negative Wurzeln unbegreiflich erschienen. Albert Girard dehnte als erster den Zahlenbegriff auf imaginäre Mengen wie ]/ — 1 aus, die in der Zahlenreihe von Null bis unendlich nach beiden Richtungen hin keinen Platz hatten. Gérard Desargues veröffentlichte 1639 eine klassisch gewordene Abhandlung über Kegelschnitte. R. Descartes schuf dann die analytische Geometrie. Sie wurde 1637 bekannt. Er gelangte zum Prinzip von der Erhaltung des Gesamtimpulses und löste Gleichungen höheren Grades mittels algebraischer Kurven. In Weiterentwicklung dieses Kalküls beschrieben später Newton und Leibniz geometrische Figuren durch algebraische Gleichungen, die die Bewegung eines geometrischen Punktes darstellen. Diese Methoden dienten der Analyse der Beziehungen zwischen Massen und Bewegungen und gehören bis in unser Jahrhundert zu den grundlegenden mathematischen Verfahren, die die Naturwissenschaftler benutzen. Descartes entwickelte auch bereits die Vorstellung, daß Masse und Zeit grundlegende Dimensionen der Welt und ebenso wichtig wie die drei Dimensionen des Raumes seien. Der Italiener B. Cavalieri erwarb sich ebenfalls in dem von uns behandelten Zeitraum große Verdienste um die Entwicklung der Mathematik. Gegenüber Keplers Anwendungen faßte er die Infinitesimalbetrachtung allgemeingültiger auf und bereitete dadurch die Infinitesimalrechnung entscheidend vor. Untersuchungen auf dem Gebiet der Optik drehten sich um die komplexen Probleme der Reflexion und Refraktion, wie sie besonders beim Regenbogen in Erscheinung treten. Um 1591 schrieb Marcantonio de Dominis, Erzbischof von Spaleto (Split), die Abhandlung „De radiis visus et lucis . . . et iride tractatus" (Venedig 1611), in der er die Bildung des primären Regenbogens (des einzigen, den man gewöhnlich sieht) zwei Refraktionen und einer Reflexion des Lichtes in den Wassertropfen der Atmosphäre oder im Regen und diejenige des sekundären Regenbogens (eines Bogens, bei dem die Farben in umgekehrter Reihenfolge erscheinen und den man manchmal außerhalb des primären als schwächere Lichterscheinung erblicken kann) zwei Refraktionen und zwei Reflexionen zuschrieb. (Zu de Dominis vgl. Kap. I I I und IV.) Im Jahre 1611 untersuchte Kepler in seiner Schrift „Dioptrice" die Lichtbrechung durch Linsen. Das

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Gesetz für die Refraktion des Lichtes war 1621 durch Willebrord Snellius, Professor der Mathematik in Leiden, entdeckt worden. Snellius fand, daß die Sinus des Einfalls- und des Brechungswinkels an einer Grenzfläche zwischen zwei bestimmten Medien immer im gleichen Verhältnis zueinander stehen, dessen Zahlenwert man als den Brechungsindex der betreffenden Grenzfläche bezeichnet. Dieses Brechungsgesetz wurde zuerst 1637 durch Descartes bekanntgegeben. Snellius wie Descartes fußten auf Untersuchungen Keplers. Gemeinsam mit den früher entdeckten Gesetzen von der gradlinigen Ausbreitung und Widerspiegelung des Lichtes dienten die Forschungen von Snellius im Bereich der Optik als Grundlage für die Ausarbeitung der sog. geometrischen Optik. P. de Fermat formulierte ihre Grundthesen im Prinzip des kürzesten Weges des Lichtstrahles. Die geometrische Optik, mit großem Erfolg bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Wirkung von Fernrohren angewandt, wurde zum festen theoretischen Fundament des sich schnell entwickelnden optischen Gerätebaues. Dadurch wurde die Schaffung des Teleskops ermöglicht. Oft wird übersehen, daß in dieser Zeit die Techniker und Naturwissenschaftler bzw. -philosophen in wachsendem Maße zusammenarbeiteten. Es herrscht nicht die strenge Trennung, die E. Zilsel behauptet. Die Techniker — wir verwenden diesen Ausdruck hier, obwohl wir uns bewußt sind, daß es auch eine Definitionsfrage ist — bezogen in dieser Zeit die neuen Kenntnisse über die Bewegung und den Druck in Flüssigkeiten und Gasen, die Zusammensetzung von Kräften, die Pendelgesetze, die Ballistik und die Veredlung von Metallen auf die Praxis. Beim Sprengen in den Bergwerken kam das Schießpulver zur Anwendung (1613). Im Jahre 1612 erfand Simon Sturtevant eine Methode, um Koks zu produzieren, d. h. asphalthaltige Kohle zu erhitzen, um sie von flüchtigen Ingredienzen zu befreien. Dieser Koks konnte mit Vorteil in der Metallurgie Verwendung finden, denn Verunreinigungen in der Kohle hatten bislang das Eisen nachteilig beeinflußt, Koks ersetzte die Holzkohle. Die Glasherstellung wurde billiger, Fensterscheiben wurden in jener Zeit allgemein gebräuchlich. Die technischen Erfindungen vervielfachten sich mit der Entwicklung der Industrie; sie waren weniger häufig den Forschungen der Wissenschaftler als der Geschicklichkeit von Handwerkern zuzuschreiben. So hören wir 1578 erstmals von einer Schraubstockdrehbank, im Jahre 1589 vom Stickrahmen, im Jahre 1587 von der Drehbühne und 1636 von der Dreschmaschine und der Füllfeder. Ingenieure führten Werke auf, die heute noch Bewunderung verdienen. Stevin, Ingenieur unter Moritz von Nassau, entwickelte ein System von Schleusen, mit dem die Deiche reguliert werden konnten. Riesige Gebläse sorgten für die Bewitterung der Bergwerke. In Städten wie Augsburg, Paris und London hoben komplizierte Pumpwerke das Wasser in Türme, um den für Häuser und Brunnen nötigen Druck zu erzeugen. Gitterfachwerkbrücken wurden nach v dem einfachen geometrischen Prinzip errichtet, daß ein Dreieck nicht verformt werden kann, ohne daß die Länge einer Seite verändert wird. Girolamo Cardano, Giambattista della Porta und Salomon de Caus förderten die Theorie der Dampfmaschine. Caus beschrieb im Jahre 1615 eine Maschine, welche Wasser durch Expansivkraft des Dampfes hochhob. Die großen Lei-

GEOGRAPHIE

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stungen des 15. und 16. Jh. (L. da Vinci, G. Agricola u. a.) werden dabei weiterentwickelt. Große Fortschritte wurden zwischen 1550—1650 auch in der Mineralogie und Geologie erzielt.7 Wie sich in allen Wissenschaften bereits vor der mit Galilei beginnenden klassischen Periode der Naturwissenschaften grundlegende Veränderungen vollzogen, zeigt auch die Geographie, in der alte und neue Gedankengänge miteinander verschmolzen. Bartholomäus-Keckermann forderte eine neutrale, nicht im Dienste der Theologie stehende Geographie, damit sie um so besser theologische Aufgaben übernehmen könne.8 Hatte bis zur Reformation das Hauptinteresse der Theologen Gott dem Schöpfer gegolten, so wurde dieses Interesse während und nach der Reformation teilweise von der Providentia-Lehre verdrängt. Gott ist in seiner Vorsehung (Providentia) auch nach der Schöpfung am Werk und sorgt dafür, daß alles in der Welt um des Menschen willen richtig und gut funktioniert. Wer also einen Blick in diese Welt wirft und dabei ihre Funktionszusammenhänge wahrnimmt, der hat einen direkten Zugang zu Gott gefunden. Auch hier also ist die Wissenschaft teleologisch ausgerichtet und steht insofern im Dienste der Theologie. Nun läßt sich die bis dahin an Ptolemäus ausgerichtete und vorwiegend als Kartographie betriebene mathematische Geographie zwar mit der Schöpfungs-, nicht aber mit der Vorsehungslehre vereinbaren.9 Wollte also der theologisch geschulte Geograph dieser Zeit — es sei darauf verwiesen, daß zumindest in Deutschland bis weit ins 18. Jh. fast alle Geographen Theologen waren — eine der Geisteshaltung der Reformation entsprechende Geographie entwickeln, mußte er das Fach so umgestalten, daß es sich zur Providentia in Beziehung setzen ließ. In der zweiten Hälfte des 16. Jh. wurde, besonders durch die Praxis der Schiffahrt, die Verbindung von Geographie und Mathematik immer enger. 10 Ob man sich nun des gegißten Bestecks oder immer exakterer astronomischer Methoden bediente, in jedem Fall benötigte die Schiffahrt Land- und Seekarten. Zu Beginn des 16. Jh. benutzten fast alle Landkarten schon irgendeine Form der Projektion; zur See hatte aber noch immer die „Plattkarte" (so genannt, weil sie die — sphärische — Erde so behandelte, als könne sie auf einer Ebene dargestellt werden) Vorrang. Auf dieser Plattkarte waren die Abstände zwischen den Meridianen auf allen Breiten die gleichen, ob sie nun Vgl. dazu W. Blei, Erkenntniswege zur Erd- und Lebensgeschichte, Ein Abriß, Berlin 1981. — Vgl. zur Technikentwicklung: B . Brentjes/S. Richter/R. Sonnemann, Geschichte der Technik, hg. von R. Sonnemann, Leipzig 1978, S. 192—206. 8 Vgl. M. Büttner, Die Emanzipation der Geographie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Sudhoffs Archiv, Wiesbaden 59 (1975) S. 1 4 9 - 1 6 3 ; M. Büttner, Die Beziehungen zwischen Theologie und Geographie bei Bartholomäus Keckermann, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, Berlin (West) — New York 18 (1976) S. 209-224. 9 Die Verbindung zur Schöpfungslehre geschieht durch folgende Argumentation: Die Karten zeigen uns, wie die von Gott geschaffene Welt bzw. Erdoberfläche aussieht. Wie die Wrelt jetzt funktioniert, darüber vermögen die Karten keine Auskunft zu geben. 10 Vgl. M. Boas, Die Renaissance der Naturwissenschaften 1450—1630, a. a. O., S. 225 bis 226. 7

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NATURWISSENSCHAFT

in Äquatornähe oder an den Polen lagen. Der portugiesische Mathematiker Pedro Nünez suchte in der Absicht, die Mathematik zur Verbesserung der Navigationsmethoden und -techniken zu nutzen, das Problem in seinen „Traktaten" (Tratado da sphera com a Theorica da Sol e de Luna . . . Item duos tratados q o mesmo Dautor tezsobre a carta de marear, Lissabon 1537) mathematisch zu analysieren. Bekannter wurde seine Analyse erst, als 1566 eine lateinische Fassung erschien. Nünez entdeckte, daß auf einer Sphäre eine Rumbe oder eine Loxodrome — die Linie einer beständigen Kompaßrichtung — nicht wie auf einer Ebene eine gerade Linie ist, sondern eine am Pol endende Spirale. Er bemerkte auch, daß, da auf einem Globus die Meridiane konvergieren, eine genaue Seekarte sie nicht in gleichem Abstand voneinander zeigen dürfe. Nünez konstruierte einen Quadranten, der es ermöglichte, die Anzahl der Meilen innerhalb eines Grades auf jedem Parallelkreis zu finden; er vermochte aber nicht das sehr viel wichtigere mathematische Problem zu lösen, eine Projektion zu finden, die die erforderliche Konvergenz zur Darstellung brachte und die Rumben zu geraden Linien machte. In den in der Folge erscheinenden Büchern über mathematische Navigation finden sich viele Hinweise auf dieses Problem. Den Schritt zu seiner wirklichen Lösung tat Gerhard Mercator, der Begründer der mathematischen Geographie. Mercator studierte bei Gemma Frisius Mathematik und hielt Vorlesungen in Löwen, bis er (als Protestant) die Niederlande verließ und sich nach Deutschland (Duisburg) begab. Dort baute er mathematische Instrumente, entwarf und verlegte Globen und Karten. In seinen Globen spiegeln sich mathematischer Erfindergeist und genaue Kenntnis der Arbeit von Nünez, dessen loxodromische Spirale er auf einigen einzeichnete. Er arbeitete auch das rechte Verhältnis zwischen Länge und Breite der Zwickel aus, aus denen sich die Globuskarte zusammensetzte — bedruckte Papierstreifen, die auf den Globuskern aufgeklebt wurden. Seine Karte teilte er in zwölf Zwickel ein; jeweils zwanzig Grad von den Polen entfernt, schnitt er diese an und stellte für die Pole zwei besondere kreisförmige Blätter her, ein Verfahren, das einen höheren Genauigkeitsgrad ergab als die vorhergehenden Methoden. Mercator stellte die Forderung auf, daß eine ebene Figur die größtmögliche Ähnlichkeit mit der Kugelfläche erhalten müsse. In seiner Weltkarte von 1569 zeichnete er die Abstände der Meridiane gegen die Pole zu anscheinend nach eigener Schätzung; es ist jedoch möglich, daß er trigonometrische Verfahren benutzt hat. Wie er zu seiner Darstellung kam, hat er nie erklärt. Zurück zur Verbindung von Geographie und Providentiallehre! Sie konnte auf zwei Wegen erfolgen: 1. die mathematische Geographie wird um die Physiogeographie erweitert bzw. zugunsten der Physiogeometrie vernachlässigt; denn das physiographische Material läßt sich gut zum Providentialbeweis heranziehen. Betreibt man nämlich die Physiogeographie (wie damals üblich) im Geiste des Aristoteles teleologisch, so gerät sie ganz von selbst in den Dienst der Theologie und des Providentialbeweises: daß Regen und Schnee, Hitze und Kälte usw. immer zur rechten Zeit kommen, ist ein Zeichen dafür, daß Gott die Welt regiert. 2. Die mathematische Geographie wird durch das erweitert, was wir heute als Anthropogeographie, Kulturgeographie usw. bezeichnen: Gott hat die Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies

THEOLOGIE UND GEOGRAPHIE

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nicht sich selbst überlassen, sondern in bewohnbare Gegenden geführt. Die „Geographie des Menschen" verweist also ebenfalls auf die Providentia. Für welche der beiden Möglichkeiten man sich entscheidet, ist eine Frage der speziellen Providentiallehre. Die Lutheraner griffen unter der Führung Melanchthons die Erweiterung um die Physiogeographie auf; denn die lutherische Providentiallehre — von Melanchthon selbst erstmals in einer naturwissenschaftlichen Schrift entwickelt 11 —, zielt allein auf den jetzt und hier tätigen Gott. Melanchthons Schüler Caspar Peucer führte die methodologischen Erwägungen über die Stellung der Geographie im System der Wissenschaften und die Ziele der geographischen Forschung, wie sie von Melanchthon angeregt worden waren, zu einem gewissen Höhepunkt und Abschluß. 12 Er betonte, daß der Geograph allenfalls bis zu Christus zurückgehen solle; denn mit Christus begann die gnädige Hinwendung Gottes zum Menschen. Die Reformierten — es sei hier generell angemerkt, daß Calvinisten und Reformierte nicht deckungsgleich sind — entwickelten eine andere Providentiallehre und kamen daher zu der anderen Erweiterung der Geographie. Für sie beginnt die Providentia bereits beim Plan Gottes, also vor der Schöpfung, die sie nur für das Mittel zum Zweck der Bundesschließung zwischen Gott und Mensch hielten. Ihr Interesse für die Vergangenheit macht sich also in der Geographie bemerkbar. Im Gegensatz zu den katholischen Geographen des Mittelalters wenden sich die reformierten jedoch nicht ausschließlich der Schöpfung zu, sondern sind vorwiegend daran interessiert, was in der Zeit danach geschah. Spielen bei der Entwicklung der Geographie in den reformierten Ländern Sebastian Münster und G. Mercator eine große Rolle, so wird sie durch B. Keckermann in ihrem sachlichen Gehalt endgültig von der Theologie emanzipiert. Keckermanns Ausgangspunkt ist die Unterteilung des Gesamtwissens in Theorie und Praxis. In jeder Disziplin kommt es hauptsächlich auf die praktische Seite an, die theoretischen Erörterungen haben für sich selbst keinen Wert. Dies gilt auch für die Theologie: Die Praxis der Erlösung ist die Hauptsache ; deshalb ist sie auf dieses Ziel hin auszurichten. Aus diesem „praktischen" Ansatz ergibt sich die sog. analytische Methode, die Keckermann nicht nur in der Theologie und Philosophie, sondern auch in der Geographie und allen anderen Naturwissenschaften (vor allem auch in der Physik) angewendet wissen will. Bei dieser Methode geht man prinzipiell vom Ziel aus — im Falle der Theologie vom Heil des Menschen —, während die zu diesem Ziel führenden Mittel dann entsprechend zu wählen sind. So ergibt sich eine dem jeweiligen Ziel entsprechende Fachsystematik. Um zum Hauptziel, der Rückgewinnung der Gottebenbildlichkeit, die das Heil des Menschen ausmacht, zu gelangen, baut Keckermann in sein System der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaften eine neue Sün11 13

Ph. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Wittenberg 1549. — Das Providentialkapitel steht in dieser Schrift im Zentrum. C. Peucer, De Dimensione Terrae, Wittenberg 1550. — Wie der Verfasser sagt, handelt es sich bei diesem Werk um eine Ergänzung zu der in Anm. 11 genannten Schrift seines Lehrers. Beide Schriften sollten zusammen eine Einheit bilden.

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den- und Imagolehre ein. Die Ebenbildlichkeit ist durch den Sündenfall verlorengegangen, kann aber auf zweierlei Weise zurückgewonnen werden, einmal mit Hilfe der Theologie durch die Offenbarung, zum anderen durch die Philosophie. Letzteres heißt bei Keckermann: mittels der Naturwissenschaft, auch der Geographie. Keckermann geht davon aus, daß Gott alles in allem ist. Ein echtes Ebenbild Gottes muß daher ebenfalls alles in allem sein, es muß alles begreifen und dieses Begriffene beherrschen. Je größere Kenntnis der Mensch also von der Erde hat und je mehr er sie demzufolge beherrscht, desto mehr hat er seine alte verlorengegangene Gottesebenbildlichkeit zurückerlangt. Da alle auf das Subjekt bezogene Erkenntnis dem Menschen seit dem Sündenfall genommen ist und wesentliche Dinge, wie z. B. die Heilserkenntnis, von ihm nicht mehr zurückgewonnen werden können (außer durch Offenbarung), folgert Keckermann, daß in diesem Bereich die Gottesebenbildlichkeit nicht wiedererlangt werden kann. Grundsätzlich anders verhält es sich jedoch im Bereich der Naturerkenntnis. Hier ist ein Rest von ihr erhalten geblieben, der gewissermaßen wieder angereichert werden kann. Je weniger sich also eine Wissenschaft mit dem Menschen selbst und seiner subjektiven Beziehung zu Gott befaßt, je mehr sie sich nur auf die Naturobjekte richtet, um so eher kann sie echte, wahre Erkenntnis liefern und den Menschen in diesem Bereich wieder gottesebenbildlich machen, indem sie ihm gottähnliche Vollmacht über die Natur verleiht. Soll allerdings die Gottebenbildlichkeit voll und ganz wiedererlangt werden, dann hat der sie erstrebende Mensch gleichzeitig den theologischen wie den naturwissenschaftlichen Weg zu beschreiten. Hier deutet sich auf „theologischem" Wege die Emanzipation der Einzelwissenschaften von der Theologie an. Eine natürliche Theologie lehnt Keckermann ab. Für ihn gibt es nicht den Weg, der mit Hilfe geographischer Fakten „von unten" zu Gott führt. Die Geographie kann aus dem vorher Gesagten heraus nicht im Dienste der Providentia-Erhellung stehen. Sie ist folglich theologisch neutral. Im Gegensatz zu Melanchthon, bei dem die Naturwissenschaft, insbesondere die Geographie, im Rahmen der natürlichen Theologie den Menschen zur Erkenntnis Gottes und seiner Providentia führte, erfüllt die Geographie bei Keckermann eine andere, viel wichtigere Aufgabe: Sie macht ihn gottgleich. Wie die emanzipierte Physik, Geographie usw. jeweils ihre Systematik und Forschungsmethodik entfaltet, welche Ziele sie sich setzt usw., das ist für Keckermann Sache der Fachvertreter, nicht Sache der Theologen. Einen Ausgleich zwischen Doctrina Evangelica und NatuWissenschaft bzw. eine Unterordnung der Naturwissenschaft unter die vom Theologen angegebenen Ziele (was noch Melanchthon anstrebte) oder einen Ausgleich zwischen biblischen und klassischgeographischen Vorstellungen (wie ihn Mercator zu erreichen versuchte) soll man nicht zu erzwingen suchen. Keckermanns „Systema geographicum" (Hanau 1610) erschien in vielen Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Keckermann beschreitet einen neuen Weg, indem er die einzelnen geographischen Fakten weder in der physischen noch in der biblischen Reihenfolge abhandelt und — wie bis dahin üblich — nach außergeographischen Gesichtspunkten ordnet; er schafft

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vielmehr eine Art hierarchischer Begriffssystematik, wodurch die Geographie erstmalig in ihrer Geschichte eine facheigene Methodik erhält. Otto von Guericke bezeichnet, in ähnlicher Weise wie Bacon in der Philosophie, den Übergang zur Neuzeit. So schrieb er: „Wo nämlich das Zeugnis der Dinge vorliegt, sind Worte nicht nötig. Gegen einen Menschen aber, der handgreifliche und sichere Erfahrung leugnet, soll man nicht streiten oder groß zu Felde ziehen. Mag er wie er will sich seine Meinung bewahren und wie die Maulwürfe der Finsternis nachlaufen. Denn die mathematischen Wissenschaften führen nicht mehr Krieg, sondern triumphieren und haben die Ruhe der friedvollsten Wahrheit angenommen (inque otio pacätissimae veritatis consistit), die anderen Bereiche der menschlichen Wissenschaften sind umstritten, weil sie der offenkundigen Gewißheit entbehren, von der die mathematischen überquellen. So kommt es, daß der menschliche Geist, nachdem er lange im Gebäude der humanistischen Disziplinen herumgeirrt ist, endlich allein in der Gewißheit der Mathematischen Wissenschaft seine Ruhe gefunden hat." 13 Otto von Guericke, geboren am 20. 11. (30. 11. neuen Stils) 1602, entstammt einer alteingesessenen begüterten Magdeburger Patrizierfamilie. Mit 15 Jahren bezog er die Universität Leipzig, 1621/23 studierte er in Jena und dann in Leiden. Er muß mit der zeitgenössischen Philosophie während seines Studiums gut vertraut geworden sein. Während seines Studienaufenthaltes in Leiden vervollkommnete er seine Kenntnisse in Mathematik, Mechanik und im Bauwesen. In der mit der Leidener Universität verbundenen „Ingenieurschule" hörte er Vorlesungen über Vermessungs- und Befestigungswesen. Anschließend bereiste er Frankreich und England. 1626 nach Magdeburg zurückgekehrt, wurde er Stadtrat und mit der Aufsicht über die Befestigungen betraut. Die Grundlagen für seine Weltanschauung waren wohl bis etwa 1626 gelegt. Die Belagerung und Zerstörung Magdeburgs durch kaiserliche Truppen im Jahre 1631 hat Guericke miterlebt und darüber einen ebenso eindrucksvollen wie erschütternden Bericht hinterlassen. H Später war er vorwiegend in Staatsämtern tätig, so war er 1646—1676 Bürgermeister von Magdeburg und vertrat die Stadt bei den Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück (1646-1648). Er wurde 1666 geadelt und verstarb am 11. Mai 1686. Mit G. W. Leibniz, K . Schott, S. Lubieniecki u. a. bekannten Gelehrten seiner Zeit stand er in Briefwechsel. Guericke hat spätestens um 1650 mit seinen Versuchen begonnen und sie bis in die Mitte des nächsten Jahrzehnts fortgesetzt. Wohl hatten Torricelli und Viviani vor ihm die Herstellbarkeit eines Vakuums und den Luftdruck als Ursache aller sog. pneumatischen Erscheinungen entdeckt (man vgl. auch die Versuche B . Pascals). Guericke fand beides unabhängig von ihnen. Seine Erfindung der Luftpumpe, seine Entdeckung der elektrischen Abstoßung, la

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Zit. nach A. Kauffeldt, Otto von Guericke — Philosophisches über den leeren Raum, Berlin 1968, S. 114; vgl. O. v. Guericke, Experimenta Nova (ut vocantur) Magdeburgica de Vacuo Spatio, Amsterdam 1672, Praefatio, 2 b. O. von Guericke, Geschichte der Belagerung, Eroberung und Zerstörung Magdeburg^. Aus der Handschrift zum Erstenmale veröffentlicht von F. W . Hoffmann, Magdeburg 1860.

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seine vielen Versuche (so auch zur Luftdruckschwankung, damit zum Barometer und zur Wettervorhersage), überhaupt seine Leistungen auf dem Gebiet der Vakuumtechnik, der Pneumatik und Hydraulik sind nach Ergebnis, Anlage oder Methode nur wenig bekannt, wenn auch in der Fachwelt gewürdigt. Seine Experimente mit einer Luftpumpe und evakuierten Gefäßen führte er 1654 auf dem Reichstag zu Regensburg vor. In England wurden Guericke zukommende Prioritätsrechte jahrhundertelang R. Boyle (vacuum Boyleanum) oder R. Hooke zugeschrieben. Guerickes Versuche mit den „Magdeburger Halbkugeln" (erstmals 1657 durchgeführt), dem spektakulären Versuch zum Nachweis und zur Größenbestimmung des äußeren (atmosphärischen) Luftdrucks, haben über Huygens und Papin zur atmosphärischen Dampfmaschine von Newcomen geführt, aus der — ein halbes J h . später — James Watt die erste Dampfmaschine entwickelt hat. Als Guericke 1663 seinen Versuch am Hofe des brandenburgischen Kurfürsten durchführte, vermochten dreißig Pferde die Halbkugeln nicht zu trennen, wie er am 29. 8. 1671 an Leibniz schrieb. Die Entdeckung des Vakuums und die Erfindung der Luftpumpe haben die Erforschung des gasförmigen Zustandes, über den man bis dahin im Vergleich zum festen und flüssigen relativ wenig wußte, erheblich gefördert. Die wesentlich bessere Kenntnis der Luft und des gasförmigen Zustandes hatte großen Anteil an der Entdeckung des Wasser-, Sauer-, Kohlen- und Stickstoffs im letzten Drittel des 18. J h . Guericke kannte Gilberts „De magnete" und äußerte interessante Ideen über die Reibungselektrizität. Ob Guericke mit seiner „Schwefelkugel" die erste Elektrisiermaschine geschaffen hat, ist strittig. Jedenfalls wurde sie das Instrument, mit dessen Hilfe die Naturerscheinung „Elektrizität" aus einer bloßen Kuriosität mehr und mehr zu einem ernsthaft untersuchten Forschungsgegenstand geworden ist. Guericke hat auch Verdienste auf naturphilosophischem Gebiet aufzuweisen, was weniger bekannt ist. Guerickes eigene Versuche erscheinen in seinem Hauptwerk „Experimenta Nova (ut vocantur) Magdeburgica de Vacuo Spatio" (Amsterdam 1672) zur Erhärtung der These „Das Weltall ist unermeßlich und leer", gegen die These der herrschenden Schulmeinung, der Vertreter der alten Naturphilosophie, ein Vakuum sei unmöglich bzw. unmöglich zu erweisen. Guericke argumentierte gegen sie mit Hilfe des von ihm hochgeschätzten Experiments. Dabei ließ er die Theorie keineswegs außer acht. Damit stand Guericke in dieser Zeit nicht allein. Es ist eine irrige Meinung, die Wissenschaft der beginnenden „Neuzeit" habe Empirie gegen Theorie gesetzt, die zuvor weitgehend oder ausschließlich dominiert habe. Das Neue ist vielmehr eine qualitativ neue Stufe der Vermittlung von Empirie und Theorie. Guerickes Lehre wendet sich gegen Aristoteles' Auffassung, daß das Leere nicht Ursache irgendeiner Wirkung der Natur sei und deshalb als nicht existierend betrachtet werden muß. 15 Nach Guericke ist das Leere vielmehr die Bedingung des größten Effektes in der Natur — der Bewegung: „Wenn es das Leere bzw. den Raum in der Natur nicht gäbe, sondern jeder Raum angefüllt wäre, dann könnte kein Körper anstelle des anderen treten und sich nicht von Ort zu Ort bewegen." 1 6 15 16

Vgl. u. a. Aristoteles, Physikvorlesung, in: Werke, hg. von H. Flashar, Bd. 11, 2. Aufl., Berlin 1972, 214a 1 7 - 2 0 , 214b 30f. „Imo si Vacuum seil. Spatium non posset in rerum natura dari, sed omne Spatium

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Wenn man von einem Horror vacui spreche, gebe man damit übrigens die Existenz des Leeren zu. Guericke erwähnt, daß Leukipp, Demokrit, Demetrios von Phaleron, Epikur und Metrodor im Gegensatz zu Aristoteles ein Leeres angenommen hätten. Descartes' Leugnung des leeren Raumes greift Guericke nachdrücklich an, ebenso dessen Identifizierung von Ausdehnung und Substanz. Entschieden wendet sich Guericke gegen eine Gleichsetzung von „Leere" und „Nichts". „Nichts" sei nur in bezug auf „Volles" verständlich. Der Raum ist ihm unerschaffen, während alles im Raum als erschaffen gekennzeichnet wird. Eine gewisse Parallele zum absoluten Raum Newtons und Kants deutet sich an. Aber bei Guericke kann von Raum, Zeit, Ort nur dort die Rede sein, wo und wann sich Materielles findet. Guericke bezeichnet den Raum als „permanens, immobile, individisibile, ubique in ómnibus, per omnia" und schreibt: „Unde est continuum & pertransiens vel permeans quid." 17 Letztlich werden bei Guericke Gott und Raum, bezogen auf das Weltall, gleichgesetzt. Guericke geht von folgender Überlegung aus: „. . . wenn unter Berufung auf die Unendlichkeit und Unermeßlichkeit Gottes dem ihm gleichgesetzten Raum außerhalb der Welt keine Grenze gesetzt werden darf, dann darf man ihm auch in der Welt selbst — diese einmal als endlich unterstellt — keine Grenze setzen, d. h., dann muß man den Raum sich auch innerhalb dieser Welt erstrecken lassen. Dieser Schlußfolgerung hatte er mit der Unterscheidung von Himmel und Raum schon vorgearbeitet . . . Damit aber hatte sich Guericke die philosophischtheoretische Grundlage für sein Experiment geschaffen ! Konnte er im Versuch nachweisen, daß ein Vakuum, ein leerer Raum herstellbar ist und in diesem die räumlichen Beziehungen der Dinge zueinander erhalten bleiben, dann hatte dieses Experiment Beweiskraft für das ganze WTeltall, dann war der Raum als eine physikalische Realität erwiesen." 18 Guericke interessierte primär das Weltall und am Weltall der unermeßliche Raum, erst von dort ist er zu spezielleren Fragen gelangt, auch zur Frage der Herstellung eines Vakuums. Auch das unterscheidet ihn grundlegend von Torricelli und Pascal. Guericke war gleichzeitig Gegner der neuscholastischen Peripatetiker und Gegner Descartes' sowie seiner Anhänger. „Man muß ihn sogar als den ersten bezeichnen, der so entschieden und mit einem so in sich geschlossenen anderen Weltbild dem des Descartes entgegengetreten ist." 19 Diese Behauptung erscheint esset repletum; aliud corpus in alterius locum ingredi non posset, nec haberet motum de loco ad locum." (O. v. Guericke, Experimenta Nova . . a. a. O., p. 55). — Vgl. die erste vollständige Übersetzung in eine moderne Sprache: O. v. Guericke, Neue (sogenannte) Magdeburger Versuche über den Leeren Raum. Nebst Briefen, Urkunden und andren Zeugnissen seiner Lebens- und Schaffensgeschichte übers, und hg. von H. Schimank unter Mitarb. von H. Gossen, Gr. Maurach und F. Krafft, Düsseldorf 1968. — Caspar Schott hatte schon 1664 Guerickes Entdeckungen in seiner „Technica curiosa" veröffentlicht (Reprint, Hildesheim — New York 1977). Sie machen dort das Buch I aus („Mirabilia Magdeburgica", S. 1—86). " Ebenda, p. 57. 18 A. Kauffeldt, Otto von Guericke — Philosophisches über den leeren Raum, a. a. O., S. 61. 19 Ebenda, S. 111. — Nach F. Krafft hörte Guericke 1646 in Osnabrück wohl erstmalig von dem neuen philosophischen System Descartes', „welches vermutlich dann den Anstoß zu seinen eigenen Versuchen bildete . . ." (F. Krafft, Otto von Guericke, Darmstadt 1978, S. 29).

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mir etwas überhöht. Zudem wird hier nicht gesagt, daß Guericke auch der Schule von Coimbra viele Anregungen verdankt. Seinem Weltsystem lag die These vom unendlichen, unerschaffenen, leeren Raum zugrunde. „Diese These hat er in bezug auf alle astronomischen Details und Konsequenzen verfolgt. Er hat mit anderen Worten den unendlich leeren Raum in das Kopernikanische Weltsystem eingebaut."20 Kauffeldt erklärt: „Guericke hat trotz des Verzichtes, sie zu einem System auszubauen und als System vorzutragen, eine wohldefinierte Philosophie gehabt. Sie war in allen wesentlichen Elementen eine materialistische Philosophie."21 Den Nachweis dafür vermißt man aber bei näherem Hinsehen in Kauffeldts Buch durchaus. Auf die in der umfänglichen wissenschaftlichen Literatur oft beschworene Anregung Guerickes durch G. Bruno, an deren Stelle F. Krafft eine Anregung durch A. Kirchers „Iter exstaticum coeleste . . ." (1656—57) gesetzt wissen will,22 geht Kauffeldt nicht ein. Wichtig erscheint: „Guericke hat ein Weltbild entworfen, in dem sehr wesentliche Elemente nichtmechanischer Natur nicht auf Mechanik reduzierbar waren. Das gilt in erster Linie für seinen leeren Weltenraum selbst. Dieser war auch nicht wie bei Descartes eine geometrische Kategorie, sondern ohne jede Einschränkung eine reale physikalische Größe."23 Das gilt auch für seine virtutes. Er hat die mechanistische Auffassung aber nur dort bekämpft, wo sie seiner Meinung nach den Tatsachen widersprach, er hat sie nicht generell angegriffen. Kauffeldt betont entschieden: „Die bedeutsamen Versuche und Erfindungen Guerickes sind . . . von seiner Philosophie, von seinem Weltbild nicht zu trennen. Sie bilden einen Teil seiner Untersuchung des Weltsystems und sind aus seinen theoretischen, philosophischen Überlegungen entstanden."24 Guericke ist vorwiegend Naturwissenschaftler bzw. Naturforscher — nicht Philosoph. Aber: Zu seiner Zeit gab es eben eine untrennbare Einheit von Philosophie und Naturwissenschaft bzw. Naturphilosophie. Wissenschaftsgeschichte hat das ebenso zu beachten wie Philosophiegeschichte, wobei Philosophiegeschichte selbst in gewisser Hinsicht Wissenschaftsgeschichte ist. Deshalb ist eine getrennte Betrachtung dieser Disziplinen gerade für diese Zeit unfruchtbar. Auch katholische Gelehrte kamen im 17. Jh. zu beachtlichen wissenschaftlichen Leistungen. Der Galilei-Prozeß und sein Ausgang scheinen gegen echte Forschungsergebnisse im katholischen Lager zu sprechen. Aber die katholische 20

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A. Kauffeldt, Otto von Guericke . . ., a. a. O., S. 112. — „Anhänger eines heliozentrischen Weltbildes scheint von Guericke zumindest seit seiner Leidener Studienzeit gewesen zu sein." (F. Krafft, Otto von Guericke, a. a. O., S. 123—124.) Ebenda, S. 124. — In seiner kleinen Guericke-Monographie (Otto von Guericke, 4. Aufl., Leipzig 1980) formuliert Kauffeldt seine Behauptungen vorsichtiger. — Vgl. auch F. Krafft, Otto von Guericke, a. a. O., S. 82. F. Krafft, Otto von Guericke, a. a. O., S. 82. A. Kauffeldt, Otto von Guericke . . ., a. a. O., S. 125. Ebenda, S. 141. — Vgl. zu Guericke auch: H. Schimank, Otto von Guericke — Bürgermeister von Magdeburg. Ein deutscher Staatsmann, Denker und Forscher, Magdeburg 1936. — Eine ab 1850 Vollständigkeit anstrebende Bibliographie der Sekundärliteratur bei: F. Krafft, Otto von Guericke, a . a . O . , S. 184-199. Krafft gibt (besonders S. 154ff.) eine gediegene Kritik der in Kauffeldts Arbeit von 1968 enthaltenen wissenschaftlichen Mängel.

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Schulphilosophie war im 16. und 17. Jh. durchaus bereit, modernste Wissenschaftsthesen zu rezipieren, solange sie mit Autoritäten gedeckt werden konnten. In Salamanca wurde z. B. Copernicus, in Coimbra Tycho Brahe rezipiert. Innovationen konnten gerade so weit gehen, wie die Kunst der Interpretation den Nachweis der Traditionalität neuer Lehren gestattete. Innerhalb dieses Bereichs — und seine Breite sollte man nicht unterschätzen — kam man zu beachtlichen Leistungen. Ein Beispiel dafür gibt gerade der Polyhistor des 17. Jh., der 1602 in Geisa (Kreis Bad Salzungen) geborene Athanasius Kircher. E r lebte und forschte seit 1633 in Rom, nachdem er bereits 1618 in den Jesuitenorden eingetreten war. Kircher betonte die Bedeutung der Einheit von ratio und experientia für die Wahrheitsfindung und experimentierte selbst. Vor Boyle und Guericke lieferte er experimentell den Nachweis für die Notwendigkeit eines Mediums für die Schallausbreitung. Er experimentierte in der Optik, Akustik, Mechanik, Elektrodynamik (Magnetismus) und in der Musik, erforschte hypnotische Phänomene, erfand eine Zeilenschrift für Taubstumme und hat Vorleistungen für die wissenschaftliche Bakteriologie erbracht. Darüber hinaus erforschte er als erster die koptische Sprache.243 Kircher schrieb 32 lateinisch verfaßte Bücher mit 14000 Druckseiten. Andreas Gryphius hat Kircher kennengelernt, als er sich 1646 in Rom aufhielt. Gryphius hat sich später mehrfach auf ihn bezogen. Auch mit Abraham von Franckenberg stand Kircher in Briefwechsel. Neben der Theologie stellte für Kircher die Mathematik die Grundlage aller Wissenschaften dar. Er sah in der Zahl die Voraussetzung zur Erkenntnis der Wahrheit schlechthin. Davon ausgehend erforschte und deutete Kircher die Natur. Sein Schüler K. Schott bezeichnete die Mathematik, Optik, Akustik und Physiologie (allgemeine Naturlehre) als die wissenschaftlichen Hauptgebiete seines Lehrers. Kircher sah in der Natur eine Einheit, die sich — in sich nach göttlichen Gesetzen geordnet — dem Beschauer unveränderlich und klar offenbart. Ihre Schönheit entspringt der Vollkommenheit ihrer kosmischen Struktur. Aus dem Glauben an die Einheit der Natur leitete Kircher seine Überzeugungen von der Einheit der Wissenschaftsstruktur ab. Wissenschaftliches Streben richtet sich auf die Summe aller Einzelheiten, der gegenüber die Einzelheiten selbst zurücktreten. Alle Qualitäten werden auf Größe, Maß und Bewegung — sie gelten als Synonyme für Ordnung — reduziert. Zahl, Ordnung, Deutlichkeit und Vollkommenheit sind für Kircher verschiedene Begriffe gleichen Inhalts; sie alle gelten als Kriterien der Wahrheit. Nach Kircher — das ist übrigens eine der Grundaussagen des „Barock" — nimmt die Klarheit der Erkenntnis mit der Vereinfachung der Qualitäten zu. E r suchte dies u. a. an der Musik zu belegen: die reinsten Intervalle haben die einfachsten Schwingungsfrequenzen: Oktave V2, Quinte 2 / 3 , Quarte Mit der Zunahme komplizierterer Proportionen nimmt auch die Dissonanz zu. Für Kircher ist die einheitliche mathematische Methode Postulat wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisstrebens. Er erklärt in diesem Sinne alle Wissenschaften als auf ein Universalprinzip reduzierbar. Die Erkenntnis »

Vgl. C. Reilly SJ, Athanasius Kircher, S. J . : Master of a Hundred Arts 1 6 0 2 - 1 6 8 0 Wiesbaden — Rom 1974.

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dieses Universalprinzips ermöglicht, durch Analogiebedingungen alle weiteren Beziehungen innerhalb der Wissenschaft zu erschließen. So wird für Kircher die „ars combinatoria", ausgehend von R. Lullus, zur methodologischen Basis der Naturforschung auf der Grundlage der Zahl. Dabei mißt Kircher dem Magnetismus besondere Bedeutung bei. Das den Magnetismus kennzeichnende Dualismusprinzip, Kircher spricht von Sympathie und Antipathie, bedingt alles Leben in der Natur. Alle Wissenschaften unterliegen dem Dualismusprinzip des Magnetismus. Es widerspiegelt sich in der Optik durch Licht und Schatten, in der Musik durch Konsonanzen und Dissonanzen usw. Das gilt in spezifischer Weise auch für den Menschen. Seit etwa 1600 vollzieht sich die Entwicklung in Naturwissenschaft und Philosophie vor allem in den Niederlanden, in England und Frankreich in erstaunlichem Tempo. 1600 erscheint „De magnete" des Engländers W. Gilbert, worin die Erde als Magnet begriffen wird. Dabei haben ihn die Ideen von der Beseeltheit der Welt und die Lehre von den Sympathien bestärkt. 1614 fand Neper die Logarithmen und verkürzte damit die Rechenzeiten erheblich. Zeitgleich ist die Erfindung der Logarithmentafeln durch Jost Bürgi; Michael Stifel in Jena geht ihm dabei voraus. Auch Kepler entwickelte und benutzte Logarithmen, vor allem aber entdeckte er bis 1619, also schon in den ersten zwei Jahrzehnten des 17. Jh., die drei bekannten Planetengesetze (vgl. Kap. IV). Besonders bedeutsam für die weitere Entwicklung der Chemie waren die Arbeiten des englischen Physikers und Chemikers Robert Boyle. Er wandte sich gegen jeden Glauben an irgendwelche geheimnisvollen „Kräfte" in der Chemie. Die Hauptaufgabe der Chemie sah er in der Untersuchung der Zusammensetzung der Körper. Boyle entdeckte den Unterschied zwischen Gemischen und chemischen Verbindungen. Er gelangte zu einer Bestimmung des Grundbegriffs der Chemie — des Begriffs des chemischen Elements als eines Stoffes, der durch keinerlei Mittel zerlegbar ist. Diese Vorstellung blieb bis zum 19. Jh. gültig. Boyles Bestimmung des Gegenstandes der Chemie ist der wichtigste Schritt zur Umwandlung der Chemie aus einer empirischen „Kunst", die bestimmte Gemische vereint und scheidet, in einen Zweig der Naturwissenschaft. Nach Engels stabilisierte Boyle die Chemie als Wissenschaft.25 Gleichzeitig war Boyle ein glänzender Experimentator. Er erarbeitete erstmalig praktische Verfahren der chemischen Analyse. 1660 fand Boyle das erste, nach ihm benannte Gasgesetz. Er stand bereits in einem solchen Maße unter dem Eindruck der Mechanik, daß er alle qualitativen Unterschiede zwischen den Dingen auf mechanische Bewegung und Verkettung primärer, qualitätsloser Korpuskeln zurückzuführen suchte. Boyle wandte seine Auffassung auf die Chemie und ihre Objekte, die chemischen Elemente, an. So gelangte er zu dem Schluß, in der Natur gebe es keine chemischen Elemente, sie ließen sich ausnahmslos auf qualitätslose Korpuskeln reduzieren. Wir haben also 25

F . Engels, Dialektik der Natur, a. a. O., S. 457. — Zur Bedeutung der Auffassungen J . B. van Helmojits für Boyle vgl.: L . Reti, Van Helmont, Boyle and the Alkahest, in: L. Reti, Some Aspects of Seventeenth Century Medicine & Science. P a pers Read at a Clark Library Seminar October 12, 1968 by L . Reti and W . C. Gibson, Los Angeles 1969, S. 1 - 1 9 .

ROBERT BOYLE

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zu verzeichnen, daß Boyle als Chemiker das Objekt der Chemie bestimmte, aber es als mechanistisch-materialistischer Philosoph zugleich negierte, indem er die Unterschiede zwischen den chemischen Elementen für nicht existent erklärte. Schon in seinem „Chymista-scepticus" gelangte er zu diesem Paradoxon. In seiner Arbeit „Experiments, Notes, etc. about the Mechanical Origine or Production of divers particularQualities . . . " (1676) zieht er dann die erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen aus seiner mechanistischen Philosophie. Nach Boyle sind fast alle Eigenschaften relativ. Es gibt keine absoluten Qualitäten; objektiv existieren nur solche mechanischen Eigenschaften wie Form, Größe, Anordnung, Bewegung oder Ruhe der primären qualitätslosen Korpuskeln. Alle anderen Eigenschaften sind subjektiven Charakters und stellen das Verhältnis von den der Materie eigenen Eigenschaften, etwa der Form des Körpers, zu unseren Sinnesorganen dar. In der Stecknadel sind nach Boyle keine Eigenschaften, die dem Schmerz ähnlich wären, den wir beim Stich empfinden. Die Stecknadel hat eine spitze Form, der Schmerz ist lediglich die Wirkung dieser Form auf die Sinnesorgane. Solchen Ursprungs sind auch alle anderen sichtbaren Qualitäten wie Farben, Gerüche, Töne usw. In der Natur gibt es sie nicht, sie sind Produkt unserer Sinnesorgane, die eine bestimmte Auswirkung der Formen, Ausmaße oder Bewegungen bestimmter Kombinationen der qualitätslosen Korpuskeln erfahren. Boyle bringt für seine Auffassungen eine Vielzahl von Beispielen aus dem Bereich der Naturwissenschaften. Diese Auffassungen haben offensichtlich auf Lockes Lehre von den primären und sekundären Qualitäten Einfluß ausgeübt. Boyle war subjektiv zutiefst gläubig und ein Feind aller Häresien bzw. Atheisten. Im 17. Jh. nahm auch die Botanik einen schnellen Aufschwung. Viele neue Pflanzen wurden entdeckt und beschrieben. Eine wissenschaftliche Terminologie der Botanik wurde ausgearbeitet und erste Versuche zur Klassifikation aller bekannten Pflanzen unternommen. Als der größte Botaniker des 16. Jh. gilt Carl Clusius in Antwerpen. Er hat „die Botanik um eine derartige Fülle neuer Arten bereichert . . . wie niemand vor und nach ihm"26. Mit Hilfe des Mikroskops wurde die innere Struktur der Pflanzen untersucht. A. van Leeuwenhoeck studierte die mit bloßem Auge nicht mehr sichtbaren Infusorien, Bakterien, roten Blutkörperchen, Geschlechtszellen sowie die Verdickung der pflanzlichen Zellwand. Der englische Physiker R. Hooke entdeckte dann die Pflanzenzelle, wenngleich er ihre Bedeutung noch nicht erfaßte. Die Grundlagen für eine Physiologie der Pflanzen wurden gelegt. Der Engländer John Ray erarbeitete eine Pflanzenmorphologie samt ihrer Nomenklatur. In seiner dreibändigen „Historia generalis plantarum" klassifizierte er 1800 Pflanzen und führte den Artbegriff als taxonomisch-biologischen Fachbegriff ein.27 Ray wurde zum Mittler zwischen Jungius und Linné, der die Jungiussche 26

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F. Dannemann, Die Naturwissenschaften in ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammenhange, Bd. 2, a. a. O., S. 194. Vgl. Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien, hg. von I. Jahn/R. Löther/K. Senglaub, Berlin 1982, S. 177-180. - Vgl. ferner K . Mägdefrau, Geschichte der Botanik, Leben u. Leistung großer Forscher, Stuttgart 1973, S. 43-46. Wollgast

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Terminologie von R a y übernahm und in seinen „Fundamenta botanica" weiter ausbaute. Auch die Zoologie begann sich stürmisch zu entwickeln. Sie kam zum Begriff der Art. Das vollständigste Werk über die Tierwelt war die vierbändige „Historia animalium" von Konrad Gesner, eine umfangreiche Enzyklopädie, die Aristoteles' gleichnamiges Werk ersetzen sollte. Leeuwenhoeck, Hooke und Ray sind Vollender nach dem von uns behandelten Zeitraum. Aber in der Zeit von 1550—1650 wurden für ihre Entdeckungen grundlegende Voraussetzungen geschaffen. So hat A. Cesalpin (vgl; Kap. V I I ) 1583 die erste systematische Klassifikation der Pflanzen — und zwar von 1500 Arten — aufgrund ihrer verschiedenartigen Samen und Früchte geschaffen. Noch in der zweiten Hälfte des 16. Jh. waren die Kräuterbücher, in Latein oder in den verschiedenen Volkssprachen verfaßt, ungemein populär. Diese Popularität beruhte vornehmlich auf ihrer Verwendbarkeit für Heilkräuterversuche: „. . . de facto ist das Kräuterbuch ein Handbuch des botanischen Gartens, der bald als unumgänglich notwendiges Zubehör jeder guten Medizinschule angegliedert wurde." 28 In den Kräuterbüchern, in Deutschland besonders in denen von Leonhard Fuchs, findet sich der erste Versuch wissenschaftlicher Pflanzenkunde. Man erfand dazu das Herbarium (das erste verbürgte stammt von dem Bologneser Professor und Botaniker Luca Ghini). Zuerst führte Padua (1533) einen Lehrstuhl für Botanik an der Medizinischen Fakultät ein, andere Universitäten folgten. Man begann botanische Gärten anzulegen, deren Anfänge allerdings bereits im 14. Jh. liegen. In der Embryologie wurde im 16. Jh. zwar viel geforscht, nennenswerte Entdeckungen aber nicht gemacht. Das änderte sich mit der Erfindung des Mikroskops. Im 16. Jh. wurden Irrtümer Galens aufgedeckt, Beobachtungen Aristoteles' aber im allgemeinen bestätigt. Auf der Ebene reiner Beschreibung sind sowohl für Zoologie wie Botanik die zahlreichen Berichte über die Flora und Fauna der amerikanischen Kontinente interessant. Die Reisebücher erweckten die wissenschaftliche Neugierde und bereicherten die Arzneikunde um viele Heilkräuter. Der Kautschuk-Baum, die Kartoffel und der Tabak wurden Mitte des 16. Jh. erstmalig einigermaßen zuverlässig beschrieben. Verdienstlich und künstlerisch ansprechend sind die Illustrationen in den Reisebüchern, oft auch exakter als die verbalen Darstellungen. Insgesamt waren Zoologie und Botanik im 16. Jh. noch deskriptiv. Die Entdeckung von mikroskopischen Lebewesen war eine weitere wichtige wissenschaftliche Errungenschaft des 17. Jh. Aber infolge des Vorranges der Mechanik wurden die biologischen Erscheinungen vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Mechanik betrachtet, weshalb für Descartes jedes Tier eine Maschine ist, wenn auch komplizierter als die vom Menschen gebaute.29 Andrea Cesalpino entwickelte in seinen „Peripateticarum Quaestionum libri quinque" (Venedig 1588) und seinen „De plantis libri X V I " (Florenz 1583) eine allgemeine Naturtheorie, die auf dem Versuch gründete, die Naturwissenschaften, nicht nur die Biologie, durch Ablehnung aller späteren Ansichten zugunsten 28 29

M. Boas, Die Renaissance der Naturwissenschaften 1450—1630, a. a. O., S. 62. Vgl. R. Descartes, Abhandlung über die Methode, übers, u. hg. v. A. Buchenau. Leitizig 1948, S. 46-47 (V, 16).

BOTANIK U N D BIOLOGIE BEI CESALPIN

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der Aristotelischen Lehren zu reformieren. Sogar Galen und Ptolemäus hielt Cesalpin für unbefriedigend. In der Überzeugung, daß die Aristotelischen Lehren von Stoff und Form das umfassende Prinzip zur Ordnung der Natur liefern könnten, wandte Cesalpin diese Lehren auf die Biologie an. Dabei suchte er noch stärker als Aristoteles die absolute Kontinuität der Stufenfolge in der Natur darzutun. Cesalpin argumentierte: Da jeder lebendige Stoff, ob hochorganisiert oder nicht, ein einheitliches, ungeteiltes Lebensprinzip enthält, muß auch jedes einzelne Lebewesen ein einheitliches, ungeteiltes, in einem bestimmten Teil des Organismus lokalisiertes Lebensprinzip besitzen. Die höheren Tiere haben nach Cesalpin ihr Lebensprinzip im Herzen. Das Herz ist ihr Zentrum, denn ohne Herz sterben sie. Die niederen Tiere und die Pflanzen, die auch bei Teilung noch weiterleben, müssen notwendig von weniger zentralisierter Struktur sein. Aus mehreren Gründen hat sich Cesalpin bereits dafür ausgesprochen, daß das Zentrum einer Pflanze der sog. Wurzelhals sei; dabei handelt es sich aber nur um das Zentrum in adu, das Zentrum zu einem bestimmten gegebenen Zeitpunkt; inpotentia ist das Zentrum überall, weil abgeschnittene Teile Wurzeln schlagen und zu einem neuen Lebewesen werden, dessen Zentrum wiederum da ist, wo Stamm und Wurzel aufeinandertreffen. Da es nun nur ein einziges, Pflanzen und Tieren gemeinsames Lebensprinzip gibt, muß alles Lebendige nach dem gleichen Grundplan organisiert sein; die pflanzlichen Organe müssen also den tierischen entsprechen. Unter dieser Voraussetzung entspricht die Wurzel dem Verdauüngsapparat, das Mark den Eingeweiden, der Stengel oder Stamm dem Fortpflanzungssystem und die Frucht dem Embryo (dennoch glaubte Cesalpin nicht an die Geschlechtlichkeit der Pflanzen). Jedes Organ hat seine spezifische Funktion und seinen besonderen Zweck; daraus folgt nach Cesalpin weiter, daß die Blätter beispielsweise dazu da sind, die Frücht zu schützen. „Sein Versuch, Botanik und Zoologie aus einer gemeinsamen Grundlage heraus zu entwickeln, also fast über zweihundert Jahre bevor Treviranus und Lamarck das Wort erfanden, eine Biologie zu schaffen, war originell und weitsichtig genug; nur sind seine Vergleiche naiv und müssen der damaligen Zeit über die Maßen vitalistisch und teleologisch vorgekommen sein." 30 Nicht nur in bezug auf den Himmel und die Sterne mußten die alten Anschauungen neuen Vorstellungen weichen. Das aristotelische Weltbild war seinem Wesen nach auf die Erde und den Menschen ausgerichtet. Der Mensch galt als Zentrum des Universums und stand in direktem Kontakt mit allen seinen Teilen, bestimmte Einflüsse und Geister verbanden ihn mit den Planetensphären. Er war ein kleines Weltall für sich — ein Mikrokosmos. Seine Funktion hatten die griechischen Ärzte, deren Lehren in Galens Beschreibung der Organe des menschlichen Körpers gipfelten, im einzelnen dargelegt. Diese Lehren waren ebenso kanonisch geworden wie Ptolemäus' Weltbild. Die neue Anatomie der Renaissance, insbesondere Vesals, hatte gezeigt, daß Galens Vorstellungen falsch sein mußten; eine andere Erklärung konnte jedoch nur durch völliges Umdenken gefunden werden. Die Anatomie wurde mit dem 30

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M. Boas, Die Renaissance der Naturwissenschaften 1450—1630, a. a. O., S. 75.

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NATURWISSENSCHAFT

neuen Interesse für Maschinen, Blasebälge, Pumpen und Ventile verknüpft und so eine neue experimentelle Physiologie entwickelt. Die endgültige Entdeckung des Blutkreislaufes war das Werk William Harveys. E r hatte in Padua studiert und vermochte die italienische Tradition in der Anatomie mit dem neuen Interesse für die Experimentalwissenschaft zu verknüpfen. Padua gehörte damals zur Republik Venedig. Diese war relativ unabhängig von Rom. Daraus erklärt sich z. T. das Phänomen des paduanischen Aristotelismus und die Tatsache, daß noch im 17. Jh. Protestanten häufig in Padua studierten. Harvey war übrigens der Arzt F. Bacons. Seine „Exercitatio Anatómica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus" (veröffentlicht in Frankfurt am Main 1628) ist ein Bericht über eine neuartige Anatomie und Physiologie. Hier handelt es sich nicht mehr um bloßes Sezieren und Beschreiben, sondern um eine Untersuchung, die mit Hilfe praktischer Experimente und damals möglicher Messungen quantitative Überlegungen anstellte und aus diesen auf den tatsächlichen Vorgang schloß. Aus der ungefähren Blutmenge, die bei einer Systole ausgetrieben wird, berechnete Harvey die Blutmenge, die der Körper z. B. in einer Stunde produzieren müßte. Da diese das Körpergewicht um ein Mehrfaches übertrifft, kann es sich nur um den großen Kreislauf derselben Blutmenge handeln. Harvey konnte so schließen, daß ein Blutkreislauf bestehen müsse, da das Blut auf der einen Seite des Herzens herausfloß und in die andere Seite zurückströmte. E r vermochte jedoch noch nicht zu erkennen, wie es von der einen zur anderen Seite gelangte. Die haarfeinen Kapillargefäße, die es durchlief, wurden erst später von Malpighi unter Zuhilfenahme des Mikroskops nachgewiesen (1661). Was Harvey durch logische Schlußfolgerungen aus seinen Experimenten feststellte, hatte die gleichen revolutionären Auswirkungen auf die überkommene Physiologie der Antike und die Lehre Galens wie die Entdeckungen Galileis und Keplers auf die Astronomie. Nach Harvey kann der Körper als eine Art hydraulische Maschine angesehen werden. Für die geheimnisvollen Geister, die angeblich darin wohnen sollten, bietet er keinen Platz. Sein Werk erwies den Wert der quantitativen Betrachtung für die Physiologie, und das war das entscheidende. Harveys eigene Anschauungen von der physikalischen Weltordnung hielten sich jedoch mehr im Rahmen der Auffassungen von Copernicus und Kepler als von Galilei, mit starker Betonung der Parallelität zwischen Körper und Welt. E r schreibt beispielsweise: „So ist das Herz der Urquell des Lebens und die Sonne der .kleinen' Welt, sowie die Sonne im gleichen Verhältnis den Namen Herz der Welt verdient. Durch sein Kraftvermögen und durch seinen Schlag wird das Blut bewegt, zur Vollkommenheit gebracht und ernährt und vor Verderbnis und Zerfall bewahrt. Durch Ernährung, Warmhaltung und Belebung leistet es seinerseits dem ganzen Körper Dienste, dieser Hausgott, die Grundlage des Lebens, der Urheber alles Seins." 31 Harvey räumte damit dem Herzen im Körper den gleichen zentralen Platz ein wie der Sonne im Universum. Zugleich verrät aber schon dieses Zitat 3 i W. Harvey, Die Bewegung des Herzens und des Blutes. Übers, und erl. von R . R i t t e r von Töply, Leipzig 1910, S. 55 (Reprint, Leipzig 1968). - Vgl. ferner: G. Zirnstein, William Harvey, Leipzig 1977.

IATROCHEMIE

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Harveys Abhängigkeit von der Naturphilosophie der Renaissance. Jene Abhängigkeit mag auch erklären, daß gerade Robert Fludd einer der ersten Verteidiger der Entdeckung Harveys war. Diese Entdeckung hatte zunächst auf die Medizin nur geringe Wirkung. Sie war jedoch als Grundlage jeder rationalen Physiologie eine unmittelbare Notwendigkeit und bildete insofern einen wichtigen Beitrag zur neuen mechanistischen Philosophie, als sie darauf schließen ließ, daß das Herz, die Venen und die Arterien ein mechanisches System zum Transport des Blutes bildeten. In Deutschland gehörten der Jenenser Mediziner Werner Rolfinck und Hermann Conring in Helmstedt zu den ersten Anhängern Harveys. Der erste, der einiges von den neuen Methoden der physikalischen Wissenschaft auf die Medizin anwendete, war Santorio Santori. Er konstruierte einen Apparat zur Zählung der Pulsschläge und untersuchte die Gewichtsveränderung des menschlichen Körpers. Er zeigte, daß der Körper selbst Gewicht verliert, was er auf eine unsichtbare Schweißabgabe zurückführte. Die genaue Waage gehörte zu dem wertvollen Erbe, das die Alchimisten den späteren Chemikern und Physikern hinterließen. Francois Dubois, besser bekannt unter seinem latinisierten Namen Franciscus Sylvius, studierte das Werk van Helmonts. Indem er die Chemie auf die Medizin anwendete, wurde er einer der Begründer der Iatrochemie, der chemischen Forschung im Dienste der Arzneimittelkunde. Der „altmodische" Arzt verteidigte das „galenische", pflanzliche Heilmittel; der „moderne" Arzt trat für das „spagyrische", chemische Arzneimittel ein und war allgemein antigalenisch gesinnt. Einige versuchten, beide Gesichtspunkte zu vereinigen. Daniel Sennert bemühte sich um den Nachweis, daß in der Medizin jede denkbare wissenschaftliche Einstellung mit jeder andern vereinbar sei; das kommt im Titel seines bekanntesten Buches zum Ausdruck: „De chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu ac dissensu", 1619. (Zu Sennerts atomistischen Vorstellungen vgl. Kap. V I I . ) Dubois vertrat die Auffassung, daß die Gesundheit von den sauren und den alkalischen Körperflüssigkeiten abhängt, die durch ihre Vereinigung einen milderen und neutralen Stoff erzeugen. Diese Auffassung wurde in der Chemie ebenso angenommen wie in der Medizin. Sie führte später zur klaren Unterscheidung von Säuren und Basen. Die Erkenntnis dieser entgegengesetzten Eigenschaften in verschiedenen Körpern und ihre Tendenz, sich zu vereinigen, manchmal sogar mit Heftigkeit, legte die Vorstellung einer chemischen Anziehung oder Verwandtschaft nahe. „Dies war schon eine Vorahnung der Einteilung der chemischen Verbindungen in eine Reihe von Typen, eine Lehre, die die Entwicklung der organischen Chemie im 19. Jahrhundert sehr gefördert hat." 3 2 Wichtig für die Herausbildung der Iatrochemie sind die deutschen Wissenschaftler Glauber und Libavius. Andreas Libavius entdeckte das Zinnchlorid. Er war der erste, der Ammoniumsulfat herstellte, und gehörte zu den ersten, die die Bluttransfusion als Therapie vorschlugen. Johann Rudolf Glauber be32

W. C. Dampier, Geschichte der Naturwissenschaft in ihrer Beziehung zu Philosophie und Weltanschauung, Wien — Stuttgart 1952, S. 147.

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reicherte die anorganische Chemie durch eine Reihe von Entdeckungen, yor allem hinsichtlich der Chlorverbindungen. Ein Ergebnis der experimentellen Arbeiten Glaubers war z. B. das klare Hervortreten des Begriffs der Affinität. Die Iatrochemiker waren vitalistisch orientiert. Im 17. Jh. erfuhren sie Angriffe seitens der Vertreter der mechanistischen Schule in der Medizin (Iatromechanik). Letztere setzten sich dann in der zweiten Hälfte des 17. Jh. durch. Einer der ersten, der eine Vorlesungsreihe für Apotheker einrichtete, war der Franzose Jean Béguin, der im Jahre 1608 ein Buch unter dem Titel „Tyrocinium chymicum" veröffentlichte. Béguin schrieb noch in lateinischer Sprache, seine Arbeit war aber bald in mehreren volkssprachlichen Fassungen verbreitet und blieb das ganze 17. Jh. hindurch populär. Béguin wollte „die Kunst des Schmelzens natürlich zusammengesetzter Substanzen, die Verfestigung derselben aus dem geschmolzenen Zustand und ihre Verwandlung in heilsame ungefährliche und wirksame Medikamente" lehren; dafür war sein einfaches, genaues und detailliertes Lehrbuch bestimmt. Die neue Pharmazie setzte sich bald durch ; in Frankreich wurde im Jahre 1626 durch königliches Dekret ein chemischer Lehrstuhl am Jardin du Roi, dem offiziellen botanischen Garten, geschaffen, in der Folgezeit erschien eine Anzahl von Lehrbüchern. An einigen medizinischen Fakultäten in Deutschland zählte die Chemie schon zu den Lehrfächern; sie wurde bald zum selbstverständlichen Nebenfach. Trotz aller Vorbehalte konservativer Ärzte bürgerte sich die Iatrochemie mehr und mehr ein, und chemische Heilmittel wurden unerläßlich. Das bedeutete eine Revolution in der medizinischen Praxis. Als praktisches Handwerk trat die medizinische Chemie an die Seite der Pyrotechnik und der Metallurgie. Das 16. Jh. bezeichnet auch hinsichtlich der Alchemie einen Wendepunkt. Einerseits wuchsen die Versuche zur Goldgewinnung quantitativ an. Andererseits entstand neben der Alchemie, z. T. eng mit ihr verwoben bzw. in ihren Termini dargestellt, die Iatrochemie. Diese medizinische Chemie mit ihren von Paracelsus geschaffenen Grundlagen erhielt 1609 den ersten Lehrstuhl in Marburg, den der Professor für Mathematik und Medizin Johannes Hartmann32® besetzte. Hartmann führte auch erstmalig ein chemisches Laboratoriumspraktikum für Mediziner durch. Besonders bekannt wurde Oswald Croll, Professor an der Universität Marburg, und seine „Basilica chymica" (1608). Im 16. Jh. festigte sich die Vorstellung, daß sich verschiedene Stoffe durch unterschiedliche Eigenschaften deutlich voneinander abheben, daß jeder Stoff durch stets wiederkehrende gleichsinnige und wertmäßig gleiche Eigenschaften gekennzeichnet ist, unabhängig von seinem Herkunftsort und seiner Darstellung. Die Chemie wurde so allmählich zur Wissenschaft. Sie wurde aber noch weitgehend mit Alchemie gleichgesetzt. Hier kann keine Geschichte der Alchemie gegeben werden. Einige Zusammenhänge sind aber zu erklären, einige Namen einzuordnen, werden wir doch der Alchemie in Verbindung mit Kabbala und Gnosis, mit Magie und Neuplatonismus noch öfter begegnen. 32a

Zu Hartmann vgl. : W. Ganzenmüller, Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie, Weinheim / Bergstr. 1956. S. 314-322.

ALCHEMIE

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Seit etwa dem 8. Jh. war „Alchemie" Synonym für das Ziel geworden, unedle in edle Metalle zu transmutieren oder Lebenselixiere zu verfertigen, die ewige Jugend bzw. Gesundheit verleihen sollten. Diese Versuche nahmen in der Renaissance zu. Die Möglichkeit, ewige Gesundheit oder Jugend zu gewinnen, mußte aber bald relativiert werden, nachdem der Alkohol die in ihn gesetzten Erwartungen ebensowenig erfüllte wie zahlreiche Wunderarzneien. Seit der Renaissance dehnte sich jedoch — mit der Entwicklung des Frühkapitalismus — die „Goldmacherei" immer mehr aus. Alchemie und Alchemist wurde oft pauschal mit Goldmacherei gleichgesetzt, und dabei ist es bis heute im Volksbewußtsein geblieben. Bei vielen Alchemisten überwog aber das Interesse an echten wissenschaftlichen Ergebnissen. Sie taten die GoldmacherAlchemisten verächtlich als „Sudelköche" ab. Der Denkansatz für die Möglichkeit der Transmutation von Metallen ergab sich aus Aristoteles' Naturphilosophie, die bis ins 18. Jh. trotz mancherlei Modifikationen und der Wiederaufnahme der Atomistik eine Rolle spielte. Aristoteles nahm — wie schon Empedokles — die Existenz von vier Elementen an: Wasser (Kaltes und Feuchtes), Erde (Kaltes und Trockenes), Luft (Feuchtes und Warmes), Feuer (Trockenes und Warmes). Schon bei Piaton findet sich die Idee der Umwandlung dieser Elemente,33 bei Aristoteles ist sie Grundbestandteil seines Systems. Aus diesen vier Elementen sollten — nach entsprechenden Mischungsverhältnissen — sämtliche Körper aufgebaut sein. Silber und Gold waren danach ebenso gemischte Körper wie Holz oder Knochen. Es kam also nur darauf an, das rechte Mischungsverhältnis zu finden, um Stoffe ineinander umwandeln zu können. Die Erfahrung, daß Stoffe sich umwandeln lassen — Rebensaft in Wein, Wein in Essig —, wurde unzulässig verallgemeinert. Theoretisch hat erst Lavoisier die Transmutationstheorie widerlegt. Zudem bildete auch das Makro-Mikrokosmosdenken eine Basis der alchemistischen Lehre. Unter dem Begriff der Transmutation dürfen wir nicht aus heutiger Sicht allein die Summe geologischer, physikalischer und chemischer Kenntnisse zur Metallgewinnung verstehen, sondern eine vom Makro-MikrokosmosDenken beeinflußte Kenntnis metallurgischer Vorgänge zur Zeit der Entstehung der Alchemie. Die als belebt gedachten Mineralien unterlagen nach Ansicht der Alchemisten ebenso wie die Pflanzen bei ihrer Entstehung einem Schöpfungsakt, der durch Zeugung oder Opferung erst möglich wurde. Der Alchemist verstand entsprechend den Naturkenntnissen seiner Zeit die in der Erde 33

„. . . Was zunächst den Stoff anlangt, den wir soeben als Wasser bezeichneten, so sehen wir, daß, wenn er sich verdichtet, wie wir annehmen, er zu Stein und Erde wird; wenn sich der nämliche Stoff dagegen lockert und löst, dann wird er zu Hauch und Luft; die Luft aber, wenn erhitzt, wird zu Feuer, und umgekehrt nimmt das Feuer, wenn es zusammengeballt wird und erlischt, wieder die Gestalt der Luft an, und wenn die Luft wiederum sich zusammenzieht und verdichtet, so wird sie zu Wolke und Nebel, und verdichten sich diese noch stärker, so entwickelt sich aus ihnen strömendes Wasser und aus dem Wasser abermals Erde und Steine . . ." (Piaton, Timaios, in: Dialoge, Timaios und Kritias, übers, u. erläutert v. O. Apelt, Leipzig 1919, 18, 49 St.). — Vgl. zu Alchemie in der Antike: E. O. von Lippmann, Entstehung und Ausbreitung der Alchemie. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Berlin 1919; H. Kopp, Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit, T. 1, Heidelberg 1886, S. 1-52, S. 81-103.

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ruhenden Mineralien als lebende Materie, wenn auch erst im Stadium der Schwangerschaft. In der Finsternis der Erde wuchsen und reiften sie aus, wenn auch langsamer und in einem anderen Rhythmus als das Leben der pflanzlichen und tierischen Organismen auf der Erde. Bei diesem Reifungs- und Wachstumsprozeß in der Erde wurden die „niederen" Metalle zu „höheren" entwickelt. Nach abgeschlossener Reifung bestand jedes Metall aus Gold, dem kostbarsten Mineral. Der Bergmann förderte meist noch nicht gereifte Mineralien und unterbrach somit nach Auffassung der Alchemisten den angenommenen natürlichen Reifungsprozeß in der Erde. Um diesen (widernatürlichen) Eingriff zu rechtfertigen, behaupten die Alchemisten, durch ihr Verfahren aktiv am Werk der Natur mitarbeiten zu können. Nach ihrer Meinung ließen die beiden Grundstoffe Schwefel und Quecksilber durch ihre Vereinigung Erze entstehen, wobei sich der Schwefel wie der männliche Same und das Quecksilber wie das weibliche Ei bei Empfängnis und Geburt eines Kindes verhalten. Die Transmutationslehre erhielt um 1300 neuen Auftrieb durch die Erfahrung, daß mit den damals entdeckten Mineralsäuren mehr Silber und Gold aus den Erzen herauszuholen war. Im 13. Jh. finden wir in den unter dem Pseudonym Geber verfaßten Schriften erstmalig die Beschreibung der Salpetersowie der Schwefel- oder Vitriolsäure. Ab jetzt unterschied man die transmutatio universalis und particularis. Diese Erfahrungen begünstigten die Vorstellungen vom „Stein des Weisen" oder von einem universellen Lösungsmittel. Beide „Stoffe" erinnern an die antiken Auffassungen von einer Urmaterie, aus der alle Elemente hervorgehen. Der „Stein des Weisen" sollte ein Stoff sein, der wie ein Enzym auf andere Substanzen wirkt und z. B. Blei in Gold transmutiert. Die Gewinnung der Urmaterie sollte es ermöglichen, die edlen Metalle von Grund auf zu bilden. Vom 8. bis 16. Jh. ist Alchemie mit Chemie gleichzusetzen, bis zum 18. Jh. dauert der Prozeß der Herausbildung der Chemie. In diesen Jahrhunderten war keineswegs die Goldmacherei einziges Ziel der AlchemieChemie; bis zur Renaissance entdeckten die Alchemisten den Alkohol, Äther, Mineralsäuren (Schwefelsäure, Königswasser, Salpetersäure), anorganische Salze wie Alaun, Salmiak, Zink- und Quecksilbersalz (Ätzsublimat), Silbernitrat (Höllenstein) u. a. In ihrem Kreis entwickelte man die Destillation, Sublimation und Extraktion, lernte Antimon, Arsen, Wismut und Zink kennen, vermehrte die Zahl der Basen u. a. Am folgenreichsten war die Entdeckung des Weingeists und des Schießpulvers. Noch F. Bacon meinte, Gold müsse sich künstlich herstellen lassen, wenn man die Träger seiner Eigenschaften mische. Der Analogieschluß spielt in der Alchemie eine bedeutende Rolle. Zumeist wurde sie mit der Aureole des Geheimnisvollen umgeben. Einmal wollte jeder, der im Besitz eines vermeintlichen Goldrezeptes war, dieses nicht preisgeben. Zum anderen waren nach Meinung fast aller Alchemisten beim Zustandekommen der Transmutationen höhere Mächte im Spiel (gefallene Engel, Gestirne, der Teufel usw.; es spielten kabbalistische, gnostische u . a . Ideen hier hinein). So bediente man sich weitgehend einer Geheimsprache. „Die Alchemie arbeitete wie eine philosophische Schule mit eigenen Begriffen und hatte wie ein Handwerk mit besonderen Stoffen, Geräten und Vorgängen umzugehen . . . Die Sätze sind nicht nur lang und unübersichtlich verschlungen wie in den Urkunden und Widmungsvorreden jener Zeit, sondern auch mit

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Ausdrücken angefüllt, die in anderen Berufssprachen nicht oder nicht in der nämlichen Weise gebräuchlich sind. Die Alchemistensprache h a t zahlreiche Lehnwörter aus d e m Lateinischen und Arabischen, wie Koagulation, Mortifikation, Putrefaktion, Sal, Magisterium, p r i m a m a t e r i a , projecieren, destillieren, Alembik, Aludel, Alicier, Arkanum, Azot, L a t o u. a . m . und dazu eigenartige Neubildungen aus deutschen Wurzeln oder neue Bedeutungen für alte W ö r t e r wie Marien-Bad, R a b e n h a u p t , Stein der Weisen, Same, Geist, reinigen, abwaschen." 3 '' Ruhmrednerische B e r i c h t e über eigene Erfolge v e r banden sich mit heftigsten Angriffen auf Gegner, die als Clamanten, Calumnianten, Sudler, Hudler usw. beschimpft werden. Neben trivialen Beschreibungen mit ermüdenden P a r a t a x e n stehen leidenschaftliche, oft religiös geformte Ausdrücke, Bekenntnisse und Beschwörungen. D a z u k o m m t eine reiche und eigenartige Metaphorik. Als ihren Ahnherrn betrachteten die Alchemisten den sagenumwobenen, angeblich aus Ä g y p t e n stammenden Hermes Trismegistos. 3 5 I h m wird u. a . die „Tabula S m a r a g d i n a " zugeschrieben. Sie ist in der Geschichte der Alchemie von enormem Einfluß gewesen und war den Alchemisten des Mittelalters u n d der folgenden Zeit „Grund- und Gesetzbuch ihres Glaubens a n die Möglichkeit der Metallverwandlung, Offenbarung höchster göttlicher Weisheit und Schlüssel zu den letzten Geheimnissen der N a t u r " 3 6 . Den lateinischen T e x t kannte m a n bereits zur Zeit des Albertus Magnus. 34

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G. Eis, Vor und nach Paracelsus. Untersuchungen über Hohenheims Traditionsverbbndenheit und Nachrichten über seine Anhänger, Stuttgart 1965, S. 52. — F . Engels meint unter Berufung auf Kopp und Berthelot: „Es besteht übrigens ein sehr enges Band zwischen Alchimie und Religion. Der Stein der Weisen hat viele gottähnliche Eigenschaften, und die ägyptisch-griechischen Alchimisten der ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung haben bei der Ausbildung der christlichen Doktrin ihr Händchen mit im Spiel gehabt . . ." (F. Engels, L. Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, a. a. O., S. 284). — Vgl. dazu: \V. Ganzenmüller, Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie, a. a. O., S. 8 7 - 9 7 , 2 2 7 - 3 8 9 . Zu Hermes Trismegistos vgl.: J . Kroll, Die Lehren des Hermes Trismegistos, Münster 1914; H. Kopp, Geschichte der Chemie, T. 2, Braunschweig 1844, S. 144 bis 262; K.-W. Tröger, Die hermetische Gnosis, in: Gnosis und Neues Testament. Studien aus Religionswissenschaft und Theologie, hg. von K.-W. Tröger, Berlin 1973, S. 97—119; K. Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, 2. durchges. u. erg. Aufl., Leipzig 1980. J . Ruska, Tabula Smaragdina. Ein Beitrag zur Geschichte der hermetischen Literatur, Heidelberg 1926, S. 1. — Die lateinische Fassung (Versio Tabula Smaragdina Hermetis Qualis ea vulgo Latino Idiomate, e Phoenicio expressa circumfertur) lautet (ebenda, S. 2): „Verba secretorum Hermetis Trismegisti. 1. Verum, sine mendacio certum et verissimum. 2. Quod est inferius, est sicut (id) quod est superius, et quod est superius, est sicut (id) quod est inferius, ad perpetranda miracula rei unius. 3. E t sicut omnes res fuerunt ab uno, meditatione unius: sie omnes res natae fuerunt ab hac una re, adaptatione. 4. Pater ejus est Sol. mater ejus Luna; (5) portavit illud ventus in ventre suo; (6) nutrix ejus terra est. 5 (7). Pater omnis thelesmi totius mundi est hic. 6 (8). Vis (Virtus) ejus integra est, si versa fuerit in terram. 7 (9). Separabis terram ab igne, subtile a spisso, suaviter, cum magno ingenio. 8 (10). Ascendit a terra in coelum, interumque descendit' in terram, et reeipit vim superiorum et inferiorum. (11) Sic habebis gloriam totius mundi. Ideo fugiat (fugiet) a te omnis obscuritas. 9. Hic (Haec) est totius fortitudinis fortitudo fortis: quia vincet omnem rem subtilem, omnemque solidam penetrabit. 10 (12). Sic mundus creatus

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NATURWISSENSCHAFT

Die in der „Tabula" fungierende Gestalt des mythischen griechischen Gottes Hermes verschmolz mit dem ägyptischen Gott Thoth (öder Tehuti, Theut, Tat) und wurde so zu Hermes Trismegistos, d. h. zum dreimal Größten, zum Allergrößten. T. F. Clemens von Alexandria berichtet in seinen „Teppichen" (Stromateis, VI, 4, 35ff.) bereits von Hermes. Nach Ruska wurden um 200 u. Z. Texte chemisch-technischen Inhalts als Bücher des Hermes bezeichnet, ihre dürftigen Reste — das „Corpus Hermeticum" umfaßt achtzehn Traktate und Traktatstücke — finden wir aber erst in Schriften der griechischen Alchemisten vom 4. Jh. an. Einige dieser Traktate haben gnostischen Charakter. „Das siegende Christentum hat die auf Hermes gegründete Erlösungslehre wie so viele andere überwunden und vernichtet: die Astrologie und Alchimie hat es nicht besiegen können. Eine neue hermetische Literatur okkultistischreligiösen Charakters bildet sich im Orient und wandert durch die Vermittlung des Islam zurück nach dem Abendland."37 Auch in der Literatur der Syrer und Perser spielt Hermes Trismegistos seit dem 5. Jh. eine Rolle. Seit 640 faßten die Araber in Ägypten Fuß. Die Griechen verließen das Land. Zurück blieben die christlichen Kopten. „In diesen koptischen, mit der Überlieferung des Landes verwachsenen, griechisch gebildeten Kreisen wird man die Bewahrer und Fortbilder der alchimistischen Literatur suchen müssen, die bei den Byzantinern nach 640 wie abgebrochen scheint, bei den Arabern aber in Ägypten auf zweifellos griechischer Grundlage in mancherlei Formen wieder in Erscheinung tritt." 3 8 Hier verschmilzt das ursprüngliche hermetische Corpus mit Neuschöpfungen unter diesem Namen. Dazu gehört auch die „Tabula Smaragdina". Ruska weist aus Belegen nach, daß schon im 10. Jh. „alle Bedingungen gegeben waren, die die Auffindung einer Tafel mit alchimistischen Geheimlehren im Grabe des Hermes empfänglichen Gemütern glaubhaft machen konnten. Der größere Teil der hermetischen Schriften in arabischer Sprache stützt sich sicher nicht mehr auf griechische und koptische Vorbilder, sondern ist etwa vom 10. und 11. Jahrhundert an entstanden, nachdem die Alchemie Mode geworden war und eine echt arabische Literatur hervorgebracht hatte." 3 9 Nach Ruska werden der Neupythagoräer Apollonios von Tyana und Hermes oft verknüpft, ersterer ist die Urgestalt des letzteren. Zur „Tabula" meint Ruska nach gründlichen philologisch-vergleichenden Untersuchungen: „So dürfen wir das Jahr. 750 als die Zeit ansetzen, in der das Buch spätestens geschrieben wurde, während wir die obere Grenze kaum über das 6. Jahrhundert hinaufrücken können." 40 Der Text der „Tabula" wurde est. 11 (13). Hinc adaptationes erunt mirabiles, quarum modus est hic. 12 (14). Itaque vocatus sum Hermes Trismegistus, habens tres partes Philosophiae totius mundi. 13 (15). Completum est quod dixi de operatione Solis." 37 Ebenda, S. 36—37. — Vgl. S. Morenz, Die Begegnung Europas mit Ägypten, Berlin 1968, S. 3 1 - 3 2 , 9 2 - 9 4 , 1 2 4 - 1 2 6 (Sitzungsber. d. Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Phil.-hist. Kl., Bd. 113, H. 5). Zum neuesten Forschungsstand zur Alchemie vgl. auch: E . E . Ploss u. a., Alchimia. Ideologie und Technologie, München 1970; V . L . Rabinoviö, Alchimija kak fenomen srednevekovoj kul'tury, Moskva 1979. 38 Ebenda, S. 49. — Für den wissenschaftlichen Einfluß der Kopten auf die Araber im 9. Jh. gibt Ruska S. 5 1 - 6 1 Beispiele. 39 Ebenda, S. 67. 4« Ebenda, S. 166.

ALCHEMIE

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im 12. Jh. mit dem ebenfalls für Alchemisten bedeutsamen, noch im 17s Jh. Aristoteles zugesprochenen, aber um 850 im sarazenischen Kulturbereich auf der Grundlage von Proklos' Ideen entstandenen „Liber de causis" ins Lateinische übertragen. Angeblich verfaßte schon im 11. Jh. (1040) ein englischer oder französischer Mönch namens Hortulanus (Ortholanus oder Garlandius) einen Kommentar zur „Tabula Smaragdina".41 Albertus Magnus, der mit seiner Auffassung und seinem Gebrauch der „Tabula" nachhaltig gewirkt hat, benutzte offenbar noch eine andere arabische Vorlage.42 Arnaldus von Villanova kannte die „Tabula", offenbar auch Raymundus Lullus u. a. Paracelsus erwähnt sie mehrfach. 1541 erschien in Nürnberg ihr erster Druck. Der zur Mystik neigende Paracelsist Alexander von Suchten43 schätzt sie sehr. Mit dessen Schriften wiederum war Valentin Weigel vertraut, wie die Anhänge zu seinem „Dialogus de Christianismo" ausweisen. Die Suche nach dem Stein der Weisen beschäftigte die Alchemisten über Jahrhunderte. Viel Aberglaube wurde kultiviert. Dieser Stein sollte nicht nur die Kraft verleihen, Gold zu machen, sondern seine Besitzer auch durch ewige Jugend, Reichtum, Gesundheit auszeichnen. Er sollte zudem eine Universalmedizin sein. Viele Betrüger behaupteten, ihn zu besitzen. Viele alchemistische Goldmacher büßten ihre Taschenspielertricks nach Überführung mit dem Tode. Dennoch standen eine Reihe von ihnen im Dienste von Fürsten und Herren, zum größeren Teil, um die leere Kasse aufzubessern, zum kleineren Teil aus echten wissenschaftlichen Interessen. Dabei schloß natürlich der zweite Faktor den ersten nicht aus, so nicht bei Kaiser Rudolf II. und nicht bei Kurfürst August von Sachsen in dem von uns behandelten Zeitraum. Auch Mystik und Alchemie verbündeten sich. Man sprach von der Seele des Goldes, verglich die Entstehung des Goldes mit der tierischen Zeugung oder mit dem Entstehen und dem Wachstum von Pflanzen usw. Im Mittelalter verglich Raymundus Lullus die Bereitung des Steins des Weisen mit der Verdauung, der Entstehung des Blutes und der Ausscheidung der übrigen Säfte im menschlichen Körper. Später werden die alchemistischen Operationen mit den Beziehungen zwischen Leib und Seele vor und nach dem Tode verglichen. Die Vermischung von Magie und Wissenschaft — Magie ist stets mit Mystik verbunden — zeigt sich deutlich bei dem Engländer John Dee, der der Astrologie und Alchemie viel Zeit widmete, aber auch als ein bekannter Mathematiker die Copernicanische Lehre schon sehr früh verteidigte. Bereits bei Paracelsus findet sich die Verbindung von Alchemie, Magie, Kabbalistik, gnostischen Elementen und Wissenschaft. Ein Abgleiten der Paracelsischen Philosophie und Alchemie ins Gnostische « Ebenda, S. 177-178, 180-186, S. 202; vgl. unten Kap. VI, Anm. 166. « Ebenda, S. 186. 43 Vgl. W.-E. Peuckert, Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie, Stuttgart 1936, S. 288-298; W. Haberling, Alexander von Suchten, ein Danziger Arzt und Dichter des 16. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereins, Danzig 69 (1929) S. 175—228 (Haberling gibt eine bibliographische Ubersicht über die Werke A. v. Such^ens); W. Hubicki, Alexander von Suchten, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Wiesbaden 44 (1960) S. 54—63.

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ZUR

NATURWISSENSCHAFT

stellen jedoch die Schriften des „Basilius Valentinus" dar, die 1599 bis 1626 gedruckt wurden. Sie haben verschiedene Verfasser und waren im 17. Jh. weit verbreitet. Ihr Inhalt ist Alchemie im eigentlichen Sinn mit vielem Beiwerk, das oft den wissenschaftlichen Kern überdeckt. Beschäftigung mit der Alchemie gilt als Ausübung der Religion und Ausfluß von Frömmigkeit, als Vorbereitung für ein anderes Leben. Begriffe der Religion werden mit denen der Chemie identifiziert. So wird in den „Valentinischen" Schriften der Begriff des Weisen mit dem der Trinität verglichen; die Verwandlung der unedlen Metalle in Gold durch den Stein des Weisen mit der vorgeblichen Erlösung des Menschengeschlechts durch Jesus.44 Daneben erweitern im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jh. Alchemisten die Erfahrungen über die Wirksamkeit der Arzneimittel, der Metalle und Salze bedeutend. Das gilt besonders für Antimon und Wismut und die Darstellung der Salzsäure aus Vitriol und Kochsalz. In ihren theoretischen Anschauungen stehen die Autoren weitgehend in der Nachfolge des Paracelsus. Aber der große Wissenschaftler Paracelsus konnte sich nicht mehr dagegen wehren, daß in seinem Namen auch blühender Unsinn gedruckt und verbreitet wurde bzw. gerade seine der Zeit geschuldeten nichtwissenschaftlichen Ideen zentral wurden. Das Einmischen von Beschwörungen und Gebeten in chemische Operationen, wo keine Unze Weinstein ohne Anrufung Gottes um spezielle Segnung für den bevorstehenden Prozeß benutzt wird, ist der Alchemie schon seit dem 13. Jh. eigentümlich. Das wurde durch den Gebrauch von Gebeten zur Zeitbestimmung noch gefördert (etwa: man lasse eine Substanz sechs Paternoster lang kochen). Im 17. Jahrh. — man vergleiche die Valentinischen Schriften — werden alchemistische Ausdrücke für religiöse Auffassungen gesetzt. So bedeutet „Stein des Weisen" — Bekehrung, Heil. Der irdene Ofen, in welchem die Darstellung des Steins des Weisen erfolgen soll, ist der irdische Teil des Menschen usw. Anspielungen auf die Alchemie suchte und fand man selbst in der Bibel (so Offb. 2, 17; 2. Kor. 4, 7). Das angeblich lange Leben der biblischen Erzväter wurde dadurch erklärt, daß sie schon im Besitz des Steins der Weisen (Mercurius philosophorum) gewesen seien. Auch Palingenese und die Schaffung des Homunculus gehörten danach in das Aufgabengebiet der Alchemie und der mit ihr verbundenen Medizin. Ein Zentrum der medizinischen Chemie, d. h. der Iatrochemiker war der Hof Rudolfs I I . in Prag. So wurde auch Michael Sendivogius von Rudolf I I . protegiert und hielt sich längere Zeit in Prag auf. Er weilte 1616 auch bei dem „Chemiker" J. Hartmann in Marburg und am Hofe von Landgraf Moritz von

** Vgl. F. Fritz, „Basilius Valentinus", in: Das Buch der großen Chemiker, Bd. 1, hg. v. G. Bugge, Berlin 1929, S. 125-141; J. R. Partington, A history of Chemistry, Vol. 2, London — New York 1961, S. 209—243. — Die wichtigsten der zuerst deutsch veröffentlichten Basilius-Valentinus-Schriften sind: Triumph-Wagen Antimonii (Leipzig 1604), Von dem großen Stein der Vhralten (Eisleben 1599), Wiederholung vom großen Stein der Vralten, de Microcosmo oder der kleinen Welt des Menschen . . . (ebenda), De occulta Philosophia oder von der heimlichen Wundergeburt der sieben Planeten (Leipzig 1603), Von den Natürlichen und übernatürlichen Dingen (Leipzig 1603), Testamentuni ultimatum (Jena 1626). Nach F. Fritz (a. a. O., S. 136—138) ist Nicolaus Soleas Verfasser der letztgenannten Schrift.

A L C H E M I E UND

IATROCHEMIE

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Hessen. Sendivogius 4 4 a publizierte fünf Bücher, ein weiteres blieb als Manuskript erhalten. E r basierte auf Aristoteles und Paracelsus. Sein „Tractatus de Lapide Philosophorum oder Novum Lumen Chymicum" (1604) und seine anderen alchemistischen Arbeiten erlebten 44 Ausgaben. Sendivogius wird von Bugaj als eigentlicher Entdecker des Sauerstoffs und Vorgänger der Schöpfer der Atem- und Verbrennungstheorien angesehen. Ebenso soll er auch Stickstoffdioxyd N 0 2 und Stickstofftrioxyd N 2 0 3 entdeckt haben. Unter großen Mühen trennte sich die Chemie von der Alchemie und wandte sich immer mehr praktischen Aufgaben zu. Van Helmont und J . R. Glauber entwickelten die Iatrochemie weiter. Glauber 45 entdeckte das nach ihm benannte Salz (Natriumsulfat). 1646 stellte er den gasförmigen Chlorwasserstoff her. Die Chemie wurde in dieser Zeit in der Metallurgie praktisch angewandt. In der anorganischen Chemie wurden der Phosphor sowie eine Reihe von Verbindungen des Chlors mit Zinn, Eisen, Blei und Silber entdeckt, die eine wichtige Rolle in der Praxis spielten. Ebenso wurde die chemische Wirkung der Luft entdeckt. Paracelsus hatte durch die Vereinigung von Medizin und Alchemie die Iatrochemie recht eigentlich ins Leben gerufen. Dabei liegt bei ihm eine spezifische Auffassung von Alchemie vor. In der Medizin verwarf Paracelsus die klassische Vier-Säfte-Lehre und vertrat statt dessen die Auffassung, der menschliche Körper sei seinem Wesen nach ein chemisches System, aufgebaut aus den beiden Grundstoffen der Alchemie, Quecksilber und Schwefel, und einem dritten Bestandteil, dem Salz, das er hinzufügte. Krankheit erwachse aus der Störung zwischen diesen drei Grundstoffen. Das Gleichgewicht könne durch R. Bugaj, Michal Sedziwöj (1566—1636). Zycie i pisma, Wroclaw — Warszawa — Krakow 1968, S. 312-313. « V g l . K. F. Gugel, Johann Rudolph Glauber (1604-1670). Leben und Werk, Würzburg 1955; A. G. Debus, The Chemical Philosophy. Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Vol. II, New York 1977, p. 425—441; H. M. E. de Jong, Glauber und die Weltanschauung der Rosenkreuzer, in: Janus- Revue international de l'histoire des Sciences, Leiden 56 (1969) S. 278 bis 304. — De Jong faßt Glauber als Übergangsfigur, der einerseits als Chemiker der neuen Entwicklung angehört, andererseits aber noch der von Vesalius, Bacon, Galilei u. a. zerstörten „Welt der Magie und der Alchemie, die sich vorwiegend auf die Parallelität zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos stützte" (S. 279), verhaftet ist. Die Rosenkreuzer werden m. E. dabei zu stark in die Nähe der Alchemisten gerückt, wobei ihre Bewegung allerdings auch als „eine Äußerung esoterischen Christentums in Westeuropa im 17. Jahrhundert" (S. 287) gefaßt wird. De Jong hat Glaubers Werk auf Beziehungen zu den Rosenkreuzern hin durchgemustert, obwohl man Glauber in der Literatur nur einmal von Zeitgenossen als Rosenkreuzer charakterisiert findet. Sie führt eine Vielzahl von Zitaten Glaubers an und schließt (S. 304): „Rosenkreuzer und Glauber vertreten . . . einigermaßen verschiedene Entwicklungsstufen der hermetischen Tradition: Die Rosenkreuzer sind ausschließlich in der Symbolik stehen geblieben; für Glauber aber waren die hermetischen Bücher und die in ihnen verborgene Weltanschauung dazu noch eine Anregung — der neuen Entwicklung der Wissenschaften seiner Zeit gemäß — gerade in die Realität des praktischen, chemischen Experiments hinabzusteigen . . . Glauber und die Rosenkreuzer schöpfen aus gemeinsamen Quellen." — Zu Goethes Kenntnis der Valentinischen Schriften und der „Chymischen Hochzeit" J . V. Andreaes vgl.: A. Binder, Hexenpoesie. Die „Hexenküche" in Goethes „Faust" als Poetologie, in: GoetheJahrbuch, Weimar 97 (1980) S. 160-163.

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NATURWISSENSCHAFT

mineralische Medizinen, ohne Zuhilfenahme organischer Mittel wiederhergestellt werden. Nach Paracelsus gibt es für jede Krankheit, entsprechend ihren spezifischen Symptomen, ein besonderes chemisches Heilmittel. Damit befürwortete er die Verabreichung bestimmter einzelner Substanzen als Medikamente. Diese Neuorientierung gab Anstoß zur Untersuchung einzelner Krankheiten und half, zwischen nützlichen und schädlichen Medikamenten zu unterscheiden. O. Croll ist in der von uns behandelten Zeit medizinisch wie philosophisch ein bedeutender Schüler des Paracelsus. Crolls postum erschienene „Basilica chymica" ist im wesentlichen ein Rezeptbuch. Von 85 darin angegebenen Rezepten hängen 39 direkt oder vermittelt mit Paracelsus zusammen. Nach W.-E. Peuckert ist Crolls „Basilica chymica" zugleich „ein Hauptbuch der magia naturalis", die Peuckert auch wesentlich mit Paracelsus entstehen sieht.46 Die Iatrochemiker verwarfen die herkömmlichen Vorstellungen von Herrschaft und Knechtschaft. Sie lehrten, alle Wesen im Universum wären frei und unabhängig und leiteten diese Autonomie aus einem den Wesen innewohnenden Prinzip ab. Erkenntnis war für die Iatrochemiker aus der empirischen Durchforschung mystischer Einsichten und Analogien zu gewinnen, insbesondere der Analogien, die zwischen dem Mikrokosmos des Menschen und dem Makrokosmos der Welt bestanden. Auch die Bibel und religiös oppositionelle Erkenntnisse der Zeit sind Erkenntnisquellen der Iatrochemiker. Die Iatrochemie wurde von Johann Baptist van Helmont weiterentwickelt. Seine Schriften erschienen allerdings erst postum, veröffentlicht von seinem Sohn unter dem Titel „Ortus medicinae vel opera et opuscula omnia" (1648). Die Beziehungen des brabantischen Edelmannes zu Deutschland waren sehr eng, sein Einfluß auf die deutsche Naturphilosophie war enorm. Van Helmont war als Philosoph beeinflußt von der Mystik: von Thomas a Kempis, Hildegard von Bingen u. a., von J. Scotus Eriugena und vom Neuplatonismus, von Plotin und Pseudo-Dionysius Areopagita, auch von den Stoikern und Epiktet, schließlich von Pico della Mirandola und Nicolaus von Cues. Nach Studien in Löwen und London lebte er als Gelehrter und Arzt auf seinen Gütern.47 Noch Leibniz rühmte besonders van Helmonts Kritik der scholastischen Philosophie. 46

47

W.-E. Peuckert, Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert, Berlin (West) 1967, S. 275. - Vgl. W. Schneider/M. Klutz, Die Paracelsus-Rezepte Oswald Crolls, in: Paracelsus — Werk und Wirkung. Festgabe für Kurt Goldammer zum 60. Geburtstag, hrsg. von S. Domandl, Wien 1975, S. 2 8 9 - 2 9 9 ; M. Klutz, Die Rezepte in Oswald Crolls Basilica chymica (1609) und ihre Beziehungen zu Paracelsus, Naturwiss. Diss., Braunschweig 1974 (Veröffentl. aus dem Pharmaziegeschichtl. Seminar der TU Braunschweig, 14). Vgl. zum folgenden W. Böhm, Die Naturwissenschaftler und ihre Philosophie. Geistesgeschichte der Chemie, Wien — Freiburg — Basel 1961, S. 152ff.; F. Strunz, Johann Baptist van Helmont (1577—1644). Ein Beitrag zur Geschichte der Naturwissenschaften, Leipzig und Wien 1907; F. Strunz, Van Helmont, in: Das Buch der großen Chemiker, Bd. I, a. a. O., S. 142—150; A. G. Debus, The Chemical Philosophy. Vol. II, a. a. O., p. 297—379; W. Pagel, Johannes Baptista van Helmont als Naturmystiker, in: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt, hg. von A. Faivre und R. Chr. Zimmermann, Berlin (West)

JOHANN B A P T I S T VAN HELMONT

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Als Naturforscher war van Helmont entschiedener Anhänger des Paracelsus und (wie Piaton) von den Pythagoräern beeinflußt, den Copernicanismus bejahte er. Die Wahrheit erfährt man nach seiner Auffassung nicht im tätigen Leben, sondern in der Spekulation. Die Wahrheit als eine absolute Idee ist nach ihm ohne Intuition, Eingebung, Traum oder göttliche Gnade nicht zu erkennen. Das Weltall ist nach van Helmont ein lebendiges Wesen, die Dinge sind durch allseitige Sympathie verbunden, denn in jedem Ding lebt das Ganze von innen her, jedes verwirklicht in seiner Art dasselbe Weltall. Jedes Naturobjekt besteht aus Materie und causa efficiens. Die Materie als Substrat der Dinge besteht aus den Elementen Wasser und Luft. Sie sind ursprünglich (primogenia) und nicht ineinander verwandelbar. Die Erde dagegen ist — gleich dem Feuer — kein Element, denn sie ist gleichsam aus Wasser entstanden und kann wieder zu Wasser gemacht werden (beim pflanzlichen Wachstum verwandelt sich z. B. Wasser in Pflanzenteile, auch in erdige Teile, die beim Verbrennen als Asche zurückbleiben). Die drei Prinzipien des Paracelsus: Mercur, Sulfur und Sal sind bei van Helmont nur äußere Erscheinungsformen seiner beiden Elemente, die durch verschiedene räumliche Anordnung der Partikel zustande kommen. Stereochemische Vorstellungen sind hier (nach dem Vorbild der Phythagoräer und Piatons konzipiert) keimhaft vorhanden und werden in der Gaslehre auch angewendet. „Dampf" und „Gas" sind ebenfalls nur andere Erscheinungsformen des „Elementes" Wasser und müssen von Luft streng unterschieden werden, denn seit der Renaissancekosmologie sind die Elemente nicht mehr ineinander verwandelbar. Dampf entwickelt sich in der Wärme aus Wasser und kann in der Kälte wieder Wasser werden, „Gas" entsteht aus dem Wasser in der Kälte bei der Gärung als trockener luftförmiger Hauch (gemeint ist C0 2 ) und kann sich nicht mehr in tropfbare flüssige Form verwandeln. Beide sind „halitus" (Dünste) und unterscheiden sich durch die verschiedene räumliche Anordnung der Partikel, aber weder Dampf noch Gas können sich in Luft verwandeln. Van Helmonts „Gas" ist ein verdichteter und erstarrter Geist (spiritus concretus et corporis more coagulatus) und wird bei der Gärung frei. Van Helmont meint damit das bei der Gärung freiwerdende Kohlendioxyd und will es zu Recht streng von der Luft unterschieden wissen, ebenso aber auch vom Dampf, der beim Kochen des Wassers entsteht. „Gas" ist einerseits „subtiler" als gewöhnlicher Dampf oder Rauch, andererseits dichter als die atmosphärische Luft. Mit der genauen Unterscheidung von Wasserdampf, Luft und Gärungsgas begründet van Helmont, angeregt von Paracelsus, spekulativ die Gaschemie. Das Wort „Gas" ist seine eigene Erfindung. Es ist wahrscheinlich 1979, S. 169—211; W. Pagel, Johann Baptist van Helmont. Seine Lehre und seine Stellung in der heutigen Wissenschaftsgeschichte, in: J. B. van Helmont, Aufgang der Artzney-Kunst . . . In die Hochteutsche Sprache übersetzt . . ., Bd. 1—2, Sultzbach 1683 (Reprint, München 1971, Bd. 2, Anhang, S. I I I - X I X ) ; J. R. Partington, A history of Chemistry, Vol. 2, a. a. O., S. 209-242. T. A. Rixner/T. Siber, Leben und Lehrmeinungen berühmter Physiker am Ende des XVI. und am Anfange des X V I I . Jahrhunderts, als Beyträge zur Geschichte der Physiologie in engerer und weiterer Bedeutung, Heft 7: Joh. Bapt. v. Helmont, Sulzbach 1826. — Walter Pageis Arbeit „Joan Baptista van Helmont, Reformer of science and medicine", Cambridge 1982, wurde mir erst nach Redaktionsschluß dieser Arbeit bekannt.

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II. VON

D E R N A T U R P H I L O S O P H I E ZUR

NATURWISSENSCHAFT

aus „Chaos" oder von gaesen (fermentieren) gebildet; beide Begriffe spielen bei Paracelsus eine Rolle. Der Stoff wird bei v a n Helmont — wie bei Paracelsus — vom Archeus gestaltet, dem Bildner und Gestalter aller Naturereignisse. E r lenkt die Lebensprozesse von innen her planmäßig und verbirgt sich im Samen als „innewohnender Werkmeister". Solche Samen sind über den ganzen menschlichen Körper verstreut, und in jedem solchen Lebenszentrum verbirgt sich ein Archeus. Ein Körper hat viele in ihrer Macht und Wirkung abgestufte archei mit verschiedenen Funktionen, aber alle sind dem Grundarcheus unterworfen. Außer dieser Lebenskraft besitzt der Mensch noch eine anima sensitiva. Ihr untersteht die Sinnesorganisation, aber auch die Verstandestätigkeit ist neben der Phantasie eine ihrer Funktionen. Das eigentliche Wesen der Dinge erkennt man aber nur mit der mens (Gemüt). Dies ist das innerste geistige Lebenszentrum, das in unmittelbarer Verbindung mit Gott steht, ein Abbild Gottes, unsterbliche und unkörperliche Substanz. Hier erkennen wir die platonischen Stufen der Erkenntnisordnung. In den Naturdingen gibt es nach van Helmont außer der Materie und dem Archeus noch den „Blas", der sich von den Sternen her als ein Mittelding zwischen Materie und unkörperlichem Geist instantan ausbreitet. Diese kosmische K r a f t durchdringt die Porositäten (Zwischenräume) der Körper und bewirkt in den Körpern den Trieb zur Bewegung. Ein Vorbild für das „ B l a s " ist wohl Piatons, im „Theaetet" und „Parmenides" dargelegte Idee von Bewegung (t r e t e r der Schulphilosophie aus dem E r k e n n t n i s s t a n d der Zeit zu b e g r e i f e n . E s geht bei der k o n k r e t e n U n t e r s u c h u n g nie um .die M e t a p h y s i k ü b e r h a u p t , es geht s t e t s um eine b e s t i m m t e E r s c h e i n u n g s f o r m . D e m e n t s p r e c h e n d i s t die M e t a p h y s i k bei L o c k e , D e s c a r t e s u. a. gegenüber den h i e r b e h a n d e l t e n a r i s t o t e l i s c h e n Schulphilosophen progressiver zu bewerten. Vgl. F . E n g e l s , L u d w i g F e u e r b a c h und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, a. a. O., S. 2 9 4 ; G e s c h i c h t e der D i a l e k t i k . 14. bis 18. J a h r h u n d e r t , a. a, O., S, 1 2 - 1 9 ; V . V . S o k o l o v , T r a d i c i o n n o j e i n o v a t o r s k o j e v gnoselogii velikich filosofov X V I I v e k a , i n : V o p r o s y filosofii, M o s k v a 33 (1979) 8, S. 1 3 1 - 1 4 2 . 1;K> K . Eschweiler, D i e Philosophie der spanischen S p ä t s c h o l a s t i k . . ., a. a . O., S. 2 9 7 . M. W u n d t behandelt (Die deutsche S c h u l m e t a p h y s i k des 17. J a h r h u n d e r t s , a. a. O., S. 86—93) die E n t w i c k l u n g der M e t a p h y s i k an niederländischen U n i v e r s i t ä t e n bis zum E n d e des 17. J h . D a v o n ausgehend stellt er a u c h die T ä t i g k e i t J o h a n n e s Claubergs dar, der in Groningen 1647 die „ E l e m e n t a philosophiae sive Ontosöp h i a " h a t t e erscheinen lassen, d a n a c h bei J . de R a e y in Leiden D e s c a r t e s ' P h i l o s o p h i e studierte, dabei aber seine a l t e M e t a p h y s i k n i c h t aufgab, 1 6 6 0 und 1 6 6 4 Neuauflagen des H a u p t t e i l s seiner m e t a p h y s i s c h e n S c h r i f t v o n 1647 v e r ö f f e n t l i c h t e . Clauberg ist eine i n t e r e s s a n t e Übergangsfigur v o n der S c h u l m e t a p h y s i k zu Descartes. 137 K . Vorländer, Philosophie der Renaissance. B e g i n n der Naturwissenschaft, a. a. O., S. 96. . :. . .

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III.

S C H U L P H I L O S O P H I E IN D E U T S C H L A N D

1550—1650

Scheiblers „Opus metaphysicum" 1 3 8 wurde im protestantischen Bereich das berühmteste Lehrbuch. Scheibler verhalf im Protestantismus dem neoscholastisch interpretierten Aristoteles wesentlich zur Durchsetzung. Auf die vielen anderen Aristoteliker dieser Art und ihre Werke kann hier nicht eingegangen werden. Die Lutheraner wie die Reformierten übernahmen häufig die Metaphysik-Interpretation des Katholiken Suärez. Zitieren wir lediglich einige Grundgedanken: Die Metaphysik lehrt, was eine Substanz ist und welches ihre Bedingungen sind, bis sie zu den ersten Substanzen gelangt. Sie beweist, daß eine unter ihnen die erste ist, die zugleich die erste und wichtigste Ursache aller Dinge ist, nämlich Gott. Hier macht die Metaphysik halt. Sie ruft die Theologie an und übernimmt, was diese von Gottes Wesen und Willen zu künden weiß. In diesem Sinne ist die Theologie „Königin und Herrin aller Wissenschaften, caeterarum disciplinarum humanarum asylum" 1 3 9 . Aus dem bisher Gesagten erscheint Petersens Meinung unhaltbar: „Wir haben vor uns, nicht mehr und nicht weniger, als die aristotelische erste Philosophie nebst den Erweiterungen, die ihr zur Zeit der Hochscholastik des 13. Jahrhunderts eingefügt wurden." 1 4 0 Die bloße Adaption einer Lehre ist zu keiner Zeit möglich. Keine theoretische Doktrin läßt sich unverändert über Jahrhunderte propagieren. Auch ein Lehrgebäude der Metaphysik trägt den neuen sozialökonomischen, wissenschaftlichen u. a. Verhältnissen Rechnung. Den sozialen Erfahrungen der Individuen entspricht das Begreifen auch der überlieferten Kategorien. In der Aneignung der tradierten Theorie geht zugleich deren Umarbeitung vor sich; diese doppelte Geschichte aus den Dokumenten herauszulesen ist auch Aufgabe der Philosophiegeschichte. Näher zu untersuchen ist dabei ebenfalls, ob die Schulphilosophie des 17. J h . der sich herausbildenden neuen Naturwissenschaft Impulse zu vermitteln vermochte. Die Universität Gießen war seit ihrer Gründung (1607) eine Hochburg der Orthodoxie. Das wurde durch die Nähe des reformierten Marburg verstärkt. 1610 bis 1624 war Scheibler Professor zu Gießen. Seine metaphysischen Arbeiten erschienen in seiner Gießener Zeit. „Der ihm beigelegte Name eines protestantischen Suärez war nicht unverdient, denn sein Hauptwerk fand weite Verbreitung, wenn es auch niemals eine so beherrschende Stellung wie das Werk des Suärez erringen konnte, dem die äußere und innere Macht seines Ordens zugute kam." 1 '' 1 Scheiblers metaphysisches Hauptwerk, das „Opus metaphysicum", „ist der äußeren Anlage und mehr noch in der Art der Durchführung stark von Suärez beeinflußt und soll wohl wirklich mit Absicht ein protestantisches Gegenstück zu dessen Werk sein. In der Durchführung erinnert besonders die Rücksicht auf alle möglichen Einwände an Chr. Scheibler, Opus metaphysicum, üb. I—II.Gießen 1617; idop. Ed. noviss. 1636— 37; Nachdrucke 1657, 1665. Englische Ausgabe: Oxford 1638, 1665. 139 H. Arnisaeus, Tractatus de constitutione et partibus metaphysicae, Frankfurt/O. 1606, Vorwort: „Quod enim de Logica perperam creditum fuit, esse illam scientiam scientiarum, in Metyphysicam omni jure quadrat, quippe, quae caeterarum disciplinarum humanarum asylum est, ad quam scientiarum inferiorum principia, si ad incitas redigantur, tanquam ad clypeum se recipiunt, indeq. suppetias efflagitant." 140 p, Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, a. a. O., S. 304. 141 M. Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, a. a. O., S. 119. 138

CHRISTOPH

SCHEIBLER

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Suarez." Das Werk bietet „eine mit großem Fleiß gewonnene Übersicht über den Gesamt bestand der scholastischen Metaphysik". Scheibler verbindet mit Suarez auch die starke Orientierung der Metaphysik auf die Theologie. Darin stand er im Gegensatz zu den Vertretern der Helmstedter Schule, aber auch zu den Wittenbergern, die — wenn auch unterschiedlich akzentuiert — die Metaphysik als eine selbständige Wissenschaft faßten. Bei Scheibler ist die Metaphysik streng in den Grenzen gehalten, die ihr die Theologie zugestand, und zugleich ganz auf deren Ziele eingestellt. Ob und wieweit bei Scheibler Originalität vorliegt, ist noch zu untersuchen. C. Martini fragt etwa schon, „ob die immateriellen Substanzen noch eine besondere, und als höchste sogar eine bevorzugte Behandlung erfahren würden, oder ob man sich auf die allgemeinen Bestimmungen des Seienden überhaupt beschränkte; ob man also die Theologie als einen Teil der Metaphysik anerkannte oder ob man sie in eine besondere Wissenschaft verwies, die sich grundsätzlich nicht anders zu jener verhalte wie jede andere besondere Wissenschaft" U2. H. Arnisaeus läßt die Frage zwar noch offen, aber in seiner „Epitome metaphysices" tritt der Gottesbegriff stark zurück. Wie widersprüchlich das allerdings ist, zeigt das oben angeführte Zitat. Scheibler dagegen gesteht Gott uneingeschränkt einen entscheidenden Platz in der Metaphysik zu. Für ihn gehört die Theologie zur Metaphysik. Hier sehen wir, in der Diskussion um theologisch-metaphysische Begriffe, tendentiell letztlich das Ringen um Materialismus und Idealismus. Bei C. Martini ist in seiner zweiten Darstellung der Metaphysik eine exakte Trennung von Metaphysik und Theologie zu konstatieren. Die Metaphysik wird ganz auf Ontologie ausgerichtet. Keckermann und Aisted tragen — von reformierter Seite — die Ontologie unter völligem Ausschluß der Theologie vor. Auf lutherischer Seite kommt es auch zu einer solchen Trennung besonders bei D. Stahl. Scheibler vertrat dagegen, wie gesagt, den anderen Aspekt: natürliche Theologie ist untrennbar Bestandteil der Metaphysik. Wenn jedoch Gott aus der Ontologie bzw. Metaphysik im obengenannten Sinne eliminiert wird, so heißt das nicht, daß er völlig verschwindet. Gott erhält bei Stahl, Aisted u. a. keinen besonderen Abschnitt in der Metaphysik, aber er durchdringt alle Abschnitte. Oberstes Seiendes, letztes Prinzip und erste Ursache bleibt in der Schulmetaphysik Gott. Eine wesentliche Rolle innerhalb der Schulmetaphysik spielt Clemens Timpler. Er wurde 1567 oder 1568 in Stolpen bei Dresden geboren, schon 1580 in Leipzig immatrikuliert, dort 1587 Baccalaureus und Anfang 1589 zum Magister promoviert. Da Timpler die Konkordienformel nicht unterschrieb, wurde er von der Universität verwiesen und am 28. 9. 1592 in Heidelberg immatrikuliert. Er gelangte hier schnell zu Ansehen, ging aber 1595 nach Steinfurt. Diese Stadt (heute Burgsteinfurt in Westfalen) hatte ein — reformiertes — Akademisches Gymnasium, wo neben Timpler auch zeitweilig C. Vorstius und J. Althusius lehrten. Timpler wirkte hier bis zu seinem Tode. 1604 erschien in Steinfurt sein „Metaphysicae systema methodicum", das „erste geschlossene Lehrbuch der Metaphysik von größerem Umfang, das in DeutschEbenda, S. 167.

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land geschaffen wurde; auch C.Martinis Schrift erscheint daneben nur wie ein Abriß". 143 Timpler weicht von der Gestalt, in der die Metaphysik später unter Führung der beiden Martini vorgetragen wurde, so sehr ab, daß er zum Gegenstand einer ständigen Polemik seitens der protestantischen Philosophen wurde. Zunächst aber fand seine Metaphysik starke Verbreitung. Wundt sieht Timplers Selbständigkeit in zweierlei Hinsicht: „Timpler wagt, über das ens zurückzutragen und führt damit als ein unentbehrliches Prinzip das Nichts ein, und er rechnet die Transzendentien zu den konjunktiven Eigenschaften, gesteht ihnen auch im letzten metaphysischen Sinne kein absolutes Sein zu." 1 4 4 In beiden Aspekten berücksichtigt er den calvinistischen Standpunkt. Die Gesamtdarstellung ist ein Wunderwerk von Begriffsbestimmungen und -entscheidungen. Die „Exercitationes philosophiae" (Hanau 1618) bringen Nachträge. In Steinfurt wirkte ebenfalls Heinrich Nollius, der als Anhänger des Paracelsus Aufsehen erregte und primär medizinisch tätig war. Schon 1613 hatte er einen „Methodus metaphysici systematis" (Frankfurt/M.) drucken lassen, der wohl in manchem von Timpler beeinflußt ist. Nollius begegnet uns noch im Zusammenhang mit oppositionellen Denkern (vgl. Kap. V, IX). Gleichzeitig lebt auch noch im 17. Jh. das Bestreben weiter, eine umfassende, allen Disziplinen dienende und den Weg weisende Wissenschaft zu gründen. Neben den Bestrebungen zur Schaffung einer „topica universalis" sind dazu die von der Weiterführung der italienischen Naturphilosophie ausgehenden Bestrebungen zu zählen, eine philosophische Gesamtsicht zu erarbeiten. Auch die Metaphysik sieht das Ganze, es ist ihr Gegenstand, aber hier ist etwas anderes gemeint: Immer noch lebte das Ideal der Lullischen Kunst, das u. a. von Johann Heinrich Aisted wieder aufgenommen wurde. Diese Richtung weist mit der an anderer Stelle zu behandelnden „Pansophie" verwandte Züge auf. L . W . B e c k faßt als „Reactions against Melanchthon's Philosophy": „(1) Ramism, an anti-Aristotelian Christian humanism; (2) a revival of metaphysics against the humanist neglect or renunciation of it; (3) the conversion of this metaphysical interest into a system of Protestant scholasticism; and (4) the development of social philosophy among the Calvinists." 145 Diese Einteilung erscheint mir schon deshalb fragwürdig, weil die Kapitelüberschrift „The Philosophy of Protestant Orthodoxy" lautet, und das war der Ramismus doch wohl nicht. Beck konstatiert weiter: „Calvinists like the Marburger Rudolph Goclenius . . . Bartholomäus Keckermann . . . and Heinrich Aisted . . . were Ramists or Semi-Ramists." 146 Wir wollen am Beispiel Alsteds zeigen, was hier Ramismus meint — denn Beck ist hier m. E . nicht i « Ebenda, S. 74—75. — Vgl. P. Petersen, Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, a. a. O., S. 287-288, 176, 527-530. 144 Ebenda, S. 7 7 . - V g l . W. Sparn, Wiederkehr der Metaphysik, a. a. O., S.9, S. 1 8 9 - 1 9 0 . Zum originellen Verhältnis von Logik und Metaphysik bei Timpler vgl. W. Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. 1, a. a. O., S. 4 6 6 - 4 6 7 . 145 L. W. Beck, Early German Philosophy, Kant and his Predecessors, a. a. O., S. 115. i « Ebenda, S. 117.

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exakt — und weshalb die anderen von Beck genannten Richtungen unter „Philosophy of Protestant Orthodoxy" und „Anti-Aristotelian Christian humanism" nicht gänzlich faßbar sind. Zu den meistzitierten Autoren bei Alsted gehören R. Lullus, F. Suärez, P. de Fonseca, Julius Caesar Scaliger und G. Zabarella. Alsted wurde im Jahr 1609 Lehrer am ]584 gegründeten Herborner Pädagogium, 161Q außerordentlicher, 1615 ordentlicher Professor der philosophischen Fakultät. 1629 folgte er einem Ruf nach Weißenburg in Siebenbürgen, wo er auch starb. Nach den Statuten der Herborner Universität von 1609 hatten die Philosophieprofessoren die Philosophie als eine Dienerin der Theologie darzustellen. )/i7 Alsted dagegen schrieb schon im gleichen Jahr, „unsere Sache ist es, frei zu philosophieren, um nicht zur .Sklavenherde' zu gehören — wie der Satiriker sagt — und fremder Willkür unterworfen zu sein . . ," 1 4 8 . Alsted veröffentlichte 1609 sein erstes Werk über Lullus. Damit ist schon ein antiaristotelischer Ausgangspunkt Alsteds bestimmt, denn Lullus geht aus vom Neuplatonismus, der von Proklos und Plotin beeinflußten Figurensymbolik und der Kabbala. i W Aus diesen drei Komponenten gestaltet Lullus seine „Ars Magna", auf deren Wesen hier nicht näher eingegangen werden soll. Es handelt sich um eine mechanische Vorrichtung, die durch Kombination der Grundbegriffe das System aller möglichen Erkenntnisse hervorbringen sollte. Zu den Bewunderern der „Lullischen Kunst" gehörte u. a. auch Agrippa von Nettesheim, den Alsted positiv erwähnt und ausführlich benutzt. Alsted sah in der Lullischen Kunst ein Mittel, um die orthodoxen Aristoteliker und die Ramisten zu versöhnen. Die neuplatonische Komponente bei Lullus bestimmt das weitere Denken Alsteds. Insbesondere ist es der Emanationsgedanke, der ihn anzieht und den er zu deuten sucht. Dadurch gerät er mit seiner Auffassung auch in „gefährliche Nähe zum Pantheismus und zum Arianismus" 150 . Ebenso benutzt Alsted vielfach die neuplatonische Lehre vom Archetypus. Gottes Wesen ist der Archetypus aller Dinge, die Seele des Menschen ist ein Abbild Gottes. Durch die Vernunft überragt sie die übrigen Geschöpfe und wird Gott ähnlich. i5i Alsted interpretiert auch die Bibel neuplatonisch. Gott und Mensch stehen im Verhältnis von Makro- und Mikrokosmos. 152 Von hier aus wird verständig Vgl. J. H. Steubing, Geschichte der Hohen Schule Herborn, Hadamar 1823, S. 283: „. . . philosophiam theologiae ministram subjectam, non dominam propositam esse, ostendunto." j . H. Alsted, Clavis Artis Lullianae . . . Straßburg 1609 (und 1633, 1652), A 3 r. 149 Vgl. zu Lullus: E . W. Platzeck, Raimund Lull, sein Leben — seine Werke — die Grundlagen seines Denkens, Bd. 1—2, Düsseldorf 1962—1964; V. V. Sokolov, Srednevekovaja filosofija, Moskva 1979, S. 381-383. 150 w . Michel, Der Herborner Philosoph Johann Heinrich Alsted und die Tradition. Phil. Diss. Frankfurt/M. 1969, S. 26. Vgl. J. Kvacsala, Johann Heinrich Alsted, in: Ungarische Revue, Budapest 9 (1889) S. 6 2 8 - 6 4 2 . 151 „Anima denique est principue imago Dei . . . Etenim creatura häc proprietate praedita reliquis creaturis praecellit, & ad Dei similitudinem accedit." (J. H. Alsted, Encyclopaedia Septem tomis distincta, Herborn 1630, S. 754a., S. 644b.) — Zu Inhalt und Wertung von J . H. Alsteds „Encyclopaedia" vgl. W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis a. a. O., S. 131—139. 152 Vgl. J. H. Alsted, Encyclopaedia, a. a. O., S. 7 5 4 a : Homo „. . . ä Deo creatus est

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lieh, daß Aisted die durch den bekannten Paracelsusschüler Oswald Croll stark in das Interesse gehobene Signaturenlehre in sein System aufnimmt. 153 Ausgehend vom neuplatonischen Harmoniegedanken, der bei den Vertretern der Renaissancephilosophie bis hin zu Kepler von Bedeutung ist (und zwar mit anderer Zielrichtung als bei Thomas von Aquino und Albertus Magnus, wo das Harmonieproblem ebenfalls eine hervorragende Rolle spielt), pro-' pagiert Aisted auch die Hieroglyphik. Die Geschöpfe sind für ihn Schriftzeichen, die dazu dienen können, den Schreiber, also Gott, zu erkennen. In der Physik meint Aisted, daß den Körpern ein inneres Prinzip (prineipium intrinsecum) der Bewegung innewohnt. Er folgt damit der paduanischen Naturphilosophie, die eine methodische Loslösung der Naturwissenschaft von der Metaphysik und Theologie anstrebte, indem sie versuchte, keine transzendenten Ursachen anzunehmen. Auch die Lehre von den Sphärengeistern findet sich noch bei J. H. Aisted. Ihr Wirkungskreis wird aber auf das Religiöse oder Moralische eingeschränkt. Alsteds „Diatribe de Mille annis A p o c a l y p t i c i s . . . " (Frankfurt 1627) wurde offenbar auch von Christina Poniatowska, die mit ihrem Chiliasmus auf Comenius stark wirkte, gelesen. Die von Aisted in dieser Schrift dargebotenen, ausführlich „begründeten" und mit zahlreichen Bibelstellen belegten chiliastischen Anschauungen und Zeitberechnungen fanden bei den gebildeten Chiliasten seiner Zeit und darüber hinaus große Beachtung. Nach Aisted sollte das Tausendjährige Reich 1694 anbrechen. Aisted versuchte, seine Kenntnis und Auffassung der Lullischen Kunst für alle wissenschaftlichen Disziplinen anzuwenden, besonders für die Logik, aber auch für die Metaphysik. Nach 1620 sieht er allerdings in der Lullischen Kunst nur noch eine rhetorische Topik oder Gedächtniskunst. Der über Lullus vermittelte neuplatonische Einschlag bleibt dagegen für ihn auch später bestimmend. Schon mit den Arbeiten seiner Frühperiode hat Aisted entscheidend auf die Nachwelt gewirkt: „Bei seinem großen Schüler und Freund Johann Arnos Comenius . . . sind die Einflüsse Alsteds am deutlichsten sichtbar. Vor allem der Neuplatonismus der Lullschen Kunst . . . stammt von Aisted. Das bekannteste Werk des großen Pädagogen, der Orbis sensualium pictus, könnte bis in die Einzelheiten hinein eine Illustration des Alstedschen Systems darstellen." 154 Damit soll Comenius' Eigenständigkeit keinesultimo loco, tanquam colophon omnium creaturarum; unde & recte appellatur microcosmus, hymenaeus et copula mundi superioris et inferioris . . .". — Aisted hat auch zeitweilig der sog. mosaischen Physik großes Interesse entgegengebracht. Vgl. J. Cervenka, Die Naturphilosophie des Johann Arnos Comenius, Praha 1970, S. 33-34, S. 103-128. 153 O. Crolls Hauptwerk „Basilica chymica, continens philosophicam propria laborum experientia confirmatam descriptionem et usum medicamentorum chymicorum selectissimorum e lumine gratiae et naturae desumptorum" erfuhr von 1609—1658 18 Auflagen, u. a. auch englische und französische. An dieses Werk angefügt ist der „Tractatus novus de signaturis rerum internis." Vgl. W.-E. Peuckert, Gabalia, a. a. O., S. 288-295. 154 W . Michel, Der Herborner Philosoph Johann Heinrich Aisted . . ., a. a. O., S. 43. — J. Cervenka (Die Naturphilosophie des Johann Arnos Comenius, a. a. O.) betont durchgängig den bedeutenden Einfluß Alsteds auf Comenius. Auch auf Leibniz

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falls bestritten werden. Alsted gehört letztlich in die Schulphilosophie des Protestantismus und wird daher auch hier genannt, aber er wirkt über ihren engeren Fachbetrieb hinaus und erweist sich dadurch als charakteristische Gestalt des geistigen Lebens der Zeit. Comenius hat viel von ihm übernommen, gerade das neuplatonische, zu seiner „Pansophie" hinführende Denken Alsteds. Schulphilosophie des 17. Jh. ist in Deutschland nicht nur an Aristoteles orientiert — auch dies ist ein wesentlicher Ausgangspunkt für weitere Forschungen. Das gilt auch für den Lullismus. Zu Recht konstatiert SchmidtBiggemann, ausgehend von Alsted: „Verborgen, aber deshalb wohl um so wirksamer, blieb die lullistische Kunst im Teilhabekonzept an der göttlichen Wahrheit. Diese mystische Begründung jeglichen Wissens koinzidierte mit der christlichen Anamnesis des Neuplatonismus, traf sich mit der Illumination, dem Baum der Erkenntnis und der Signatura rerum, der Theosophie des Paracelsus, Böhmes, Weigels, Kirchers, Kuhlmanns oder Poirets. Der Lullismus verstärkte die Pansophie, und die Pansophie war der Horizont des Lullismus im 17. Jahrhundert." 155 Der neuplatonische Teilhabegedanke ist für die Pansophie von enormer Bedeutung. Alsted vertrat in der Logik einen vermittelnden Standpunkt — er suchte aristotelische, ramistische und lullistische Lehren zu vereinen: „Bei Ramus ist die Logik Ersatz für die Metaphysik, oder anders ausgedrückt: bei Ramus gibt es keinen Platz für die Metaphysik. Bei Alsted jedoch nimmt die Logik nur eine dienende Stellung gegenüber der Metaphysik als Wissenschaft vom Sein ein." 156 Für Alsted ist die Logik das Mittel zur Schaffung einer universalen Methode. Die aristotelische Logik wurde Ende des 16. Jh. in zwei Schulen gelehrt, in der spanischen, geführt von P. Fonseca, und in der italienischen (paduanischen), geführt von G. Zabarella. Beide Männer sind durch den Humanismus geformt. Während bei Fonseca die Logik ganz im Dienst der Metaphysik steht, ist sie bei Zabarella auf die Naturphilosophie ausgerichtet. Dementsprechend schrieb Fonseca einen Kommentar zur „Metaphysik" des Aristoteles, klammerte aber dessen Physik fast ganz aus. Zabarella dagegen behandelte die Naturphilosophie des Aristoteles eingehend, ließ aber die „Metaphysik" fast gänzlich außer acht. Natürlich hat das weltanschauliche und wissenschaftstheoretische Konsequenzen. Für Alsted ist charakterihat Alsted gewirkt. Vgl. dazu B. Tillmann, Leibniz' Verhältnis zur Renaissance im allgemeinen und zu Nizolius im besonderen, Bonn 1912, S. 22; L. E . Loemker, Leibniz and the Herborn encyclopedists, in: Journal of the History of Ideas, Lancester — New York 22 (1961) S. 328-338. W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis, a. a. O., S. 156—157. 156 W. Michel, Der Herborner Philosoph Johann Heinrich Alsted . . ., a. a. O., S. 61. — Allerdings ist dieses Urteil mit Vorsicht zu betrachten, da Michel Aristoteles um jeden Preis gegenüber Ramus zu erhöhen sucht (vgl. z. B. ebenda, S. 54). Vgl. ausgewogen: W. Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. 1, a. a. O., S. 477. L. W. Beck stellt fest: „The Ramists opposed Melanchthon because he had been too Aristotelian. Toward the end of the Century the Lutheran complaints were exactly the reverse; he had not been Aristotelian enough, because he had neglected Aristotle's Metaphysics, and his logic was too far from Aristotle's." (L. W. Beck, Early German Philosophy, a. a. O., S. 117.) 13

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stisch, daß er in seinem umfänglichen Werke beide Richtungen berücksichtigte.*" Aisted stellt die Metaphysik an die Spitze seines Systems. 1613 erschien seine Metaphysik, eine seiner erfolgreichsten Veröffentlichungen. Sie weist ih'n aus als Schüler Keckermanns, dessen gesammelte Werke er auch edierte. Keckermann hatte ein System der Metaphysik entwickelt, das die überlieferte Lehre von den transzendentalen Bestimmungen des Seienden (omne ens est unum, verum, bonum) durch eine Betrachtungsweise ablöste, in der der Substanzbegriff im Mittelpunkt stand. Es fällt auf, daß Aisted auch in seiner Metaphysik zu vermitteln sucht. Bezeichnend ist, daß Aristoteles 102mal, Melanchthon ganze 6mal zitiert wird, daß die Jesuiten häufiger zitiert werden als alle protestantischen Autoren zusammen (147 : 145). 158 Auch Alstedt faßt unter Metaphysik etwas anderes als Aristoteles. Sie ist für ihn die Wissenschaft, die der Physik folgt: „Denn wenngleich die Metaphysik die Wissenschaft von jenen Dingen behandelt, die nach der Natur die ersten sind, so sind diese dennoch nach der Erkenntnis der natürlichen Dinge gefunden worden." 159 Damit erhält der Begriff der Metaphysik einen neuen Sinn, sie wird mit materialistischem Inhalt erfüllt. Als Synonyme für Metaphysik nennt Aisted prima philosophia, aber auch sapientia und prudentia. Das Sein war früher als das Denken: „Modus intellectionis sequitur modum essentiae." 160 Gott ist nicht das obiectum principale der Metaphysik. Aisted hat eine innere Entwicklung durchgemacht. 161 Sie begann mit den lullistischen Vorstellungen seiner Jugend, in der die „Clavis artis Lullianae", das „SystemaMnemonicum duplex", die„Trigae Canonicae" und vor allem die „PraeCognita Philosophiae" (Philosophia Digne Restituta) entstanden. Aisted wandte sichf dann, nachdem er 1618 Professor der Theologie geworden war, von der lullistischen Grundlage seiner Philosophie ab und veröffentlichte 1620 eine philosophische Enzyklopädie, die Philosophie und Theologie trennte. Das war die zweite Stufe seiner Entwicklung: Aisted wurde streng calvinistischer Theologe. Zehn Jahre später, 1630, erschien dann die bedeutendste „barocke" Enzyklopädie, Alsteds „Encyclopaedia in septem tomis distincta", ein Werk, das das Wissen aller akademischen Fächer vereinigte und zugleich neu begründete. Aisted blieb zwar Theologe, verband aber nun seine Theologie mit philosophisch-mystischen Elementen. So knüpfte die große Enzyklopädie von 1630 nur locker an seine frühe Phase an. Die Entwicklung seines Werks entsprach Alsteds innerer und akademischer Biographie: Aus einem theologiebeflissenen, lullistischen Philosophen wurde ein theologischer Professor, der die Vernunft geiingschätzte. Im Verlauf seines wissenschaftlichen Lebens, das zum Teil in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges Belege bei W. Michel, Der Herborner Philosoph Johann Heinrich Aisted . . ., a. a. O., S. 6 5 - 9 4 . »58 Ebenda, S. 120-121. 159 J. H. Aisted, Metaphysica, tribus libris tractata . . . 3. ed., Herborn 1616, S. 18: „Nam etsi Metaphysica contineat scientiam eorum, quae natura sunt prima, ea tarnen post cognitionem rerum naturalium inventa sunt." 160 Ebenda, S. 41. 161 Das folgende nach: W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis, a. a. O., S. 100—105-

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fiel, wurde der theologisch-neuplatonische Kern des philosophischen Lullismus eigentlich virulent. Alsteds enzyklopädische Spätphilosophie vereinigte die philosophische Enzyklopädie mit einer Theologie, die die Teilhabe am emanierenden Wissen Gottes voraussetzte. In den drei Phasen seiner Entwicklung war Alsted repräsentativ als Universitäts- und Universalwissenschaftler. E r war es in jeder einzelnen Phase: mit dem lullistischen Konzept der Universalwissenschaft in seiner Jugend, mit dem orthodox-calvinistischen Konzept der Universalwissenschaft in seiner mittleren Phase und mit dem neuplatonischen Konzept der Universalwissenschaft in seiner späten Philosophie. Bei Alsted sind vor allem seine enzyklopädischen Bestrebungen von bleibendem Wert. Sein erster enzyklopädischer Entwurf erschien 1610 als „Systema Mnemonicum duplex". Er baute auf die „Clavis Artis Lullianae" auf und kommentierte im ersten Teil eine Sammlung lullistischer Schriften, die der Straßburger Verleger Zetzner 1598 herausgegeben hatte. Der zweite, umfassendere Teil gibt seine philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen im Titel an: Das „Systema" erscheine „cum Encyclopaediae, Artis Lullianae et cabbalisticae perfectissima explicatione". Was er in der „Clavis artis Lullianae" begonnen hatte, steigerte Alsted in drei Traktaten zu einem Versuch, die Gesamtwissenschaft lullistisch zu begründen. Die „Panacea philosophicae" von 1610, die „Trigae canonicae" von 1612 und vor allem die „Philosophia Digne Restituta" (1612) suchten Disziplingeschichte und -lehre systematisch und methodisch zu erneuern. Der Einfluß des Lullismus auf Alsted bedingte ein neues Interesse an Enzyklopädie, das sich bei ihm so bis etwa 1618 am deutlichsten zeigte. Alsted nahm als Vertreter der reformierten Kirche von Nassau-Wetterau 1618/19 an der Synode in Dordrecht teil. 162 Über seine Haltung auf der Synode ist zwar nur wenig bekannt. Aber er war gewiß Vertreter der gemäßigten Orthodoxie, sicher kein Arminianer, obwohl seine Philosophie der Partei Grotius', Oldenbarnevelds, auch der Gerhard Johannes Vossius' nahestand. Zwar blieb Alsted auch als Theologe Enzyklopädist. Aber er konnte, zumal als verhältnismäßig orthodoxer Calvinist, nicht zugleich lullistisch kombinatorische Theorien vertreten. E s war deshalb aus theologischen Erwägungen verständlich, wenn sich seine „Encyclopaedia Libris X X V I I . complectens, universae Philosophiae methodum, serie praeceptorum, regularum et commentariorum perpetua" (1620) von den lullistischen Frühwerken nicht nur durch ihren Umfang unterschied. Die Mnemonik, die als lullistische und ramistische Wissenschaft die erste Enzyklopädie, das „Systema Mne162

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J. Haies, Historia Concilii Dordraceni, Hamburg 1724, S. 337. — Alsted sei am 17. Dezember (neuerer Zählung) 1618 zusammen mit seinem Kollegen, dem Siegener Hofprediger Biesterfeld, in Dordrecht angekommen. Biesterfeld starb schon im Januar 1619 in Dordrecht. An seine Stelle trat der Pfarrer und Inspektor zu Windekken Georg Fabricius. Das Aufnahmeprotokoll Alsteds und Biesterfelds findet sich in den „Acta Synodi Nationalis. In nomine Domini nostri Jesu Christi Authoritate illustrissimumetpraepotentumD. D. OrdinumGeneralium Foederati Belgii Provinciarum, Dordrechti Habitae Anno 1618 et 1619", Dordrecht 1620, Protokoll der 24. Sitzung, Teil I, S. 115. — Vgl. auch H. Kaajan, De groote Synode van Dordrecht in 1618— 1619, Amsterdam 1918, S. 49.

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monicum", begründet hatte, war 1620 zusammen mit anderen lullistischen Elementen eliminiert. Zwischen den Enzyklopädien von 1620 und 1630 gab es 1626 eine Zwischenstufe, ein „Compendium philosophicum", das wohl als Schulkurzfassung der Enzyklopädie von 1620 geplant war, dann aber mit einem Lexicon philosophicum, einem topisch geordneten Universalwörterbuch, versehen wurde: Die topisch-lexikalischen Elemente, die die ramistische Topik mit lullistischen Philosophemen verbanden, wurden wieder sichtbar. 1630 erschien dann in Herborn die endgültige Fassung der „Encyclopaedia in septem tomis distincta". Ihre sieben Bücher, die zwei Folianten mit insgesamt 2500 Seiten umfaßten, behandeln: I. Praecognita disciplinarum, libris quatuor. II. Philologia, libris sex. III. Philosophia theoretica, libris decem. IV. Philosophia practica, libris quatuor. V. Tres superiores facultates, libris tribus. VI. Artes mechanicae, libris tribus. VII. Farragines disciplarum, libris quinque. Das Buch wollte alle anderen überflüssig machen, eine „Bibliotheca instructissima" sein.163 Leibniz hielt es für die bedeutendste Enzyklopädie des 17. Jahrhunderts. 164 Sie war ebenso bedeutend wie unwirksam. Der Dreißigjährige Krieg blockierte die Wirkung seiner Philosophie. Aisted wirkte vor allem unterschwellig über seinen, bedeutendsten Schüler und späteren Freund J . A. Comenius. Francis Bacons „Advancement of Learning" (1605) war auf dem Kontinent noch nicht bekannt, als Aisted 1610 sein philosophisches Reformprogramm mit lullistischen Philosophemen konzipierte. Bacons „Novum Organon" erschien erst 1620, die lateinische, erweiterte Fassung des „Advancement of Learning", „De Augmentis scientiarum", erst 1623. So war diese „empiristische" philosophische Konzeption, die später in andere „barocke" Wissenschaftskonzeptionen hineinwirkte, noch folgenlos. Für Aisted blieben nur drei philosophische Hauptrichtungen mit ihren Modellen und deren Schwierigkeiten nach innen und untereinander: der Ramismus, der Aristotelismus und der Lullismus in den Traditionen des späten 16. Jh. Mögliche Einflüsse des Neustoizismus sind noch zu untersuchen. Aus der Herborner Schule kommt auch der Calvinist Johannes Althusius, den Aisted z. T. ablehnt, z. T. in seiner Ethik positiv bewertet. Beck meint bei aller Hochachtung für Althusius: „,natural law' as a control for positive law was a minor and unoriginal part of his work." 165 Althusius proklamierte aber erstmalig die „Majestät" des Volkes. Das Volk, nicht der Fürst erscheint als Souverän. Althusius' Werk von 1603 „und das des Suarez de legibus, welches . . . 1609 erschien, schließen die große naturrechtliche Bewegung iß3 Der Titel der Enzyklopädie führt aus, daß die 7 Bände gestaltet seien „Serie Praeceptorum, Regularum & Commentariorum perpetua. InsertispassimTabulis,Compendiis, Lemmatibus marginalibus, Lexicis, Controversiis, Figuris, Florilegiis, Locis communibus, & Indicibus; ita quidem, ut hoc Volumen, secunda, curä limatum & auctum, possit esse instar Bibliothecae instructissimae". 164 G. W. Leibniz, Cogitata quaedam, De ratione perficiendi et emendandi Encycloppaediam Alstedii, in: G. W. Leibniz, Opera omnia, hg. von L. Dutens, Bd. 5, Genf 1768, S. 183. Vgl. E . Bodemann, Die Leibniz-Handschriften der Königl. öffentl. Bibliothek zu Hannover, Hannover 1889. 165 L. W. Beck, Early German Philosophy, a. a. O., S. 136.

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der reformierten und jesuitischen Schriftsteller in der Lehre von der Volkssouveränität ab. Aber während Suärez wie Molina die Übertragung der Herrschaft vom Volk auf den Souverän sowohl ohne Vorbehalt als mit Vorbehalt, selbst geteilt für möglich erklärten, hat Althusius im klaren Anschluß an Bodin und im klaren Gegensatz zu ihm die ausschließliche, einheitliche und unveräußerliche Souveränität des Volkes als Prinzip alles Staatsrechtes ausgesprochen." 166 Althusius verfocht praktisch das Recht der ostfriesischen Bürger und Bauern gegen den Adel und verfolgte voller Begeisterung den Freiheitskampf der Niederlande. Theoretisch verkündete er: Alle Gewalten sind dem Volkswillen untergeordnet, ihm verantwortlich. Der pflichtvergessene Fürst kann verjagt und hingerichtet werden. Althusius' „Politica" hatte großen Einfluß auf die Ideologie der böhmischen Stände. Deren „Deductio" (1618) enthält lange Zitate aus Althusius' Arbeit. Althusius' Ideen bezeichneten eine wichtige Etappe auf dem Wege zu den revolutionierenden Rechtsideen von Hugo Grotius. Milton und John Locke fußen z. B . direkt auf Althusius. In dieser Zeit blühte in Deutschland eine selbständige Jurisprudenz auf. Und die Lehre von der Volkssouveränität erfuhr durch den Deutschen Althusius „ihren systematischen Ausbau und ihre wissenschaftlich bedeutendste Darstellung" 167 . Seine „Politik" (Herborn 1603) ist der älteste Versuch — jedenfalls was die Form angeht — einer streng systematischen und vollständigen Darstellung des allgemeinen Staatsrechts. Althusius erwies sich darin als Anhänger der französischen Monarchomachen. E r steht zwischen Machiavelli und Bodin, später Hobbes, Grotius und Pufendorf. Breiter und folgerichtiger als seine Vorgänger propagierte er nicht nur das aktive Widerstandsrecht gegen wortbrüchige Herrscher, sondern legte vor allem die Souveränitätsrechte des Volkes und das Wesen des Sozialvertrages dar. Althusius' Gegner H. Arnisaeus suchte mit einer umfänglichen Streitschrift die Unantastbarkeit des Herrscherrechts (das „Gottesgnadentum") nachzuweisen. 168 166 \v. Dilthey, Die Autonomie des Denkens, der konstruktive Rationalismus und der pantheistische Monismus n a c h ihrem Zusammenhang im 17. J a h r h u n d e r t , i n : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, a . a . O . , S. 275f. — Vgl. ferner: E . Reibstein, Johannes Althusius als F o r t s e t z e r der Schule von S a l a m a n c a . Untersuchungen zur Ideengeschichte des R e c h t s s t a a t e s und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Karlsruhe 1 9 5 5 ; P. J . Winters, Die „Politik" des J o h a n n e s Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft im 16. und beginnenden 17. J a h r h u n d e r t , F r e i b u r g / B r . 1 9 6 3 ; P . J . W i n t e r s , J o h a n n e s Althusius, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik — Politik — Naturrecht, hg. von M. Stolleis, F r a n k f u r t / M . 1977, S. 2 9 - 5 0 ; E . Wolf, J o h a n n e s Althusius, in: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. durchges. u. erg. Aufl., Tübingen 1963, S. 1 7 7 - 2 1 9 ; H . Klenner, V o m R e c h t der N a t u r zur N a t u r des Rechts, Berlin 1984, S. 18—28. Vgl. zusammenfassend: AlthusiusBibliographie, Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum S t a a t s r e c h t und zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. J a h r h u n d e r t s , hg. v. H. U. Scupin u. U. Scheuner, bearb. v. D. W y d u c k e l , Berlin (West) 1973. 167

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O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen S t a a t s theorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der R e c h t s s y s t e m a t i k , 5. Aufl., Aalen 1958, S. 3 ; zu J . Althusius und B ö h m e n vgl.: J . Polisensky, Comenius and t h e R e v o l u t i o n of the 16th and 17t& Centuries, i n : A c t a Comeniana, P r a g 5 (29) (1983) S. 63. H. Arnisaeus, De a u t o r i t a t e principum in populum Semper inviolabili . . . F r a n c o -

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Ohne Namensnennung wandte sich Hugo Grotius gegen Althusius' These. Dennoch erreichte die Arbeit von Althusius zwischen 1603 bis 1 6 5 8 acht Auflagen. Öffentlich wurde sie zu jener Zeit sonst nicht angegriffen. E r s t a b Mitte des 17. J h . wurde Althusius als der verderblichste aller Monarchomachen erklärt, so von H . Conring. Nach der Mitte des 18. J h . geriet sein W e r k gegenüber englischen und französischen Arbeiten zur Volkssouveränität in Vergessenheit. 1 6 9 Ü b e r Althusius' E l t e r n wissen wir lediglich, daß sie in Diedenshausen (unweit Berleburg) beheimatet waren. „Die Schweigsamkeit des Althusius über seine Vorfahren läßt die Vermutung aufkommen, daß er ein uneheliches Kind war. U n d die Sorge, mit der ihn sein F ü r s t gefördert hat, d a ß er ein Fürstenkind w a r . " 1 7 0 Sein Gönner, der Graf von Sayn und Wittgenstein, ermöglichte es Althusius, an der Universität Köln zu studieren. In Basel, d a mals eine Hochburg des Humanismus, hat er sein Studium fortgesetzt. Ü b e r seine Studienzeit wissen wir sonst recht wenig. 1 5 8 6 erscheint erstmalig Althusius' „De a r t e Jurisprudentiae R o m a n a e , methodice digesta libri I I " (Neuauflagen folgen u. a. 1589, 1592, 1599). Theologisch ist das W e r k geprägt v o m Calvinismus, seine Denkform ist juristisch, Logik und klare Gedankenführung sind selbstverständlich. Dabei basiert Althusius auf der ramistischen Methode, in ihr glaubt er die Grundlage für eine der Politik angemessene eigene S y s t e m a t i k zu finden. E r versuchte auch, wenngleich erfolglos, die Methode furti 1612; vgl. H. Arnisaeus, Doctrina politica, a . a . O . , lib. I, c. 7 und 11; De jure majestatis libri tres, 1610, I, c. 3 und 6 u. a. 169 Vgl. dazu: O. von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Breslau 1880, S. 9. — Zur Frage nach Rousseaus Kenntnis von Althusius vgl. zunächst: J . J . Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des Staatsrechts, Rudolstadt 1953, Buch I, c. 4 - 6 , Buch II, c. 1 - 2 , 4, 7, Buch I I I , c. 1, 3, 10—11, 16. Bei C. J . Friedrich (Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin (West) 1975, S. 119—120, S. 137) wird die Behauptung Gierkes zurückgewiesen, Rousseau habe seinen „contrat social" unter dem direkten Einfluß Althusius' verfaßt. Winters, der zu einer konservativen Einschätzung Althusius' neigt, formuliert: „Für die theoretische Figur des Gesellschafts- oder Sozialvertrages findet sich in dem politischen Lehrbuch des Althusius' kein Anknüpfungspunkt" (P. J . Winters, Johannes Althusius, a . a . O . , S. 34). E . W o l f vermittelt: „Zwar dürfte es heute gewiß sein, daß Rousseau bei der Abfassung seines Contrat social auch die Politik des Althusius benutzt hat. Trotzdem darf die tiefe Verschiedenheit ihrer grundsätzlichen Einstellung nicht übersehen werden. E s wäre unrichtig zu behaupten, daß die Lehre des Althusius vom Mandatsvertrag schon die Keime der Sozialvertragslehre von Rousseau in sich enthielt" (E. Wolf, Johannes Althusius, a. a. O., S. 213). 170 C. J . Friedrich, Johannes Althusius, a. a. O., S. 17. — Friedrichs Annahme (vgl. ebenda, S. 17—19), Althusius sei nicht 1557, sondern 1562 geboren, hat in der Forschung wenig Befürworter. M. Rudolph (Althusius/Althaus — Fragmente zur Geschichte einer wittgensteinischen Familie und ihrer Verzweigungen, in: Archiv für Sippenforschung und aller verwandten Gebiete, Limburg/Lahn 45 (1979) 73, S. 47—62) weist nach, daß es einen Johannes Althusius d. J . gab, der etwa 20 Jahre jünger als sein gleichnamiger Bruder war. Daher ergaben sich Verwechslungen. Nach Rudolph läßt sich vermuten, „daß die beiden Johannes-Brüder Söhne aus zwei verschiedenen Ehen ihres bisher immer noch unbekannten Vaters gewesen sind" (ebenda, S. 49). Vgl. G. Menk, Der doppelte Johannes Althusius — eine ramistische Dichotomie? Ein biographischer Beitrag, in: Nassauische Annalen, Wiesbaden 87 (1976) S. 135—142.

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des Ramus in die Rechtswissenschaft einzuführen („Jurisprudentiae Romanae libri duo ad leges Methodi Ramae conformati et tabellis illustrati", Basilea 1586). Nach Abschluß seines Studiums und der juristischen Promotion in Basel (1586) wurde Althusius als Lizentiat an die neugegründete juristische Fakultät der Nassauischen Hochschule in Herborn berufen. Hier wirkte er bis 1592; von 1592 bis 1594 war er am Gymnasium in Steinfurt tätig. 1594 kehrte er nach Herborn zurück, jetzt als ordentlicher Professor der Rechte. In den Jahren 1599 und 1602 war Althusius Rektor der Universität. Emdener Studenten wurden in Herborn auf Althusius aufmerksam. Ostfrieslands Stände und die Stadt Emden selbst befanden sich im Streit mit dem herrschenden Grafen. Die Emdener wollten ihre Bürgerfreiheit gegenüber dem Landesherrn erhalten. Am 24. 4. 1604 wurde Althusius vom Rat und dem Vierziger Ausschuß der Stadt Emden einstimmig zum Syndikus gewählt. Dieses Amt bekleidet er bis zu seinem Tode. Althusius wird Herz und Seele des Widerstandes der Stadt Emden gegen die herrscherlichen Ansprüche.171 Emden war neben Genf ein Zentrum des Protestantismus calvinistischer Prägung, bis zum Sieg der Niederländischen Revolution eine Basis für die Aufständischen, zudem im letzten Drittel des 16. Jh. die bedeutendste Reedereistadt in Europa. Welches sind zunächst Althusius' Quellen? „In der Politica sind mehrere tausend Bibelstellen angeführt, auf Bodinus wird fast 200mal Bezug genommen und auf Gregorius Tolosanus nahezu 500mal." 1 7 2 Häufig bezieht sich Althusius auf die Justinianischen Gesetzbücher, auf Aristoteles, Cicero und die Monarchomachen. Dabei sucht Friedrich gegen Gierke und seine Schule zu erweisen : „Nicht so sehr die Demokratie . . . ist Kernpunkt seiner politischen Theorie, sondern Rechtsstaat und Verfassungsstaat sind für Althusius zentral, und nicht der .Föderalismus'; denn seine Auffassung von der bündischen Grundlage von Staat und Recht ist von den Vorstellungen des modernen Föderalismus sehr verschieden und hat für die verschiedensten Staatsformen grundlegende Bedeutung." 17:5 Nach Friedrich war Althusius' spezielles Ziel eine politische Theorie, „die auf das Wort der Heiligen Schrift, nicht nur auf das Neue, sondern auf das Alte Testament, gegründet sein sollte, zu entwickeln. Nur wenige haben mit solcher leidenschaftlichen, systematischen Strenge darauf bestanden, ihren gesamten Gedankengang in ständiger Bezugnahme auf Ideen, die der Bibel entnommen werden konnten, zu grünZu Althusius in Emden vgl. H. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, Aurich 1965. C. J . Friedrich folgt seiner Detailuntersuchung. — Vgl. generell: G. Schilfert, Zur Geschichte der Auswirkungen der Niederländischen Revolution auf deutsche Territorien, a. a. O. 172 C. J . Friedrich, Johannes Althusius a. a. O., S. 41 ; vgl. das Verzeichnis der von Althusius benutzten Autoren, ebenda, S. 142—161. — Vgl. P. J . Winters, Die „Politik" des Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, a. a. O. Zu P. G. Tolosanus vgl. ausführlicher: F . Goedeking, Die „Politik" des Lambert Danaeus, Johannes Althusius und Bartholomäus Keckermann, a. a. O. 173 C. J . Friedrich, Johannes Althusius a. a. O., S. 161. — Gegen eine Überbetonung der Föderaltheologie bei Althusius (vgl. Winters) und überhaupt der calvinistisch-theologischen Quellen des Althusischen Denkens : F . Goedeking, Die „Politik" des Lambert Danaeus, Johannes Althusius und Bartholomäus Keckermann, a . a . O . , S. 238—240, S. 2 7 5 - 2 8 1 u. ö. 171

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den." 174 Althusius sagt selbst im Prooemium zur „Dicaeologia", er habe soviel Beispiele aus der Bibel gebracht, weil er glaube, daß kein Staat (politica) weiser und vollständiger organisiert gewesen wäre als der jüdische. Hier spricht auch der Calvinist Althusius. Auch er hat die großen Philosophen und Historiker der Antike, besonders Cicero, Piaton und Plutarch, häufig zitiert. Seine Politiktheorie ist „der des Aristoteles grundsätzlich mehr verwandt als der irgendeines anderen Schriftstellers und Philosophen, und auch der Naturphilosophie des Aristoteles steht er nahe" 175 . Damit ist der Zusammenhang zum Aristotelismus des 17. Jh. wieder hergestellt. Für Althusius sind — wie aus seiner „Politik" hervorgeht — Theologie und Philosophie für die Politik grundlegende Wissenschaften. Sie haben das natürliche Sittengesetz, die geoffenbarten Gebote Gottes festzustellen. Die Anwendung der Moral und vor allem des Dekalogs auf das soziale Leben ist Aufgabe der Politik. In diesem Sinne legt sie auch den Grund für die Jurisprudenz. Ziel der Politik ist „die Erörterung der zweckmäßigen Einrichtung und Erhaltung des sozialen Körpers und Lebens" 176 . Die Lehre von den „jura et capita majestatis" bildet recht eigentlich das Hauptthema. Die Majestätsrechte gehören nicht dem Herrscher, sondern voll und ganz dem Volke zu. Sie sind dem sozialen Körper (corpus symbioticum) notwendig und ausschließlich eigen, sind sein Geist, seine Seele, sein Lebensodem. Nur wenn er sie besitzt, lebt er, durch ihren Verlust geht er unter oder verdient zumindest den Namen der „Respublica" nicht mehr. Ihr Verwalter ist ein höchster Magistrat, aber Eigentum und Nutzungsrecht an ihnen sind untrennbar beim Volk in seiner Gesamtheit. Sie sind dem „populus universus", der „consociatio universalis", dem „regnum ipsum" dergestalt eigen, daß — auch wenn das Volk auf sie verzichten und sie einem anderen veräußern bzw. übertragen wollte — es dies nicht mehr kann, so wenig, wie jemand sein Leben anderen zu übertragen vermag.177 Das Volk ist die alleinige Quelle der Majestät und ihr allein denkbares und beständiges Subjekt. Ein Herrscher hört, indem er sich diese Majestät anmaßt, eo ipso auf, Herrscher zu sein. Denn das Wesen dieser Rechte schließt jedes Eigentum eines Einzelnen an ihnen aus. In der zweiten Auflage der „Politik" (Vorrede) treten die Ausführungen Ebenda, S. 44. — W i e weit Althusius von der damaligen biblisch-christlichen Gottesvorstellung entfernt ist, belegt jener Ausspruch, der zugleich das eindeutigste Zit a t über Althusius' Gottesbild darstellt: „Nam quod Deus est in mundo, quod in navi gubernator, quod in curru agitator et director, quod in choro praecentor, quod dux in exercitu, hoc est lex in civitate, sine qua nec domus ulla, nec civitas, nec Resp. nec mundus stare potest." (J. Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris & profanis illustrata, 3. ed. Herborn 1614, p. 193, Cap. X , 8.) »w Ebenda, S. 52. 1 7 6 „ut consociatio, humanave societas et vita socialis bono nostro instituatur et conservetur mediis ad hoc ipsum aptis, utilibus et necessariis." (J. Althusius, Politica methodice digesta atque exemplis sacris & profanis illustrata . . ., zit. nach: O. von Gierke, Johannes Althusius . . ., a. a. O., S. 19.) 1 7 7 „proprietatem vero illorum et usumfructum adeo jure ad regnum seu populum pertinere contendo, ut hisce, etiamsi velit, se abdicare eosque in alium transferre et alienare nequaquam possit, non minus quam vitam quam quisque habet alii communicare potest." (J. Althusius, Politica methodice digesta, Vorrede zur 1. Aufl., zit. nach: O. von Gierke, Johannes Althusius, ebenda.)

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über die Volkssouveränität sogar schärfer hervor und werden mit der Widmung der umgearbeiteten Schrift „Ad illustres Frisiae inter Flevum & Lavicam Ordines" (zwischen Vlie-Strom und Lauwer-Zee) in Verbindung gebracht. Durch seine Stellung im eng mit den Niederlanden verbundenen Emden wird Althusius in seiner Haltung bestärkt. Das wird noch näher zu zeigen sein. Althusius schreibt seine „Politica" gegen J . Bodin und damit auch gegen dessen Anhänger in Deutschland, H. Arnisaeus und H. Conring. Bodin sucht axiomatisch zu erklären, daß die Souveränität nicht dem Staat oder in ihm organisierten Gruppen bzw. nachgeordneten Institutionen gehöre. Für J . Althusius ist die verfassungsgebende die eigentlich souveräne Gewalt. Nach Friedrich bezeichnen für die Folgezeit aber Bodin und Althusius zwei Seiten einer Medaille.178 Für Bodin wie für Althusius war der Staat die Regierung, eine Vereinigung von Familien, die eines einzigen Souveräns bedarf, wenn gut regiert werden soll. Beide verstehen sich also — in der Politik — als Aristoteliker. „Politica" ist für Althusius eine beschreibende Wissenschaft von uns vorgegebenen Tatsachen. Sie verhält sich zur Jurisprudenz ähnlich wie die Naturwissenschaft zur Medizin. Aufgabe der Jurisprudenz ist es vornehmlich, Rechtssätze, Rechtsnormen auf die von der Wissenschaft der Politik ermittelten Tatsachen anzuwenden. Daher erhält der Jurist u. a. aus der Politik Belehrung. „Für das Leben und die Bedürfnisse der Gemeinschaft ist die zuständige Wissenschaft die Politik. Sie lehrt und erforscht, wie Gemeinschaften und Staaten organisiert (constituta) werden und wie sie aufrechterhalten bzw. zerstört werden." 179 Althusius unterscheidet sechs große Gebiete menschlichen Wissens: die Theologie als scientia scientiarum, daneben Jurisprudenz, Ethik, Politik, Physik (im Sinne von Naturwissenschaft) und Logik (man vgl. u. a. seine Rektoratsrede „De utilitate, necessitate et antiquitate scholarum"). Jeder dieser Hauptwissenschaften — Medizin ist angewandte Naturwissenschaft — ist eine Haupteigenschaft der Menschen zugeordnet: der Theologie die pietas, der Jurisprudenz die justitia, der Logik die sapientia usw. Aber es gibt auch Eigenschaften, die allen Wissenschaften angehören, so die Mäßigung (temperantia); ein bestimmter Aspekt derselben wird je von einer Wissenschaft behandelt. Die Wissenschaften haben ihre Wurzel in diesen menschlichen Eigenschaften, und jede bemüht sich um die Klärung der ihr eigentümlichen virtus. Für die Politik äußert sich das z. B. in der Bereitschaft, sich mit anderen gütlich zu einigen, mit ihnen in einer ausdrücklichen oder impliziten Gemeinschaft (consociatio) zusammenzuarbeiten. Das erste Kapitel von Althusius' „Politica" handelt vom Wesen der „consociatio". Zur Vereinigung treibe das Bedürfnis. Durch Vertrag werden die Teilnehmer der Vereinigung zu Lebensgenossen (Symbiotici), die einander zur Ver178 179

C. J. Friedrich, Johannes Althusius . . ., a. a. O., S. 67. Ebenda, S. 71. — „Proposita igitur Politicae est consociatio, qua pacto expresso, vel tacito, symbiotici inter se invicem ad communicationem mutuam eorum, quae ad vitae socialis usum & consortium sunt utilia & necessaria, se obligant." (J. Althusius, Politica methodice digesta . . ., 3. ed., a. a. O., p. 2 [Cap. I, 2].)

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gemeinschaftung (communicatio) des für das soziale Leben Nützlichen und Notwendigen verpflichtet sind. Die Gemeinschaft erstreckt sich auf Sachen, Dienste und Rechte. Sie wird durch gesellschaftliche Normen (leges consociationis) doppelter Art geregelt: Gemeinschaftsgesetze (leges communicationis) und Verwaltungsgesetze (leges directionis et gubernationis). Für jeden Verband gilt seine lex propria, für alle Verbände aber die lex communis der Unterscheidung von Herrschenden und Gehorchenden. Herrschaft ist Dienst und Sorge für das Wohl der Gesamtheit, Gehorsam Entgelt für gewährten Schutz. In den folgenden Kapiteln behandelt Althusius die „species consociationis": Familie, Korporation, Gemeinde, Provinz, Staat. Die weiteren und höheren Verbände hätten sich aus den engeren und niederen entwickelt. Die oberste Einteilung der Verbände ist die Unterscheidung der consociatio simplex et privata, die einzelne Menschen zugunsten eines besonderen Gemeininteresses (peculiare commune) verknüpft, und der consociatio mixta et publica, die die einfachen Verbände zu allseitiger politischer Gemeinschaft (politeuma) zusammenfaßt. Die consociatio privata wird durchgängig als korporativer Verband mit einer vom gemeinsamen Willen beherrschten und nach einer festen Ordnung verwalteten Rechtssphäre und mit einheitlicher Gesamtpersönlichkeit betrachtet. 180 Althusius unterteilt sie in die natürliche und notwendige Verbindung der Familie und die Verbindung der Korporation. Die Korporation (consociatio collegarum) ist eine frei geschlossene (und frei lösliche) Verbindung zu einem einheitlichen Verband, in dem die Gesamtheit Trägerin des gemeinsamen Rechts bleibt, jedoch einen Vorsteher wählt und mit der Leitung beauftragt. Diese je nach Vertrag losere oder straffere Vergemeinschaftung ergreift Sachen, Dienste, Rechte und Gesinnung. 181 Die „consociationes collegarum" betreffen die Korporationen in der Art von Zünften, Innungen, Kirchengemeinden; auch Kollegialgerichte und -behörden nannte Althusius „collegia specialia". Sie vereinigen sich zu den größeren sozialen Gruppen, aus denen die Ordnung der Stände: Klerus, Adel, Volk als oberster Kreis umfassender Consociatio, hervorgeht. Die auf Piatons „Politeia" zurückgehende Trias von Priestern; Rittern, Bürgern und Bauern hatte Luther und, ihm folgend, Calvin als Lehr-, Wehr- und Nährstand aufgefaßt und mit den Namen ordo ecclesiasticus, ordo politicus, ordo oeconomicus in die Soziallehre der Reformation eingeführt. Nach diesen „collegia generalia" (vgl. Politica, IV) behandelt Althusius die „consociationes publicae": die Gemeinden und Provinzen, um endlich zur „universalis publica consociatio", auch kurz „res publica" genannt, zu gelangen. Eine wesentliche Rolle spielt in Althusius' „Politik" der Begriff des Zusammenlebens (symbiosis). Aus dem Zusammenleben einer Gemeinschaft (consociatio symbiotica) leitet sich die Macht in ihren verschiedenen Formen (potentia, potestas, auctoritas) her. 182 Für Althusius ist Gott in der Welt, 180 Vgl. j . Althusius, Politica methodice digesta, a. a. O., p. 13-14 (Cap. 2, § 2-3). j8t Ebenda, p. 47, cap. 4, 8ff.: „Communicatio ejusmodi est vel rerum, vel operarum, vel juris cujusdam, vel benevolentiae mutuae." 182 Vgl 83 Ebenda, S . 98. 184 J. Althusius, Politica methodice digesta, a. a. O., p. 57—59 (cap. 5—6). »85 Ebenda, p. 88-101, cap. 6, § 15-47. 186 Ebenda, p. 104-105, cap. 7, § 1 - 2 . 187 Ebenda, p. 146—149, cap. 8, § 40—48: „unde status seculares tres prodeunt, nobilitatis, civitatum & agrariorum. Germanice der Ritterstand / der Stättestand / ün der Hausmans oder Baurenstand vocant." 188 Ebenda, p. 149-158, cap. 8, § 50, 5 6 - 7 1 . 189 Ebenda, p. 167, cap. 9, § 1. - Vgl. P. J. Winters, Johannes Althusius, a. a. O., S. 39. 19° Ebenda, p. 169-170, cap. 9, § 7; p. 176-180, cap. 9, § 1 9 - 2 7 .

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Herrscher zu, sondern das Volk in seiner Gesamtheit erzeugt und bewahrt das Recht. Im einzelnen ist nach Althusius der Staat kirchliche und weltliche Gemeinschaft zugleich. In letzterer Eigenschaft stellt er allgemeine Normen auf und bringt sie zum Vollzug. Nach Althusius hat die Volksgesamtheit die Befugnis, die Verwalter (ephores) ihrer Gesamtrechte anzustellen und zu bevollmächtigen, ihnen durch die Wähler Bedingungen zu stellen, sie in Eid und Pflicht zu nehmen. 191 Von Natur aus sind alle Menschen frei und gleich. Die Herrscher können daher nur durch Konsens der Gemeinschaft erwählt werden. Alle Regenten vermögen, obwohl sie in ihrem Amte das ganze Volk repräsentieren, weniger als das Volk. 192 Bei Überschreitung der ihnen gesetzten Schranken, die sie an das Wohl des Reiches und des Volksganzen binden, hören sie auf, „ministri Dei et universalis consociationis" zu sein. Absolute Gewalt kann stets nur Machtfülle innerhalb der Rechtsschranken sein. Der an der Spitze des Staates stehende „summus magistratus" und das Volk bilden einen beiderseitig beschworenen und bindenden Kontrakt zwischen einer „consociatio mandans" und ihrem „mandatarius". 193 (Gewählte) Obrigkeit und Volk schließen einen Vertrag. E r bindet, solange er nicht von einer Seite gebrochen wird. Dann ist das Volk frei und kann sich einen neuen Herrscher suchen — und umgekehrt. 194 Der sog. Herrschaftsvertrag, den Althusius im Zusammenhang mit seiner Ephorenlehre von den Monarchomachen übernommen hat, besteht aus zwei Teilen. Zunächst verpflichtet sich der neue Herrscher, das Land gerecht und „fromm" zu regieren. Auf seinen Eid hin folgt die Huldigung des Volkes, das dem Herrscher Treue und Gehorsam gelobt, sofern er nicht gegen seine Pflichten verstößt. Das 20. Kapitel entfaltet unter der Überschrift „De promissione obsequiorum et homagio" die Unterordnung der Bürger unter die Herrschaftsausübung des summus magistratus. Dabei tritt die Vorbehaltsklausel, daß der Bürger nur dem gut und gerecht regierenden Herrscher Gehorsam schuldet, in den Hintergrund. Der Eindruck, daß Althusius den Herrschafts- zu einem Unterwerfungsvertrag uminterpretiert, wird durch den Sachverhalt verstärkt, daß dieses 20. Kapitel die Ausführungen über die administratio reipublicae einleitet, die neben dem Herrscher keine eigenständige oder mitbestimmende Funktion der Bürger, Ephoren und Körperschaften duldet. Von da an. bilden nicht mehr die Bürger und die Ephoren den notwendigen Gegenpol zum „summus magistratus", sondern ausschließlich die „subditi", die nun als die „regis servi" bezeichnet werden. Sie sollen nur das Wohl des Herrschers im Auge haben, und ihre ganze Sorge soll darin bestehen, „ne magistratus autoritas contemnatur, non vi, neque dolo, neque seditione, neque clam, neque palam convellatur"( Pol. 20, 16). Die einseitige Bindung der Untertanen an den Herrscher bringt Althusius auf folgende Weise mit dem Vertragsgedanken zusammen: Das Volk hat einmal die souveräne Macht gehabt, sich eine Obrigkeit zu wählen und sie auf die Grundgesetze des Staates zu verpflichten. Danach hat es keine Möglichkeit wi Ebenda, «2 Ebenda, iss Ebenda, Ebenda,

p. p. p. p.

276-277, 285, cap. 326-329, 332-335,

cap. 18, § 1 - 2 . 18, § 2 6 - 2 7 . cap. 19, § 1 - 7 . cap. 19, § 1 9 - 2 1 .

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mehr, die Erbfolge zu ändern: „Est enim contractus primö voluntatis, postea necessitatis" (Pol. 19, 85). Althusius kommt mit dieser Interpretation des Vertragsgedankens den Auffassungen der absolutistischen Staatstheorie nahe. So versteht Hobbes das pactum nur noch als einen Unterwerfungsvertrag der Untertanen, der dem Herrscher erlaubt, ohne die Zustimmung der subditi seine Entscheidungen zu treffen. Im 38. Kapitel seiner „Politica" behandelt Althusius ausführlich den Mißbrauch der Staatsgewalt und die Tyrannis. Der eigentliche Tyrann ist der legitime Herrscher, der das Recht bricht oder seine Pflicht versäumt. Zu solchen Versäumnissen gehören: Veräußerung von Reichtümern, Götzendienst, Stiftung von Zwietracht, Aufhebung der bestehenden Verfassung von Kirche und Schule, jede direkte Schädigung des Staatsganzen durch Gewaltmißbrauch, Untätigkeit usw. 195 Tritt dies ein, so steht dem Volk gegen den Monarchen das „jus resistentiae et exauctoritationis" zu. Althusius begründet es in zwölf Punkten. 196 Für das Volk besteht das passive Widerstandsrecht; die Ephoren haben aber in ihrer Gesamtheit das Recht, dem Tyrannen das Reich abzusprechen, ihn mit Gewalt zu vertreiben oder zum Tode zu verurteilen und hinzurichten.197 Immerhin wird das Jahrzehnte vor der englischen Revolution verkündet! Offenbar schwebte Althusius als Vorbild die Absetzung Philipps II. durch die sieben nördlichen Provinzen der Niederlande im Jahre 1581 vor. Althusius' „Politica" weicht ihrem Charakter nach von den katholischen „Monarchomachen" ab, reiht sich aber in die monarchomachischen Schriften der Hugenotten, Puritaner und deutschen Reformierten ein. So zitiert Althusius oft die „Vindiciae contra tyrannos" (Edinburgh 1549) von Junius Brutus (unter welchem Pseudonym sich Philippe Duplessis-Mornay und dessen Freund Hubert Languet verbergen) und berührt sich mit George Buchanans „De Iure Regni apud Scotos Dialogus" (Edinburgh 1579). Die Calvinisten suchten in der Bibel die für das soziale Leben maßgebenden religiösen und ethischen Wahrheiten und zugleich Normen für die äußere Ordnung von Staat Ebenda, p. 883-893, 938-940, cap. 38, § 1 - 2 6 , 131-134. «96 Ebenda, p. 894-900, cap. 38, § 2 8 - 4 3 . «7 Ebenda, p. 9 0 6 - 9 1 0 , cap. 38, § 5 3 - 6 4 . - Zu den Ephoren vgl. Politica cap. 18, § 48—122. Nach Althusius haben die Behörden im Auftrag und Namen des ganzen Volkes dessen Rechte dem obersten Herrscher gegenüber zu verwalten. F. Goedeking (Die ,Politik' des Lambert Danaeus, Johannes Althusius und Bartholomäus Keckermann, a. a. O.) meint, die Kap. 1—20 hätten „im wesentlichen der fast hundertjährigen Althusius-Forschung die entscheidenden Anstöße gegeben, Althusius als Vorkämpfer des Rechtsstaates, als Mitbegründer der Menschenrechte und als überzeugten calvinistischen Autor einer biblisch-theologisch begründeten Politik zu feiern" (S. 347). Demgegenüber stellt er die Kapitel 2 1 - 3 9 der „Politica" in den Mittelpunkt seiner Untersuchung und schließt daraus: „dass diese Interpretation in schroffem Widerspruch mit der autokratischen Regierungspraxis des summus magistratus steht, wie sie Althusius im zweiten Teil seiner Politica . . . beschreibt. Diese Aussagen sind in der bisherigen Althusius-Forschung kaum berücksichtigt worden. In diesen Kapiteln ist der summus magistratus allein zuständig für alle politischen Entscheidungen. Der Gedanke einer Selbst- und Mitverwaltung von mittleren Institutionen ist aufgegeben" (ebenda).

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und Kirche. Charakteristisch ist in ihren Schriften der starke Bezug auf das Alte Testament. Das gilt auch für Althusius. Daraus ergibt sich auch bei ihm die radikale Verwerfung des kanonischen Rechts. Weder in seinen politischen noch in seinen juristischen Werken findet sich eine Stelle aus dem Corpus juris canonici oder aus irgendeinem Kanonisten unter den vielen zitierten Autoren. Im Unterschied zu anderen reformierten Theoretikern leitet Althusius „sein ganzes System aus einem rein weltlichen Gesellschaftsbegriff auf rationellem Wege ab: Die Bibelworte dienen ihm nur als Belege und die heiligen wie die profanen Geschichtsvorgänge als historische Illustrationen für die zunächst durch Vernunftschlüsse gefundenen Resultate"198. Althusius' „Politica" ist nach Inhalt und Zweck rein weltlich. Damit hebt er sich von den mittelalterlichen theokratischen, von den Reformatoren neu belebten Staatsideen ab. Er steht in einer Front mit den Jesuiten, die ebenfalls Volkssouveränität und Gesellschaftsvertrag verkündeten, nur aus völlig anderer Absicht. Althusius' „Politica" bezeichnet in der Abwehr der theokratischen Idee einen Höhepunkt. „Denn aus ihr lassen sich alle Erwägungen der göttlichen Verursachung hinfortdenken, ohne dass sich in der Fundamentierung des Staates das Mindeste ändern würde. J a in bezeichnender Weise bildet der Hinweis auf Gott nirgend auch nur formell den Ausgangspunkt der Begründung . . . Freier Vertrag erzeugt den Staat und freies Belieben entscheidet über die Staatsform; allein zur Vereinigung wie zur Einsetzung von Regenten treibt die Natur und in ihr Gott." 199 Das Volk wählt und bevollmächtigt den Herrscher. Zugleich gibt ihm Gott allein durch das Medium des Volkes Recht und Auftrag. Für die Lehre vom Staatsvertrag ist Althusius' „Politica" von großer Bedeutung. Er unterscheidet als die den Staat konstituierenden Elemente den Herrschafts- und den Gesellschaftsvertrag. Diese Unterscheidung wurde konsequent erstmalig von Hobbes angefochten. Aber erst Rousseau strich den Herrschaftsvertrag aus der Vertragslehre. Das legte den Grund für die These von der Zerstörung jedes Herrscherrechts. Wenn auch die Theorie des Gesellschaftsvertrages bis in die Antike zu verfolgen ist, stellt doch Gierke fest, „dass Althusius als der Schöpfer einer eigenen Theorie des contrat social betrachtet werden muss. Denn er erhebt plötzlich den Gedanken, dass alles menschliche Gemeinleben auf einem Vertrag des Verbundenen beruht, zum konstruktiven Prinzip seines politischen und socialen Systems . . ."20° Althusius war „Vorläufer", aber noch im 17. Jh. errangen die von ihm verfochtenen Ideen einen fast vollständigen Sieg. Allerdings nicht Hobbes, der sich gegen einen Gesellschaftsvertrag wandte, sondern Pufendorf und Locke, später dann Rousseau, stehen für die Durchsetzung der Gesellschaftsvertragstheorie. Schon im Mittelalter war die Idee der Volkssouveränität entstanden. HerO. von Gierke, Johannes Althusius . . ., a. a. O., S. 58—59. Ebenda, S. 69. — Vgl. R. Lieberwirth, Die historische Entwicklung der Theorie vom vertraglichen Ursprung des Staates und der Staatsgewalt, Berlin 1977, S. 32-33 (Sitzungsber. d. Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Phil.-hist. Kl., Bd. 118/2). 20« Ebenda, S. 99f. - Vgl. Grundriß der deutschen Geschichte, a. a. O., S. 166; Deutsche Geschichte, Bd. 3, a. a. O., S. 251-252. 198

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ausragend ist hier der „Defensor pacis" des Marsilius von Padua, aber auch Nicolaus Cusanus. Althusius sieht im „Defertsor pacis" des Marsilius sein Vorbild (Politica, Kap. X I I I ) . Marsilius von Padua und auch W. von Ockham übertrugen die politische Volkssouveränität allerdings auf die Kirche. Dieser Entwicklung kann hier nicht nachgegangen werden. „Erst Althusius . . . führte den Gedanken eines beiderseitigen verbindlichen Anstellungsvertrages, durch welchen das Volk als Geschäftsherr die Verwaltung der von ihm nicht unmittelbar auszuübenden Majestätsrechte einem obersten Geschäftsführer mit einem innerhalb der gegebenen Vollmacht selbständigen Recht auf Geschäftsführung übertrage, bis ins Einzelne in rein privatrechtlicher Formulierung durch. Vor Allem aber sprach er zuerst ausdrücklich aus, dass in der That neben der Majestät des Volkes für eine monarchische Majestät kein Raum sei und dass es daher in Wahrheit keinen Unterschied der Staatsformen, sondern nur einen Unterschied der Regierungsformen je nach der monarchischen oder polyarchischen Organisation des ,summus magistratus' gebe." 201 Dabei ist stets zu beachten: Althusius vertritt das Ständerecht, und das kommt in direktester und geradester Linie aus dem Feudalrecht, ja mehr noch: Es ist Feudalrecht. Nicht mehr feudal hingegen oder nur noch in Restbeständen feudal war das absolutistische Gottesgnadentum. Beim Ständerecht fragt es sich immer nur, wieweit die Stände in sozialökonomischer Hinsicht entwickelt sind. Was jedoch die rein rechtliche Seite betrifft, so fußte es auf feudalen Prinzipien. Für Althusius bedarf es auch hier hinsichtlich seiner Einschätzung und Wirkung noch marxistischer Forschungen. Die Natur ist nach Althusius vernünftig, und es ist Aufgabe des menschlichen Geistes, ihre Rationalität aufzudecken, die Gesetze zu finden, von denen die Natur beherrscht ist. Natur und Vernunft ergänzen sich. In Althusius' Lehre von der Staatsraison deckt sich vieles mit Machiavelli. Man soll sich nicht mit Schwachen verbünden, sondern mit gleich Starken. Mit Unfrommen (impiis) sollen auch in Kriegszeiten keine Bündnisse geschlossen werden. Verletzungen des Sittengesetzes durch die Regierung in Kriegszeiten sind zu billigen. Im Krieg ist auch Verrat, Täuschung und List gegenüber dem Feind erlaubt.202 Dabei erfolgt u. a. eine Berufung auf J . Lipsius. Wissen hat Wert, weil es die Zusammenarbeit der Menschen befördert, dies ist z. B. stoisches Erbgut (vgl. u. a. Cicero, De officiis, I, 19). Immer wieder ist die Betonung der vita activa durch Althusius hervorzuheben. Bei Friedrich wird Althusius zu einem Stammvater des modernen kapitalistischen Staates, vornehmlich in seiner englischen und nordamerikanischen Ausprägung, hochstilisiert. Ebenso erscheint Althusius gewissermaßen als Vorläufer Max Webers, als Vertreter der von Weber untersuchten Rationalisierung der Gesellschaft „aus dem Geist des Protestantismus". Die ahistorische Modernisierung Althusius' geht soweit, daß er als „in seinem Denken pragmatisch, utilitaristisch und technisch orientiert" dargestellt wird.203 Althusius neigt dazu, religiöse Aspekte staatlichen Erfordernissen unter201 Ebenda, S. 145. 202 Ygi j , Althusius, Politica methodice digesta, a. a. O., p. 801, cap. 35, § 51. 2 0 3 C. J . Friedrich, Johannes Althusius . . ., a. a. O., S. 104; vgl. ebenda, S. 121, ähnlich S. 126.

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zuordnen. Religiöse Toleranz wird gebilligt, Religion ist Sache des Gewissens des Einzelnen. Althusius hält durchaus mehrere Konfessionen in einem Land für möglich. Auch gegen Hexen Verfolgungen trat er auf. Atheisten und Juden sind bei ihm jedoch von der Toleranz ausgeschlossen. Auch Locke hatte Atheisten, ja sogar Katholiken, von der von ihm geforderten Toleranz ausgenommen. Viele Gedanken Althusius' wurden später fortgeführt, ohne daß sein Name fiel, so etwa bei J. Locke und bei J. Harrington. Der Gedanke der Ständeteilung bei Montesquieu ist Vorstellungen des Althusius durchaus verwandt. Gleich Montesquieu betont Althusius den Einfluß von Boden und Klima auf die Entwicklung sozialer Gebilde (vgl. Politica, cap. XVIII). Rousseau ist nach Friedrich eine Parallelerscheinung zu Althusius. Das gelte vor allem für die Lehre von der Volkssouveränität.204 Althusius' „Politica" „fand dort besonderen Widerhall, wo die Stände eine zentrale Rolle spielten, im deutschen Reich bei den Ständen, zu denen ja viele Fürsten gehörten, die einen Stand des alten Reiches bildeten, in den Städten und dann in den Niederlanden, in Polen, Ungarn und Schottland." (Vgl. oben S. 197.) Der vom Calvinismus geprägte J. Althusius will keine theokratische Ordnung, auch keine Staatskirche, aber auch keine Trennung von Staat und Kirche, wie etwa die Arminianer. Die Kirche soll in religiösen Fragen autonom, in allen weltlichen Dingen dem Staat und seinem Souverän unterworfen sein. Wie schon Gierke zeigte, gehörte Althusius' Staatslehre zu den akademischen Bemühungen um eine Anpassung der radikalen Souveränitätslehre an die politische Wirklichkeit in Mitteleuropa. Man beachte stets: Althusius geht vom Ständestaat aus, den später Pufendorf als eine Monstrosität bezeichnete, nicht vom nationalen Einheitsstaat! Dabei war die Rechtfertigung eines Widerstandes gegen den Landesherrn ein zentraler Gedanke in seiner „Politica". „Er wußte um das Emporkommen des zentralistischen Nationalstaates; aber er war sein Freund nicht. Die alte Reichsordnung jedoch, mit ihrer Verbindung von Kaiser und Kirche, um die die Gegenreformation rang, konnte ihm auch nicht die Lösung sein. So stand er zwischen den Welten, und das Neue, das in seinem Denken zum Ausdruck kam, ist die Folge dieser Stellung zwischen den Welten."205 Auch dies ist einseitig. Althusius benahm sich keineswegs wie Buridans Esel. Viele seiner Handlungen und Theorien sind 204 Ebenda, S. 126. — Dagegen: „Rousseau stand keinesfalls. . . a l s extremer Verfechter des ,zentralistisch-atomistischen' Gedankens der Idee einer Konföderation fremd gegenüber. Neuere Forschungen haben bewiesen, daß der Verfasser des Gesellschaftsvertrages sich eingehend mit dieser Problematik beschäftigte. Die Ausgangsbasis hierfür bildete aber nicht das föderative Gebilde eines Großstaates, dessen Wesen deutsche Rechtshistoriker des 17. und 18. Jahrhunderts verfassungsmäßig zu klären bemüht waren, sondern der Föderalismus im Sinne eines Staatenbundes. Ging es . . . Althusius, Hoenonius und anderen um den einzelnen Staat, so befaßte sich J.-J. Rousseau hierbei mit den Beziehungen zwischen den Völkern." (W. Bahner, Die Friedensideen der französischen Aufklärung, in: W. Bahner, Formen, Ideen, Prozesse in den Literaturen der romanischen Völker, Bd. 2, a. a. O., S. 164.) 205 Ebenda, S. 8, S. 13. 14

Wollgast

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nur aus seiner positiven Haltung zu den Niederlanden zu verstehen. Althusius hatte entschieden die Realisierung der These „cuius regio, eius religio" gefordert. Er ist damit aber noch nicht ein „Vertreter der Gegenreformation"; ebensowenig wie die Durchsetzung dieses Prinzips durch den Landesherrn „der eigentliche Kernpunkt der Gegenreformation" ist.206 Die beiden Schranken des Souveränitätsbegriffs, die sich bei Bodin hemmend bemerkbar machen, fehlen bei Althusius: der halbfeudale und der legitime Charakter der Monarchie. Borkenau versucht die Spezifik der Althusiusschen Monarchomachentheorie und seine Tätigkeit an einer landesfürstlichen Universität zu erklären. Beides ergebe sich zwanglos aus der von Gierke übersehenen Tatsache, daß Nassau, die Heimat des Althusius, das Stammland der Oranier ist. Die Universität Herborn-Siegen, an der er lehrte, gehörte dem in den Niederlanden tätigen Zweige Nassau-Dillenburg, Althusius' Landesherr, Philipp Wilhelm, war ein Bruder Moritz' von Nassau. Die Stadt Emden, die Althusius eines ihrer wichtigsten Ämter übertrug, stand mit dem ebenfalls von diesem Geschlecht beherrschten Westfriesland in engster Verbindung und erhielt von den westfriesischen Ständen Unterstützung gegen den Grafen von Ostfriesland. Die Universität Franeker, die ihn von Emden wegzuziehen suchte, war die Landesuniversität von Westfriesland. Sein ganzes Leben stand Althusius also teils direkt, teils indirekt im Dienste der Oranier. 207 Dabei darf, worauf Schilfert verweist, nicht nur das nassauische Herrscherhaus gesehen, es muß auch die Haltung der Bevölkerung beachtet werden. In Nassau hatten niederländische Einwanderer großen Einfluß, und zudem hatte Johann VI. von Nassau die Kirchenordnung Seelands von 1582 in seinem Land eingeführt. Seeland aber war der Teil der Niederlande, in dem sich die revolutionären Wassergeusen in der niederländischen Revolution zuerst durchgesetzt hatten. Weitere Belege ließen sich unschwer anführen. Borkenau sucht nachzuweisen, daß gerade einige der originellsten Ideen Althusius' nur vom Standpunkt der oranischen Parteiinteressen verständlich sind. Dabei wird von der Gegenüberstellung der traditionell monarchomachischen und calvinistischen Elemente in seinem System ausgegangen. Aus dieser Verbindung kommt er zu theoretischen Neuerungen. Einer konsequenten Volkssouveränitätslehre steht im Wege, daß Althusius die alte monarchomachische Lehre beibehält, die das Recht, den Herrscher zu stürzen, auf den Tyrannen beschränkt und das Widerstandsrecht den „Ephoren" (diesen Ausdruck entlehnt Althusius Calvin) vorbehält. Borkenau schlußfolgert: „Der ganze Sinn der Althusiusschen Lehre ist es, folgende beiden, an sich disparaten Elemente zu verknüpfen: Die Herrschergewalt kann nur aus dem Willen des Volkes hervorgehen; dies sowohl gegen Spanien als gegen das eigene arminianische Städtepatriziat. Die Herrschergewalt ist notwendig souverän; dies sowohl gegen die echt demokratischen wiedertäuferischen Tendenzen als — vor allem — gegen die arminianisch-aristokratischen Anschauungen über eine Teilung der Staatsgewalt . . . Die beiden staatstheoretischen 206 Ebenda, S. 15. — Vgl. dagegen: G. Schilfert, Zur Geschichte der Auswirkungen der Niederländischen Revolution auf deutsche Territorien, a. a. O., S. 51 ff. 207 F. Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, a. a. O., S. 122-124.

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Gesichtspunkte, zwischen denen die Reformation ein Jahrhundert lang geschwankt hatte, die beiden Konstituentien des bürgerlichen Staates, Macht und Formalrecht, die beiden Gegensätze, zwischen denen noch heute die bürgerliche Staatslehre pendelt, Machtstaats- und Rechtsstaatslehre, Souveränität und Liberalismus, sucht Althusius als erster zu verknüpfen." 208 Im 17. Jh. beginnt sich die Philosophie verstärkt der Erkenntnistheorie zuzuwenden, die zuvor nicht selbständig gelehrt worden war. Für Westeuropa stehen F. Bacon und R. Descartes am Beginn der Erkenntnistheorie als Wissenschaft. Sie bildete sich im Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft heraus. In Deutschland sucht sich Erkenntnistheorie ebenfalls zur gleichen Zeit zu emanzipieren; sie erwächst aber aus der Metaphysik. Die ersten Vertreter dieser neuen Disziplin — Noologie oder Gnostologie genannt — sind in Deutschland Georg Gutke und Valentin Fromme sowie Abraham Calov. Die Scholastik hatte das Erkenntnisproblem in der Logik, Psychologie oder auch in den damals sehr verbreiteten Untersuchungen über Wesen und Gliederung der Wissenschaft behandelt. Diese Art der Behandlung war, den Gegenständen dieser Wissenschaften entsprechend, sehr unterschiedlich. Die in der Metaphysik für die Untersuchung des Erkenntnisproblems vorhandenen Ansatzpunkte wurden nicht theoretisch zusammengefaßt. So ist, und das ist nur ein Beispiel aus der Metaphysik, etwa das Universalienproblem eine erkenntnistheoretische Frage. Bemerkenswerte Ansätze zu einer theoretischen Zusammenfassung der erkenntnistheoretischen Probleme finden sich z. B. in Clemens Timplers „Metaphysicae systema methodicum" (zuerst in der Ausgabe Hanau 1606) und Heinrich Alsteds „Philosophia digne restituta" (Herborn 1612). Aber Gegenstand eines selbständigen Werkes wurde die Erkenntnistheorie erst in Gutkes „Habitus primorum principiorum seu intelligentia" (Berlin 1625). Bei Aristoteles wie bei seinen Kommentatoren spielen Tätigkeit und Funktionsweise des vovg eine besondere Rolle. Allgemein galt, daß alles Seiende als Seiendes Gegenstand der Metaphysik wäre und diesem Seienden als einem verum der Charakter der Intelligibilität zukäme. Die Metaphysik hat demgemäß das Recht, alle. Methoden zu prüfen und allen Wissenschaften Gesetze zu geben. Gutke suchte nun aus der besonderen Tätigkeit und Erkenntnisweise des vovg das Recht abzuleiten, den Anteil des Metaphysischen in allen Wissenschaften zusammenzustellen und eine „Noologie" als oberste erkenntnistheoretische Wissenschaft zu lehren. Metaphysik wird so in Erkenntnistheorie überführt, bleibt dabei aber Metaphysik. Gegenstand ist der schulmäßige Ausbau einer Wissenschaft vom vovg nach Objekt und Subjekt, Mittel und Ziel, Attributen, Modi und Prinzipien nebst einer praktischen Anwendung (applicatio), die schließlich geeignet ist, der Einführung in die Wissenschaft überhaupt zu dienen. Mit Aristoteles wird die intelligentia (der vovz) als habitus principiorum gefaßt. Die intelligentia ist nicht bloße Apprehension der Prinzipien, sondern ein „contemplari principia subtilissima". Da der Ge208 Ebenda, S. 134, S. 131. 14«

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genstand dieser geforderten Wissenschaft der „Gnostologie" oder „Noologie" keine Berührung mit dem Sinnlichen aufweist, und da die Gewißheit der Grundlagen Voraussetzung für alle Gewißheit ist, spricht Gutke dem Erkennen der Gnostologie höchste Evidenz zu. Gegenüber allen anderen Wissenschaften spielt die Wissenschaft von den Prinzipien die Rolle des Ratgebers (consiliarius). Die Metaphysik bleibt weiterhin Königin der Wissenschaften, reginascientiarum. Gutkes „von Timpjer, Keckermann und Alstedius vorbereitete erkenntnistheoretische Fragestellung . . . ist als solche der scholastischen Philosophie fremd und unterscheidet sich von der zeitlich etwas jüngeren Erkenntnistheorie Descartes' sowohl durch ihren Problemansatz wie durch dessen Lösung. Denn während die .modernen' Denker nach der Möglichkeit der Erkenntnis fragen und das Seiende subjektiv nur soweit anerkennen, als es erkennbar ist, fragen Gutkius und seine Nachfolger nach dem Denkbaren und leiten dieses objektiv aus dem Seienden ab. Das Denkbare unterscheidet sich vom Seienden nicht wie der denkende Geist (res cogitans) von der körperlichen Sache (res extensa), sondern wie das Vorstellen (conceptus formalis) vom Vorgestellten (conceptus obiectivus)."209 Max Wundt gibt einen Überblick des Inhalts von Gutkes Hauptwerk. 210 Bemerkenswert erscheint, daß Gutke noch nicht zwischen Empirismus und Rationalismus trennt. Der Rationalismus der Schulphilosophie verträgt sich mit dem Satz „nihil est in intellectu, quod non prior fuerit in sensu", einer der zwölf Grundregeln von Gutkes Noologie. Gutke verharrt im Aristotelismus seiner Tage, es fehlen nicht die christlich bedingten Verankerungen der Leitsätze wie die bekannten augustinisch-neuplatonischen Grundanschauungen. 1631 läßt Valentin Fromme seine „Gnostologia" erscheinen. „Er hat zum ersten Male . . . auf lutherischem Boden die Erkenntnisfrage als Ganzes aufgerollt, während Gutke sich nur die evidente Erkenntnis der Urprinzipien zum Gegenstande genommen hatte . . ." 2 U Damit deutet sich eine neue Etappe in der Entwicklung der deutschen Schulmetaphysik an. 209 w . Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. 1, a. a. O., S. 509. 210 M. Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, a. a. O., S. 245 bis 254. 211 Ebenda, S. 117. — Vgl. V. Fromme, Gnostologia, h. e. doctrina generalia totius philosophiae fundamenta methodic etc. pertribens, Wittenberg 1631. Wundt schreibt Fromme oder Probus. Er vermochte nur zwei (gleiche) Exemplare dieses Buches nachzuweisen, von denen eines (UB. Göttingen) den lateinischen, das andere (St. und UB. Hamburg) den deutschen Verfassernamen trägt. (Trotz großen Bemühens konnte ich dieses Buch nicht einsehen.) — „Georg Gutke . . . was the most important of the Lutheran epistemologists. In his Habitus primorum principiorum seu intelligentia . . . we have the most important treatment of the problem of knowledge coming out of the scholastic movement. Gutke emphasized the activity of mind in gaining knowledge, and set up a science he called Noologia as a special division of metaphysics dealing with the activities of nous, or reason. In it he sought empirically to find ontological counterparts to the rules of logic, and he anticipated, at least in one of his formulations, though not .in his theory about them, the ontological-logical principles we shall meet with again in the writings of the Cartesian Clauberg and the Pietistic epistemologist Crusius . . . Noology was to be the queen of the sciences, but it was in fact an uncritical ontology phrased in a vaguely epistemological language. Not much could be made by analyses of 'knowledge as knowledge', and Gutke never even raised the interesting questions of the limits

V E R F A L L DER PROTESTANTISCHEN

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Etwa ab 1670 verfällt diese Metaphysik zusehends. Immer mehr war sie auf ein scharfsinniges Schematisieren aus, wobei man streng an der alten Schulform festhielt. Mit dem Einordnen des gelesenen und gehörten Wissensstoffs unter die Oberbegriffe, die wiederum vielfach unterteilt wurden und Platz schufen für singulorum locorum finitiones, descriptiones, ethymologias, sententias, scite dicta, exempla, epitheta, comparationes, metaphoras, allegorias, schuf sich der junge protestantische Gelehrte einen thesaurus eruditionis et eloquentiae, der es ihm erlaubte, über alles und jedes „erudite" zu diskutieren und zu schreiben, selbst bei geringer eigener Denkkraft und Kombinationsgabe. Im gleichen Geiste errichteten die katholischen Gelehrten ihre arbores, wie wir sie etwa aus dem „Museum peripateticum Sangallensium" kennen. 212 Die Kirchenvisitationen hatten sich allmählich in ständige Einrichtungen verwandelt, durch die die lutherischen Fürsten ihr Oberaufsichtsrecht über die Kirche realisierten. 213 Die protestantischen Fürsten — und nicht nur sie — praktizierten den Caesaropapismus. Das Prinzip „cuius regio, eius religio" wurde allgemein mit voller Schärfe durchgesetzt. Das zog Denunziationen, Intoleranz, Unsicherheit nach sich — auch und gerade an Schulen und Hochschulen! Es ist ja stets zu beachten, daß das gesamte Leben theologischreligiös geformt war, Glaubensbekenntnis und bürgerliches Leben eine Einheit bildeten. Die Theologen, auch der jeweils eigenen Konfession, überbieten sich in gehässigen Querelen, in denen die eigene Rechtgläubigkeit und die fehlende des Gegners nachgewiesen werden sollen. Die Kontroversliteratur füllt ganze Bibliotheken, ihr Niveau ist zudem extrem niedrig, die Form dogmatisch-metaphysisch. Das alles macht in dieser Zeit zwar nicht die Philosophie aus, wirkt aber auf ihre Entwicklung. Bei diesen Querelen erwiesen sich die Professoren fast durchgängig als treue Diener des jeweiligen Landesherrn — in lutherischen Ländern auf die Konkordienformel, in den katholischen auf die regula fidei festgelegt und theoretisch in wachsendem Maße dem Regiment der Jesuiten unterworfen. Lange hält man im protestantischen Bereich am Alten, weil angeblich Bewährten fest. Noch 1661 sucht der Jenenser Johann Zeisold die Übereinstimmung des Aristoteles mit der Bibel in allem, was vermöge des natürlichen Lichtes erkannt werden kann, umfangreich zu and validity of knowledge. Germans must be highly filiopietistic who see in Gutke a forerunner of Kant simply because he emphasized the fact that the mind is not passive in knowing." (L. W. Beck, Early German Philosophy, a. a. O., S. 128— 129.) Vgl. \V. Risse, Gnostologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter, Bd. 3, Basel - Stuttgart 1974, Sp. 7 2 0 - 7 2 1 ; auch O. Dittrich (Geschichte der Ethik, Bd. IV/1, a. a. O., S. 317—323) betont die Eigenständigkeit und Bedeutung Gutkes. 212 Vg] Wiedergabe solcher Tabellen bei C. Werner, Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte, Bd. 2, Regensburg 1861, S. 27—29. Im protestantischen Bereich dann auch Darstellung in Tabellenform, vgl. u. a. D. Stahl, Compendium metapbysicae, in X X I V tabellas redactum, 3. Aufl., Jena 1672. 213 Vg], a . Tholuck, Das kirchliche Leben des siebzehnten Jahrhunderts, Abt. 1: Die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bis zum westphälischen Frieden, Berlin 1861, S. 2—3. — Zur innerkirchlichen Situation vgl. H. Leube, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie, Leipzig 1924; H . L e h mann, Das Zeitalter des Absolutismus, a. a. O.; H. Leube, Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie, Bd. 1, Leipzig 1928.

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erweisen.21'* Es ist nicht verwunderlich, daß viele oppositionelle Kräfte — aus welchen Gründen auch immer diese Opposition geboren wurde — sich in wachsendem Maße gegen diese Art von scholastischer Gelehrsamkeit wandten. Weder ihr Wissenschaftsverständnis noch ihre inhärenten Gesellschaftsvorstellungen vermochten die neuen Erfahrungen der Zeit zu formulieren und herauszuarbeiten. 1859 schreibt Friedrich Engels an Lassalle: „Worauf Sie aber nicht [im Sickingen-Drama — S. W.], wie mir scheint, den gehörigen Nachdruck gelegt haben, sind die 'nichtoffiziellen, plebejischen und bäurischen Elemente, mit ihrer daneben laufenden theoretischen Repräsentation." 2 1 5 Diese „daneben laufende theoretische Repräsentation" aller antifeudalen Schichten ist hinsichtlich Deutschlands von der Niederlage des Bauernkrieges bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges noch zu wenig untersucht worden. Wir sind auf den letzten Seiten bereits über den von uns behandelten Zeitraum hinausgegangen, um den Anschluß zur Frühaufklärung in Deutschland wenigstens grob skizzieren zu können. Die deutsche Schulphilosophie dieser Zeit muß nicht so sehr daraufhin befragt werden, ob, sondern vielmehr wie sie die philosophische Rationalität, die später bei Leibniz, Tschirnhaus u. a. hervortritt, repräsentiert, entwickelt, vorbereitet hat. Gerade weil z. B. Leibniz seiner Herkunft nach von ihr geprägt ist, und weil er gegenüber Newton eine selbständige wissenschaftliche und philosophische Position einnimmt, muß die Entwicklung, die ihn stützte, historisch detailliert untersucht werden. Man sollte den Bogen nicht nur bis zu Leibniz, zu den unterschiedlichen Strömungen der deutschen Frühaufklärung und zur deutschen Aufklärung, sondern bis zur klassischen deutschen Philosophie spannen. Gerade weil die klassische deutsche Philosophie in ihrem eigenen Selbstverständnis wesentlich protestantisch ist, muß auch untersucht werden, welche charakteristischen Formen des philosophischen Denkens in der protestantischen Schulphilosophie hervorzutreten beginnen. Es gibt keine große Philosophie jenseits der Rationalität von Wissenschaft und gesellschaftlicher Erfahrung. Aber es gibt auch keine große Philosophie ohne kleinere „Vorläufer", ohne Perioden, die kulturell nur von nationalem Interesse sind. Die protestantische Tradition der klassischen deutschen Philosophie ist ohne die philosophische Tradition des deutschen Protestantismus nicht zu verstehen. Auch Leibniz wurde noch im Geiste der aristotelischen Scholastik erzogen. Aber er faßte in seiner Philosophie Aristoteles bereits modern auf. Modern will sagen: er trennte Theologie und Philosophie weitgehend, ging über die bemerkenswerten Ansätze in der Schulmetaphysik hinaus und erarbeitete ein neues philosophisches System, wobei nicht nur Aristoteles, sondern — in verschiedenen Etappen in unterschiedlicher Weise — auch Descartes, Bacon, Hobbes, Spinoza, Huygens und Malebranche seine Gewährsleute waren. Hinzu kommt der Einfluß von Pufendorf und H. Grotius. Vor Beginn seines Pariser Aufenthaltes (1672) ist Leibniz noch weitgehend Aristoteles verpflichtet. Aber sein Aristoteles ist durch Erhard Weigel geprägt. 216 Auch später, als Leibniz J. Zeisold, Tractatus de Aristotelis in illis, quae ex lumine naturae innotestunt, cum scriptura sacraconsensu ab eaque apparente dissensu, Jena 1661 bzw. Jena 1665. 2« F. Engels, Brief an F. Lassalle am 18. 5. 1859, in: ME W, Bd. 29, Berlin 1963, S. 603. 216 Vgl k . Moll, Der junge Leibniz, Bd. 1: Die wissenschaftstheoretische Problemstel-

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sein eigenes System entwickelte, hat er viel von Aristoteles übernommen. So verteidigte Leibniz 1698 und auch in den „Neuen Versuchen" die aristotelische Definition der Natur als Prinzip der Bewegung und der Ruhe und zugleich in dem weiteren Sinne, in dem Aristoteles den Begriff der xivrjcn£ gefaßt hatte, nämlich als Veränderung, nicht nur als (pogä.zn Dagegen verschwinden die substantiellen Formen aus seinem System und sollen durch den Begriff der Monade gedeckt werden. 218 Gleich Aristoteles nimmt auch Leibniz Zweckursachen an. So meint er, die Gesetze der Bewegung seien nicht allein aus bewirkenden Ursachen zu erklären. Man müsse die causae finales zur Hilfe nehmen, die nach dem Prinzip der Angemessenheit wirken. 219 Auch .die sich bei Leibniz findende Idee der Stufenleiter ist letztlich bei Aristoteles angelegt. Leibniz hat also — wir haben dafür nur einige Beispiele gebracht — sowohl progressiv wie orthodox an Aristoteles angeknüpft. Aber er hat sich dadurch von der Schulphilosophie gelöst, daß er nur die Formen untersucht, deren Existenz die Naturwissenschaft verbürgt, daß er von den Formeln der Wissenschaften auf die Formen des Seins schließt, nicht umgekehrt. Leibniz hat sich insgesamt von der Schulmetaphysik gelöst. E r spricht 1695 sogar davon, daß er sich erst vom Joche des Aristoteles habe befreien müssen, ehe er zu seinem eigenen System gekommen sei. 220 Hinsichtlich des recht verstandenen Aristoteles läßt Leibniz dafür Philaletes in den „Neuen Versuchen" bezeugen, daß er Aristoteles „als einen der größten Männer des Altertums betrachte, dem wenige an Umfang, Feinheit, Scharfsinn des Geistes und Stärke der Urteilskraft gleichkommen" 221 . Zu denen, die Leibniz beeinflußten, sind Meister Eckhart, ebenso Cusanus lung seines ersten Programmentwurfs. Der Anschluß an Erhard Weigels Scientia Generalis, Stuttgart — Bad Cannstatt 1978; Bd. 2: Der Übergang vom Atomismus zu einem mechanistischen Aristotelismus. Der revidierte Anschluß an Pierre Gassendi, Stuttgart — Bad Cannstatt 1982. 217 G. W. Leibniz, Über die Natur an sich oder über die den erschaffenen Dingen innewohnende Kraft und Tätigkeit (de ipsa natura, sive de vi insita actionibusque creaturarum), in: G. W. Leibniz, Kleinere philosophische Schriften, hg. von R. Habs, Leipzig 1966, S. 143; vgl. auch G. W. Leibniz, Philosophische Werke, Bd. 3: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übers, mit Einl. und Anm. von C. Schaarschmidt, 2. Aufl., Leipzig 1904, Buch I I I , Kap. IV, § 8 - 9 , S. 299. 2 1 8 G. W. Leibniz, Über die Natur an sich . . . , & . a. O., S. 153. 219 G. W. Leibniz, Die in der Vernunft begründeten Prinzipien der Natur und der Gnade, in: G. W. Leibniz, Kleinere philosophische Schriften, a. a. O., S. 112. — Vgl. zu Leibniz: I. S. Narskij, Gottfried Wilhelm Leibniz. Grundzüge seiner Philosophie, Berlin 1977; A. Simonovits, Dialektisches Denken in der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz, Berlin — Budapest 1968; G. G. Majorov, Teoreticeskaja filosofija Gotfrida V. Leibnica, Moskva 1973; H. H. Holz, Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Monographie, Leipzig 1983. 220 G. W. Leibniz, Neues System über die Natur, über den Verkehr zwischen den Substanzen und über die Verbindung zwischen Seele und Körper, in: G. W. Leibniz, Kleinere philosophische Schriften, a. a. O., S. 43. — Es kann hier nur darauf verwiesen werden, daß auch Gabriel Wagner Anteil an der Überwindung des orthodox-scholastischen Aristotelismus hatte. Vgl. dazu: G. Stiehler, Gabriel Wagner (Realis de Vienna), in: Beiträge zur Geschichte des vormarxistischen Materialismus, hg. von G. Stiehler, Berlin 1961, S. 63—123. 2 2 1 G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, a. a. O., S. 526 (Buch IV, Kap. 17).

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und Bruno, Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, Weigel und Franck, Luther und Böhme zu zählen. Diesen Einfluß sollte man nicht überbewerten. Aber man sollte ihn auch nicht unterschlagen. Heimsoeth meint von Leibniz: „Der Kern . . ., die Gesinnung, die bildende Tendenz in ihm, der Tiefsinn und die Richtung seines Blicks, die eigenste Haltung zu Gott, Welt und Dasein — die sind vom Wesen des Böhme, des Paracelsus, des Nikolaus, des Eckehart." 222 Das mag übertrieben erscheinen. Immerhin zitiert und kennt Leibniz zahllose Autoren. Aber wir werden in unseren weiteren Darlegungen noch zeigen: Der Strom der Mystik und des Pantheismus wirkt — mindestens bis Leibniz — in irgendeiner Weise auf alle Denker in Deutschland. Man vergleiche Leibniz' deutsch geschriebene Arbeit „Von der wahren Theologia mystica" 223 . Erinnert sei daran, daß die heterodoxe Mystik im 16. und 17. Jh. zumindest auf die Orthodoxie zersetzend wirkte. Das trifft auch auf Leibniz' Mystikverständnis zu. Diesen Zugang gewinnt man natürlich nicht, wenn man Leibniz' Philosophie als „religiösen Idealismus" firmiert22'* und dementsprechend von allen Elementen des Pantheismus, der negativen Theologie usw. fast ängstlich abhebt. Ablehnung des orthodox verstandenen Aristoteles und heterodoxe Mystik gehen bis zu Leibniz — ihn selbst noch einbegriffen — einher. Wenn Leibniz nicht den Generalangriff auf den scholastischen Aristoteles unternahm, so taten es mit desto größerer Entschiedenheit Samuel von Pufendorf, E. W. von Tschirnhaus, Christian Thomasius und — mit einem anderen Ausgangs- und Zielpunkt — Christian Wolff. Mit welcher Erbitterung die Orthodoxie auf diesen ideologischen Angriff reagierte, beweist u. a. die Vertreibung Wolfis aus Halle. Man muß die Kontroverse zwischen Wolff und dem orthodox gewordenen Pietismus auch in diesen Zusammenhang einordnen. Nach Pufendorf kann die Philosophie nicht voranschreiten, wenn der höchste Beweis stets lautet: „Habemus expressum textum in Aristotele." Solche Wissenschaft sei einen Dreierling wert, fördere die Wissenschaft um kein Härlein und wälze bis zum Weltende die aristotelischen Beeren im Kreise herum wie ein Skarabäus, wenn nicht tüchtige Geister die hemmenden Zügel zerrissen.225 Dabei trifft Pufendorfs Spott vornehmlich die „durchlauchtigste und allmächtigste Königin Metaphysik", diese „Schiedsrichterin über gött222 223 224 225

H. Heimsoeth, Leibniz' Weltanschauung als Ursprung seiner Gedankenwelt, in: Kant-Studien, Berlin 21 (1917) S. 369-370. G. \V. Leibniz, Von der wahren Theologia mystica, in: Leibnitz's Deutsche Schriften, hg. von G. E . Guhrauer, Bd. 1, Berlin 1838, S. 4 1 0 - 4 1 3 . H. Heimsoeth, Leibniz' Weltanschauung a. O., S. 372. „Per eandem scientia Physica admirando modo efflorescere coepit, ad quam comparata scientia eorum, quibus summa probandi ratio haec est, habemus expressum textum in Aristotele, ne triobolo quidem digna est. Ac nisi bona quaedam ingenia fraenum istud pedanticum abrupissent, ad mundi usque finem Philosophi poma Aristotelica ad scarabaeorum instar in circulum volvissent, scientia rerum naturalium nehilum quidem promota." (S. Pufendorf, Eris Scandica, Qua adversus libros de Jure Naturali et Gentium objecta diluuntur, Francofurti 1706, S. 366—367 [aus der Streitschrift: Commentatio super Invenusto veneris Lipsicae Pulo, S. 366-367].)

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ORTHODOXIE

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liehe wie menschliche Weisheit". 220 Auch Pufendorf findet durchaus anerkennende Worte für Aristoteles. Aber es geht ihm um die Reinigung der Philosophie von Scholastik, um die Trennung von Theologie und Philosophie, um die Entthronung des scholastisch verstandenen Aristoteles. Noch entschiedener als Pufendorf nahm Chr. Thomasius gegen die aristotelische Scholastik Stellung. Er wandte sich sowohl gegen die aristotelische Metaphysik als auch gegen die von Überwucherungen erfüllte aristotelische Logik und Ethik. Den ersten entschiedenen Angriff führte Thomasius dazu in den „Lustigen und Ernsthafften Monats-Gesprächen" (1688) und den „Freymüthigen Jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßigen Gedancken" (1690). Hier verbander die wissenschaftliche Argumentation mit witziger Satire und derbem Spott, gab er den neoscholastischen Aristotelismus der protestantischen Schulphilosophie dem Gelächter der Zeitgenossen preis. Die „Freymüthigen Gedancken" brachten für jeden Monat Stiche, welche sich in kräftiger Symbolik über das aristotelisch-scholastische Lehrsystem lustig machten. Dafür nur ein Beispiel: „In Aprili erweisen die Herrn Metaphysici, deren ieder sich mit einer sonderlichen abstraction [nämlich einer Eselshaut — S. W.] versehen, der Metaphysic als Reginae scientiarum (weswegen sie auch mit einer Löwen = Haut bekleidet ist) ihre gebührende reverenz. Sie dichtet über einer tieffsinnigen distinetion. Und forne zeiget ein alter Metaphysicus einem jungen das abstractum Ultimatum [nämlich einen abgehauenen Eselsschwanz — S . W . ] . " 2 2 7 In den „Monatsgesprächen" entwirft der Jurist Cardenio seinem Philosophie studierenden Bruder Cyllenio den Stoff zu einem umfangreichen, fesselnden und zugleich belehrenden Roman, nämlich die bitterböse Liebesgeschichte des Aristoteles. Hier gibt es wiederum unzählige Ausfälle gegen die aristotelisch-scholastische Schulphilosophie. So wird erörtert, ob man einem Käse mit größerem Recht forma oder figura zuschriebe? Denn ein Käse ist zwar unbelebt, aber es entstehen in ihm dennoch belebte Würmer — wie im Menschen. Wenngleich Thomasius den Geist des Neuen verkörperte, die Denkfreiheit postulierte und jegliches Beharren auf Autorität verdammte, wenngleich er einen Kreis von Schülern um sich sammelte, waren die Vertreter der Orthodoxie zu seiner Zeit noch in der Mehrzahl. Kleine Geister zwar, aber voller Gift und Tücke und von nicht geringem Einfluß. Sie konzentrierten sich besonders an den Universitäten Jena, Helmstedt und Leipzig. Man darf bei 226

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S. Pufendorf, Eris Scandica . . a. a. O., S. 277: „Video enim post concisos calumniarum exercitus, unum aut alterum cavillationum manipulum adhuc frontem obvertere, tum praeeipue Serenissimam ac Potentissimam Reginam Metaphysicam, velut fidum barbarici tutelare Numen auxilio vocatam, par distinetionum pulvere haud quidquam decoro sordidarum submisisse, quae feroculae toto late campo volitant, veluti solae telis in acicularum subtilitatem attenuatis bellum confecturae." — Vgl. ebenda, S. 280: „illa divinae humanaeque sapientiae arbitra . . ." Chr. Thomasius, Freymüthiger Jedoch Vernunfft = und Gesetzmäßiger Gedancken Uber allerhand / fürnemlich aber Neue Bücher Durch alle zwölff Monat des 1689. Jahrs . . ., Halle 1690, S. 1162. — Zu Chr. Thomasius vgl. die noch heute unentbehrliche Arbeit: M. Fleischmann, Christian Thomasius, a. a. O. Vgl. ferner R. Lieberwirth, Christian Thomasius. Sein wissenschaftliches Lebenswerk. Eine Bibliographie, Weimar 1955.

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der Überwindung der aristotelischen Schulphilosophie an den deutschen Universitäten nicht vergessen, daß sie sich unter dem Einfluß und mit Hilfe der Entwicklung der Naturwissenschaften und der auch daraus hervorgehenden neuen bürgerlichen Philosophie vollzog (vgl. Kap. II, VII). Die Universitäten wurden dabei vom Geist des Neuen gegenüber anderen wissenschaftlich Tätigen relativ spät ergriffen. 1641 kamen Descartes' „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie" und 1644 seine „Prinzipien der Philosophie" heraus. P. Gassendi hatte 1624 den ersten Band seiner „Exercitationes paradoxicae adversus aristoteleos" herausgegeben. Darin unterzog er vornehmlich die aristotelischen Lehren auf dem Gebiete der Physik und der Logik einer vernichtenden Kritik. Dieses Werk Gassendis wurde durch Thomasius in wesentlichen Auszügen ins Deutsche übersetzt (1717). So war Deutschland auch in jener Zeit nicht wissenschaftlich isoliert, und das Alte mußte — wenn auch zögernd — dem Neuen weichen, als im Inneren des Landes selbst die Voraussetzungen herangereift waren. Im 17. J h . wirkten einige cartesianisch orientierte reformierte Theologen bzw. Philosophen wie Wittich und Clauberg eifrig daran mit, Aristoteles in der damaligen Sicht mit Descartes zu vereinigen. Meines Erachtens ist das bereits das Zeichen dafür, daß die Vorherrschaft der Orthodoxie in jeder Hinsicht zu Ende geht. E s beginnt die Herrschaft der bürgerlichen Philosophie. Die Anlehnung an Descartes wird dadurch erleichtert, daß auch er noch Züge des mittelalterlichen Denkens in sich barg: so seine Lehre vom Raum, den Elementen und Qualitäten der Naturdinge, von Gott und seinen Attributen, den Beweisen für seine Existenz, der Schöpfung und Erhaltung der Welt, den Substanzen und ihrem Verhältnis zu den Akzidentien, den eingeborenen Ideen und der Vernunfterkenntnis, den Lebensgeistern, den Beziehungen des Willens zum Intellekt usw. 228 E . Cassirer leugnet keineswegs, daß zwischen Descartes' Philosophie und den Systemen der Scholastik enge Beziehungen bestehen. E . Gilson hat hier unbestreitbare Ergebnisse vorgelegt. Entscheidend aber ist: „So viele Berührungspunkte sich zwischen dem mittelalterlichen und dem Cartesischen Denken auch finden lassen, so wandelt sich doch der gesamte Accent der Erkenntnis, wenn wir von dem einen zum anderen übergehen. Die Scholastik und Descartes können in der Annahme und in der Begründung bestimmter einzelner ,Wahrheiten' — wie z. B . im ontologischen Gottesbeweis — völlig übereinstimmen; aber in der Auffassung der Wahrheit, in der Erklärung ihrer ,Natur' und ihres eigentlichen Sinnes, besteht ein unaufheblicher, ein radikaler Unterschied." 2 2 9 Das Eindringen des Cartesianismus in die orthodoxe lutherische, vornehmlich in die reformierte Scholastik erfolgt am Ende des von uns behandelten Zeitraums. Und, aus dem Tätigkeitsfeld Descartes' verständlich, zunächst in den Nieder228

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A. Koyr6s (Descartes und die Scholastik, Bonn 1923) Einzelergebnisse über die Beziehung Descartes' zur Scholastik sind nicht zu bezweifeln, das Gesamturteil, das Descartes weitgehend an die Scholastik heranrückt, dagegen sehr. Allerdings will sich Koyr6 nur auf die Cartesianische Gottesidee und Descartes' Beweise der E x i s t e n z Gottes beschränken. E . Cassirer, Descartes. Lehre — Persönlichkeit — Wirkung, Stockholm 1939, S. 23.

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ORTHODOXIE

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landen. Im cartesischen Sinne wirkt in Leiden ab 1641 Adrian Heereboord, der „sich zwar formell, den akademischen Bestimmungen gemäß, an Aristoteles hielt, dabei aber meist moderne Denker, Ramus, Baco und Descartes berücksichtigte, ohne seinen Enthusiasmus für sie verbergen zu können" 2 3 0 . 1647 faßten die Kuratoren der Leidener Universität den Beschluß, die Professoren der Theologie und Philosophie sollten weder für noch gegen Descartes disputieren, um den Frieden der Universität nicht zu zerstören; sie sollten sich „in den Grenzen der rezipierten aristotelischen Philosophie" halten. Dieser Beschluß wurde auch Descartes mitgeteilt. 231 (Vgl. oben S. 63—64.) Der Sieg des Neuen vollzog sich unter harten Kämpfen, das Alte lieferte noch manch wundersame Blüten. Für Johann Wilhelm Zierold 232 entspricht der angeblich liederliche Lebenswahdel des Aristoteles in jeder Hinsicht seiner Philosophie. E r habe die alten guten Lehren, besonders die hebräischen und die platonischen, verfälscht. Seine Metaphysik und Physik seien ohne Ordnung geschrieben. Die Naturlehre sei albern, die Logik Geschwätz, der Syllogismus unnütz. In der Ethik sei der Ehrgeiz Aristoteles' Abgott, der Zweck aller Tugend die Ehre; Fleischeslust, Augenlust und hoffärtiges Leben seine Tugenden usw. Aristoteles wird jetzt sogar von der Orthodoxie des Atheismus bezichtigt. 2 3 3 Erst Chr. Wolff vollendete, was Pufendorf, Thomasius u. a. Vertreter der deutschen Frühaufklärung begannen: die Trennung von Theologie und Philosophie. 23/i Kants Philosophie entwickelte sich letztlich in Frontstellung gegen die aristotelische Philosophie im Verständnis der protestantischen Schulphilosophie und der sog. Neuscholastik. Kant glaubte sich gegen den Dogmatismus der Aufklärungsphilosophie zu wenden. Wo dieser sich aber äußert, etwa in den lateinischen Werken Chr. Wolfis, handelt es sich um ein Erbe dieser Scholastik, nicht um den Geist der Aufklärung. 235 Max Wundt meint: „Die eigentliche deutsche Philosophie, von der das Neue ausgeht, gehört . . . unbedingt zum Luthertum, wie auch die Hochschulen, die sie gepflegt haben, die urlutherischen sind." 2 3 6 Denn die reformierte Philosophie kann sich in Deutschland nicht recht entwickeln und wird nach Holland abgedrängt. Das katholische Element, gerade Suärez' MetaJ . Bohatec, Die cartesianische Scholastik in der Philosophie und reformierten Dogmatik des 17. Jahrhunderts, T. 1: Entstehung, Eigenart, Geschichte und philosophische Ausprägung der cartesianischen Scholastik, Leipzig 1912, S. 33—34. 23t Ebenda, S. 34. - Vgl.: E . G. Ruestow, Physics at 1 7 t h and 1 8 t h Century in Leiden. Philosophy and the New Science in the University, The Hague 1973, S. 1—72. 232 Vgl. J . W. Zierold, Einleitung Zur Gründlichen Kirchen = Historie / mit der Historia Philosophica verknüpfft, Leipzig und Stargard 1700, S. 211—224. 233 Vgl z B. J . G. Walch, Exercitatio historico-philosophica de atheismo Aristotelis, in: ders., Parerga academica ex historiarum atque antiquitatum monimentis collecta, Leipzig 1721, S. 1 9 7 - 3 6 6 . 234 Vgl z u Chr. Wolff: S. Wollgast, Immanuel K a n t und seine philosophischen Quellen, in: Zum Kantverständnis unserer Zeit. Beiträge marxistisch-leninistischer Kantforschung, hg. von H. Ley, P. Rüben, G. Stiehler, Berlin 1975, S. 1 9 - 4 5 ; H.-M. Gerlach/S. Wollgast, Christian Wolff — ein hervorragender deutscher Philosoph der Aufklärung, in: DZfPh, Berlin 27 (1979) S. 1 2 3 9 - 1 2 4 7 . 235 Vgl. M. Wundt, Die Philosophie an der Universität J e n a in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt, a. a. O., S. 37 f. 236 m Wundt, Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts, a. a. O., S. 17.

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I I I . SCHULPHILOSOPHIE IN D E U T S C H L A N D

1550—1650

physik, war sehr wichtig. Aber für sie gilt, was für die katholische Philosophie im Deutschland des 17. Jh. generell zutrifft: wenn sie anregend weiterwirkt, dann in der Übernahme, die sie im Protestantismus erfuhr. In den Ländern, wo der Calvinismus die herrschende Religion geworden ist, etwa in Holland und England, „hat es . . . eine selbständige und fortlaufende Entwicklung der Philosophie eben darum nicht gegeben, weil der Kapitalismus hier aufgehört hat, ein Problem zu sein. Drei andere Länder dagegen haben einen bodenständigen Kapitalismus entwickelt, ohne daß . . . der kapitalistisch rationalisierte Arbeitsprozeß zur selbstverständlichen Lebensform geworden wäre. Hier sind die Grundprobleme des kapitalistischen Daseins zum Gegenstand dauernden systematischen Nachdenkens geworden, wenn auch unter sehr verschiedenen nationalen Bedingungen. Dieses Nachdenken hat in Frankreich in Descartes und der ihm folgenden rationalistischen Schule, in Italien in Vico, in Deutschland in Kant und dem Idealismus gegipfelt." 237 Sicher ist Wundt kein vorurteilsfreier Kronzeuge für die Behauptung, daß die von Luther bzw. Melanchthon ausgehende Philosophie bis in die klassische deutsche Philosophie wirkt. H. Heine hat die These, daß die deutsche Philosophie der von Luther herkommenden Richtung ihre Grundlagen schuldet, immer vertreten. Noch der späte Heine äußert, der Protestantismus habe sich Verdienste erworben „durch die Eroberung der Denkfreiheit . . die doch der Boden ist, auf welchem sich später Leibniz, Kant und Hegel bewegen konnten — Luther, der gewaltige Mann mit der Axt, mußte diesen Kriegern vorangehen und ihnen den Weg bahnen. In dieser Beziehung habe ich auch die Reformation als den Anfang der deutschen Philosophie gewürdigt . . ." 238 237 238

F . Borkenau, Der Übergang v o m feudalen zum bürgerlichen Weltbild, a. a. O., S. 1 7 0 - 1 7 1 . H. Heine, Geständnisse, in: H. Heine, Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Berlin — Weimar 1972, S. 356. - W. Sparn (Wiederkehr der Metaphysik, a. a. O., S. 208) erhebt m. E. zu Unrecht „Bedenken . . . gegenüber dem philosophiehistorischen K e n sens, daß die protestantische und speziell die lutherische Schulphilosophie ein Faktor des Übergangs zur Neuzeit, nämlich ein Moment der Vorgeschichte Leibnizens und K a n t s sei".

VIERTES KAPITEL

Das philosophische Weltbild Johannes Keplers

Johannes Kepler wurde am 27. Dezember 1571 (Julianischen Kalenders) zu Weil der Stadt in Württemberg geboren und starb am 15. November 1630 in Regensburg.1 Seine naturwissenschaftlichen Leistungen sind unvergänglich. Der große deutsche Naturforscher entdeckte die nach ihm benannten drei Planetengesetze. Er suchte nach den Ursachen der ungleichförmigen kosmischen Bewegung und fand sie in der bewegenden Kraft der Sonne. Kepler stellte integrale Gesetzmäßigkeiten der Bewegung auf, aus denen sich die Differentialvorstellung der Bewegung unmittelbar ergab. Die Schwerkraft ist ihm ein universelles Wesensmerkmal des Stoffes. Somit wurde er zum Begründer der Himmelsmechanik. Mit siebenunddreißig Jahren bestimmt er auf theoretischem Wege die Strahlenbrechung und stellt die Formeln dafür auf. Mit seiner „Astronomiae pars Opticae" hat sich Kepler den Ruhmestitel eines Begründers der modernen Optik erworben. Er erfand das astronomische Fernrohr, das vielfach nach ihm benannt wird. Auch der modernen Mathematik und Kristallographie war Kepler ein Wegbereiter. Er verfaßte mathematische, physikalische, optische, chronologische, philosophische und religiöse Schriften. Er schrieb für das Volk und für die gelehrte Welt, in lateinischer und in deutscher Sprache. Während in den Hauptwerken die Arbeit vieler Jahre steckt, sind andere Werke, darunter höchst bedeutsame, in wenigen Wochen oder Monaten entstanden. Rund 400 Briefe von Kepler sind erhalten. In ihnen äußert er sich auch über persönliche Dinge. Dazu besitzen wir etwa 700 Briefe an ihn und einige hundert Dokumente über sein Leben und Wirken. Die verschiedensten Ereignisse gaben Kepler Anlaß zu eigenen Schriften:. das Auftauchen von Kometen, eines neuen Sterns, Beobachtungen mit dem neuen Fernrohr, die Erfindung der Logarithmen, das Erscheinen eines interessanten Buches u. a. Keplers wissenschaftliche Verdienste haben sein Andenken im Bewußtsein der Wissenschaftler und der gesamten progressiven Menschheit wachgehalten.2 Dabei kann Keplers Weltanschauung, seine Philosophie nicht aus1

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Diesem Kapitel liegt u. a. mein Aufsatz „Zum philosophischen Weltbild Johannes Keplers", in: DZfPh, Berlin 21 (1973) S. 100-111, zugrunde. Eine Gesamtwertung Keplers in populärer Form geben S. Wollgast/S. Marx, Johannes Kepler, 2. durchges. und ber. Aufl., Leipzig — Jena — Berlin 1980. Der XIII. Internationale Kongreß für Geschichte der Wissenschaft 1971 in Leningrad widmete Kepler eine Woche seiner Arbeit.

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I V . D A S PHILOSOPHISCHE W E L T B I L D

KEPLERS

gespart bleiben. Kepler lebte und wirkte in einer Epoche, in der sich — im Gegensatz zur spätbürgerlichen Naturbetrachtung — Philosophie und Einzelwissenschaft, Experiment und Spekulation, Naturphilosophie und Naturwissenschaft noch eng verwoben. Er bezeichnet den Beginn der klassischen Naturwissenschaft und war gleichzeitig noch der Naturphilosophie der Renaissance verhaftet. Sein gesamtes Schaffen ist theologisch-religiös überformt bzw. geprägt, doch kann das in seiner Zeit nicht anders sein. Will man also Keplers Philosophie und Weltanschauung richtig bestimmen, in den fortschreitenden Entwicklungsgang von Philosophie und Wissenschaft richtig einordnen, so muß man sie dialektisch sehen, aus unserer Zeit rückschauend auf die Bedingungen der seinen. Dabei dürfen seine Ergebnisse, theoretischen Überlegungen und z. T. tastenden Versuche nicht mit der Elle unseres Wissens gemessen werden. Grundlegend für das methodologische Herangehen an alle von uns behandelten Ideen, Prozesse und Personen ist Lenins Wort: „Historische Verdienste werden nicht danach beurteilt, was historische Persönlichkeiten, gemessen an den heutigen Erfordernissen nicht geleistet haben, sondern danach, was sie im Vergleich zu ihren Vorgängern Neues geleistet haben."3 Folgt man einer solchen Betrachtungsweise nicht, so gelangt man bewußt oder unbewußt auch zu einem verzerrten Keplerbild. Ein solches wird gezeichnet, wenn etwa Jürgen Hübner Kepler als „theologischen Denker" preist, der „sowohl Theologe als auch Naturwissenschaftler", d. h. „bewußt . . . auch Theologe gewesen" sei.4 Keplers Naturwissenschaft sei Naturtheologie.5 Hübner fordert vom heutigen Menschen, in folgender Weise an Kepler anzuknüpfen: „So sollten wir uns auf den Weg machen zu einem neuen Denken, das die Gewißheit des Glaubens ebenso zur Sprache bringt wie den Gegebenheiten der Natur gerecht wird, das die Weisheit des Schöpfers ebenso entdeckt und preisen lernt wie der Nähe Gottes in Jesus Christus hier und heute froh wird . . . Die Theologie muß das Wesen des Glaubens so verständlich machen, daß das naturwissenschaftliche Denken in den Lobpreis Gottes des Schöpfers einmünden kann." 6 Auf Hübners Keplerinterpretation werden wir noch detaillierter eingehen. Auch W. Zeller sucht Johannes Kepler als zutiefst frommen, innerhalb der lutherischen Kirche stehenden Denker auszuweisen. Er argumentiert zunächst : Kepler sei von seiner Ausbildung her Theologe gewesen und habe bis 3 4

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W. I. Lenin, Zur Charakteristik der ökonomischen Romantik, in: LW, Bd. 2, Berlin 1961, S. 180. J. Hübner, Johannes Kepler als theologischer Denker, in: Kepler-Festschrift 1971. Zur Erinnerung an seinen Geburtstag vor 400 Jahren, Regensburg 1971, S. 22—23. — Der damalige Rektor der Universität Graz, Heribert Fieber, meint: „In seiner tiefen Religiosität sieht man die Wurzel der fundamentalen astronomischen Entdeckungen Keplers." (Johannes Kepler 1571—1971. Gedenkschrift der Universität Graz, hg. vom Akademischen Senat. Redigiert von P. Urban und B. Sutter, Graz 1975, S. 5.) J. Hübner, Johannes Kepler als theologischer Denker, a. a. O., S. 44. Hier meint Hübner auch: „Es ist deutlich, wie stark gerade auch Keplers naturwissenschaftliche Arbeiten vom christlichen Glauben motiviert worden sind. Hier liegt der eigentliche Motor seines Denkens." Ebenda, S. 4 3 - 4 4 .

THEOLOGIE ODER

NATURWISSENSCHAFT?

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in sein Alter theologische Schriften verfaßt. Der Streit Keplers mit den lutherischen Theologen seiner Zeit wird natürlich auch von Zeller nicht geleugnet. Aber er wird auf das Unverständnis einiger Theologen des ersten Drittels des 17. Jh. für die tiefe Frömmigkeit Keplers reduziert. Schließlich hält Zeller es offenbar für ein weiteres Argument für Keplers „Luthertum", daß ein evangelischer Pfarrer an seinem Grabe über Luk. 11, 28 die Leichenpredigt hielt. Von den „theologischen Werken" Keplers weiß aber auch Zeller nur die von Kepler zur religiösen Unterweisung für seine Kinder niedergeschriebene Arbeit von 1617 und sein anonym erschienenes „Glaubensbekenntnis" von 1623 anzuführen. Es ist wenig aussagekräftig, wenn Zeller schreibt: „Es gibt keine bessere Selbstcharakteristik [Keplers — S. W.] als sein Wort: ,Ich bin ja deren keiner, der zu jeder Zeit Ziel und Maß wußte zu treffen.' Dieser Satz kennzeichnet zugleich Keplers Stellung in der Geschichte des Protestantismus." 7 Keplers Auffassungen werden entschuldigt, die württembergischen Theologen, die ihn vom Abendmahl ausschlössen, werden ebenfalls entschuldigt — beide waren allzumal Menschen und begingen Irrtümer! Aber beide seien untrennbar mit der Geschichte des Protestantismus verbunden. Von katholischer Warte aus vergleicht Norbert Schiffers Kepler und die trostlose Lage der Theologie seiner Zeit. Um nicht auch noch den christlichen Glauben scheitern zu lassen, habe Kepler ihn durch die Naturphilosophie retten wollen. Kepler habe eine Fährte verfolgt, „die abseits von den Holzwegen der Theologen des Wortes eine neue Theologie anspürt. Die Axiome dieser neuen Theologie werden der griechischen Geometrie entnommen. Doch bleibt es nicht bei solcher Übernahme. Vielmehr will Kepler diese Axiome in der Naturbeobachtung rektifizieren, um eine allgemeingültig-kategoriale Lesart von der Ordnung Gottes anzubieten, nach der sich alle Menschenordnung ausrichten müsse. Der von den Theologen enttäuschte Kepler dreht die traditionelle Verhältnisbestimmung von Theologie und Naturwissenschaft also kurzerhand um, weil er die ordnungschaffende Aussage über Gottes Heilswillen von einer Himmelsphysik erwartet, die kraft der Beobachtung aus den geometrischen Axiomen eine überall nachprüfbare Kategorienlehre macht." 8 Allem bei Kepler liege das platonische Postulat in der Fassung des Proklos zugrunde: Alles sinnlich Erfahrbare, wo auch immer in der Welt, richtet sich nach dem Geist, der Geist aber nach jenem geometrischen Urbild, das tief in seinem Innern aufscheint. Schiffers meint weiter: „Mindestens die Tendenz geht bei Kepler darauf aus, in einer Neugeburt des griechischen Geistes der ,Musike' die mittelalterliche Verhältnisbestimmung ,Theologie-Naturwissenschaft' umzukehren in jene neue, die da heißen sollte: Naturwissenschaft und Theologie'." 9 Ein Neues wird bei Kepler konzediert. Er habe — wie im Quadrivium — Musik mit der Astronomie, Geometrie und Arithmetik als Einheit gesehen und sie als Forscher W . Zeller, Protestantische Frömmigkeit im 17. Jahrhundert, in: W . Zeller, Theologie und Frömmigkeit, Gesammelte Aufsätze, B d . 1, hg. v. B. Jaspert, Marburg 1971, S. 98. 8 N. Schiffers, Das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft bei Kepler, in: Internationales Kepler-Symposium. Weil der Stadt 1971. Referatp und Diskussionen, hg. von F . Krafft, K. Meyer u. B. Sticker, Hildesheim 1973, S. 325. 9 Ebenda, S. 326. 7

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zu verknüpfen gesucht. Gerade aber in dieser Konzeption des „frommen Kepler" sei der Zündstoff für die weltanschauliche Auseinandersetzung mit den Vertretern der christlichen Religion eingelagert. „Was Kepler ahnte als geometrischer Aufbau dessen, was man seine .Allmystik' genannt hat, war nichts anderes als der Versuch, platonisch sich nicht auf die Sinneserfahrung zu verlassen, sondern jenen Proportionalitäten zu trauen, die als Geometrie im menschlichen Geist ideenhaft ebenso abgebildet sind wie in der Natur. Dieses Vertrauen in die Ideenschau der Vernunft war es, das Kepler begeisterte für Kopernikus, der mehr der Vernunft als der Sinneserfahrung vertraut hatte . . . Für Kepler bleiben zwar die Teildaten aus der exakten Beobachtung Ausgangsposition und später auch Rektifikation seiner idealen geometrischen Gesamtsicht. Aber er bleibt nicht bei der Feststellung von Tatsachen stehen, weil sich für ihn hinter den Fakten ein göttlicher Weltplan eröffnet, dessen Sinnziel der Mensch ist." 10 Schiffers schließt: „Keplers Sehnsucht nach einer Ganzheitsschau, die als eine .vernunft- und naturgemäße' Weltanschauung Ordnung stiften sollte in einer heillos zerstrittenen Welt orthodoxer Detailkünstler, hatte ihn hingetragen zu einer Geometrie, die zum pantheistischen Maßstab für einen Schöpfergott, die Welt und die Menschen wurde. Keplers kirchentreue Frömmigkeit aber hinderte ihn daran, dieser Pantheismustendenz freien Raum zu geben. Eben dieser Frömmigkeit kam als zusätzliche Bremskraft zur Hilfe ein mechanistisches Weltbild, das die überkommene Vorstellung von der Welt-Maschine unter dem neuen Bild von einer Uhr vortrug."11 Schiffers spricht sich also nur bedingt für Pantheismus bei Kepler aus. Egon W. Gerdes urteilt aus der Sicht des Methodisten und hebt angebliche Ansätze Keplers für eine freikirchliche Haltung und den Pietismus hervor. Gerdes betont, daß Kepler nicht ausschließlich dem Neuplatonismus verhaftet sei, sondern auch dem Aristotelismus. In der Forschung ist es m. W. ein Gemeinplatz, daß es im Neuplatonismus selbst auch reichhaltig aristotelische Elemente gibt, zum anderen, daß man sich dem Einfluß des herrschenden Aristotelismus zu dieser Zeit nicht völlig entziehen konnte. Gerdes belegt, daß Kepler sich in seinem Selbst Verständnis immer mehr von der Theologie fortentwickelte. Dafür wird der Briefwechsel Keplers mit M. Hafenreffer als Beleg herangezogen. Aber auch Gerdes will Kepler noch für die Theologie retten: Kepler befinde sich „auf dem Weg weg vom Bibeltheologen, weg vom traditionellen, konfessionellen, religiösen Theologen, hin zum Naturtheologen, hin zum modernen, ökumenischen, säkularen Theologen"12. Gerdes verweist auf den theologischen Einfluß Hafenreffers auf Kepler; 10

Ebenda, S. 330. — Der letzte Satz unter Berufung auf: J. Kepler, Mysterium Cosmographicum, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 1, München 1938, S. 30: „Finis enim et mundi et omnis Creationis Homo est." 11 Ebenda, S. 332. — J. Hübner entwickelt in seinem Aufsatz in diesem Sammelband (J. Hübner, Naturwissenschaft als Lobpreis des Schöpfers. Theologische Aspekte der naturwissenschaftlichen Arbeit Keplers, in: Internationales Kepler-Symposium. Weil der Stadt 1971, a. a. O., S. 335—356) Auffassungen, die er in seinem noch näher zu behandelnden Keplerbuch detaillierter begründet. 12 E. W. Gerdes, Keplers theologisches Selbstverständnis und dessen Herkunft. Gedanken zu Keplers theologiegeschichtlicher Stellung, in: Internationales KeplerSymposium. Weil der Stadt 1971, a. a. O., S. 362.

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Hafenreffer war Melanchthon und Brenz verpflichtet, wenn er auch der Orthodoxie angehörte. Aber Kepler wurde auch von Ch. Besold geprägt. Dieser hatte einen Teil der Schrift von Trajanus Boccalini „Ragguagli di Parnasso" übersetzt und sie J . V. Andreae zugänglich gemacht. Kepler hat immer wieder Gutachten bei Besold eingeholt oder einholen lassen. Seine Vorrede zur „Weltharmonik" hat er z. B. mit Besold besprochen.13 Auch zwischen Kepler und Andreae stellt Gerdes Beziehungen her, über die wir jedoch recht wenig wissen. Wir wissen, daß Kepler 1618 auf Andreae aufmerksam gemacht worden ist, und daß Andreae nach Mästlins Tod einen Teil von dessen Nachlaß erhielt. 14 Kepler hat eher gedanklich auf Andreae eingewirkt. Beide kannten einander aber auch persönlich.15 An einem persönlichen Gottesglauben Keplers besteht kein Zweifel. Aber es geht darum, welchen Gottesbegriff er hatte. Kepler stand gleichsam zwischen den Fronten und wurde von den drei herrschenden christlichen Religionen und ihren professionellen Vertretern angefeindet. Seine Auffassung vom Christentum setzt Traditionen des Humanismus und der Vertreter des „linken Flügels" der Reformation fort und bereitet Spinozas Haltung vor, der es erstmalig in der neueren Geschichte wagte, gar keiner Religionsgemeinschaft anzugehören. In gewisser Hinsicht ist Kepler geistig mit F. Bacon verwandt, worauf noch einzugehen ist. Kepler kamen bereits während seines Theologiestudiums im Tübinger Stift Bedenken hinsichtlich der damals von den Lutheranern vertretenen Ubiquitätslehre. Christus soll danach eine Doppelnatur besitzen, er ist Geist und Fleisch. Nach der Ubiquitätslehre ist auch der Leib Christi allgegenwärtig (communicatio idiomatum), was für das Abendmahl Konsequenzen birgt. Luther selbst hatte verlangt, die Einsetzungsworte im Abendmahl „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib" wörtlich zu verstehen. Im Jahre 1625 sagte Kepler, rückschauend auf seine theologischen Auffassungen zu seiner Studienzeit : „Es war bereits bei mir ein Abscheu gegen diesen Streit [zwischen Calvinisten und Lutheranern — S. W.] groß geworden . . . da begann ich ernste Bedenken zu haben, der so häufigen Verdammung der Calvinisten beizustimmen, und dies auch in der Sache des hl. Abendmahls: denn wenn diesen, nach meinem Urteil, Unrecht geschah bezüglich des einen Kapitels über die Person Christi, so dürfte ihnen ohne Zweifel auch Unrecht geschehen bezüglich des anderen Kapitels über das hl. Abendmahl." 16 In der Abendmahlslehre neigte Kepler also calvinistischen Gedankengängen zu. In der Lehre von der Person Christi 13

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J . Kepler, Weltharmonik, übers, und eingel. von M. Caspar, München — Berlin 1939, S. 33, S. 365. Vgl. W. Schickard, Brief an Kepler v. 15./25. 10. 1618, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 17, hg. v. M. Caspar, München 1955, S. 280; Nachbericht, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 13, München 1945, S. 378. Vgl. dazu Kap. V, S. 266, 327 u. a. J . Kepler, Bemerkungen zu einem Brief Matthias Hafenreffers (1625), in: J . Kepler, Selbstzeugnisse, ausgew. und eingel. von F . Hammer, Stuttgart — B a d Cannstatt 1971, S. 62—63. — Zu Keplers Ablehnung der lutherischen Abendmahlslehre vgl.: J . Kepler an M. Hafenreffer, 11. 4. 1619, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 17, a. a. O., S. 3 4 2 - 3 5 1 . Wollgast

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näherte er sich gedanklich dem Katholizismus. Die Ubiquitätslehre war für Kepler sein Leben lang unannehmbar. Andererseits war und wurde er aber auch kein Calvinist. Die Prädestinationslehre sah er als unmenschlich an. In Briefen an den wissenschaftlich interessierten Jesuitenpater Paul Guldin aus dem Jahre 1628 präzisierte er seine Streitpunkte mit der katholischen Kirche. Vornehmlich die Jesuiten hatten immer wieder versucht, Kepler, den inzwischen berühmt gewordenen Wissenschaftler, für den Katholizismus zu gewinnen. Es ist anzunehmen, daß Kepler 1628 aus den Diensten des Hauses Habsburg schied, weil er die Konversion zum Katholizismus verweigerte. Im genannten Brief an Guldin wendet sich Kepler u. a. gegen folgende Lehren und Einrichtungen der katholischen Kirche: die Bilderverehrung, die Anbetung des eucharistischen Gottes, den Heiligenkult, das Meßopfer und die Kommunion unter einer Gestalt. Er hält sie für unstatthafte Neuerungen, die das Anliegen und Wesen des Christentums verfälschend Kepler stellt sich somit bewußt außerhalb der drei zu seiner Zeit bestehenden großen Religionsgemeinschaften. Dabei ist er keine Kämpfernatur um des Glaubens willen, aber er weicht von seinen Auffassungen keinen Millimeter ab. Er schreibt: „Es ist zwar wol ein ergerliche vnd bey dem gemeinen vnberichten Mann ein sehr kitzelige Aufflag, das jemand so verwegen, stoltz vnd auffgeblasen sein solle, vnd es mit keiner Parthey halten wolle . . . Es thut mir im hertzen wehe, daß die drey grosse factiones die Wahrheit vnder sich also elendiglich zurissen haben, das ich sie stücksweise zusamen suchen muß, wa ich deren ein stuck finde. Ich hab sein aber nicht zu entgelten. Viel mehr befleiß ich mich, die Partheyen zu concilliiren, wa ich es mit der Warheit kan, damit ich es doch ja mit ihrer vielen halten könde . . . Sihe mir gefallen entweder alle drey Partheyen, oder doch zwo gegen der dritten, in hoffnung der einträchtigkeit: Meiner Widersacher aber gefallet jedem nur ein einige Parthey, in einbildung einer ewigen vnversöhnlichen vneinigkeit vnd zancks." 17 Auch hinsichtlich seiner Vorstellungen von der Kirche steht Kepler unter dem Eindruck und Einfluß seines Harmoniedenkens. Kepler wiederholt in seinem Glaubensbekenntnis vom Jahre 1623 nochmals: „Es ist zwar die Welt schon lang her vrdrüß deß vielfaltigen streitens in Religionsachen (So hat mich gedunckt vom 12. Jahr an, meines Alters, habs auch nach vnd nach, als ich erwachsen, von andern vielfaltig erfahren)." 18 Aus dem Buche des Marcantonio de Dominis „De republica ecclesiastica Libri X " zitiert Kepler als seine Forderung, wie die Kirche auszusehen hat: „abstellung aller Confusion vnd vbermaß, widerbringung guter Ordnung: widerkehrung zu der rechten warhafftigen Catholischen Kirch, vnnd zu der Apostolischen Einfalt im Gottesdienst, zuruckschreittung zu dem vrsprünglichen Alphabeth deß Christenthumbs: zuwider allem Gepreng angemaster Hochheit, Reputation oder Ansehen, zuwider aller vnruhe, streit, zanck, auffruhr, Schwierigkeit vnd frevele des gemeinen Volckes, obsieg deß vralten herkommens, der standhafftigkeit, J. Kepler, Das Glaubensbekenntnis vom Jahre 1623 nach, dem auf der Bibliothek des Prediger-Seminars in Wittenberg wiederaufgefundenen Original, hg. von W. von Dyck, in: Abhandlungen d. Kgl.-Bayer. Akad. d. Wiss., Math.-phys. Kl., München 25 (1912) 9, S. 19. »8 Ebenda, S. 24. 17

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guten raths, discretion, behutsamkeit, gebührlichen ernstes, Massigkeit vnd Bescheidenheit." 19 (Wie wir sahen [Kap. I I I ] , fußte auch G. Calixt auf M. de Dominis.) Auch Kepler ist Ireniker, allerdings vom Schlage Berneggers, nicht Calixts. Nach Kepler soll eine Reformation der Kirche durchgeführt werden. Pracht, Hochmut usw. sollen aufhören. Das sind zugleich reformatorische Motive, wie wir sie auch bei den „Linken" der Reformation oder etwa bei V. Weigel, den Rosenkreuzern und J . Böhme immer wieder finden. Wenn Kepler die Konkordienformel nicht unterschreibt, wenn er immer wieder auf die „Confessio A'ugustana" zurückgeht, so ist das in jener Zeit bereits ein eindeutiges Abrücken vom Lehrinhalt einer Kirche, die sich von den Idealen des Frühchristentums, aber auch vom Anliegen der Reformation entfernt hat. Kepler erklärt in seinem „Glaubensbekandtnus" zusammenfassend, worauf sein Glaube basiere: auf der Bibel in ihrer Originalsprache und, wo die Bibel sich widerspreche, wie hinsichtlich der Person Christi, auf ihrer zur Abwehr von Irrlehren notwendigen Auslegung durch die ersten Hauptkonzilien, Hauptbekenntnisse und die ersten Kirchenväter. Die Augsburger Konfession anerkenne er, die Konkordienformel soweit, als sie mit ihr übereinstimme. Übrigens wurde der Druck des „Bekenntnisses" in Straßburg durch Vermittlung Berneggers besorgt, 20 die Spur des Druckortes wurde getilgt, die Auflage betrug 100 Exemplare. Kepler hält in seinem „Glaubensbekandtnus" auch die Jesuiten und Calviner hinsichtlich der Person Jesu Christi für noch gemäße Ausleger des Evangeliums. Die drei christlichen Religionsparteien haben die Wahrheit unter sich zerrissen. Gott aber antworte mit Heimsuchungen des streitsüchtigen Deutschland. Kepler wolle sich gegen sein Gewissen nicht zum Knecht der Theologen machen. Kepler hat seiner kompromißlosen Haltung wegen viele Nachteile gehabt. 1612 wurde er in Linz vom Abendmahl ausgeschlossen. Das kommt einem Ausschluß aus der lutherischen Kirche gleich, in der es ja keine Exkommunikation gibt. Es ist nicht verwunderlich, daß Kepler beim Württembergischen Konsistorium verzweifelte — und ergebnislose — Schritte unternahm, um diese Entscheidung rückgängig zu machen. Die damalige enge Verflechtung von kirchlichem und bürgerlichem Leben hätte auch Konsequenzen für Keplers bürgerliche Existenz haben können. Seinen einzigen Schutz bildete hinfort das Patent eines kaiserlichen Hofmathematikers. Verbunden mit seinem Können, schützte es ihn vor religiösem Fanatismus und ermöglichte ihm, die Hinrichtung seiner Mutter als Hexe zu verhindern. Die „Ausschließung" Keplers aus seiner Religionsgemeinschaft ist übrigens nie zurückgenommen worden. Der Begründer eines neuen Weltbildes war zu sehr Naturwissenschaftler, um an kleinlichem Theologengezänk Gefallen zu finden. E r war zu groß und zu weitsichtig, um sich ihm zu beugen. In seiner „Neuen Astronomie" schreibt Kepler gleichsam als Glaubensbekenntnis: „Auf die Meinungen der Heiligen m Ebenda, S. 25. Vgl. J. Kepler an M. Bernegger, 21. 8. 1623, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, hg. v. M. Caspar, München 1959, S. 1 3 6 - 1 3 7 ; J. Kepler, Das Glaubensbekenntnis vom Jahre 1623, a. a. O., S. 3—4.

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aber über diese natürlichen Dinge antworte ich mit einem einzigen Wort: In der Theologie gilt das Gewicht der Autoritäten, in der Naturwissenschaft aber das der Vernunftgründe. Heilig ist nun zwar Laktanz, der die Kugelgestalt der Erde leugnete, heilig Augustinus, der die Kugelgestalt zugab, aber Antipoden leugnete, heilig das Offizium unserer Tage, das die Kleinheit der Erde zugibt, aber ihre Bewegung bestreitet. Aber heiliger ist mir die Wahrheit, wenn ich, bei aller Ehrfurcht vor den Kirchengelehrten, aus der Philosophie beweise, daß die Erde rund, ringsum von Antipoden bewohnt, ganz unbedeutend und klein ist und auch durch die Gestirne hin eilt." 21 Ähnliche Worte lassen sich bei Kepler in nicht geringer Zahl finden. Otto Zöcklers Behauptung ist also unhaltbar 22 , daß Kepler „ein treuer, religiös begeisterter Sohn seiner Kirche zeitlebens war und blieb" 23 . Will man die religiös geprägte Weltanschauung Keplers und seinen Gottesbegriff wissenschaftlich fassen, so macht sich ein Hinweis auf die Philosophie der Renaissance erforderlich. Wir haben ihre Grundzüge oben dargestellt (vgl. Kap. II). Gehen wir bei Kepler einigen dieser Punkte nach. Es wird sich dabei erweisen, daß Marx' bereits zitierte Bemerkung über F. Bacon: „Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glänze den ganzen Menschen an. Die aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen" 24 , auch für Keplers philosophische Auffassungen gilt. Sie ist charakteristisch für die Theoretiker des Übergangs von der Renaissance zur Neuzeit. Es wäre verfehlt, Kepler mit den Naturphilosophen der Renaissance in seiner Weltanschauung gleichzusetzen. Er gehört — in seinem Denken — schon weitgehend einer Epoche an, die die exakten Naturwissenschaften begründete, die Quantitäten in den Vordergrund stellt. Wie weit er aber noch der Renaissancephilosophie verhaftet und verpflichtet ist, mögen einige Beispiele zeigen, die gleichzeitig verdeutlichen, wie fern Kepler den kirchlichen Lehrmeinungen seiner Zeit steht. So schreibt er an D. Fabricius, einen friesischen Pfarrer, 21

J. Kepler, Neue Astronomie, übers, und eingel. von M. Caspar, München — Berlin 1929, S. 33. 22 Auch bei L. Günther, Ich greife Gott mit Händen. Johannes Kepler in christlicher Sicht. Neugestaltung des Textes durch J. Günther, 3. Aufl., Berlin 1960, wird diese theologische Inanspruchnahme durchzuführen gesucht. (Das Kepler-Wort, auf das der Titel anspielt, vgl. J. Kepler an Baron Strahlendorf, Prag am 23. Oktober 1613, in: Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 2, hg. von M. Caspar und W. von Dyck, München — Berlin 1930, S. 26.) Das Buch ist eine modernisierte Fassung der Arbeit von L. Günther: Kepler und die Theologie. Ein Stück Religions- und Sittengeschichte aus dem XVI. und XVII. Jahrhundert, Gießen 1905. — In der bürgerlichen Literatur zu Kepler wird fast durchgängig seine „tiefe Frömmigkeit" zur Grundlage seiner Weltanschauung erklärt. Vgl. z. B. J. Engert, Keplers Philosophie und Astrologie, in: Johannes Kepler. Der kaiserliche Mathematiker. Zur Erinnerung an seinen Todestag vor 300 Jahren, hg. von K. Stöckl (Kepler-Festschrift, T. 1), Regensburg 1930, S. 168—178; J. Hemleben, Johannes Kepler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1971. Weitere Belege siehe unten. 23 O. Zöckler, Johannes Kepler, in: O. Zöckler, Gottes Zeugen im Reich der Natur. Biographien und Bekenntnisse großer Naturforscher aus alter und neuer Zeit. T. 1, Gütersloh 1881, S. 166. 2 * K. Marx/F. Engels, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, a. a. O., S. 135-136.

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der die Mira Ceti, den veränderlichen Stern im Walfisch, entdeckt hatte: „Ich stehe der Lehrmeinung nahe . . . das ganze All sei von einem und demselben fortwährend gestaltenden Geist beseelt, der um des Schönen und Besseren willen tätig ist und weiß, was aus jeglicher überschüssigen Materie am besten zu machen ist. So verwandelt er den Schweiß der Frauen und Hunde in Flöhe und Läuse, den Tau in Heuschrecken und Raupen, den Leim in Aale, . . . die Erde in Pflanzen, das Aas in Würmer, den Kot in Käfer, neben unendlich vielem Neuen und Ungewöhnlichen . . . Überall könnt ihr irgendetwas Feuchtes beobachten, das Samennatur besitzt und die Mannigfaltigkeit der Arten hervorbringt . . . Jener allgemeine Weltgeist scheint das zu leisten, daß alles gegenseitig geordnet ist, daß eine neue Kreatur geeignete Körperorgane erhält." 2 5 Im gleichen Brief, in dem Kepler auch die Schwere von Mond und Erde als ihre Seele bezeichnet, heißt es weiter: „Da aber fast nichts im ganzen Körper ist, was nicht dereinst gelebt hat, was nicht bis zu einem gewissen Grad schlammig ist, so gibt es nichts was nicht in ein Lebewesen überginge, teils schneller, teils langsamer, wie bei alten Bäumen, je nachdem die von der Herrschaft der Seele noch übrigbleibende Wärme lang oder kurz in dem betreffenden Stoff herrscht." 2 6 Keplers Gedanke der Allbeseeltheit klingt hier an. E r entspringt seinem Streben nach universeller Weltharmonie und birgt gleichzeitig dialektische Elemente. Treffend formuliert R . Wahsner: „Keplers Harmoniebegriff liegt die Idee zugrunde, mit Größengleichungen (Proportionsgleichungen, die sich auf .benannte Zahlen' beziehen) wesentliche Erscheinungsformen natürlicher Bewegungen darzustellen. Harmonien sind ihm Proportionsverhältnisse, die zwar das Bewußtsein autonom konstruieren kann, die aber empirisch in den Zusammenhängen der materiellen Gegenstände nachgewiesen werden müssen, wenn sie den Rang von Gesetzen haben sollen. Die Keplersche Harmonienlehre ist so eine Lehre des Entwerfens geometrisch-theoretischer Modelle zur Erklärung von Naturbewegungen. Derartige Entwürfe sind aus Keplers Sicht notwendig, weil das Sinnlich-Konkrete nicht das Abstrakte und dieses daher nicht unmittelbar sichtbar ist." 2 7 Rationalismus und Empirismus, die sog. zwei Grundrichtungen des 17. J h . , finden sich bei Kepler noch nicht getrennt. 28 Kepler nimmt eine Erdseele an. Eine ihrer Hauptaufgaben ist es, die RotaJ. Kepler an D. Fabricius, 11. Oktober 1605, in: Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 250f. — In der „Harmonice mundi" stellt Kepler unter Berufung auf Piaton und Proklos fest, „daß der Christ sehr wohl unter dem Platonischen Geist Gott den Schöpfer und unter der Seele die Natur der Dinge verstehen kann" (J. Kepler, Weltharmonik, übers, und eingel. von M. Caspar, a. a. O., S. 255). 26 Ebenda, S. 251. 21 R. Wahsner, Weltharmonie und Naturgesetz. Zur wissenschaftstheoretischen und wissenschaftshistorischen Bedeutung der Keplerschen Harmonielehre, in: DZfPh, Berlin 29 (1981) S. 542. 28 „Der . . . Prozeß der Auflösung des mittelalterlichen Naturgesetzbegriffes läßt sich . . . in eine einfache Formel fassen: Das Naturgesetz ist die vernünftige Ordnung der Welt zum Guten. Diese Idee wird im Nominalismus abgeschwächt, in Mystik und Renaissance in die Lehre von einer ästhetischen Harmonie der Welt umgedeutet, von der Reformation geleugnet und schließlich auch von den nicht religiösen Denkern aufgegeben. Sie ist der Ausdruck der ständisch-traditionalistischen Gesellschaftsordnung. Sie schwindet mit dieser." (F. Borkenau, Der Übergang vom

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tion der Erde zu bewerkstelligen. Von der Existenz einer Erdseele zeuge die stetige unterirdische Wärme, die sich im Ätna und in den zahlreichen Thermen äußert, denn die Materie an sich sei kalt, weshalb die Wärme immer eine Seele zur Voraussetzung habe, die von Feuer oder Licht begleitet wird. Auch die Metalle, Mineralien, Versteinerungen usw. sind Schöpfungen einer solchen Seele. Neben anderen Erscheinungen ist auch die bildende Kraft (facultas formatrix) Äußerung dieser Seele, die Kepler in allen Teilen der Welt wahrnimmt. In der Luft bringt sie z. B. Heuschrecken, Fliegen, die sechseckige Gestalt des Schnees usw. hervor. Für die Tätigkeit einer Seele spreche auch die Anwendung der geometrischen Formen. Am deutlichsten aber kommt die Tätigkeit der Erdseele in der Erfassung der himmlischen Geometrie zum Ausdruck. Das Wesen der „Erdseele" sucht Kepler im 7. Kapitel des 4. Buches seiner „Harmonice mundi" näher zu kennzeichnen. Wie sich auf der Oberfläche der Körperhaut Haare befinden, so bringt die Erde Bäume und Pflanzen hervor. Den Ausflüssen aus Augen, Nase und Ohren beim Tier entsprechen Bernstein und Asphalt bei der Erde. An Stelle der übrigen Ausscheidungen der Lebewesen bemerken wir bei der Erde Quellen und Bäche, Schwefel, unterirdische Feuer, Donner, Blitze. Wie in den Adern der Tiere Blut erzeugt wird, so bilden sich in den Gängen der Erde Metalle, Regendämpfe u. a. Wie die übrigen Lebewesen sich durch Speise ernähren, so nimmt der Erdkörper Nahrung in sich auf: das gesalzene Meerwasser. Wir finden hier bei Kepler 29 eine Anthropomorphisierung der Natur. Das „Lebewesen Erde" kann auch in schwere Krankheit verfallen. So wird bei Sonnenfinsternis auch das gewaltige „Erdtier" erschreckt. Ja, dieses Erdtier vermag sogar zu empfinden. Kepler bezieht sich auf Berichte, wonach sich sofort gewaltige Stürme erheben, wenn man in tiefe Krater hoher Berge bzw. in tiefe Bergseen Steine wirft. Die Erdseele sei ihrer Art nach so etwas wie eine Flamme und über die ganze Erde hin ausgegossen. Gleichzeitig findet Kepler Analogien von Erscheinungen im und auf dem Erdkörper zu Lebensäußerungen des tierischen Körpers. Das Auf- und Abschwellen der Meere in den Gezeiten deutet er als Atmung des Erdkörpers und vergleicht es mit der Tätigkeit der Fische, die das Wasser mit dem Maul „einschlürfen und dann wiederum durch die Kiemen herauspressen". An seinen Vertrauten, den bayerischen Kanzler H. G. Herwart von Hohenburg, schreibt Kepler über die Idee des Mikro- und Makrokosmos: „Der Leib ist ein Bild der Welt (daher Mikrokosmos); die Form der Körper, die Mannigfaltigkeit der Seelen, der Schicksale sind Bilder der Mannigfaltigkeit, die unter den Gestirnstellungen am Himmel herrscht." 30 In seiner „Harmonice mundi" meint Kepler, daß das Abbild des ganzen sichtbaren Tierkreises in das Innerste der Seele einströmt. Ewa Chojecka stellt fest, daß Kepler vom Florentiner Neuplatonismus beeinflußt sei, daß er sich eigentlich gegen allegorische Darstellungen in der wissenfeudalen. zum bürgerlichen Weltbild, a. a. O., S. 97.) — Borkenaus einseitige Ableitung der Entstehung der neuen Naturwissenschaft und Philosophie aus dem Kapi29 30

talverhältnis findet sich auch in einigen marxistischen Publikationen. Vgl. dazu bes. J. Kepler, D e Stella nova in pede Serpentarii (1606), in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 1, München 1938, Kap. 27 (S. 280-292). J. Kepler an H. G. Hervvart von Hohenburg am 9.—10. April 1599, in: Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 108.

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schaftlichen Literatur wendet. Die allegorische Deutung war damals für die Alchemisten aller Schattierungen charakteristisch. So macht Kepler Robert Fludd in Oxford zum Vorwurf, daß er seine Werke durch Bilder verdunkle, und bezeichnet sie als magische Talismane, als „aenigmatae et tenebrosae". 31 Wenn Kepler selbst die allegorische Illustration anwendet (z. B. in Gestalt des Titelkupfers zu den „Rudolfinischen Tafeln"), so offenbar, um die Aufmerksamkeit des Kaisers, eines Laien, im größeren Maße auf sich bzw. sein Werk zu lenken. Generell erscheint Kepler als „einer der letzten Bekenner des Neuplatonismus, als kompliziert und voller Gegensätze. Er bekennt sich einerseits zu den Ansichten der Renaissance, deren Ästhetizismus die Welt als harmonische Einheit begrüßt und diese mit Hilfe symbolischer Illustrationen und goldschmiedener ,machinae mundi' zum Ausdruck bringt. Andererseits distanzierte ihn der strenge Rationalismus des Naturforschers, für den das Zeitalter der Aufklärung Kepler so außerordentlich hochschätzen sollte, von jeglichen künstlerischen Versuchen, die die Klarheit seiner naturwissenschaftlichen Theorie trüben könnten; daher die Einschränkung der Rolle des Bildes im wissenschaftlichen Werke zum einfachen geometrischen Diagramm und dadurch die Anfechtung des Glaubens der Renaissance vom Werte des Kunstwerks als Instrument der Erkenntnis." 32 Kepler ist also nicht als durchgängiger Renaissancephilosoph zu charakterisieren. Er übernimmt viele Ideen von der Mystik, wird aber nicht zum Mystiker. Er hält zwar Pythagoras für den Großvater des Copernicus, ist aber letztlich der pythagoräischen Zahlenspielerei abhold. In seinem Werk ist der platonische Einfluß unverkennbar, aber dieser Piatonismus ist durch den Neuplatonismus „gefiltert". Proklos war für Kepler „der eigentliche Philosoph seiner Wahl" 33 . Noch Hegel fällt über den Philosophen Proklos ein sehr positives Urteil. In der Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jh. wird es, nicht zuletzt wegen Proklos' mystischer Züge, entschieden zurückgenommen. Dabei hat Proklos Aristoteles wie Piaton weitergedacht. Schon auf Copernicus hat er anregend gewirkt, und Rheticus hat sein Studium empfohlen. 1560 war die erste Ausgabe der mathematischen Schriften des Proklos in lateinischer Sprache erschienen. Er versuchte, Euklids „Elemente" im Sinne von Aristoteles' „Analytica posteriora" zu interpretieren. Neuplatonismus wirkt bis zu Kepler progressiv. Es gibt Versuche, in dieser Zeit Neupythagoreismus und Neuplatonismus sauber zu scheiden und Kepler mehr dem Neupythagoreismus zuzuschlagen. Das ist zu schematisierend. Ich möchte es mit Kristeller halten, der beide Richtungen — Neupythagoreismus und Neuplatonismus — in einer gewissen 31

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„Man k a n n a u c h sehen, d a ß er [R. Fludd — S. W.] seine H a u p t f r e u d e a n u n v e r ständlichen Rätselbildern von der Wirklichkeit h a t , w ä h r e n d ich darauf ausgehe, gerade die in Dunkel gehüllten T a t s a c h e n der N a t u r ins helle Licht der E r k e n n t n i s zu rücken. J e n e s ist Sache der Chymilcer, H e r m e t i k e r u n d Parazelsisten, dieses dagegen Aufgabe der M a t h e m a t i k e r . " J . Kepler, W e l t h a r m o n i k , a. a. O., S. 362 (Anhang). E. Chojecka, J o h a n n K e p l e r u n d die K u n s t . Z u m Verhältnis von K u n s t u n d N a t u r wissenschaften in der Spätrenaissance, i n : Zeitschrift f ü r Kunstgeschichte, München - Berlin (West) 30 (1967) S. 66. K. Vorländer, Philosophie der Renaissance. Beginn der N a t u r w i s s e n s c h a f t , a. a. O., S. 117.

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Verbindung sieht: „Der mittlere Piatonismus hatte viele Elemente mit dem Neupythagoreismus gemeinsam, der in den ersten Jahrhunderten unserer Ära blühte und viele platonisierende Werke unter dem Namen des Pythagoras und seiner ersten Schüler fälschte; auch bestehen viele Gemeinsamkeiten mit den Hermetikern . . . Als der Jude Philo und nach ihm die alexandrinischen Kirchenväter Clemens und Orígenes die ersten Versuche unternahmen, die Lehren der biblischen Religion mit griechischer Philosophie zu verbinden, war es gerade der zu ihrer Zeit populäre Piatonismus, der ihnen die zahlreichsten und wichtigsten Lehrelemente lieferte. So war man sowohl auf heidnischer wie auf christlicher Seite gut vorbereitet, als der philosophische Piatonismus . . . unter Ammonios Sakkas und seinem großen Schüler Plotin in Alexandrien wieder lebendig wurde." 34 Mehrfach bezieht sich Kepler auf Nicolaus von Kues. Durch seinen Lehrer M. Mästlin soll er bereits in seiner Tübinger Studentenzeit mit des Cusaners „Docta ignorantia" bekannt geworden sein. Kepler ist Mathematiker, exakter Naturwissenschaftler. In der „Harmonice mundi" geht es um Zahlen, Kepler will, ausgehend von seiner pantheistischen Weltanschauung, die Weltharmonie exakt naturwissenschaftlich bzw. mathematisch beweisen. So wird spezifisch geformter Neuplatonismus für ihn progressiv anregend. Das ist auch an seiner Arbeit „Strena seu de Nive Sexangula" (1611), Keplers bedeutendem Beitrag zur Kristallographie, zu belegen. 35 Die Arbeit berichtet von Keplers Überlegungen auf dem Weg zu dem mit ihm befreundeten Reichshofrat J . M. Wacker v. Wackenfels, dem er ein Neujahrsgeschenk überreichen wollte. Die Gedanken wechseln einander ab, widerlegen oder bestätigen vorangegangene Überlegungen, bisweilen verändern sie plötzlich den Gang der vorhergehenden Gedanken. Am Anfang steht Keplers Frage: „. . . warum der Schnee beim ersten Fallen, bevor er sich zu größeren Flocken ballt, immer sechseckig, gefiedert wie feiner Flaum und sechsstrahlig herabfällt". Die Versuche, diese Frage erschöpfend zu beantworten, bilden den Inhalt des folgenden Textes. Kepler kehrt immer wieder zum Hauptthema seiner Abhandlung zurück: „Warum aber Sechsecke?" Möglicherweise, überlegt er, hängt das damit zusammen, daß „das Sechseck die Ebene lückenlos bedeckt". Aber Dreiecke und Vierecke haben ebenfalls diese Eigenschaft. E r vermutet, daß hier das Sechseck auch nach materiellen Notwendigkeiten vom Formvermögen ausgewählt wird, damit nicht etwas leer bleibe und die Verdichtung des Wasserdampfes zur Konsistenz des Schnees um so besser vor sich gehen könne. In Kreisform könnte sie am besten erfolgen: Doch da zwischen kleinen Kreisflächen leere Felder bleiben, wird eine dem Kreis recht ähnliche Figur gewählt. Hier erinnert sich Kepler seiner Zeichnungen, die eine dichteste Anordnung von Kugeln auf einer Fläche darstellen, bei 34

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P. O. Kristeller, Humanismus und Renaissance, Bd. 1: Die antiken und mittelalterlichen Quellen, hg. von E . Keßler, München 1974, S. 5 2 - 5 3 . Vgl. zum folgenden: J . J . Safranovskij, Keplers Abhandlung „Über den sechseckigen Schnee", in: Wissenschaft und fortschritt, Berlin 21 (1971) S. 572—576. Die folgenden Keplerzitate werden gegeben nach: J . Kepler, Strena. Neujahrsgabe oder vom sechseckigen Schnee, übers, von F . Roßmann, Berlin 1943; vgl. J . Kepler, Weltharmonik, a. a. O., S. 259ff. u. ö.; ebenso Keplers Schriften „Über den Kometen" (1607) und „Epitome Astronomiae Copernicanae" (1617).

Keplers Neuplatonismus

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der jede Kugel von sechs Nachbarkugeln umgeben ist. Damit wies er erstmalig auf eine mögliche kristallographische Bedeutung des Prinzips der dichtesten Kugelpackung hin, das eine wichtige Rolle in der gesamten strukturellen Kristallographie spielt. In Hauptzügen skizziert er auch ein Schema des Ornaments, das der Realstruktur des Eises zugrunde liegt. Leider distanziert sich Kepler anschließend von seiner eigenen Hypothese, mit der er die Ursache der sechseckigen Form der Schneeflocken so erfolgreich beschrieben hatte. Das liegt daran, daß er jede Kugel als den Keim eines einzelnen Schneekriställchens betrachtet und nicht als Elementarteilchen (Korpuskel), das in das Kristallgitter eingeht. Abschließend bemerkt Kepler, daß die formgebende Kraft der Erde nicht nur eine sechseckige Form erfaßt, obwohl alle „Kristalle" (des Quarzes) und die Oktaeder des Diamanten sechseckig sind. In Dresden hatte Kepler „ein Tischchen inkrustierten Silbers mit Kupfer, aus dem — wie eine Blume — ein schönes Oktaeder ungefähr so groß wie eine Nuß leuchtete, das bis zur Hälfte bemerkbar war . . .", gesehen. Hier ist offenbar vom Pentagododekaeder des Pyrits die Rede. Auch erwähnt Kepler die unter fossilen Körpern gefundenen „Vorderteile eines Ikosaeders". Offensichtlich hatte er Pyritkristalle gesehen, deren Form durch die Kombination eines Pentagododekaeders mit einem Oktaeder zu erklären war. Kepler spricht selbst in seiner „Weltharmonik" von der „formierenden Kraft", „die sich im Innern der Erde befindet und ähnlich einer gebärenden Frau fünf regelmäßige geometrische Körper in den Formen der Edelsteine erzeugt". Hier werden natürlich die fünf regelmäßigen konvexen Polyeder — die „Körper Piatons" — berücksichtigt (Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosaeder). Daher folgert er, daß „dieses Formvermögen bei verschiedenen Flüssigkeiten verschiedenartig" ist. Er denkt offenbar an die speisende Umgebung (Mutterlösung), von deren Zusammensetzung Stoff und Form des Kristalls abhängen. Kepler erinnert sich auch der „kubisch-rhombischen Gestalt des Vitriols" und der Gestalt, die für den Salpeter charakteristisch ist. Im Zusammenhang damit wendet er sich an die „Chemiker" mit der Bitte zu klären : „Befindet sich im Schnee nicht eine gewisse Menge Salz?" Die Idee von der Rolle des Salzes bei der Formgebung der Kristalle wurde später von C. von Linné aufgegriffen. 36 Kepler arbeitet — ähnlich G. Bruno — die neuplatonische Emanationslehre soweit um, daß Gott als Baumeister des Universums erscheint, und geht damit auf Piaton zurück. Kepler äußert: „. . . wir sehen hier, wie Gott, gleich einem menschlichen Baumeister, der Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt herangetreten ist und jegliches so ausgemessen hat, daß man meinen könnte, nicht die Kunst nehme sich die Natur zum Vorbild, sondern Gott selber habe bei der Schöpfung auf die Bauweise des kommenden Menschen geschaut." 37 Piaton stand in der Tradition der griechischen Mythologie, und schon sie 36 37

Vgl. K. v. Linné, Natur-Systema, oder D i e in ordentlichem Zusammenhange vorgetragene Drey Reiche der Natur . . ., Halle 1740. J. Kepler, Widmungsschreiben zum „Mysterium cosmographicum", in: Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. I, a. a. O., S. 33 f. — Nach Bruno ist nicht zu bezweifeln, „. . . daß die Welt mit all ihren Gliedern belebt sei, als ob Gott sein Abbild beneidete, als ob der Baumeister sein herrliches Werk nicht liebte, von dem Piaton

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kannte keine Schöpfung aus dem Nichts — im Gegensatz zum jüdisch-christlichen Mythos. „Die griechischen Götter schaffen nicht, sie zeigen nur. Freilich ist Piatons Gott, wie er uns besonders im .Timaios' entgegentritt, ein Schöpfer; aber sein Schöpfertum gleicht dem der Handwerker und Künstler. Wie diesen zu ihren Werken Ideen und Material gegeben sein müssen, so ist auch Piatons Schöpfergott an Gegebenes gebunden, nämlich an das ewig Seiende, an die Ideen, an das wahre Sein und an das ewig Werdende, an das Veränderliche, an das nicht wahre Sein, das Nichtsein. Piatons Ideen sind nicht die Gedanken Gottes, die dieser vor der Erschaffung der Welt dachte." 3 8 Kepler mag hier auch Teleologie im Sinne des physiko-teleologischen Gottesbeweises vorschweben. Es wäre völlig falsch, aus seinen Äußerungen auf einen Materialismus Keplers schließen zu wollen. Er war seiner weltanschaulichen Haltung nach vorrangig idealistischer Pantheist. Seine antiken Ahnherren sind Pythagoras und Euklid, Piaton und besonders Proklos. Aber wie er sie übernimmt — das ist in seiner Zeit progressiv! Daß sich auch über den Pantheismus hinausführende Ansätze in seinem Werk finden, sei hier nur an einem Keplerwort verdeutlicht. Er schreibt: „Mein Ziel ist es . . . zu zeigen, daß die himmlische Maschine nicht eine Art göttlichen Lebewesens ist, sondern gleichsam ein Uhrwerk (wer glaubt, daß die Uhr beseelt ist, der überträgt die Ehre des Meisters auf das Werk), insofern darin nahezu alle die mannigfaltigen Bewegungen von einer einzigen ganz einfachen magnetischen körperlichen Kraft besorgt werden, wie bei einem Uhrwerk alle die Bewegungen von dem so einfachen Gewicht. Und zwar zeige ich auch, wie diese physikalische Vorstellung rechnerisch und geometrisch darzustellen ist." 3 9 Letztlich ist die Suche nach und das Auffinden von verallgemeinerten Aussagt, daß er an seinem Werke Wohlgefallen habe wegen der Ähnlichkeit mit sich, die er darin erblicke. Und wahrlich, was kann sich den Augen der Gottheit Schöneres darstellen als dieses,Universum . . .?" (G. Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, übers, v. P. Seliger, Leipzig 1984, S. 51.) H. Seidel, Von Thaies bis Piaton. Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Berlin 1980, S. 213-214. - Vgl. J . Hübners Auffassung: „Gott wird als Weltarchitekt gedacht, der den Kosmos nach den Gesetzen der Geometrie aufgebaut hat" (J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft, Tübingen 1975, S. 175). Zu Recht schreibt G. Lebzeltern: „. . . für ihn [Kepler] war Gott nur zu oft und an entscheidenden Stellen eine bloße naturwissenschaftliche Erklärungshypothese." (G. Lebzeltern, Johannes Kepler und die Astrologie, in: Philosophia naturalis, Meisenheim/Glan 13 [1971] S. 29.) Zu Keplers PiatonVerständnis vgl. F . Novotny, The Posthumous Life of Plato, Prag 1977, S. 4 2 7 - 4 2 9 . „Während die aristotelische Philosophie mathematische Methoden in der Naturforschung für unsinnig hielt, werden im Neuplatonismus der Renaissance Wege gesucht für mathematische Darstellungen der Natur. Für den antiken Platonismus war die Welt ein unvollkommenes Abbild der vollkommenen, für. sich existierende Ideen. Im Neuplatonismus der Renaissance werden nun immer stärker die Ideen direkt mit den mathematischen Gebilden identifiziert. Die hinter den sichtbaren Erscheinungen liegenden Ideen gehorchen wegen ihres idealen Charakters den Gesetzen der Geometrie, j a sie sind die Geometrie! Man gewinnt die Ideen durch Abstraktion, indem man von unwesentlichen Eigenschaften der Erscheinungen absieht." , (M. Heidelberger/S. Thiessen, Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, a. a. O., S. 69.) 3 9 Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. I, a. a. O., S. 219.

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NEUPLATONISMUS

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drücken von Naturgesetzen eine Errungenschaft der Wissenschaft der „Neuzeit". Die Künstler und „Ingenieure" an den feudalen Höfen Europas erfanden — wie auch die Asiens — Automaten, Wasserspiele, Feuerwerke usw., ohne auf Fortschritte zu achten oder Gesetze zu suchen. Es kann auch ein experimentelles Verhalten gegenüber der Natur geben, ohne daß Gesetze formuliert oder die erworbenen Kenntnisse als Fortschritt aufgefaßt werden (vgl. Kap. II, Kap. IX). Kepler aber ging es generell um die Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaften. In dieser Hinsicht gehört er voll der Neuzeit, nicht mehr der Renaissance an. Dabei ist Kepler von einem mechanischen Materialismus — etwa der klassischen Art des Thomas Hobbes — noch weit entfernt. Am 12. 5. 1608 schreibt er an Tanckius in Leipzig: „Denn mit Symbolen wird nichts bewiesen; es wird in der Naturphilosophie durch geometrische Symbole nichts Verborgenes enthüllt, vielmehr nur vorher schon bekannte Dinge zusammengefügt, falls nicht mit sicheren Gründen bewiesen wird, daß es sich nicht nur um Symbole handelt, sondern um eine Darstellung von Art und Ursache der Verbindung beider Gebiete . . ." 40 Kepler nähert sich bisweilen — bei steter Bevorzugung des idealistischen Pantheismus — einem Standpunkt, den wir heute als naturwissenschaftlichen Materialismus bezeichnen. Von größter Bedeutung für das gesamte naturwissenschaftliche Denken waren drei Grundsätze der Naturforschyng, von denen Kepler ausging und die auch seine Weltanschauung formten: 1. Jede Naturphilosophie hat von der Erfahrung auszugehen. Eine naturwissenschaftliche Aussage muß quantitativ mit den Beobachtungen der Natur übereinstimmen. 2. Der Naturforscher darf sich nicht auf die Meinungen von Autoritäten stützen; seine Autorität ist allein die experimentelle Bestätigung der mathematisch gefaßten Gesetze der Natur. Gerade dieser Grundsatz war von entscheidender Bedeutung für das Überwinden dogmatisch-metaphysischen bzw. scholastischen Denkens. 3. Der Naturforscher soll vom Sein der Dinge, die man mit den Sinnen erfaßt, zu den Gesetzen ihres Seins und Werdens vordringen, auch wenn kein Nutzen damit verbunden ist. Dieser Punkt bezeugt wieder das Renaissancedenken bei Kepler. Die beiden ersten Punkte sind Grundprämissen der weitgehend materialistischen bürgerlichen Philosophie des 17. Jh., wie sie etwa F. Bacon im „Novum Organon" dargelegt hat. (Vgl. die Ausführungen zu Bacon, Kap. II und VII.) Keplers gesamtes wissenschaftliches Werk muß immer auch unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gesehen werden. Er steht — das sei wiederholt — am Anfang der Periode, die zur mechanischen Naturauffassung, dann aber auch zum mechanistischen und metaphysischen Materialismus einerseits, zum klassischen Idealismus andererseits führt. Die Naturwissenschaft wendet sich in seiner Zeit immer stärker dem praktischen Leben zu. Die Bedürfnisse der jungen aufstrebenden Bourgeoisie treiben dazu. Die Universitäten verharren dagegen vornehmlich weiter im Geist der Schulmetaphysik. Zu Beginn des 17. Jh. werden fast alle wissenschaftlichen Entdeckungen außerhalb der Universitäten gemacht. Wenn gesagt wird, daß Kepler am Anfang der gesamten Entwicklung steht, so heißt das zugleich, daß er noch keiner der «> Ebenda, S. 312.

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beiden Grundrichtungen, weder dem Materialismus noch dem Idealismus, eindeutig zuzuordnen ist. Die Kennzeichnung „idealistischer Pantheist" ist nur eine vorläufige Bestimmung. Die bekannteste astronomische und auch weltanschaulich bedeutungsvollste Leistung Keplers ist die Entdeckung der nach ihm genannten Gesetze der Planetenbewegung. Sie machen exakte Aussagen über die Bahnform der Planeten bei ihrem Lauf um die Sonne, die Stellung der Sonne in der Planetenbahn, die Geschwindigkeit der Planeten in der Bahn und geben einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem Abstand eines Planeten von der Sonne und seiner Umlaufzeit. Sie erscheinen einfach und übersichtlich und sind leicht verständlich: 1. Die Bewegung der Planeten um die Sonne erfolgt in Ellipsenbahnen. In einem Brennpunkt der Ellipse steht die Sonne; 2. Die Verbindungslinie Sonne — Planet überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Das bedeutet, daß sich der Planet nicht in allen Teilen seiner Bahn mit gleicher Geschwindigkeit bewegt; 3. Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen der großen Bahnhalbachsen. Die beiden ersten Gesetze hatte Kepler in der „Astronomia nova" (1609) veröffentlicht. Sie ist das erste Astronomiebuch, in dem die Beschränkung auf kinematische Planetenbewegungen „more Ptolemaico" aufgegeben und der Weg zur Himmelsmechanik gewiesen wurde. Das dritte Gesetz, das Kepler schon früh beschäftigte, wurde erst zehn Jahre später formuliert; es steht ziemlich versteckt in den „Harmonice mundi" (1619). Die Keplerschen Gesetze waren Naturgesetze im modernen Sinn, d. h. exakte und nachprüfbare Aussagen über allgemeingültige Beziehungen, auf die Einzelerscheinungen zurückgeführt werden können. Mit ihrer Entdeckung löste sich die Astronomie endgültig von der Theologie und ging ihr bedeutungsvolles, im Laufe der Zeit immer wichtiger werdendes und für ihre Entwicklung entscheidendes Bündnis mit der Physik ein. Kepler selbst schreibt als Erläuterung zu seinem ersten Gesetz am 4. 10. 1607 an den Kaufbeurener Arzt Johann Georg Brengger: „Ich liefere eine Himmelsphilosophie oder -physik anstelle der Himmelstheologie oder -metaphysik des Aristoteles." 4 1 Wie stark Kepler bereits der sich herausbildenden neuen Naturwissenschaft verhaftet war, mag eine weitere Briefstelle verdeutlichen: E r schreibt am 4. Juli 1603 an D. Fabricius: „Ihr meint . . ., daß ich mir zuerst irgend eine gefällige Hypothese ausdenke und mir selber bei ihrer Ausschmückung gefalle, sie dann aber erst an den Beobachtungen prüfe. Da täuscht Ihr Euch aber sehr. Wahr ist vielmehr, daß ich, wenn eine Hypothese mit Hilfe von Beobachtungen aufgebaut und begründet ist, hernach ein wundersames Verlangen verspüre zu untersuchen, ob ich darin nicht irgend einen natürlichen, wohlgefälligen Zusammenhang entdecken kann. Aber nie stelle ich zuvor ein abschließendes Urteil auf." 4 2

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J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 16, hg. von M. Caspar, München 1954, Nr. 448, 4 ff.: „Trado enim unä philosophiam seu physicam Coelestem, pro Theologia coelestj, seu Metaphysica Aristotelis . . . In qua physica simul novam arithmeticam doceo, computandj non ex circulis, sed ex facultatibus naturalibus et magneticis." Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. I, a. a. O., S. 187.

PLANETENGESETZE

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Kepler ging es also um Tatsachen und ihre Verbindung zueinander. E r schreitet fort von der spontanen Dialektik der Renaissance zu den Prinzipien des abstrahierenden wissenschaftlichen Denkens. Seine Harmonielehre dient ihm methodologisch als Instrument zur Konstruktion mathematischer Repräsentanten von Naturgesetzen/*15 Dabei darf nicht vergessen werden, daß sich bereits bei Cusanus Ansätze des modernen Naturgesetzes finden, die auf mystischen Prämissen gründen. Diese Ansätze unterscheiden sich von denen des Thomas von Aquino, es ist ein anderer Weg. Kepler folgt den Spuren des Cusaners. Keplers drei Gesetze reichen über das Weltbild der Renaissance weit hinaus. E r überschritt die Grenzen des rein kinematischen Weltbildes, um die objektiven Ursachen der Beschleunigung aufzuzeigen. Deshalb brach Kepler mit der Kinematik der gleichförmigen Bewegungen, die noch Copernicus von Ptolemaios übernommen hatte. 44 Keplers Gesetze sind in den historisch invarianten Inhalt der neuen Mechanik eingegangen. E r hat der Copernicanischen Lehre erst eigentlich zum Durchbruch verholten. Was ihn von Copernicus unterscheidet, sind u. a. seine Kühnheit, seine bedeutend besseren Beobachtungsmittel. Bei Kepler wird bereits die Trennung von Naturwissenschaft und Theologie offen ausgesprochen. Sie wird auch nicht bloß postuliert, sondern begründet. Damit soll der Ruhm des großen Nicolaus Copernicus keinesfalls geschmälert werden. Unzutreffend erscheinen mir Versuche, die eigentliche Copernicanische Wende mit Kepler beginnen zu lassen. Copernicus wird dabei weitgehend ins Mittelalter gerückt. Diese Stimmen mehren sich bei bürgerlichen Wissenschaftlern in letzter Zeit. An Äußerungen Arthur Koestlers ließe sich noch vorbeigehen, für den Copernicus „ein grämliches Überbleibsel des Mittelalters" ist und der feststellt: „Kopernikus blieb vielleicht die farbloseste Gestalt unter denen, die dank den Umständen das Geschick der Menschheit formten. An dem leuchtenden Himmel der Renaissance erscheint er als einer der dunklen Sterne, deren Vorhandensein sich lediglich durch ihre mächtigen Strahlungen anzeigt." 4 5 Leider wird Koestler immer wieder beigepflichtet. Auch Hans Blumenberg will ausdrücklich daran festhalten, „daß die Motive der kopernikanischen Leistung auf das Mittelalter zurückgehen, j a wesentlich mittelalterlich sind" 4 6 . Nun ist freilich ein Gespeistwerden aus mittelalterlichen Motiven kein Vorwurf — höchstens noch bei Wissenschaftsignoranten. Aber es gilt zu unterscheiden: 43

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Vgl. R. Wahsner, Weltharmonie und Naturgesetz, a. a. O., S. 531—545; E . Zilsel, Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes, in: E . Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, a. a. O., S. 66—97. Vgl. S. Wollgast, Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den philosophischen Auffassungen von Nicolaus Copernicus und Johannes Kepler, in: Wiss. Z. d. T U Dresden, Dresden 22 (1973) S. 743—747; zugleich in: Nicolaus Copernicus. Akademische Festschrift aus Anlaß der 500. Wiederkehr des Geburtstages von Nicolaus Copernicus, Berlin 1973, S. 4 8 - 5 3 . A. Koestler, Die Nachtwandler. Das Bild des Universums im Wandel der Zeit. Bern — Stuttgart - Wien 1959, S. 174, S. 123. H. Blumenberg, Kopernikus im Selbstverständnis der Neuzeit, Mainz — Wiesbaden 1965, S. 249 (Akad. d. Wiss. u. d. Lit. Mainz, Abhandl. d. Geistes- und Sozialwiss. Kl. 1964, 5.); vgl. H. Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt/M. 1975, S. 2 7 2 - 2 9 9 .

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Übernahme von Anregungen aus dem Mittelalter (sie sind bei Copernicus eigentlich neuplatonisch), Stellung des Copernicus in der Renaissance (die eine neue Qualität der gesellschaftlichen Verhältnisse und eine neue Erkenntnisqualität bringt) sowie Kepler .als Fortführer des copernicanischen Werkes und Übergangsfigur zwischen Renaissance und mechanistischem Materialismus. Die ältere bürgerliche Forschung hat die Verbindung von Copernicus und Kepler klarer gesehen. So schrieb J. H . von Mädler: „Die grossen Verdienste Kepler's um dieses [copernicanisch-heliozentrische — S. W . ] System hat einige zu der Bemerkung veranlasst, das System müsse wohl eigentlich das Kepler'sche heissen. W i r fügen hinzu, das dann aus dem gleichen Grunde die Kepler'schen Regeln wohl eigentlich die Newton'schen heissen müssten . . ." 47 Das Erscheinen von Copernicus' „ D e revolutionibus" pflegen wir als die „Copernicanische Wende", die Begründung eines neuen Weltbildes zu bezeichnen. Mit Recht! Aber erst mit der Entdeckung der Gesetze der Planetenbewegung hat Kepler die „Copernicanische Wende" vollendet. In der Mitte unseres Jahrhunderts wurde der Kreis der Entwicklung der Gesetze der Planetenbewegung geschlossen. Die Kepler-Ellipsen waren in langwierigen Berechnungen aus der Natur abgelesen worden. Mit dem Start des ersten künstlichen Erdsatelliten waren die Keplerschen Gesetze in das Stadium der experimentellen Anwendung getreten. Dies bestätigt Lenins Aussage: „. . . alle wissenschaftlichen . . . Abstraktionen spiegeln die Natur tiefer, richtiger, vollständiger wider. Von der lebendigen Anschauung zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis — das ist der dialektische W e g der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität." 4 8 Schon am 3. 10. 1595 hatte der knapp 24jährige Kepler, damals Professor an der evangelischen Landschafts- oder Stiftsschule zu Graz, Mästlin den Plan seines ersten großen Werkes, des „Mysterium Cosmographicum", mitgeteilt. Es erschien 1596 in Tübingen unter tätiger Mithilfe Mästlins. In diesem Brief heißt es: „ W i r sehen, daß Gott die Weltkörper in bestimmter Anzahl erschaffen hat. Die Maßzahl aber ist das Bestimmende für die Größe, ich meine die Maßzahlen für die Welt. Denn vor der Welt gab es keine Zahl außer der Dreiheit, die Gott selber ist . . . die Welt ist eine doppelte: eine bewegte und eine ruhende. Diese ist eine Abbildung des an sich betrachteten göttlichen Wesens; jene ist ein Abbild Gottes, insofern er der Schöpfer ist, und daher dem Rang nach geringer . . . Das Krumme aber wird in natürlichster Weise mit Gott, das Gerade mit der Kreatur in Vergleich gesetzt. So zeigt sich an der Kugel die Dreiheit: die Oberfläche, der Mittelpunkt, der Inhalt. Ebenso in der ruhenden W e l t : die Fixsterne, die Sonne und die L u f t oder der Äther im Zwischenraum; in der Dreifaltigkeit: Sohn, Vater, Geist . . . W i e nun die Sonne inmitten der Wandelsterne steht, selber ruhend und doch Quelle der Bewegung, zeigt sie das Abbild Gottes des Vaters, des Schöpfers. Denn was bei Gott die Schöpfung ist, das ist bei der Sonne die Bewegung. Und J. H. von Mädler, Geschichte der Himmelskunde, nach ihrem gesammten Umfange, Bd. 1, Braunschweig 1873, S. 166. — Vgl. D. Ehlers, Zum problemlösenden Verhalten bei Nicolaus Copernicus, Phil. Diss. Berlin 1975. 48 W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", a. a. O., S. 160. 47

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wie der Vater der Schöpfer ist im Sohne, so ist die Sonne das Bewegende innerhalb der Sphäre der Fixsterne . . . Die Sonne aber teilt die Bewegungskraft durch den Zwischenraum hin aus, in dem sich die Wandelsterne befinden, wie der Vater als Schöpfer tätig ist durch den Geist oder in Kraft seines Geistes." 49 So wird auch die christliche Trinität in das kosmische Geschehen hineingedeutet — ganz im Sinne von Keplers platonisch-neuplatonischem Pantheismus. Zudem wird hier die von Zilsel 50 zu Recht betonte anfängliche Verflechtung von Theologie und Naturwissenschaft bei der Herausbildung der Gesetzesproblematik deutlich. In Keplers „Mysterium Cosmographicum" lassen sich viele wertvolle Gedanken und Keime seiner späteren Weltanschauung aufdecken, die auch seiner philosophischen Weltsicht entsprangen. Das gilt besonders für die Rolle, die er der Einheit von Harmonie und Geometrie beimißt. Schon in der Einführung und im ersten Kapitel des aus 23 kurzen Kapiteln und zwei Anhängen aufgebauten Werkes bekennt sich Kepler begeistert zu Copernicus. Dieses Buch war das erste uneingeschränkte Bekenntnis eines Berufsastronomen zur Verteidigung der copernicanischen Lehre, der Beginn ihrer triumphalen Verbreitung. Bedeutsam ist weiter, daß Kepler seinem Werk die „Narratio prima" des Georg Rheticus vom Jahre 1540 beigab. Rheticus hat in diesem „Bericht" die Lehre des Copernicus und dessen damals noch nicht erschienenes Manuskript mit begeisterten Worten geschildert.51 Kepler hat sich stets bescheiden als Schüler des Copernicus betrachtet. Bester Ausdruck dafür sind seine „Epitome Astronomiae Copernicanae". A m Beginn seiner „Astronomia nova" hat er auch die bis dahin allgemein herrschende Auffassung zurückgewiesen, das Osiandrische Vorwort zu „De revolutionibus" stamme von Copernicus selbst.52 Der spekulative Grundgedanke von Keplers „Weltgeheimnis" wird oft zitiert, er soll auch hier nicht fehlen: „Die Erde ist das Maß für alle andere Bahnen. Ihr umschreibe ein Dodekaeder; die dieses umspannende Sphäre ist der Mars. Der Marsbahn umschreibe ein Tetraeder; die dieses umspannende J. Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 18-20. E. Zilsel, Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, a. a. O., S. 66—97. 51 Übrigens erledigen sich damit Entgegenstellungen von Kepler und Copernicus von selbst. Ein Exemplar der Erstausgabe von Copernicus' „De revolutionibus" mit handschriftlichen Eintragungen und Korrekturen Keplers sowie einem handschriftlichen Gedicht Keplers auf dem Vorsatzblatt befindet sich in der Universitätsbibliothek Leipzig. Vgl. dazu: G. Harig, Kepler und das Vorwort von Oslander zu dem Hauptwerk von Kopernikus, in: N T M , Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaft, Technik und Medizin, Leipzig 1 (1960/63) 2, S. 13-26. 52 Vgl. J. Kepler, Neue Astronomie, a. a. O., S. 4. — Ich möchte H . L e y völlig zustimmen: „ I n der Regel wird Osiander wegen seines eigenmächtigen Vorgehens betreffs der anonymen Einleitung beschuldigt, die Lehre des Copernicus abgewertet zu haben, da er sie subjektiv aus Vorsicht als bloße Hypothesen -bezeichnete. Tatsächlich war die Lehre des Copernicus im modernen Sinn des Wortes bis auf Newton eine Hypothese . . . Verfehlt ist vielmehr Osianders weitere Erläuterung, es sei nicht erforderlich, daß diese Hypothesen wahr, ja nicht einmal, daß sie wahrscheinlich seien. Es reiche schon hin, wenn sie eine mit den Beobachtungen übereinstimmende Rechnung ergäben." (H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 183.) Vgl. ähnlich: H . Blumenberg, Die Genesis der K o pernikanischen Welt, a. a. O., S. 341—370. 49 59

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Sphäre ist der Jupiter. Der Jupiterbahn umschreibe einen Würfel; die diesen umspannende Sphäre ist der Saturn. Nun lege in die Erdbahn ein Ikosaeder; die diesem einbeschriebene Sphäre ist die Venus. In die Venusbahn lege ein Oktaeder, die diesem einbeschriebene Sphäre ist der Merkur. Da hast du den Grund für die Anzahl von Planeten." 53 Als 50jähriger stellt Kepler rückschauend auf das „Mysterium" fest: „So nahm für mich die Richtung meines ganzen Lebens, meiner Studien und Werke ihren Ausgang von diesem einen Büchlein."5'* Die (neu)platonisch-neupythagoräische Ausgangsposition Keplers ist nicht so zu verstehen, als habe er starr an einer vorgefaßten Meinung festgehalten und sie mit Tatsachen nur zu belegen versucht. Das Gegenteil ist der Fall, wie wir bereits aus seinem Brief an D. Fabricius zitierten. Gegen die Auffassung, Kepler sei von einer Idee ausgegangen, wonach der Schöpfer a priori die Welt so geschaffen habe, wie sie ist, steht auch, was Kepler an Herwart von Hohenburg schreibt: „Es dürfen jene Spekulationen a priori nicht gegen die offenkundige Erfahrung verstoßen, sie müssen vielmehr mit ihr in Übereinstimmung gebracht werden." 55 Schließlich siegt bei Kepler nicht das apriorische Schema, sondern das Ergebnis der Beobachtung im Bündnis mit der Rechnung! Das beste Beispiel dafür ist sein Nachweis, daß der Winkel zwischen Erd- und Marsbahn unabhängig von der Zeit ist. Er ging von Beobachtungen Brahes aus und bestimmte den Winkel zu 1° 50'. Dieser Wert ist praktisch identisch mit dem heute bekannten Neigungswinkel der Marsbahn. Kepler versuchte nun, von Brahes Marsbeobachtungen ausgehend, die Parameter der Bahn des Planeten zu berechnen. Wie Ptolemaios und Copernicus nahm er dabei von vornherein an, daß die Bahnform ein Kreis sei, d. h., die Bahnform ging als gegebene Voraussetzung in seine Berechnungen ein. Mit der mathematischen Methode der sukzessiven Approximation berechnete Kepler dann anhand von vier Marsoppositionsbeobachtungen die Bahnparameter. Die Arbeiten umfassen in seinem Nachlaß 900 eng beschriebene Blätter, ein ungeheuer rechnerischer Aufwand! Seine Resultate überprüfte er mit Hilfe weiterer Oppositionsbeobachtungen. Dabei ergaben sich zwischen Rechnungen und Beobachtungen Differenzen bis zu 8 Bogenminuten! Die Abweichung konnte sich Kepler lange nicht erklären, bis er die Kreisbahn des Mars opferte und feststellte, daß sie ein Oval bildet. Wir haben Kepler als idealistischen Pantheisten bezeichnet. Indem er sich zu keiner Religionsgemeinschaft bekennt, gehört er eindeutig zu den überkonfessionellen Kräften seiner Zeit. Um das zu verstehen, genügt nicht das 53

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J . Kepler, Mysterium cosmographicum. Das Weltgeheimnis, übers, und eingel. von M. Caspar, Augsburg 1923, S. 24. Ebenda, S. 11. — Auf die Grundgedanken des „Mysterium" gehe ich hier nicht näher ein. Sie passen sich dem zur Renaissancephilosophie generell Gesagten (vgl. Kap. II) ein (vgl. S. Wollgast, Entwicklungsdenken von Nicolaus von Kues bis Giordano Bruno, a. a. O., S. 48—92). — Vgl. weiter: D. Mahnke, Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle/S. 1 9 3 7 ; V. Bialas, Gesetz und Harmonie im astronomischen Weltbild von Johannes Kepler, in: Deutsches Museum, Abhandl. und Berichte, München 39 (1971) 1, S. 41—51. Zit. nach: M. Caspar, Johannes Kepler, 3. Aufl., Stuttgart 1958, S. 145.

ROSENKREUZER

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Heraussuchen einiger „frommer" Äußerungen aus Keplers Gesamtwerk, wie das bei Hübner, Günther u. a. geschieht. Verständlich wird Keplers Haltung nur im historischen Kontext. Hier sei wiederholt: Am weitesten entfernen sich in der zweiten Hälfte des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jh. diejenigen vom herrschenden ideologischen Überbau, die sich mehr oder weniger konsequent gegen jegliche Religionsgemeinschaft wenden, die Berechtigung der herrschenden Kirchen und ihrer Riten als nicht dem Evangelium gemäß ganz oder teilweise ablehnen und ein unkonfessionelles Christentum verkünden bzw. praktizieren wie etwa V. Weigel, D. Czepko, A. von Franckenberg und J . Böhme. (Dabei bleibt hier die von der Reformation ausgehende, zur bürgerlichen Weltanschauung führende, sie konstituierende Linie weitgehend außer acht. Sie hat ebenfalls eine notwendige und revolutionierende Rolle gespielt.) Zweifellos unterscheidet sich Kepler von Böhme, Czepko und Weigel. E r ist primär Naturwissenschaftler, jene sind primär philosophierende Laien oder Theologen bzw. Dichter. Was Kepler mit ihnen gemein hat, ist seine universelle Toleranz, die ihn z. B. mit Vertretern aller Konfessionen befreundet sein läßt, und sein Bekennermut, mit dem er auf seinen unorthodoxen Auffassungen beharrt. Christoph Besold (vgl. Kap. V) war mit Kepler befreundet. Im Hexenprozeß gegen seine Mutter hat ihn Besold beraten. Besold wurde 1598 in Tübingen Doctor juris. E r lebte seitdem seinen Studien und wirkte als Advokat beim Hofgericht in Tübingen und als Lehrer am Collegium illustre. 1610 wurde er Professor der Rechte an der Tübinger Universität. 1630 trat er zum Katholizismus über und wurde 1636 Professor zu Ingolstadt, wo er 1638 verstarb. Besold trieb umfassende Studien in allen Wissensbereichen. Schon in seiner Jugend soll er sich neun Sprachen angeeignet haben, und er verfügte über eine schier unermeßliche Belesenheit. Den scholastisierten Aristoteles lehnte er ab. Große Hochschätzung erfahren dagegen die Vorsokratiker; Piaton wird kaum, Epikur gar nicht rezipiert. Paracelsus, Cusanus, Pico della Mirandola, Hermes Trismegistos u. a. gehören zu seinen Gewährsleuten. E r schreibt Bücher über Staupitz (1618), Tauler (1621) und Savonarola (1621). Während Besold merkwürdigerweise G. Bruno ablehnt, stimmt er mit Campanella voll überein. Nach Besold gibt es nur eine wahre Religion, in welchen Formen sie auch erscheinen möge. Gott läßt sich nicht in die engen Schranken einer Religionsgemeinschaft pressen. Den einzelnen Konfessionen des Christentums stand er lange mit ähnlichen Vorbehalten wie Kepler skeptisch gegenüber. Verstandesmäßige Disputationen in Glaubensdingen und Proselytenmacherei lehnte er ab. Besold propagierte Toleranz, vertrat die Idee der Imitatio Christi und war Ireniker Berneggerscher Prägung. E r vertrat ein einheitliches Weltbild, „das panentheistische Weltbild aller naturphilosophisch orientierten Mystik" 56. Über die Fragwürdigkeit des „Panentheismus" wird noch zu sprechen sein. „In Besolds Kreis ist der Gedanke der Rosenkreutz-Bruderschaft zuerst aufgetaucht, seine religiösen Überzeugungen und seine Weltanschauung waren 56

16

R. Kienast, Johann Valentin Andreae und die vier echten Rosenkreutzer-Schriften, Leipzig 1926, S. 30. WoUgast

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maßgebend, der große Umfang seines Wissens stand den jüngeren Freunden zur Verfügung." 57 Zu Besolds Kreis gehörte auch Wilhelm von Wense, der 1614 bei einem Italienbesuch Campanella kennengelernt hatte und sein glühender Propagandist in Deutschland geworden war. 1605 wurde J . V. Andreae, der (Mit- bzw. Haupt-)Verfasser der Rosenkreuzerschriften, mit Besold bekannt. „Andreae durfte Besolds Bücher lesen, und er fand dort die Sperber, Gutmann, Weigel." 5 8 Alle drei sind Gewährsmänner der Rosenkreuzer. Die Rosenkreuzer-Bewegung selbst stellte sich eine geistige Generalreformation zum Ziel (vgl. Kap. V). 1619 erschien Andreaes „Reipublicae christianopolitanae descriptio". Sie ist J . Arndt gewidmet und von Campanellas „Sonnenstaat" angeregt. Folgen wir nochmals Peuckert: „Wenn man behaüptet, daß hier [in Christianopolis — S. W.] der Entwurf eines Kollegiums oder einer Akademie lange vor Bacos Entwurf vorliege, so ist das durchaus recht. Dieses Kollegium aber war im Grunde nichts als die Fraternität der R. C. [Rosenkreuzer — S. W.]. Ich glaube, daß der Gedanke eines solchen Kollegiums, den dann Comenius und die Engländer aussprachen, von hier ausgegangen ist und letztlich also rosenkreutzerisch war." 5 9 Kepler hatte — durch Besold — genaue Kenntnis über die WTeigelianer und ihr Wirken in Tübingen, ebenso über die Bewegung der Rosenkreuzer. Wie wir noch sehen werden, wurde in Tübingen 1622 eine Untersuchung über den Weigelianismus angestrengt. Im September 1622 teilt Chr. Besold Kepler mit, die Untersuchungen gegen ihn wegen des Verdachts der „Schwärmerei" seien beendet. E r war beschuldigt worden, Gedanken des Paracelsus, Valentin Weigels und Schwenckfelds vertreten zu haben. Er habe allen theologischen Neuerungen abgeschworen und sich zur Orthodoxie bekannt. Gleichzeitig informierte er Kepler über das Erscheinen von Th. Thummius' Werk „Impietas Wigeliana". 60 Kepler lehnt in der Auseinandersetzung mit dem Engländer Robert Fludd die Rosenkreuzer entschieden ab. Mit ihrer „fama fraternitatis", so schreibt er schon um 1620, sei ein „ungeschwungener Schwärm von Hirngrillen" daher geflogen. Der Teufel bedürfe „einer solchen hüll von fanaticis opinionibus", damit er den Menschen die Augen der Vernunft verbinde. 61 Nun stammt diese Äußerung bereits aus der Zeit, da die Begeisterung für die Rosenkreuzerei merklich abgenommen hatte und allerlei Betrüger, Scharlatane, Vertreter der schwarzen Magie usw. sich ihrer bemächtigten. Auch Andreae selbst 5? Ebenda, S. 31. 58 W.-E. Peuckert, Die Rosenkreutzer. Zur Geschichte einer Reformation, Jena 1928, S. 99. M Ebenda, S. 182. 60 Vgl. Chr. Besold an J. Kepler, September 1622, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, a . a . O . , S. 114-115. - Vgl. J. B. Hebenstreit an Kepler, 7 . 4 . 1 6 2 2 , in: ebenda, S. 86—87. — Zur Rosenkreuzerproblematik vgl. G. Chr. von Schallenberg an Kepler, 2. 1. 1617, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 17, a. a. O., S. 209. Ein hier erwähnter langer Brief Keplers, in dem dieser sich offenbar auch über die Rosenkreuzer geäußert hat, ist nicht mehr erhalten. 61 Vgl. M. Caspar, Johannes Kepler, a. a. O., S. 347. — Vgl. J. Kepler, Apología pro opere Harmonices mundi adversus demonstrationibus . . . Roberti de Fluctibus . . . (1622), in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 6, hg. von M. Caspar, München 1940 S. 380-457, bes. S. 4 4 5 - 4 4 7 .

E I N E NATURWISSENSCHAFTLICHE

UTOPIE

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hatte sich zu dieser Zeit schon gegen die Rosenkreuzerbewegung ausgesprochen. Kepler wandte sich auch explizit gegen eschatologische Prophezeiungen und Zahlenspielereien, abgeleitet aus dem Buch Daniel usw. Endgültige Feststellungen über sein Verhältnis zur „Gesellschaft vom Rosenkreuz" und zu einigen ihrer Vertreter verlangen Spezialuntersuchungen. Doch hier sei gesagt (vgl. Kap. V): Andreae nahm für eine wissenschaftliche Gesellschaft, die er in Deutschland gründen wollte, seine „Societas christianae", als Mitglieder u. a. folgende Freunde Keplers in Aussicht: den Mathematiker, Astronomen, Orientalisten Wilhelm Schickard (Tübingen), Chr. Besold (Tübingen) und Keplers engen Freund M. Bernegger (Straßburg).62 Noch Abraham von Franckenberg, der Popularisator Jakob Böhmes, stützt sich in seinem „Oculus siderus" auf Keplers „De Stella nova in pede serpentarii" (1604), um gegen die Spekulationen Fludds zu argumentieren (vgl. Kap. XII). So hat Kepler auch in dieser Hinsicht progressiv gewirkt. Kepler schrieb einen „Traum vom Mond", der ihn jahrzehntelang beschäftigte und erst postum (1634) erschien. Anregend für Keplers „Utopie" war Plutarchs „De facie in orbe lunae". Ursprünglich wollte Kepler in seiner Schrift auch auf gesellschaftliche Probleme anhand seines „Somnium" eingehen. Am 4. 12. 1623 schreibt er an Matthias Bernegger: „Campanella schrieb einen ,Sonnenstaat'. Wie, wenn ich einen ,Mondstaat' schriebe? Wäre es nicht ausgezeichnet, die zyklopischen Sitten unserer Zeit in lebhaften Farben zu schildern, dabei aber der Vorsicht halber die Erde zu verlassen und auf den Mond zu gehen?" Kepler hat aber diesen Plan schon mit seiner Entstehung verworfen. Denn unmittelbar darauf heißt es: „Doch was wird eine solche Flucht nützen? Waren doch auch Morus in ,Utopia' noch Erasmus im ,Lob der Narrheit' nicht sichei", so. daß sich beide verteidigen mußten." 63 Keplers Traum vom Mond beeindruckt durch seine naturwissenschaftlichen Details. Als „Verkehrsmittel" benutzte Kepler an Stelle der damals nicht bekannten Raketen Dämonen. Diese haben die schwere Arbeit gegen die Anziehung der Erde zu leisten. Den Reisenden ließ er bandagieren, damit er die starke Beschleunigung besser vertragen konnte. Auf der Reise zum Mond gab es einen Punkt, in dem „Schwerelosigkeit" herrscht, weil sich die Anziehung der Erde und des Mondes die Waage halten. Dämonen müssen dann wieder den Fall auf den Mond bremsen. Auch für den Mondaufenthalt erteilt Kepler Ratschläge. Er warnt vor der langen Sonneneinstrahlung während des Mondtages und vor den Gefahren der langen Mondnacht. Schutz gegen die starke Sonneneinstrahlung könnten die Reisenden im Schatten der Bergwälle finden. Dabei nahm schon er nicht an, daß auf dem Mond der Erde ähnliche Voraussetzungen für die Existenz biologischer Lebewesen existieren könnten. Das Beispiel seines „Traumes vom Mond" zeigt, daß Kepler selbst im „Traum", 62 63

16*

Vgl. W.-E. Peuckert, Die Rosenkreutzer, a. a. O., S. 183; J. KvaCala, J. V. Andreä's Antheil an geheimen Gesellschaften, Jurjew 1899. Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 2, a. a. O., S. 199. — Es ist m. E . abgeschmackt, Kepler als „Sonnenanbeter" und „mondnärrisch" zu charakterisieren (L. Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, Frankfurt/M. 1978, S. 386). Zu Inhalt und Wertung des „Mondstaates" vgl.: G. Doebel, Johannes Kepler. E r veränderte das Weltbild, Graz - Wien - Köln 1983, S. 187-195.

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d. h. in der utopischen Darstellung, physikalische Gesichtspunkte nicht außer acht läßt. „Nun in Gottes Namen . . .", schreibt Kepler 1618, „schließt mich aus aus Eurer Gemeinschaft wegen der Aufrichtigkeit, mit der ich bekenne, daß bezüglich des einen Artikels von der Allgegenwart des Leibes Christi und der anderen Ansichten, die man mir zuschreibt, die Aussprüche, Beweise und exegetischen Erläuterungen der alten Väter [der Patristiker, auf sie berufen sich alle Gegner der Orthodoxie — S. W . ] mehr Beweiskraft enthalten als die Eurigen in der Konkordienformel." Kepler fügt die mutigen Worte an: „Was aber meine Ausschließung anlangt, so denke ich nicht daran, sie durch ein gewünschtes Bekenntnis zu beseitigen."6'1 Es ist ahistorisch, Kepler, den unerschrockenen Kämpfer gegen jegliche Orthodoxie, den führende Vertreter der lutherischen Kirche 1619 als „Schwindelhirnlein" abtaten,65 nun wieder für die Kirche hoffähig zu machen. Nicht nur Theologen haben Keplers Weltsicht für ihre Zwecke zu nutzen gesucht. Auch prominente bürgerliche Wissenschaftler nahmen Kepler zum Anlaß, die Richtigkeit ihrer eigenen Ideologie darzustellen — im Gegensatz zum dialektischen Materialismus. Ein Beispiel liefert der österreichische Philosoph Joseph Meurers. Nach seiner Meinung erstrebte Kepler eine integrale Welt- bzw. Naturbetrachtung, „eine Gesamtschau der Wirklichkeit, so wie sie auf der Basis des damaligen Wissens und der geschichtlichen Erfahrung möglich oder auch eben nicht möglich war" 66 In der Tat geht es Kepler um den Gesamtzusammenhang von irdischen und himmlischen Gesetzen und um eine harmonische Gesamtschau der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnis. Bei der Suche nach universellen, die ganze Natur umfassenden Gesetzen kam Kepler auf den Gedanken gewisser harmonischer Zahlenproportionen. Die einheitliche Weltharmonie lenkt für ihn alle Erscheinungen. Wenn man die Gesetze dieser Harmonie in der Bewegung der Himmelskörper auffindet, vermag man mit ihrer Hilfe die dieser Harmonie untergeordneten irdischen Erscheinungen bis zu den historischen Ereignissen und den Schicksalen einzelner Menschen vorauszusehen. Hier liegen gewisse Quellen für die astrologischen Tendenzen in Keplers Weltanschauung. Wenn aber Meurers fortsetzt: „Kepler war besessen von seinen fünf regelmäßigen Körpern, die Moderne will nur die beschreibende Formel und sonst nichts"67, so muß dem entschieden widersprochen werden. Dieses positivistische Credo steht auch mit gewichtigen Tendenzen der bürgerlichen Philosophie im Widerstreit, die im wachsenden Maße gerade die Bedeutung der Weltanschauung, der Gesamtschau, betonen. Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 2, a. a. O., S. 105—106. Vgl. ebenda, S. 133. — Selbst nach seinem Tode wird Keplers rechte Gläubigkeit angezweifelt. In einer zeitgenössischen Regensburger Chronik vermerkt der Chronist 1630 zu Kepler u. a.: „Er hat sich wollen vnterstehen ein Vergleich zwischen der Euangelischen vnd Päpstischen Religion zu machen: sed frustra, Christus enim et Belial nunquam concordabunt." (Zit. nach: W . Gerlach/M. List, Johannes Kepler, Dokumente zu Lebenszeit und Lebenswerk, München 1971, S. 240.) 66 J. Meurers, Problem und Tragik einer integralen Naturbetrachtung, in: Philosophia naturalis, Meisenheim/Glan 13 (1971) 1, S. 4. Das ganze H e f t 1 ist der „400. Wiederkehr des Geburtstages von Johannes Kepler" gewidmet. ß' Ebenda, S. 10. 64

65

KALENDERSCHRIFTSTELLEREI

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Kepler hatte große Freude am wissenschaftlichen Disputieren. Es war ihm ein Vergnügen, seinen schlagenden Witz zu üben und mit einem Gegner die Klinge zu kreuzen. So wendet er sich mit viel Spott und Humor in der „Antwort auf Röslini Discurs" gegen unsinnige astrologische Hypothesen seines Landsmannes Helisäus Röslin, eines lange mit ihm und Bernegger befreundeten Arztes. Im „Tertius interveniens" tritt er gegen Philipp Feselius auf, der die Astrologie in Bausch und Bogen verwerfen wollte. Kepler nimmt also in bezug auf die Astrologie eine Mittelstellung ein. „Denn am Himmel handelt es sich nicht um ethisch gut und böse, sondern um harmonisch, wohlgeordnet, rhythmisch, stark, schwach, schön, ungeordnet." Diese Kategorien bestimmen nicht die Einzelschicksale des Menschen, sie prägen aber der Seele einen bestimmten Charakter ein. Das ist ein oft wiederholter Lieblingsgedanke Keplers."8 Eine in Linz entstandene Streitschrift zur Kometenfrage nannte Kepler „Hyperaspistes". So hatte Erasmus von Rotterdam 1526 seine Antwort auf Luthers „De servo arbitrio" bezeichnet. Der Wirkung von Ideen des Erasmus auf Kepler wäre noch nachzugehen. Die Kalender waren im 17. Jh. eine beliebte Gattung der Volksliteratur. Grimmelshausen, der behauptet, er wolle auch einmal unter die Kalendermacher gehen, gibt später (1668) folgende Aufzählung: „ . . . es kam mir zu Sinn der Kometenkalender, der Polnische, Schwedische, Dänische Kalender, der Spanische, Indianische, Englische Kalender, Wetter- und böhmische Kalender, Haus- und Ehe-, Helden-, Geschichts-, Komödien-, Musik-, Kaufmanns-, Speis- und Kuchen-, ja Hasenkalender und dergleichen andere mehr." ß9 Kepler hatte bereits als „Landschaftlicher Mathematicus" in Graz sechs Kalender verfaßt, von denen vier erhalten blieben. Er schrieb — darauf sei ausdrücklich hingewiesen — Kalender aus drei Gründen: weil er von Amts wegen mußte, weil er Geld brauchte und weil er in seinen Kalendern der breiten Masse seine Auffassungen darzulegen vermochte. Auch in seiner Linzer Zeit (1612—1626) fertigte Kepler Kalender an. Aber es handelt sich keineswegs um „astrologische Machwerke"! Der Keplersche Kalender bestand aus zwei Teilen: dem eigentlichen Kalender und dem Prognosticum oder der „Practic". Die „Practica" mußte Aussagen über Wetter und Ernteaussichten, Krieg und Seuchengefahr, politische und religiöse Ereignisse enthalten. Der Leser wollte daraus entnehmen, an welchen Tagen man säen oder ernten dürfe, wann man sich zur Ader lassen sollte, wann es Kälte, Hitze, Hagel, Gewitter usw. geben werde. Schon Keplers erster Kalender (1595) war ein großer Erfolg. Er hatte u. a. grimmige Kälte und Türkeneinfall vorausgesagt. Beides traf ein. Keplers Ruf als Kalendermacher war begründet. Seine Grundhaltung zu seiner „Calendermacherey" erhellt bereits aus einem Brief an Mästlin vom 9. 12. 1598: „Bei allen Prognostiken sehe ich darauf, daß ich mit Sätzen, die sich gerade dar68

69

Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 176. — Vgl. M. Caspar, Johannes Kepler, a. a. O., S. 212; Die Astrologie des Johannes Kepler. Eine Auswahl aus seinen Schriften, eingel. u. hg. v. H. A. Strauß u. S. Strauß — Kloebe, München — Berlin 1926. H. J. Christoffel von Grimmelshausen, Continuationen, in: H. J. Chr. v. Grimmelshausen: Werke in 4 Bdn., ausgew. u. eingel. von S. Streller, 2. Aufl., Bd. 4, Berlin - Weimar 1964, S. 267-268.

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bieten und die mir wahr erscheinen, meinem . . . Leserkreis einen frohen Genuß an der Größe der Natur bereite, in der Hoffnung, die Leser lassen sich vielleicht dadurch zu einer Erhöhung meines Gehaltes verlocken . . , " 7 0 Keplers Wirken als Kalendermacher spricht gegen die Theorie von Erich Trunz 7 1 , um 1600 hätten die Gelehrten nur für ihren eigenen Stand Literatur geschrieben, es sei denn, man geht von einem elitären Literaturbegriff aus. Ein weiteres Wort Keplers dürfte noch aufschlußreicher sein: „Es ist wol diese Astrologia ein närrisches Töchterlin . . . aber lieber Gott / wo wolt jhr Mutter die hochvernünfftige Astronomia bleiben / wann sie diese jhre närrische Tochter nit hette / ist doch die Welt noch viel närrischer / vnd so närrisch / daß demselben zu jhren selbst frommen diese alte verständige Mutter die Astronomia durch der Tochter Narrentaydung / weil sie zumal auch einen Spiegel hat / nur eyngeschwatzt vnd eyngelogen werden muss. Vnd seynd sonsten der Mathematicorum salaria so seltzam vnd so gering / daß die Mutter gewißlich Hunger leyden müste / wann die Tochter nichts erwürbe." 7 2 Damit ist nicht gesagt, Kepler habe nicht an den Einfluß der Sterne auf den Menschen geglaubt. Seine astrologischen Vorstellungen sind nur richtig begreiflich aus dem Wissensstand seiner Zeit und aus seinem Pantheismus, in dem die Einheit von Makro- und Mikrokosmos eine gewichtige Rolle spielt. Dementsprechend schreibt Kepler auch am 9./10. April 1599 an Herwart von Hohenburg: Der Himmel .„verleiht dem Menschen nicht Sitten, Geschehnisse, Glück, Kinder, Reichtum, Gattin, aber er formt all das, womit es der Mensch zu tun hat" 7 3 . Da uns Astrologie in dem von uns behandelten Jahrhundert immer wieder begegnet, sind hier einige allgemeine Ausführungen angebracht. „Unter dem Begriff Astrologie verstehen wir den Versuch, das Wesen und Schicksal der Menschheit in ihrer Gesamtheit und der Einzelpersonen aus bestimmten 70 71

72 73

Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 83—84. Vgl. E . Trunz, Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, in: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, hg. von R. Alewyn, a. a. O.; anders: S. Wollgast, Zur Stellung des Gelehrten im 17. Jahrhundert, a. a. O., S. 24-25, S. 67 u. ö. J. Kepler, Tertius interveniens, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. von M. Caspar und F. Hammer, München 1941, S. 161. Johannes Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 105. Aus der Vielzahl von Äußerungen Keplers gegen eine Überbewertung der Astrologie sei nur aus der Einleitung zu seinem „Schreib-Calender auff das Jahr nach dess Heran Christi vnsers Erlösers Geburt MDXCVIII . . . Practica auff die vier zeiten, auch andere Bedeutungen der Planeten vnd Finsternüssen" angeführt: „das die schöne Gottesgab vnd edele Kunst von des Himmels lauff und würckung nichts mehr in Verachtung gebracht, dan das man ihr zuvil zugelegt, vnd durch vnzimlich abergläubisches berhüemen die Gelehrte von ihr abwendig gemacht: Alss liab ich mich in zweyen nechst vergangener Jahr meiner Practiken vnderstanden, sollichen vnmässigen Rhuem der Astrologia zubeschneiden, vnd anzuzeigen, das auff die jährliche Prognostica, so man den Calendern anhefftet, khaines wegs zu bawen, sondern vil mehr zu einer Ehrlichen ergetzligkeit, vnd sonderlich von gelehrten, verständigen vnd rhüewigen Leütten sollen gelesen werden . . . " J. Kepler: Opera Omnia, ed. Ch. Frisch, Vol. 1, Frankfurt/M. - Erlangen 1858, S. 392. Sinngemäß gleiche Stellen u. a. ebenda, S. 401-402, 471, 562-564, 596.

ASTROLOGIE

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Gestirnstellungen zu deuten . . . Voraussetzung zu derartigen Bemühungen war die Annahme, daß eine erfaßbare, geregelte Beziehung zwischen der Gestirnwelt, dem Makrokosmos und den irdischen Verhältnissen, insbesondere der menschlichen Existenz, dem als Mikrokosmos verstandenen Menschen, bestünde." 74 Die babylonische Astralreligion war noch nicht Astrologie. Wir dürfen annehmen, daß die Astrologie ihren Siegeszug im Hellenismus mit Berossos von Babylon und seiner 280 v. u. Z. auf Kos gegründeten Astrologenschule antrat. In der römischen Kaiserzeit war sie über die ganze damals bekannte europäisch-asiatische Welt verbreitet. Die Ausbreitung anderer von astraler Frömmigkeit durchdrungener Glaubensrichtungen wie auch der von der Stoa wiederbelebte Sympathiegedanke begünstigten ihren Einfluß. Analogievorstellungen folgend, bezog die Astrologie sämtliche Lebensgebiete ein und brachte in einem umfassenden System Zahlen, Farben, Metalle, Mineralien — hier zusammen mit alchemistischen Spekulationen —, Pflanzen, Krankheiten, Temperamente usw. mit den Planeten und Tierkreiszeichen in Verbindung. Vom Urchristentum und bald auch von der römischen Kurie als Teufelswerk verdammt, da die Astrologie zum Bestandteil der spätantiken Mischreligionen und Mysterien geworden war, konnte sie über die Araber, über das islamische Spanien und Süditalien auf den gleichen Wegen wie Magie und Alchemie im 12. Jh. auch im „Abendland" Fuß fassen. Hier beeinflußte sie das scholastische Denken. Thomas von Aquino baute sie — letztlich dabei auf Aristoteles fußend („Metaphysik", Buch E) — in sein Lehrgebäude ein, indem er den Einfluß der Gestirne mit der freien Willensbestimmung verband und die Abhängigkeit des Körperbaus, des Geschlechts und des individuellen Charakters von kosmischen Kräften lehrte. Ihm folgten andere bedeutende Scholastiker und u. a. auch Dante Alighieri. An den Höfen wurden Astrologen angestellt und an den Universitäten astrologische Lehrstühle errichtet. Im Volksglauben war die Astrologie weit verbreitet. Zur Deutung dienten im Sinne der bestehenden geozentrischen Weltsicht sieben Gestirne — die Erde, die Sonne und die damals bekannten fünf Planeten. Die in zwölf gleich große Abschnitte eingeteilte gemeinsame Umlaufbahn der Himmelskörper, astronomisch als Ekliptik bezeichnet, bildet den sog. Tierkreis (Zodiakus) von 360 Grad. Die je einen Sektor von 30 Grad umfassenden Tierkreiszeichen des Zodiakus (Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann und Fische) sind allgemein auch heute noch bekannt. So tritt zu Beginn der Jahreszeiten die Sonne in das Zeichen des Widders als Frühlingszeichen, später in das des Krebses als Sommer-, der Waage als Herbst- und des Steinbocks als Winterzeichen. Daher werden je drei aufeinanderfolgende Zeichen nach den entsprechenden Jahreszeiten benannt. Die ersten sechs Zeichen des Tierkreises liegen nördlich, die an74

K. R. H. Frick, Die Erleuchteten, a. a. O., S. 59. — Seltsamerweise ist die wissenschaftliche Literatur über Astrologie relativ gering. Vgl. als bedeutsam: E . Zinner, Die Sterne und der Mensch, Freiburg — München 1959; R. Lemay, Astrologie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter, Bd. 1, Basel — Stuttgart 1971, Sp. 584—587; Lexikon der Antike, hg. v. J. Irmscher in Zusammenarbeit mit R. Johne, 2. Aufl., Leipzig 1977, S. 6 4 - 6 5 .

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deren südlich des Himmelsäquators. Die Zeichen vom Steinbock bis zu den Zwillingen heißen aufsteigende, da die Sonne sie nach Norden aufsteigend durchläuft, diejenigen vom Krebs bis zum Schützen absteigende, da die Sonne sie in südlicher Richtung hinab durchwandert. Zu Beginn unserer Zeitrechnung stimmten Zeichen und Sternkonstellationen des Tierkreises in der Lage miteinander überein. Durch die Präzession, d. h. durch das Vorrücken der Tagundnachtgleichen, welche darauf beruht, daß der Frühlings- (der Widderpunkt) als der Schnittpunkt des Himmelsäquators und der Ekliptik, in dem die Sonne beim Frühlingsanfang steht, jährlich um 50,26 s zurückläuft, verschieben sich die Zeichen gegen die festliegenden Sternbilder derart, daß sie in 25800 Jahren einen vollen Umlauf ausführen. Die Tierkreiszeichen deckten sich also schon zu Keplers Zeiten längst nicht mehr mit der ursprünglichen Konstellation. Die Astrologie faßt die Tierkreiszeichen als Gestalttypen auf, denen zwölf „Lebensformen": Widdermensch, Stiermensch usw., entsprechen. Sonne, Mond und Planeten sind den Tierkreiszeichen zugeordnet: Die Sonne beherrscht das Zeichen des Löwen, der Mond das des Krebses, Merkur die der Zwillinge und der Jungfrau, Venus beherrscht Stier und Waage, Mars Widder und Skorpion, Jupiter Fische und Schütze, Saturn Steinbock und Wassermann. Nach ihrer Entdeckung wurde der Uranus dem Wassermann und Neptun den Fischen zugeordnet. Die Astrologie teilt ferner den Himmelsraum in zwölf „Häuser", ausgehend vom Aszendenten, dem im Augenblick und am Ort der Geburt aufsteigenden Punkt der Ekliptik, wobei die Zeichen vom Löwen bis zum Steinbock als Taghäuser der Planeten und die des Wassermanns bis zum Krebs als Nachthäuser bezeichnet werden. Für die Sterndeutung werden schließlich noch die Aspekte oder Winkel der Planeten untereinander, von der Erde aus gesehen, herangezogen. Sie bilden hierbei die Quadratur oder stehen in Opposition bzw. in Konjunktur. Die Deutung der Sternkonstellatioh wird mit Hilfe der Ephemeriden, d. h. nach mathematisch-astronomischen Vorausberechnungen der täglichen Stellungen der Himmelskörper, für Ort und Zeit der Geburt im Horoskop durchgeführt. Das Horoskop stellten die Astrologen individuell, um Charakter* und Schicksalstendenzen einer bestimmten Person zu deuten. Hierbei werden in einen aus den 12 Tierkreiszeichen bestehenden Kreis die Konstellationen von Sonne, Mond und Planeten zum Zeitpunkt der Geburt desjenigen, dem das Horoskop gestellt wird, eingetragen. Die Aspekte und „Häuser" werden verbunden und als Deutungsfaktoren verwandt. Die Planeten werden hierbei als „Wesenskräfte" aufgefaßt, so steht Merkur für „Intellekt", Mars für „Aktivität", Jupiter für „Entfaltung" und Saturn für „Erfahrung", aber auch für „Widerstand". J e nach ihrer Stellung zueinander im Tierkreis erhalten sie noch besondere Eigenschaften. So erfährt z. B . der Mars im Feuerzeichen Widder eine Steigerung, im Wasserzeichen Fische eine Schwächung seiner Aktivität. Aus der Stellung der Planeten in den „Häusern" oder Feldern will die Astrologie also ihre Auswirkungen in bestimmten Richtungen und Lebensgebieten erschließen; aus den Aspekten will sie das „Gefüge" der Wesenskräfte, ihre harmonische und disharmonische wechselseitige Beziehung ebenfalls nach dem Analogieprinzip erforschen und zu

„INTEGRALE

NATURBETRACHTUNG"?

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astrologischen Voraussagen verwenden. Die Voraussage versucht nach bestimmten Schlüsseln („Direktionen") Entwicklungstendenzen und Ereignisse vorauszubestimmen. Die prognostische Astrologie verwendet hierzu auch das „Solarhoroskop" und die „Transite". Das Solarhoroskop gibt die Konstellation wieder, die in jedem Lebensjahr auf den Zeitpunkt des Übergangs der Sonne über ihren Standort im Geburtshoroskop berechnet und in Beziehung zu diesem gedeutet wird. Transite sind die Aspekte der laufenden Planeten zu ihren Stellungen im Geburtshoroskop, sie werden auch als „Radixhoroskop" bezeichnet. Neben der Individualastrologie unterscheidet man die Universal- und die Katarchenastrologie. Die Universalastrologie betrifft ganze Länder. Die Katarchenastrologie ist Nachfolgerin der antiken Orakel; sie bestimmte den günstigsten Zeitpunkt für ein politisches oder privates Unternehmen. Zu Recht stellt L. Mumford fest: „. . . die Suche nach okkultem Wissen, das auf dem Zusammenhang zwischen der Geburtsstunde eines Menschen und der Stellung der Gestirne beruht, erforderte nicht nur exakte Zeitmessung, sondern auch genaue Beobachtung des Himmels. So begünstigte die Astrologie die Astronomie, so wie die Alchimie die Chemie förderte." 7 5 Die Trennung von Astronomie und Astrologie erfolgte, ähnlich wie bei der Alchemie von der Chemie, allmählich. Sie war von dem jeweiligen Standort der allgemeinen Naturwissenschaften abhängig. Zu einer völligen Trennung kam es erst nach der ersten Hälfte des 17. J h . E s ist bekannt, daß Kepler Wallenstein zwei Horoskope stellte. Golo Mann mutmaßt, daß Wallenstein — und nicht nur er — in der Astrologie „eine Art von verkürztem Nachrichtendienst" sah. 70 Es ist Aufgabe der Naturwissenschaftler, einen bestimmten Beitrag zur Aufhellung der Struktur und des Zusammenhangs der objektiven Realität zu liefern. Dabei gehen sie von den Positionen ihrer Weltanschauung an ihren Forschungsgegenstand heran. Seine Weltanschauung bestärkt den Naturwissenschaftler, bestimmte Hypothesen aufzustellen und andere abzulehnen, an bestimmten Deutungen festzuhalten, andere zu verwerfen usw. Dabei 75

76

L. Mumford, Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht, a. a. O., S. 371. Wenn Mumford zugleich meint, gerade die Astrologie habe das deterministische Denken gefördert, so verbirgt sich dahinter eine Abwertung des Determinismus (ebenda). — Im bürgerlichen Denken unseres J h . erleben wir eine Renaissance der Astrologie. Sie u. a. „Geheimwissenschaften" werden als E r s a t z oder als notwendiges Pendant für die Wissenschaft angesehen. So vergleicht E r n s t Jünger die Astrologie mit dem Schachspiel, das auch weder Wissenschaft noch Kunst sei. E r hält den Kampf der Wissenschaftler gegen die Astrologie für ein aussichtsloses Unterfangen, da er das eigentliche Wesen der Astrologie verfehle, nicht zwischen Wissen und Weisheit unterscheide. Die Astrologie führe in andere Schichten als in jene, die der Beweis befriedigen kann. Jünger fordert, Astrologie und Wissenschaft Koexistenz zuzubilligen. (Vgl. E . Jünger, Meßbare und Schicksals-Zeit. Gedanken eines Nichtastrologen zur Astrologie, in: E . Jünger, An der Zeitmauer, Stuttgart 1959, S. 1 9 - 7 1 . ) G. Mann, Wallenstein, a. a. O., S. 670. — Der neueste Forschungsstand bei: A. Geiger, Wallensteins Astrologie. Eine kritische Überprüfung der1 Überlieferung nach dem gegenwärtigen Quellenbestand, Graz 1983, bes. S. 88—110, S. 395—421.

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können sich diese weltanschaulich-philosophischen Fragen auf die eigene wissenschaftliche Arbeit des Forschers beziehen, ohne daß er sich Gedanken über ihre Anwendungsmöglichkeiten in anderen Wissenschaften macht. Auch Keplers ein ganzes Leben währendes Bestreben, eine Gesamtschau der Welt zu erreichen, sie in ihrer Harmonie- zu fassen, wirkt über alle bedeutenden Naturforscher bis auf unsere Tage. Nach Werner Heisenberg „sind wir zwar nicht mehr in der glücklichen Lage Keplers, dem der Zusammenhang der Welt im großen durch den Willen ihres Schöpfers gegeben war und der mit der Erkenntnis der Sphärenharmonien schon dicht vor dem Verständnis seines Schöpfungsplanes zu stehen glaubte. Aber die Ahnung eines großen Zusammenhangs, in den wir mit unseren Gedanken doch schließlich immer weiter eindringen können, bleibt auch für uns die treibende Kraft der Forschung." 77 Eine philosophiehistorische Aufarbeitung des Harmoniebegriffs aus der Sicht des dialektischen Materialismus ist ein dringendes Desiderat. Meurers resümiert: „Eine integrale Naturbetrachtung ist immer je mehr als die Fakten; und das ist und bleibt ihr Problem. Dieses Problem besteht einmal darin, daß der Faktenbereich überschritten werden muß und zum anderen, daß im Laufe der Entwicklung neue Erfahrungen und Fakten sich zeigen können, die sich nun auf keine Weise in jenen Rahmen einfügen lassen. Und das letztere wäre eben die Tragik einer integralen Naturbetrachtung bzw. der Versuche zu einer solchen. Sie stehen notwendig und unvermeidbar immer zwischen der Szylla des Überschreitens des Faktenbereiches und der Charybdis des Überholtwerdens, daß neue Erfahrungen nicht mehr einfügbar sind in eine vorgefaßte Konzeption, mag diese auch noch so genial sein." 7 8 Keplers System spricht nicht für Meurers' Weltauffassung, wie dieser meint, sondern eher für sein Unverständnis einer dialektisch-materialistischen Entwicklungslehre. Natürlich kann sich eine philosophische Gesamtauffassung nicht mit Fakten begnügen. Aber wenn das Allgemeine, das philosophisch die Gesawi/auffassung konstituiert, nicht auch in der wissenschaftlichen Abbildung enthalten wäre, hätte es nie eine wissenschaftliche Philosophie gegeben. 79 Die erwähnte „Tragik" trifft nun nach Meurers in aller Härte auch auf Kepler, auf dessen Konzeption der fünf regelmäßigen Körper zu. Denn: „als Uranus entdeckt wurde — eine neue Erfahrung mit der Wirklichkeit —, verlor Keplers Konzeption von innen heraus ihren Sinn, sie scheiterte an der Charybdis des Überholtwerdens durch neue Einsichten, welche die Wirklichkeit repräsentiert; denn einen entsprechenden sechsten Körper gibt es nicht." 8 0 W. Heisenberg, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Acht Vorträge, 8. erw. Aufl., Stuttgart 1949, S. 88. 78 J. Meurers, Problem und Tragik einer integralen Naturbetrachtung, a. a. O., S. 12. 79 W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a. a. O., S. 250; F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, a. a. 0 . , . S . 278. — Vgl. Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch zu den philosophischen Fragen der Naturwissenschaften. Hg. von H. Hörz, H. Liebscher, R. Löther, S. Wollgast, 2. durchges. Aufl., Berlin 1983, S. I - X X X I V . 80 J. Meurers, Problem und Tragik einer integralen Naturbetrachtung, a. a. O., S. 12. — Meurers bezieht sich auf Keplers Beweise im „Prodromus dissertationum cosmographicum". Vgl. J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 8, S. 13.

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Vom Beispiel Keplers schließt Meurers dann auf das Problem und die „Tragik" der großen philosophischen Weltentwürfe. 81 Zum Vergleich werden die Potenz-Akt-Lehre des Aristoteles, die Dialektik Hegels und die Weltsicht Teilhard de Chardins genannt. Der dialektische Materialismus erringt bei Meurers gegenüber diesen Weltentwürfen einen gewissen Achtungserfolg. Ihm wird „in all seinen differenzierten Spielarten, formuliert als Marxismus bzw. Neomarxismus, eine Geschichtsmächtigkeit durch lange Zeiten hindurch" zugestanden. Aber der Pferdefuß folgt sogleich. Die Dialektik erscheint nämlich in der Physik „bestenfalls als eine Art Oberbau, welcher den Fakten einfach aufgesetzt wird, aber für die wissenschaftliche Betrachtungsweise überflüssig, ja hinderlich ist" 8 2 . Damit ist Kepler, der angebliche Kronzeuge für die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung von der Einheit der Welt, gleichzeitig Kronzeuge gegen den dialektischen Materialismus! Die objektive Dialektik in der Natur erscheint als willkürlicher Zusatz zu den faktischen Ergebnissen. Die Haltlosigkeit dieser Schlußfolgerungen ist an anderer Stelle ausführlich nachgewiesen worden. 83 Wir sind dem Gedankengang Meurers' hier deshalb gefolgt, weil damit gezeigt werden sollte, wie spätbürgerliches Philosophieren auch auf diesem Gebiet das progressive Erbe deutscher Vergangenheit für seine Ziele nutzt. E s wäre jedoch verfehlt, wollte man alle zu Ehren Keplers im bürgerlichen Lager geschriebenen Arbeiten mit denen von Meurers u. a. auf eine Stufe stellen. Kommen wir nochmals zusammenfassend auf die philosophisch-theologische Grundhaltung Keplers zurück. Wir nutzen dabei die von ihrer Anlage her theologische Habilitationsschrift von Jürgen Hübner. Nach Hübner haben gerade spezifisch theologische Sachprobleme Kepler auf den Weg zum naturwissenschaftlichen Denken geführt. Das ist in jener Zeit durchaus normal und zunächst nicht näher zu werten. Hübner geht chronologisch auf Keplers „theologische Grundhaltung" ein. Obwohl Kepler evangelische Eltern hat, ist er wahrscheinlich katholisch getauft worden. Weil der Stadt war katholisch, und Kepler verweist noch 1628 selbst auf dieses biographische Detail.8'1 Erzogen wurde er evangelisch. 1591 begann Kepler das eigentliche Theologiestudium. Unter seinen theologischen Lehrern übte Matthias Hafenreffer den größten Einfluß auf ihn aus. Auch nach Hübner entspricht „bei aller Zurückhaltung Keplers . . . seine theologische Position in wesentlichen Punkten nicht dem konfessionellen Luthertum württembergischer Prägung" 8 5 . Weiter wird gesagt, mit der dem „Mysterium Vgl. J . Meurers, ebenda. — Zu Meurers vgl.: H. Hörz, Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften, 2. Aufl., Berlin 1976, S. 196-200, S. 476-479. 82 Ebenda, S. 14. 83 Vgl. u. a. H. Hörz, Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften, 2. Aufl., a. a. O., S. 446-560. 84 Kepler an Paul Guldin, 24. 2. 162S, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 18, a. a. O., S. 331. 85 J . Hübner, Die Theologie Johannes Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft, a . a . O . , S. 10. (Vgl. die kritische Rezension von M.Büttner, in: Theologische Literaturzeitung, Berlin 101 [1976] Sp. 694-696.) 81

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cosmographicum" zugrunde liegenden Entdeckung sei für Kepler „der Schritt vom Priestertum am Buch der Bibel zum Priesterdienst am Buch der Natur definitiv getan". 8 0 E s ist in der orthodoxen Schulmetaphysik des 17. J h . durchaus üblich, Philosophie, Theologie und Naturwissenschaften zu trennen. Dies setzte sich immer mehr durch. Als Erkenntnisquellen gelten zunächst noch — gleichberechtigt — zwei Ströme: Erkenntnis der objektiven Realität („Buch der Natur") und Offenbarung. Meines Erachtens ist „Priesterdienst" bei Kepler doch wohl eher metaphorisch zu fassen. Man könnte ebenso Besessenheit von seiner Aufgabe dafür setzen, was ja auch heute durchaus etwas mit Glauben zu tun hat und nicht einmal religiös sein muß. In Prag finden wir unter Keplers Freundeskreis Vertreter aller Konfessionen. Schon im Brief an Johannes Pistorius vom 15. 6. 1607 wendet sich Kepler mit aller Schärfe gegen die katholische Hierarchie. 87 Vorrangig beschäftigt er sich in dieser Zeit aber theoretisch mit dem Calvinismus. Es zeigt sich, daß er weitgehend mit dessen Lehre, außer in der Prädestinationsfrage, übereinstimmt. In Keplers Prager Zeit fällt auch sein Briefwechsel mit Vertretern der lutherischen Kirche in Württemberg zu konfessionellen Fragen um Abendmahl und Christologie. Dieser 1609 einsetzende Briefwechsel bietet die Vorgeschichte und Voraussetzung von Keplers theologischen Schriften aus den späteren Jahren. Keplers Brief an Hafenreffer vom 18. 8. 1610 zeigt etwa, daß er die lutherische Ubiquitätslehre ablehnt. 8 8 Nach Hübner war Kepler in Prag ängstlich bemüht, seine calvinistischen Neigungen nicht in die Öffentlichkeit zu tragen. Erinnern wir uns dabei an Keplers Lage: Als vorgeblicher Lutheraner stand er im Dienst eines katholischen Kaisers! Einer weiteren — vom Augsburger Religionsfrieden (1555) ausgenommenen — Religionsgemeinschaft fühlte er sich verbunden. Keplers Vorsicht dürfte daher nur zu verständlich sein. Bekanntlich wurde er in Linz von Daniel Hitzler ob seiner calvinistischen Neigungen nicht zum Abendmahl zugelassen. Darauf rief Kepler das Stuttgarter Konsistorium an, das Hitzler recht gab.8'1 Das Abendmahl empfing Kepler dennoch — von befreundeten calvinistischen Pfarrern auf den Adelsgütern um Linz. Vor allem suchte Kepler Toleranz in Religionsfragen. Mit seinem „Unterricht Vom H. Sacrament des Leibs vnd Bluts Jesu Christi vnsers Erlösers" hatte Kepler 1617 eine selbständige Interpretation 8« Ebenda, S. 11. Vgl. J . Kepler an J . Pistorius, 15. 6. 1607, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 15, München 1961, S. 4 9 0 - 4 9 1 . 88 J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 16, a. a. O., S. 3 2 4 - 3 2 7 . 89 Konsistorium in Stuttgart an J . K e p l e r , 2 5 . 9 . 1 6 1 2 , in: J . K e p l e r , Gesammelte Werke, Bd. 17, a. a. O., S. 27—32. „Wenn einer externa professione, und mit dem Mund / der Wahr-Evangelischen Religion sich berühmet / aber in Articulis Religionis nicht aller Ding richtig ist / sondern ä sana doctrina exorbitirt / mit ungewissen zweiffelhafftigen opinionibus, und ungereimten speculationibus, die rechte Lehr verdunckelt / sich selbst / oder auch andere neben ihme / verwirret / nach seinein eigenen Düncken in Glaubens-Sachen et Mysteriis Divinis schwermet / an kein gewisse Form der reinen Lehr gebunden seyn will / auch der Ursachen / Formulae Concordiae . . . zu subscribiren / Bedenckens hat / derselben in einem oder mehrern Articulis widerspricht: so kan Minister Ecclesiae . . . einen solchen / ihme der Lehr halben bekannten Menschen / ad communionem nicht admittiren . . .", solange er nicht diese Irrtümer aufgegeben (ebenda, S. 28). 87

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der vor dem Sakramentsempfang im Gottesdienst verlesenen agendarischen Abendmahlsvermahnung für seine Familie angefertigt, drucken lassen und ein Exemplar an M. Hafenreff er geschickt. 90 Hübner faßt sie als Beispiel für Keplers „persönliche Haltung" und „Frömmigkeit", sagt aber gleichzeitig, daß Hafenreffer gerade die von Kepler herrührenden, nicht aus der offiziellen Version stammenden Teile entschieden kritisiert bzw. zurückweist. In einem Antwortbrief an Mästlin 1616 hatte Kepler angesichts wachsender Anwürfe gegen ihn seine theologische Position nochmals kurz dargelegt. Er basiere auf dem einfachen und vollen Sinn der Schrift, auf der Confessio Augustana und auf dem Werk von Martin Chemnitz, dem Koautoren der Konkordienformel gegen das tridentinische Konzil. 91 E r bejahe keine Lehre, die sich nicht bei den alten Vätern oder unumstritten bei allen heutigen theologischen Parteien finde. E r wolle den Frieden, gesteht aber, daß ihm einiges bei den Lutheranern und Calvinisten ge- und anderes bei beiden Richtungen mißfalle. E r bestreitet sogar die kirchentrennende Bedeutung des konfessionellen Gegensatzes zwischen Lutheranern und Calvinisten. Jedenfalls sehe er sich außerstande, eine Unterschrift unter die Konkodienformel vor seinem Gewissen zu verantworten. Daß sich Kepler sehr intensiv um die offizielle Zulassung zum Abendmahl bemühte, sieht auch Hübner m. E. zu Recht so: „Ausschluß aus der Kirche bedeutet in der damaligen Zeit . . . zugleich auch Ausschluß aus der Gesellschaft. Auch von daher sind Keplers Bemühungen um kirchliche Gemeinschaft zwischen Calvinern und Lutheranern wie zwischen den Konfessionen überhaupt existentiell wichtig und notwendig." 92 Damit bestätigt Hübner gleichzeitig Keplers irenischen Standpunkt. Hübner stellt sich — vor allem im zweiten Teil seines voluminösen Werkes — das Ziel, „den herausgearbeiteten Bestand von Keplers theologischem Denken in seinem inneren Zusammenhang mit dem übrigen Werk Keplers zu analysieren und in den Gesamtzusammenhang des Verhältnisses von Theologie und Naturwissenschaft zu stellen". 93 Auch er konstatiert, daß Kepler keiner Konfession zuzuordnen ist, aber eine Einheit aller Konfessionen anstrebt. Keplers wissenschaftliches Interesse ist an keine Konfession gebunden. E r ist Antikonfessionalist. Er sieht die Überlagerung der religiösen durch politische Motive und beklagt sie. Gott will nach Kepler durch das Wort der Bibel und aus dem Buch der Natur erkannt werden. Ähnlich wie in der Bibel offenbart Gott im Buch der Natur sein Wesen wie seinen Willen gegenüber den Menschen, gewissermaßen durch eine wortlose Art von Schrift. 94 Der Naturforscher vermag diese Schrift zu entziffern und damit diese zweite Offenbarung zum Ver9« J. Kepler an M. Hafenreffer, 28. 11. 1618, in: ebenda, S. 283-287. 91 J. Kepler an M. Mästlin, 12.-22. 12. 1616, in: ebenda, S. 2 0 3 - 2 0 4 . - V g l . M. Chemnitz, Examen Decretorum Concilii Tridentini, T. 1—4, Frankfurt 1566—1573. 92 J . Hübner, Die Theologie Johannes Keplers . . ., a. a. O., S. 48. 93 Ebenda, S. 101. 94 J. Kepler an M. Mästlin, 3. 10. 1595, in: J. Kepler, Ges. Werke, Bd. 13, München 1945, S. 40: Deus „vult ex libro Naturae agnoscj"; J.Kepler, Epitome Astronomiae Copernicanae, Cap. I, Einleitung, in: J.Kepler, Ges. Werke, Bd. 7, a . a . O . , S. 25: „. . . ipsissimus liber Naturae, in quo Deus conditor suam essentiam, suamque voluntatem erga hominem ex parte, et äloym quodam scriptionis genere propalavit atque depinxit."

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stehen zubringen. Darin erblickte Kepler seine Berufung. Überdies ist es Auf gäbe eines „Priesters am Buch der Natur", allein der Wahrheit und damit dem Ruhme Gottes zu dienen.95 Die Aufmunterung zu einem heiligen Lebenswandel als Ausdruck der Dankbarkeit ist dabei integrierender Bestandteil der astronomischen Arbeit. 96 Der ethische Appell steht also am Ende des Arbeitsganges. Keplers Gott ist, wenn man so will, der Harmoniegedanke, Anfang und Ende des Schaffensprozesses. Leitend ist immer der moralische Gesichtspunkt. 97 Man muß stets beachten: Über die Ethik führt die Loslösung vom Glauben hin zur Aufklärung! Nach Hübner gilt für Kepler, wobei er sich auf dessen Auslegung des 104. Psalms in der Einleitung zur „Astronomia Nova" bezieht, bei ihm sei „ausdrücklich zwischen Gotteslob und sekundärer Reflexion auf die Struktur des Naturzusammenhangs unterschieden. Grund, Ziel und Inhalt des Gotteslobes selbst zu bedenken ist Aufgabe der Theologie, Reflexion auf den Naturzusammenhang die der Naturwissenschaft. Nun ist aber für Kepler charakteristisch, daß er auch seine naturwissenschaftliche Arbeit grundlegend als Anweisung zum Gotteslob verstanden wissen will." Und: „Die Kausalforschung hat die gleiche Funktion wie das beschreibende Lob des Psalms." 9 8 Aber der Psalmist bleibt beim äußeren bloßen Augenschein stehen. Die kausale Naturforschung dagegen durchschaut die „Schöpfung" mit dem Auge des Geistes, erfaßt ihre Gesetze und stößt dabei um so eindringlicher und genauer auf die „Wunder" ihres Bauplans. Kepler betont immer wieder die ethische Bedeutung der astronomischen Erkenntnis für das irdische Leben. Die Erforschung der kosmischen Harmonie und die Verbreitung ihrer Erkenntnisse dienen „. . . zur Ehre Gottes deß schöpffers, zue mehrern dessen erkhentnuß aus dem Buch der natur, zue Besserung des menschlichen lebens, zue Vermehrung sehnlicher Begierd der Harmonien im gemeinen wesen, bey ietziger schmertzlich ubel khlingenten dissonanz" ,99 Vgl. J. Kepler an E. Bruce in Padua über Galilei, 4. 9. 1603, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 445. — Vgl. J. Kepler, Mysterium Cosmographicum. Editio altera cum notis, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 8, München 1963, S. 127: „Tu nunc, amice Lector, finem omnium horum ne obliuiscare, qui est cognitio, admiratio et veneratio Sapientissimi Opificis. Nihil enim est ab oculis ad mentem, ä visu ad contemplationem, ä cursu aspectabili ad profundissimum Creatoris consilium processisse: si hic quiescere velis, et non vno impetu totaque animi deuotione sursum in Creatoris notitiam, amorem cultumque efferare." 96 J. Kepler, Prognosticum auf das Jahr 1620, bearb. von M. Caspar und W. von Dyck, in: Abhandl. d. Bayer. Akad. d. Wissensch., math.-nat. Kl., NF, Heft 17, München 1933, S. 9: „Damit würt menniglich Leser vnd Schreiber auffgemuntert / den Allmächtigen Schöpfer vnnd Erhalter baydes deB Gestirns vnnd der Menschlichen Seelen / die zur erkandnuß seiner Wercke erschaffen ist / vnauffhörlich zu loben vnnd zu preysen / jhme auch mit heiligem Leben vnnd Wandel für alle solche vnnd noch höhere gaistliche Gutthaten danckbar zu seyn: Welliches bey allen dergleichen Astronomischen Wercken / der erste vnnd fürnemiste Zweck seyn soll." 97 Vgl. J. Kepler, Weltharmonik, übers, und eingel. von M.Caspar, a . a . O . , S. 317: „Möge er [Gott — S. W . ] uns die Kraft geben, daß wir als Nachahmer Gottes mit Hilfe seines Hl. Geistes der Vollkommenheit seiner Werke nacheifern durch Heiligkeit des Lebenswandels, zu der er seine Kirche auf Erden erwählt und durch das Blut seines Sohnes von Sünden gereinigt hat . . . " 98 J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers . . ., a. a. O., S. 169. 99 Kepler an den Senat von Regensburg bei Überreichung eines Exemplars der

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Kepler bildet ein einheitliches Weltbild heraus. Das Buch der Natur ist in der Sprache der Geometrie geschrieben. Sie ist das Strukturelement des Kosmos. Kepler stellt ausführliche Überlegungen darüber an, wie Gott bei der Schöpfung im einzelnen vorging, zu welchem geometrischen Zweck er bestimmte Gesetze angewandt hat und welche mathematischen Gesichtspunkte er dabei berücksichtigen mußte. 100 Die Geometrie ist, das sei nochmals betont, gleich ewig wie Gott, sie leuchtet in seinem Geist auf und hat ihm die Vorbilder für die Ausschmückung der Welt bereitgestellt. 101 Hübner kommentiert: „Der Schöpfer hat die Ideen dem Vorrat der geometrischen Figuren (wörtlich dem geometrischen Mundvorrat) entnommen, und Kepler möchte fast hinzufügen, er hätte nur das geschaffen, was er auf Grund der Geometrie hätte schaffen können und weggelassen, was er nicht kannte." 102 Im platonischen Sinne — Proklos formuliert in seinem Euklid-Kommentar fast wörtlich wie Kepler — identifiziert Kepler Geometrie mit Gott, sie ist Gott selbst. 103 Die Materie ist Werk der Schöpfung, die Geometrie war vor der Materie. Die geometrische Struktur, die in Gott wesentlich von Ewigkeit gewesen ist, ist dann sekundär W e l t h a r m o n i k , 3 0 . 4 . 1 6 2 0 , i n : J . K e p l e r , Gesammelte Werke, Bd. 17, a . a . O . , S. 431. 100 Vgl. z. B. J . Kepler, A s t r o n o m i a nova, i n : J . Kepler, G e s a m m e l t e W e r k e , Bd. 3, München 1937, S. 247. 101 J . Kepler, W e l t h a r m o n i k , a . a . O . , S. 98: „Die Geometrie n ä m l i c h . . . ewig wie G o t t u n d aus dem göttlichen Geist hervorleuchtend, h a t . . . G o t t die Bilder zur Ausgestaltung der Welt geliefert, auf daß, diese die beste u n d schönste, d e m Schöpfer ähnlichste würde." Vgl. ebenda, S. 210: „. . . d a ß die m a t h e m a t i s c h e n Begriffe der zu schaffenden Körperwelt mit Gott v o n Ewigkeit v o r h a n d e n w a r e n . " Vgl. Kepler a n Chr. H e y d o n , S o m m e r 1605, i n : J o h a n n e s Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 249: „Die geometrischen (d. h. q u a n t i t a t i v e n ) Figuren sind Vern u n f t d i n g e . Die V e r n u n f t ist ewig. Also sind die geometrischen Figuren ewig, v o n Ewigkeit her w a r das W a h r e im Geiste Gottes, z. B. d a ß das Q u a d r a t ü b e r der Viereckseite gleich der H ä l f t e des Q u a d r a t s über der Diagonale ist. Die Q u a n t i t ä t e n bilden also das Urbild der W e l t " ; J. Kepler, D i s s e r t a t i o c u m nuncio sidereo, i n : J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 4, a. a. O., S. 308: „ G e o m e t r i a u n a et a e t e r n a est, in m e n t e Dei refulgens . . . " 102 J . H ü b n e r , Die Theologie J o h a n n e s Keplers . . ., a. a. O., S. 176. 103 J . Kepler, W e l t h a r m o n i k , a . a . O . , S. 214: „Die Geometrie, v o n der E n t s t e h u n g der Dinge v o n Ewigkeit her zum göttlichen Geist gehörig, G o t t selbst (denn w a s ist in G o t t , d a s nicht Gott selbst wäre) h a t G o t t die Urbilder f ü r die E r s c h a f f u n g der Welt geliefert." — Fleckenstein m e i n t : „an u n d e r c u r r e n t of P y t h a g o r e a n i s m h a s been present all t h r o u g h t h e development of P l a t o n i s m since A n t i q u i t y , a n u n d e r current which is responsible for t h e fact t h a t m a t h e m a t i c a l p h i l o s o p h y is P l a t o n i c (Proclus), b u t t h e m a t h e m a t i c s of N a t u r a l P h i l o s o p h y are P y t h a g o r e a n (Theon). A f t e r l a t e a n t i q u i t y t h e t w o t r e n d s develop separately in t h e h i s t o r y if ideas as Neo-Platonism a n d Neo-Pythagoreanism." (J. O. Fleckenstein, Kepler a n d Neoplatonism, i n : Vistas in Astronomy, Oxford — New Y o r k — T o r o n t o 18 [1975] p. 427). N a c h Fleckenstein b e t o n t W. Pauli d e n E i n f l u ß des N e u p y t h a g o r e i s m u s auf Kepler. Fleckensteins Unterscheidung v o n N e u p l a t o n i s m u s u n d N e u p y t h a g o reismus erscheint uns zu statisch. E r stellt f e s t : „ I n A s t r o n o m y Galilei is a NeoPlatonist adhering t o t h e 'noble' circular orbits of t h e celestial bodies, a n d K e p ler a N e o - P y t h a g o r e a n who lost his way in a N e o - P y t h a g o r e a n n a t u r e - m y s t i c i s m while t r y i n g t o i n t e r p r e t t h e a t t r a c t i o n of t h e Sun o n t h e p l a n e t s . " E r b e t o n t u n d belegt die Eigenständigkeit v o n Keplers N e u p y t h a g o r e i s m u s , d u r c h die er sich v o n R o b e r t F l u d d unterscheide (ebenda, p. 433). „ I n his y o u t h , Kepler, i n t r u e

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durch die Schöpfung aus Gottes Wesen in die Materie eingegangen. 1 0 4 Das ist idealistischer Pantheismus! Gott ist Geometrie, aus ihr geht Materie hervor. Der Neuplatonismus bzw. Piatonismus ist hier unübersehbar. Schließlich ist für Kepler der Archetypus der Welt mit G o t t e s Wesen identisch. 1 0 5 D a s Weltprinzip der Geometrie konkretisierte sich für Kepler in der Weltharmonie, die der geometrischen Harmonie der Töne in der Musik entspricht. Folgerichtig ist damit Gott selbst wesenhafte Harmonie. Gegenstand der Harmonie sind die Quantitäten. Dinge, zwischen denen Harmonien bestehen, müssen durch das gleiche Größenmaß meßbar sein. Geometrische Figuren sind quantitativer Natur und daher rational. Sie waren vor dem Himmel da. Die Quantität ist a m Anfang mit den Körpern geschaffen worden, der Himmel erst a m zweiten Tag. Die Qualität hat bei der ursprünglichen Schöpfung des Körpers Gott bereits vorgelegen. Das heißt aber, daß die Ideen der Quantitäten mit Gott gleich ewig, ja Gott selbst sind, wie die Vernunft ewig ist. 1 0 6 Die Zahl in der Welt ist ein Akzidens der Quantität. Das Maß der Zahlen verweist auf das der Quantitäten. Das ganze Wesen der Quantitäten besteht gewissermaßen in der Unterscheidung der beiden Begriffe des Geraden und Krummen, wobei das K r u m m e Gott in der Welt vergegenwärtigen soll, das Gerade aber den Geschöpfen zugeordnet ist. Der Vergleich der Quantitäten ist die Messung, und messen

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Renaissance spirit, perfected the antique Neo-Pythagoreanism in his Mysterium Cosmographicum. This contribution alone would have sufficed to make him immortal in the history of science . . . Kepler . . . was the first to realize that the Platonic circle is a special case of an ellipse (having eccentricity zero). Perhaps it was Pythagoreism, mixed with a specific numerical empiricism, which prevented Kepler from understanding the pure Neoplatonism of Galileo." (Ebenda, p. 434) „As is known, Kepler's third law in Harmonices Mundi (1619) fullfilled the Pythagorean dream of explaining the law of distances, since he found the powers to which the periods and distances should be raised by Pythagorean speculation and numerical calculations. This law led Newton to postulate a universal constant of gravitation . . . Indeed, Newton, is the first to unify Keplerian and Galileian concepts in a complete synthesis of Neopythagoreanism and Neo-Platonism. It should never be forgotten that it was Pythagorean speculation which led Kepler to the Third Law of his Mysterium Cosmographicum, the very law which inspired Newton to formulate his idea of a central law of gravitation, tl>is providing the basis of classical celestial mechanics in the age of Positivism." (Ebenda, p. 435). — H. Ley betrachtet Fleckensteins Unterscheidung von neupythagoreischer Mystik bei Kepler und neuplatonischer Dialektik bei Galilei als „eine philosophisch am Rande bleibende Charakterisierung" (H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 363). - Vgl. oben unsere S. 231f. J . Kepler an Tanckius, 12. 5. 1608, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 16, a. a. O., S. 161: „Igitur in Deo fuit essentialiter ab aeterno in materiam ex Dei essentia creando influxit." J . Kepler, Weltharmonik, a. a. O., S. 348: „Das Urbild der Welt, das Gottes Wesenheit selber ist." J . Kepler, Das Weltgeheimnis, übers, u. eingel. v. M. Caspar, a. a. O., S. 45: „Ich sage, die Quantität lag Gott vor." — Vgl. dazu J . Kepler an Herwart von Hohenburg, 9./10. 4. 1599, in: J . Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 103: „Für Gott liegen in der ganzen Körperwelt körperliche Gesetze, Zahlen und Verhältnisse vor, und zwar höchst erlesene und auf das beste geordnete Gesetze."; J.Kepler, Das Weltgeheimnis (1621), a. a. O., S. 27: „In der Tat sind und waren die Ideen die Quantitäten ewig in Gott, sie sind Gott selber."; J . Kepler, Brief an Chr. Heydon, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 15, a. a. O., S. 235: „Ratio aeterna".

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heißt wissen. Eine Unendlichkeit der Welt würde kein Messen und daher also auch kein Wissen gestatten.107 Die Unterschiede der Quantitäten treten bei Kepler ausdrücklich an die Stelle der aristotelischen Qualitätsunterschiede. „Das quantitative Denken beschreibt Kausalzusammenhänge. Kepler geht es darum, Ursachen aus den Quantitäten heraus wahrscheinlich zu machen."108 Bei Kepler haben wir bereits, um es auf ei ne Kurzformel zu bringen, die „Zauberworte" der klassischen Naturwissenschaft: Zählen, Messen, Wägen. Sie sind für ihn ebenso bestimmend wie die erwähnten, in die Naturphilosophie der Renaissance reichenden Züge. Gerade deshalb können wir von Kepler als einer Übergangsfigur von der Naturphilosophie der Renaissance zum mechanistischen Materialismus sprechen. Dabei sind für Kepler die Wirkungen der causae nicht einlinige, sondern wechselseitige. Beeinflussung und Abhängigkeit der Ursachen untereinander bestehen gleichzeitig in einem mehrdimensionalen Raum. Daß Gott „die mathematischen Dinge wie Archetypen von Ewigkeit bei sich hatte, bildet den Grund dafür, daß die Mathematica Ursachen der natürlichen Dinge werden. Die Mathematik der Welt ist in der mathematischen Wesensart des göttlichen Geistes absolut vorgängig begründet. Gott ist auf mathematische Weise prima causa und als solche Grund des Seins der Welt, Schöpfer . . . Sünde hängt mit Unkenntnis des Weltzusammenhangs, mit Unkenntnis und Vernachlässigung der bestehenden Gründe zusammen."109 Eine entscheidende Bestimmung der Keplerschen Erkenntnistheorie besagt, daß Gott den menschlichen Geist grundlegend zum Verstehen der quantitativen Struktur der Welt geschaffen hat. Die platonische Idee der Wiedererinnerung ist zentral, Erkenntnis ist um so richtiger, je näher sie den reinen Quantitäten als ihrem Ursprung kommt.110 Die Erkenntnis des Menschen ist von prinzipiell gleicher Art wie die Gottes, nur von der persönlichen Sterblichkeit begrenzt. Gott und Mensch haben an der gleichen Mathematik teil. Die in der Schöpfung konkretisierten göttlichen Gedanken denkt der Mensch nach. Indem er sie erforscht, erinnert ersieh zugleich. Die Geometrie ging bereits bei der Schöpfung mit dem Bild Gottes in den Menschen ein. Erkenntnis ist — wieder wird Proklos gefolgt — der Vergleich eines äußerlichen Sinnlichen mit den inneren Ideen und die Beurteilung seiner Übereinstimmung mit diesem.111 Beides geschieht durch den Geist als oberstes Seelenvermögen. „Der ErJ. Kepler an Chr. Heydon, in: ebenda, S. 236: „Nam comparatio est mensuratio, mensurare est scire; infiniti nulla mensura velscientia." — Vgl. J. Kepler, De Stella nova in pede Serpentarii, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 1, a. a. O., S. 251—257, S. 257 gegen Bruno: „. . . infinita mensura cogitatur nunquam." 108 J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers . . ., a. a. O., S. 181. W9 Ebenda, S. 182, S. 183. "o J. Kepler an M. Mästlin, 9.4.1597, in: J.Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 13, a. a. O., S. 113: „. . . intelligat, Cum Deus omnia ad quantitatis normas condiderit in toto mundo: mentem etiam hominj datam, quae T A L I A comprehendat. Nam ut oculus ad colores auris ad sonos, ita mens hominis non ad quaevis, sed ad QVANTA intelligenda condita est, remque quamlibet tanto rectius pereipit, quantö illa propior est nudis quantitatibus, ceu suae originj: ab his quo longius quidlibet recedit, tantö plus tenebrarum et errorum existit." 111 J. Kepler, Weltharmonik, a. a. O., S. 214: Die Geometrie ist „mit dem Bild Gottes . . . in den Menschen übergegangen, also nicht erst durch die Augen in das Innere aufgenommen worden". Ebenda, S. 217: „Denn wahrnehmen heißt ein äußeres 107

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Wollgast

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KEPLERS

kenntnisakt ist allgemein auf folgende Elemente bezogen: Größen, die quantitativ miteinander verglichen werden können; die vergleichende Seele; die Aufnahme der Sinnendinge in das Innere der Seele; eine Proportion, die als Harmonie definiert werden kann. Diese Elemente machen bezogen auf Sinnendinge gleicher Art das Sein der sinnlichen Harmonien aus. Deren Urbilder finden sich archetypisch in der Seele und bedingen die Möglichkeit des Erkennens, das wesentlich in Vergleichen besteht."112 Letztere Aussage schöpft Keplers Denkweise und Handlungskonsequenz nicht voll aus. Darauf sind wir zu Beginn unseres Kapitels eingegangen. Ein weiterer leitender Gesichtspunkt in Keplers Denken ist neben der grundsätzlichen Erkennbarkeit der Konstruktionsprinzipien der Welt die Betonung der Sonne. Sie kann als sichtbare Gottheit bezeichnet werden.113 In welcher Weise Kepler den Trinitätsgedanken mit der Sonne und ihrer Hochschätzung verbindet, sei hier nicht näher ausgeführt. Jedenfalls findet sich die Analogisierung von Kugeloberfläche, Weltaufbau und göttlicher Trinität bei Kepler häufig. Hübner verweist darauf, daß sich Ansätze zu Keplers mathematischem Denken auch bei Melanchthon finden, ebenso etwa bei Aegidius Hunnius und Heerbrand, z. B. die Idee von Gott als „Protogeometer". Heerbrand behandelt die Schöpfung im Sinne einer Naturkunde; sie ist nicht mehr eigentlich ein spezifisch theologisches Phänomen. Man könnte weitere Beispiele aus der italienischen Naturphilosophie anführen. Hunnius und Heerbrand dürften diese Ideen von dort entnehmen. Man muß auch hier „ad fontes" gehen. Und die Quellen für diese Ideen liefert wieder der Renaissance-Platonismus: „. . . er ist sowohl mit der augustinischen als auch mit der aristotelischen Tradition der mittelalterlichen Philosophie verbunden; und dank der Leistung dreier bedeutender Denker des späten 15. Jahrhunderts spielte er in der Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts und darüber hinaus eine wichtige Rolle."114 Diese drei sind Cusanus, der bedeutendste Renaissance-Platoniker M. Ficino und G. Pico della Mirandola. Die Berufung lediglich auf Melanchthon und den prominenten lutherisch-orthodoxen Theologen Hunnius bei Hübner ist zu kurzschlüssig. Dieser meint weiter: „Kepler hat die vom Kausalschema bestimmte und von platonischen Gedankengängen beeinflußte natürliche und Schöpfungstheologie seiner Zeit übernommen. Hier ist neben der allgemeinen, unmittelbar pythagoreisch und platonisch bestimmten natürlichen Theologie ein weiterer entscheidender Ansatzpunkt gerade seiner naturwissenschaftlichen Arbeit zu sehen. Doch ist auch sein Schöpfungsglaube und sein Schöpfungsverständnis durchaus wie in der Schultheologie existentiell-soterisch bestimmt. Der Schöpfer ist ihm existentiell ebensowenig wie den Theologen seiner Zeit ein

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Sinnliches mit den inneren Ideen vergleichen und seine Übereinstimmung mit diesen feststellen." J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers . . a. a. O., S. 185. J. Kepler, Das Weltgeheimnis, hg. v. M. Caspar, a. a. O., S. 126: „Mit weit mehr Recht gebühren nun der Sonne jene edlen Beiworte, Herz der Welt, Königin, Fürstin unter den Sternen, sichtbare Gottheit usw." P. O. Kristeller, Humanismus und Renaissance, Bd. 1, a. a. O., S. 58—59. — Vgl. A. Ch. Gorfunkel', Filosofija epochi vozrozdenija, a. a. O., S. 52—99.

HARMONIEDENKEN, QUANTITÄT,

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abstraktes Prinzip, sondern lebendige Wirklichkeit, wie die zahlreichen doxologischen Stücke gerade in seinen wissenschaftlichen Texten belegen." 1 1 5 E s kann nicht verwundern, daß der als Theologe ausgebildete Kepler sein Wissen auch in dieser Hinsicht benutzt. Wie sollte er sich seiner Zeit zudem anders verständlich machen? Wie zum Selbstverständnis gelangen? Denn auch seinem Denkprozeß ist ständig Gott immanent — wie jedem seiner Zeitgenossen. Zweitens ergibt sich dieses Verhalten aus seiner Auffassung von den zwei Quellen des Wissens. Drittens kann kein Mensch völlig am Ideengut seiner Zeit vorbeigehen. Und in dieser Zeit ist die — weitgehend mit Theologie verbundene — Schulmetaphysik bestimmend. Nach Hübner geht Kepler konform mit der Schultheologie bzw. -philosophie in der Betonung der Endlichkeit der Welt, der creatio ex nihilo (aber auch in bezug auf die Materie; Gewicht, Maß und Zahl existierten ja schon zuvor), und im Gegensatz zu Aristoteles gibt es keine Trennung zwischen Himmel und Erde. „Kepler interessiert nicht nur wie die Theologie das Daß der Schöpfung, sondern ihr Wie, und er versucht, dieses Wie pythagoreisch-platonisch zu erklären." 1 1 6 Das ist zwar für Kepler ein Lob, aber auch die Schulmetaphysik — das sollte zu ihrer Ehrenrettung gesagt werden — beschäftigte sich mit diesem „Wie". Kepler vertrat die naturwissenschajtliche Richtigkeit des copernicanischen Systems (gegen Gen. 1,14; Jos. 10, 1 2 - 1 3 ; 2. Kön. 20, 11; Jes. 38, 8 ; 1. Chron. 16, 30; Pred. 1, 4 - 6 ; Ps. 19, 6 - 7 ; Ps. 104, 5 ; Ps. 119, 90). Damit stand Schrift gegen Naturwissenschaft. Hafenreffer forderte Kepler auf, Copernicus' Theorie nur als Hypothese zu fassen; damit wäre das Problem der doppelten Wahrheit erneut gestellt. Aber für Kepler gibt es nur eine Wahrheit. Für ihn gibt die Bibel überhaupt keine Auskunft über naturwissenschaftliche Fragen (Gen. 1 ausgenommen). Versuchte in der Schulphilosophie D. Hofmann gegen die Ergebnisse der progressiven Philosophie die eine Wahrheit nur aus dem Glauben abzuleiten, so besteht dieses Problem für Kepler nicht. E r bedarf auch nicht der doppelten Wahrheit eines C. Martini, um. die Rechte der Philosophie zu retten. Für ihn löst sich das Wahrheitsproblem mit seiner pantheistischen Grundhaltung. Auch das ist charakteristisch für den Übergang von der Naturphilosophie zum mechanistischen Materialismus. Die Bibel bedient sich nach Kepler der üblichen Denkweise des Volkes, auch wenn diese nicht mit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis übereinstimmt. 117 Die sog. Akkomodationstheorie, wonach sich Gott in seiner Offenbarung dem Vorstellungsvermögen der Menschen angepaßt habe, ist in der Geschichte der Bibelexegese mit Keplers Namen verbunden geblieben. Sie ist in der römisch-katholischen Lehre durch Papst Leo X I I I . in der Enzyklika Providentissimus Deus (18. 11. 1893) kanonisiert worden. Zu Keplers Zeit stellt sie — noch dazu in Deutschland — einen Prozeß dar, der vor allem in der Naturwissenschaft und Medizin Schranken aus dem Wege räumt. 115 1,6 117

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J. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers . . a. a. O., S. 200-201. Ebenda, S. 204. J. Kepler an N. Vicke, Juli 1611, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 16, a. a. O., S. 389: „Cum sacris ego uno verbo transigo: de mathematicis loquuntur, non docent mathematica, loquuntur autem ut capi possint, id est sermone usitato. At usitati sermonis Magister oculi, oculos verö decipi, thema est opticum."

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KEPLERS

Kepler kämpfte übrigens entschieden gegen jeden Fatalismus. Er sucht Gottes Vorsehung zu ergründen, nimmt sie nicht einfach hin. Häbner stellt m. E. richtig fest: „An die Stelle des göttlichen Dekretes, das speziell auch die Prädestination mit umfaßt [Calvinismus — S. W.] tritt letztlich das schöpferische Dekret der Weltharmonie, an die Stelle eines scheinbaren Willkürwillens der geometrische Wille Gottes. Die praescientia im Sinne der lutherischen Theologie konkretisiert sich mathematisch, und das schließt wiederum eine Formulierung der Soteriologie in der Weise der lutherischen Christologie und Abendmahlslehre aus. Mit dem Papsttum ist beides nicht vereinbar." 118 Also zeigt sich auch in diesem Punkt: Kepler ist weit von der Schul-Theologie seiner Zeit entfernt, geht über sie hinaus. Hübner datiert von Kepler m. E. zu Recht: „Durch die objektivierende Scheidung von Glaubens- und Schöpfungswahrheit ist der Weg zum reinen naturwissenschaftlichen Denken im modernen Sinne freigemacht worden. Sie bildete die Basis für eine eigenständige Weiterbildung der Naturwissenschaft."119 Wesentlich erscheint dabei Keplers methodologische Maxime: „Zunächst beschreiben wir die Natur der Dinge mittels Hypothesen, danach gewinnen wir aus ihnen die Berechnung (calculum), d. h. wir zeigen die Bewegungen (motus), darauf erklären wir den Lernenden von daher die richtigen Rechenregeln (vera calculi praecepta) auf umgekehrtem Wege." 120 Diese These ist ein Grundgedanke moderner naturwissenschaftlicher Forschung. Kepler macht in seinen Auffassungen eine Entwicklung durch. Das bezeugen z. B. seine Anmerkungen von 1621 zum „Mysterium cosmographicum". 1596 spricht er von der Bewegung der Planeten durch eine gewisse göttliche Wunderkraft, sie wird durch Einsicht in die geometrischen Verhältnisse geregelt.121 Er spricht von einer bewegenden Seele im Mittelpunkt aller Planetenbahnen, der Sonne. 1621 will er das Wort „Seele" durch „Kraft" (vis) ersetzt wissen.122 1596 hatte Kepler gesagt, daß jeder der drei oberen Planeten feindseligen Haß gegen die übrigen äußere.123 1621 bezeichnet er diese Aussage als Allegorie und interpretiert sie physikalisch: Unter dem Wort „Haß" sei irgendein Unterschied in Lage, Bewegung, Licht und Farbe zu verstehen.124 Kepler Vgl. J . Hübner, Die Theologie Johannes Keplers . . ., a. a. O., S. 268. iw Ebenda. 120 J . Kepler, Apología Tychonis contra Nicolaum Reymarum Ursum, in: J. Kepler, Opera omnia, ed. Chr. Frisch, Vol. I, a. a. O., S. 244 (übers. — S. W.). 121 J. Kepler, Das Weltgeheimnis, a. a. O., S. 102: „. . . ob nicht . . . die Sterne durch eine gewisse göttliche Kraft, frei von den Fesseln der Bahnen, über die himmlischen Gefilde und durch den Himmelsäther getragen werden, wobei der Lauf durch eine Einsicht in die geometrischen Verhältnisse geregelt wird"; ebenda, S. 104: „. . . daß man eine solche Einsicht in den Beweger nicht braucht". 122 J. Kepler, Mysterium Cosmographicum, Editio altera cum notis, in: J.Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 8, a. a. O., S. 111: „. . . unam esse motricem animam in orbium omnium centro, scilicet in Sole"; ebenda, S. 113: „si pro voce Anima, vocem Vim substituas, habes ipsissimum principium, ex quo Physica Coelestis in Comment. Martis est constituía, et lib. IV. Epitomes Astr. exculta." 123 Ebenda, S. 57: „Trium superiorum quilibet cum reliquis (2) hostilia excercet odia." 124 Ebenda, S. 59: „Hoc allegorice intellectum physicis rationibus defendi potest: vt si sub odij vocabulo discrimen qualecunque intelligatur situs, motus, luminis, colorís." 118

T H E O L O G I S C H E ODER NATURWISSENSCHAFTLICHE

AUFFASSUNG?

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lehrt mit seiner „Himmelsphilosophie" oder „Himmelsphysik" zugleich eine neue Arithmetik, bei der man nicht von Kreisen, sondern von natürlichen und magnetischen Kräften ausgeht. Die „Himmelsphysik" steht dann auch als kausale Erklärung gegen eine bloße Beschreibung der Himmelserscheinungen. Kepler steht mitten im Prozeß der Trennung von theologischer und naturwissenschaftlicher Denkweise. Er meint, man müsse zwischen Theologie und Naturwissenschaft unterscheiden. So gehöre die Himmelsvorstellung der Theologie nicht in die Physik. 125 Die Wahrheit des copernicanischen Systems wiederum berührt keines Menschen Heil oder Glück.126 In der Theologie weiß man von physikalischen Dingen ebensowenig wie von der „Zahl coniugationis neruorum in corpore humano" 127. In der Physik solle man den Heiligen Geist aus dem Spiel lassen.128 Und: auch ein Häretiker könne ein guter Physiker sein.129 Kepler stellt sogar fest: Die Bibel kann naturwissenschaftlich Unzutreffendes sagen! Es kommt aber bei ihm zwangsläufig ständig zu Schwankungen. Hübner nennt für Keplers Kontroverse mit den Theologen u. a. als Grund: „Wenn das Fleisch Christi in der Welt allgegenwärtig wäre, wären auch die Gesetze der Weltnatur außer Geltung gesetzt. Die Gegenwart des Fleisches Christi wäre naturwissenschaftlich nicht zu verifizieren." 130 Kepler akzeptiert zwar Wunder, lehnt aber ein den Schöpfungszusammenhang aufhebendes Wunder hinsichtlich der Präsenz Christi seit seiner Himmelfahrt mit naturwissenschaftlichen Argumenten ab. Bereits schärfer, aber auch mit solchen Argumenten argumentieren die Sozinianer (vgl. Kap. VI). Dem naturwissenschaftlichen Denken im Sinne Keplers entspricht auch die Qualität von Buchstaben und Geist. Ganz anders im kirchlichen Denken! Das Mysterium der Inkarnation bleibt Kepler schließlich reiner, nur durch die autoritative Aussage der Bibel gedeckter Glaubensartikel. Hier sei es unsinnig, mit naturwissenschaftlichen Mitteln heranzugehen. Kepler glaubt es einfach — als Kind seiner Zeit, als Vertreter des Umbruchs. Wir haben die Inanspruchnahme Keplers durch Theologen unseres Jahrhunderts zurückgewiesen. Damit kontrastiert auch die bürgerlich-humanistische Auffassung des bedeutenden westdeutschen Physikers Walther Gerlach, eines der bekanntesten Kepler-Forscher des 20. Jh. Er bezeichnete Kepler als „den Ethiker der Naturforscher", denn er gebe „das erste Beispiel für wissenschaftliche Wahrheitssuche: die Ablehnung jeder anderen Autorität, die Unvoreingenommenheit auch der eigenen Lieblingsvorstellung gegenüber".131 Gerlach beruft 12r>

J . Kepler, Tertius interveniens, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 4, a. a. O., S. 189: „Ob jhrer [der Himmel — S. W.] viel weren / da mag man die Theologos drüber hören / dann jhre mehrere Himmel gehören nicht in die Physicam . . ." "6 J . Kepler an M. Mästlin, 11. 6. 1598, in: J . Kepler in seinen Briefen, Bd. 1, a. a. O., S. 79. 127 J . Kepler, Tertius interveniens, a. a. O., S. 230. 128 J . Kepler, Neue Astronomie, a. a.O., S. 31: Man „solle den Hl. Geist aus dem Spiel lassen und nicht zum Gespött in die Schulen der Physiker hineinziehen". " 9 Vgl. Kepler an J . Deckers, 18. 9. 1607, in: J . Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 16, a. a. O., S. 4 9 - 5 0 . 130 J . Hübner, Die Theologie Johannes Keplers . . . , a. a. O., S. 286. 131 W. Gerlach, Johannes Kepler — der Ethiker der Naturforschung, in: Die Naturwissen-

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sich oft auf Keplers These, die Naturforschung müsse „vom Sein der Dinge, die wir mit den Augen betrachten, zu den Ursachen ihres Seins und Werdens vordringen", 132 und formuliert davon ausgehend: „In dieser Methode der exakten Naturforschung, die von der Erkenntnis einer Erscheinung zum Grund der Erscheinung, vom Schein zum Wesen vordringt, liegt das humanistische Element der Naturwissenschaft." 133 Gerlach sieht, daß Kepler eine Trennung zwischen Naturwissenschaft und Religion eindeutig vollzogen hat und damit „der leidige Disput" zwischen beiden, „ihr Streit um den Vorrang und ihr Paktieren . . . eigentlich ein Ende gefunden haben" sollte.13'1 Eine ähnlich hohe Einschätzung Keplers findet sich übrigens auch bei A. Einstein. 135 (In der Wissenschaftsgeschichtsforschung der B R D folgt etwa Fritz Krafft.) Meine Bemerkungen sollen deutlich machen, daß auch die Beschäftigung mit Kepler im bürgerlichen Lager heute häufig einem bestimmten Zweck dient: „Wer die Einheit des Christentums durch alle Jahrhunderte hindurch betont, wer die Kontinuität christlichen Wesens durch zwei Jahrtausende nachweisen will, wer zeigen will, daß die Krisen und Widersprüche auf Mißverständnissen verschiedener Art beruhen, der muß vor allem die großen Ketzer . . . in die christliche una sancta ecclesia heimholen. Die Rehabilitierung der Ketzer . . . erreicht heute einen Höhepunkt . . . die Täufer und die Antitrinitarier, die Humanisten und die Aufklärer, sie alle werden, dank vielfältiger gelehrter Bemühungen, zu echten Söhnen der einen Kirche umfunktioniert, werden reingewaschen von jedem Makel des Irrglaubens und als testes veritatis christianae, als Diener des einen Herrn Jesu Christi, in die Gemeinschaft der Gläubigen zurückgeführt . . . die Heimholung der Ketzer soll die Kirchen anziehender machen, gleichsam verjüngen und ihre Basis verbreitern helfen." 136 Unsere Einschätzung Keplers will dagegen auf das dringende Erfordernis aufmerksam machen, seine philosophische Grundhaltung unter marxistischen Gesichtspunkten weiter zu untersuchen. Schäften, Berlin (West) — Göttingen — Heidelberg 48 (1961) S. 92. — Zur Einschätzung Gerlachs vgl. K. Wagner, Naturwissenschaft und Humanismus. Zur weltanschaulichen Position Walther Gerlachs, Berlin 1969. 1 3 2 J . Kepler, Das Weltgeheimnis, a. a. O., S. 7. 133 \ y Gerlach, Vom A t o m zum Weltsystem, Stuttgart 1954, S. 5. 1 3 4 W. Gerlach, Tradition und Evolution in den Naturwissenschaften, in: Merkur, Köln - Berlin (West) 16 (1963) S. 1055. 135 Vgl. A. Einstein, Johannes Kepler, in: A.Einstein, Aus meinen späten Jahren 2. Aufl., Stuttgart 1953, S. 2 2 7 - 2 3 0 : A. Einstein, Joh. Kepler (Zum 300. Todestag), in: Mein Weltbild, hg. vonC. Seelig, Berlin (West) 1957, S. 1 4 7 - 1 5 1 . 1 3 6 M. Steinmetz, Reformation und Bauernkrieg in: Unbewältigte Vergangenheit. Handbuch zur Auseinandersetzung mit der westdeutschen bürgerlichen Geschichtsschreibung, hg. v. G. Lozek u. a., 2. Aufl., Berlin 1971, S. 137.

FÜNFTES KAPITEL

Johann Valentin Andreae. Versuch eines Überblicks

1. Leben und

Wirkungsfeld

Johann Valentin Andreae wurde am 17. August 1586 zu Herrenberg in W ü r t t e m berg als Pfarrerssohn geboren. Sein Großvater war der württembergische Reformator und Tübinger Kanzler Jakob Andreae, der H a u p t a k t e u r bei der Edition der „Formula concordiae". Hafenreff er, zeitweilig Diakon beim Vater Andreaes, taufte den jungen Johann Valentin. 1591 verzog die Familie Andreae nach Königsbronn (bei Heidenheim a. d. Brenz). 1601 starb Andreaes Vater, und die Familie siedelte nach Tübingen über. Noch im gleichen J a h r bezog Andreae die Tübinger Universität, die zu jener Zeit in hohem Ansehen stand. Wenige Jahre zuvor war Kepler von Tübingen aus als Mathematiklehrer nach Graz empfohlen worden. Andreae erfuhr die für die Artistenfakultät der damaligen Zeit typische Ausbildung. Tübingen war mit rund 3800 Einwohnern (1594) die zweitgrößte Stadt Württembergs, zugleich kulturelle und geistige Metropole des Landes sowie das bedeutendste Bildungszentrum des protestantischen Südddeutschlands und Österreichs. Neben der Tübinger Universität mit ihren vier Fakultäten gab es hier das nicht minder bekannte Tübinger Stift und das Collegium illustre, beides von der Universität unabhängige und dem Herzog direkt unterstellte Bildungseinrichtungen. Mit den Lehrern aller drei Institutionen stand Andreae in Kontakt. Die theologische Fakultät der Universität galt als Hochburg der lutherischen Orthodoxie. Dank des Gräzisten Martin Crusius, des Mathematikers und Kepler-Lehrers M. Mästlin und Ch. Besolds bildete Tübingen aber auch einen Anziehungspunkt für „weltliche" bzw. humanistische Gelehrte aller Art, für Alchemisten, Astrologen, Ärzte und Philologen. Es konnten sich außerhalb der Universität Zirkel bilden, „die zwar nach außen die Konkordienformel akzeptierten, im privaten Kreis aber die lutherische Orthodoxie in Frage stellende, spiritualistische, humanistisch-irenische Vorstellungen pflegten, die sehr stark aus einer Aversion gegen die alles beherrschende Landestheologie g e n ä h r t wurden". 1 Diese Welt wurde für Andreae ebenso bildend wie die letztlich orthodoxe Strenge im Hause Hafenreffer. Schon an dieser Stelle sei auf die Zusammenfassung verwiesen, die Joachimsen für den reifen Andreae und die ihn prägenden geistigen Einflüsse gibt. Andreae kannte, um nur die literarischen Größen seiner Zeit und des 16. J h . 1 R. van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft, Johann Valentin Andreae (1586-1654), T. 1, Stuttgart - Bad Cannstatt 1978, S. 31.

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V . L . JOHANN VALENTIN A N D R E A E

zu nennen, von den Italienern Campanella und Boccalini, den großen Satiriker der Staatsraison, von den Franzosen Rabelais und Montaigne, aber auch Bartas, den französischen Sannazaro, von den Spaniern Guevara, den Verfasser von „Der Hofleutwecker", und Mariana, den jesuitischen Verteidiger des Tyrannenmor des; natürlich die großen Niederländer: Justus Lipsius, Heinsius, Gruter, Scaliger und Grotius. Sie alle wirkten auf ihn. Andreae hat auch Hans Sachs geschätzt und behauptet, von Frischlin alles gelesen zu haben. In seiner eigenen Produktion stehen neben der Masse der lateinischen Werke auch deutsche, darunter geistliche Lieder. „In seiner Geistlichen Kurzweil finden wir ein Trostgedicht auf den Tod einer Freundin, das Herder wieder abgedruckt hat, ganz eine allegorische Phantasie in Sachsens Stil und Geist. Andreae gehört auch zu der großen Gemeinde der Dürerverehrer, die damals, kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg, eine Art von Dürerrenaissance in Deutschland hervorgebracht hat. Er besaß selbst Gemälde und Stiche von Dürer und Holbein. . . Er weiß geistvoll und gelehrt über die Entwicklung der deutschen Kunst auf Dürer hin zu reden und versucht ihn mit Michelangelo zu vergleichen. Den Holbeinischen Totentanz in Basel hat er sich bei seinem Besuch daselbst nicht entgehen lassen und merkt den Eindruck noch in seinem Lebensabriß an."2 Selbstverständlich hatte Andreae auch vorzügliche Kenntnisse in der antiken Literatur, so der stoischen Philosophie. 1603 wurde Andreae Baccalaureus und im Februar 1605 zum Magister promoviert. Er gewann jetzt einige Schüler. Andreae studierte vornehmlich Mathematik, Optik und Astronomie. David Magirus und Mästlin förderten ihn. Unter seinen Lehrern in Tübingen befanden sich neben Hafenreffer (der Lehrer Keplers und einzige Tübinger Theologe, der Keplers Vertrauen genoß) der Antiramist, strenge Aristoteliker und Lehrer der Arzneikunde A. Planer und M. Crusius. Über Besold sagt Andreae: „Seine Verdienste um mich übertreffen alles, was ich davon sagen könnte."3 Vor allem kam dem wissensdurstigen Magister Besolds Bibliothek zugute. P. Joachimsen, Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken, ausgew. und eingel. von N. Hammerstein, Aalen 1970, S. 627. 3 Joh. Valentin Andreae, Selbstbiographie. Aus dem Manuscripte übers, u. m. Anm. begl. v. D. C. Seybold, Winterthur 1799, S. 20; vgl. ebenda, S. 123, S. 1 6 4 - 1 6 5 . — Einen Auszug der „Vita" gibt: J. V. Andreae — ein schwäbischer Pfarrer im Dreißigjährigen Krieg, bearb. v. P. Antony, Heidenheim a. d. Brenz 1970. — „Die Vita verschweigt viele Phasen seines Lebens oder vermittelt wichtige Ereignisse nur in einem Zusammenhang, der ihre Bedeutung verwischt: so enthält sie z. B. nichts über Andreaes Anteil an der Rosenkreuzerbewegung, die Gründungsversuche einer ,Societas Christiana* oder die Verwicklung in den Wild-Prozeß von 1622." (R. van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft, a. a. O., S. 24.) Für die Darstellung von Leben und Werk Andreaes ist noch immer wichtig: W. Hoßbach, Johann Valentin Andreä und sein Zeitalter, Berlin 1819 (Reprint, Leipzig 1978). Eine ausführliche Schilderung von Leben und Wirken Andreaes bei: M. Brecht, Johann Valentin Andreae. Weg und Programm eines Reformers zwischen Reformation und Moderne, in: Theologen und Theologie an der Universität Tübingen. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät, hg. von M. Brecht, Tübingen 1977, S. 270— 343. Brecht sucht eine Unterscheidung zwischen jüngerem und älterem Andreae theologisch-orthodox zu überwinden, gibt aber für den Lebensweg Andreaes bis 1629 interessante Details, z. T. aus bislang nicht genutzten Archivmaterialien. Vgl. er2

REISEN

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Andreae mußte 1607 für sechs Jahre die Universität verlassen ; er konnte seine theologischen Studien erst 1613/14 fortsetzen. Es ist anzunehmen, daß er in einen Sittenskandal verwickelt war, aber es „haben doch sicher kritische Äußerungen über den Hof in Stuttgart eine Rolle gespielt . . . Wahrscheinlich hatte man Andreae auch noch den Umgang mit Personen von bezweifelbarer Rechtgläubigkeit wie dem Paracelsisten Tobias Hess zusätzlich angelastet." 4 Andreae machte seit 1606 fünf größere Reisen. Die erste führte ihn mit seinem damaligen Freund, dem Alchemisten Christoph Welling, nach Straßburg. Hierher unterhielt er zeitlebens Verbindung. Hier kam es wohl zur Bekanntschaft mit M. Bernegger. Eine zweite Reise führte ihn über das reformierte Heidelberg, wo er den bekannten Humanisten Jan Gruter besucht haben mag, nach Frankfurt (dem späteren Verlagsort der meisten Rosenkreuzeru. a. „schwärmerischen" Schriften), dann über Mainz nach Worms und Speyer (beide damals bekannt als Refugien vertriebener „Schwärmer"). Eine Bleibe fand er dann in Launingen als Hauslehrer. 1608—1610 war Andreae Hofmeister zweier adeliger Kinder in Tübingen. Überhaupt reißt der Kontakt zu Tübingen während seiner Reisen nie ab. In diesen Jahren bildete sich der Freundeskreis um den verfemten Paracelsisten Tobias Hess, ,dem neben Andreae u. a. die Jüngeren Wilhelm Schickard, Joh. Jacob Hainlein, Chr. Welling, Wilhelm Bidenbach wie auch die Älteren Thomas Lansius, Joh. van der Linde und Abraham Höltzl angehörten. Eine Reihe von Schriften wurde in dieser Zeit von Andreae und seinem Kreis verfaßt, großenteils sind sie verlorengegangen. „Das wichtigste Werk dieser Zeit . . . ist die ,Fama Fraternitatis' von 1609/11, wahrscheinlich Produkt seiner Begegnung mit Tobias Hess . . . durch sie wurde Andreae weltbekannt."5 Andreae macht 1610 seine dritte Reise. Über Konstanz, Schaffhausen, Bern gelangt er nach Lausanne. In Genf lernt er Anfang 1611 die calvinische Kirchenverfassung kennen und bewundern ; sie stand ihm zeitlebens als Ideal vor Augen. Sie und die Gedanken des calvinistischen Predigers Jean Scaron bildeten nach van Dülmen „den .idealen' Hintergrund auch der .Christianopolis'".6 Von Genf reiste Andreae über Lyon nach Paris, kehrte wieder in die Schweiz zurück, wo er in Basel den „Totentanz" von Hans Holbein und die Kunst- und Natursammlungen bei Felix Platter bewunderte. Wieder in Tübingen, wird gänzend: M. Brecht, Kritik und Reform der Wissenschaften bei Johann Valentin Andreae, in : Wissenschaftsgeschichte um Wilhelm Schickard, hrsg. v o n F. Seck, Tübingen 1981, S. 129—151 (Letztere Arbeit wurde v o n mir nicht mehr kritisch ausgewertet). — Für Andreaes Lebensweg instruktiv auch: J. W. Montgomery, Cross and Crucible. Johann Valentin Andrae (1586—1654) — Phoenix of the Theologians, Bd. 1 : Andreae's Life, World-View, and Relations with Rosicrucianism and Alchemy, Den Haag 1973, S. 23—111. Montgomery sucht nachzuweisen, daß Andreae zeitlebens ein orthodoxer Lutheraner gewesen und geblieben ist. Montgomerys Arbeit wurde mir leider zu spät bekannt, um mit seinen problematischen Thesen hier eine eingehende Auseinandersetzung führen zu können. 4 R. van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft, a. a. O., S. 35. » Ebenda, S. 37. 6 Ebenda.

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V . l . JOHANN VALENTIN

ANDREAE

Andreae erneut Hofmeister und mit seinen Zöglingen Gast im Hause Hafenreffers. Eine neue Reise führt ihn zunächst nach Linz, wo damals schon D. Hitzler und auch Kepler wirkten. „Ob Andreae Kepler bei diesem Aufenthalt persönlich kennenlernte, ist nicht gesichert, aber wahrscheinlich." 7 Über Kärnten, Venedig, Padua, Vincenza, Verona gelangte Andreae dann nach Rom. Von hier kehrte er über Trient und Augsburg nach Tübingen zurück. Damit enden die Reisen seiner Jugendjahre. 1619 folgt eine weitere Reise nach Österreich, 1624 und 1628 Reisen nach Nürnberg. Nach den theologischen Examen wurde Andreae 1614 Diakon in Vaihingen. Das Entscheidende in seinem Leben in der Zeit von 1606 bis 1614 sieht van Dülmen „in der Zugehörigkeit zu einem kleinen Freundeskreis in Tübingen, in seinem Anteil am Rosenkreuzermythos. Daß er mit seiner .Chemischen Hochzeit' und ,Fama Fraternitatis' der Initiator der bald in ganz Europa verbreiteten Rosenkreuzerbewegung wurde, wollte er später nicht mehr wahrhaben, nicht nur um seine geistliche Stellung nicht zu gefährden, sondern auch weil sie eine Entwicklung nahm, die er nicht mehr akzeptieren konnte, unabhängig davon, daß er niemals geahnt hatte, welches Ausmaß sein Spiel der Rosenkreuzer-Bruderschaft schließlich annehmen würde. Doch seine spätere Distanzierung .bedeutet noch nicht, daß er grundsätzlich mit dieser Idee brach. Vielmehr geht von diesem Spiel ein unmittelbarer Weg über die . . . Societas Christiana bis hin zu den Kirchenreformplänen seiner Spätzeit. Insofern die Idee der christlichen Bruderschaft, die Reform der Wissenschaft und die Verchristlichung der Gesellschaft konstante Themen seines Lebens blieben, bedeutete das Spiel der Rosenkreuz-Bruderschaft mehr als nur einen fehlgeleiteten Versuch: es war der erste Ansatz zur Vereinigung christlicher ,Bürger', um in der Verantwortung des Geistes Wissenschaft und Gesellschaft zu reformieren." 8 Hier wird die Rosenkreuz-Idee etwas ins Orthodoxe hinübergezogen. Das korrespondiert mit van Dülmens Grundanliegen, eine Brücke zwischen jungem und altem Andreae zu schlagen, nachzuweisen, daß er letztlich von seiner Linie nie abgewichen ist. In seiner Autobiographie schildert Andreae vornehmlich sein äußeres Leben, nicht seine innere Entwicklung. Außerdem ist der alte Andreae inzwischen von einigen Jugendidealen abgerückt. Interessant ist die Fülle von Namen, die Andreae in seiner Biographie anführt. Namen von Lehrern, Freunden, zeitweiligen Bekannten usw. Viele davon lassen sofort aufhorchen. So charakterisiert er Wilhelm Schickard als den „Inbegriff aller Gelehrsamkeit", und er setzt fort : „Auch mit Auswärtigen hatte ich ein litterarisches Verkehr, besonders mit dem ersten Mathematiker, Keppler, den ich in der Folge zu Linz Ebenda, S. 38. — Vgl. Joh. Valentin Andreae, Selbstbiographie, a. a. O., S. 52, S. 146, S. 169. 8 Ebenda, S. 40—41. — Ein wesentliches Anliegen J. \V. Montgomerj-s ist der Nachweis : „Through the discovery of a passage in a diary of Martin Crusius . .. we show decisively, that Andreae was not the father of Rosicrucianism (as is commonly alleged) and offer a very different explanation of the origin of the Rose Cross." (J. \V. Montgomery, Cross and Crucible. Johann Valentin Andreae [1586—1654] — Phoenix of the Theologians, Bd. 1, a. a. O., S. X).

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besuchte . . , " 9 E r berichtet weiter, daß er Heinrich Hein (Rostock) seinen „Thurm von Babel" zugeeignet habe. 10 Immer wieder rühmt er sich der Freundschaft M. Berneggers aus Straßburg, des Freundes Keplers. 11 Unter den Jugendfreunden Andreaes ist besonders Wilhelm Schickard hervorzuheben. Schickard wurde 1619 Professor für hebräische Sprache in Tübingen, war wie Kepler Schüler Mästlins und hatte als Wissenschaftler internationalen Ruf. E r war Korrespondent von Aisted, Bernegger, Grotius und Gassendi und erfand die erste Rechenmaschine. Die erste Nachricht darüber steht im Brief an Kepler vom 19./20. September 1623, den Schickard 1614 kennengelernt hatte. „Am 23. Februar des folgenden Jahres geht durch einen Brand in der Werkstatt des Mechanikers eine zweite, für Kepler bestimmte Rechenmaschine zugrunde. Mit dieser letzten Nachricht verschwindet die Erfindung aus unserem Gesichtskreis." 12 Schickard entwarf die Holzschnitte für Keplers „Epitome Astronomiae Copernicanae", auch Keplers „Harmonice mundi" hat er mit Holzschnitten und fünf Kupfertafeln versehen. Nach außen hin bewahrteSchickard der württembergischen Orthodoxie die Treue. Zu den Jugendbekanntschaften bzw. Freunden Andreaes gehörten auch Daniel Mögling, Wilhelm von Wense, der Campanella-Editor Tobias Adami, der Wiener Weigelianer Michael Zeller und der Hamburger Gelehrte Adolf Tassius. Sie lebten zeitweilig in Tübingen, und die Bekanntschaft mit ihnen fiel in die Zeit nach 1609 bzw. 1613. Ihnen allen eignete eine ausgeprägte Abneigung gegen die orthodoxe lutherische Geistlichkeit. Ein Teil von ihnen „stand in direktem Zusammenhang mit dem Rosenkreuzerbruderschaft-Spiel, einen weiteren finden wir auf der Liste der Societas Christiana wieder, die Andreae hinterlassen hat, etliche davon waren schließlich auch in den Wild-Prozeß von 1622 verwickelt und wurden als Anhänger der Rosenkreuzersekte oder als Weigelianer verdächtigt" (vgl. Kap. I X ) . Dieser Kreis begegnete „voll Spott und Kritik den konventionellen Lebensformen der Oberschicht, dem Gelehrtengezänk der Theologen und den Mißständen in der Kirche, ohne sich jedoch bewußt gegen irgendeine Institution zu stellen. Jeder Reglementierung und jeder geistigen Einschränkung wich man aus . . . In diesem Kreis wurde frei über Paracelsus und Weigel, die man gerade wiederentdeckte bzw. dessen Werke neu gedruckt vorlagen, über Rabelais und Lipsius, . . . die großen literarischen Entdeckungen des frühen 17. Jahrhunderts, diskutiert, alchemistische Fragen und astrologische Probleme erörtert und auch Visionen und apokalyptischen Berechnungen, von Joh. Valentin Andreae, Selbstbiographie, a. a. O., S. SS. Schiclcards Tod beklagt er S. 169. 10 Ebenda, S. SS. — Vgl. J. V. Andreae, Turris Babel sive Judiciorum de Fraternitate Rosaceae Crucis Chaos, Argentorati 1619. Nach J. Cervenka hat Comenius Andreaes scharfe Ablehnung der Rosenkreuzer fast wörtlich in seine Schrift „Das Labyrinth der Welt" (1623) übernommen (vgl. J . Cervenka, Die Naturphilosophie des Johann Arnos Comenius, a. a. O., S. 46). 11 Vgl. ebenda, S. 98, S. 123, S. 181, S. 187, S. 225 u. a. 12 F. Seck, Leben und Werk im Überblick, in: Wilhelm Schickard 1592—1635. Astronom — Geograph — Orientalist — Erfinder der Rechenmaschine, hg. von F. Seck, Tübingen 1978, S. 28. 9

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denen es vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges so viele gab, Interesse entgegengebracht." 13 Als Kronzeugen der in diesem Kreis vertretenen Ideen nennt Andreae außerdem den Alchemisten Heinrich Khunrath, Aegidius Gutmann, Simon Studion und vor allem Julius Sperber. Der zeitgenössische Aristotelismus wurde in diesem Kreis abgelehnt. In Paracelsus' Theorie war dem Aristotelismus ein ernster Rivale erwachsen (vgl. Kap. X). Im Kreis um Andreae interessierte dabei gerade dieser Aspekt. Die Überzeugung vom bevorstehenden Millenium hatte im späten 16. und beginnenden 17. Jh. viele Denker in Deutschland erfaßt. Zum Teil waren sie auch von Paracelsischen Lehren angeregt: „Besides Converting the macrocosm-microcosm analogy into a tool for the investigation of nature and affirming the central importance of manual operations and experience in such investigation, Paracelsus differed from ancient and contemporary Hermeticism in dedicating the fruits of knowledge to the larger socialChristian ends of relieving misery and suffering. These ideas were congenial to the millennial utopianism of such men as Johannes Alsted . . ., Johann Valentin Andreae . . ., and J . A. Comenius . . . Their social, religious, and educational reform was based on the conviction that the millennium was at hand, and would be marked by the recovery of the knowledge of creatures that Adam had possessed in his innocence, and of the Adamic language which had given him power over all things." 14 Nach van Dülmen, der dabei Anregungen von Schick, Hoßbach, Montgomery u. a. folgt, gilt: „der bedeutendste wie entscheidendste Anteil an der Formung der geistigen Milieus der Freunde Andreaes und Andreaes selbst dürfte dem Chiliasten und Paracelsisten Tobias Hess, dem von Andreae als .wahrer Christ' gepriesenen Arzt, Juristen und Theosophen, zuzuschreiben sein." 15 Hess, Sohn eines Nürnberger Ratsherrn, hatte in Tübingen studiert und in den Rechtswissenschaften promoviert. Andreae betont dessen Universalwissen. Hess konstruierte Maschinen und versuchte sich an einem perpetuum mobile. Sein besonderer Ruf beruhte aber auf seinen medizinischen Kenntnissen und Erfahrungen. Andreae setzt Hess im „Hercules Christianus" ein literarisches Denkmal, widmete ihm 1612 die „De christiani Cosmoxeni genitura", rechtfertigte ihn 1614 und gab 1616 seine Sentenzen „Theca gladii spiritus" heraus. (Die „Theca" erklärte Andreae in seiner „Vita" für ein eigenes Werk. Nach van Dülmen ist das jedoch falsch.) Hess war zunächst „Anhänger sowohl der Hermetik Paracelsus' wie des visionären Chiliasmus Studions und Brocards . . ,". 1 6 Allerdings ist das Gewirr solcher Bezeichnungen, die in der bürgerlichen Literatur für oppositionelle Bewegungen im 16. und 17. Jh. gebraucht werden, dazu angetan, noch mehr Verwirrung zu schaffen. Hess sprach von der Notwendigkeit einer Generalreformation, von der Voll13 14

15 16

R. van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft . . ., a. a. O., S. 47—48. P. M. Rattansi, The Social Interpretation of Science in the seventeenth Century, in: Science and Society 1 6 0 0 - 1 9 0 0 , ed. by P. Mathias, Cambridge 1972, p. 12. R. van Dülmen, Die Utopie einer christlichen Gesellschaft . . ., a. a. O., S. 55—56. Ebenda, S. 57. — Vgl. zu Hess: M.Brecht, Johann Valentin Andreae. Weg und Programm eines Reformers . . ., a. a. O., S. 280—288.

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endung der lutherischen Reformation durch eine solche der Sitten und des Wissens. Sie sollte durch eine eigene Bruderschaft Christi herbeigeführt werden. Van Dülmen hält für möglich, „daß Hess in Tübingen eine Position vertrat, die die Lehren von Paracelsus und Studion mit dem Luthertum zu vereinen suchte" 17. Andreae suchte zwar Hess' Rechtgläubigkeit zu verteidigen, aber Hess galt in Tübingen als „Haupt aller Utopisten". Wenn 1608/09 Andreaö mit ihm und anderen einen Freundschaftsbund schloß, so war dies ein Geheimbund, eine geheime Verbrüderung. Wahrscheinlich standen alle Freunde Andreaes in irgendeiner Beziehung zu dem Kreis um Hess; Andreae verschweigt bewußt ihre Namen. Mit Sicherheit gehörten Thomas Lansius, W. Schickard, Johannes Stöffel und Chr. Besold zu den engen Vertrauten von Hess. Besold, seit 1604 Lehrer am Collegium illustre für Politik, Geschichte und Eloquenz, geriet häufig in Konflikt mit den Tübinger Theologen. Er korrespondierte u. a. intensiv mit Gruter in Heidelberg. Wohl engster Freund von Hess war Abraham Höltzl, ein österreichischer Adeliger, der in Tübingen studiert hatte, dann dort wohl als Privatmann vom Verkauf seiner Güter lebte. Andreae nennt ihn häufig, ohne sein Verhältnis zu ihm näher zu erklären. Höltzl und Hess, die Affinität Hess' zu Auffassungen Paracelsus' und Studions, wurden für Andreaes Entwicklungsgeschichte entscheidend und bildeten zugleich eine Grundlage für die Rosenkreuzeridee. Chr. Besold war das bekannteste und berühmteste Mitglied dieses Kreises Besolds heute in der Universitätsbibliothek Salzburg befindliche Bibliothek war für damalige Zeit (3870 Bände) überragend. Sie repräsentierte faktisch das gesamte Wissen seiner Zeit. Enthalten sind Werke von Cusanus, S. Franck, Aisted, Bodin, Gassendi, Fludd. Es finden sich viele Rosenkreuzerschriften und alle Werke von Lipsius. Auch Arbeiten von Paracelsus, V. Weigel, Schwenckfeld, Machiavelli, Montaigne, Boccalini, Rabelais, Grotius, Ficino sind vertreten. Die Publikationen der großen Reformatoren und Theologen des 16. Jh. fehlen nach van Dülmen hingegen weitgehend. Besold war vornehmlich Jurist. Seine religiöse Haltung war der Keplers ähnlich. Bevor er zur katholischen Kirche übertrat, wandte er sich aus Protest gegen die lutherische Orthodoxie Paracelsus und Weigel zu. „Gleichzeitig begann er mit Tobias Adami, dem Campanella-Anhänger, Joh. Kepler, Florian Crusius, dem Danziger Sozinianer, und vor allem dem Schwenckfelder und Schwärmer David [Daniel — S. W.] Sudermann in Straßburg und Georg Zimmermann, dem Flüchtling aus Hessen, Kontakt aufzunehmen." 18 Für Andreae waren in diesem inhomogenen Tübinger Kreis besonders Hess und Besold entscheidend und prägend. Ebenso bedeutsam war die Freundschaft zwischen Andreae und Bernegger. Sie hielt bis zum Tode Berneggers an. Matthias Bernegger war in jener Zeit eine Schlüsselfigur im deutschen Geistesleben. Es gab wohl kaum einen namhaften Gelehrten zu seinen Lebzeiten, mit dem er nicht Kontakt unterhalten 17 18

Ebenda. Ebenda, S. 61. — Seine Schrift „De novo orbe conjectanea" widmete Besold zugleich J . Kepler, A. Tassius und F . Crusius. — Vgl. auch Slawische Barockliteratur I. Untersuchungen, Texte, Notizen, Rezensionen, hg. von D. Tschizewskij, München 1970, S. 101.

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hätte. Schon als Kind wurde er durch den Freund des Hauses, den mathematisch interessierten Mediziner Matthias Anomaeus, der mit Kepler in regem Verkehr stand, auf diesen aufmerksam gemacht.19 Bernegger besuchte in Wels (Oberösterreich) und Straßburg das Gymnasium und studierte an der Straßburger Akademie (seit 1621 Universität) vornehmlich Mathematik. Straßburg hat er seit 1603 — abgesehen von kurzer Abwesenheit — nicht mehr verlassen. Ab 1605 steht er mit Kepler in Briefverkehr.20 Ab 1607 wirkte Bernegger, einer der Universalgelehrten seiner Zeit, als Lehrer am Straßburger Gymnasium. Auch jetzt widmete er sich vornehmlich der Mathematik, ohne seine anderen Lehrverpflichtungen dabei zu vernachlässigen. 1609 wurde er Straßburger „Stadtmathematicus". Seine erste Schrift veröffentlichte er 1612, die Übersetzung einer 1606 italienisch geschriebenen Abhandlung Galileis ins Lateinische. Er fügte Galileis Traktat Erläuterungen hinzu, die an Umfang dem Traktat gleichkommen.21 Ebenfalls 1612 verfaßte Bernegger in deutscher Sprache ein „Manuale Mathematicum" 22. 1632 veröffentlichte Galilei seinen berühmt gewordenen „Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme". Er ließ Bernegger durch dessen Freund, den Pariser Juristen Elia Diodati, um die Übersetzung aus dem Italienischen bitten. Am 1. 8. 1633 erhielt Bernegger die Schrift. Ende Februar 1635 war die Übersetzung ins Lateinische fertiggestellt. Sie erschien im gleichen Jahr in Leiden bei Elzevir, zusammen mit dem gleichfalls übersetzten Brief Galileis an die Großherzogin-Mutter Christine und einer schon 1616 verbotenen Schrift des Karmeliters und entschiedenen Copernicus-Anhängers Paolo Antonio Foscarini. Da nicht bekannt werden durfte, daß Galilei die Übersetzung veranlaßt hatte, ja, daß er überhaupt um sie wußte, schrieb Bernegger in seinem Vorwort, einer seiner Freunde, der Danziger Benjamin Engelcke, habe ihm den „Dialogus" aus Italien mitgebracht. Er habe auch Galileis Genehmigung zur Übersetzung nicht eingeholt.23 Bernegger gibt dem Buch als Kommentar zur Frage, ob die von Galilei vertretene copernicanische Weltauffassung nicht der Bibel widerspreche, Keplers Auffassung aus der Einleitung zur „Astronomia nova" bei.24 Bernegger ist zutiefst von der Richtigkeit Vgl. C. Bünger, Matthias Bernegger, Straßburg 1893, S. 3; E . Berneker, Matthias Bernegger, der Straßburger Historiker, in: Julius Echter und seine Zeit. Gedenkschrift aus Anlaß d. 400. Jahrestages d. Wahl d. Stifters d. Alma Julia zum Fürstbischof von Würzburg am 1. 12. 1573, hg. von F. Merzbacher, Würzburg 1973, S. 283-314. 20 Ebenda, S. 21. - Vgl. J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 1 7 - 1 8 : Briefe 1612-1630, hg. von M. Caspar, a. a. O. In Bd. 17 (Briefe 1612—1620) werden 18 Briefe Keplers an Bernegger aufgeführt, in Bd. 18 (Briefe 1620—1630) 25 Briefe Keplers an Bernegger und 21 Briefe Berneggers an Kepler. 21 Vgl. G. Galilei: Tractatus de proportionum instrumento a se invento, quod merito Compendium dixeris universae Geometricae. A. Mathia Berneggerò ex Italica in Latinam Linguam nunc primum translatus: adjectis etiam notis illustratus, quibus et artificiosa instrumenti fabrica, et usus ulterior exponitur, Straßburg 1612. 22 M. Bernegger, Manuale Mathematicum, darinn begriffen Die Tabulae Sinuum, Tangentium, Secantium ; so wol die Quadrat- und Cubictafel : sambt gründlichem unterricht/wie solche nützlich zu gebrauchen, Straßburg 1612, 2. Aufl. Straßburg 1619. « C. Bünger, Matthias Bernegger, a. a. O., S. 8 1 - 8 7 . 25 Vgl. G. Galilei, Systema cosmicum, Straßburg 1635, S. 459—464; J. Kepler, Astronomia nova, in: J. Kepler: Gesammelte Werke, Bd. 3, a. a. O., bes. S. 28—34. 19

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des Copernicanischen Weltsystems überzeugt. Bekanntlich enthält auch Keplers Einleitung zur „Neuen Astronomie" ein eindeutiges Bekenntnis zu Copernicus. Schon während der Drucklegung der Übersetzung Berneggers schrieb ihm Galilei einen anerkennenden Brief,25 und auch Schickard und Lingelsheim26 kargten nicht mit Lob. Einen Brief Galileis zu der Frage, inwieweit man bei naturwissenschaftlichen Erörterungen die Bibel beachten müsse, gab Bernegger 1636 mit einer Vorrede als Sonderdruck heraus. Galilei hatte die lateinische Übersetzung des Briefes selbst besorgt. Auch jetzt war Bernegger darauf bedacht, Galilei vor dem Verdacht zu schützen, er habe etwas mit der Publikation zu tun. Darum schreibt er in seiner Vorrede, sein alter Schüler und Freund Robert Roberthin — ein Freund von Opitz und führender Kopf des Königsberger Dichterkreises — habe die Schrift von einer Reise nach Italien mit nach Königsberg gebracht und sie von dort aus seinem Lehrer mit der Bitte um Übersetzung nach Straßburg übersandt. Doch habe auf Berneggers Veranlassung E. Diodati die Übersetzung besorgt.27 Galilei hat seine Heimatsprache in die Wissenschaft eingeführt. Das ist ein immer wieder mit Recht hervorgehobenes Verdienst. Aber noch immer war Latein die Sprache der gelehrten Welt in Europa. Indem Bernegger Galileis „Dialogus", der 1638 auf den Index gesetzt wurde, den Wissenschaftlern Europas zugänglich machte, erwies er der Propaganda der neuen Weltauffassung einen unschätzbaren Dienst. Leider ist dies weitgehend vergessen — wie auch Bernegger selbst. Dabei war er „der vielleicht bedeutendste Vertreter der von Lipsius inaugurierten historisch-politischen Richtung innerhalb der späthumanistischen Philologie . . . Von Lipsius übernahm Bernegger seine pragmatische Auffassung der Geschichte als Lehrmeisterin der Politik, die Vorliebe für Tacitus als den .politischsten aller Historiker' und . . . das stoische Leitbild der prudentia als praktischer Lebensweisheit anstelle des traditionellen Ideals der eloquens pietas. Seinen historischen Vorlesungen legte Bernegger die .Politik' Lipsius' zugrunde . . ,"28 25

Vgl. C. Bünger,'Matthias Bernegger, a . a . O . , S. 87; G.Galilei, Le opere. Edizione nazionale, Bd. X V I : Carteggio 1634-1636, Firenze 1905, S. 1 1 1 - 1 1 2 . 26 Georg Michael Lingelsheim wurde 1621 durch die Kaiserlichen aus Heidelberg vertrieben und fand bei Bernegger Zuflucht. Bekanntlich bot Bernegger auch Kepler Unterkunft an. Blumenberg stellt zu Berneggers Übersetzung v o m „Dialog über die beiden Weltsysteme" fest: „Es ist bezeichnend für die Wirkungsgeschichte Galileis, daß sie durch diese ohne Behinderungen verbreitete lateinische Version und nicht durch das italienische Original getragen wird." (H. Blumenberg, Die Genesis der Kopernikanischen Welt, a. a. O., S. 59.) 27 Vgl. Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde, hg. v o n A. Reifferscheid, Heilbronn 1889, S. 936—937. Der Titel der Ausgabe lautet: Nov-antiqua sanctißimorum patrum, et probatorum theologorum doctrina, de sacrae scripturae testimoniis, in conclusionibus mere naturalibus, quae sensata experientia, et necessariis demonstrationibus evinci possunt, temere non usurpandis : in gratiam serenißimae Christianae Lotharingae, magna-ducis Hetruriae, privatim ante complures annos, Italico idomate conscripta a Galilaeo Galilaeo . . ., Straßburg 1636. 28 H. Schneppen, Niederländische Universitäten und deutsches Geistesleben v o n der Gründung der Universität Leiden bis ins späte 18. Jahrhundert, Münster i. W. 1960, S. 121. — Vgl. C. Cornelius Tacitus, De vita Julii Agricolae liber, expositus a Matthia Berneggerò, Straßburg 1617, in: M. Virdung, Commentarius in C. Julii Agricolae vitam, scriptore Cor. Tacito, Straßburgh 1617; C. Cornelius Tacitus, Germania et

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1612 war Bernegger Professor für Geschichte an der Straßburger Akademie geworden. 1617 gab er Tacitus' „Agricola" mit Erläuterungen heraus. Dabei nutzte er die Gelegenheit, Keplers Auffassung über die Entstehung von Ebbe und Flut mitzuteilen. 1640 folgte eine Schrift über Tacitus' „Germania". Beide Arbeiten zeugen von Berneggers philologisch-sprachwissenschaftlichem Interesse und seinem deutschen Patriotismus. Gleichzeitig bezeugen auch diese seine Arbeiten seine religiöse Indifferenz, seine Irenik und sein Toleranzdenken. Wenn er sich gezwungen sah, gegen den Katholizismus und das Papsttum bzw. die Jesuiten Stellung zu nehmen, überwiegt in seinen Argumenten der Philologe, nicht der Theologe. 1621 veröffentlichte Bernegger pseudonym seine „Tuba pacis", die seinen Namen in ganz anderer Sicht berühmt machen sollte. Ihr ging im April 1620 sein „Proaulium tubae pacis" voraus. Es enthält die von einem katholischen Geistlichen 1557 verfaßte Darstellung der Umtriebe der Jesuiten und gipfelt in Berneggers Mahnung an Papst Paul V., er möge in Verbindung mit den christlichen Fürsten den Orden reformieren und auf seine eigentlichen Aufgaben zurückführen. Seiner Übersetzung fügt Bernegger den lateinischen Urtext bei. In der Vorrede sagte er zu den Jesuiten, es sei für ihn „beschlossene Sache, jeden Streit in theologischen Fragen mit ihnen als zwecklos aufzugeben, hingegen sie von der Seite zu fassen, auf welcher sie uns am gefährlichsten sind, nämlich ihre Wühlereien im politischen Leben aufzudecken"29. Hier offenbart sich neben dem religiösen Indifferentismus Berneggers sein politischer Scharfblick, der die ideologische Stoßrichtung der Jesuiten, ihr politisches Wesen durchschaut. Die „Tuba pacis" ist Berneggers bedeutendste Schrift. Lipsius und Erasmus von Rotterdams „Dulce bellum inexpertis" zählen zu ihren Kronzeugen. Ebenso benutzt Bernegger Gedanken des Marcantonio de Dominis und Castellios. Im Sinne einer Generalreformation rät er den streitenden „Religions"parteiungen zum Frieden. Dieses Werk reiht sich in den Gedanken der Generalreformation ein. Der Krieg sei verderblich, unsittlich, sein Ausgang auch für die Katholiken zweifelhaft. Die Fürsten sollten sich vor Kriegshetzern hüten. Der als Religionskrieg getarnte Bürgerkrieg sei eine sehr gefährliche Angelegenheit. Spanien trachte unter dem Vorwand der Wiederherstellung der katholischen Religion nach der Herrschaft über Deutschland. Das würde für Protestanten und Katholiken gleichermaßen verderblich werden. Zudem sei es frevelhaft, Andersgläubige mit Waffengewalt bekehren zu wollen. Auch hier vermeidet Bernegger theologische Werturteile über die Richtigkeit der einen oder anderen Religion. Aber er vermag nur anzuklagen, seine Vorschläge, wie man dem entstandenen Zustand ohne Krieg entgehen könne, sind schwächlich. Agricola. Quaestiones miscellaneae. Olim Moderante Matthia Berneggerò, Straßburg 1640. 29 Zit. nach: C. Bünger, Matthias Bernegger, a. a. O., S. 1 7 3 . - V g l . W . Foitzik, „Tuba Pacis". Matthias Bernegger und der Friedensgedanke des 17. Jahrhunderts, Phil. Diss. Münster 1955. Zur Übereinstimmung der Friedensideen Keplers und Berneggers vgl.: V. Bialas, Keplers Beitrag zur Idee des Friedens im 17. Jahrhundert, in: KeplerSymposium. Zu Johannes Keplers 350. Todestag. 25.-28. Sept. 1980 . . . Linz. Bericht. Hg. v. R. Haase, Linz 1980, S. 9-18.

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Nach seiner Meinung stimmen die wichtigsten Punkte des calvinischen und lutherischen Bekenntnisses überein; die Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten sind also nicht grundlegend. Berneggers Ziel ist die Einigung der Christenheit auf der Grundlage der Bibel, der alten Kirchenväter und der ersten Konzilien. Wenn das nicht erreichbar ist, dann solle man wenigstens politischen Frieden schließen. Indem Bernegger diesen Standpunkt der Versöhnung einnahm und theologische Streitpunkte, um die z. B. zwischen Lutheranern und Reformierten, ja unter Lutheranern selbst, erbittert gerungen wurde, als zweitrangig abtat, stellte er sich zwischen bzw. über die damals bestehenden religiösen Gruppierungen. Daher fand Berneggers „Tuba" erste Angriffe seitens der Straßburger lutherischen Theologen. Schickard dagegen zollte der Arbeit höchstes Lob. In Straßburg wurde Bernegger, wie er selbst schreibt, wegen seiner irenischen Ideen in Privatgesprächen und auf der Kanzel als „Epicuräer, Gottloser, Verworfener" ausgeschrien. Man wollte ihn, einen „homo nescio cujus religionis", sogar aus der Stadt haben. 30 Aber Bernegger hielt bis zum Tode an seinem irenischen Standpunkt fest. Ihn vertraten u. a. Frycz Modrzewski, dessen „emendanda ecclesia" Bernegger neu edieren wollte (die Herausgabe unterblieb wegen der Kriegswirren), 31 sowie Hugo Grotius und der Schotte Dury (Duraeus), mit denen er in Verbindung stand. Mit den pädagogischen Versuchen Ratkes und Helwigs (vgl. Kap. VII) war Bernegger gut vertraut. So empfahl er in einer offiziellen Stellungnahme vom 4. 4. 1619 Ratkes „Didactica" zur Verbesserung des Unterrichts an der Straßburger Akademie. 32 Das Rosenkreuzertum tat er in seiner Dekanatsrede „De parandae doctrinae modis illigitimis" vom 2 2 . 6 . 1619 als Schwindel ab. 3 3 Eitel Betrügerei und unglaubliche Prahlerei sei alles, was die Rosenkreuzer von einer allgemeinen Weltverbesserung fabelten, ihre Erziehungsgrundsätze stünden im schroffen Gegensatz zu den Naturgesetzen. Auch bei Bernegger erfolgt, was man beachten sollte, die Verurteilung der Rosenkreuzer erst 1619, als sich Andreae gelbst schon von ihnen distanziert hatte. Verschiedentlich spricht Andreae in seiner Autobiographie von Verleumdungen, denen er ausgesetzt war, teilt aber nicht mit, worin sie bestanden. Er beteuert nur stets seine Unschuld. Fast ungewollt stellt Andreae dar, wie weitgehend seine Verbindungen noch in den 20er Jahren waren. E r suchte sich Freunde zu machen und zu erhalten: „Ueber alle Hofnung, und oft ohne meine Erwartung, fand ich sie in Paris, Genf, Straßburg, Basel, Heidelberg, Worms, Köln, Lüneburg, Zelle, Rostok, Danzig, Stralsund, Lesna in Polen, Wittenberg, Leipzig, Hildesheim, Jena, Linz, Wien, Augsburg, Nürnberg und Altdorf." 34 Es wäre eine lohnende Arbeit, den Freundeskreis Andreaes Ebenda, S. 202, S. 203, unter Berufung auf einen Brief Berneggers an W . Schickard vom 17. 11. 1627 und an Meuderlin vom 10. 4. 1628. 3 1 Offenbar hat Bernegger die Separatausgabe eines Kapitels (lib. IV de ecclesia) aus A. F. Modrzewskis „Libri V de republica emendanda" (Cracov 1551) vorgelegen. 3 2 Vgl. C. Bünger, Matthias Bernegger, a. a. O., S. 233, Allerdings meint Bernegger, Ratke habe in seiner „Didactica" zumeist nur pädagogische Ideen von Epiktet, Seneca, Cicero u. a. entwickelt (ebenda, S. 242f.). Möglicherweise hat Bernegger R a t k e bei dessen Aufenthalten in Straßburg (1610/1617) selbst kennengelernt. 33 Ebenda, S. 239. 3 4 Joh. Valentin Andreae, Selbstbiographie, a. a. O., S. 120. 30

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in seinen Verbindungen und seinem ideologischen Gehalt zusammenhängend zu untersuchen. (Natürlich müßte dabei der in Wolfenbüttel lagernde schriftliche Nachlaß benutzt werden.) Seit 1620 war Andreae Spezialsuperintendent in Calw. Diese Jahre werden in seiner Autobiographie in der eintönigen Abfolge äußerer Geschehnisse dargestellt. Die Wirkungen des Krieges auf Calw und seine Bewohner werden allerdings ergreifend geschildert. Bei der Zerstörung Calws nach der Schlacht bei Nördlingen (1634) verliert Andreae seinen Besitz, vor allem gehen unersetzliche Manuskripte verloren. Die schweren Kriegsnöte veranlassen ihn, in Calw ein großzügiges soziales Hilfswerk aufzubauen. Immer wieder werden in seiner Autobiographie auch persönliche und literarische Gegner genannt. Nur versäumt er, zu erwähnen, worum es beim Streit gegangen ist. Die erwähnten Personen muß man im Zusammenhang mit Andreaes Gesamtwerk betrachten. Ansonsten soll wohl seine Autobiographie belegen, was er in der „Zuschrift an Herzog August von Braunschweig-Lüneburg" schreibt: „Daher bezeuge ich, so wohl in der Stille als öffentlich, im Lichte der christlichen Kirche . . . heilige, daß ich mit den papistischen Pfützen, dem calvinischen hochtrabenden Stolze, den Lästerungen der Photinianer, der Heuchelei der Schwenkfeldianer, der Raserei der Weigelianer, dem Unflathe der Anabaptisten, den Träumereien der Enthusiasten, den Ausrechnungen der Vorwizigen, der Schlüpfrigkeit des Synkretismus, den Gräueln des Libertinismus, endlich mit der Eitelkeit und den Täuschungen irgend eines Betriegers keine Gemeinschaft weder habe noch gehabt habe, noch haben werde." 35 Andreae sagt weiter: „Der Hauptgrund meines unverzeihlichen Verbrechens ist, daß ich von Joh. Arnd . . . mit Joh. Gerhard . . . billiger und glimpflicher urtheilte, als einige der Unsrigen, und meine Meinung in der Stille und öffentlich sagte." 36 Demnach war Andreae nur ein mißverstandener orthodoxer Lutheraner! Diesen Eindruck suchen protestantische und reformierte Kirchenhistoriker zu kultivieren. Andreae erscheint lediglich als Vertreter der sog. Reformtheologie. In gewisser Hinsicht geschieht das selbst bei dem kenntnisreichen Richard van Dülmen. 1637 wird Andreae auch von Daniel Zwicker aus Danzig besucht.37 Zu Comenius unterhielt Andreae in seiner Spätphase Kontakte, weiter zu Morsius u. a. der Orthodoxie suspekten Persönlichkeiten. Auch dazu bedarf es noch genauerer archivalischer Forschungen. Zwicker ist ausgewiesener Sozinianer. Leibniz, der sich 1669 bzw. 1670 in einer eigenständigen Schrift gegen Zwicker wendet, bezeichnet diesen als „homo arrogans, ineptus, infans, perissologus ä qvovis de schola puero facile refutabilis"38. Einige der Hauptthesen Zwikkers faßt Leibniz wie folgt zusammen: Die Vertreter der Trinitätsauffassung haben sich so in logische Widersprüche verwickelt, daß sie keinen gütigen 35 Ebenda, S. V - V I . a« Ebenda, S. I I I - I V . 3? Ebenda, S. 193. 38 G. W. Leibniz, Refutatio objectionum Dan. Zwickeri contra trinitatem et incarnationem Dei, in: G. W. Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe. Hg.: Deutsche Akademie d. Wissenschaften zu Berlin, Rhe 6: Philosophische Schriften, Bd. 1: 1663—1672, Berlin 1972, S. 531—532. — Zeitgleich schrieb Comenius gegen die Sozinianer.

H O F P R E D I G E R IN

STUTTGART

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Gott zu erlangen vermöchten, ohne diesen Makel abzuwaschen. Auf Grundlage des Einspruchs einiger weniger, z. B. der Anhänger Artemons, sei man vor dem Konzil von Nicea nicht geneigt gewesen, die katholische Trinität zu beweisen. Zwicker setzt als erwiesen voraus, daß Gott eine Natur oder Wesenseinheit sei, die im höchsten Maße Intelligenz besitzt. Zusätzlich nimmt er eine göttliche Person an, da Gott ja erkennt, eine göttliche Wesenheit zu sein. Ein Körper kann nicht an verschiedenen Orten ohne Aufspaltung seiner selbst sein. (Dazu Leibniz: „Imö substantia corporis (seu principium actionis in eo), potest esse in pluribus locis, qvia est incorporalis et immaterialis. Breviter: forma substantialis corporis, qvae proprie substantia est, potest esse in pluribus locis, materia verö et species non possunt.") Zwicker hält es weiter für absurd, zu denken, daß eine einzelne Wesenheit in mehreren Dingen sei. (Dazu Leibniz: „Non magis hoc absurdum est, qvam DEUM esse simul in pluribus locis; aut si qvoqve negas, saltem, quod negare non potes, centrum simul totum esse in omnibus radiis concurrentibus.") Nach Zwicker können diejenigen, die an dem genannten logischen Widerspruch und am Götzendienst bis hin zur ewigen Verdammnis festhalten, nicht gerettet werden, wenn sie nicht ihre Meinung ändern. Leibniz' Streitschrift endigt mit den bissigen Worten: Was meinstu Zwinger doch uns alle einzuzwingen, Las deinen Hochmuth erst mit dem Verstände ringen. Und züch die Feder ein, die so gar läppisch schreibt, Die uns an Schweißes statt nichts als zu lachen treibt. Trag nun den Bogen rumb auff Universitäten, Laß die Scholaren Dir den Hoffarts-wurmb ertödten. Ich glaube nun daß ihr geht mit einander ein. Weil nur die Bauern iezt Socinianer seyn. 39 Leibniz' Schrift richtet sich gegen Zwickers „Tractatus Tractatuum de contradictione", von dem sich Zwicker den kirchlichen Frieden erhofft hatte. Von Andreae spannen sich also auch Verbindungsfäden zu den Sozinianern. Abgesehen davon war die „Unitas ecclesiae" stets ein Lieblingsgedanke Andreaes, auch er blieb lebenslang Ireniker. 1639 wurde Andreae Hofprediger in Stuttgart und Mitglied der Landeskirchenleitung. In dieser Eigenschaft tritt er für eine allgemeine Kirchenreform ein. In seinem hier abgelegten Glaubensbekenntnis bezeugt er auch, „daß ich des Mährchens von der Rosenkreuzerei immer lachte", und sagt allem ab, was nur im entferntesten der Augsburger Konfession und der Konkordienformel entgegenstehen könnte. 40 Stets betont Andreae in seiner Autobiographie, wie fromm und rechtschaffen er selbst ist, wie er sich für sein Pfarramt aufopfert. Daran besteht kein Zweifel. Er schreibt auch, er habe seine Autobiographie in 39

Chr. Sandius, Bibliotheca Antitrinitariorum, ed. L . Szczucki, a. a. O., S. 140. — Crusius meint in einem Brief an J . Jungius vom 10. 9. 1639: „. . . fere omnes, qui negligentiorem et praeposterum is tum philosophandi modus, qualis hodie apud philosophantium vulgum in usu est, perosi meliori studio ac ratione veritatis suppetias ferre conati sunt, rejecto Aristotele et principiis ejus . . . non tantum physicis sed et logicis, nova principia et philosophandi modos excogitare laborantur: qua quidem ratione il li non t a n t u m , quantum voluerunt, ad sapientiae studia promovenda operis attulisse aut adferre posse mihi videntur: multiplicant enim familias et sectas philosophorum, sed non multiplicant s c i e n t i a m . " (Staatsbibliothek Hamburg, Sup. E p . 97, Nr. 99, S. 199, zit. nach: D. Caccamo, Sozinianer in Altdorf und Danzig im Zeitalter der Orthodoxie, a. a. O., S. 68.) 77 Vgl. zum folgenden bes. : K . Braun, Der Socinianismus in Altdorf 1616, in : Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte, München 8 (1933) S. 65—81, 129—150.

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V I . 2 . KRYPTOSOZINIANISMUS UND

ALTDORF

Ernst Soner78 war nach Rückkehr von seiner „Bildungsreise" „ordentlicher Physicus" in seiner Vaterstadt Nürnberg, Genannter des Größeren Rates und schließlich 1605 als Nachfolger seines Lehrers Ph. Scherb Altdorfer Hochschullehrergeworden. 1607—1608 war er sogar Rektor der Akademie. In der Zeit seiner Lehrtätigkeit in Altdorf hatte Soner Kontakt mit dem polnischen Sozinianer H. Moskorzowski, die Korrespondenz zwischen Altdorf und Rakow wurde über Giambattista Cettis geführt, der in der Nähe von Krakau wohnte, und über den Nürnberger Juristen Georg Ludwig Leuchsner, einen Gesinnungsgenossen Soners.79 Seine Ansicht wußte Soner nach außen hin so geschickt zu verbergen, daß er in den maßgebenden Kreisen der Reichsstadt und der Hochschule bis zu seinem Lebensende als Lutheraner galt, um so mehr, als er am lutherischen Abendmahl teilnahm. Doch verstand er es, in philosophischen Privatissimis unter den Studenten für seinen Sozinianismus zu werben. Besonders bei ungarischen, siebenbürgischen und polnischen Studenten erfreuten sich Soners Vorlesungen großer Beliebtheit. Unmittelbar nach seinem Tode verbreitete sich das Gerücht, er sei Sozinianer gewesen. Der noch zu nennende Student Georg Richter erwirkte dennoch — wenn auch einige Monate verspätet — die Erlaubnis, eine Gedächtnisrede auf seinen verstorbenen Lehrer halten zu dürfen.80 Mehrere hinterlassene Schriften Soners wurden 1616 auf Befehl des Nürnberger Rates auf dem Altdorfer Marktplatz öffentlich verbrannt. Zeltner überliefert uns „die Sechs letztern Capitel aus dem Catechismo Ernesti Soneri"81, von dem 78

G. A. Will, Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon . . . , T. 3, N ü r n b e r g u n d A l t d o r . 1757, S. 713—718; vgl. G. G. Zeltner, H i s t o r i a Crypto-Socinismi Altorfinae, a. a. O.f S. 24, 2 6 - 2 7 , 30, 33, 3 6 - 4 2 , 4 5 - 5 2 , 5 6 - 6 0 , 143, 355, 819-856, 861 u. a . ; J . J . Baier, Biographiae Professorum Medicinae qui in Academia A l t o r f i n a u n q u a m v i x e r u n t , N ü r n b e r g u n d Altdorf 1728, S. 2 6 - 3 5 . ' 9 Vgl. D. Caccamo, Sozinianer in Altdorf und Danzig im Zeitalter der Orthodoxie, a. a. O., S. 48. so G. Richter, O r a t i o f u n e b r i s in o b i t u m CI. V. E r n e s t i Soneri . . . R e c i t a t a XV. Col. J u n . A n n o 1613. — Zit. n a c h : H . W i t t e , Memoriae medicorum nostri seculi clarissim o r u m r e n o v a t a e decas p r i m a , F r a n k f u r t 1676, S. 13—35. Anschließend zwei Ged i c h t e a u f E. Soner von M. Piccart und M. R u a r (S. 36—37). — Scheurl sucht a n H a n d der Matrikel (E. v. Steinmeyer, Die Matrikel der Universität Altdorf, 2 Bde, W ü r z burg 1912) zu beweisen, d a ß z. Zt. Soners, also 1605—1612, in Altdorf n i c h t m e h r Polen als zuvor i m m a t r i k u l i e r t waren (S. Freiherr v o n Scheurl, Die theologische F a k u l t ä t Altdorf . . ., N ü r n b e r g 1949, S. 150—151). Abgesehen d a v o n , d a ß es nicht unbedingt auf die Q u a n t i t ä t a n k o m m t , d a ß zudem die Matrikel zu dieser Zeit, wie u. a. E u l e n b u r g gezeigt h a t , nicht mit der Zahl der tatsächlichen H ö r e r übereinzustimmen b r a u c h t , ist zu k o n s t a t i e r e n , d a ß Scheurl die B e d e u t u n g der Altdorfer Ereignisse v o n 1616 n i c h t u m f a s s e n d einschätzt. Auch D. Caccamo (Sozinianer in Altdorf u n d Danzig im Zeitalter der Orthodoxie, a. a. O., S. 44) widerspricht Scheurls E i n s c h ä t z u n g . 81 G. G. Zeltner, H i s t o r i a Crypto-Socinismi, a. a. O., p. 820—856. — Bei Chr. Sandius (Bibliotheca A n t i t r i n i t a r i o r u m , ed. L. Szczucki, a. a. O., S. 96—97) f i n d e t sich folgendes Schriftenverzeichnis Soners: „ D i s p u t a t i o c o n t r a M a t t h a e u m R a d e c i u m de i m m o r t a l i t a t e animae. M S; D e m o n s t r a t i o Theologica & Philosophica, quòd a e t e r n a i m p i o r u m supplicia n o n a r g u a n t Dei j u s t i t i a m , sed i n i u s t i t i a m a. 1654. I d e m Belgicè; Bewiys dat de straffen der verdoemden niet oneyndig sullen zijn. A r g u m e n t a ad p r o b a n d u m , solum D e u m P a t r e m esse illum D e u m Israelis. Disput a t i o de p r a e d e s t i n a t i o n e . T r i a p r o b l e m a t a . E x p l i c a t i o vers. 6 Actor. X X V I . De unit a t e a n i m a r u m & de i n t e l l i g e n t e s . A p p e n d i x ad q u e s t i o n e m de u n i t a t e a n i m a r u m post s e p a r a t i o n e m à corpore. M S. De coena Domini. M S . C o n t r a Albertum G r a v e r u m

ENTDECKUNG DER GEHEIMEN Z I R K E L

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man annimmt, er sei eine der Grundlagen des Rakower Katechismus gewesen. Der „Catechismus Racoviensis" war aber bereits 1604/05 in polnischer Sprache von V. Schmalz und H. Moskorzowski niedergeschrieben und 1605 in polnischer Sprache publiziert worden. 1608 wurde er von V. Schmalz ins Deutsche, 1609 durch Moskorzowski ins Lateinische übertragen. Jonas Schlichting schrieb 1651 eine Neubearbeitung, die aber erst nach 1659 erscheinen konnte. Soner sucht in seinem „Katechismus" vor allem die These vom stellvertretenden, büßenden und sühnenden Leiden Jesu Christi für die Menschheit vom sozinianischen Lehrbegriff fernzuhalten.82 Nach seiner Auffassung (und der des Sozinianismus) ist Gott durch Christi Leiden nicht erst versöhnt worden, sondern hat sich als Versöhnter gezeigt. Christus aber wurde durch seinen Tod erlöst und erhielt die Vollmacht, allen ihm Gehorsamen die Sünden zu vergeben und sie von der Strafe für ihre Sünden zu befreien. Die Satisfaktion hat nichts mit einer Zurechnung und Zueignung der durch Jesus erworbenen Versöhnung zu tun. „Welches ist die Absolution oder Rechtfertigung von unsern Sünden? Es wird genannt die Rechtfertigung, und ist diß, daß Er uns unsere Sünde verzeihet, und unangesehen derselben, die Gerechtigkeit zurechnet, . . . und uns für gerecht haelt, als ob wir niemahls gesündigt haetten . . . Warum schreibt du die Rechtfertigung dem HErrn Christo zu, da doch die H. Schrifft sagt: GOtt sey, der da gerecht mache Rom. VIII, 30, 33; Tit. I I I , 7. Darum, dieweil der HErr Christus und der Vatter eines sind, in dem Werck unserer Seeligkeit oder Seeligmachung . . . Joh. X, 30. und hat der Vatter dem Sohn alles übergeben. Joh. V, 22. J a was der Sohn thut, das wird eben sowol dem Vatter zugeschrieben, dieweil es vom Vatter alles ursprünglich herkommt . . ." 8 3 Die Rechtfertigungslehre ist in der lutherischen Kirche der „articulus stantis et cadentis ecclesiae". Ihre rationalistisch-moralisch begründete Verwerfung ist kein geringerer Affront als die Bestreitung des Trinitätsdogmas. Bei den 1616 stattfindenden Vernehmungen der Altdorfer Sozinianer wurde ausgesagt, der Pole Michael Gittich (Gittichus) habe die antitrinitarische Häresie nach der Nürnbergischen Akademie gebracht.84 Dies trifft nicht zu, vielmehr fand Soner in diesem schon vor seinem Altdorfer Aufenthalt sozinianisch de Satisfactione. Disputationes & commentarius in Metaphysicam Aristotelis." In der Originalausgabe (Freistadt 1684) folgt: „Vide plura de hoc auctore apud Königium, in Bibliotheca Veteri & Nova." Dort steht aber lediglich: „ S O N E R U S (Ernest.) Norimbergensis, Anno 1612. obiit Altdorfii per integrum fere septennium philosophiam & medicinam publice professus est. Eruditionem hujus viri disputationes (quarum magna pars in Philos. Altd. occurrit) & commentarius in metaphysicam Aristotelis arguunt & abunde commendant. Mortuo G. Richterus, Norimbergensis, parentavit. Vid. Henningus Witte in memor. Medd.pag. 18." (G. M. König, Bibliotheca vetus et nova, in qua Hebraeorum, Chaldaeorum, Syrorum, Arabum, Persarum, Aegyptiorum, Graecorum et Latinorum per universum terrarum orbem Scriptorum, Theologorum, J c t o r u m , Medicorum, Philosophorum, Historicorum, Geographorum, Philologorum, Oratorum, Poetorum, & c. Patria, Aetas Nomina, Libri . . . . Altdorf 1678, S. 764.) Vgl. das Verzeichnis bei F . S. Bock, Historia Antitrinitariorum, T. I , p. 2, S. 8 9 4 - 9 0 3 . 82 G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 825, S. 8 4 3 - 8 4 4 . M Ebenda, S. 8 4 4 - 8 4 5 . 84 Vgl. ebenda, S. 89. — Gittich wurde auch nach der Herkunft seines Vaters, der sich

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V I . 2 . KRYPTOSOZINIANISMUS UND ALTDORF

gesinnten Studenten einen Bundesgenossen. Im Jahre 1606 war Johann Crell, geb. 1590 zu Heimersheim in Franken, nach Altdorf gekommen. 85 Er wurde von Soner für den Sozinianismus gewonnen, machte das Bakkalaureatsexamen und sollte Inspektor des Alumnats werden. Da er die für dieses Amt erforderliche Verpflichtung auf die „Confessio Augustana" nicht zu leisten vermochte, entwich er 1612 heimlich nach Polen. 1613 wurde er am Gymnasium zu Rakow Professor der griechischen Sprache, 1616 Rektor dieser Schule, seit 1621 bis zu seinem Tode (1631) war er Prediger zu Rakow. Von einer Verbindung der Altdorfer und der polnischen Sozinianer zeugt nicht erst Crells Flucht. Dafür spricht schon ein Brief Chr. Ostorodts, damals Prediger der Gemeinde Buschkau, 17 km von Danzig entfernt, an seine Altdorfer Gesinnungsgenossen vom Jahre 1607.86 Er fordert die Altdorfer darin auf, das Abendmahl nach sozinianischem Ritus zu feiern. Wie spätere Untersuchungen ergaben, hat eine solche Feier in Anwesenheit von fünf bis acht sozinianischen Studenten auf der Stube des Martin Ruar im Hause des Professors der Jurisprudenz Conrad Rittershausen im Jahre 1614 stattgefunden. 87 Das Bestehen einer sozinianischen Gemeinde unter den Altdorfer Studenten konnte in der kleinen Universitätsstadt auf die Dauer nicht verborgen bleiben. 1609 wurde dem Professor der Jurisprudenz Andreas Dinner durch die Scholarchen der Auftrag erteilt, zu berichten, welche überaus ketzerische und gotteslästerliche Anschauung der Student Gittich in einigen Religionsartikeln vertrete. Michael Gittich weilte damals in Altdorf als Erzieher des jungen vornehmen Polen Stefan Wojnarowski. Dinner erklärte am 30. 12. 1609,88 Gittichs Lehre sei noch schlimmer als die arianische, da sie die Gottheit Jesu und überdies auch die Satisfaktionslehre gänzlich bestreite. Inzwischen war Gittich aber bereits nach Polen zurückgekehrt. „Zwei Jahre nach dem Tode Soners scheint der Höhepunkt der socinianischen Bewegung an der Nürnberger Akademie bereits überschritten gewesen zu sein." 89 Die Führerschaft war nach Soners Tode und der Abreise Crells und Gittichs auf M. Ruar, Joachim Peu-

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in Litauen niedergelassen hatte, Venetianus genannt. Vgl. Polski Slownik Biograficzny, Bd. 8, Wroclaw - Krakow - Warszawa 1959-60, S. 9 - 1 0 . G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 190. — Vgl. J. J. Herzog u. O. Zöckler: Socin und der Socinianismus, in: Kealencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 18, Leipzig 1906, S. 464. Zu Heimersheim = Helmitzheim vgl. J. K. Bundschuh, Geographisches Statistisch-Topographisches Lexikon von Franken . . . , Bd. 2, Ulm 1800, Sp. 565—566. — „Krell was the dominant figure of the Polish Brethren after the death of Socinus, settling in Raköw in 1613, becoming the rector of its Academy, 1616—1621, and a co-minister of its principal church until his death . . . . he was the major shaper of Socinian thought through the first half of the seventeenth Century" (G. H. Williams, in: The Polish Brethren. Documentation of the History and Thought of Unitarianism in the Polish-Lithuanian Commonwealth and in the Diaspora, 1601—1685. Ed., transl. and interpreted by G. H. Williams, Vol. 1 - 2 , Ann Arbor 1980, S. 131). Williams bringt die CrellBiography von Joachim von Hirtenberg (Pastorius) vom Jahre 1635 in englischer Ubersetzung (ebenda, S. 133—146). G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 130—143. — Vgl. J. Tazbir, Sozinianismus in Gdaüsk und Umgebung, a. a. O., S. 78—79. Ebenda, S. 491 f f . . - V g l . K. Braun, Der Socinianismus in Altdorf 1616, a. a. O., S.70f. G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 86—8S. K. Braun, Der Socinianismus in Altdorf 1616, a. a. O., S. 71.

V E R H A F T U N G E N AN D E N

UNIVERSITÄTEN

377

schel und Johann Vogel übergegangen. Ruar weilte bei Ausbruch der Altdorfer Untersuchung in Straßburg, Peuschel in Jena, Vogel in Wittenberg. Auch andere junge Sozinianer, wie Bernhard Planer, Georg Richter, Christoph Uffinger, Joachim Ruar (ein Bruder M. Ruars), Paul Groe, studierten inzwischen an anderen Universitäten. Zu Altdorf weilten an offenbaren Sozinianern neben polnischen Studenten immerhin noch Johann Cobius, Joh. Georg Fabricius, Joh. Gerhard Frauenburger, Cornelius Marcius, Sebastian Hainlein, Nikolaus Dümmler, .Martin Seidel. 90 Fabricius, Frauenburger und Hainlein widerriefen, sobald die Untersuchungen einsetzten. Die Nürnberger Bürger Nikolaus Leimer (ein mit Soner verwandter Kaufmann) und Georg Ludwig Leuchsner leugneten ebenso wie der Nürnberger Patrizier Christoph Fürer eine Verbindung mit den Sozinianern/'1 was allerdings nichts besagt. Leuchsner hat, wie wir wissen, zu Soners Lebzeiten dessen Verbindungen zu den Rakowern sichern helfen und hat — „Georgius Leuschnerus Norimbergensis" — auch an der Synode von Rakow (Oktober 1602) teilgenommen. 02 Fürer war einer der Schützlinge Soners auf dessen Bildungsreise. Für Fürers Vater hielt Soner die Leichenrede, und nach Caccamo ist „es sicher", daß bereits der junge Christoph Fürer Soners häretische Auffassungen geteilt hat. 9 3 Auch Georg Richter — er befand sich damals in Leiden — hat wohl die Beteiligung am Altdorfer Kryptosozinianismus geleugnet. Er kehrte 1618 nach Nürnberg zurück und wurde 1623 Ratsherr der Stadt Nürnberg. In seinen letzten Lebensjahren gehört er zu den schärfsten Gegnern des Predigers J . Saubert. Er bemühte sich noch 1616 um die Veröffentlichung von Soners „Commentarius" und stand in dieser Frage u. a. mit D.Heinsius undC. Cremonini in Briefwechsel. Dümmler, Peuschel, Ruar und Vogel bildeten den „harten Kern" der Altdorfer Sozinianer. Die Verfolgung der Altdorfer Sozinianer wurde allem Anschein nach durch den Jenenser Professor Albert Grawer (Grauer) ausgelöst, einen entschiedenen Gegner des Sozinianismus,der mehrere Arbeiten gegen sie veröffentlichte. Durch Äußerungen des zeitweilig zu Jena studierenden J . Vogel M sowie J . Peuschels aufmerksam geworden, hat Grawer 1615 vermutlich die Nürnberger Geistlichkeit oder die Prokuratoren der Universität auf die sozinianische Gruppe in Altdorf hingewiesen. Vogel und Peuschel wurde dies von ihren Altdorfer Freunden mitgeteilt. Die Scholarchen forderten Vogel und Peuschel auf, zwölf Punkte zu beantworten und daraus ihr Glaubensbekenntnis zu bezeugen. Sie antworteten eindeutig im Sinne des Sozinianismus. 95 Der Nürnberger Rat beschloß, die Verhaftung Peuschels und Vogels zu beantragen. Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen und Herzog Johann Ernst von Weimar wurden in einem längeren Schreiben gebeten, die beiden Sozinianer festzunehmen, ihre Bücher und Schriften zu beschlagnahmen und dem deshalb nach Jena und Wittenberg entsandten Nürnberger Syndicus Johann 90 Vgl. G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., p. 248. 91 Ebenda, S. 253, 496, 154, 221 ff. 9 2 Chr. Sandius, Bibliotheca Antitrinitariorum, ed. Szczucki, a. a. O., S. 175. 93 Vgl. F . S. Bock, Historia Antitrinitariorum, t. 1, p. II, a. a. O., S. 9 0 2 f . ; D. Caccamo, Sozinianer in Altdorf und Danzig im Zeitalter der Orthodoxie, a. a. O., S. 46. 9 4 G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 386. 5 Vgl. K. Braun, Der Socinianismus in Altdorf 1616, a. a. O., S. 74—75.

378

VI.2.

KRYPTOSOZINIANISMUS UND

ALTDORF

Jakob Weigel auszuliefern.96 Der Grund für dieses scharfe Vorgehen des Rates lag natürlich auch in der Sorge, infolge des Bestehens einer sozinianischen Bewegung könne der „gute Ruf" der Akademie Altdorf Schaden erleiden. Zudem 96

Anbei das Schreiben nach: Staatsarchiv Nürnberg, Reichsstadt Nürnberg, „Briefbücher der Herren Älteren, Nr. 4, fol. 108—109", unter dem D a t u m : 1616 Februar 21. „Gnedigster Herr, Euer Churfürstl.: G.: können wir, underthenigst zuberichten nicht umbgehen . . . das auf unßerer Hohen Schul Altdorff, unter daßelbst alimentirten Stipendiaten und unßeren Bürgers kindern, etzliche uffgewachßen, die in den vornembsten Glaubensarticuln, von dem Buchstaben der H : Schrifft abgesprungen, ihnen selbsten und ihrem ingenio, aus frechheit der Jugendt, zu viel getrauet, und mit ersonnenen Tropis, von der jenigen Confession, welche die allgemeine Christenheit von viel Hundert Jahren geführet, ab- und hingegen zu der abscheulichen Sect, und subtilem Gifft, der, vorlengst condemnirten Gottslesterlichen Photinianores, gewendet haben, darinnen auch so sehr erstarret, das, ob wir gleich nach Christlicher empfindtnus, Sie, von unßern vornembsten Predigern, zu red hallten, und dergleichen hohen Sachen, darinnen Sie, ohne das alles schlecht fundirt, besser nach zu sinnen, und ihre aigenen gutdünken, vermessenheit, und vermeinte geschickligkeit, nicht all zu viel zutrauen, beweglichen erinnern lassen: dannach so wohl mündalls schrifftlich, uff ihrem abscheulichen Irrtumben beharret, theils sich in Poln, theils anderer orten salvirt, und also dardurch, eingangs gedachte unßere Academiam zu Altdorff auswendig(er) orthen nicht inn geringen verdacht gebracht, Allso ob daselbsten, der Pkotinianismus, öffentlich nutirt und die jenigen, so solcher Sect anhengig, unverhindert gedultet wurden, Nun werden wir glaubwürdig berichtet das zwehn derselben auf Euer Churfürstl: G.: Hohen Schul Wittemberg und in Vormunschafft, Fürstlicher Schul J e n a namens Johann Vogel, und Joachim Peuschel, sich an jetzo nicht allein auffhalten thun, sondern auch under erdichten namen, wie theils ihre intercipirte schreiben an tag gebracht, ganz gefehrliche verstand: und Verbündnus, wider Gottes Ehr, und Christlicher Kirchen frommen, zwischen ihnen angestellet, dardurch mittler Zeit, daß dißer unkraut wurzel gewinnen sollte, die unschuldige Jugendt und der gemaine Mann in höchste Verwirrung gerathen köndten: Derowegen unß alß einer Christlichen Obrigkeit, gebühren und obligen wollen, sowohl dißem übel bey zeiten vorzubauen, Allß insonderheit unß, und unsere Academiam zu Altdorff, aus dem unverschuldten verdacht zu bringen. Wann dann beide obgedachte, Johann Vogel, zu Wittenberg, und Joachim Peuschel, zu J e n a , unßere noch unentledigte Burger, und verpflichte Stipendiaten sein, Allß ersuchen Euwer Churf.: G : wir hirmit underthenigst, die geruhen dießelben, sambt und sonders, und der dero Churf: und in Vormundschafft H : Sächsischen Jurisdiction weiteres nicht zu gedulden, viel mehr, weil wir unß dero freywilligen einstellung, da ihnen gleich dießelbe ufferlegt werden sollte, nicht zu versehen oder zu getrösten, die gnedigste Verschaffung, durch hierzu gehörige mittel, thun zu lassen, damit dieselbe allßbalden mit ihren büchern und schrifften, in würkliche verhafft und Arrest auff unsere verordneten Syndici, Joannis Jacobi Weigelii, gebührendes anlangen, gebracht, hernacher demselben, wohluerwahrlichen in seinen gewaldt überliefert . . . werde, gegen genügsamen schrifftlichen Revers, durch darzu behörliche mittel und weg, dieselbe herauß zu uns, zu verschaffen. Zu welchem end, wir auch Euer Churf.: G : underthenigst ersucht und gebeten haben wollen, dem unserigen gewöhnliche offene patenten, an alle und jede Obrigkeiten, deren land und gebiet, Er, inn durchführung derselben, berühren möchte, gnedigst mitzutheilen, damit Ihme daran kein einhallt oder Verhinderung geschaffen, sondern solche durchführung, unauffhalltlichen aller orten verstattet werde. Erzeigen Euer Churf: G : ein Christlich löblich und nützlich werk, dardurch nicht allein schuldige Ehrerbietung, gegen Gott, und sein Gn. wort erhalten, sondern auch viel verwirrtes, und der Christlichen kirchen höchstschedliches wesen, so sonsten durch diese Schwermer, noch weiters gestifftet werden köndte, verhütet und fürkommen würde . . ." (Der Brief des Rates zu Nürnberg an Kurfürst Johann Georg vom 21. 2. 1616 a u c h i n : Staatsarchiv Dresden: Loc. 7433, Universitäts-, Consistorial- und Geistliche Sachen, auch Beneficia 1 6 1 4 — 1 6 1 6 , B L . 4 1 0 . )

VERHAFTUNGEN

AN

DEN

UNIVERSITÄTEN

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befürchtete man in Nürnberg, daß die unitarische Bewegung sich unter den Studenten stark verbreitet habe. Syndicus Weigel brachte Peuschel, Vogel und Christoph Uffinger, einen in Wittenberg Jura studierenden Nürnberger Bürgersohn, als Gefangene nach Altdorf zurück. Gleichzeitig mit ihnen wurde noch gegen einige andere des Sozinianismus Verdächtige verhandelt. Ende Januar 1617 haben Peuschel und Vogel durch öffentlichen Vortrag im Rahmen der Altdorf er Hochschule ihre häretischen Auffassungen widerrufen. Vogel sprach „de vera et aeterna Jesu Christi divinitate", Peuschel „De sanctissima Domini nostri Jesu Christi satisfactione". 97 V. Schmalz, seit 1605 Prediger und Lehrer zu Rakow, schrieb 1617 eine ausführliche Widerlegungsschrift der beiden Reden. Sie erscheint mir bezeichnend für die Bedeutung, die die Sozinianer in Polen den Altdorfer Ereignissen beilegten. Schmalz klagt in der „Praefatiuncula" seiner Schrift den Nürnberger Senat an, durch Verfolgung und Kerker den Widerruf von Vogel und Peuschel abgepreßt zu haben. 98 Joachim Peuschel 99 war ein Sohn des Diakons bei St. Lorenz, M. Lazarus Peuschel. Nach seinem Widerruf wurde er Pfarrer zu Kalchreuth und dann Diakon bei St. Jakob. Johann Vogel 100 war der Sohn eines Nürnberger Rotgießers und Ringmachers. Im Anschluß an ein etwa viermonatiges Studium in Jena, wo er einige Male mit dem erwähnten Professor Grawer öffentlich disputierte, ging er mit Martin Ruar nach Meseritz (Miedzyrzecz) in Polen, wo er (1615) feierlich durch V. Schmalz in die unitarische Gemeinde aufgenommen wurde. Danach studierte er in Wittenberg; u. a. war er einer der Respondenten 97

G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S u p p l e m e n t a , S. 899—911. V. Schmalz, R e f v t a t i o O r a t i o n v m , J o h a n n i s Vogelii et J o a c h i m i Pevschelii, q v i b v s P h o t i n i s m v m se hoc a n n o Altorfii retractasse gloriantvr, in : G. G. Zeltner, H i s t o r i a Crypto-Socinismi, a. a. O., S u p p l e m e n t a , S. 938—997. Auch als S o n d e r d r u c k : V. Schmalz, R e f u t a t i o o r a t i o n u m , J o h a n n i s Vogelii et J o a c h i m i Peuschelii . . ., R a c o viae 1617. „ S e n a t u s vero Norimbergensis, c u j u s p r u d e n t i a h a c t e n u s alias Respublicas superare visa est, eo prolapsus est nuper e t i a m a m a r i et praeposterizeli, u t in p a u c o s quosdam studiosos, quibus Deus id, quod n o s t r a e Ecclesiae h a c t e n u s p r o f i t e n t u r , alto suo Consilio relelarat, tarn graviter a n i m a d v e r t e r i t , u t n o v a p a p a l i s t y r a n n i s eos invasisse merito dici possit. H o m i n e s enim liberos, catenis ligatos, ex Academiis satis remotis Norimbergam deduci curavit, et ibi in carceribus squalidissimis per non paucos menses conclusos, minis e t i a m carnificinae propositis, t a n d e m eo adegit, u t v e r i t a t e m a b n e g a r e n t , et publice e t i a m r e t r a c t a r e n t . O Deus, u b i n a m g e n t i u m sumus? Haeccine fieri decet i n t e r eos, qui v e r u m Christi E v a n g e l i u m p r a e aliis sibi r e v e l a t u m gloriantur? E n , in medio illorum, qui A n t i c h r i s t u m d e s e r u e r u n t , Antichristus r e g n a t ? Quis t a n d e m hujus, t y r a n n i d i s finis f u t u r e s est? N u m f o r t a s s e credunt, hac r a t i o n e d i v i n a m v e r i t a t e m s u p p r e s s u m iri? At c o n t r a r i u m eos o m n i a , quae hoc seculo elapso in E u r o p a e potissima p a r t e f a c t a sunt, adeoque illorum ipsorum in religione profectus, docere p o t e r a n t . Veritas u t p a l m a p r e m i p o t e s t , sed nullo oneri tarnen cedit. E t videtur q u i d e m ipse Deus calculo suo c o m p r o b a r e , q u a m v e h e m e n t e r illi istiusmodi o m n i a displiceant." ( E b e n d a , P r a e f a t i v n c v l a , a 2—a 3.; vgl. G. G. Zeltner, H i s t o r i a Socinismi, a. a. O., S. 942.) 9» E. v. Steinmeyer, Die Matrikel der U n i v e r s i t ä t Altdorf, Bd. 2, a. a. O., S. 56; G. A. Will, Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon, T. 3, a. a. O., S. 134—135. wo E. v. Steinmeyer, Die Matrikel der U n i v e r s i t ä t Altdorf, Bd. 2, a. a. O., S. 198; G. A. Will, Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon, T. 4, N ü r n b e r g u n d Altdorf 1758, S. 114— 117. — E i n e n Überblick über die Altdorfer Ereignisse, wobei allerdings M. R u a r im M i t t e l p u n k t steht, auch bei L. Chmaj, Marcin R u a r , a. a. O., S. 75—96. 98

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bei J . Martinis Disputationen über den Messias und suchte bei dieser Gelegenheit seine Zweifel an der Kirchenlehre zu verbreiten. iüI Nach seinem in Nürnberg erfolgten Widerruf wurde er 1621 Rektor an der Egidien-, 1633 Rektor an der Sebalder-Schule. Ein Führer der noch in Altdorf weilenden Sozinianer war Nikolaus Dtimmler, ein Sohn Nürnberger Handwerksleute. Er hatte vor den Predigern J . Fabricius und J . Schröder (letzterer war ein Lieblingsschüler Aeg. Hunnius') über sein Glaubensbekenntnis Rechenschaft abzulegen. 102 Vor der Unterredung überreichte Dümmler eine Niederschrift seiner Auffassungen. 103 Darin erklärte er u. a.: Wenn der Glaube an die Trinität zur Seligkeit notwendig wäre, so würde die Bibel darüber sprechen. Dort finde sich aber nirgends, daß in einem einzigen göttlichen Wesen drei Personen seien. Wenn die Lehre von der Trinität ein so hohes Geheimnis sei, so wundere er sich, daß die Scholastiker und andere Theologen so spitzfindig darüber geschrieben und disputiert hätten. Die Prediger, die bei Dümmlers Verhör auch einen Teil seiner Schrift vorlesen ließen, antworteten: Dümmlers Argumente brächten nichts Neues, seien längst bekannt und auch besprochen worden. Sie seien vorwiegend philosophisch und deshalb nicht so wichtig zu nehmen, daß man um ihretwillen vom Glauben und Bekenntnis der allgemeinen Christenheit abweichen müßte. Interessant erscheint hier die Auffassung vom Verhältnis von Theologie und Philosophie bei den lutherischen Predigern. Sie trennen bereits Theologie und Philosophie. Wenn irgendwelche Theologen spitzfindig über die Trinität sprächen, so werde damit das Geheimnis10/1 nicht aufgehoben. Dümmler wurde auferlegt, in zehn Tagen erneut vor den Predigern zu erscheinen. E r ist vor dieser zweiten Vernehmung aus Altdorf geflüchtet. Am 6. August 1616 wurde er durch Rektor und Senat der Akademie Altdorf in öffentlichem Anschlag aufgefordert, sich innerhalb von 10 Wochen zu stellen, um über die Gründe seiner Flucht Auskunft zu geben. Da dies nicht geschah, wurde er von der Hochschule für ständig relegiert und exkludiert. 105 Nach seiner Flucht aus Altdorf kam Dümmler nach Polen, er fand eine Anstellung als sozinianischer Prediger zu Bobelwitz (Bobowiek) unweit von Meseritz. 106 Als eine Säule des Altdorfer Sozinianismus erschien in den Aussagen der verhafteten Studenten M. Ruar. Da er sich 1616 an der Universität Straßburg aufhielt, wandte sich der Nürnberger Rat an die 13 Geheimen zu Straßburg, Vgl. Th. Wotschke, Wittenberg und die Unitarier Polens, II, in: Archiv für Reformationsgeschichte, Leipzig, 15 (1918) S. 65—88; Disputatio VII de Messia probans contra Judaeos Jesum Christum esse Messiam. In academia Wittenbergensi praeposita praeside dn. Jacobo Martini respondente Johanne Vogelio Noribergensi ad diem 8. Novembris, Wittebergae 1615. 102 G. A. Will, Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon, T. 1, Nürnberg und Altdorf 1755, S. 295—296; G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., Supplementa, S. 1 1 1 2 - 1 1 1 8 (v. 5. J a n . 1616). «w Ebenda, S. 1 1 1 9 - 1 1 5 7 (Confessio fidei Nicolai Dumleri). 104 „ratio mysterii" (ebenda, S. 1114). «5 Ebenda, S. 5 2 7 - 5 2 8 (6. Aug. 1616); vgl. auch S. 523. KHi Vgl. L. Chmaj, Marcin Ruar, a. a. O., S. 86; G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 206, 500; G. A. Will, Nürnbergisches Gelehrten-Lexikon, T. 1, a. a. O., S. 296. 101

S O N E R ALS P H I L O S O P H

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um sie auf Ruars Tätigkeit aufmerksam zu machen. Der dortige Magistrat beauftragte zwei Professoren der Theologie, Ruar zu vernehmen. 107 Die damals in Altdorf studierenden Polen waren wohl sämtlich Anhänger des Sozinianismus. Der Rat ließ auch sie einem Verhör unterziehen und war entschlossen, alle Verdächtigen von der Universität zu entfernen. Zbigniew Sienienski von Sienno, Sohn des Toparchen von Rakow, wurde nebst anderen Studenten ausgewiesen. 108 Der Rat verordnete, daß zukünftig alle verdächtigen Personen, die in Altdorf studieren wollten, vor der Immatrikulation bezüglich ihrer Religion zu befragen seien. Falls man sie „schuldig" finde, solle man sie nicht immatrikulieren, sondern höflich abweisen. Unter den Polen, die Altdorf verlassen mußten, befand sich auch Samuel Przypkowski, der später eine Nachfahrin des F. Sozzini ehelichte, die Stellung eines polnischen Rats erlangte und nach seiner Ausweisung aus Polen, die wegen seines sozinianischen Bekenntnisses um die Mitte des 17. J h . erfolgte, als kurfürstlich-brandenburgischer Rat starb. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang noch der bekannte Sozinianer Jonas Schlichting von Bukowicz. 109 Er bezog 1616 die Akademie Altdorf, fand aber nur mit Mühe Aufnahme, da der Prozeß gegen die Sozinianer bereits begonnen hatte. Schlichting wurde später Geistlicher in Rakow, mußte Polen nach dem Reichstagsbeschluß von 1658 ebenfalls verlassen und starb zu Selchow bei Lagow (Kreis Oststernberg) in der Mark. E r hinterließ Kommentare zu den meisten neutestamentlichen Schriften. Schließlich sei eine Interpellation der polnischen zugunsten der Altdorfer Sozinianer erwähnt. Am 16. 10. 1616, zu einem Zeitpunkt, da Peuschel bereits aus der Haft entlassen war und Vogel nur noch wenige Tage von der Freiheit trennten, traf zu Nürnberg ein Abgesandter der polnisch-sozinianischen Ritterschaft ein und begehrte eine Audienz „in sitzendem vollem Rate". 1 1 0 Mündlich und durch Überreichung eines langen Schreibens teilte der Emissär den Zweck seiner Reise mit. Seine Landsleute zu Altdorf erwähnte er nicht, dagegen setzte er sich aufs Entschiedenste für Peuschel und Vogel ein, die er beide noch im Gefängnis wähnte. Der Rat ließ sich durch diese Intervention in seinen Handlungen nicht bestimmen. Auch dieser Akt von Solidarität bezeugt die große Beachtung, die man in Polen den Altdorfer Sozinianern beimaß. Ernst Soner war philosophisch durch zwei Lehrer geprägt worden — einmal durch Taurellus (vgl. Kap. III), bei dem er das Baccalauréat erworben hatte. Sein anderer deutscher Lehrer war Philipp Scherb, der ihn zum Nachfolger 107 Vgl. G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 536—538; L. Chmaj, Marcin Ruar, a. a. O., S. 101-102. 108 Vgl. E. v. Steinmeyer, Die Matrikel der Universität Altdorf, a. a. O., Bd. 2, S. 541; G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 524. 109 Vgl. O. Fock, Der Socinianismus . . . , a. a. O., S. 196-198. Zu S. Przypkowski in Altdorf vgl. E. v. Steinmeyer, Die Matrikel der Universität Altdorf, a. a. O., Bd. 1, S. 129; Bd. 2, S. 441; zu den Brüdern Schlichting, Zb. Sienienski und J . Morsztyn in Altdorf vgl. ebenda, Bd. 1, S. 141; G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a.a.O., S. 449-500, 502, 534 u. ö. Über die Tätigkeit von Ruar, Crell, Völkel, Schlichting, Schmalz u. a. hier genannte deutsche Sozinianer in Rakow vgl. : St. Tync, Wyzsa szkola Braci Polskich w Rakowie. Zarys jej dziejow (1602—1638), a. a. O., S. 331-389. 110 K. Braun, Der Sozinianismus in Altdorf 1616, a. a. O., S. 140.

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auf seinem Lehrstuhl bestimmte und zum Magister promovierte. Scherb, der in Rom und Bologna studiert hatte, war Cesalpin verpflichtet. Solange es keine Untersuchung über das Verhältnis der Philosophien, vor allem der Metaphysiken Cesalpins, Taurellus' und Scherbs gibt, wird jede Interpretation der Metaphysik bzw. Philosophie Soners Stückwerk bleiben. Jedenfalls hat Soner die Grundprobleme des Streites zwischen Taurellus und Cesalpin übernommen, wobei er die Auffassungen des letzteren vertritt. Ley qualifizierte Soners Philosophie als „heterodoxen Averroismus, modifiziert durch eine konsequente Ablehnung der geltenden Konfession" m . Doch läßt sich zur Zeit Soners nicht mehr global von heterodoxem Averroismus sprechen. Es war inzwischen soviel philosophisch-heterodoxes, oppositionelles Gedankengut angehäuft, daß eine (ausschließliche, kennzeichnende) Berufung auf den Averroismus, der zweifellos einmal progressiv war, Anfang des 17. Jh. anachronistisch erscheint. Meines Erachtens schränkt Ley selbst in seinen folgenden Ausführungen das Apodiktische der zitierten Feststellung ein: „Soner erkennt das Vermischen platonischer und aristotelischer Gedankengänge, das in den vergangenen Jahrhunderten entstanden war, und scheidet nun platonisches von aristotelischem Gedankengut. Bei dem Beseitigen platonischer Reste verfolgt Soner den von Ibn Ruschd eingeschlagenen Weg, greift dabei auf den inzwischen bekannter gewordenen Alexander von Aphrodisias zurück und vertritt die von Pomponazzi und Caesalpini eingeschlagene Richtung." 112 Soner ist Aristoteliker, jedoch keineswegs im Sinne der Hauptlinien der in Deutschland vertretenen Schulmetaphysik. Er erweist sich als Schüler Cesalpins. Soner fragt mit Aristoteles, ob die Form früher als die Materie sei. E r antwortet mit Alexander von Aphrodisias, die Materie sei sowohl früher wie auch bedeutungsvoller. Die Materie ist im eigentlichen Sinne materiell. Allein ihr kann der Begriff der Substanz zugesprochen werden.113 Sein heißt nach Soner existieren. Existieren unterscheidet sich aber sachlich nicht vom Wesen. Der Mensch und das Sein des Menschen sind dasselbe. Sein und Wesen unterscheiden sich nicht sachlich, sondern nur begrifflich.114 Daß allein die Materie Substanz ist — diese Aussage ist für einen Sozinianer philosophisch nicht außergewöhnlich, bei Soner erfolgt sie unter Berufung auf Cesalpin. Die Eigenschaften geben das Wesen einer Sache wieder. Sie führen im konkreten Vgl. H. Ley, Zur Entwicklungsgeschichte der europäischen Aufklärung, a. a. O., S. 414. 112 H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 414. 113 ygi. E . Soner, In libros X I I metaphysicos Aristotelis commentarius, J e n a 1657, S. 374.—Vgl. zum ff. H. Ley, Zur Entwicklungsgeschichte der europäischen Aufklärung, a. a. O., S. 414—421; H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 4 1 2 - 4 2 2 . Zu Soners 1609 in Altdorf öffentlich gehaltenen und von Felwinger (Philosophia Altdorphina, Hoc est . . . Philippi Scherbi, Ernesti Soneri, Michaelis Piccarti, Disputationes Philosophicae . . . , Nürnberg 1644) veröffentlichten Rede vgl. D. Caccamo, Sozinianer in Altdorf und Danzig im Zeitalter der Orthodoxie, a. a. O., S. 52ff. 114 E . Soner, In libros X I I metaphysicos Aristotelis commentarius, a. a. O., S. 363, 228: „Esse enim nihil aliud est, quam existere; existere autem re non differre ab essentia . . . Si enim homo & Ens homo non differunt, sed eö ipsó, quó est homo, est Ens, & quó est Ens, est homo. E . essentia & existentia non differunt re, sed tantüm ratione diversa."

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Falle ebensowenig eine begriffliche Sonderexistenz wie Sein oder Wesen, die nur als Materie Bestand haben. Akzidentielle Eigenschaften sind untrennbar mit dem Ding verbunden, an dem sie in Erscheinung treten und ausgesagt werden können.115 Aussagen über Eigenschaften beziehen sich nicht auf Materie schlechthin, sondern auf Einzeldinge. Die Einzeldinge sind in der Regel kein Sonderfall, sondern einzelne Teile einer Art. Der Art kommt aber nicht das Primat zu. Das Einzelne ist vollkommener als das Allgemeine, zu dem der Artbegriff gehört. Wo das Einzelding nicht ist, da gibt es keinen Allgemeinbegriff.116 Da die Einzeldinge das Primäre sind, „haben sie Materie" 117 . Damit ist ihre Eigenschaft zum Ausdruck gebracht, Glied der objektiven Realität und dem Formenwandel unterworfen zu sein: „Was in allen Veränderungen gegenwärtig ist und die Veränderungen trägt, was selbst stets erhalten bleibt, soweit sich nur in ihm Veränderungen vollziehen, das heißt die Substanz. Wie hätte sie sich denn anders nicht verändert oder die Veränderung getragen? Und eben dies ist die Materie." 118 Soner vertritt in spezifischer Weise die Ewigkeit der Welt und verbindet damit das Problem der Bewegung. Er unterscheidet philosophische und naturwissenschaftliche Beweisführung. Dabei argumentierte Soner naturwissenschaftlich und anerkennt die Ewigkeit von Zeit und Bewegung. Die Philosophie (Metaphysik) geht auf das Ruhende. Der Begriff der Zeit schließt die Dauer ein. Zeit kann nicht für sich existieren. Ihre Grundlage sind bewegte Objekte. Da Soner den Begriff als Abstraktion von Eigenschaften der Einzeldinge auffaßt, muß der Vorstellung der unaufhörlich fließenden Zeit die Ewigkeit der Bewegung entsprechen und dieser die Ewigkeit der Materie.119 Soners Aristotelesdeutung folgt Grundgedanken des Sozinianismus. Danach ist bekanntlich die Materie präexistent, vor der Schöpfung, vor Gott. Von Soner werden diese und andere Gedanken philosophisch untermauert. Die platonische Auffassung der Materie lehnt er ab — auch dies als Folge seines auf Aristoteles bzw. Cesalpin fußenden Standpunktes. Piatons Ideen führen weder zum Entstehen der Dinge, noch nützen sie irgend etwas zu ihrer Er kenntnis. 120 Was der Materie entbehrt, besitzt überhaupt weder „Quidditas"" noch „Definitio" und ist damit jeder Erkenntnis, aber auch jeder Wirklichkeit enthoben. Eine Reihe von traditionellen aristotelischen Beweisen gegen Piatons Ideenlehre wird von Soner wiederholt. Ebenda, S. 364: „Ex quo patet.: accidentia esse entia propter illudens inqudsuntet existunt." H6 Ebenda, S. 73, 107, 204. 117 Ebenda, S. 107: „Praetereä cum singulare sit perfectius universali, igitur intellectus primö concipiet singulare, quod tarnen ipse non vult." 118 Ebenda, S. 461: „Quod in omnibus mutationibus est, et sustinet mutationes, ipsum quidem manens perpetuo, in ipso lantüm mutationibus contingentibus, id est substantia: quomodo n. alias mutaretur, aut mutationem sustineret? At hoc est materia." 119 Ebenda, S. 598: "Motus autem est accidens. E.[rgo] praesupponit substantiam aliquam aeternam, Moturn verö esse aeternum, probatur, quia tempus non potuit incipere, aut desinere." 120 Ebenda, S. 354: „Ideas Platonicas neq. ad gener ationem rerum, neq. ad cognitionem earum quidquam prodesse." 115

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Wir haben bei Soners Kommentar das Progressive hervorgehoben. Es sei aber zugleich betont, daß er — Kind seiner Zeit und Sozinianer — sich relativ ausführlich über Engel und Dämonen ausläßt. Aber Soner verleiht ihnen, entsprechend seiner Gesamtauffassung, Körperlichkeit, spricht ihnen Werden und Vergehen zu, die Fähigkeit des freien Willens, zu hassen und zu lieben, die Möglichkeit zu schwanken und zu sündigen. 121 Soner lehnte es ab, wie Piaton nach Prinzipien zu suchen, die den Dingen selbst nicht eigen sind. 122 Erkenntnis und Erfahrung fallen für Soner weitgehend zusammen. Erfahrung gibt es nicht, wenn sie nicht auf den Sinnen und der Wahrnehmung der Einzeldinge beruht. Sie ist sonst nur Glaube: „Experientia enim non est, si non est ex sensibus et animadversione singularium, sed est fides." 123 Die Sinne geben aber noch keine volle Erkenntnis, ebensowenig wie das Handeln allein, z. B. die praktische Tätigkeit des Handwerkers, die Ursache der Erfolge seiner Tätigkeit erfährt. Für Soner ist in den Sinnen und der Tätigkeit nur der Zugang zum Wissen, nicht das Wissen selbst zu sehen.124 Entscheidend ist der Verstand. Die Sinne beschäftigen sich immer mit dem einzelnen Gegenstand. Der Intellekt hat das Allgemeine, nicht das Einzelne vor sich. Er ist gleichsam abgesondert von den Sinnen und damit eine andere Form des Erkenntnisvermögens, wirkt jedoch nur mit Hilfe der Sinne. Die reflexive Erkenntnis führt von denSinnen zum Intellekt. Außerhalb der Sinne gibt es keine andere Fähigkeit, die das Einzelding aufzunehmen vermag. 125 Der Intellekt ist für seine Tätigkeit auf die Sinne angewiesen. In der Erfahrung des Menschen sind sinnliche Erkenntnis und Intellekt zusammengefaßt. Erfahrung ist nach Soner vernünftige Erkenntnis. Sie bezieht sich auf das Einzelne und bedeutet, daß sich die einzelnen Einsichten durch Wiederholung gefestigt haben: „Experienta enim proprie dicta est cognitio quaedam rationabilis. Est enim cognitio universalis, alicujussingularismemoriä saepe repetiti." 126 Die aus vielerlei Erinnerung an Vergangenes gesammelte Kenntnis nennt Soner materiale Erfahrung. Sie stellt eine noch nicht verarbeitete Summe von Einzelerinnerungen dar, die auf der zweiten Stufe der Erkenntnis untereinander verglichen werden müssen. Soner tendiert entschieden zum Rationalismus. Er beruft sich in seinem Werk mehrfach auf den Aristoteleskommentator Alexander von Aphrodisias. Ohne eigene Erfahrung kann vom Lehrer gelernt, aber nichts ohne Erfahrung gefunden werden. Ist die Grundlage der Erfahrung vorhanden, so können Erkenntnisse in Form von Schlußfolgerungen nach allgemeinen Richtsätzen entstehen. Von einer Erkenntnis durch Schlüsse und Prinzipien überhaupt kann aber nicht gesprochen werden. Erfahrung, Induktion und aus der Er121 E b e n d a . S. 683. 122 E b e n d a , S. 154. 123 E b e n d a , S. 79. »24 E b e n d a , S. 7 5 - 7 6 . 125 „Solus e n i m sensus u t p r o p r i u m o b j e c t u m cognoscit singulare, intellectus a u t e m n o n u t o b j e c t u m p r o p r i u m . Non enim hic per se directä cognitione solus & s e j u n c t u s ä f a c u l t a t i b u s sensitivis cognoscit singulare, sed auxiliö sensuum, cognitione ä sensibus ad ipsum reflexä. Sensus a u t e m u t cognoscat singulare, non opus h a b e t adminiculö a l i a r u m f a c u l t a t u m " (ebenda, S. 79—80). 126 E b e n d a , S. 57.

ERFAHRUNG UND RATIONALITÄT BEI

SONER

fahrung hervorgegangene Vorstellungen müssen vorangehen. Schlüsse enthalten demnach z. T. überlieferte Kenntnisse, z. T. Erfahrung. Am leichtesten hat es der Handwerker, der Schlußfolgerungen nicht nur aus deduzierten Prinzipien besitzt, sondern sie auch durch die Erfahrung bekräftigt hat. 127 Nur Materie ist Substanz, Kategorien sind keine Substanzen, wie Soner an der Quantität verdeutlicht. 128 Negativa sind ebensowenig selbständige Wesenheiten wie die platonischen Ideen. „Der Charakter der Aussage über die Dinge ist demnach im aristotelischen Sinn bei Soner beibehalten, nicht aber in ideenrealistischer Bedeutung. Die Beurteilung eines Gegenstandes nach den Kategorien ist für Soner nicht erschöpfend. Da er sie alle in den Eigenschaften der Einzeldinge und dem Verhältnis der Einzeldinge zueinander aufgehen läßt, hilft er einen Schritt vorbereiten, der in seiner Konsequenz zu der freien Betätigung der Wissenschaften führt und sie der Hemmung steriler Gedankenübungen entzieht." 129 Soner mißtraut allen ausschließlich deduktiven Verfahren, da sie die Gefahr in sich bergen, die Verbindung mit der objektiven Realität zu verlieren. Hinter dieser Zurückweisung der rein deduktiven Methode steht wohl der Naturwissenschaftler und Arzt Ernst Soner. Ley schließt: „Soners Begriff der Erfahrung ist . . . materialistisch. Er bezieht sich auf die Dinge außerhalb des menschlichen Bewußtseins. Ihre Eigenschaften bestimmen aber nicht nur den Inhalt der Begriffe, sondern auch die Art des Vorgehens im Erkenntnisvorgang selbst." 130 Für Soner ist der wirkende Intellekt inneres Prinzip aller Erkenntnis, Licht und Maß alles Erkennbaren. 131 Auch das innere Prinzip aller Dinge ist erkennbar. Soner identifiziert es mit dem aktiven Intellekt. Es berührt die Dinge, ist menschlicher Verstand und gleichzeitig Gott. Das Wesen des menschlichen Intellekts ist als potentieller Verstand mit dem „intellectus agens" verbunden. Wären beide getrennt, so besäßen die Menschen keine Fähigkeit zum Glück. 132 Die Möglichkeit der Erkenntnis ist auch dem individuellen Verstand gegeben. Wenn viele Menschen ihren Verstand nicht entsprechend ausbilden, so ist es nach Soner ihre eigene Schuld. Aus Dummheit, Stumpfheit, körperlicher Not, schlimmem Temperament nennen die Philosophen die Materie Ursache des Übels.133 Auch die gesellschaftlichen Zustände sind dafür verantwortlich zu machen, daß nicht mehr Menschen ihren Intellekt zu gebrauchen wissen. 127

Ebenda, S. 62: „Principia itaque semper experientia & inductione, seu n o t i t ä sensitivä praecedente, discuntur; conclusiones partim doctrinä, partim experientia; & optimus is est artifex, qui conclusiones habet non tantum ex principiis deductas, sed etiam experientia confirmatas." »28 Ebenda, S. 374-375, S. 378. 129 H. Ley, Zur Entwicklungsgeschichte der europäischen Aufklärung, a. a. O., S. 418. 1» Ebenda, S. 419. 131 E. Soner, In libros X I I metaphysicos Aristotelis commentarius, a . a . O . , S. 160: „Ipsa autem prima dicuntur manifestissima, quia principium internum omnis cognitionis est intellectus agens, lumen & mensura omnium cognoscibilium." Ebenda, S. 654. 133 Ebenda, S. 162. 25

Wollgast

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KRYPTOSOZINIANISMUS UND

ALTDORF

Crell, der in Altdorf studiert hatte, polemisierte in seiner Abhandlung „De Deo et eius attributis" gegen Cesalpins Philosophie, die dort ziemlich verbreitet war. Diese Polemik richtete sich damit zugleich gegen Soners Philosophie, die j a wesentliche Ideen von Cesalpin übernahm. Crell sucht sich durch seine Arbeit vom Einfluß Soners frei zu machen. n '> Die Sozinianer nahmen Soners Philosophie in der Tat nicht auf, nicht einmal jene, die während ihres Studiums in Altdorf unter seinem unmittelbaren Einfluß gestanden hatten — Ruar und Crell. Beide sprechen von ihrem einstigen Lehrer voller Hochachtung, aber ihre Ansichten entfernen sich von den seinen wesentlich, seit sie unter den unmittelbaren Einfluß der Sozinianer von Rakow gekommen waren. Gerade Crell polemisierte gegen den heterodoxen Aristotelismus und griff dabei auch Soners Thesen an, ohne freilich seinen früheren Lehier mit Namen zu nennen. Ruar rühmt auch später seinen Lehrer Soner, betont aber, daß seine Schüler es nicht wagten, die bei ihm gehörten Kommentare zu publizieren, „um nicht durch einen solchen Akt der Pietät gegen ihren Lehrer Haß zu erregen und sich selbst in Gefahr zu bringen" l35 . Die negative Einstellung der Theologen aus Rakow gegenüber Soners Anschauungen ist verständlich. Soners Gottesbild wies erstens pantheistische Züge auf, ungeachtet aller Versuche Soners, diesen Anschein zu vermeiden. Der Pantheismus war aber für die sozinianische Theologie nicht tragbar. Die Abgrenzung des irdischen und des göttlichen Elements wurde hier so weit getrieben, daß die Sozinianer später, wobei sie getreu Sozzini folgten, Gott an einem bestimmten Ort lokalisierten und ihn durch einen leeren Raum von der irdischen Welt trennten. I m Gegensatz zu Soner, der einen monistischen Standpunkt vertrat, operierten die Theologen von Rakow mit der Konzeption zweier nicht geschaffener und ewig bestehender Substanzen: einer ausgedehnten, aber keineswegs vollkommenen Materie sowie dem ausgedehnten, aber unendlich vollkommenen Gott. Diese Gottesauffassung mußte mit einer Theologie in Widerstreit geraten, die von Aristoteles herkam (Gott als sich selbst denkendes Denken). Zweitens war Soners Gott abstrakt, unveränderlich, ohne eigenen freien Willen, ohne Affekte, Wünsche, Absichten. Die Adaption einer solchen Gottesauffassung an den Begriff der Vorsehung, besonders an das Bild des alttestamentlichen Jahve, war ein völlig hoffnungsloses Unterfangen. Ogonowski hebt den heterodoxen Aristotelismus und seine verschiedenen Formen h e r v o r e r i n n e r t sei an die Schule von Padua mit P. Pomponazzi, G. Zabarella, Soners Lehrer Cremonini und ihren anderen Vertretern. Was aber heißt „heterodoxer Aristotelismus" in der zweiten Hälfte des 16. und der ersten Hälfte des 17. J h . ? Ernest Renan stellte in seinem Buch „Averroes et l'Averroisme" (1852) folgende These auf, der sowohl L e y wie 134 Vgl. Z. Ogonowski, Socynianizm a Oswiecenie. Studia nad myslq filozoficznoreligijn^, arian w Polsce X V I I wieku, Warszawa 1966, S. 1 5 8 - 1 6 0 , 2 3 6 - 2 6 3 ; Z. Ogonowski, Aristotelizm heterodoksalny w religijnosci zracjonalizowaney ( E r n s t Soner, czykli proba integracji doktryny filozoficznoj Cesalpina w religijny system socynian), in: Studia filozoficzne, Warszawa 4 (1964) S. 71—110. 135 Vgl. M. Ruar, Nec non aliorum . . . Virorum . . . . ad ipsum vel ejus causa scriptarum Epistolarum selectarum Centuria Altera et Ultima, a. a. O., S. 175, S. 181.

HETERODOXER

ARISTOTELISMUS

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Ogonowski — wenn auch modifiziert — folgen und die Kristeller so zusammenfaßt : „Es gab in Italien vom frühen 14. bis zum frühen 17. Jahrhundert eine ununterbrochene Tradition der aristotelischen Philosophie, die man Averroismus nennen kann, weil sie ihre grundlegenden Anstöße von dem arabischen Kommentator erhielt; im 16. Jahrhundert hatte diese Schule in einer anderen nach Alexander von Aphrodisias Alexandrismus genannten Strömung einen radikaleren Rivalen; beide Strömungen hatten ihr Hauptzentrum an der Universität Padua, und deshalb kann man den italienischen Aristotelismus als ,die Schule von Padua' bezeichnen; dieser paduanische Averroismus, obwohl in den meisten seiner spezifischen Lehren veraltet, gewinnt an Interesse durch seine Tendenz, mehr die Gegensätze als die Gemeinsamkeiten zwischen Philosophie und Theologie zu betonen; er verhehlt daher kaum seinen Unglauben gegenüber der religiösen Wahrheit und muß als unmittelbare Vorstufe des späteren Libertinismus und Freidenkertums betrachtet werden." 1 3 6 Nach Kristeller schillert der Begriff des Averroismus. Das deutet auch Ogonowski an. E s komme kaum vor, daß ein Denker die Ansichten eines einzelnen Kommentators, etwa die des Averroes, übernimmt. „Wenn wir nur jene Aristoteliker Averroisten nennen, die mit Averroes in der Interpretation jeder einzelnen Aristoteles-Stelle übereinstimmen, dann gab es kaum jemals einen einzigen Averroisten. Wenn wir jeden Denker, der irgendwelche Ansichten aus Averroes' Kommentaren übernahm, einen Averroisten nennen, dann gab es kaum einen einzigen Aristoteliker, der auf diese Weise nicht als Averroist bezeichnet werden könnte." 1 3 7 Also sei der Begriff „Averroist" mehr zu spezifizieren. Typisch für den Averroismus sind nach Kristeller zwei Problemstellungen: die der Einheit des Intellekts und die der doppelten Wahrheit. Diese Ansichten seien zwar von einigen Aristotelikern des Mittelalters vertreten worden, aber nicht von der Mehrzahl. Z. B. hätten Pietro d'Abano und Alessandro Achillini die Theorie von der Einheit des Intellekts nicht akzeptiert. Nach Kristeller ist die Theorie der doppelten Wahrheit „bei Averroes nicht zu finden". Außerdem sei diese Theorie sorgfältiger zu interpretieren: „Die grobe Vorstellung, daß es zwei widersprechende, aber gleichermaßen wahre Meinungen gäbe, wurde von keinem Denker vertreten. Sie behaupteten gewöhnlich, daß die theologische Lehre wahr sei, da sie sich auf den Glauben und die göttliche Autorität stütze, während eine andere, nicht damit zu vereinbarende Lehre aus rein rationalen Gründen oder auf Grund von Aristoteles als wahrscheinlich erscheine. Diese Stellung wurde zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert von vielen aristotelischen Philosophen bezogen, und sie wurde von den kirchlichen Autoritäten niemals verworfen." 1 3 8 Diese Lehre deute nicht unbedingt auf verborgene Zweifel am Glauben hin, sondern eher auf das Ideal der philosophischen und naturwissenschaftlichen Freiheit. In diesem Sinne hätten die Lehrer für Philosophie an den philosophischen Fakultäten den Weg für das spätere Freidenkertum und den Rationalismus gebahnt. Die Theorie der doppelten *

136 P. O. Kristeller, Humanismus und Renaissance, Bd. 2: Philosophie, Bildung, Kunst hg. von E . Keßler, München 1976, S. 126. 13' Ebenda, S. 127. »8 Ebenda, S. 128.

25»

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VI.2.

KRYPTOSOZINIANISMUS UND

ALTDORF

Wahrheit in diesem Sinne sei auch von vielen Aristotelikern geteilt worden, die keine Averroisten gewesen seien, wie Albertus Magnus, J. Buridan und Pomponazzi. „Daher sind wir gezwungen, den Begriff Averroismus entweder ganz fallen zu lassen, oder ihn auf jene wenigen Denker zu beschränken, die die Lehre von der Einheit des Intellekts akzeptieren, oder ihn schließlich willkürlich für jene größere Gruppe von Denkern zu gebrauchen, die die aristotelische Philosophie getrennt von der Theologie betrieben." 139 Kristellers Argumentation untermauert meine Bedenken gegen die Allgemeinheit, mit der H. Ley den Begriff des Averroismus noch für das beginnende 17. Jh. benutzt. Ähnliches gelte für den Alexandrismus. „Wenn wir unter einem Alexandristen einen Denker verstehen, der sich in allen Fragen nach Alexander von Aphrodisias richtet, so bezweifle ich, daß es im 16. Jahrhundert oder zu irgendeiner anderen Zeit jemals einen solchen Denker gegeben hat. Gewiß war es nicht Pomponazzi, der gewöhnlich als der Hauptvertreter des Alexandrismus angeführt wird, und der in seinem bedeutenden Werk De fato der Verteidigung des stoischen Begriffs vom Schicksal gegen Alexander einen langen Abschnitt widmete." 140 Allerdings hat auch nach Kristeller Pomponazzi die Auffassung von der Sterblichkeit der Seele mit Aristoteles verteidigt. Wenn wir den Begriff Alexandrismus auf dieses Faktum beschränken, würden wir damit nur einen kleinen Kreis von Denkern erfassen. Zudem schließt nach Kristeller der Alexandrismus den Averroismus nicht aus. 'Kiisteller vereinseitigt das Problem zugunsten der anderen Seite. Das ist wohl seinem Bemühen geschuldet, die Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance zu erweisen. Für ihn gibt es keinen Bruch, keine Diskontinuität. Harmonisch fließt die eine Zeit in die andere über. Er schließt sich Koyre an, dessen Bestreben, Descartes in die Scholastik zu reintegrieren, wir oben charakterisiert haben. Eine rein ideengeschichtliche Betrachtung ist überdies unzureichend. Sie bekommt die unterschiedliche Nutzung einer Theorie unter veränderten sozialökonomischen Bedingungen, das Aufkommen neuer Klassen und Schichten, neuer ideologischer Bedürfnisse und die davon beeinflußte spezifische Nutzung des überkommenen Gedankenmaterials nicht in den Blick. Näch Ogonowski ist Soner weder Fideist noch Libertiner gewesen: „his peculiarity consists in that his attitude was neither fideist not naturalistic but formed a synthesis of heterodox aristotelianism with religious rationalism."141 Soner behandelt nach Ogonowski drei Grundprobleme, mit denen sich heterodoxes Denken beschäftigte: 1. das Problem der Unsterblichkeit der Seele; 2. das Problem der Ewigkeit der Welt; 3. das Problem der Unveränderlichkeit Gottes: „The first two are conceived by Soner in a way, appealing to Cesalpinus' doctrine but compatible with the centuries long christian tradition. So far as .the third and most important component is concerned, metaphysical and physical Aristotelian arguments have outweighed biblical ideas in Soner's consciousness: Soner's God is absolutely immutable and deprived of free will. Ebenda, S. 128-129. »« Ebenda, S. 129. M1 Z. Ogcnowski, Aiistotelizm heterodoksalny a . a . O . , S. 1 0 9 - 1 1 0 (hervorgeh. - S . W . ) .

w

religijnosci

zracjonalizowaney,

CESALPIN

ALS S O N E R S

QUELLE

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Nevertheless Soner continued to identify his conception oi God with the traditional concept of God-Providence, functioning in christian theology. In doing so he was, however, unable to produce any rational arguments which would support this identification. In this point, Soner's ambitious enterprise was a complete failure and its only effect was to lay bare drastically the immense difference between the philosopher's God and the God of theology." 1 4 2 Mit der Darlegung dieses Standpunktes, des Unterschiedes bzw. Gegensatzes der Gottesbegriffe, wird eine wichtige Vorarbeit zur Aufklärung geleistet. In ihr gewinnt der „philosophische Gott" (man vgl. schon die großen metaphysischen Systeme des 17. Jh.) immer mehr Bedeutung. Soners heterodoxer Aristotelismus ist wesentlich Cesalpin geschuldet, von dem er fasziniert war. Andreas Cesalpin1'13 wurde 1524/25 in Arezzo geboren. E r war Professor für Medizin in Pisa und ab 1555 Direktor des dortigen botanischen Gartens. 1570 veröffentlichte er in Florenz „Quaestionum Peripateticarum libri quinque". Auf seinen ungewöhnlichen Ruf als Mediziner und Botaniker brauchen wir hier nicht einzugehen. E r schrieb u . a . „De Plantis libri X V I " (Florenz 1583), „De Metallicis libri tres" (Rom 1596). Als Philosoph ist er weniger im Bewußtsein. Dabei war er in Deutschland um die Wende des 16. zum 17. J h . sehr populär. Nach Taurellus standen damals Cesalpins Lehren in Deutschland in höherem Ansehen als einstmals bei den alten Griechen die Orakel. 144 Noch Joachim Pastorius (ein aus Glogau stammender sozinianischer Arzt, enger Freund Ruars und Biograph J . Crells) bezeichnete den Italiener als einen, „der die Philosophie des Aristoteles besser verstanden habe als ihr Schöpfer" 145. Taurellus wirft Cesalpin vor, er habe „die gottlosen Ansichten des Aristoteles über Gott und seine Vorsehung" nicht nur unterstützt, sondern noch verschlimmert. Ähnlich urteilte er über Cesalpins Auffassungen von der menschlichen Seele. Taurellus hält hier Cesalpins Standpunkt für noch religionswidriger als die Meinung des Averroes.1/,(i Für Ogonowski läßt sich von der Originalität des Cesalpinischen Denkens denn auch nur im Rahmen des Aristotelismus sprechen. 147 Dieses Urteil Ebenda, S. 110. ' « V g l . J . J . Brucker, Historia critica philosophiae, t. 4,1, a. a. 0 . , S . 2 2 0 - 2 2 5 . Vgl. H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3 / 1 , a. a. O., S. 219—225; St. Folaron, Andrea Cesalpino. Filozof z Arezzo, Cz^stochowa 1980. 144 N. Taurellus, Alpes caesae, hoc.est Andreae Caesalpini Itali monstrosa et superba dogmata discussa et excussa, Frankfurt/M. 1597, Vorwort: „. . . Caesalpini dogmata maiore apud Germanos fuisse in pretio, quam olim apud Graecos oracula." 1 4 5 „. . . duces habuit [Crell — S. W.] . . . Aristotelem & ejus interpretes, nec cos tarnen quoslibet, sed qui aliquid supra Scholasticorum acutas delirationes saperent: quales essent, Alexander, Simplicius . . . & potissimum qui Aristotelem Aristotele melius, quanquam audacter, intelligere a nonne — mine dictus est, Caesalpinus" (Vita Johannis Crellii Franci, in: J . Crell, Opera omnia, Exegetica. Didactica et Polemica, t. 1, a. a. O., p. 2). 146 „. . . non solum Aristotelicam impietatem de Deo eiusque motione et intellectione . . . scrvavisse, sed deteriora quoque, ipso Stagirita protulisse visus esset" ( J . J . Brucker, Histoi'ia critica philosophise, Bd. 4, 1, a. a. O., S. 221); „Caesalpini enim de animabus humanis opinionem multo magis et absurdam et impiam esse, quam Averrois . . . " (Ebenda. S. 222). 1 7 Z. Ogonowski, Aristotelizm heterodoksalny w religijnoici zracjonalizowaney.

390

VI.2.

KRYPTOSOZINIANISMUS UND

ALTDORF

korrespondiert mit Einschätzungen, die bereits Bayle abgab, als er die zu seiner Zeit geläufige Meinung referierte, Cesalpin sei „ein sehr böser Christ gewesen". „Seine Grundsätze sind nicht sehr von des Spinosa seinen unterschieden. E r hat mit dem Aristoteles die bewegenden Intelligenzen in den himmlischen Sphären zugelassen; allein er hat sie alle auf eine einzige Substanz eingeschränkt. Er hat auch Engel und böse Geister zugelassen; allein er saget, daß sie nichts anders, als Theilchen Gottes, mit einer sehr dünnen Materie vereiniget, wären. Noch mehr, er giebt vor, daß die Seele des Menschen und die Seele der Thiere, Theile von dem Wesen Gottes wären: so daß, wenn er mehr Geister und mehr Seelen erkannt, solches bloß, in Ansehung der Materie, geschehen ; denn außer der Materie hat er keine vielfältige Zahl zugelassen. Also gab es nach ihm nur eine einzige Seele, nur einen einzigen menschlichen Verstand, der sich nach dem Maße vervielfältiget, wie sich die Menschen vervielfältiget haben." 1 4 8 Cesalpins Lehre von der einen und einzigen Substanz wurde noch von E . Renan so gedeutet, daß Cesalpin als Vorläufer Spinozas erschien. 149 Selbst Brucker sagt, daß die Anschauungen Cesalpins hinsichtlich ihrer „Gottlosigkeit" eigentlich denen Spinozas nicht nachstehen. 150 Cesalpin wollte kein selbständiges philosophisches System schaffen. E r hielt die Philosophie des Aristoteles für den Gipfel menschlichen Wissens und achtete die arabischen Kommentatoren des Aristoteles gering, die von den italienischen Aristotelikern stark genutzt wurden. Seine Erklärungen hierzu sind aber wohl mit Vorsicht aufzunehmen; denn wenn auch Cesalpins System insgesamt innerhalb des Aristotelismus etwas Originelles darstellt, so mußte doch der Philosoph von Arezzo um die vielfältigen geistigen Bande wissen, die ihn mit diesen Kommentatoren verbanden. „Man könnte die Behauptung wagen, es sei Caesalpino darauf angekommen, jene Distanz hervorzuheben, die seine Deutung des Aristotelismus von verschiedenen aktuellen Versionen des Averroismus trennt, den die christliche Lehrmeinung als antireligiös ansieht. Indem er die arabischen Philosophen Barbaren und Gottlose nennt, betont er damit, selbst als rechtgläubiger Denker gelten zu wollen. Bis zum gewissen Grade widerspiegeln diese Erklärungen aber wohl auch die wahren Überzeugungen des Pisaer Professors, nämlich davon, wie neuartig seine Anschauungen in der Schule der Peripatetiker waren. Cesalpino war anscheinend davon überzeugt, daß er als erster nach vielen Jahrhunderten die Gedanken des Stagiriten richtig gedeutet habe." 1 5 1 Unabhängig daa. a. O., S. 76.— Vgl. A. Ch. Gorfunkel', Filosofija epoclii vozrozdenija, a. a. O., S. 1 8 1 - 1 8 2 . 148 P. Bayle, Historisches und critisches Wörterbuch, T. 2. Leipzig 1742, Artikel Cäsalpin, S. 124—125. — Die ff. Ausführungen basieren auf: Z. Ogonowski, Socynianizm a Oswiecenie, a. a. O., S. 160ff. Abweichende Aspekte bei St. Folaron werden nicht diskutiert. 149 Vgl. E . Renan, Averroes et l'averroisme. Paris [1852], S. 417. 150 „Quod, licet praeter fas fieri putemus, eo quod vnica Spinozae substantia alterius generis est: quam Caesalpiniana, cum haec ad solam animam pertineat, illa ad materiam quoque, cui Peripateticis rationibus vsus Caesalpinus vnitatem substantiae denegauit, fatemur tarnen, haud leuiorem impietatem eam sententiam fouere, et Stoicos errores recoquere, re ipsa Deum euertentes . . . " ( J . J . Brucker. Historia critica philosophiae, Bd. 4, 1, a. a. O., S. 224). 151 Z. Ogonowski, Socynianizm a Oswiecenie, a. a. O., S. 165. — Vgl. A. Cesalpin-

C E S A L P I N ALS S O N E R S

QUELLE

391

v o n , wie A . Cesalpin d a s V e r h ä l t n i s z w i s c h e n P h i l o s o p h i e u n d T h e o l o g i e w i r k l i c h g e s e h e n h a t — seine Ä u ß e r u n g e n sind w i d e r s p r ü c h l i c h —, h a t sein S y s t e m in d e r G e s c h i c h t e d e r P h i l o s o p h i e a m A u s g a n g d e r R e n a i s s a n c e o b j e k t i v einen d e s t r u k t i v - p r o g r e s s i v e n C h a r a k t e r . Gleich a n d e r e n h e t e r o d o x e n A r i s t o t e l i k e r n , v i e l l e i c h t n o c h s t ä r k e r , g a b e r zweifellos A n r e g u n g e n für die H e r a u s b i l d u n g des D e i s m u s . N a c h Cesalpin ist ein h ö h e r e s W e s e n , also G o t t , r e i n e r I n t e l l e k t , s i c h s e l b s t d e n k e n d e s D e n k e n , voll u n d g a n z in sich v e r s u n k e n . H i n s i c h t l i c h d e r W e l t bleibt es a b s o l u t u n t ä t i g . E x i s t e n z u n d F u n k t i o n i e r e n d e r W e l t e r k l ä r e n s i c h s o : G o t t ist h ö c h s t e s Ziel u n d h ö c h s t e s G u t , u n d d a alles G u t e e t w a s ist, w a s m a n b e g e h r t u n d w o n a c h m a n s t r e b t , ist G o t t d a s B e g e h r e n s w e r t e s t e ( „ p r i m u m d e s i d e r a b i l e " u n d „ p r i m u m a p p e t i b i l e " in d e r T e r m i n o l o g i e d e r A r i stoteliker, die dabei a u f d e m „liber de c a u s i s " u n d der sog. T h e o l o g i e d e s A r i s t o t e l e s f u ß t e n S o b a l d j e d o c h ein W e s e n e x i s t i e r t , dessen i m m a n e n t e E i g e n s c h a f t d a r i n b e s t e h t , b e g e h r t u n d e r s t r e b t zu w e r d e n (appetibile), m u ß es a u c h e t w a s geben, w a s dieses W e s e n b e g e h r t u n d n a c h i h m s t r e b t ( a p p e t e n s ) . Dieses a p p e t e n s , welches jenes h ö c h s t e G u t b e g e h r t u n d zu i h m s t r e b t , ist die Materie. Die M a t e r i e — als a p p e t e n s — e x i s t i e r t n i c h t a u s sich h e r a u s ; w e n n d a s B e g e h r t e fehlte, v e r s c h w ä n d e a u c h das, w a s b e g e h r t . D e m S t r e b e n d e r M a t e r i e n a c h d e m h ö c h s t e n Ziel, d e m h ö c h s t e n G u t , v e r d a n k e n die F o r m e n i h r e E x i s t e n z ; in e r s t e r L i n i e sind es die F o r m e n , die w i r Peripateticarum quaestionum libri quinqué, Venetiis M D L X X I , Praefatio. B a y l e meint, Cesalpin sei ein Neuerer: „ E r hat den Grund der peripatetischen Lehrverfassung eingesehen, und dieselbe nach dem wahren Sinne des Stifters, und nicht wie die Scholastiker, behauptet; welche, unter dem Namen der Schüler des Aristoteles, nichts weniger, als seine Lehrsätze, gelehret haben. Uebel ist es, daß sich Cäsalpin nicht hauptsächlich hat angelegen seyn lassen, die Räthsel dieses Lehrgebäudes aufzulösen, als in denen Artikeln, die der Religion am meisten entgegen stehen. Auf diese Art wie er die Lehre seines Meisters von der ersten Bewegung e n t w i c k e l t : wirft er nicht allein die Vorsehung über den Haufen, sondern auch den wahrhaftigen Unterschied zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpfe: und gleichwohl ist sein Buch [ich verstehe die Quaestiones Peripatéticas], von dem Ketzergerichte nicht verurtheilet worden. E r hat die List gebraucht, zu E n d e seiner Vorrede zu sagen, daß, wenn Aristoteles in gewissen Dingen nicht mit der heil. Schrift übereinkomme, er denselben verlasse und erkenne, daß er falsche Schlüsse in seinen Gründen h a b e ; die Untersuchung davon aber denen überlasse, die von einer höhern Gottesgelahrtheit Profeßion machen." (P. Bayle, Historisches und critisches Wörterbuch, T. 2, a. a. O., S. 124.) lr>2 Vermutlich liegt mit diesen Begriffen eine neuplatonische Interpretation des Aristoteles vor. Vgl.: F . Dieterici Die sogenannte Theologie des Aristoteles, a. d. Arab. übers., Leipzig 1883, S. 4 : „Diese That [Ausstrahlung der L i c h t k r a f t — S. W . ] geschieht von Gott zwar ohne Bewegung, jedoch geht die Bewegung aller Dinge von ihm aus und findet sie seinetwegen s t a t t . E s bewegen sich die Dinge durch eine Art von Sehnsucht, und Schwungkraft auf ihn zu." Vgl. ähnlich S. 113, S. 65. — In dem im Mittelalter ebenfalls oft Aristoteles zugeschriebenen „Liber de causis" heißt es: „Denn nicht jedes Ding sehnt sich nach der Intelligenz und verlangt nach ihrem Besitze. Alle Dinge aber sehnen sich nach dem von dem E r s t e n kommenden Guten und verlangen gar sehr nach seinem Besitze. Hieran zweifelt Niemand." (O. Bardenhewer, Die pseudoaristotelische Schrift „Über das reine G u t e " , bekannt unter dem Namen „Liber de causis", Freiburg i. B r . 1882, S. 101.) — Vgl. allerdings Aristoteles, Physikvorlesung, a. a. O., 1 9 2 a , 15ff. Aristoteles, Metaphysik, 12. B u c h (X), K a p . 7, 1072a 2 5 - 2 7 .

392

VI.2.

KRYPTOSOZINIANISMUS U N D

ALTDORF

n den Teilen der Welt beobachten, die beständig und unveränderlich existieren — am Himmel und in den Elementen der sublunaren Welt. Die Formen unterscheiden sich danach, wie weit sie vom höchsten Ziel — also von Gott — entfernt sind. Näher dem Ziel sind sie vollkommener, entfernter weniger vollkommen. Von diesen Formen „abhängig" sind wiederum verschiedenartige Formen von Körpern, die aus Materie der sublunaren Welt bestehen, aus den „vier Elementen". Sie entstehen aus dieser Materie einerseits infolge des ihnen immanenten Strebens nach dem Ziel und andererseits unter Einwirkung von Himmelskörpern — ihrer Bewegung, Wärmestrahlung usw. In der organischen Welt komplizieren sich die Dinge, da zum Leben ein belebender Faktor notwendig ist, „virtus organica" oder kurz Seele genannt. Niederen Organismen genügt eine vegetative Seele, entwickeltere Lebewesen brauchen eine empfindungsreichere Seele, während die vollkommensten Wesen, die Menschen, überdies eine vernünftige Seele besitzen. Alle drei Arten von Seelen erhalten diese Wesen unmittelbar vom höchsten Sein, wobei nur die menschliche Seele unsterblich ist. Insgesamt ist dieses Funktionsmodell der Welt aristotelisch — bei allen begründeten Vorbehalten. Auch ist Cesalpins Gott aristotelisch, wiewohl man hier ebenfalls begründete Vorbehalte machen kann. Dieser Gott ist ein unveränderlicher und unbeweglicher Gedanke, ist die sich selbst betrachtende Vollkommenheit und gleichzeitig eigenes Subjekt und Objekt. Die existierende Welt ist von ihm nicht als Folge einer Entscheidung seines Willens, sondern notwendigerweise abhängig. Gott ist daher die Ursache der Welt allein durch seine Existenz , dadurch, daß er das höchste Gut und das höchste Ziel darstellt. Im Einzelnen ist zunächst ein wesentlicher Unterschied zwischen den Anschauungen der klassischen Aristoteliker und Cesalpins System in folgender Frage zu konstatieren: Nach Aristoteles konnte die erste Materie keinen Anfang haben; sie existiert seit undenklichen Zeiten, ist daher „notwendig" und konnte nicht geschaffen werden. Nach Cesalpin existiert die Materie wohl seit jeher, ist aber nicht „notwendig" bzw. nicht auf die gleiche Weise „notwendig", wie Gott „notwendig" ist. Allgemein gesagt, existiert die Welt seit jeher, wurde aber geschaffen; freilich geschah dies nicht durch einen Akt freier Entscheidung oder infolge eines göttlichen Plans, da Gott absolut unveränderlich ist. Cesalpin, der bisweilen den Begriff der Schöpfung benutzt, verkündet gleichzeitig, daß die Welt von jeher existiert. Der Idee einer ewigen, aber geschaffenen Welt begegnen wir schon bei AI Farabi und Avicenna, die wiederum von Proklos 153 inspiriert waren. Die Begründung war damals folgende: Ein vollkommenes Wesen ist unveränderlich, sonst wäre es nicht vollkommen. Es kann daher weder eine Schöpfung beginnen noch sie vollenden, denn dies bedeutete ja für Gott eine Veränderung. Jede Folge einer vollkommenen, also auch einer ewigen Ursache ist ebenfalls ewig. Wenn die Welt auch geschaffen ist, muß sie dennoch seit undenklichen Zeiten existieren. '»3 Vgl ¿je umfassenden Auszüge aus Proklos' „Institutio theologica" in : O. Bardenhewer, Die pseudoaristotelische Schrift „über das reine Gute", . . . , a. a. O., S. 89—90 (§ 15), S. 113—115 (§ 30—31). Diese Stellen gtbtn den referierten Gt danken gang wieder.

GOTT, ABSTRAKTE SUBSTANZ,

MATERIE

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Bei der These vom ewigen Bestehen einer geschaffenen Welt stützt sich Cesalpin dabei auf eine eigene, selbständig durchdachte Interpretation der aristotelischen Philosophie. Sie wiederum beruht auf der Grundidee, daß es nur eine einzige körperlose Substanz gibt. Um die Originalität der Gedanken von Cesalpin besser verdeutlichen zu können, müssen wir sie mit Ansichten und Begriffen arabischer Aristoteliker vergleichen, die auf den heterodoxen Aristotelismus in Italien starken Einfluß ausübten. Zwar zeigten sich seit Ende des 15. Jh. bei den italienischen Aristotelikern starke Einflüsse griechischer Kommentatoren, besonders Alexander von Aphrodisias' (1480 erschien eine lateinische Übersetzung seines Traktats „De intellectu"). Aber der Streit, der damals diese Kreise bewegte, betraf hauptsächlich Probleme der Seele sowie der Erkenntnis und ihres Wesens, vor allem jedoch die Frage, ob nach Aristoteles die menschliche Seele zusammen mit dem Körper zugrunde geht (wie die Alexandristen behaupteten) oder ob sie eine gewisse Form der Unsterblichkeit ihrer Gattung bewahrt (wie die A verreisten meinten). Kosmologisch-theologische Fragen (theologisch stets in der aristotelischen Bedeutung dieses Begriffes) wurden keiner grundlegenden Revision unterzogen. Soner folgt — wie schon Scherb — Cesalpin in der Auffassung, daß nur eine einzige körperlose Substanz, also eine einzige gänzlich von der Materie getrennte Intelligenz, vorhanden ist. Sie ist zugleich erster Beweger und in ihrer Art eine Weltseele, eine Seele dadurch, daß sie am Leben der Individuen teilnimmt. Soner teilt auch Cesalpins Standpunkt, daß intellektuelle Vorgänge im Menschen ihre unmittelbare Ursache darin haben, daß Gott am Leben des Menschen auf spezifische Weise teilhat, und nicht wie bei anderen Lebewesen virtute, sondern per essentiam. Den an Erkenntnisvorgängen der Menschen teilnehmenden Gott bezeichnet Soner mit dem unter den Aristotelikern verbreiteten Terminus des tätigen Verstandes: „Deum esse intellectum agentum." Ir>'' Wie aber vermag Gott als ein gänzlich von der Materie getrenntes Wesen gleichzeitig tätiger Verstand in einzelnen menschlichen Individuen zu sein? Dieses Problem wird mit unseren Begriffen verglichen, denn sie ähneln nach Soner abstrakten Substanzen, also Intelligenzen, die einzelnen Körpern assistieren, demnach auch dem tätigen Verstand. Die in unserer Seele vorhandenen Begriffe (conceptus) sind dank der durch sie bezeichneten Sache. Daher sagt man auch von ihnen, sie sind mit den Sachen identisch. Der von den unterschiedlichsten Personen sinnlich wahrgenommene Kallias ist ein und derselbe Kallias. Er wird durch die Vielzahl von Rezipienten, die von ihm einen bestimmten Begriff haben, nicht verändert. Ebenso verhält es sich mit getrennten Substanzen: sie erfahren in ihrem Wesen von den Körpern keine Beeinträchtigung („nihil patiuntur secundum se ab iis, a quibus partieipantur, i. e. a corporibus"). Die getrennten (abstrakten) Substanzen sind also unabhängig vom Körper, und die Körper haben an ihnen teil, nicht umgekehrt. Unsere Begriffe stellen im Unterschied zu den Körpern keine Substanzen dar. Es sind nicht Begriffe von den Dingen selbst, sondern von deren 15

E. Soner, In Libros X I I metaphysicos Aristotelis Commentarius, a. a. O., S. 654.

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VI.2.

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Bildern (rerum imagines). Ebenso nimmt unsere Seele nicht die Dinge selbst, sondern ihre Bilder auf. Daher kann die erste Substanz — Gott — der Seele gar kein Bild oder Abbild liefern („Prima autem Substantia, nempe Deus, non potest imaginem aut speciem sui, praebere"); denn Abbilder entstehen durch Abstraktion der Materie, und Gott ist seiner Natur nach ein Wesen, das gänzlich von Materie abstrahiert ist. Daher wird an Gott selbst partizipiert, nicht an seinem Abbild. („Non igitur ejus species, sed ipse participatur.") E r geht jedoch nicht ganz in eine Sache ein, sondern bleibt trotz seiner Teilnahme von ihr getrennt. 155 Dennoch gibt es eine Verbindung zwischen der Sache und ihrem Begriff: Die Sache selbst (z. B. Kallias) existiert getrennt von unserem Begriff, aber der Begriff nicht getrennt von der Sache, die er bezeichnet. E r hat also von ihr sein Wesen, so daß er mit ihrem Verschwinden auch selbst verschwinden würde. So verhält es sich auch mit abstrakten Substanzen : Sie sind von der ersten Substanz, d. h. von Gott, nicht zu trennen, während Gott getrennt von allen existiert. Wenn wir also diese Substanzen getrennt (separatae) nennen, so nicht deshalb, weil sie von der ersten Substanz getrennt werden müßten, sondern weil sie von dem Körper getrennt sind, an dem sie teilhaben. Daß die Teilhaber (participationes) der ersten Substanz selbst auch Substanzen sind, hat die Ursache darin, daß die erste Substanz im höchsten Grade nichtmateriell ist, in höchstem Grade entitas, in höchstem Grade actualitas und völlig frei von der Möglichkeit (potentiae carens). Da also Gott völlig von allem getrennt ist und eine absolute Einheit darstellt, vermehrt er sich nicht durch Teilhabe, so wie sich Kallias nicht vermehrt, indem er in den Begriffen vieler Menschen existiert. Nicht alle Substanzen sind zum Begreifen Gottes fähig. Diejenigen, welche diese Fähigkeit nicht besitzen, nehmen jedoch gleichfalls daran teil, aber nur dadurch, daß sie Teile der Dinge sind, die Gott begreifen. Wenn es also um die Menschen geht, dann ist jenes „Etwas" (participatum), dem sie ihre Vernunft verdanken, eben jener tätige Verstand. Wie aus den genannten Folgerungen hervorgeht, ist er in anderer Hinsicht selbst Gott, und doch wiederum nicht. Als res participata ist er tätiger Verstand, als ein von allem getrenntes Wesen hingegen nicht. Gott und der tätige Verstand sind nicht dasselbe, da eine Sache und ihr Begriff nicht dasselbe sind. Sie sind jedoch dasselbe in dem Sinne, wenn man sagt, Begriffe seien identisch mit den Dingen, die sie bezeichnen. 150 Der Unterschied zwischen Gott und abstrakten Substanzen (darunter auch dem tätigen Verstand) beruht ferner darauf, daß Gott keinerlei Einwirkungen unterliegt („quod Deus simpliciter & omnibus modis sit impatibilis"). ,v' 150

„Non tarnen totus transit in participatum, sed manet nihilominüs separatus ä participatis." (Ebenda, S. 655.) Ebenda, S. 6 5 6 : „Hoc participatum, quo homines intelligunt, est intellectus agens, quodammodo Deus, ut vidimus; quodammodö non. Ut enim est separatus ab omnibus, & secundum se consideratur, ita non est intellectus agens. Ut autem est participatus, e6 modö est intellectus agens. Non sunt autem idem, quemadmodum nec res, & conceptus rei, idem sunt. Sunt tarnen quodammodö idem, quem ad modum concepetus dicuntur esse iidem cum re, cuius sunt n o t a e . "

AUFERSTEHUNG DER INDIVIDUELLEN

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Dabei scheint es, daß abstrakte Substanzen, obwohl sie „secundum se" auch keiner Einwirkung unterliegen, aber durch den Körper, dem sie angehören, beeinflußbar sind, wie man in Augenblicken gewaltigen Zornes usw. sehen kann. („Varietas corporum variet intellectum." 1 5 7 ) Bei der ausführlichen Behandlung des Problems der Seele und ihres Geschicks nach dem Tode ist Soners Grundgedanke: Wenn unser tätiger Verstand göttliche Intelligenz, unsterblich und vom Körper lösbar ist, wie bleibt dann nach dem Tode die Vielheit und die Individualität der Seelen erhalten? Wenn sämtliche Vielheit aus der Materie stammt und nur so viel Intelligenz existiert, wie es an Gott teilhabende Dinge gibt, der Körper eines Gestorbenen hingegen nicht an der göttlichen Intelligenz beteiligt ist — wo bleibt dann die menschliche Seele nach dem Tode, und was sichert ihr die numerische Verschiedenheit? Wenn sie die Verschiedenheit nicht bewahrt, sondern zu ihrem Prinzip, also zu Gott, zurückkehrt, wie kann sie dann am Jüngsten Tag als Individualität wieder auferstehen? 1 5 8 Bewahrt hingegen die Seele ihre Spezifik ohne Körper, so hieße das, die Vielzahl der Intelligenzen stamme nicht von der Vielzahl der an Gott teilhabenden Dinge her. Wenn schließlich die Seele in einen anderen menschlichen Körper einginge, so kann gar keine Rede mehr davon sein, daß die einzelnen Menschen bei ihrer Auferstehung besondere Seelen haben. Soner verknüpft hier Philosophie mit Theologie und bemüht sich, beide aufeinander abzustimmen. Soner antwortet auf die aufgeworfenen Probleme: Erstens verbindet sich die Seele nach dem Tode nicht mit der höchsten Intelligenz, sondern bleibt in der prima materia und steht ihr gleichsam bei, wobei die Seelen der einzelnen Menschen dann nicht für sich (getrennt) sind, sondern eine gemeinsame Intelligenz bilden. Anders kann es auch nicht sein, da jegliche individuelle Besonderheit. ihre Wurzeln in der Materie hat. 151 ' (Diese Feststellung veranlaßte Leys Auffassung, Soner leugne die persönliche Unsterblichkeit.) Zweitens ist diese These nicht so zu verstehen, als seien die Seelen nach dem Tode in der prima materia zu einer gemeinsamen Seele zusammengeschlossen. Es verhält sich hier vielmehr ähnlich wie bei einem Kontinuum: Man kann sagen, daß sich auf einer ununterbrochenen Linie unendlich viele Punkte befinden oder auch kein einziger; man kann andererseits sagen, sie enthalte unendlich viele Teile oder aber keinen einzigen Teil, da sie ja eine stetige Linie ist. Sie läßt sich unendlich oft teilen (infinities), und man kann von ihr numerisch denselben Teil abtrennen, is" Ebenda, S. 657. 1Ril Ebenda, S. 685—686: „Quia de Intelligentiarum multitudine agimus, & alias diximus, nostrum quoque intellectum agentem esse intelligentiam divinam separabilem ä corpore, et immortalem, licet htt quaerere, quomodo servetur multitudo animartim nostrarum post mortem? Si enim multitudo est ä materia & idcircö tot sunt Intelligentiae, q u o t s u n t partieipantia; cadaver autem hominis non partieipat intelligentiam: ubinam est anima post mortem, & quid praestat ei mimericam distinetionemt Si enim non m a n e t distineta numerö, sed redit ad prineipium, quomodo eadem numerö eatur in resurrectionel" 1 5 9 Ebenda, S. 6 8 6 : „Dicendum est, remanere anir.iam nostvam in materia prima, eique assistere, non tarnen distinetas esse intelligentias aut animas multorum hominum in materia, sed omnes esse tanquäm unam communem intelligentiam, quia distinetio est ex distinetione materiae, & omnes aniniae humanae . . ."

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der vor tausend Jahren von ihr abgetrennt wurde — wenn man das Kontinuum als Substanz faßt. Somit sind Intelligenzen Substanzen, und es genügt — hierin liegt wohl das Wesen von Soners Auffassung —, daß eine Seele einmal gesondert existiert, um irgendwann wieder zur numerisch gleichen Individualität zu werden."10 Drittens bedürfen die Seelen nach dem Tode keines bestimmten Ortes. Soner vergleicht hier Seele und Körper eines Lebenden. Wiewohl die Seele des Lebenden ihren Sitz im Herzen hat, existiert sie nicht an einer einzelnen Stelle des Herzens, sondern ist gleichzeitig überall und nirgends. Ähnlich müssen die Seelen der Verstorbenen in der prima materia wohnen. Sie sind dort überall gegenwärtig. Trennt sich jedoch die Seele von der Gesamtseele, und zwar auf genau dieselbe Weise wie einst, um sich mit irgendeinem Körper zu verbinden, so bildet sich sogleich dasselbe numerische compositum wie ehemals. 101 Soner fügt hinzu, daß die Seelen der Verstorbenen nichts sehen, hören und sich nichts vorstellen. Sie sind gänzlich in sich versunken, da die der prima materia beiwohnende Intelligenz nichts außer sich selbst versteht und im Verständnis ihrer selbst auch ihre Grundlage, also Gott, versteht. Aber angesichts dessen, fügt Soner mit deutlichem Spott hinzu, müssen die Phantasmen von der Anrufung der Heiligen, vom Fegefeuer u. ä. in sich zusammenfallen.Der Angriff gegen die katholische Kirche wird noch durch die Gleichsetzung von Antichrist und Papst (bzw. katholischer Hierarchie) verschärft. Wenn aber der aktive Intellekt nach seiner Lösung vom Körper zum reinen Akt ohne Gedächtnis und Vorstellung wird, wie kann er dann bei seiner erneuten Vereinigung mit dem Körper bei der Auferstehung eine Erinnerung daran haben, was er einst verstand oder erlebte? Wie gelingt es dem auferstandenen Menschen zu verstehen und zu begreifen, daß er dasselbe Individuum wie einst darstellt? Wäre dies nicht möglich, so setzten wir vergeblich unsere Hoffnung auf die Auferstehung, denn: „wenn nun jemand anders als ich aufersteht, was wird es mir nützen?" )(i:). Die Fähigkeit der Erinnerung („facultas memorandi"), der Vorstellung usw. ruht nur im Intellekt selbst; dagegen sind alle Operationen des Intellekts nur in einem Wesen möglich, das aus Seele und Körper besteht. Wenn Aristoteles von Eigenschaften eines aus Seele und Körper bestehenden Wesens spricht, dann beruft er sich immer auf Operationen, also auf ein Verstehen, Vorstellen, Lieben, Hassen u. a. m., niemals auf die Fähigkeit, solche Operationen auszuführen („Semper nominai operationes, ut inquit, ratiocinari, imaginari, amare, odisse 160

,62

163

Ebenda, S. 6 8 7 : „Neque necesse est, animas immortales circumscribi locò: quem = admodum anima nostra est in corde, & tarnen in nulla parte cordis distinctè, neque etiam extensa per totum cor, sed est ubique, in corde, & simul nullibi. Non enim insunt per modum informationis, ut calor in quantö extensus, sed assistunt. Ubique igitur praesentes sunt sine mutatione, ubi sunt, quemadmodum nostra imaginatio . . . E t sufficit, unamquamque animam semel fuisse distinctam, ad hoc, ut eadem numerò redire possit." Ebenda: „Quod si contingat, divisionem eandem fieri, & eandem animam conjungi cum aliquò corpore, qualicunque, modo aptum ad praestandum ea, quae suprà diximus, fiet eadem numerò substantia, idem numerò compositum . . ." Ebenda, S. 6 8 8 : „Unde ruunt phantasmata Anti-Christi de invocatione Sanctorum, de purgatorio, & similia. Omnia enim vana esse & impossibilia . . ." Ebenda: „Si enim alius resurgat, & non ego ipse, quid mihi proderit?"

ZEITBEGRIFFE BEI

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etc., non autem facultates horum"). Die Fähigkeit ruht im Intellekt selbst. E s genügt also anzunehmen, daß der Verstand einmal etwas begriffen, sich etwas vorgestellt hat usw. Nach dem Tode wird der Verstand natürlich keine Operationen mehr vollziehen. Sobald er sich aber wieder mit seinem Körper vereint, kehren auch die Operationen wieder.16/1 Hier liefert Soner eine höchst eigenständige Interpretation des Aristoteles, die sich auf „De anima" (Buch I I , Kap. 4, 4 1 5 a 18—20) zu stützen vermag. Doch Aristoteles spricht sich (vgl. „De anima", I I I , Kap. 4—5) auch für Operationen des Geistes bzw. des Intellekts ohne körperliche Instrumentarien aus. Das Gedächtnis, interpretiert Sonei* weiter, ruht nicht im Körper, sondern in der Seele; nicht der Körper schafft sich die Vorstellungen, sondern die Seele in ihm. Hier zeigt sich eine merkwürdige Verknüpfung von Psychologie des Aristoteles in einer besonders heterodoxen Version und des Cesalpin, zusammen mit paulinischen Vorstellungen Nach Soner vereinigt sich der intellectus agens im Zeitpunkt der Auferstehung mit dem Körper, so daß die Individualität jedes auferstehenden Menschen gewahrt wird. 165 Soners und Cesalpins Auffassungen des Aristotelismus unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, daß Cesalpin in seinen „Questiones peripateticae" und selbst im „Daemonum investigatio peripatetica" (1580) in rein philosophischen Kategorien denkt und dabei von der Theologie abstrahiert, während Scner — was ihm schon sein Herausgeber Felwinger vorwarf — „creberrime Theologica immisCuit" 106 , Philosophie und Theologie in Einklang zu bringen sucht. Aber die Wege beider Denker differieren auch philosophisch. Im Buch I I I des „Commentarius" will Soner nachweisen, daß Aristoteles zumindest keine „unbedingte" Ewigkeit der Welt bewiesen hat, sondern nur darlegt, daß diese Ewigkeit „möglich" ist. Geht man von der aristotelischen Philosophie aus, so braucht man nur zu behaupten, daß die Welt ewig bestehen „kann" (was nahelegt, daß sie auch nicht ewig zu bestehen braucht). 1 6 7 In Kap. 7 des Buches X I I behauptet Soner sogar, die Welt sei geschaffen worden. Allerdings ist diese Auffassung von anders gearteten und von anders interpretierbaren Ansichten Soners überlagert. Bei der Analyse des ersten Wesens (das solus ens per se ist) zieht Soner folgende Schlüsse: Da alles, was existiert, von Gott abhängt, hat demnach alles Existierende von ihm sein Wesen. Somit verdankt auch die prima materia ihr Sein dem ersten Beweger. Ernst Soners Auffassung verläuft mehr oder weniger auf folgender Linie: Wenn sich nach Aristoteles die Materie Gott anpaßt, dann ist Gott früher und vollkommener (prior) als die MaEbenda, S. 689: „Dico igitur, satis esse, intellectum ista aliquando egisse, intellexisse, & imaginatum esse ; ubi autem à corpore aptö recedit, non exerceri istas operationes, quia sunt conjuncti; quando autem iterum conjungitur cum corpore, redire operationes . . . " 105 Ebenda, S. 657: „Et gradus felicitatis nostrae in aiterà vità nihil aliud erunt, quàm conjunctio intellectus agentis cum corpore majoris aut minoris claritatis, ut loquitur D. Paulus." 166 Ebenda (Praefatio ad Benevolum & candidum Lectorem). 167 Ebenda, S. 210: „Quapropter aeternitas mundi ab Aristotele demonstrata est tantum possibili s . . . non vero est necessaria . . . "

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terie. Offenkundig schließt somit das, was sein Wesen von sich selbst hat, jegliche Vollkommenheit in sich ein, wie das Sein (esse) die Grundlage aller Dinge ist. Wo nun unter gleichartigen Faktoren eine Ordnung (ordo) herrscht, muß eine ordnende Ursache (causa ordinans) existieren, die bewirkt, daß sich jeder Faktor dem anderen anpaßt. Diese Ursache ist etwas Übergeordnetes für die gleichrangigen Faktoren, solange sie sich ihr anpassen. Sind also Gott und die erste Materie gleichrangig hinsichtlich der Ewigkeit und des Seins, so sind sie ebenfalls „coordinata", Faktoren, die sich gemäß einem übergeordneten Prinzip gegenseitig anpassen. Also muß etwas existieren, was angesehener und früher als Gott und die Materie ist. Eine solche Auffassung ist aber absurd („Sed hoc est absurdum"). Somit sind Gott und die Materie hinsichtlich des Seins nicht gleichrangig. Da jedoch zwischen ihnen eine Ordnung besteht, bleibt nur der Schluß, daß das eine, nämlich Gott, hinsichtlich des Seins wichtiger ist. Die Materie ordnet sich also Gott unter, weil sie ihm ihr Sein verdankt. 108 Es existiert somit nur eine Grundlage ex se ipso ; aus diesem höchsten und unteilbaren Gut entstand als erste von allem, ohne daß die Grundlage sich verändert hätte, die teilbare Materie.169 Verhalten sich die Dinge nun so, dann ist die Materie und überhaupt alles Existierende aus dein Nichts entstanden, da vor der Schaffung der Dinge außer Gott nichts existierte.170 Diese Auffassung läßt sich mit der Philosophie Cesalpins vereinbaren. Doch Soner fügt einen Satz hinzu, der diese Auffassung verändert und gleichzeitig eine andere Tendenz bezeichnet: „da nichts, außer Gott, vor der Hervorbringung der Dinge existierte, der Hervorbringung, die nach unserem Glauben in der Zeit vollzogen w u r d e " m . Durch diese Modifikation schied sich Soner nicht nur von Cesalpin, sondern auch von der Tradition des heterodoxen Aristotelismus. Betont Ley die progressiven Tendenzen bei Soner, so zeigt Ogonowski (auch) einige traditionell idealistisch-religiöse Vorstellungen, Abschwächungen und Zurücknahmen progressiver Denkansätze. Es darf nicht nur die 108

Ebenda, S. 644. — H. Ley schreibt (Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 416): „Soner distanziert sich . . . von jenem Pantheismus, der als Kompromiß mit religiösen Vorstellungen die Belegung mit einem Gottesbegriff benötigt, um das Primat der Materie dem herrschenden Begriffsgefüge einzuordnen. Im Vergleich mit Caesalpini geht Soner wesentlich weiter. Von dessen Pantheismus her ist ein wichtiger Schritt zum Atheismus getan, der esoterischen Theorie des Sozinianismus, die sich mit philosophischem Materialismus identifiziert." Diese Behauptung, wenngleich sie aus Soner zu belegen gesucht wird, überhöht m. E. die Konsequenzen aus Soners Philosophie. 169 Ebenda, S. 645 : „Materia prima appetii divinum per se. E. quia intellectus ipsa non est, saltèm ab intellectu per se dependent, & ab eö inseparabilis est . . . U t igitur servetur ordo & conspirantia universi, dicendum est, unum tantum esse principium ex seipso, ab hòc summó et immensó bonó, atq. imparabili, sine motu et mutatione primo omnium fluxisse materiam partibilem ad bonorum distributionem, et hinc innatum esse materiae sui principii appetitum, à quo emanavit, et à quo descendit, quem explet receptione formarum materialium, quae sunt participationes nobiliores divinitatis usq. ad cor por a coelestia." "o Ebenda, S. 646. 171 Ebenda: „. . . patet etiam, materiam ,et omnia ex nihilo extitisse. Non dico ex nihilo, quasi nihilum sit aliquid, ex quo facta sit materia, sed quod nihil praeter solum Deum extiterit ante rerum productionem, quam in tempore factam esse credimus."

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eine Seite gesehen werden. Auch wenn eine Spezialuntersuchung des „Commentarius" Soners noch aussteht, wird doch das Vorwärtsweisende im Sonerschen Denken von entscheidendem Gewicht bleiben. Aus dieser Sicht ist Leys Einschätzung zu sehen: „Soner erweist sich als deistischer Atheist. In seinen Anschauungen wirkt der theistische Gedanke eines Anstoßes fort, durch den die gegenwärtige Welt entstanden sei. Aber diese überlieferte Vorstellung widerspricht seinen Überlegungen zur Ewigkeit der Materie und der Bewegung. Die Vorstellung der Materie als Suppositum, das die Formen und Bewegungen trage, spukt noch, obwohl er sich bemüht, diese abzulegen. Die Verbindung von Materie und Bewegung veranlaßt noch nicht, der Materie die aktive Eigenschaft der Selbstbewegung zuzuerkennen." 172 Dabei harrt das Verhältnis von Aristotelismus und Neuplatonismus bei Soner noch der gründlicheren Erforschung. Ein neuplatonischer Atheist ist nicht vorstellbar, selbst wenn sich dieser Neuplatonismus nicht auf Aristoteles beruft. Bis hierher ließen sich Soners philosophische Ansichten notfalls mit seiner sozinianischen Religionsauffassung vereinbaren. Soner versucht nun keineswegs, die Lehre Cesalpins weiter den theologischen Inhalten des Sozinianismus anzupassen. In seinem System hat die Metaphysik des Aristoteles die Oberhand über die Bibel. Gott ist nach Aristoteles und seinen Kommentatoren — so Thomas von Aquino — absolut unbeweglich, ein notwendiges Sein (ens ex necessitate). Der Terminus „notwendig" läßt sich auf dreierlei Weise auffassen; hier aber kann er nur und ausschließlich „naturnotwendig" bedeuten — Gott kann also nicht anders sein, als er ist, und kann nicht anders handeln, als er handelt. 173 Ferner heißt es bei den Kommentatoren, daß Gott unveränderlich ist. Wäre er beweglich oder veränderlich, so veränderte er sich entweder aus sich heraus oder unter fremdem Einfluß. Offensichtlich kann er sich nicht unter dem Einfluß eines anderen verändern, da wir dann wieder fragen müßten, ob dieser (dieses) andere beweglich und veränderlich oder unbeweglich und unveränderlich ist. Dieser (dieses) andere wäre dann früher und vollkommener als Gott, wäre mithin ebenfalls Gott. Aber Gott kann sich auch nicht aus sich selbst heraus verändern, denn wenn dies möglich wäre, müßte in ihm ein Teil existieren, der die Veränderung anregt und verursacht, oder aber ein bewegter Teil; dann aber wäre Gott nicht das einfachste Sein (simplicissimus), was aber wiederum im 8. Buch der „Physik" (Kap. 10) des Aristoteles (für den ersten Beweger) niedergelegt und bewiesen ist. Würde sich Gott zudem verändern, dann bald zum Besseren, bald zum Schlechteren hin. Er kann sich nicht zum Besseren hin verändern, da nichts Besseres als er selbst existiert; er vermag aber auch nicht schlechter zu werden. 17 '' 172 173 174

H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 417. E. Soner, In libros X I I metaphysicos Aristotelis Commentarius, a . a . O . , S. 625. - V g l . Aristoteles, Metaphysik, Buch X, 1072b 7—11. Ebenda, S. 630: „Si mutaretur Deus, vel in melius mutaret, vel in deterius. N o n in melius: nihil enim habet se melius. Mutari autem in deterius non potest; praeterquäm quod impium sit hoc cogitare, quia est optimus essentialiter. Praetereä, necessitas, ipsius essentiae & perfectio omnem mutationem excludunt. Illa enim affert immu-

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Wenn nun all dies gilt, auf welcher Grundlage schreiben dann Theologen und Philosophen Gott einen Willen zu? Wie läßt sich eine Philosophie vertreten, die an dieser Stelle so sehr mit der Bibel im Widerstreit steht, in der Gott nicht nur einen freien Willen hat, sondern auch Liebe, Haß, Barmherzigkeit und Zorn? Soner bereitet diese Frage größte Schwierigkeiten. Welche Auswege bieten sich ihm? Von den dargelegten Erwägungen ausgehend, ließe sich behaupten, Gott sei überhaupt kein innerer Wille zuzuschreiben („Deo omnino non competere voluntatem intrinsecus"), wofür keine geringen Argumente vorhanden sind. Kommt Gott aber ein innerer Wille zu, dann ist er ein Merkmal seines Wesens, da Gott das einfachste Sein darstellt, so daß sich in ihm keinerlei Differenzierungen treffen lassen.175 Soner demonstriert diese Auffassung am Beispiel der Erschaffung der Welt. Wollte Gott die Welt als Akt seines inneren Willens schaffen, dann wollte er dies von jeher und war niemals ohne diesen Willen. Hätte er jemals dies nicht gewollt und der Wille erst später eingesetzt, dann wäre anzunehmen, daß er entweder einst nicht existierte (was dem Begriff von Gott als einem notwendigen Sein, das einfach existieren muß, widerspricht) oder aber sein Wille und sein Wesen nicht dasselbe sind (was wiederum der vorausgesetzten These widerspricht, wonach Gott das einfachste Sein darstellt) ; schließlich wäre daraus auf seine Veränderlichkeit zu schließen, was seiner Vollkommenheit widerspricht. Also fragt sich: Warum hat Gott, wenn er seit eh und je einen solchen Willen besaß, nicht die Welt ab aeterno geschaffen? (Erinnern wir uns, daß Soner in gewisser Hinsicht eine Erschaffung der Welt in der Zeit annimmt.) Hat ihn etwas daran gehindert, so müßte es in ihm selbst ruhen oder von außen kommen. Letzteres ist nicht möglich, denn es gab damals nichts außer Gott, und hätte es dies gegeben, hätte es sich nicht gegen seine unermeßliche Macht stellen können. Etwas, was in Gott selbst ruht, könnte dann nur ein Mangel an Kraft (defectus virtutis) oder ein Mangel an entsprechendem Willen sein. Somit wäre Gott veränderlich, unvollkommen und überdies gebrechlich (aegrotabilis). Daher ließe sich nicht ohne Grund sagen, daß Gott keinen Willen habe und Aristoteles mit vollem Recht behauptet, „es gebe ein notwendiges Prinzip, das mit Naturnotwendigkeit wirkt, nicht aber willkürlich" 17(i. Andererseits sprechen starke Vernunftgründe dafür,' Gott einen Willen zuzuschreiben: Denn jeder Art von Form ist ein bestimmtes Streben (appetitus) eigen. Gott lebt ein intellektuelles Leben, und intellektuelles Streben oder Streben des Intellekts ist eben der Wille. 177

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tabilitatem substantiae, haec verö accidentium. Sienim necessariö est, nunquäm potuit non esse, neque poterit, alias necessarium fieret, contingens. E t quia eädem necessitate, qua est, habet omnemperfectionem, essendi, igitur non potest ejus diminutionem pati. At verö in eö esse, quod habet, habet etiam omnem plenitudinem perfectionis." Ebenda, S.632: „SiDeocompetit[voluntas — S. W.] intrinsecus, eritipsaejusessentia: quod sequitur ex ipsius simplicitate, quae nullam differentiam in illö admittit, neque rei, neque rationis." Ebenda: „His igitur non immeritö aliquis persuadeatur, in Deo non esse voluntatem, & recte asserere Philosophum,' eitm esse principium necessarium ex necessitate naturae, non liber voluntate operans." Ebenda, S. 6 3 3 : „Praetereä ostensum est, primum intelligibile est etiam primum appetibile. Quare primum intelligens est appetens. Appetitus autem intellectus est voluntas."

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Aus diesen und anderen Gründen ist Gott ein Wille zuzuschreiben, und zwar so, wie dies Averroes in seiner Disputation mit AI Ghasali tat. 178 Averroes unterscheidet zwei Arten des Willens: einen Willen, der zwischen einander entgegengesetzten Dingen eine Auswahl trifft — solcher Wille findet sich nur in Wesen, die aus Materie und Form zusammengesetzt sind —, sowie einen Willen, der nur in einer genau bestimmten Richtung wirkt — wie er in Gott existiert. Wenn nun jemand einwendet, daß man vom Willen nur sprechen könne, wenn man zwischen gegensätzlichen Dingen wählen kann, so ist das für Soner nicht stichhaltig, da zum Wesen des Willens vor allem gehört, daß er vom Intellekt begleitet wird („ut sequatur intellectum"). Wie der Intellekt ist, so wird auch das Streben, der Wille sein. Ist Gegenstand eines Intellekts ausschließlich ein objectum intelligibile, das ewig, unveränderlich ist und nur auf seine Weise existieren kann, dann muß das Streben (der Wille) dieses Intellekts derart beschaffen sein, daß es nichts anderes will als nur dieses Intelligibile verstehen, daß es sich ganz auf diesen einen Gegenstand konzentriert. Das Intelligibile Gottes ist er selbst und nur er. Gottes Wille hat demnach eine genau bestimmte Richtung und konzentriert sich ausschließlich auf den einzigen Gegenstand seines Denkens — auf sein mit ihm selbst identisches Intelligibile.179 Wenn sich freilich der Intellekt auf eine Sache richtet, die veränderlich ist, existiert ein Wille, der zwischen gegensätzlichen Dingen wählen kann. Einen freien Willen gibt es dort, wo praktischer Verstand existiert, der bestimmte Ideen zu verwirklichen beabsichtigt. Das kann es nicht bei Gott geben, der gänzlich in Kontemplation seiner selbst versunken ist. Allerdings richtet sich nicht jedes Streben (appetitus) auf eine Sache oder auf ein Gut, welches man noch nicht besitzt, da es auch ein Streben gibt, das auf dem Ergötzen an der eigenen Vollkommenheit beruht. In seiner Rede „De vita contemplativa" (1609) hatte Soner bereits die contemplatio als Wesen Gottes und als die edelste Gabe des Menschen dargestellt. Aus Soners Erwägungen ergibt sich ein letzter Schluß: Gottes Wille, identisch mit seinem Sein, ist genau bestimmt und ausschließlich konzentriert auf die innere Tätigkeit und das eigene Wesen.180 Wie kann man sagen, daß Gott wollte oder nicht wollte, was außerhalb von ihm existiert oder geschieht? Die Antwort lautet: Der Wille in bezug auf Dinge, die außerhalb Gottes liegen, gehört ihm als Attribut eines Seins an, von dem alle Dinge abhängen. Die Dinge erhalten ihr Sein von Gott oder sind von ihm auf eine solche Weise „abhängig", daß diese „Abhängigkeit" in ihm keinerlei Veränderung hervorruft. Indem Gott den Dingen ihr Sein verleiht und sie in ihrer Existenz erhält, bleibt er selbst stets unteilbar, unkörperlich, immateriell und unbeweglich, wie sich auch die von ihm „abhängigen" Dinge verändern 178 Vgl Averroes, Die Hauptlehren des Averroes nach seiner Schrift: Die Widerlegung des Gazali. Aus d. arab. Orig. übers, u. erl. von M. Horten, Bonn 1913, S. 235—244. 179 E. Soner, In libros XII metaphysicos Aristotelis Commentarius, a . a . O . , S. 633: „Dei autem objectum intelligibile ipse solus & unus est, ut infra patebit. E. etiam definitam, voluntatem ipsius esse oportuit." iso Ebenda, S. 634: „Dei voluntatem, quae est eadem cum ipsius essentiä, & est interna, determinatam esse tantüm ad operationem internam, et suam ipsius essentiam." 26

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mögen. Ebenso kann man sagen, daß Gott etwas will oder nicht will (wenn von Dingen die Rede ist, die sich außerhalb von ihm befinden), obwohl dieses Wollen oder Nichtwollen ihn nicht berührt und keine Störung oder Änderung seines inneren Willens bedeutet. Denn der innere Wille ist identisch mit Gottes Wesen und wie dieses unveränderlich. Damit stammt keineswegs alles, was auch immer außerhalb Gottes existiert, notwendig von ihm. Gott ist freilich ein notwendiges Wesen ad intra; es kann nur so existieren und sein, wie es ist. Seine inneren Operationen können nicht anders sein, als sie sind. Aber — folgert Soner — daraus ergibt sich nicht, daß die Welt von Gott notwendig „abhängt" (wie Aristoteles meinte; vgl. „Metaphysik", Buch A, 1072b 13f und „De coelo", Buch A, 279a 31-33); daraus folgt auch nicht, daß der Wille in veränderlichen Wesen gleichfalls genau bestimmt ist. Der Bereich der Freiheit beginnt außerhalb Gottes, dort, wo das Prinzip der Zufälligkeit (principium contingentiae) herrscht. Dagegen ist den Engeln ein Wille in der vollen Bedeutung dieses Wortes zuzuschreiben. Sie verkünden uns, was Gott will oder nicht will, wobei diese Akte des Wollens oder Nichtwollens in Gott eine Einheit bilden und sich nicht unterscheiden lassen.181 Man kann daher sagen, daß Gott zu wollen begann, daß die Welt erschaffen werde, als diese begann, zu existieren und von ihm „abhängig" zu sein. Gott ist jetzt nicht im geringsten anders, wo die Welt ihm entströmt ist, verglichen mit der Zeit, als es die Welt noch nicht gab, und auch sein Wille hat keinerlei Veränderung erfahren. Gestützt auf seine Konzeption, versuchte Soner einige Schwierigkeiten zu überwinden, die sich hier auftun. Erstens — warum ist die Welt durch Emanation nicht ab aeterno entstanden („Cur tarnen non ab aeterno emanávit mundus")? Weil es nicht zum Wesen Gottes gehöre, „communicare se". Zweitens — was hat Gott bewogen, gerade damals, nicht früher oder später oder ab aeterno, diese Emanation zuzulassen („quid tarnen eum movit, ut tune, et non antea, aut postea, aut ab aeterno istam emanationem fieri permitteret")? Wie läßt sich verstehen, daß sich Gott damals nicht verändert hat? Soner antwortet: Verändert sich denn Gott jetzt, wenn er sich dem einen mitteilt, sich vom anderen trennt und damit Geburt und Tod hervorruft? (Hier meint Soner offenbar die Auffassung Cesalpins von Gott als der Weltseele.) Ebenso war es auch damals, als er die Emanation der Welt zuließ. Hier wird ein Vergleich mit der Sonnentätigkeit gegeben: Kein vernünftiger Mensch würde sagen, daß die Sonne, die allen Dingen Licht und Wärme mitteilt, sich verändert, wenn alle Dinge plötzlich aufhörten zu existieren. Die Sonne würde weiter so scheinen wie vorher. Der Unterschied liegt vornehmlich darin, daß die Sonne durch ihre Existenz nichts zum Sein erweckt, sondern allein durch ihre Bewegung und ihr Licht Vorgänge des Entstehens und Wachstums hervorruft. Gott hingegen schafft durch seine Existenz andere Wesen. So hat er sich nicht verändert, als er die Welt erschuf, wie er sich jetzt nicht verändert, wenn er ein einzelnes Wesen zum Sein erweckt, da 181

Ebenda: „quemadmodum necessitas ejus existentiae & essentiae non causat aut arguit necessitatem dependentiae, (quanquäm id credidit Aristoteles) ita ñeque voluntas eorum, quae fiunt, necessitatem arguit. Libertas ineipit extra ipsium, ubi videlicet principium est contingentiae. Ideo voluntas primó insinuatur angelis: isti nunc nunciant & expirimunt nobis velle & nolle Dei, quod ipsó non est distinetum."

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für ihn eine ganze Welt so viel bedeutet wie ein einzelnes Geschöpf. Cesalpins „Reinigung" des Aristoteles war, wie sich zeigt, nicht vollkommen gelungen. Sein kompliziertes Ideengebäude kommt ohne den Begriff der Emanation nicht aus. Damit ist die Verbindung zum Neuplatonismus auch bei Ernst Soner stets vorhanden. Gewisse Formulierungen wirken daher ähnlich wie die V. Weigels (vgl. Kap. I X ) . Ist die Emanation der Welt ohne eine Veränderung in Gott erfolgt, so brauchen wir nicht nach Gründen zu suchen, die Gott zu einer solchen Emanation bewogen haben könnten. Wenn man jemanden zu etwas bewegt, so heißt dies, man vollzieht in ihm eine Änderung vom Nichtwollen zum Wollen, vom Nichttun zum Tun. Für Gott ist die Erschaffung der Welt weder notwendig noch beschwerlich, nützlich, ehrenhaft oder auch nur angenehmer, als eine Nichterschaffung gewesen wäre. Wo aber keine solchen Impulse wirken, existiert auch kein Beweggrund.182 Gott ist ein einfaches Wesen, und ihm Eigenschaften zuzuschreiben, die nur ein compositum besitzen kann, ist absurd. Wohl wissen wir nach Soner nicht, wie Aussagen der Bibel über Gottes Willen, über seine Gunst und seinen Groll aufzufassen sind, und werden dies wohl auch niemals verstehen. Das darf uns aber nicht dazu verführen, solche „Attribute" tatsächlich und im eigentlichen Sinne Gott zuzuschreiben. Es kann niemand völlig begreifen, daß eine Substanz vorhanden ist, die keinerlei Ausdehnung oder Materie besitzt, dennoch glauben wir oder vielmehr wissen wir auf der Grundlage unwiderlegter Argumente, daß Gott körperlos ist, da wir sonst zu unvermeidlichen Absurda kämen.183 Gleichermaßen steht es um Gottes Willen und dies um so mehr, wenn es um etwaige Affekte Gottes geht. Soner sucht also die sozinianische Theologie mit der Metaphysik und Physik des Aristoteles in der Version Cesalpins zu einem harmonischen System zusammenzuschließen. Dabei wird die sozinianische Richtung im „Commentarius" nicht allzu deutlich; ausdrücklich über Theologie spricht Soner in anderen Schriften.184 In den letzten Teilen seines „Comjnentarius" (lib. X I I , Kap. I X und X ) wiederholt Soner seine philosophischen Thesen und meint gleichzeitig, daß sie nicht die Anschauung von der göttlichen Vorsehung leugnen („nec tollitur Providentia, etsi modus obscurus sit, et nobis incognitus"). Soner vermag zwischen beiden Prämissen keine Übereinstimmung herzustellen, sondern zieht sich hinter einen Agnostizismus zurück: Wir wissen nicht, wie das möglich ist, Ebenda, S.636: „ P r a e t e r e ä h o c e t i a m t o l l i t o m n e m r a t i o n e m i m p e l l e n t e m & mutantem, quia nec necessarium, nec importunum, nec utile, nec honestum, nec jucundum ei fuit magis condere mundurn, quam non condere. H a e c verö ubi non habent locum, ibi nulla causa movens, sed indifferentia est etiam negatio omnium." J83 Ebenda, S. 636—637: „ N e m o potest cogitatione assequi, quei fieri possit, ut aliqua sit Substantia, quae magnitudinem aut materiam nullam habeat, & tarnen credimus, aut potitis scimus ex certissimis rationibus, Deum esse substantiüm incorpoream, quia in absurda inevitabilia incideremus necessaria, si ei corpus aut quantitatem aliquam tribueremus. Cur idem in caeteris Dei attributis non faciamus, etsi modum intelligere nequeamus?" 184 V g l . u . a . : D i e sechs letzteren Capitel aus dem Catechismo Ernesti Soneri, i n : G. G. Zeltner, Historia Crypto-Socinismi, a. a. O., S. 820—856 (vgl. A n m . 186). 182

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V I . 2 . KRYPTOSOZINIANISMUS UND A L T D O R F

wie wir auch viele andere Fragen nicht lösen können. Es bleibt uns nichts weiter übrig, als unsere Unwissenheit zu bekennen und uns Gott zu beugen, dessen Geheimnisse wir niemals bis zu ihrem Ende werden ergründen können.185 Einen instruktiven Einblick in Soners Argumentationsart und seine theologisch-philosophischen Auffassungen gibt eine wenig bekannte kurze Schrift, die 1654 im Druck erschien, damals auch ins Niederländische und Englische übersetzt und durch polnische Philosophiehistoriker 1957 neu zugänglich gemacht wurde. Soner verwirft hier die Vorstellung von einer belohnenden und strafenden Gottheit. Am Anfang steht ein Hauptsyllogismus, der bewiesen -wird: „ Wo es zwischen einem Vergehen und der Strafe keinerlei Entsprechung gibt, strahlt (elucet) nicht die Gerechtigkeit des Richters, sondern die Ungerechtigkeit. Zwischen den ewigen Strafen, die Gott — wie man sagt — den Gottlosen auferlegt, und deren zeitlichen Vergehen besteht keinerlei Entsprechung. Folglich kommt durch die ewigen Strafen für die Gottlosen (ex aeternis impiorum suppliciis), die Gott als Richter über sie wegen ihrer Vergehen (delicta) verhängen wird, keinerlei Gerechtigkeit, sondern vielmehr die Ungerechtigkeit Gottes zum Ausdruck." 186 Dabei wird der maior des Syllogismus durch einen Prosyllogismus bewiesen. Soner gelangt zur Alternative „Entweder begibt sich die Gerechtigkeit fort, oder der Verletzte wird gegenüber dem Verletzer nicht in einem Unendlichkeitsverhältnis stehen." 187 Im Zentrum der Abhandlung steht dann der Beweis des Mittelsatzes des zitierten Hauptsyllogismus: „zwischen den ewigen Martern, von denen man sagt, daß Gott sie den Gottlosen auferlegt, und ihrem nur zeitlichen Vergehen gibt es keinerlei Verhältnis." Der Beweis erfolgt indirekt, d. h. über den Nachweis, daß die Annahme von ewigen Strafen zu absurden Schlußfolgerungen führen muß. Die Strafen können weder von sich aus, noch von den „Tätern", noch auch von Gott aus ewig sein.188 Der indirekte Beweis wird weiter mit der Unterscheidung von „intens io" und „extensio" unendlicher Strafen geführt. Hieraus ergäbe sich, daß die Strafen sowohl ungerecht als auch ungleich würden.189 Es widerspricht aber der Bibel, daß Gott nicht gemäß jedermanns Taten straft. Deshalb können auch nicht alle Strafen gleich sein. Bei Annahme der Unendlichkeit (Ewigkeit) der Strafen wäre aber eine solche Gleichheit gegeben; im Gegenteil müssen die Vergehen sämtlich endlich sein, um überhaupt bestraft werden zu können. Ansonsten — da die Unendlichkeit unteilbar, ist — würden bei Annahme der Ewigkeit einer Strafe für eine Tat alle anderen Vergehen ungesühnt bleiben (wegen des „Verbrauchs" der UnE. Soner, In libros X I I metaphysicos Aristotelis Commentarius, a . a . O . , S. 698; vgl. S. 707. 186 E. Soner, Demonstratio theologica et philosophica, quod aeterna impiorum supplicia non arguant Dei iustitiam, sed potius iniustitiam, in: Archiwum Historii Filozofii i Myäli Spolecznej, Warszawa 2 (1957) S. 164. 187 Ebenda, S. 165: „Aut igitur facesset iustitia, aut laesus ad laesorem non habebit infinitam rationem." 188 Ebenda, S. 165-166. 189 Ebenda, S. 168: „(alioqui qui principi grandaevo malediceret, gravius peccaret, quam qui principi eiusdem dignitatis, sed iuniori) poenae vero forent dupliciter infinitae, quare inaequales et iniustae." 185

GOTTES G E R E C H T I G K E I T NACH

SONER

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endlichkeit für eine Strafe). Auch die Annahme von unterschiedlich gearteten Strafen ist absurd. Vielmehr unterscheiden sich die Strafen nur hinsichtlich des Grades (und nicht der Art). Die Strafe der Verdammten besteht im Schmerz über den Verlust des Anblicks Gottes und eines glückseligen Lebens sowie in der Gewissensqual über die begangenen Taten. Dieser Schmerz ist abgestuft, da er bei unendlicher Größe — laut Voraussetzung — für alle gleich wäre. Nur aus dem Verfallensein an Gott kann auf die Unendlichkeit der Strafen in zeitlicher Hinsicht geschlossen werden, nicht jedoch hinsichtlich ihrer Intensität, das sei der Ort der göttlichen Gerechtigkeit.190 Allerdings wird wenig später auch dieser Gesichtspunkt durch Soner zurückgenommen. Sein Urteil ist offenbar: daraus ergäbe sich wieder Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit „ex parte eludi".liU Gott hat einen wohlbestimmten Verstand, der die Vergehen zu unterscheiden weiß, und alle Menschen vergehen sich an ein und demselben Gott. Deshalb gibt es keinen Grund für die Annahme besonderer Vergehen, die verhältnislos mit unendlichen Strafen belegt werden. Wie die Vergehen — als Aktionen der Geschöpfe Gottes — unter sich verschieden, so sind sie es auch bei Gott. Folglich sind alle Vergehen begrenzt, und demzufolge ebenso alle gerechten Strafen. Aus ewigen Strafen ergibt sich dann aber nicht die Gerechtigkeit Gottes.192 Es folgt der Schluß: Weder ihrer Schwere noch auch der zeitlichen Dauer nach kann aus begrenzten Verbrechen eine unendliche Strafe folgen. Damit Gott nicht als Ungerechter bei der Bestrafung der Gottlosen anzusehen ist, weist Soner auf die Hölle des Verlustes des ewig Guten und der Existenz bzw. des Seins durch die Gottlosen hin, die Gott ihnen mit dem „zweiten Tod" auferlegen wird. Dies macht ihn nicht ungerecht.193 Gott verfährt hier nicht mit der 190

E b e n d a , S. 171: „Si vero d i c a t u r posterius, quod videlicet diversae p o e n a e solum t e m p o r e sunt i n f i n i t a e , g r a v i t a t e vero f i n i t a e , et u n a q u a q u e alia gravior, et delicta sunt i n t e r se inaequalia, quod quidem verisimilius, q u i a hac r a t i o n e possit servari i n a e q u a l i t a s delictorum et p o e n a r u m , o m n e s enim p o e n a e d i c u n t u r a e t e r nae, quia in D e u m a e t e r n u m commissa s u n t delicta, e t p a r i t e r q u i d e m a e t e r n a e , quia p a r i t e r omnia in e a n d e m personam i n f i n i t a ; inaequales tarnen g r a v i t a t e , u t ipsa delicta inter se sunt inaequalia, unde v i d e t u r locus esse iustitiae divinae, q u a e hac r a t i o n e i n f i n i t a t i s t e m p o r i s et finitae g r a v i t a t i s delictorum a t q u e p o e n a r u m possit h a b e r e r a t i o n e m . " 191 E b e n d a , S. 172: „ E s t vero a b s u r d u m ponere m a i o r a c r e a t u r a e delicta q u a m creatoris p o t e n t i a m in puniendo, unde exercitium iustitiae eius m a x i m a ex p a r t e eludi contingit. Quod si i a m omnes p o e n a e f i n i t o t e m p o r e s a t i s f a c i a n t , p r o u n o delicto, u t necessario faceri d e b e n t , qui h a n c h y p o t h e s i n t u e n t u r : ergo a l t e r o f i n i t o t e m pore satisfacient p r o a l t e r o delicto, eoque breviori a u t longiori, p r o u t d e l i c t u m gravius a u t levius est (habet enim p r o p o r t i o n e m a l i q u a m p a r s t e m p o r i s a d p a r t e m gravitatis) et sie deineeps o m n i a delicta f i n i t o aliquo t e m p o r e expiari p o s s u n t . Iniuste igitur unieuique s t a t u i t u r p o e n a t e m p o r e i n f i n i t a . " 192 E b e n d a , S. 173: „ergo e t i a m quod intensius et gravius, a p u d D e u m h a b e b i t finit a m r a t i o n e m ad a l t e r u m a p u d eundem D e u m . O m n i a igitur f i n i t a ; si o m n i a fin i t a , ergo o m n e s iustae p o e n a e e r u n t finitae, et consequenter ex poenis aeternis n o n elucet iustitia Dei." 193 E b e n d a , S. 174: „Quoniam igitur delicta i m p i o r u m nullo modo v i m i n f i n i t a m aceipere possunt, neque ex ipsa persona i m p i o r u m , neque ex p e r s o n a laesa, q u a e Dens est, neque e a m h a b e n t a s e i p s i s , neque ex aliquibus h o r u m t r i u m , a u t o m n i b u s simul, reliquum est, u t non 'sint infinita, q u a e erat minor alterius prosyllogismi p r o b a n d a . Unde sequitur u t nulla sit p r o p o r t i o i n t e r delicta i m p i o r u m , n u m e r o , gravitate et t e m p o r e f i n i t a et supplicia e o r u m a e t e r n a , et consequenter nulla iusti-

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VI.2.

KRYPTOSOZINIANISMUS UND

ALTDORF

„iustitia distributiva aut commutativa", sondern dem „ius herile"; er hat sich nicht dem Leben gegenüber in die Pflicht gesetzt, ebenso stehen Gehorsam und Belohnungen in keinem bestimmten Verhältnis. Dies, wie auch den Beschluß über den Tod, erläßt Gott „ex absoluta potestate et liberalitate" m . Aber auch gegenüber der ewigen Vernichtung ist er völlig frei, und hieraus kann auch kein Rechtsverhältnis entstehen. Die „aeterna annihilatio" ist also kein Rechtsurteil. Vergleichsweise ist auch das ewige Leben für die Gehorsamen nicht eine Belohnung, sondern ein Geschenk (damit aber kein Rechtstitel), jedoch läßt sich im abgeleiteten Sinne hier von Strafe sprechen (beim eigenen Tod). 195 Soner leugnet, daß Gott gegen die Gottlosen auch positive ewige Strafen beschließen und ausführen kann. Die Gedanken sollen wegen ihrer Bedeutung (u. a. der Charakterisierung Gottes) zusammenhängend (z. T. in eigener Übersetzung) dargestellt werden: 1. Die Gerechtigkeit ist gerichtet auf Gleichheit und Ausgewogenheit; ohne diese gibt es keine Gerechtigkeit. Das absolute Reich Gottes wird jedoch durch keinerlei Gleichheit und Ausgewogenheit definiert, da Gott niemandem etwas schuldet, sondern alle schulden ihm alles. 2. Gott hätte die Strafen vielleicht ohne eine Spur von Ungerechtigkeit zu verhängen vermocht und (zu ergänzen: wenn er sie tatsächlich verhängt hätte) so hätte er es nicht von vornherein aus Ungerechtigkeit getan, vielmehr hätte sein Erbarmen, das ebenso unendlich ist wie seine Macht und sein Reich, dies (zu ergänzen: nämlich über die Gottlosen ewige Qualen und Bußen zu verhängen) nicht erlaubt. Das würde offensichtlich seiner Aufrichtigkeit und Güte widersprechen. Alle Geschöpfe sind nämlich Teilhaber des Schöpfers. Und entweder muß etwas, das ist, etwas von Gott selbst ausgehendes sein (alles, was tia. Quare iustitia Dei ex aeternis impiorum suppliciis elucere nullo modo potest, ut dicunt, sed potius iniustitia, quod nobis erat probandum. Quid ergo? Aut iniustus est Deus, qui supplicia aeterna irrogat impiis, aut (ut iustitia omnis a Deo absit) dicendum est supplicia impiorum non. esse aeterna; sed illud vel cogitare tantum extremae est impietatis, quare hoc potius est amplectendum. Certe enim aeternitas, sive infinitas suppliciorum realium et positivorum, quae dicunt. Deum persolvere impiis in compensationem delictorum, iniustum facit Deum, ut argumenta hactenus allata probarunt. Privatio autem aeterni boni, et existentiae seu entitatis, quam excercebit in impios, dum eos per mortem secundam . . . in non.ens et nihilum rediget, eum iniustum non facit." »94 Ebenda. 195 Ebenda, S. 175: „Haec supplicia subsequitur mors aeterna, id est, aeterna annihilatio, non ut supplicium, quod iustitia Dei statuerit necessario, sed ut negatio vitae et entitatis, qualem absolutum eius imperium nullis legibus alligatum ei permittit. Dicitur quidem mors aeterna poena peccati sed latiore et minus propria appellatione, nempe non quia iustitia aliqua per se illam statuat peccatis, sed quia eam Deus (sponte et non coactus a iustitia aliqua distributiva) pro suo liberrimo imperio et dominio eam decrevit. E t si eam pariter omnibus creaturis viventibus initio decernere et inferre poterat ex eodem absoluto imperio sine ulla nota iniustitiae, similitudinem igitur poene habet, quia tantum peccantibus contingit, quandiu poenae infliguntur peccantibus. Eodem modo vita aeterna dicitur praemium, quia obedientibus tantum datur, cum multo verius sit donum, Rom. 5. 15. 17. et 8. 32. Quod si autem poenam accipias pro eo, quod non quidem iustitia aliqua distributiva Dei statuerit, sed quod libera eius voluntas peccantibus decrevit, propter delicta multa cum potuisset etiam non decernere, tum vere etiam poterit dici poena, quomodo etiam sacrae literae mortem aeternam dicunt Stipendium peccati, Rom. 6. 2 3 . "

VERFOLGUNG

UND

V ERBREITUNG

IN

DEUTSCHLAND

407

nämlich außer ihm ist, ist ein Nichtsein), oder aber nicht nur er allein ruht in sich selbst, sondern es gibt auch anderes, was sein Wesen aus sich selbst hat und nicht von Gott. Das ist absurd, denn dann wäre Gott nicht der Ursprung von allem. Da jedes Geschöpf ein Strahl (radius) des göttlichen Guten ist, kann offensichtlich Gott in sich von selbst nicht einem Geschöpf gleich sein, wenn er einen Teil seiner selbst, die ewige Güte, auf ewig im Schlechten und im Elend ließe. „In annihilatione autem hoc absurdum non contingit, in ea enim nulla pars (ut sie dicam) Dei ipsius finitur esse misera: quia cessatio TU esse ipsius creaturae nihil aliud est quam reditus istius radii divinae bonitatis ad suum fontem et prineipium: unde postae neque est diffusum . . . divinum bonum extra se ad constituendam illam partem, que deberet esse misera et cruciari. Quamquam etiam alias nulla miseria' unquam ipsum revera affingere potest; est enim se ipso beatissimus, et sibi sufficientissimus ad infinitam bonitatem: neque diff unditur per partieipationem, aut divisionem sui, sed sine nulla sui partitione aut divisione, ita ut ipse ab omnibus sit separabilissimus, et si omnia sint ab ipso, in ipso, et per ipsum; Rom. 11. 33. sed tarnen quodam modo videri potest pertinere ad eius maiestatem, ne ulla ipsius creatura sit aeternum misera quatenus est ipsius." 1!,ß Soner gibt dann eine Zusammenfassung und unterscheidet klar „iustitia Dei" und „obligatio spontanea". 197 Reichhaltig hat Soner Bibelstellen zusammengetragen, in denen das Wort „ewig" eine begrenzte Zeit meint. Während Ley, Ogonowski und Caccamo Soner eine besondere Stellung unter den deutschen Philosophen des 16. und 17. Jh. ob der Progressivität seines Denkens zubilligen — zumindest unter den Hochschullehrern —, sucht Scheurl das gerade Gegenteil zu erweisen: „Bei Bemühen um Gerechtigkeit darf . . . Soner keinesfalls mit dem üblichen Nachdruck für den Altdorfer Sozzinianismus verantwortlich gemacht und seine Person in den Mittelpunkt gestellt werden." 198 Dabei widerlegt sich Scheurl z. T. selbst, so, wenn er die Befunde des Sonerschen Stammbuches darlegt. 199 Mir scheint, Ley, Caccamo und Ogonowski ist zuzustimmen, lediglich mit der Einschränkung, daß Soner kein Einzelfall ist. Das zeigt auch das Wirken seines Ideengutes auf seinen Schüler Ruar (vgl. S. 367ff.). Martin Ruar verfaßte keine großen theoretischen Abhandlungen, hinterließ aber eine reichhaltige Korrespondenz, zu der Ley schreibt: „Sicher bieEbenda, S. 176. Ebenda, S. 177: „Ut igitur concludamus, dieimus imperium Dei absolutissimum et supremum, nullisque legibus septum Dominum elucere quidem ex aeterna morte impiorum; iustitiam autem indidem non elucere per se, sed secundario; puta ex servatis promissis. Iustum enim est Deum, servare promissa, tametsi, sine nota iniustitiae, ea poterat non promittere. Quia igitur semel hoc sanxit ad id se obligavit, se impiis non resipiscentibus irrogaturum hanc poenam, qua tarnen libere nulla iustitia coactus statuit, iuste nunc eam quasi ex obligatione spontanea exequitur, qua prius neque iuste neque iniuste, sed pro plena et absolutissima sua potestate decrevit Deus." 198 S. Freiherr von Scheurl, Die Theologische Fakultät Altdorf im Rahmen der werdenden Universität 1575-1632, a. a. O., S. 157, vgl. S. 152. 199 Ebenda, S. 152-154. 197

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V I . 2 . KRYPTOSOZINIANISMUS UND A L T D O R F

ten die 200 aus dem Nachlaß veröffentlichten Dokumente nur einen kleinen Ausschnitt der tatsächlichen Korrespondenz. Ein solcher Schluß ist naheliegend, weil in den besonders heiklen Fragen nur die Meinung der noch nicht überzeugten Gegner, nicht aber die Ausführungen des Ruarus wiedergegeben sind." 200 In Ruars Briefwechsel ist die Ewigkeit der Welt ein immer wiederkehrendes Thema. Es verbindet sich mit einer Propagierung der copernicanischen Theorie. Mersenne ließ sich von Ruar sozinianische Literatur schicken und disputierte mit ihm über den dogmatischen Unterschied der Religionen. Mersenne stand wieder in enger Beziehung zu Descartes. Auch der Briefwechsel Mersennes mit dem Danziger Arzt und Sozinianer F. Crusius zeigt seine feste Meinung, daß die Welt ewig ist. Crusius hatte 1614 in Linz Kepler kennengelernt und unterhielt mit diesem 1615—1621 feinen lebhaften Briefwechsel. Crusius' Brief an Jungius vom 1. 9. 1639 verrät Kenntnisse von Jungius' Schriften, bezeugt den Wunsch, mehr von ihnen kennenzulernen, und atmet irenischen Geist. 201 1616 traf Crusius in Straßburg mit Bernegger wie wohl auch mit M. Ruar zusammen. Crusius vertritt universelle Toleranz jenseits der bestehenden Religionen. Zwicker, Crusius, Ruar — zeitweilig in Danzig vereint — nehmen Einfluß auf Opitz (vgl. Kap. XII). Der Sozinianismus wurde in Deutschland scharf verfolgt. Auch daher blieb er Krypto-Sozinianismus. Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz hatte 1572 den Inspektor von Ladenburg, J . Sylvanus, wegen seines Antitrinitarismus enthaupten lassen. Adam Neuser, Pfarrer zu Heidelberg, Sylvanus' Freund und sein „Verführer"; war nur durch die Flucht dem gleichen Schicksal entgangen.202 Daniel Zwicker wurde durch F. Crusius für den Sozinianismus gewonnen. 1643 mußte er gemeinsam mit Crusius und Ruar seine Heimatstadt Danzig verlassen. Er wohnte danach in dem nahe gelegenen Straschin und reiste viel in Polen und Mähren; von 1657 bis zu seinem Tode lebte er in den Niederlanden. „In seinem bekannten Werk .Irenicum Irenicorum', welches den Obrigkeiten und geistlichen Häuptern aller Confessionen gewidmet ist, stellt er die gesunde Vernunft, die richtig ausgelegte heil. Schrift und die wahre Tradition, nicht die falsche (wie z. B. die von der gleichwesentlichen Gottheit des Sohnes) als die drei religiösen Grundnormen auf. Die verschiedenen Bekenntnisse betrachtet er als integrierte Bestandteile der einen allgemeinen christlichen Gesammtkirche, deren jeder ein wahres Moment in sich enthalte. Den Lutheranern und mährischen Brüdern verdanke die Kirche den Beginn der Reformation, den Reformirten den Gebrauch der Vernunft in religiösen Dingen, den Remonstranten die Restitution der christlichen Freiheit, den Griechen die alte Wahrheit, das N. T. und die Schriften der Väter, den Päpstlichen die Anerkennung der guten Werke und die lateinischen Väter, den Socinianern die H . L e y , Zur E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e der europäischen Aufklärung, a. a. O., S. 4 2 3 . Vgl. L . Chmaj, Crusius a Kepler, i n : L . Chmaj, B r a c i a Polscy, a. a. O., S. 51—64. - Vgl. J . Kepler, G e s a m m e l t e W e r k e , B d . 17, a. a. O., S. 1 8 0 - 1 8 2 , 2 1 2 , 2 3 0 , 3 8 9 ; ebenda, B d . 18, a. a. O., S. 6 9 - 7 0 , S. 7 7 - 8 0 . Der B r i e f F . Crusius' a n J . J u n g i u s v o m 1 . 9 . 1 6 3 9 bei: R . C. B . A v e - L a l l e m a n t , Des Dr. J o a c h i m Jungius aus L ü beck Briefwechsel m i t seinen Schülern und F r e u n d e n . . a. a. O., S. 204—210. 202 Vgl. Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., B d . 4, Tübingen 1960, S. 1 4 3 8 - 1 4 3 9 ; R . D ä n , M a t t h i a s Vehe-Glirius, a. a. O., S. 1 3 - 3 7 .

200 201

VERFOLGUNG

UND V E R B R E I T U N G IN

DEUTSCHLAND

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Schärfe der Kritik, den Mennoniten die Reinheit der Sitten." 203 Wir finden also bei Zwicker ungewöhnliches Toleranzdenken, das die Aufklärung vorbereitet. Überhaupt leisteten die Sozinianer einen großen Beitrag zur Gestaltung der bürgerlichen Toleranzkonzeption. Das Toleranzproblem, gekleidet in die Forderung nach Religionsfrieden, taucht in ihren Schriften allerdings erst Ende der 20er Jahre des 17. Jh. auf, als sich ihre Situation in Polen verschlechterte. Besondere Bedeutung hatten dabei Samuel Przypkowski, J . Crell und J . Schlichting. Sie arbeiteten den grundlegenden Unterschied zwischen Zielen und Handlungsmethoden von Staat und Kirche heraus und vertraten Gedanken, wie sie durch John Lockes „Brief über die Toleranz" (1689) dann bekannt wurden. Im Jahre 1640 erließ Kurfürst Georg Wilhelm von Preußen auf Antrag der preußischen Stände ein Edikt gegen die Antitrinitarier, Sozinianer und Photinianer. Sozinianische Schriften sollten bei den staatlichen Dienststellen abgeliefert, die heimlichen Conventícula der Sozinianer beobachtet werden usw.204 Hier lagen eindeutig auch politische Ursachen mit zugrunde. Arnold stellt fest, daß vor allem viele Vertreter der Intelligenz in Deutschland den Sozinianern anhingen: „Also, daß wol gantz Teutschland mit dieser lehre würde eingenommen seyn, wo man nicht mit äusserster gewalt entgegen gegangen wäre." 203 Fock sagt zu Recht: „ . . . die Einwirkungen des Socinianismus, wenn gleich im siebzehnten Jahrhundert ihre Resultate in Deutschland noch nicht offen hervortraten, weil sie es nicht durften, haben doch der Entwicklung des achtzehnten Jahrhunderts in diesem Lande wesentlich vorgearbeitet und den Weg gebahnt." 206

3. Zeitgenössische Gegner und historische Wirkungen des Sozinianismus Die deutschen lutherischen und reformierten Theologen bzw. Philosophen haben die vom Sozinianismus ausgehende Gefahr sehr wohl erkannt. 207 Seit den 20er Jahren des 17. Jh. schreiben sie eine Vielzahl von Streitschriften gegen die Sozinianer und führen Disputationen gegen sie durch. Die Sozinianer antworten bzw. provozieren Gegenäußerungen. Drei Hauptzentren der antisozinianischen Propaganda bilden sich heraus: Königsberg und Danzig mit O. Fock, Der Socinianismus . . ., Bd. 1, a. a. O., S. 250. Chr. Hartknoch, Preussische Kirchen-Historia . . ., a. a. O., S. 592—594. 2 0 5 G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 1—2, a. a. O., S. 1027. 2 0 6 O. Fock, Der Socinianismus . . ., Bd. 1, a. a. O., S. 237. 207 Vgl. zum folgenden: S. Wollgast, E c h a Socynianizmu \v Luteranskiej Teologii i Metafizyce Szkolnej. Rraje Niemieckie, Gdarisk i Prusy \v 1 Polowie X V I I . w., in: Czlowiek i Swiatopagl^d, Warszawa 180 (1980) 7, S. 6 9 - 7 7 ; S. Wollgast, Zur Widerspiegelung des Sozinianismus in der lutherischen Theologie und Schulmetaphysik im Reich, Danzig und Preußen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Socinianism and its Role in the Culture of X V I t h to X V I I I t h Centuries, a. a. O., S. 157—168; aus der älteren Literatur u. a. Th. Wotschke, Wittenberg und die Unitarier Polens I, in: Archiv für Reformationsgeschichte, Leipzig 14 (1917) S. 113—142. 203 204

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V I . 3 . G E G N E R UND W I R K U N G E N D E S SOZINIANISMUS

Greifswald, Rostock und dem lutherischen Pommern (z. B. Stolp) als Hinterland; Wittenberg mit Leipzig und Jena; Gießen und Marburg. Antisozinianische Schriften werden auch in Tübingen, Altdorf, Nürnberg und später in Helmstedt gedruckt. An dieser Polemik beteiligen sich u. a. B. Keckermann, J . Gerhard, J . Martini und sogar G. Calixt. Dagegen haben Cornelius Martini,, J . H. Aisted, D. Stahl, H. Arnisaeus, C. Timpler, V. Fromm, Chr. Scheibler, R. Goclenius u. a. zumindest nicht mit eigenen Werken an der antisozinianischen Polemik mitgewirkt. Sie ist weitgehend theologisch, greift aber immer wieder ins Philosophische über. B. Meisner set zt sich mit der sozinianischen Auffassung zur Willensfreiheit auseinander.208 J . Martini fordert in seiner antisozinianischen Polemik, zwischen philosophischer und theologischer Bedeutung solcher Begriffe wie „Substanz", „Wesen", „Suppositum", „Individuum" usw. zu unterscheiden und lehnt diejenigen ab, die das Mysterium der Trinität mit gemiseht philosophisch-theologischen Argumenten beweisen wollen. Die Philosophie habe sich auf ihr Magddasein gegenüber der Theologie zu beschränken. Zugleich wird die Philosophie als ein Geschenk Gottes gedeutet. Wir haben bei J . Martini eine eigentümliche Mischung von Theologie und Philosophie bei Dominanz der Theologie vorliegen. 2 ^ In dieser Weise äußert sich das Eindringen der protestantischen Schulmetaphysik in die antisozinianische Polemik. Leibniz war zutiefst Ireniker. E r wollte die Spaltung der Konfessionen aufheben. Um keine Möglichkeit zur Wiederherstellung der zerstörten Einheit der christlichen Konfessionen und „Sekten" zu verschütten, suchte er auch in abweichenden oder gar gegnerischen Ansichten noch einen akzeptablen Sinn, einen „rationalen Kern" herauszuschälen. E r geht von einer universellen Toleranz und der Forderung nach Trennung von religiöser und wissenschaftlicher Erkenntnis aus. Dies ist auch bei seinen Schriften gegen die Sozinianer zu beachten. Leibniz hat in drei Schriften Abhandlungen des Sozinianismus in den Mittelpunkt gestellt: 1. „Defensio Trinitatis contra Wissowatium" (Frühjahr 1669?) und „Responsio ad objectiones Wissowatii" (Frühjahr 1669?). Boineburg hatte einen Briefwechsel mit A. Wiszowaty um das Trinitätsdogma begonnen. Auf seinen letzten Brief vom Oktober 1665 hatte Wiszowaty von Boineburg keine Antwort erhalten. Boineburg erinnerte sich daran, als er im Frühjahr 1669 eine Reise nach Warschau vorbereitete. Leibniz' Arbeit, verfaßt wohl im Auftrage Boineburgs, wurde 1717 veröffentlicht. 2. „Refutado objectionem Dan. Zwickeri contra Trinitatem et Incarnationem Dei" (Frühjahr 1669?). Dieser Traktat richtete sich gegen Zwickers irenischen „Tractatus Tractatuum de contradictione". Leibniz' Antwort wurde erst 1930 gedruckt. 3. „De incarnatione Dei seu de Unione Hypostatica" (1669—1670?). 210 Mosheim hatte 1725 Soners „Demonstratio theologica et philosophica . . ." B. Meisner, Brevis Consideratio Theologiae Photinianae, Prout eam Faustus Socinus descripsit in libello suasorio, cui titulus: Quöd Evangelici omninö deberent se illorum coetui adjungere, qui falsö Ariani atq. Ebionitae vocentur, Wittenberg 1619, S. 102-107. 209 Vgl. J.Martini, De Tribus Elohim. Bd. 2: Photinianorum novorum Furoribus oppositus: in quo praeter alia disputatio inter B. Keckermannum et Adamum Goslawium ä Bebelno de SS Trinitate agitata, examinatur, 2. ed. Wittenberg 1620, b 2—3. 210 ygi. g . W. Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von d. Dt. Akad. d. Wiss. 208

E I N F L U S S AUF W E S T E U R O P A

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neu herausgegeben. Schon Leibniz wollte die kleine sehr seltene Schrift mit einer eigenen Vorrede herausbringen. Leibniz' Vorrede galt als verschollen. Lessing macht sie aus den Schätzen der Wolfenbütteler Bibliothek erstmalig bekannt: Die Schrift des sehr berühmten Philosophen Ernst Soner, meint Leibniz, werde von einigen als unübertroffen gelobt. Leider sei sie nur wenigen bekannt. Es sei nicht zu leugnen, daß Soner subtil und scharfsinnig geschrieben habe. Dennoch weise seine Darstellung eine große Lücke auf. Diese beliebten wenige anzugeben, damit nicht ein Unvorsichtiger durch die Ausgesuchtheit (speciositate) des Arguments irregeleitet werde. Leibniz' Kritik bezieht sich vor allem auf Soners Auffassung der endlichen Sünden. Zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen gibt es kein bestimmtes Verhältnis. Also müssen die Strafen auch endlich sein. Soner sucht Fälle zurückzuweisen, in denen Sünden für unendlich gehalten werden. Leibniz zitiert dann aus Soners Schrift diese Fälle: „Si impiorum delicta sint infinita, aut ut talia considerari possint, vel habent vim istam infinitam ex se ipsis, vel a delinquente, vel ab eo in quem et contra quem delinquitur, vel ab horum aliquibus, vel ab omnibus simul; sed nullo istorum modorum possunt esse infinita, aut ut talia considerari, et tarnen praeter hos nullus alius superest modus, quo infinita dici et esse possint: ergo omnio non sunt infinita." Hier lasse sich ein weiterer Mangel in Soners Argumentation angeben: die unvollständige Aufzählung der Fälle, auf Grund deren etwas als unendlich bezeichnet werden kann. „Neque enim tantum ab objecto in quod peccatur, Deo videlicet, vel a modo peccandi, seu gradu intensivo, aliisque quorum autor meminit, sed et a numero peccata infinita dici possunt. Etiamsi igitur concederemus ipsi, nullum peccatum per se infinitum esse; revera tarnen dici potest, damnatorum infinita numero peccata esse; quoniam per totam aeternitatem in peccando perseverant. Quare si aeterna sunt peccata, justum est, ut aeternae etiam sint poenae. Nempe homines mali se ipsos damnant, ut recte dictum est a sapientibus, perpetua scilicet impoenitentia et a Deo aversione. Nihil igitur hic Deo, quasi ultra mensuram peccati severo, imputari potest." 211 Das Eindringen sozinianischer Gedanken nach Westeuropa und ihre teilweise Assimilierung begannen am Ende des 16. und zum Anfang des 17. J h . „Bevorzugtes Terrain für diese ideelle Expansion war damals Westdeutschland,

211

Rhe 6: Philosophische Schriften, Bd. 1: 1663-1672, Berlin 1971, S. 5 1 8 - 5 3 5 . — Vgl. G. E. Lessing, Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit, in: G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, hg. von K. Lachmann, 3. verm. Aufl. v. F. Muncker, Bd. 12, Leipzig 1897, S. 7 1 - 9 9 . Verzeichnis der Schriften Zwickers bei F. S. Bock, Historia Antitrinitariorum, Bd. 1, T. 2, a. a. O., 1045-1069. - Zusammenfassend zu Leibniz' Stellung zum Sozinianismus, vgl.: N. Jolley, Leibniz on Locke and Socinianism, in: Journal of the History of Ideas, New York 39 (1978) S. 233—250. Jolley analysiert Leibniz' unveröffentlichtes Manuskript „Ad Christophori Stegmanni Metaphysicam Unitariorum" (1709—1710), behandelt Leibniz' Vorwürfe gegen Locke, dieser habe sozinianische Tendenzen, und gibt reichhaltige Belege für Leibniz' Beschäftigung mit dem Sozinianismus seit seiner Jugend. G. E. Lessing, Leibnitz von den ewigen Strafen, in: G. E. Lessing, Sämtliche Schriften, hg. von K. Lachmann, 3. verm. Aufl. von F. Muncker, Bd. 11, Leipzig 1895, S. 465—466. Übersetzung in: G. E . Lessing,Sechs theologische Schriften.Eingel. u. komm, von W. Gericke, Berlin 1985, S. 1 2 6 - 1 2 7 .

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V I . 3 . GEGNER UND W I R K U N G E N DES

SOXINIANISMUS

vor allem jedoch Holland. Die aus Polen eingeführten Ideen stärkten die liberale Richtung der holländischen Kalvinisten und trugen . . . zur endgültigen Ausbildung der religiösen Anschauungen der Arminianer bei . . . Doch die Assimilierung des sozinianischen Gedankengutes auf breiter Front begann erst gegen Ende der zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts." 212 Auch hier fehlen Untersuchungen zur Spezifik der Philosophie in (Nord) Westdeutschland, die ja bis Mitte des 17. Jh. mit der niederländischen Philosophie weitgehend übereinstimmt. Ogonowskis Einschätzung entspricht der F. Mauthners weitgehend: „Wer aber im Auge behält, wie der linke Flügel der Socinianer mit der Dreieinigkeit auch die Anbetung Christi verwarf, wie die unruhigen Geister aus den westlichen Ländern bei den Socinianern Schutz suchten und fanden, . . . wie endlich in Holland die socinianischen Flüchtlinge von allen radikalen Parteien als Brüder aufgenommen wurden, wie vielleicht auch in Deutschland der Rationalismus durch Verbreitung socinianischer Schriften vorbereitet wurde, der wird nicht an der Tatsache zweifeln, daß Deismus und Aufklärung durch die socinianische Bewegung entscheidend beeinflußt worden sind." 213 Aufklärung heißt zunächst Kritik an den Glaubensdogmen der herrschenden Kirchen. Da diese Kritik erstmalig systematisch und von rationalistischen Prämissen aus von den Sozinianern (die Arminianer werden hier nicht berücksichtigt) durchgeführt wurde, läßt sich sagen: Das Wirken der Sozinianer ist ein wichtiger Faktor für das Entstehen der Aufklärung. Der Deismus suchte die Religion ausschließlich auf den Forderungen der Vernunft aufzubauen. Daher verwarf er die christliche Offenbarung, da sie diesen Forderungen nicht entsprach. „In diesem Sinn stellte der englische Deismus (und der Deismus der Aufklärung ganz allgemein) das Endprodukt jener Bestrebungen dar, die sich bereits in der Renaissance herauskristallisiert hatten." Nach Ogonowski verlief die Emanzipation des menschlichen Denkens von der Offenbarung nicht nur auf dem Wege der allmählichen Rationalisierung der Religion. Daneben existierte der „Weg über die radikale Irrationalisierung der Religion"2J/', über den sich gleichfalls eine Möglichkeit der Kritik der Offenbarung eröffnete. 312 2l;l 314

Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a . a . O . , S. 143 — In unseren Ausführungen geht es stets nur um die erste, nicht urn die reife Phase des Deismus. F. Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. 1, a. a. O., S. 593. Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. S3. — Rein geistesgeschichtlich gesehen erfaßt Troeltsch richtige und wesentliche Ursachen für die Entstehung des Deismus: „Er nahm seinen Ausgangspunkt einerseits v o n der dogmatischen, naturwissenschaftlichen und metaphysischen Kritik der geltenden Dogmen, andererseits von der Einsicht in die Fraglichkeit der bisher herrschenden supranaturalistischen Offenbarungsansprüche, wie sie sich erst aus den Konfessionskriegen, dann aus der wachsenden historischen und geographischen Erkenntnis ergab. Die von beiden Seiten entspringenden Bedenken verstärkten sich gegenseitig und lockten dazu an, eine allgemeine, überall gleiche, jedermann erkennbare religiöse Normalwahrheit zu suchen, auf die man von den konkurrierenden einzelnen Religionen zurückgehen kann, von der aus Wert und Recht der unmittelbar sich gebenden Offenbarungsansprüche sich prüfen läßt, und die mit den metaphysischen Ergebnissen der neuen Wissenschaften übereinstimmt." (E. Troeltsch, Der Deismus, in: E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Tübingen

FRANKREICH,

ENGLAND

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„Die Emanzipation von der Offenbarung über die Irrationalisierung der Religion verlief . . . in zwei Etappen. In der ersten Etappe kristallisierte sich die Überzeugung heraus, daß der christliche Glaube sich nicht mit der Vernunft vereinbaren ließe, da er von Natur aus irrational sei. In der zweiten Etappe dagegen galt die Meinung, daß diese Irrationalisierung des Glaubens kein Zeugnis für seine übernatürliche Herkunft sei, vielmehr umgekehrt — sie sei einer der besten Beweise für seinen rein irdischen Ursprung. Letzten Endes erfolgte hier noch eine radikalere Loslösung von der Offenbarung als im Deismus, denn alle Probleme der Religion — das Hauptproblem, die Existenz Gottes, eingeschlossen — wurden zu Pseudoproblemen gestempelt." 215 Diese Entwicklung, die Emanzipation des menschlichen Denkens nicht nur von der Offenbarung, sondern von der Religion überhaupt, kann man besonders in der Blüte der französischen Aufklärung beobachten. Die Philosophie von P. Bayle spielt dabei eine vermittelnde und sehr wichtige Rolle. Bayle kannte die Lehre der Sozinianer ausgezeichnet. Sie war für ihn ein intellektueller Impuls. Auch unter ihrem Einfluß gelangte er zu der Auffassung, daß zwischen der Religion und den Forderungen des rationalen Denkens eine unüberbrückbare Kluft bestehe. Hugo Grotius, der 1617 seine Abhandlung „Defensio fidei Catholicae de satisfactione Christi adversus Socinum" erscheinen ließ, wurde dennoch schon zu Lebzeiten bezichtigt, einige sozinianische Auffassungen zu vertreten.216 Comenius', bereits in seiner Jugend vom Rakower Katechismus stark und nachhaltig beeindruckt, lernte im Verlaufe seines Lebens angesehene Sozinianer persönlich kennen. Die Sozinianer waren die ersten, die den Wert seiner Unterrichtsmethode richtig einschätzten. J. L. von Wolzogen erhielt von Comenius seinen „Pansophiae prodromus" (1639) übersandt. Wolzogen wurde durch J. A. Pömer mit Comenius bekannt und besuchte ihn in Lissa. Auch Jonas von Schlichting kam nach Lissa, um seinen Neffen in Comenius' Schule aufnehmen zu lassen. Mit Melchior Schaffer und Daniel Zwicker setzte sich Comenius in polemischen Schriften auseinander.217 Gassendi, Descartes und vor allem Mersenne waren vom sozinianischen Rationalismus beeinflußt. J. L. von Wolzogen beteiligte sich am Streit zwischen Descartes und Gassendi und ergriff die Partei Gassendis. Samuel und Paul Crell arbeiteten an Bayles „Dictionnaire historique et critique" mit. Die Spuren der Sozinianer lassen sich bis zu Voltaire („Candide") und den französischen Enzy1925, S. 430—431.) Wenn Troeltsch fortfährt: „Diese Religion ist rationale Metaphysik und Ethik von schroff intellektualistischem Charakter" (ebenda, S. 431), so ist das religionsgeschichtlich ebenfalls richtig. Der Deismus war aber von „Anfang an" mehr als eine „Philosophie der Religionsgeschichte" (ebenda, S. 433). Vgl. M. Fontius, Deismus, in: Philosophisches Wörterbuch, hg. v. G. Klaus u. M. Buhr, Bd. 1, a. a. O., S. 2 5 3 - 2 5 6 . 215 Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. 83. 216 Vgl. c . Broere, Hugo Grotius' Rückkehr zum katholischen Glauben, hg. von F. X. Schulte, Trier 1871, S. 5 6 - 6 4 , S. 105-107. ( - Vgl. unsere S. 368.) 2» Vgl. M. Blekastad, Comenius, a. a. O., S. 11, S. 254-257, S. 276, S. 606, S. 608; J. A. Comenius (Komensky), Ausgewählte Werke. Hg. v. D. Tschizewski u. K. Schaller, Bd. 4: Antisozinianische Schriften, T. 1—2, hg. v. E. Schädel, Hildesheim 1983.

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SOZINIANISMUS

klopädisten verfolgen. Vom Sozinianismus beeinflußte Werke der französischen Aufklärung wirkten wieder auf Deutschland. Einige, wie Bayles „Dictionnaire", wurden ins Deutsche übersetzt, so daß auf diesem Umweg, ähnlich wie im Fall Lockes und Tolands, ein sozinianischer „Nebenstrom" nach Deutschland zurückgeleitet wurde. Ein wichtiges Bindeglied zwischen Sozinianismus und Aufklärung bildet John Locke. E r war nach außen vorsichtig und bestritt seine Abhängigkeit von sozinianischen Ideen. Solche Zurückhaltung übte auch I. Newton gegenüber dem Sozinianismus. Auch wenn das 18. Kapitel des Buches IV von Lockes „Essay concerning human understanding" recht sozinianisch klingt, so darf darüber der Kontext nicht vergessen werden (vgl. Kap. XI). Neben Arbeiten F. Sozzinis fanden sich in Lockes Bibliothek viele Schriften deutscher und polnischer Sozinianer, so von J . Crell, J . Völkel, J . Stegmann d. Ält., V. Schmalz, Wolzogen, J . Schlichting, S. Przypkowski, A. Wiszowaty und M. Ruars Briefe. Daß Locke diese Schriften auch wirklich studiert und von ihnen gelernt hat, zeigen seine Exzerpte. 218 Lange vor Lockes „Reasonableness of Christianity" wurde Tolands „Christianity not Mysterious" konzipiert. Das Werk erschien 1696. Tolands These, die Religion dürfe nichts enthalten, was über die Vernunft hinausgehe, negierte auch die fundamentalen christlichen Dogmen der Dreieinigkeit, der Inkarnation, der Erlösung von den Sünden usw. „Toland griff sie freilich an keiner Stelle des Traktats direkt an, doch eine solche Schlußfolgerung ergibt sich ziemlich deutlich. Schon der Titel des Traktats allein suggeriert es. Und solcherart waren höchstwahrscheinlich auch die Absichten des Autors, obgleich er dies entschieden leugnete." 219 Seine Schrift wurde Gegenstand einer stürmischen, fast 50 Jahre dauernden Polemik. Toland wurde als Atheist, Gottloser verschrien, in besser orientierten Kreisen hielt man ihn für einen Sozinianer. Toland kämpfte gegen diese Einstufung an, denn die Sozinianer waren in England vom Toleranzedikt ausgeschlossen. Seit 1648 galt für die Verbreitung sozinianischen Gedankenguts die Todesstrafe. Fünf Jahre später verhängten die Niederlande für alle Verbannung, die sich mit der Einfuhr und Verbreitung sozinianischer Lehren befaßten. Ogonowski belegt : „Die Thesen Tolands zum Thema der Geheimnisse der Religion waren bereits in den Ansichten des Faustus Sozzini enthalten, formuliert wurden sie freilich erst in dem Traktat von Stegmann ,de Judice'" 220 . Also ist der Sozinianismus direkter Vorläufer des Deismus! 218 Vgl. H. J. McLachlan, Socinianism in Seventeenth-Century England, a. a. O., S. 326—330; L. Zscharnack, Einleitung zu: J. Locke, Vernünftigkeit des biblischen Christentums 1695, Gießen 1914, S. L I I I ; J. Harrison/P. Laslett, The Library of John Locke, Oxford 1965. 219 Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. 100. 220 Ebenda, S. 93. — In der Edition dieser Arbeit weisen J. DomaAski und Z. Ogonowski nach, daß „De Judice" Anfang der 30er Jahre geschrieben, wenn auch erst 1644 in Amsterdam publiziert wurde (J. Stegmann, De judice et norma controversiarum fidei, ed. J. Domaliski et S. Ogonowski, Varsoviae 1963, S. 7—10 [Biblioteca pisarzy reformacyjnych, Nr. 4]). Toland hat aus Lockes Philosophie und Religionskritik „linke" Konsequenzen gezogen. M. E . ist das in seinem Buch von 1696 geäußerte Gedankengut nicht mehr Deismus, es ist materialistischer Pantheismus. Eine genaue

SOZINIANISMUS UND ENGLISCHER D E I S M U S

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Ogonowski hält es für möglich, daß Tolands Traktat unter unmittelbarem Einfluß der Sozinianer entstanden ist. Die sozinianischen Schriften waren ja, obwohl verketzert, in England durchaus bekannt. Toland konnte den Sozinianismus auch während seines Aufenthaltes in Holland (1692—1694) kennengelernt haben.221 Andererseits bezeichnet sich Toland als Schüler Lockes. In seinem „Brief über Toleranz"222 bestimmt Locke Toleranz als Merkmal der wahren Kirche. Soll Toleranz recht verstanden und gebraucht werden können, so macht sich eine Abgrenzung der Aufgaben von Staat und Kirche erforderlich. Der Staat hat Leben, Freiheit, Gesundheit, körperliche Unverletzlichkeit und äußeren Besitz der Staatsbürger durch gesetzlichen Zwang zu sichern. Das Seelenheil obliegt nicht dem Staat, sondern der Kirche. Sie ist für Locke eine freiwillige Vereinigung von Menschen zur Verehrung Gottes in einer angemessenen Weise. Jedem steht Eintritt und Austritt in dieser Gemeinschaft frei. Die Kirche als freiwillige Gemeinschaft von Gläubigen gibt sich ihre Ordnung und Verwaltung selbst. In dieser Ordnung darf nichts enthalten sein, was die Bibel nicht erwähnt oder ausdrücklich befiehlt. Exkommunikation aus einer Glaubensgemeinschaft darf staatsbürgerliche Rechte nicht mindern. Erzwungener Gottesdienst ohne Überzeugung ist für die Seligkeit zwecklos. Der Staat muß die Glaubensfreiheit garantieren, darf keine Religionsgemeinschaft der anderen vorziehen und sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Kirche einmischen. Atheisten sind nicht zu dulden. Überzeugungen lassen sich nicht erzwingen. Diese Gedanken sind auch für Toland Ausgangspunkt. Hinzu kommt ein starker Einfluß Ciceros. So kann Toland seine Ideen durchaus ohne Beeinflussung durch die Sozinianer entwickelt haben. Fritz Mauthner stellt fest: „Die Gelehrten, die das Werk des Faustus Socinus fortführten, ein Crell, ein Völkel, haben schon viel von dem ausgesprochen, was dann durch die englischen Deisten Gemeingut des Abendlandes wurde; besonders Bibelkritik betrieben sie schon mit erstaunlicher Gründlichkeit . . . " Aber während sich die englischen Deisten im wachsenden Maße von der Bibel bzw. der Theologie emanzipierten, war die „Unterlage des Sozinianismus ein marxistische Untersuchung steht noch aus. Vgl. J. Toland, Christianity not mysterious (Christentum ohne Geheimnisse) 1696, übers, von W. Lunde, Eingel. und unter Beifügung von Leibnizens Annotationiculae 1701 hg. von L. Zscharnack, Gießen 1908 (Text des „Christianity": S. 55 bis 139). — Vgl. die marxistische Einschätzung des Tolandschen Werkes in: H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/2, a. a. O., S. 528—532; J. Tazbir, Le socinianisme apres le mort de Sozzini, a. a. O., S. 123. 221 Belege bei: Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. 110. — Übrigens lautet eine der Ausgangsthesen Stegmanns: „Natura enim rerum omnium communissima simul et certissima omnis veritatis falsitatisque norma est." (J. Stegmann, De Judice, a. a. O., S. 17.) J. Stegmann hat — gleich allen führenden Sozinianern — rege publizistisch gewirkt. Dazu gehören auch Streitschriften mit Johann Botsack, dem Rektor des Danziger Akademischen Gymnasiums. Botsack warnte in seiner letzten Streitschrift, dem erst 1635 in Danzig erschienenen „AntiStegmannus . . .", die Sozinianer höben „den Standt der Obrigkeit/und andere gute Ordnungen" auf, so „den Ordentlichen Beruff der Kirchenlehrer"; sie wollten auch den „Soldaten-Standt . . . nicht billigen" (ebenda, S. 433—449). 222 Vgj. j_ Locke, Ein Brief über Toleranz, übers., eingel. und in Anm. erläutert von J. Ebbinghaus, 2. verb. Aufl., Hamburg 1966.

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SOZINIANISMUS

strammer Bibelglaube". 223 Das gilt für F. Sozzini und seine Generation. Bei der zweiten Generation der Sozinianer wird der Übergang zur Aufklärung und zum Deismus immer deutlicher. Das zeigt sich klar am Anfang der 30er Jahre des 17. Jh. in den Traktaten Joachim Stegmanns d. Ält. Crell hatte, nach Abstreifung von Vorbehalten Sozzinis, die Auffassung von der Existenz einer natürlichen Religion ausführlich begründet. Die Vernunft wurde nun zur einzigen Quelle der Religionswahrheit erklärt. Die Offenbarung verlor für den Sozinianismus den Ausschließlichkeitswert. Zur Glaubensnorm müsse man auch — so Stegmann d. Ält. — die sog. natürlichen Gesetze (principia naturalia) zählen, d. h. die Gesetze, die unseren Intellekt und unsere Erkenntnis lenken. Diese Gesetze sind der Bibel übergeordnet. Stegmann unterteilt sie in zwei Arten: Die sog. philosophischen Gesetze (principia philosophica) haben absoluten Wert, sie sind in irdischen wie in göttlichen Dingen allgemein gültig. Wer immer sie zerstören wollte, müßte zuerst die ganze Welt von Grund auf zerstören. Ihre Gültigkeit gründet in der Natur der Sache selbst. Sie bilden daher das wichtigste Kriterium für die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge. Es geht Stegmann um Behauptungen wie: Das Ganze ist größer als der Teil, die Folge kommt nach der Ursache usw. Gleiches gilt für die moralischen Gesetze: Recht steht höher als Unrecht usw. Die Gesetze der zweiten Art sind die „principia theologica". Zu ihnen können jene gezählt werden, die die Konstruktion der natürlichen Religion ermöglichen.224 Stegmanns Grundaussagen greift vierzig Jahre später A. Wiszowaty erneut auf. Die deutsche Übersetzung von Wissowatius' „Religio rationalis" wird an der Wende zum 18. Jh. in Halle/Saale angefertigt und 1703 dort gedruckt. 225 Ogonowski meint, Sozzini habe die Formel „supra rationem" in doppelter Bedeutung gebraucht. „Die erste Bedeutung ist ähnlich der scholastischen, wenn auch nicht identisch mit ihr. Die zweite hingegen ist spezifisch sozinianisch. Die christlichen Wahrheiten supra rationem sind nicht der menschlichen Vernunft unzugängliche Wahrheiten, sondern einfach im Neuen Testament offenbarte Wahrheiten, d. h. solche, die vorher unbekannt waren (oder vielmehr nicht offenbart) und die die Vernunft nie von selbst erkennen würde (so wie man nicht mit alleiniger Hilfe von Überlegungen eine unbekannte Insel entdecken kann), die sie aber mit Hilfe der Offenbarung sofort begreift und anerkennt, da sie ihren Grundsätzen nicht widersprechen." 226 Bei Sozzinis 223 f . Mauthner, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande, Bd. 1, a. a. O., S. 605. 224 J. Stegmann, De Judice a. a. O., S. 1 7 - 1 8 . 225 Vgl. A. Wissowatius, Religio rationalis, seu de rationisiudicio in controversiis etiam theologicis ac religiosis adhibendo tractatus, Amsterlaedami 1684. Poln. Übersetzung mit parallelem lat. Text, in: Biblioteka Klasykow Filozofii, Seria: Pisarzy polscy, Warszawa 1960. Die deutsche Übersetzung in: A. Wissowatius, Religio rationalis trilinguis, hrsg. von Z. Ogonowski, Wolfenbüttel 1982, S. 111—167. 226 Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. 104. — Ogonowski meint (ebenda, S. 102), daß Fock die Funktion des Begriffs „supra rationem" bei den Sozinianern nicht richtig erkannt und gedeutet habe. Dies wohl auch, weil er Stegmanns „De Judice", den Schlüssel zu diesem Problem, nicht kannte. So werden die Sozinianer in dieser Frage von Fock als agnostizistisch beurteilt. Damit werden

S o Z I N I A N I S M U S UND E N G L I S C H E R

DEISMUS

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Nachfolgern werden die Aussagen zu diesem Problem deutlicher. In Crells „De Deo et eius attributis" heißen Geheimnisse jene göttlichen Beschlüsse, die Gott ehemals verborgen hielt und die die menschliche Vernunft von selbst und ohne Gottes Offenbarung nicht entdecken und erkennen kann. Geheimnis heißt aber die Sache selbst, auf die sich jener Beschluß bezieht. Geheimnisse sind ferner die Lehren (doctrinae), mit deren Hilfe später die Männer Gottes seine verborgenen Dinge erklärt haben. Die Bibel kennt viele Geheimnisse, z. B. die von Gott festgelegte Art unserer Erlösung oder die Berufung der Heiden oder die Verklärung der Gläubigen, die zur Zeit der Wiederkunft Christi leben werden (vgl. 1. Kor. 15) u. a. 227 Crell gebraucht, wie wohl Ogonowski erstmalig festgestellt hat, die gleichen Beispiele wie Toland, er versteht die Geheimnisse der Religion ebenso wie Toland. Crell benutzt manchmal noch die alte, scholastische Formel „supra rationem". Mit Stegmann wird der Doppeldeutigkeit dieser Formel ein Ende bereitet. Er postuliert, wie später Toland, das Evangelium enthalte nichts, was über die Vernunft hinausgeht. Der Ausdruck „supra rationem" sei in der christlichen Religion überhaupt nicht angebracht, denn er suggeriere, sie enthalte unbegreifliche Wahrheiten. Das aber stimme nicht. Wohl kann man von manchen christlichen Wahrheiten sagen, daß sie über die Natur hinausgehen (supra naturam), da sie nicht auf natürliche Weise, sondern nur durch die Offenbarung erkennbar sind. Stegmann und Toland motivieren diese Meinung auf die gleiche Weise : „Daß wir viele göttliche Dinge nicht adäquat begreifen, berechtigt nicht dazu, sie über die Vernunft zu stellen, denn viele natürliche Dinge begreifen wir auch nicht adäquat, und doch fällt es keinem ein zu behaupten, sie gingen über die Vernunft hinaus." 228 Als Beweis sei im folgenden der Gedankengang Stegmanns — gekürzt und modernisiert — wiedergegeben.229 Manche christliche Theologen stimmen den Sozinianern darin zu, daß es in der Religion keine der Vernunft widersprechenden Dinge gebe (contra rationem). Sie behaupten jedoch, die Religion enthalte Wahrheiten supra rationem. Diese Theologen gehen entweder völlig an der Wahrheit vorbei, oder ihre Behauptung tangiert im Grunde die sozinianische Auffassung überhaupt nicht. Wollen sie damit sagen, daß die Vernunft nicht fähig wäre, sich die Wahrheiten der christlichen Religion auszudenken, d. h., sie ohne vorherige Erkenntnis der göttlichen Offenbarung zu erkennen, die in der Bibel enthalten ist? Besie nicht zu „Vorläufern" der Deisten, sondern des neueren protestantischen Supranaturalismus. 227 „Dicuntur autem décréta Dei, quae aliquando fuerunt a Deo occultata, & humano ingenio absque revelatione divina investigari a c cognosci non possunt, mysteria, seu secreta. Quanquam & res ipsae a Deo constitutae, sed hominibus occultae, & doctrinae, quibus illae postmodum a divinis viris explicantur, mysteria appellantur. Sic universa salutis nostrae ratio a Deo constituta, sie vocatio Gentium, sie fidelium in adventu Christi superfuturorum, sine morte interveniente transmutatio a Deo décréta, & sententiae de istis rebus propositae, mysteria in sacris litteris dicuntur." (J. Crell, in: J. Völkel, De vera religione, libri V : quibus praefixus est Johannis Crellii Franci liber de Deo et ejus attributis, ita ut unum cum illis opus constituât, Rakow 1630, liber primus, S. 344.) 228 Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. 106. 229 Vgl. J. Stegmann, De Judice, a. a. O., S. 55—56, S. 58. — Die Zusammenfassung folgt Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. 106—108. 27

Wollgast

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haupten sie das, so müßten sie zu dem Ergebnis kommen, daß nicht nur göttliche, sondern auch menschliche, also natürliche Dinge über der Vernunft stehen. Denn die Vernunft kann unmöglich das Wissen über natürliche Dinge aus sich selbst schöpfen. Hierfür sind bestimmte Erfahrungserlebnisse erforderlich," z. B. Sinneserfahrungen oder eine Kenntnis von Naturgesetzen, die man mittelbar durch andere Menschen oder unmittelbar durch die Erfahrung u. ä. erwirbt. Isoliert man ein Kind von anderen Menschen, hört und weiß es nichts von dem, was sich in der Welt vollzieht; es vermag unmöglich, Mathematik, Politik oder eine andere Wissenschaftsdisziplin zu konzipieren. Läßt sich nun behaupten, daß Dinge, die diese Disziplinen lehren, über die Vernunft hinausgehen? Wer würde eine solche Behauptung nicht unsinnig nennen? Die Unmöglichkeit einer Erkenntnis göttlicher Dinge ohne Kenntnis der Bibel kann man also nicht ohne weiteres behaupten, denn viele dieser Dinge, sogar sehr wichtige, können allein mit Hilfe der Vernunft erkannt werden, z. B. daß es Gott gibt oder welches seine Attribute und was unsere Pflichten ihm und unserem Nächsten gegenüber sind. Andere Dinge, die ohne Kenntnis der Bibel unbekannt wären, z. B. Christus oder die Auferstehung der Toten, gehen eher über die Natur (supra naturam) als über die Vernunft (supra rationem) hinaus. Sollte schließlich doch die Vernunft ohne Anlehnung an die Bibel überhaupt kein Urteil in theologischen Auseinandersetzungen abzugeben vermögen (was Stegmann verneint), so würde allein die Tatsache genügen, daß sie dies in Anlehnung an die Kodizes der Bibel doch tun kann. Aber gerade das streiten jene Theologen entschieden ab und versuche.*, den Sozinianern einzureden, daß die Vernunft — selbst wenn sie sich an der Bibel orientiert — heilige Dinge nicht begreifen kann. Handele es sich um das völlige Begreifen und das absolute Erkennen, dann haben sie recht — denn zu einem solchen Begreifen von heiligen Dingen (res divinas) ist der Mensch nicht fähig. Doch mit diesem Argument hält Stegmann seine Auffassungen nicht für widerlegt. Seine Antwort lautet: Welcher Sterbliche vermag in diesem Leben vollkommen und absolut nicht nur göttliche, sondern auch irdische, also natürliche Dinge zu erkennen? Welcher Mensch ist jemals zur absoluten Erkenntnis der natürlichen Dinge gelangt oder wird sie je erlangen? Folgt daraus, daß die Erkenntnis der natürlichen Dinge supra rationem ist? Das ist offenkundiger Unsinn. Ordnen die Theologen hingegen unsere Erkenntnisambitionen in vernünftige Grenzen ein, dann ergibt sich, daß auch göttliche Dinge unbedingt in den Grenzen des rationalen Erkennens liegen und daß die menschliche Vernunft ein ausreichendes Mittel zum Erlangen solcher Erkenntnis und solchen Verstehens von religiösen Wahrheiten ist. Am Schluß dieses Gedankenganges betont Stegmann nochmals: „Man sieht also, die Wahrheiten, an die wir gemäß der Hl.Schrift glauben sollen, stehen weder im Widerspruch zur Vernunft, noch gehen sie über diese hinaus." 230 230

J. Stegmann, De Judice, a. a. O., S. 59: „Patet ergo nec supra nec contra rationem esse, quae in sacris litteris nobis cognoscenda proponuntur . . . " — Toland skizziert den methodischen Weg, den er zu verfolgen gedenkt, so: „. . . erstens zu sehen, was mit Vernunft und ihren Eigenschaften gemeint ist, dann zu untersuchen, ob keine Lehre im Evangelium gegen die Vernunft ist, zuletzt zu beweisen, daß auch nichts Ubervernünftiges darin enthalten und mithin keine dieser Lehren ein Mysterium ist." (J. Toland, Christentum ohne Geheimnisse, a. a. O., S. 69.)

K R I T I K DER O F F E N B A R U N G U N D D E I S M U S

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Die Sozinianer distanzierten sich später allerdings von Stegmanns Auffassungen, und die Formel „supra rationem" erschien wieder in ihren Arbeiten. Aber sie betonten, daß sie sie anders verstünden als die Orthodoxie. Für die Sozinianer kann nur die Vernunft vom göttlichen Ursprung der Offenbarung überzeugen. Dabei ist ihr Anliegen letztlich stets die Reinigung des Christentums. Ihre Haltung zur Offenbarung ist am Ende apologetisch. Aber: „Die Losung, man müsse eben darum an die Offenbarung glauben, weil die Vernunft ihre Wahrheit bewiesen habe, oder, allgemeiner, weil die höchste religiöse Autorität auf Erden die individuelle menschliche Vernunft sei (bei Ausklammerung jeglicher übernatürlicher Inspiration, da sie intersubjektiv unkontrollierbar sei), war eine für die Sozinianer selbst, ähnlich wie übrigens auch für Locke, in hohem Grade mystifizierte Losung, und dennoch hat diese Losung eine überaus wichtige historische Rolle gespielt. Sobald nämlich aus dieser Parole Konsequenzen gezogen wurden, begann ein Prozeß der Verifikation nicht mehr von einzelnen Lehrinhalten, sondern vom Christentum selbst. Die apologetische Haltung gegenüber der Offenbarung verwandelte sich in eine kritische. Und der englische Deismus war eine der wichtigsten Erscheinungen dieses Prozesses. Die Deisten begannen den Kampf gegen die christliche Orthodoxie ähnlich wie die Sozinianer mit der Losung, die Religion mit der Vernunft in Einklang zu bringen, sie vom Aberglauben und von Vorurteilen zu reinigen. Ihr Ausgangspunkt waren die Darlegungen Tolands in .Christianity not Mysterious', die mit den Ansichten der späteren Sozinianer übereinstimmten . . . Darum stellt auch der Deismus in dieser Hinsicht die Fortsetzung des Sozinianismus dar. Das zeigt sich manchmal sogar in der Sprache der Deisten. Tindal — dessen .Christianity as Old as the Creation' (1730) den reifen Deismus repräsentiert — spricht immer die Sprache Stegmanns und Wiszowatys, wenn er die Rolle der Vernunft in der Religion erörtert." 231 Nach Ogonowski muß man, um die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Sozinianismus und Deismus herauszustellen, die Ansichten der Sozinianer und der Deisten auf mindestens vier grundlegende Fragen konzentrieren: „1. auf die Frage der natürlichen Religion; 2. auf den Problemkreis um das Alte Testament; 3. auf das Problem der Humanisierung Gottes; und endlich 4. auf die Ethik. Diese letzte Frage ist . . . den übrigen drei übergeordnet." 232 In bezug auf die natürliche Religion wurden die Sozinianer im Verlaufe des 17. Jh. zwar immer radikaler in ihren Auffassungen, wagten aber nie deutlich zu sagen, daß die Kenntnis des Christentums zur Erlösung nicht notwendig ist. Erst Locke formulierte in seinem Essay „Reasonableness of Christianity" expressis verbis, man könne auch außerhalb des Christentums erlöst werden. Aber auch er weicht noch einer klaren Entscheidung aus und verteidigt die Offenbarung. Sie sei zwar nicht conditio sine qua non für die Erlangung der Erlösung, doch in Anbetracht dessen, daß nur wenige ihrer Autorität entbehren und auf dem schweren Weg der Tugend ohne die Belohnung der Unsterblichkeit ausharren können, für die Menschheit als Ganzes gesehen unentbehrlich. Z. Ogonowski, Der Sozinianismus und die Aufklärung, a. a. O., S. 113—114. 232 Ebenda, S. 114. Die Untersuchung dieser Punkte erfolgt S. 115ff.

231

27*

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V I . 3 . G E G N E R UND W I R K U N G E N DES

SOZINIANISMUS

Die Offenbarung sei zudem Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes. In der Folgezeit tritt dann die Offenbarung immer mehr hinter die natürliche Religion zurück. Man vgl. besonders M. Tindals „Christianity as old as the creation" (1730, deutsch 1741). Bei Tindal ist eigentlich die Offenbarung bereits überflüssig. Allerdings benutzt er — wohl aus taktischen Gründen — noch die Offenbarungshypothese. Die weitere Rationalisierung der Religion im englischen Deismus vollzieht sich durch die Trennung von Altem und Neuem Testament. Nach damaliger Auffassung mußte eine generelle Ablehnung des Alten auch eine solche des Neuen Testaments zur Folge haben, denn die Apostel und Evangelisten hatten sich in Bezug auf Jesus häufig auf das Alte Testament berufen. Wenn man, ausgehend vom sozinianischen Kanon, auch das Alte Testament als Offenbarungsquelle betrachtete, konnten Widersprüche nicht ausbleiben. Im englischen Deismus nimmt dann die Frage der Widersprüchlichkeit zwischen Altem und Neuem Testament großen Raum ein. Der Streit fand — im Gegensatz zu den Sozinianern — coram publico statt. An ihm beteiligten sich z. B. die Nachfolger Newtons auf dem Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge William Whiston, Anthony Collins u. a. Die Deisten suchten das Alte Testament vornehmlich dadurch zu diskreditieren, daß sie seine moralischen Mängel und Barbarismen aufzeigten. Bei Tindal erscheint z. B. David — mit Zitaten aus dem Alten Testament exakt belegt — als ganz gewöhnlicher Schurke. Tindal machte sich lustig über Hes. 4, 12; Jer. 13, 4—6; Hos. 1, 1—3 u. a. E r wollte damit zeigen, daß das Alte Testament nicht Offenbarung Gottes sein könne. Für die Deisten ist das Alte Testament mit der natürlichen Religion unvereinbar. Die Sozinianer suchten Gott ais gerechten und gütigen Herrscher darzustellen. Aber dabei waren sie mit der Anerkennung des Alten Testaments als Quelle der Offenbarung belastet. Dort ist Gott oft grausam, ungerecht, einseitig usw. (vgl. z. B. 1. Sam. 15, 33; 2. Sam. 12, 31). Die Sozinianer suchten diese Grausamkeit, Ungerechtigkeit usw. zu erklären. Der Mensch soll nach Meinung der Sozinianer seine Leidenschaften zügeln, wie der antike Weise leben. Also verlangt die sozinianische Ethik vom Menschen mehr als vom Gott des Alten Testaments. Da die Deisten das Alte Testament ablehnen, wird es ihnen eher möglich, Gott als Inkarnation der Gerechtigkeit und Güte zu bestimmen. Gott ist ewig, unerschütterlich und unveränderlich; ebenso das von ihm stammende und in die Herzen der Menschen eingeprägte Moralgesetz. Daß man so lange „Götzen" (im Sinne auch des Alten Testaments) gefolgt ist, geht auf den Betrug der Priester und die Gedankenlosigkeit der Massen zurück. Gott ist so groß, daß er unserer Anbetung nicht bedarf, sagen die Deisten, z. B. Tindal. Die Achtung, die wir Gott erweisen, ist nur wichtig für die Menschen, nicht für Gott. Unsere Gebete vermögen Gottes Willen nicht zu beeinflussen. In dieser Frage sind die Deisten im Einklang mit dem „mystischen Pantheismus". Die Ethik ist den Sozinianern ein Zentralanliegen. Den moralischen Prinzipien maßen sie einen selbständigen, von der Offenbarung unabhängigen Wert zu. Deshalb feiern sie z. B. überschwenglich die antiken Weisen. Aber ihr Versuch mißlang, die christliche Offenbarung und die davon autonomen moralischen Prinzipien zu vereinbaren. So war es für die Deisten dann theoretisch unhaltbar — und das mußte ja nach den Sozinianern gelten —, daß Jesus gleich-

SOZINIANISCHER RATIONALISMUS U N D A U F K L Ä R U N G

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zeitig zu den würdigsten Weisen gehörte und mit dem jüdischen Messias zu identifizieren war. Hinzu kommt die stoische (orthodox verstandene) Färbung der sozinianischen Ethik. Es war eine stark auf das Jenseits ausgerichtete Ethik. Das steht im Gegensatz zum Denken der Aufklärung. Sozinianismus wie Deismus sahen zwar in der Moral den Kern der Religion. Im Sozinianismus ist die Moral noch nicht völlig von der Offenbarung emanzipiert. Das gelang dem Deismus: Religion und Moral wurden gleichgesetzt, jede doktrinäre Beimischung, die mehr als die Moral forderte, wurde für überflüssig oder gar schädlich erklärt. Die sozinianische Ethik konnte mit Sicherheit die eher hedonistische Ethik der Deisten nicht inspirieren. Deren ethische Ziele waren primär irdisch ausgerichtet. Dies erfolgt aber erst im Verlaufe seiner Entwicklung. In H. von Cherburys 1624 formulierten Grundsätzen des Deismus findet sich dieser Aspekt ebensowenig wie bei den Sozinianern. Cherburys Prinzipien lauten: 1. Anerkennung der Existenz eines höchsten Wesens. 2. Die Pflicht zu seiner Verehrung. 3. Tugend und Frömmigkeit als wichtigste Bestandteile dieser Verehrung (nicht etwa der Gottesdienst). 4. Die Pflicht, die eigenen Sünden zu bereuen. 5. Die göttliche Vergeltung der Tugend und des Lasters im Diesseits und Jenseits23''. Erst für den späteren Deismus gilt: Da Gott in sich selbst unendlich glücklich ist, braucht er die Menschen nicht zu seinem Glück; daher können alle Moralanforderungen allein das Wohl der Menschen — sowohl des Individuums als auch der gesamten Menschheit — und ihr Glück zum Ziel haben. Der Sozinianismus war nur eine der Komponenten, die zum entwickelten Deismus führten. Diese Komponente ist aber ziemlich gewichtig. Es ist ein dringendes Desiderat der Forschung, darzustellen, in welcher Weise der Sozinianismus als Vorstufe dieses Deismus auch in der Entwicklung der deutschen Philosophie eine Rolle spielt. Meines Erachtens erfolgt die Emanzipation der Ethik von der Theologie in Deutschland primär über den Spinozismus. Erst Chr. Wolff prägt den eigenständigen deutschen Deismus. Zuvor erfolgt vor allem eine Rezeption des englischen Deismus, aber auch der Sozinianismus wirkt direkt, wie Johann Gottfried Zeidlers Übersetzung der „Religio rationalis" zeigt. Sozinianische Anregungen wirkten auch im Deismus der deutschen radikalen Aufklärer nach. Sie nahmen in ihrem Kampf gegen die Offenbarungsreligion die verstandesmäßige Argumentation der Sozinianer in veränderter Form wieder auf. Die vielstufige Skala ihrer antidogmatischen Polemik, die von skeptizistischer Anzweiflung bis zu offener Bekämpfung der Dogmen und Sakramente reicht, zeigt immer wieder Anklänge an Themen und Thesen der Sozinianer. Das galt nicht nur für die Ablehnung der Trinität. Auch in der Verwerfung der Lehren der Konfessionskirchen von der Erbsünde, von der Ewigkeit der Höllenstrafen, von der Prädestination und der Unfreiheit des Willens, von der Rechtfertigung allein durch Glauben, von der Kindertaufe und vom Abendmahl sowie in der Kritik an der Liturgie stimmten die deutschen Deisten der Aufklärungszeit mit den Sozinianern weitgehend über233 Vgl. E. Lord Herbert of Cherbury, De veritate. Editio tertia. De causis errorum, De Religione Laici, Parerga, Faks. — Neudr. d. Ausg. London 1645, hg. u. eingel. von G. Gawlick, Stuttgart - Bad Cannstatt 1966, S. 208-226.

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V I . 3 . G E G N E R UND W I R K U N G E N D E S SOZINIANISMUS

ein. Das gilt vor allem für die „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes" von Hermann Samuel Reimarus, von der Lessing 1774 Teile publizierte. Im einzelnen ist dabei oft nicht zu erkennen, ob direkte oder indirekte sozinianische Einwirkung vorliegt oder ob es sich nur um Duplizität der Ideen und der Beweisführung handelt. Es war auch später nicht ungefährlich, sich auf die vielgeschmähten „Sozinianer" als Gewährsleute zu berufen. Daher tat man dies nur selten und mit aller Vorsicht. Öfter wurde ein „ Sozinianer", von dem man gelernt hatte und mit dem man mehr oder weniger übereinstimmte, lediglich in polemischer Form genannt, um überhaupt auf ihn aufmerksam machen zu können. Zeidlers deutsche Übersetzung der „Ratio religionis" erschien unter einem Pseudonym des Übersetzers und dem fingierten Druckort Amsterdam. Vom sozinianischen Ideal der vernünftigen Religion zum radikalaufklärerischen Ziel der reinen Vernunft und Moralreligion war nur ein — allerdings entscheidender — Schritt. Die Verwerfung der Trinitätslehre blieb ein Kernstück der deistischen Dogmenkritik. Kein Wunder daher, daß gegen die Freigeister der deutschen Aufklärung immer wieder Anklage wegen Sozinianismus erhoben worden ist. Dieser Vorwurf traf vielfach, wenngleich zumeist mit minderem Recht, selbst gemäßigte Aufklärer und Vertreter ihrer verschiedenen Fraktionen und Perioden. Wenn ein deutscher Gelehrter, Schriftsteller, Arzt, Lehrer oder Geistlicher der Aufklärungszeit in den Geruch freierer Auffassungen kam, dann hielt die Orthodoxie für ihn sogleich das Fluchwort „Sozinianer" bereit, was soviel bedeuten sollte wie „Gotteslästerer" und „Aufrührer", d. h. Rebell gegen die bestehende Kirchen-und Staatsordnung.23/1 Dabei beziehen sich diese orthodoxen Verdikte, wie wir sahen, bereits schon auf Vertreter der deutschen Philosophie der ersten Hälfte des 17. Jh. Daher die umfängliche Kontroversliteratur. Mühlpfordt zeichnet folgende Linie: „Von Soner und seinen Schülern führt ein direkter Weg zur Altdorfer Frühaufklärung, deren Bedeutung für die Genesis der deutschen Aufklärung nicht gering anzuschlagen ist. Die Altdorfer Frühaufklärung wirkte durch Christoph Sturm u.a. auf Jena und Wittenberg..., auf Leipzig, Berlin und andere Städte der deutschen Frühaufklärung. Ihre Anregungen erreichten Erhard Weigel, das Haupt der Jenaer Frühaufklärung, und sowohl unmittelbar wie über diesen Leibniz und Leipzig, Christian Wolff und Halle. Leibniz promovierte in Altdorf. In Altdorf studierten oder wirkten Medizinprofessoren wie Pankraz Wolff und Lorenz Heister, die dann zu Beginn des 18. Jahrhunderts als radikale Vertreter der aufklärerischen Iatromechanik . . . in Halle und Helmstedt auftraten, der aufgeklärte Berliner Germanist, Slawist und Biologe Leonhard Frisch u. v. a. m. Die Altdorfer Frühaufklärung hat somit beträchtlichen Anteil an der Herausbildung der später führenden mitteldeutschen Aufklärung. Sie ist ein Stück des bereits von Gottsched betonten besonderen Entwicklungsweges der deutschen Aufklärung." 235 Dieser Linie stimme ich zu, wobei für mich die deutsche Frühaufklärung allerdings erst mit Ph. J . Speners „Pia desideria" (1675) und S. Pufendorfs Hauptwerk „De jure naturae et gentium libri octo" (1672) beginnt und etwa mit Chr. Wolfis Vertreibung aus Halle endigt. 234 Vgl. G. Mühlpfordt, Arianische Exulanten als Vorboten der Aufklärung, a. a. O., S. 242. M5 Ebenda, S. 2 3 0 - 2 3 1 .

SIEBENTES KAPITEL

Joachim Jungius 1. Leben und Wirkungsfeld Joachim Jungius wurde am 22. Oktober 1587 in einer Lübecker Professorenfamilie geboren. 1 Im Mai 1606 begann er mit dem Studium der Philosophie in Rostock. Er zeigte sich aber sehr bald von der Metaphysik unbefriedigt und widmete sich daher zusätzlich dem Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften. Im April 1608 setzte Jungius an der Universität Gießen seine Studien fort. Hier erwarb er im Dezember 1608 den Grad eines Magisters der Philosophie. Im November 1609 wurde Jungius an der Universität Gießen Professor für Mathematik. Er lehrte auch Physik, Astronomie, Geographie u. a. Im Jahre 1612 beendete er seine Lehrtätigkeit. Gemeinsam mit Wolfgang Ratke und Christoph Helwig (Helvicus)2 wollte er sich nunmehr ausschließlich der theoretischen Erneuerung der Erziehung und des Unterrichts widmen. Er bekämpfte in dieser Zeit besonders die Vorherrschaft der lateinischen und betonte die Notwendigkeit der Muttersprache. So schreibt er: „Zu dem so ist es auch die lautere warheit / dz alle Künste und Wissenschafften . . . vielleichter / bequemer / richtiger vollkömlicher vnd außführlicher in Teutscher Sprach können gelehret vnd fortgepflantzet werden / weder jemals in Griechischer / Lateinischer oder Arabischer Sprach geschehen ist. Dadurch dann nicht allein die Teutsche Sprach vnnd Nation mercklich gebessert vnd erhaben / sondern auch die Künste vnd Wissenschaften selbst mit newen Erfindungen / Auffmerckungen / Bewehrungen Erörterungen vnsäglich können gemehret / gegründet / befestiget vnd erkleret werden." 3 Zum Lebenslauf vgl. vor allem: M. Vogel, Memoriae Joachimi Jungii, Matematici summi ceteraque incomparabilis Philosophi, Hamburg 1657. — Vgl. auch Joachim Jungius und Moritz Schlick, Materialien zur Tagung des Arbeitskreises „Philosophie — Naturwissenschaft" d. Univ. Rostock anläßl. d. 550-Jahrfeier der Univ. Rostock am з. u. 4. 7. 1969, hg. v. H. P a r t h e y und H. Vogel, Universität Rostock 1969, S. 8—9 ( = Rostocker philosophische Manuskripte, Sonderheft); H. Kangro, Joachim Jungius, in: N D B , Bd. 10, Berlin (West) 1974, S. 6 8 6 - 6 8 9 . 2 Vgl. G. Hohendorf, Wolfgang Ratke, Berlin 1963; G.Hohendorf, Wolfgang R a t k e — streitbarer Humanist und demokratischer Bildungspolitiker an der Schwelle eines neuen Zeitalters, in: Jahrbuch für Erziehungs- und Schulgeschichte, Berlin 12 (1972) S. 1 5 - 2 7 ; Geschichte der Erziehung, 11. Aufl., hg. v. K . - H . Günther и. a., Berlin 1973, S. 1 1 2 - 1 1 9 ; H. Siebeck, Christoph Helwig (Helvicus) als Didaktiker (1607—1617), in: Die Universität Gießen von 1607 bis 1907. Beiträge zu ihrer Geschichte. Festschrift zur dritten Jahrhundertfeier, hg. v. d. Universität Gießen, Bd. 2, Gießen 1907, S. 2 9 3 - 3 2 8 . 3 Chr. Helwig/J. Junge, Kurtzer Bericht von der DIDACTICA Oder Lehr Kunst 1

424

VII.1.

JOACHIM

JUNGIUS

Jungius hat sein Leben lang als Lehrer an Universitäten und Gymnasien gewirkt. Sein Interesse für eine Reform des damaligen Unterrichts ist nicht nur Episode. Es ist bezeichnend, daß seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer aktiven Teilnahme an Ratkes Reformwerk beginnt. Wolfgang Ratke kommt ein Ehrenplatz in der Geschichte des deutschen Bildungswesens zu. Er wurde am 18. 10. 1571 zu Wilster, einem Städtchen unweit der Elbemündung, geboren. Ratke' 1 (Radtke, Rateke, Ratcke, latinisiert Ratichius) besuchte das Johanneum in Hamburg; bis 1598 studierte er Theologie und Philosophie in Rostock, u. a. bei David Chytraeus. Von 1603 bis 1610 hielt er sich in den Niederlanden auf, vornehmlich in Amsterdam. E r beschäftigte sich mit Mathematik, trieb Sprachstudien und entwarf seine Erziehungskunst bzw. Didaktik. Nach Deutschland zurückgekehrt, wollte Ratke in Frankfurt am Main seine neue Pädagogik durchsetzen, fand aber bei der Bürgerschaft keinen Widerhall. In Frankfurt ließ er am 7. Mai 1612 dem Reichstag sein „Memorial" über die Verbesserung des Schulunterrichts nach seiner Methode übergeben. 5 Es sah u. a. einen Unterricht in deutscher Sprache vor. Die erste Fremdsprache sollte Hebräisch, die zweite Griechisch sein, damit die unverfälschte Bibel bekannt werde. Ratke suchte seine Methode nach Ablehnung seiner Pläne durch den Reichstag in Kursachsen und in größeren freien Reichsstädten zu verwirklichen. Da er hier auf Ablehnung stieß, wandte er sich an kleine Reichsfürsten. Unter seiner als revolutionierend dargestellten Didaktik verstand er nicht nur eine Unterrichtslehre, sondern die allgemeine Generalreformation. Dementsprechend waren seine im „Memorial" dargelegten Lehren das Mittel, um zu einer einträchtigen Religion und Sprache in Deutschland zu gelangen. In Gießen lernte er im August 1612 die Professoren Helwig und Jungius kennen. Mit ihnen erreichte er volle Übereinstimmung und machte gemeinsame Arbeitsvorhaben aus. Im September 1612 wurde Ratke an den Weimarer Hof gerufen, um seine neue Lehrkunst zu demonstrieren. E r errang gewisse Erfolge, verließ aber Weimar Mitte Mai 1613 wieder, da er sich gegen den Widerstand der Theologen (und Pädagogen) nicht durchzusetzen vermochte. Mitte Mai 1613 bis Mitte Mai 1614 weilte Ratke erneut in Frankfurt. 'Die ihm vom Weimarer Hof mitgegebenen Empfehlungen brachten ihm nicht die erhoffte Anerkennung. Der Landgraf von Hessen in Darmstadt interessierte sich allerdings für ihn und seine neue Lehrmethode. Jungius war neben Helwig ausersehen, ein Gutachten darüber abzugeben. Beide arbeiteten bald intensiv an Ratkes geplanWolfgang Ratichii . . . Gestellet und ans Liecht gegeben Durch Christophorum Helvicum . . . Und Joachimum Jungium . . . Beyde Professoren zu Giessen . . . 1614; in: W. Ratke, Ratichianische Schriften, Bd. 1. Mit e. Einl. hg. von P. Stötzner, Leipzig 1892, S. 72. * G. Vogt, Das Leben und die pädagogischen Bestrebungen des Wolfgang Ratichius, Abth. 1—4, in: Königliches Gymnasium zu Cassel (Lyceum Fridericianum), Programm, Cassel 1 8 7 6 - 1 8 8 1 . - Belegstelle ebenda, 1. Abth., Cassel 1876, S. 13. Vogt belegt fast jede der von ihm gegebenen Jahreszahlen bzw. Daten zu Ratke mit Archivmaterialien. 5 Abdruck des Memorials, ebenda, S. 9—10; vgl. W. Ratke, Die neue Lehrart. Pädagogische Schriften, eingel. v. G. Hohendorf, Berlin 1957, S. 49—51.

T E I L N A H M E AN R A T K E S

UNTERRICHTSREFORM

425

ten didaktischen Schriften mit. 6 Jungius hatte dabei speziell die Mathematik oder Meßkunst, die Physik, Astronomie, Dialektik und Rhetorik zu bearbeiten. 7 Jungius und Helwig folgten Ratke nach Augsburg, als dieser Frankfurt verließ, um nach einem geeigneten Ort für die Durchsetzung seiner Pläne zu suchen. Seit Mai 1614 war R a t k e in Augsburg. Aber auch hier waren die Widerstände — vor allem seitens der Geistlichkeit — gegen Ratke stark, obwohl seine Methode Erfolg hatte. E r wurde u. a. verdächtigt, Rosenkreuzer zu sein. Jungius überwarf sich mit Ratke und erhob am 9. 1. 1615 die Forderung, „daß an der Spitze des ganzen Unternehmens nicht länger ein einzelner Mann, sondern ein Collegium und Corpus stehe zur Berathung und Beschlußfassung über alles die neue Didaktik betreffende, insbesondere auch über die Beschaffung einer gemeinsamen Bibliothek und Druckerei". 8 Bislang hatten sich Helwig und Jungius in allem Ratke unterordnen müssen, sogar durch verpflichtenden Revers; sie waren Mitarbeiter ohne Entscheidungsrecht. Im April 1615 kam es zum endgültigen Bruch zwischen Helwig und Ratke, ersterer verließ Augsburg. Der Bruch war aber letztlich politisch begründet. F ü r Helwig war R a t k e zu radikal gegen Theologen, Fürsten, Obrigkeit und Herren eingestellt. Jungius folgte Helwig bald darauf und ging zurück nach Lübeck. Im August 1615 verließ R a t k e selbst Augsburg. 9 Noch in Augsburg hatte sich Jungius mit einer deutschen Grammatik oder Sprachkunst, einem deutschen Wörterbuch, einer Analogie der deutschen und lateinischen Sprache, deutschen didaktischen Vokabeln usw. beschäftigt. „Außerdem brachte er in Augsburg seine deutsche Logik zu Stande, ebenso ein deutsches Systema Metaphysicum . . ."10 In Augsburg wohnte Johann Georg Brengger, bekannt als Korrespondent von J . Kepler und G. Galilei. Brengger war Arzt, ein hervorragender Naturwissenschaftler und Rosenkreuzer. Wohlwill nimmt an, daß Jungius mit Brengger in Augsburg zusammengetroffen ist. 1 1 Auf Ratkes weiteren Lebensweg und pädagogisches Wirken soll hier nicht eingegangen werden. E s ist wohl mit Einschränkungen zutreffend, was F . Hofmann über die von Aisted, Chytraeus und Ramus bestimmten Einflüsse schreibt, die zu Ratkes philosophischer Grundhaltung führten und in der er sich Jungius verbunden fühlte: „Erstens waren es die Ergebnisse der bürgerlichen Philosophie in ihrer sensualistisch-empirischen Gestalt, wie sie im Werk Francis Bacons exemplarisch vorhanden waren. Vor allem im Bereich der für Ratkes Didaktik so bedeutsamen Erkenntnistheorie finden sich die Nachwirkungen dieser Übernahmen . . . Zweitens beeinflußten Ratke die Wirkungen des .ethisch-politischen Neustoizismus', die auf seine moralischen und staatsrechtlichen Theorien Einfluß nehmen. Drittens sind die geistigen Einflüsse zu Ebenda, S. 19. — Anfang Juli 1613 war Jungius in Frankfurt angekommen. ' Ebenda, S. 20. — Vgl. M. Vogel, Memoriae Joachimi Jungii . . ., a. a. O., a 3a. « Ebenda, S. 30. Vgl. Landesbibliothek Gotha, Cod. B 829 B, Bl. 2». 9 Ebenda, S. 32, S. 34. - Zu Helwigs Bruch mit Ratke vgl. auch G. Hohendorf, Wolfgang Ratke, a. a. O., S. 4 2 - 4 3 . 10 G. Vogt, Das Leben und die pädagogischen Bestrebungen des Wolfgang Ratichius, a. a. O., S. 35. 11 E . Wohlwill, Joachim Jungius. Festrede zur Feier seines 300. Geburtstages am 22. Oktober 1887. Mit Beiträgen zu Jungius' Biographie und zur Kenntnis seines handsc hriftlichen Nachlasses, Hamburg — Leipzig 1888, S. 50. 6

426

VII.1.

JOACHIM

JUNGIUS

beachten, die von einer Tiefenströmung ausgingen, in der neuplatonisch gefärbte Renaissancephilosophie, ideelle Momente der reformatorischen .Linken', etwa der Mystik, des Spiritualismus oder des . . . Rosenkreutzertums verarbeitet waren. Es ist weitgehend ungeklärt, auf welchen Wegen Wolfgang Ratke zu diesen . . . Lehren kam. Sicher ist jedoch, daß sie für seinen Gedanken einer universellen Harmonie, die tragende Grundlage auch seines pädagogischen Systems, maßgebend wurden." 12 Gerade die späteren Schriften Ratkes, so die „Regentenamtslehre" (um 1631), belegen, daß gesellschaftliche Forderungen und Bestrebungen das Hauptziel seines Lebens bildeten. Die Pädagogik diente ihm dabei als wichtiges Mittel. Im Verzeichnis der ihm gehörigen Bücher finden sich Autoren wie V. Weigel, F. Bacon, J . Althusius, Chr. Besold, L. Valla, J . Sperber, J . Hus, B. Keckermann, J . H. Aisted, P. Ramus, R. Fludd, F. Sozzini, Chr. Ostorodt und die echten Rosenkreuzerschriften.13 Im August 1616 entschloß sich Jungius, nun fast dreißigjährig, erneut ein Studium aufzunehmen, und zwar das der Medizin. Er begann es in Rostock und setzte es ab Herbst 1618 in Padua fort, wo er am 22. 12. 1618 den medizinischen Doktorgrad erwarb. Hatte Jungius in Deutschland — schon im Lübecker Gymnasium — den Ramismus und seine Logik kennengelernt, bereits Suärez und Fonseca studiert, so wurde er in Padua mit den Auffassungen Zabarellas bekannt. Bei dessen Schüler und Nachfolger Cesare Cremonini belegte er 1618/19 naturphilosophische Vorlesungen. Cremonini präsidierte auch bei Jungius' Promotion. Seine Vorlesungen, vorgetragen im Geiste Pomponazzis und Alexander von Aphrodisias', trugen wohl wesentlich zu Jungius' Abkehr vom orthodoxen Aristotelesverständnis bei. Im August 1619 kehrte Jungius nach Rostock zurück. Er lebte einige Jahre ganz seinen Studien und schlug Stellenangebote aus (u. a. als Leibarzt und Mathematiker des Herzogs von Güstrow). Im Jahre 1622 gründete Jungius gemeinsam mit seinen Freunden in Rostock die erste wissenschaft12

13

F. Hofmann, Die Leistung Wolfgang Ratkes im Entwicklungsprozeß einer pädagogischen Wissenschaft, in: Wissenschaftliche Hefte des Pädagogischen Instituts Köthen/Anh., Kothen (1972) 1, S. 62. Vgl. F. Hofmann, Wolfgang Ratkes E n t wurf einer Wissenschafts- und Bildungsreform, in: W. Ratke, Allunterweisung. Schriften zur ßildungs-, Wissenschafts- und Gesellschaftsreform, T. 1, hg. von G. Hohendorf und F . Hofmann, Berlin 1970, S. 9—11. — Dieckhoff versucht eine zusammenfassende Wertung der philosophischen, ökonomischen, juristischen und überhaupt der sozialpolitischen Auffassungen W. Ratkes zu geben (E. Dieckhoff, Uber die politischen und gesellschaftlichen Anschauungen Wolfgang Ratkes unter besonderer Berücksichtigung seiner Regentenamtslehre, Phil. Diss., Päd. Hochschule Potsdam 1968, S. 5 4 - 1 5 6 ) . M. E . wird dabei manches zu stark aus der Sicht der Gegenwart gesehen. Vgl. G. Michel, Die Welt als Schule. Ratke, Comenius und die didaktische Bewegung, Hannover — Berlin (West) — Darmstadt — Dortmund 1978, bes. S. 1 3 - 1 0 1 . E . Dieckhoff, Über die politischen und gesellschaftlichen Anschauungen Wolfgang Ratkes . . ., a. a. O., S. 7 ; J . Müller, Handschriftliche Ratichiana, in: W . Ratke, Allunterweisung, T. 1, a. a. O., S. 65. — Dieckhoffs Versuch, Bezüge zwischen den Sozinianern und Ratkes Auffassungen herzustellen (a. a. O., S. 40—42), erscheint mir nicht hinreichend begründet.

HAMBURGER

REKTORAT

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liehe Gesellschaft Deutschlands und Nordeuropas, die „Societas ereunetica". 14 Adolph Tassius, damals in Rostock, der Lübecker Ratsherr Leonhard Elver, der damalige Rektor der Schule zu Güstrow Sebastian Meier, ein Schüler Sennerts, und Georg Bussius, damals Leibarzt des Herzogs von Holstein— Gottorp, gehörten zu ihren Mitgliedern. Registrator wurde der spätere Rostokker Professor Johannes Klein. Im Programm der „Societas" wurden die Widerlegung der Philosophie der Jesuiten, die Pflege der Mathematik und die Erforschung der Natur als Hauptaufgaben bezeichnet. Wenngleich die Gesellschaft nur wenige Jahre bestand und nur wenig Einfluß ausübte, so sind doch allein das Gründungsdatum wie auch die Zielstellung bemerkenswert. Es sind Ziele, die dann die „Royal Society" verwirklichte und die Leibniz bei seinen Plänen zur Gründung von Akademien vorschwebten. Sowohl Jungius' Akademiegründung als auch die Schweinfurter „Academia Naturae Curiosorum" wurden wohl von der „Accademia dei Lincei" in Rom wie auch von der von G. della Porta Ende des 16. Jh. in Neapel gegründeten „Academia Secretorum Naturae" angeregt. Im Frühjahr 1624 trat Jungius eine ihm vom Rostocker Rat verliehene mathematische Professur an der dortigen Universität an. Aber bereits 1625 wurde er Professor für Medizin in Helmstedt. Noch im gleichen Jahr wirkte er als Arzt in Braunschweig und Wolfenbüttel. Sein häufiger Wechsel des Ortes und damit des Arbeitsplatzes, auch der Tätigkeit, ist in jener Zeit für Bewohner der vom Krieg verheerten Gebiete nicht ungewöhnlich. In diesen Jahren begann auch die von Jungius in Rostock gegründete wissenschaftliche Gesellschaft zu verfallen. Im Jahre 1626 kehrte Jungius erneut als Professor der Mathematik nach Rostock zurück. Am 19. 3. 1629 wurde er in die Doppelstellung des Rektors der klassischen Schule (des Johanneums) wie des Akademischen Gymnasiums in Hamburg berufen. Hamburg hatte um die Mitte des 16. Jh. ca. 20000, bis 1600 etwa die doppelte Zahl Einwohner, und um 1650 liegt die Einwohnerzahl zwischen 50000 und 60000. Für damalige Verhältnisse war Hamburg eine Großstadt. Das ist wahrscheinlich dadurch bedingt, daß Hamburg an einem nach vielen Richtungen ausstrahlenden Fernhandelsplatz lag. Während der bürgerlichen Revolution in den Niederlanden war eine steigende Zahl von Kaufleuten und Handwerkern aus Flandern und Brabant nach Hamburg zugewandert. Wesentlich für Hamburgs Entwicklung war, daß die Stadt im Dreißigjährigen Krieg neutral zu bleiben vermochte. Zwar wurde der Handel durch den Krieg schwer getroffen, der Gewinn aus Kriegslieferungen und der Zustrom von Flüchtlingskapital wirkten sich aber günstig aus.15 Das Hamburger Akademische Gymnasium war faktisch eine Artistenfakultät ohne das Recht der Magisterpromotion. Seine Absolventen konnten sich nach Abschluß des Gymnasiums sogleich an den theologischen, medizinischen und juristischen Fakultäten einschreiben lassen. Das achtklassige Johanneum 14

15

Abdruck der Statuten bei: G. E . Guhrauer, Joachim Jungius und sein Zeitalter. Nebst Goethes Fragmenten über Jungius, Stuttgart — Tübingen 1850, S. 70—72 . Vgl. H. Reincke, Forschungen und Skizzen zur Hamburgischen Geschichte, H a m burg 1951.

428

VII.1.

JOACHIM

JUNGIUS

lehrte dagegen die „fundamenta linguarum et artium logicarum". Seine Schüler konnten nach einer Prüfung ins Gymnasium überwechseln. Die einzige größere von Jungius zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Arbeit, die „Logica H a m b u r gensis", erschien 1638. 1 6 4 0 legte er das R e k t o r a t des J o h a n n e u m s nieder, nicht zuletzt, weil er wegen seiner „ L o g i c a " Anfeindungen ausgesetzt war und als Cryptocalvinist verdächtigt wurde. Deshalb h a t t e er auch beschlossen, weitere Arbeiten zu seinen Lebzeiten nicht mehr herauszugeben. Schon 1 6 3 7 war Jungius — wie Guhrauer belegt — des Atheismus beschuldigt worden; er h a t t e festgestellt, das Neue T e s t a m e n t enthalte kein reines klassisches Griechisch. Dem Gymnasium, an dem Jungius zugleich die Professur für Physik, später auch für Logik bekleidete, stand er als R e k t o r bis zu seinem Tode a m 23. (17.) 9. 1657 vor. w Die bisher ausführlichste und nach wie vor brauchbare Biographie, die Guhrauer über den Universalgelehrten Jungius schrieb, s t a m m t aus dem J a h r e 1850. 1 7 D a r a u s wird bereits deutlich, wie stiefmütterlich Jungius in der F o r 18

17

Zu Jungius' Kontroversen mit der Geistlichkeit vgl.: G. E. Guhrauer, Joachim Jungius und sein Zeitalter, a. a. O., S. 112—113; J . Jungius, Logicae Hamburgensis Additamenta, ed. W. Risse, Göttingen 1977, S. 311—378. — Welche Einschätzung Jungius von seinen Zeitgenossen erfuhr, zeigen Comenius' Reflexionen über den Tod des Jungius in einem Brief an S. Hartlib vom 14. 12. 1657: „Memoriam Jungianam [gemeint ist wohl eine Schrift zu Jungius' Gedächtnis, vielleicht die Gedächtnisrede M. Vogels? — S. W.] legi pietatemque amicorum in defunctum laudo, qui eam sie concinnarunt ut non cum totinchoatis operibus, nullo perfecto, memoria quoque tot conaminum interiret. Ceterum quod addis, si ille nactus fuisset aliquem non interitura fuisse, de eo est cur dubitem. Aderam N.Viro (a vobis digressus a° 1642 aliquot dies, anno autem praeterito aliquot horas) nihil non tentans, ut eum ad suorum perfectionem et editionem permoverem. Offerebatur Uli ex Svecia etiam, me commendante, lautissima provisio, si relicta Hamburgi funetione, seu in Sveciam seu in Pomeraniam secedere, et philosophiae excolendae, totque bene cogitatis et praedelineatis operibus absolvendis, vacare voluisset. Recusavit et oblata sprevit omnia, ut accusandus fuerit aut morositatis aut sui diffidentiae, reliquendusque tandem ipsi sibi. Sed etsi nactus fuisset secessum sub Maecenatum favore, peregissetque inchoata omnia, quid tamen tantopere ad rerum emendationem ea contulissent, ego quidem nondum videre possum. Non quod nesciam acuendis ingeniis Philosophicis ista ejus accuratissima meditata pulchrum habitura fuisse usum, sed quod ad rerum in publico emendandum statum vim non habitura fuisse, certus sum, idque ex eo, quod frustillata erant omnia et partialia, universale lumen non inferentia. Hinc est, quod etiam quae perfecisse videtur ut Logicam Hamburgensem . . . exigui videantur usus paueorumque applausum, nedum admirationem inveniunt, et forte aeque ut alia quae imperfecta reliquit in silentium redibunt. Haec ego liberius ita Te occasionem dante, non ulla invidia (amabam enim virum, et vehementer optassem omnia ejus fuissent absoluta) sed ut in rei veritate sentio pro candore meo quem nosti: Fieri potest ut judicio errem, loqui tamen aliter quam sentio non possum." (Nach: J . Kvaöala, Die pädagogische Reform des Comenius in Deutschland bis zum Ausgange des X V I I . Jahrhunderts, Bd. 1, a. a. O., S. 334.) A. Wiszowaty kam allein deshalb nach Hamburg, um J . Jungius kennenzulernen. G. E. Guhrauer, Joachim Jungius und sein Zeitalter . . ., a. a. O. — Zu Jungius' Schriften vgl. H. Lüdtke-Altona, Joachimi Jungii Lubecensis handschriftlicher Nachlaß in der Bibliothek der Freien und Hansestadt Hamburg. Ein Katalogisierungsversuch, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaft, Leipzig 29 (1937) S. 366—405. Vgl. die Angaben bei M. Vogel, Memoriae Joachimi Jungii . . ., a. ä. O., B lb—C a. Vgl. jetzt: Chr. Meinel, Der handschriftliche

WISSENSCHAFTLICHE

LEISTUNGEN

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schung bisher behandelt wurde. Guhrauer sucht Jungius' Ähnlichkeit mit Bacon nachzuweisen. Gleich diesem kämpfte er gegen die scholastisch-aristotelische Wissenschaft, forderte die Erneuerung der Wissenschaft auf der Grundlage wirklicher Naturbeobachtung und der wissenschaftlichen Induktion. Dabei verwarf er Aristoteles nicht in Bausch und Bogen, sondern suchte das Progressive in seiner Lehre zu erhalten. Gleichzeitig betonte Jungius die hohe Bedeutung der Mathematik für das Studium und die Begründung der Naturwissenschaften. Ihm kommt der von Guhrauer zugesprochene Ehrentitel „Bacon der Deutschen" mit Recht zu. Allerdings merkt Wohlwill an: „Guhrauer hat . . . nirgends Einzelleistungen namhaft gemacht, nirgends den Zusammenhang der Jungiusschen Forschung mit derjenigen großer Vorgänger und Zeitgenossen nachgewiesen, noch dargethan, wie sie den späteren Fortschritt vorbereitet hat oder doch bei rechtzeitiger Veröffentlichung vorzubereiten geeignet gewesen wäre. Er redet von Gesetzen, die Jungius entdeckt, von seinen Erfindungen, aber wir erfahren nichts vom Inhalt der Gesetze, nichts vom Gegenstand der Erfindungen." 18 Im Jahre 1691 vernichtete ein Brand in Hamburg einen großen Teil des JungiusNachlasses. Aber das Erhaltene —heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg aufbewahrt und seit Wohlwill z. T., seit Chr. Meinel weitgehend erschlossen — reicht aus, um Guhrauers Urteil genauer zu belegen. Jungius bewies „gegen Galilei, daß die Kettenlinie keine Parabel ist. Sätze der seit Simon Stevin modernen Hydrostatik und Theoreme der Statik führte er auf eine geringere Anzahl von Hypothesen zurück, als sie bislang bestanden. In der Astronomie stellte er einen verbesserten Fixsternkatalog zusammen, vereinfachte die stereographische Projektion auf geographisch bezogenen Sternkarten und beobachtete den von David Fabricius entdeckten veränderlichen Stern mira ceti systematisch." 19 33 der von Jungius abgehaltenen und dann gedruckten Disputationen wurden m. W. bisher ermittelt. Die zahlreichen, von Jungius im Manuskript hinterlassenen Werke sollten nach seinem testamentarischen Willen von den Nutznießern seines beträchtlichen Vermögens herausgegeben und weitergeführt werden. Es wurden aber lediglich veröffentlicht: 1662 die „Doxoscopiae physicae minores" durch Martin Vogel; 1678 die „Isagoge phytoscopica" und die „Harmonica", 1689 die „Mineralia" und 1691 die „Historia vermium" durch Johannes Vagetius sowie 1689 die „Phoronomica" durch Heinrich Sivers. Einige dieser Publikationen sind über Gebühr vom Herausgeber geprägt, so etwa die „Mineralia". Erst 1977 wurden die „Additamenta" zur „Logica Hamburgensis"

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Nachlaß von Joachim Jungius in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Katalog; bearb. v o n Chr. Meinel, Stuttgart 1984. E. Wohlwill, Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der Naturwissenschaft in Hamburg, in: Abhandl. a u i dem Gebiete der Naturwissenschaften, Hamburg 10 (1887) 2. Beitrag, S. 5. — Auch E. Zeller (Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz, München 1873, S. 78—79) sieht Jungius vornehmlich auf Bacons Spuren wandelnd, schließt jedoch auch Einflüsse Descartes' nicht aus. Die Einschätzung hat sich, wie noch zu zeigen sein wird, bestätigt. H. Kangro, Joachim Jungius, in: N D B , a. a. O., S. 687.

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JUNGIUS

und 1982 die „Praelectiones Physicae" textkritisch ediert. Eine Ausgabe von Jungius' Hamburger Disputationen soll folgen. Schon in seiner Antrittsrede in Gießen (1609) nennt Jungius Aristoteles nicht, bezeichnet dagegen Demokrit als „verehrungswürdig in den physischen Wissenschaften". 20 In seiner Gießener Zeit beschäftigt sich Jungius eingehend mit der antiken Atomistik, ebenso während seines Studiums der Medizin in Padua. 21 Lewis White Beck sieht in Jungius den bedeutendsten deutschen Philosophen des 17. Jh., der sich mit Problemen der Chemie beschäftigt hat. „Jungius was a significant figure for two reasons. First, he opposed schblastic logic in favor of a theory—the roots of which grew in Italy—of logic as a tool of research and not solely as a reflection of metaphysics; as a propaedeutic art, not as a science cognate with metaphysics. And second, his atomic theory was, after that of Robert Boyle, the most advanced of his time." 2 2 Ernst Cassirer erinnert daran, 23 daß Leibniz sich nur einem deutschen Denker, Jungius, wahrhaft verwandt fühlte. Wo immer er die Arbeiten von Jungius erwähnt, vergleicht er ihn mit den bedeutendsten europäischen Wissenschaftlern seiner Zeit, ja, mit den großen Denkern der Antike. In einer Notiz vom Jahre 1678 wird Jungius nicht nur als einer der größten Mathematiker und Philosophen seiner Zeit, sondern auch als einer der bedeutendsten Köpfe, die Deutschland jemals hervorgebracht habe, bezeichnet.24 Noch umfassender ist das Lob, das Leibniz in einer Abhandlung zur Grundlegung der „Characteristica universalis" Jungius zollt : „Unter allen, die jemals die wahre Kunst des Beweises in Angriff genommen haben, kenne ich keinen, der tiefer in diesen Gegenstand eingedrungen wäre als Joachim Jungius aus Lübeck. Ihn darf ich hier umso weniger übergehen, als sein Verdienst, so viel ich sehe, nirgend Zit. nach: E . Wohlwill, Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im 17. Jahrhundert, a. a. O., S. 14. 21 Nach: ebenda, S. 15, S. 16. 22 L. W. Beck, Early German Philosophy. Kant and his Predecessors, a. a. O., p. 176. 23 E . Cassirer, Leibniz und Jungius, in: Beiträge zur Jungius-Forschung. Prolegomena zu der von der Hamburgischen Universität beschlossenen Ausgabe der Werke von Joachim Jungius (1587—1657). Im Auftrage der Jungius-Kommission hg. von A. Meyer, Hamburg 1929, S. 22. - Die gleiche Arbeit enthält (S. 88-93) den Versuch einer Jungius-Bibliographie bis zum Jahre 1929, besorgt von J . Lemcke. Sie erfaßt 29 Titel. Unter den größeren älteren Arbeiten werden genannt: R. Chr. B . Avé-Lallemant, Des Dr. Joachim Jungius' aus Lübeck Briefwechsel mit seinen Schülern und Freunden, a. a. O. ; ders., Das Leben des Dr. med. Joachim Jungius aus Lübeck 1587-1657, Breslau 1882. 24 „Harmonica et Phytoscopica Scripta Posthuma Joachimi Jungii. Hamburg. 1678. Ce Iungius estoit sans contredit un des plus grands Mathématiciens & Philosophes de son temps & un des plus habiles hommes que l'Allemagne ait jamais eu. Il y a pourtant esté peu connu pendant sa vie, & beaucoup moins ailleurs, parce qu'il n'a jamais voulu rien publier de son vivant, ne pouvant pas se contenter soy même sur ses propres Ouvrages. Quand nous aurons reçu ce livre de Hambourg, où il doit estrepublié, nous ferons part dece qu'il contient." Le Journal des Sçavans pourl'anne'e 1678, Paris 1678, Nr. 29 vom 22. 8., S. 364. (Nouv. ed Paris 1724). Vom Nov. 1692 bis 1698 führte Leibniz einen Briefwechsel mit dem Hamburger Mathematiker Augustin Vagetius wie schon 1678/9 mit dem Hamburger Prof. der Logik und Metaphysik Johann Vaget über den Nachlaß von Jungius. (Vgl. K. Müller / G. Krönert, Leben und Werk von G. W.Leibniz. Eine Chronik, Frankfurt/M. 1969, S. 119; G . W . Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, Rhe. 2, Bd. 1, a. a. O., Brief 180 ; 200; 211 ; 218.)

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G O E T H E S E I N D R U C K VON J U N G I U S

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nach Gebühr anerkannt worden ist. Und doch besaß Deutschland zu seiner Zeit, nach Kepler, kaum einen einzigen Mann, den es gleich ihm Galilei und Descartes hätte gegenüberstellen können. Wäre es ihm vergönnt gewesen, seine Gedanken zu vollenden, so hätte er uns vieles gegeben, was für die Begründung einer streng wissenschaftlichen, beweiskräftigen Philosophie von größtem Nutzen gewesen wäre. Denn mit bewunderungswürdigem Eifer und Fleiß hatte er die Verschiedenheit der Begriffe erforscht und eine Zergliederung der Beweisformen begründet, die sich von der herkömmlichen weit unterscheidet. Auch war er nicht nur mit allen Teilen der Gelehrsamkeit, sondern auch mit dem Innern der Mathematik in einer Weise vertraut, die fast über das Verständnis seiner Zeit und des Ortes, den ihm Geburt und Schicksal zugewiesen hatten, hinausging . . . Aber allzu lange hatte er den Kampf gegen Gespenster, d. h. den Kampf gegen die Nichtigkeiten der Vulgärphilosophie zu führen, die er gelegentlich vortrefflich gegeißelt hat. Wäre er zu einer Zeit geboren, in der die Dunkelheit schon verscheucht war; — hätte er seine ganze Kraft auf die Erforschung der Sachen selbst verwenden können, so hätte er ohne Zweifel den höchsten Preis in der Wissenschaft davongetragen. Aber er war schon alt und seine Kraft war gebrochen, als die Schriften Galileis und Descartes' in Deutschland bekannt zu werden begannen."25 J. W. Goethe war durch die damals sehr bekannten Botaniker Augustin Pyrame de Candolle und Karl Ludwig Willdenow auf J. Jungius' Arbeiten zur Botanik aufmerksam gemacht worden. Er nahm die Hinweise zum Anlaß, um sich näher mit Jungius zu beschäftigen und schrieb seine Gedanken 1828 „zu einstweiligem Gedächtniß" nieder. Goethe erkennt : „Die guten Köpfe der damaligen Zeit fanden sich auf einem Scheidepuncte, wo die Frage war: ob sie in der bisherigen Verwirrung, wo hauptsächlich die Worte und Wendungen gegolten, wo der menschliche Geist sich in sich selbst in allen seinen innern Bezügen abgemüdet, gleichfalls Meister werden, oder ob sie jene Geistesübungen und Fertigkeiten zu der Natur, zu der Erfahrung hinwenden wollten."26 Jungius habe sich zu letzterem entschlossen. Allerdings habe G. W. Leibniz, Opuscules et fragments inédits, publ. par L. Couturat, Paris 1903, S. 345. — Hier sei das Urteil hinzugefügt, das Leibniz in einer anderen Abhandlung zur „Characteristica generalis" über Jungius gefällt hat. „Tres . . . Viros maxime miror ad tantam rem non accessisse, Aristotelem, Joachimum Jungium et Renatum Cartesium. Aristoteles enim, cum Organon et Metaphysica scriberet, notionum intima magno ingenio rimatus est. Joachimus Jungius Lubecensis vir est paucis notus etiam in ipsa Germania, sed tanto fiuit judicio et capacitate animi tam late patente, ut nesciam an a quoquam mortalium, ipso etiam Cartesio non excepto, potuerit rectius expectari restauratio magna scientiarum, si vir ille aut cognitus aut adjutus fuisset. Erat autem jam senex cum inciperet florere Cartesius, ut dolendum admodum sit nullam ipsis inter se notitiam intercessisse." G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 7, hg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1890, S. 186. - Für Leibniz ist Jungius „einer der bedeutendsten Männer seiner Zeit" (G. W. Leibniz, Die Theodizee, neu übers, und mit Einl. . . . versehen von A. Buchenau, Leipzig 1925, S. 268 [11,213]). Zu Leibniz' nachdrücklichen Bemühungen um Jungius' Nachlaß vgl. : K. Moll, Der junge Leibniz, Bd. 2, a. a. O., S. 60-63. 26 J. W. Goethe, Leben und Verdienste des Doctor Joachim Jungius, Rector zu Hamburg, in: J. W. v. Goethe, Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie v. Sachsen, Abt. II : Naturwissenschaftliche Schriften, Bd. 7 : Zur Morphologie, T. 2, Weimar 1892, S. 106.

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JUNGIUS

er auch die erstere Richtung meisterhaft beherrscht, wovon die „Logica Hamburgensis" Zeugnis ablege. 2 7 U n t e r den Arbeiten Jungius', die p o s t u m erschienen, r ü h m t Goethe die „Doxoscopiae P h y s i c a e minores" sowie die „Historia V e r m i u m " . Besonders aber verweist er auf die „Isagoge phytoscopica", das „Heft der botanischen Grundlehre", des Jungius. 2 8 Goethe bedauert, daß sich die Idee der Metamorphose der Pflanze hier nicht finde, sagt a b e r auch, daß sie sich zu dieser Zeit noch g a r nicht finden konnte. E r würdigt das botanische W e r k von J u n g i u s : „Nun darf ich sagen, d a ß ich die Werke des vortrefflichen Mannes . . . auf's genaueste durchstudirt und mich in den S t a n d gesetzt habe, von ihm und seinen schätzenswerthen B e m ü h u n gen genaue R e c h e n s c h a f t zu geben. Hier t r i t t nun aber gerade der Fall ein, daß er als ein wahrer, löblicher, die Einzelnheiten wohl unterscheidender N a turforscher eine wohlgeordnete B o t a n i k zu gründen v e r s t e h t . . , " 2 9 Gleichzeitig kritisiert Goethe aber eine gewisse E n g e in Jungius' botanischer B e t r a c h tungsweise ; er beobachtet „in der N a t u r die Erscheinungen an sich selbst auf's genauste, aber m a n sieht nicht, daß er zu einer höheren Ansicht irgend Anlage gefühlt h ä t t e " . 3 0 Dennoch wäre auch die B o t a n i k „beschleunigt" und früher zu Hier untertreibt Goethe. Diese Logik leistet bedeutend mehr als die klassische formale Schullogik. Vgl.: K. Berka, Die Logica Hamburgensis des Joachim Jungius, in: Rostocker philosophische Manuskripte, Rostock 8(1970) 2, S. 73—100. Vgl. W. Risse, in: J . Jungius, Logicae Hamburgensis Additamenta, a. a. O., S. 7: „Die unter Gebühr geringe Beachtung der Jungiusschen Logik ist wohl hauptsächlich darin begründet, daß er einen von allen damals herrschenden Schulmeinungen abweichenden Weg einschlug, also weder der Wittenberger Schule der Melanchthonianer, noch der peripatetischen der Zabarellisten, noch der vorwiegend calvinistischen Schule der Ramisten, noch der Schule der vorwiegend spanischen Neuscholastiker folgte. Das gilt auch . . ., weil er . . . eine neue, von seinen Zeitgenossen nicht recht verstandene Nomenklatur schuf." Von 889 Titeln der Bibliothek Jungius' — der postum erstellte Katalog blieb erhalten — gehören 68 bzw. 93 der Logik an, 315 Titel der Mathematik nebst der Astronomie, 108 Titel der Naturwissenschaft einschließlich Medizin, dazu kommen 92 Titel zur Physica peripatetica (ebenda, S. 10). — I. J . M. Bochenski bezeichnete Jungius' „Logica Hamburgensis" als viel besser und inhaltsreicher als die 1662 erschienene sog. Logique du Port Royale von P. Nicole und A. Arnauld und Jungius selbst als einen der besten Logiker des 17. J h . (I. J . M. BocheAski, Formale Logik, Freiburg — München 1956, S. 300—301). Zurückhaltender: W. Risse, Die Logik der Neuzeit, Bd. 1, a. a. O., S. 509, S. 521-530. Heitsch und Parthey meinen, mit seinen Untersuchungen zur Aussagenlogik reihe sich Jungius „unter die großen Logiker des Mittelalters [sie! — S. W.] ein, aber mit seiner Begründung der Relationslogik eilte Jungius seinen Zeitgenossen voraus bis zur Entstehung der modernen Logik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (W. Heitsch/ H. Parthey, Das philosophische Wirken des Joachim Jungius — Thesen, in: Rostocker philosophische Manuskripte, Rostock 8 (1970) 1, S. 8—9). Die „Additamenta" enthalten Fragment gebliebene Notizen von Jungius zu logischen Problemen, erläuternde Schriften von Jungius' Schülern und Streitschriften zwischen Scharfius und Jungius. Letztere beschäftigen sich u. a. mit Jungius' Feststellung, das Griechisch des Neuen Testaments enthalte sprachliche Barbarismen. Ergänzt wird die Edition durch eine Zusammenstellung Leibnizischer Bemerkungen zu Jungius (S. 379-385). 28 J . W. Goethe, Leben und Verdienste des Doctor Joachim Jungius, a. a. O., S. 112 bis 114. 2» Ebenda, S. 115-116. so Ebenda, S. 116. 27

GOETHES

EINDRUCK

VON

JUNGIUS

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ihrem Zweck gekommen, wenn man Jungius' Ideen gefolgt wäre. 31 Hier überschätzt Goethe offenbar die Möglichkeiten des Einzelnen für die Entwicklung einer Wissenschaft. Friedrich Engels stellt für die Periode, in der Joachim Jungius wirkte, fest: „Endlich im Gebiet der Biologie war man noch wesentlich beschäftigt mit der Sammlung und ersten Sichtung des ungeheuren Stoffs, sowohl des botanischen und zoologischen wie des anatomischen und eigentlich physiologischen." 32 (Daß diese Sichtung bereits durchaus zur Klassifizierung und Theorienbildung führte, ist in Kap. I I betont worden. Vorherrschend muß aber unter diesen Bedingungen die metaphysische Deutung der Ergebnisse bleiben.) Jungius' Verdienste auf dem Gebiete der Botanik sind respektabel. Walther Mevius bezeichnet Jungius — neben Cesalpin — als einen der Begründer der Morphologie.33 Schon Albert Wigand hat 1846 darauf verwiesen, daß Jungius wohl als erster erkannt hat, daß der blattförmige Stengel einer Opuntia kein Blatt sein kann, da für das Blatt ein begrenztes Wachstum charakteristisch ist, das der Opuntia fehlt. 34 Auch beschreibt Jungius klar die Veränderungen der Stammblätter mit zunehmendem Abstand vom Boden. I m Gegensatz zu Cesalpin betrachtet Jungius nicht den Wurzelhals der Pflanze als besonderes Organ und Sitz der Seele. Wohl als erster hat Jungius auch erkannt, daß bei den Köpfchenblütlern die sog. Blüte einen ganzen Blütenstand darstellt. Anhand der verschiedenen Blütenformen unterscheidet er schon die Familien der Compositen, der Labiaten und der Leguminosen. Nach Julius von Sachs besteht Jungius' Hauptverdienst in der Botanik darin, daß er uns über Cesalpin hinaus eine Morphologie hinterlassen hat, die er, soweit irgend möglich, von allen nicht bewiesenen physiologischen Deutungen frei hielt. 35 F. W . Oliver bezeichnet Jungius' „Isagoge" „als die am meisten philosophische Behandlung der Pflanzen seit Aristoteles" und als „Grundlage, worauf das ganze Gebäude der pflanzlichen Morphologie und der beschreibenden Botanik errichtet wurde". 36 In allen im 19. und 20. Jh. erschienenen Werken zur Geschichte der Botanik wird Jungius ein ehrenvoller Platz eingeräumt.37 Ebenda, S. 118. — J. Schuster (Jungius* Botanik als Verdienst und Schicksal. Ein Beitrag zur Geschichte der deskriptiven Naturwissenschaft, in: Beiträge zur Jungius-Forschung, a. a. O., S. 27—50) geht auf Jungius' botanische Leistungen selbst nur vage ein. 32 F. Engels, Dialektik der Natur, in: M E W , Bd. 20, a. a. O., S. 314. 33 W . Mevius, Der Botaniker Joachim Jungius und das Urteil der Nachwelt, in: Die Entfaltung der Wissenschaft. Zum Gedenken an Joachim Jungius. Vorträge, gehalten auf der Tagung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften, Hamburg, am 31. Oktober/1. November 1957 aus Anlaß der 300. Wiederkehr des Todestages von Joachim Jungius, Hamburg 1957, S. 70; vgl. auch: J. H. S.Green, Joachim Jung (1587-1657), in: Nature, London 180 (1957) S. 570-571. 34 A. Wigand, Kritik und Geschichte der Lehre von der Metamorphose der Pflanze, Leipzig 1846, S. 24. 35 Vgl. J. von Sachs, Geschichte der Botanik, München 1875, S. 63-65. 36 F. W . Oliver, Makers of British Botany, a collection of biographies by living botanists, Cambridge 1913, S. 15, S. 35. 37 Vgl. K . Sprengel, Geschichte der Botanik, T. 2, Altenburg und Leipzig 1818, S. 27 bis 29; E. Winckler, Geschichte der Botanik, Frankfurt/M. 1854, S. 126-127; 31

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Wollgast

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JUNGIUS

Jungius war eine in seiner Zeit sehr bekannte Persönlichkeit. Nach Wohlwill besaß die Hamburger Stadtbibliothek aus seinem Nachlaß ein Exemplar der Keplerschen „Tabulae Rudolphinae", in dem unter das Titelbild von Keplers Hand geschrieben war: , Clarissimo viro D. Joachimo Jungio Academiae Rostochiensis mathematico celeberrimo hoc exemplar Tabularum aere Amplissimi Consulis D. Joannis Luttermanni comparatum dddt. Jo. Keplerus." 38 Zu Jungius' Bekannten zählte auch Joachim Morsius, der hier genannt werden soll, weil er die Brücke zu den Rosenkreuzern schlägt. Jungius wurde schon zu Lebzeiten (und auch später) verdächtigt, er habe die Bewegung der Rosenkreuzer ins Leben gerufen. Joachim Morsius wurde am 3. Januar 1593 als Sohn eines Hamburger Goldschmiedemeisters geboren. Im April 1610 ließ er sich in Rostock immatrikulieren. 1611 setzte er sein Studium in Leiden, dann in Jena und Leipzig fort. Von 1615 bis 1618 war er Bibliothekar an der neugegründeten Rostocker Universitätsbibliothek. Schon während seiner Universitätszeit hatte er bekannte und weit offene Gelehrte kennengelernt; J . Jungius gehörte zu seinen Lehrern. 1618 begab sich Morsius nach Leiden, nahm an der Dordrechter Synode als Zuschauer teil und publizierte philologische, aber auch schon naturphilosophisch-alchemistische Arbeiten. Im Jahre 1619 hielt er sich in England auf, wo er u. a. John Richardson, Ben Jonson, William Camden und John Owen kennenlernte und in Cambridge die Magisterwürde erwarb. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland (Juni 1620) beschäftigte ihn vor allem Naturphilosophie, Alchemie und die Generalreformation. Er wurde Anhänger der vermeintlichen Rosenkreuzergesellschaft. Schon 1617 hatte er einen offenen Brief an die Rosenkreuzer geschrieben.39 Er bittet darin um Aufnahme in die Gesellschaft und erhofft sich dadurch Befreiung von seinen Zweifeln. Nach 1620 setzt er seine naturphilosophischen Bestrebungen — auf der Basis von Grundgedanken der Rosenkreuzer — fort. Dem Medizin-, besser Chemieprofessor Heinrich Nollius zu Gießen widmete er einige von ihm herausgegebene Schriften des englischen Alchemisten Cornelius Drebbel. 40 In der

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K. Jessen, Botanik der Gegenwart und Vorzeit in culturhistorischer Entwicklung, Leipzig 1864, S. 215—222; E . Rädl, Geschichte der biologischen Theorien in der Neuzeit, T. 1, 2. Aufl., Leipzig 1913, S. 126; E . Nordenskiöld, Die Geschichte der Biologie, J e n a 1926, S. 197—198; K. Mägdefrau, Geschichte der Botanik. Leben und Leistung großer Forscher, a. a. O., S. 41—43; Geschichte der Biologie, hg. von I. Jahn, R. Löther, K. Senglaub, a. a. O., S. 181. E . Wohlwill, Joachim Jungius. Festrede, a. a. O., S. 56. — Zur Freundschaft zwischen Jungius und Comenius vgl. M. Blekastad, Comenius, a. a. O., S. 254—255, S. 340 u. a. Anastasii Philareti (d. i. J . Morsius), Cosmopolitae Epistola Sapientissimae F R C Remissa. Einer achts; Der ander Verachts, W a s machts? Mundus regitur opinionibus Cum nusquam in sacris legamus Christum quamvis multa ejus annotata sint miracula ex stulto fecisse sapientem. Wer wollte sich den dessen Unterstehen. Crede mihi bene qui latuit bene vixit, Philadelphia: Harpocrates [o. J], C. Drebbel, Tractatus duo: Prior de natura elementorum . . . Posterior de quinta essentia . . . Editi curä Joachimi Morsii. Accedit ejusdem epistola ad sapientissimum Britanniae Monarcham Jacobum, de perpetui mobilis inventione, Hamburg 1621.

JOACHIM MORSIUS

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Dedikation betont er, mit seinen Studien der Jurisprudenz, Philologie und Geschichte nun doch die genaue Kenntnis der Natur und der hermetischen Medizin verbinden zu wollen. Er sei in England durch Robert Fludd auf die Rosenkreuzer hingewiesen worden.41 Er traf noch 1620 mit H. Nollius zusammen, gab dessen „Via sapientiae triuna" heraus 42 und trat in den folgenden Jahren in einen regen Austausch mit gleich und ähnlich Denkenden. 1623 wurden er und Leonhard Elver, ein enger Freund von Jungius, zu Lübeck mit Johann Staricius und dem Glogauer Arzt Balthasar Walter bekannt. Diese wiederum wiesen Morsius auf J. Böhme und A. von Franckenberg hin. Den Brief Böhmes an Morsius vom 20. 4. 1624 haben wir bereits erwähnt. 1624 finden wir Morsius in Schweden, danach in Niedersachsen, vorwiegend aber in Hamburg. Zum umfangreichen Bekanntenkreis Morsius' gehörten J. V. Andreae, J. H. Aisted, Johann Angelius Werdenhagen (er gab 1628 Gedichte der A. Ovenna Hoyers heraus) und auch J. Arndt. Letzterer hatte schon 1620 ein Lobgedicht auf Morsius geschrieben.43 Andreae übergab 1629 Morsius zur Verteilung an dessen Freunde die schon 1619 bzw. 1620 entstandenen SozietätsSchriften „Christianae societatis imagoCidea)" und „Christiani amoris dextera porrecta". In Straßburg nahm Morsius 1629/30 auch Verbindungen zu M. Bernegger auf.441633 war Morsius wieder in Lübeck. Ein Gehilfe des Amsterdamer Buchhändlers Johann Jansson hatte gerade Paul Felgenhauers Hauptschrift „Geheimnis vom Tempel des Herrn" 45 und oppositionelle Schriften der „Weigelianer" Teting und Lohmann sowie die „Treuherzige Bußposaune" des Regensburgers Christoph Andreae Raselius46 in Lübeck verbreitet. Raselius hatte sich länger 41

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Vgl. H. Schneider, J o a c h i m Morsius u n d sein Kreis. Zur Geistesgeschichte des 17. J a h r h u n d e r t s , L ü b e c k 1929, S. 35. — Z u m Leben Morsius' vgl. a u c h : Chr. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexikon, T. 3, Leipzig 1751, Sp. 690—691. H . Nollius, Via sapientiae t r i u n a . E d i t a a b A n a s t a s i o P h i l a r e t o Cosmopolita [i. e. J. Morsius], L ü n e b u r g 1620. H . Schneider, J o a c h i m Morsius u n d sein Kreis, a. a. O., S. 45. — D a s G e d i c h t f i n det sich i n : A. v o n Suchten, T r a c t a t u s de v e r a Medicina. E d i t u s c u r ä J o a c h i m i Morsii. H a m b u r g i 1621. N i c h t m e h r e n t h a l t e n ist es i n d e r A u s g a b e : A. v o n Sucht e n , Eines w a h r e n Philosophi u n d der A r t z n e y e n D o c t o r i s Chymische S c h r i f f t e n / soviel derer v o r h a n d e n / zum ersten Mahl z u s a m m e n g e d r u c k t . . ., F r a n k f u r t / M . 1670 (vgl. S. 458-460). E b e n d a , S. 47. P. Felgenhauer, Das Geheymnus von dem T e m p e l des H e r r n / in seinem Vorhof / Heyligen u n d Allerheyligsten, T. 1—3, [o. O.] 1634. — Vgl. zum ff. a u s f ü h r l i c h : L. Heller, Nikolaus H u n n i u s . Sein Leben u n d W i r k e n . E i n B e i t r a g zur Kirchengeschichte des siebzehnten J a h r h u n d e r t s , L ü b e c k 1843, S. 63—80. Chr. A. Raselius, Treuherzige B u ß p o s a u n e in diesem Büchlein z u m w a h r e n E r k ä n t n u ß des grossen G e h e i m n u ß Gottes / Christi u n d seines Geistes . . ., [o. O.] 1631; Chr. A. Raselius, Trewherzige B u ß p o s a u n e / angeblasen über ein sehr d e n c k w ü r d i g e zur zeit K a y s e r s Ludowici . . . vor 300. J a h r e n / A n n o 1332. geschehene P r o p h e c e y h u n g v o m j t z t u n d z u k ü n f f t i g e n Zustand des T e u t s c h l a n d / K a y s e r t h u m b s / u n d a n d e r S t ä n d e . . ., [o. O.] 1632; Chr. A. Raselius, S o n d e r b a r e trewhertzige Gegen d a s Newe J a h r angeblasene B ü ß P o s a u n e / u n d E r m a h n u n g zur newen G e b u r t h / An etliche u n a c h t s a m e Prediger u n d Zuhörer . . ., [o. O.] 1632. Die a u s f ü h r l i c h e n Titel der g e n a n n t e n W e r k e f i n d e n wir im 1. Register der S c h r i f t : A u ß f ü h r l i c h e r Ber i c h t Von Der Newen P r o p h e t e n / (die sich E r l e u c h t e t e / G O t t e s g e l e h r t e / u n d Theosophos nennen) Religion / Lehr und Glauben / . . . Gestellet D u r c h D a s Prediga m p t der Christlichen Gemein zu Lübeck / H a m b u r g / u n d L ü n e b u r g . . ., L ü b e c k

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V I I . 1 . JOACHIM JUNGIUS

in Lübeck aufgehalten, und der Rat war schon gegen ihn vorgegangen. Neben Elver wurde auch Morsius in die Angelegenheit hineingezogen.47 Durch die Untersuchung wurde eine „antischwärmerische" Schrift des Lübecker Rates veranlaßt. Morsius wird vorgeworfen, der Rat habe schon 1624 Ärger mit ihm gehabt. Man habe ihm damals „ein Zauberisches Buch" abgenommen, die Drucklegung eines Werkes „Morgenröte der Väter" („ein böses fanaticum scriptum") gerade noch verhindern können. Morsius habe auch Böhmes „Weg zu Christo" besessen. Jetzt machte man Morsius u. a. die Freundschaft mit Raselius zum Vorwurf. Ein späteres Verhör eines der Mitbeschuldigten, des Lübeckers Paul Wessel, bestätigte den näheren Verkehr des Joach. Morsius mit den übrigen Verdächtigen: außer Wessel ein Johannes Tanckmar, ebenfalls aus Lübeck, und Leonhard Elver, der Freund des Jungius und Mitglied seiner ereunetischen Gesellschaft zu Rostock, den Jakob Böhme in seinem „Weg zu Christo" zu seinen vertrautesten Anhängern zählte; ihm unterstellte man, er habe den Raselius zu Wessel um Unterkunft gewiesen. Wessel hatte die Universitäten für ganz verderbt erklärt und behauptet, die Prediger lehrten nicht in der rechten Weise von Glauben und Liebe. Interesse verdient ein Brief Morsius' an Jungius vom 26. August 1643. 48 Morsius übersandte Thesen, die ihm von Heinrich Hein (inzwischen in Dorpat) mit der Bitte zugesandt worden waren, sie an Jungius weiterzuleiten. Tassius, der enge Freund Joachim Jungius', spielt in dem Brief eine große Rolle. Morsius berichtet vor allem, wie er die in Calw 1629 von Andreae empfangenen Reformentwürfe verteilt habe. Warum gibt Morsius nach 14 Jahren darüber Rechenschaft an Jungius? Bestand doch eine Gesellschaft oder gab es eine andere Form des Zusammenhalts? Ist es zufällig, daß Jungius' „Societas ereunetica" aus den 20er Jahren hier in die Nähe der Rosenkreuzer gerückt wird? Noch immer spielt Nollius für Morsius eine wichtige Rolle, und auch Jungius kann er nicht unbekannt sein: Nollius sei daran interessiert „beatae recordationis fraternitatem aliquam ad restitutionem Hermeticae Medicinae ac Philosophiae sub nomine Fraternitatis Rotae Caelestis" aufzurichten, Morsius hat ihre Statuten und glaubt, sie seien auch Andreae und ihrem gemeinsamen Freund Tassius bekannt. Nollius habe aber, durch den Tod gehindert, sein Vorhaben nicht mehr vollenden können. Am Schluß des Briefes heißt es; „Thu meinen H. D. und H. Tassium, und alle so mir gutes bei euch gönnen, in Gottes veterlichen schütz empfehlen, mit bitte meiner apud proceres vestrae Reipublicae ac exteros praeclaros viros, praesertim apud Rev. Dn. D. Valnt. And. & Dn. Duraeum et Hartliebium ac reliquos Britannos im besten einge-

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1634. — Das Exemplar der Sächsischen Landesbibliothek enthält eine handschriftliche Widmung von N. Hunnius, der damit seine Autorenschaft zu erkennen gibt. Der Bericht wird von Hunnius mit seiner Widmung dem Sächsischen Oberhofprediger Matthias Hoe von Hoenegg (Hoenekk) zugeeignet. Zur Wertung der Lübecker Ereignisse von 1632—33 vgl.: J . Bruckner, A Biographical Catalogue of seventeenthCentury German books published in Holland, The Hague—Parisl971, p. IX—XIII. — Vgl. zu Raselius: C. H. Starcke, Lübeckische Kirchen-Historie, Bd. 1, a. a. O., S. 866-873, S. 1034-1079. H. Schneider, Joachim Morsius und sein Kreis, a. a. O., S. 47—55. Ebenda. — Vgl. R. C. B. Av6-Lallemant, Des Dr. Joachim Jungius aus Lübeck Briefwechsel. . ., a. a. O., S. 342-344.

QUELLEN SEINER

ATOMISTIK

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dechtig zu verbleiben.49 Das sieht nicht nach einer einmaligen Nachricht aus. Offenbar ist der Briefwechsel zwischen Morsius und Jungius verlorengegangen oder harrt noch der Erschließung. Hier geht hervor, daß Morsius u. a. auch mit Hartlib bekannt war, der uns auch schon öfter (u. a. im Zusammenhang mit den Rosenkreuzern) begegnet ist und ebenfalls zu den Freunden Jungius' gehört. Morsius lebte seinen Liebhabereien. Geldschwierigkeiten führten u. a. zu Familienzwisten. Auch hatte er größere Schulden bei dem Jungiüsfreund Hermann Westhoff.50 Nach Prozessen wurde er 1636—1640 auf Betreiben seiner Familie in der Hamburger Anstalt für Geisteskranke interniert. 1643 ist Morsius gestorben. Mit A. von Franckenberg und dem zu dieser Zeit in Danzig lebenden Martin Ruar hat Morsius in Briefverkehr gestanden. 51 In sein Album, das 779 Stammbucheintragungen in Form von Sprüchen, Widmungen, Gedichten und Briefen enthält, trugen sich u. a. ein: J . H. Aisted, H. Arnisaeus, August d. J., Herzog von Braunschweig, William Barclay, Jakob Bartsch, der Schwiegersohn Keplers, William Camden, R. Fludd, A. von Franckenberg, Daniel Heinsius, J . Jungius, Christian Longomontanus, H. Nollius, Christoph A. Raselms, John Richardson, M. Ruar, Willebrord Snellius, J . Staricius, J . Westhoff, Simon Stevin, Nikolaus Steno. 52 Die Namen zeugen von der Weite des Gesichtskreises. Es sind fast nur häretisch bzw. oppositionell Gesinnte. Vielen von ihnen sind wir in dieser Eigenschaft in anderen Kapiteln bereits begegnet, oder wir werden noch auf sie zurückkommen. Morsius' wissenschaftliche Bedeutung muß, selbst wenn wir von den zum Teil höchst schwülstigen Lobpreisungen seiner Zeitgenossen absehen, groß gewesen sein. Man nennt ihn einen Mann von ungewöhnlicher Bildung, von antiker Tugend, hochberühmt, einen unvergleichlichen Gelehrten, als „vom Himmel herabgekommen". Jan Gruter, der Heidelberger Bibliothekar der Palatina, rühmt ihn als den, in dem sich die Verdienste aller Gelehrten vereinigen. Seinen alchemistischen und „theosophischen" Freunden gilt er als „der göttlichen Weisheit Hand, Mund, Herz und Auge", als Verehrer der Pansophie, der die verborgenen Geheimnisse der großen Mutter Natur mit heißem Eifer erforsche.53 In seinem Gesichtskreis bewegte sich auch Joachim Jungius.

2. Jungius und die Atomistik Joachim Jungius ist einer der wesentlichen Wegbereiter der Atomistik in Deutschland. Spätestens seit 1630 stellte er Anaxagoras und Demokrit als die eigentlichen Naturforscher gegen Aristoteles: „In dem Labyrinth der 4» Ebenda,. S. 6 0 - 6 1 . so Ebenda, S. 6 5 - 6 6 . " Ebenda, S. 78. 62 Vgl. ebenda, S. 7 8 - 1 0 9 . - Zur Rolle des Stammbuchs vgl.: E. Trunz, Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, in: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, hg. von R. Alewyn, 2. Aufl., Köln — Berlin (West) . 1966, S. 1 6 9 - 1 7 0 . 6 3 Vgl. R. Kayser, Joachim Morsius (geb. 1593, gest. um 1644), in: Monatshefte der Coroenius-Gesellschaft, Berlin 6 (1897) S. 319.

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V I I . 2 . JUNGIUS UND DIE ATOMISTIK

Veränderungs- und Verwandlungserscheinungen — das ist der Inbegriff der von Jungius verteidigten Lehren — gibt es keinen andren Führer als die uralte Vorstellung, nach der die kleinsten Teile der Körper, entweder gleichartige oder ungleichartige, sich wechselseitig nähern, von einander entfernen, vollständig trennen oder sonst irgendwie ihre relative Lage ändern; und die unermessliche Mannigfaltigkeit der Kombinationen und Modifikationen, die sich aus diesen verschiedentlichen Ortsveränderungen der unwahrnehmbaren letzten Teilchen ergibt, bewirkt die Gesamtheit jener Ungleichheiten und Aenderungen des Verhaltens, die uns vermöge der Natur unserer Sinne und unserer Seele als Änderungen der Qualität an den wahrnehmbaren Körpern zum Bewußtsein kommen." 54 Jungius kam es darauf an, wie es sein Schüler Martin Vogel ausdrückt, die Wahrheit aus dem Brunnen des Demokrit emporzuziehen: „Quae cum ita sint, Physicae hactenus Umbram tantum haberi, Corpus autem e Democriti Puteo, per multiplices Experientias, quibus rite administrandis unius Hominis Aetas non sufficiet, eruendum adhuc restare, quilibet Opinionibus Praeconceptis Liber facile, spero, assentietur." 55 Besonderen Einfluß auf die Herausbildung der atomistischen Auffassung des Jungius hatten wohl folgende drei Werke: Daniel Sennerts „De Chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu ac dissensu liber" (1619); F. Bacons „Novum Organon" (1620); Sebastian Bassos „Philosophia naturalis adversus Aristotelem" (1621). Bei aller Verschiedenheit stimmen diese Werke darin überein, daß sie der herrschenden aristotelischen die demokritische Naturlehre entgegenstellen. Allerdings hält es Wohlwill für möglich und sucht es aus Jungiusschen Manuskripten zu erweisen, daß Jungius unabhängig von diesen Werken zum Atomismus gelangte.56 Anregungen dafür hätte er während seines Paduaner Studiums erhalten können. Jedenfalls äußert sich Jungius bereits 1622 eindeutig atomistisch.57 Aber erst in seiner Hamburger Zeit legt er seine atomistischen Auffassungen geordnet dar. Das wird besonders in den gedruckten Disputationen des Hamburger Gymnasiums deutlich. Besonders wertvoll ist die positive Darlegung der atomistischen Auffassungen in den Disputationen vom 30. März 1642 und vom 2. April 1642, die Wohlwill in ihren wesentlichen Teilen wiedergibt. Er gibt dazu folgendes Urteil: „Wer die Geschichte der Chemie kennt, wird nicht übersehen, daß diese kurzen . . . Abhandlungen im wesentlichen schon die Gedanken enthalten, um derentwillen Robert Boyles 1661 erschienener Sceptical chemist als für die Chemie epochemachend betrachtet wird." 58 Da Jungius stark von Sennert beeinE . Wohlwill, Joachim Jungius. Festrede, a. a. O., S. 23. J. Jungius, Doxoscopiae physicae minores sive Isagoge Physica Doxoscopica Hamburg 1662, Begleitbrief. 56 E . Wohlwill, Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im 17. Jahrhundert, a. a. O., S. 1 7 - 1 9 . w Belege vgl. ebenda, S. 1 9 - 2 4 . 58 Ebenda, S. 43. Vgl. ebenda, S. 3 1 - 4 3 ; R. Hooykaas, Critische Studie. Het Ontstaan van de chemische Atoomleer, in: Tijdschrift voor philosophie, Leuven 9 (1947) S. 105. Gedruckte wie ungedruckte Schriften von Jungius gelangten seit 1638 durch S. Hartlib nach England und sind auch R. Boyle bekannt geworden.

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DANIEL

SENNERT

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flußt ist bzw. auf ihn zurückging, erscheint es berechtigt, hier einen Exkurs zu Sennert einzuschalten. Ein gleichzeitiger Bezug auf Aristoteles' Auffassungen zur Materiestruktur wird damit verbunden. Der bedeutende Vertreter der Korpuskulartheorie Daniel Sennert wurde zu Breslau geboren und war ein berühmter Arzt, Chemiker und Universitätslehrer zu Wittenberg. 59 Hier hatte er sich wiederholt gegen den Vorwurf der Häresie zu verteidigen. Sennert führte als erster das Studium der Chemie als einen Teil des medizinischen Bildungsganges ein und empfahl den Ärzten, sich der Chemie experimentierend zu bedienen. Die Forschungsresultate der Chemie hielt er für die Medizin für außerordentlich wichtig. Von Paracelsus stark beeinflußt, lehnte er die teilweise absurden Folgerungen, die einige der Anhänger Paracelsi aus den Lehren ihres vorgeblichen Meisters zogen, ab. Sennert war zugleich Anhänger Avicennas, nach dem die Elemente in ihrer Verbindung verharren, was ihn konsequenterweise zur Korpuskulartheorie führte. Dabei stützte er sich besonders auf Jean Fernel, einen französischen Arzt aus der Schule der Methodiker, die während des Mittelalters in der Medizin die Atomistik vertraten, außerdem auf G. Fracastoro, einen Schüler Pomponazzis, und auf François Aguilla. Sennert wollte zwischen den Anhängern des Paracelsus und Galens vermitteln. Er gab sich, wie wenige seiner Zeitgenossen, unterstützt von seiner großen Gelehrsamkeit, die größte Mühe, neuen chemischen Arzneien auch bei Anhängern Galens Eingang zu verschaffen, wobei er aber nicht nur ihre Vorzüge hervorhob, sondern auch die ihnen fälschlich zugeschriebenen Wirkungen widerlegte und ihren Anwendungsbereich genau abgrenzte. Beck faßt Sennerts Verdienste und Schwächen mit folgenden Worten zusammen: „Im Jahre 1619 publizierte er seine Arbeit ,De chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu ac dissensu'. Sie gab die erste Neuformulierung der antiken Atomtheorie, die eine gewisse Beziehung zu den Problemen der Chemie hatte. In diesem Werk und noch eindeutiger in seinen .Hypomnemata physica' von 1636 lehrte Sennert, daß die Materie (matter) aus Atomen oder Korpuskeln (atomi, corpora individivilia, atoma corpuscula) der vier Elemente und deren einfachsten Mischungen besteht. Die drei Prinzipien des Paracelsus betrachtete er als materielle Bestandteile der Körper und als aus diesen Elementen zusammengesetzt. Jedes Atom hat seine eigene Form und Verhaltensweise, die es genau beibehält, wenn es mit

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So findet sich in Boyles Werken ein Brief Hartlibs vom 15. Mai 1654, mit welchem er die Übersendung einer offenbar jetzt verlorenen Schrift von Jungius begleitet. (Vgl. R. Boyle, The Works, Bd. 5, London 1744, S. 266.) Eigene Untersuchungen zu D. Sennert wurden von mir nicht vorgenommen. Die nachfolgenden Darlegungen folgen z. T. : W. Böhm, Die Naturwissenschaftler und ihre Philosophie. Geistesgeschichte der Chemie, a . a . O . , S. 147 ff., und A. G. M. van Meisen, Atom gestern und heute. Die Geschichte des Atombegriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Dt. Ausg. , mit Quellentexten erw. von H. Dolch, Freiburg — München 1957, S. 104—123. — Chr. Meineis Arbeit: Der Begriff des chemischen Elementes bei Joachim Jungius, in : Sudhoffs Archiv, Wiesbaden 66 (1982) S. 313 bis 336, wurde mir zu spät bekannt ; so kann auf die materialreiche Arbeit hier nur verwiesen werden. Jedenfalls betrachtete Jungius, bei aller Polemik gegen Sennert, diesen als einen Vorläufer der eigenen Anschauung.

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V I I . 2 . J U N G I U S UND D I E ATOMISTIK

anderen Atomen eine Verbindung eingeht. Deshalb können Atome aus einer Mischung zurückgewonnen werden, in der sie scheinbar verschwunden sind. Die Form der Atome enthält beide geometrischen Formen (Größe und Gestalt) und substantielle Formen, d. h. spezifische und unfaßliche (inexplicable) qualitative Unterschiede. Bei seinen Beobachtungen brachte er keine quantitativen Methoden zur Anwendung, ohne die die Atomkonzeption nur spekulativ und unverständlich (nonexplanatory) sein kann." 60 Auch in der Theorie strebt Sennert, wie bereits angedeutet, eine Synthese an. An den aristotelischen Begriffen von Form und Materie hielt er fest, aber eine beharrende Form soll nur den kleinsten Teilchen zukommen. Aristoteles und Demokrit sollen also miteinander verbunden werden. Bei diesem Gedankengang handelt es sich, im Gegensatz zur Auffassung W. Böhms, jedoch nicht um Eklektizismus. Ist die Rede von einem Frühstadium in einer Entwicklung, so sollte man mit dem Begriff „Eklektizismus" vorsichtig sein. Ich möchte mit Oiserman meinen: „Man darf . . .nicht die Inkonsequenz bei der Durchsetzung eines Prinzips, die mit dessen mangelhafter Ausarbeitung verbunden ist, mit Eklektizismus verwechseln, obgleich dieser Umstand oft Widersprüche hervorbringt, die auf den ersten Blick Folgen des Eklektizismus zu sein scheinen. Es ist auch kein Eklektizismus, wenn ein Philosoph sich als unfähig erweist, aus seinem Prinzip alle sich daraus ergebenden Schlüsse zu ziehen, denn diese Schlüsse können nicht einfach deduziert werden: Sie setzen auch die Enthüllung bestimmter Tatsachen voraus." 61 W. P. Subow teilte die Auffassung Oisermans: „Hinsichtlich Sennert, Sperling und deren Schüler kann man nicht . . . vom Eklektizismus sprechen, von der Tendenz, die alten aristotelischen Anschauungen mit den neuen, ,anti-aristotelischen' zu versöhnen. Solche eklektizistischen Tendenzen zeigen sich eher in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als der Gegensatz der Anschauungen sehr scharf wird, als sich schon wirklich zwei verschiedene Anschauungen konsolidiert haben, die man miteinander hätte versöhnen können. Deshalb wäre es richtiger, solche halbmechanistischen Theorien des 17. Jahrhunderts sozusagen als frühere Entwicklungsphasen anzusehen: die neuen Anschauungen wachsen oft aus den alten heraus und unterscheiden sich dabei noch nicht immer deutlich von ihnen." 62 Dies läßt sich auch auf Jungius anwenden. 60

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L. W. Beck, Early German Philosophy. Kant and his Predecessors, a. a. O., S. 174 bis 175 (Übersetzung — S. \V.). Vgl. A. G. Debus, Guintherius, Libavius and Sennert: The Chemical Compromise in Early Modern Medicine, in: Science, Medicine and Society in the Renaissance. Essays to honor Walter Pagel, ed. by A. G. Debus, London 1972, S. 157—165; A. G. Debus, The chemical Philosophy. Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth und Seventeenth Centuries, vol. 1, New York 1977, p. 191—200; W. Pagel, Paracelsus. An Introduction to the Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance, 2nd, rev ed., Basel — München — Paris — London - New York - Tokyo - Sydney 1982, S. 333-343. T. I. Oiserman, Die philosophischen Grundrichtungen, Berlin 1976, S. 190. W. Subow, Zur Geschichte des Kampfes zwischen dem Atomismus und dem Aristotelismus im 17. Jahrhundert (Minima naturalis und Mixtio), in: Sowjetische Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaft, hg. von G. Harig, Berlin 1960, S. 187.

ATOMISTISCHES D E N K E N

UND

MIXIS-BEGRIFF

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Mit dieser Art des Denkens haben wir es in unserer Zeit zumeist zu tun, auch bei Sennert. Die Formen der Atome, d. h. die in ihrer Natur enthaltenen wirkenden Kräfte und Eigenschaften, bedingen nach Sennert die Naturentwicklung. Er unterscheidet vier Arten von Atomen: Atomi igneae, aereae, aqueae, terreae. Aus ihnen setzen sich die prima mixta zusammen, d. h. die Moleküle im heutigen Sinn. Alle Atome haben von der Natur ihre bestimmten Gesetze, je nach ihrer Eigenart, als Ausfluß ihrer besonderen Form und Spezies. Sie bleiben unverändert, auch wenn sie sich zu Molekülen verbinden und zu Körpern zusammentreten. Durch das Zusammenströmen der Atome können die scheinbar verschiedensten Körper entstehen. Alle Wandlungen der Qualitäten sind auf eine Ortsveränderung der Atome zurückzuführen. Die Flamme besteht z. B. in einem Zusammenströmen der Feueratome, die vorher durch fremde Atome getrennt werden. Auch die Aggregatzustände erklären sich aus einem Zusammen- und Auseinandertreten der Atome. Wenn Wasser dampft, verwandelt es sich nicht in Luft, sondern die Wassert eilchen treten auseinander und bilden Wasserdampf. Ebenso entsteht bei der Verdunstung von Weingeist Weingeistdampf, bei der von Quecksilber Quecksilberdampf. Bei der Wiedervereinigung der Wasserdampfteilchen entstehen Wolken und dann Regen und Schnee. „Die Unveränderlichkeit der Elementarteile, welche von jetzt an [zweites Viertel des 17. Jh. — S. W.] von den Physikern immer allgemeiner angenommen wird, ist neben der Mechanik Galileis die Grundlage aller Theorien der Physik und ganz besonders der Chemie geworden. Und da eine Naturerklärung überhaupt nur durch das Zurückgehen auf konstante und unveränderliche Elemente möglich ist, so darf man gerade in diesem Gedanken den folgereichsten Einfluß der antiken Atomistik auf die moderne Naturwissenschaft sehen."63 Ursache des Zusammentretens der Atome sind nach Sennert ihre Formen. Durch die Formen ziehen die Atome einander an und stoßen sich ab. Von der spezifischen Form der Teilchen hängt die Art der Mischungen primär ab. Gott hat die Formen so eingerichtet, daß sie die Elemente in den Verbindungen passend ordnen. Außer den Atomen war also noch ein Kontinuum, ein geistiges Fluidum (spiritus) vorhanden, welches die verborgenen Qualitäten erklären sollte. Sennert bemühte sich, die überlieferte Naturlehre fortzubilden, indem er die neuen Hypothesen in sie einzubauen suchte. In diesem vermittelnden Wirken liegt die Ursache dafür, daß sich seine Lehren allmählich durchsetzen. Seine Korpuskulartheorie hatte ein Jh. lang bestimmenden Einfluß, bis sie von der Newtons abgelöst wurde.64

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Zur Atomistik in dem von uns behandelten Zeitraum vgl. zusammenfassend V. P. Zubov, Razvitie atomisticeskich predstavlenij do nacala X I X veka, Moskva 1965, S. 172-206. K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, Bd. 1: Die Erneuerung der Korpuskulartheorie, Hamburg— Leipzig 1890, S. 446 (hervorgeh. — S. W.). Ebenda, S. 436—454. Sennerts Atomlehre ist ausführlich dargestellt bei R. Ramsauer, Die Atomistik des Daniel Sennert, Braunschweig 1935, sowie bei K. L. Wolf/R. Ramsauer, Daniel Sennert und seine Atomlehre. Zur Geschichte der Naturanschauung in Deutschland II, in: Zeitschrift für die gesamte Naturwissenschaft, Braunschweig 1 (1935/36) S. 357—380. — Vgl. zu Wolf und Ramsauer unsere Seite 456. Ergänzt werden diese Untersuchungen durch D. Mahnke (Zur Eingliederung Sennerts in die deutsche

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V I I . 2 . JlTNGIUS UND D I E A T O M I S T I K

Die Entwicklung der atomistischen und korpuskularen Vorstellungen vollzog sich im 17. Jh. gleichzeitig mit der Wiederaufnahme von Ideen des Empedokles, auch des Anaxagoras, und der antiken Atomistik von Demokrit, Epikur und Lukrez. Die Grundtendenz der neuen mechanistischen Weltauffassung widersprach der qualitativen Physik der Aristoteliker grundsätzlich, zumal dem scholastisch adaptierten Aristoteles. Allerdings war für die Schule von Padua schon eine freiere Aristoteles-Interpretation charakteristisch. So erklärt Zabarella: „. . . wenn auch Aristoteles so viel erkannt und geschrieben hat, daß er allen Menschen als ein Wunder galt, so hat er dennoch nicht alles erkannt und nicht alles geschrieben: deswegen habe ich die Argumentation vieler allerdings immer für nichtig gehalten, die es als unsinnig und unrecht ansahen, wenn wir behaupteten, daß die Philosophie des Aristoteles in irgendeinem Teil unvollkommen und minderwertig sei." 65 Die Schule von Padua kam Aristoteles mit der Behandlung folgender Probleme: Wie entsteht aus zwei oder mehreren primären Elementen a, b, c, d . . ., die bestimmte Eigenschaften aufweisen, ein neues Ganzes, eine neue logische Kategorie oder eine neue Eigenschaft? Aristoteles unterschied die mechanische Zusammensetzung (ciuv&eai^) zweier Getreidearten, z. B. Weizen und Gerste, sowie ihre y-gaStc (Mischung), von dem, was er Mixis nennt. In qualitativer Hinsicht ist die Mixis (Vermischung, Durchdringung) ein gleichartiges homogenes Ganzes, das in unendlich viele gleichartige Teile zerlegt werden kann. Aristoteles' Definition ist der Versuch einer dialektischen Fassung der Mixis als der Einheit des Verschiedenen, das in bestimmter Hinsicht ist wie nicht ist. Nach einem bildhaften Ausdruck von Aristoteles vermag niemand die Bestandteile einer Mixis zu unterscheiden.66 Gerade dieses qualitative Neue einer chemischen Verbindung (der Terminus Mixis sei mit diesem Begriff wiedergegeben, obwohl er bei Aristoteles eine breitere Bedeutung hatte und die Legierungen, die Lösungen usw. einschließt) zwingt Aristoteles, die Vorstellungen der alten Atomisten über Werden und Vergehen als einer Vereinigung und Trennung von Atomen ((niyxpia^ und 8iäxpt,at J . Sprenger/H. Institoris, Malleus maleficarum, a. a. O., T. 3, S. 42—43. 5 6 F. von Spee, Cautio criminalis, a. a. O., S. 207.

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V I I I . F . v . S P E E UND D E R

HEXENABERGLAUBEN

er seine Herde kennzeichnen wollte, auf daß man sie herauskennen und abschlachten kann." 5 7 Die Denunziationen Mitschuldiger bei der Untersuchung von Hexerei lehnt Spee — entgegen der herrschenden Praxis, die ihr größte Bedeutung beimaß — „als durchaus wertlos, trügerisch, irreführend und bei vernünftiger Beurteilung billigerweise stark verdächtig" 58 ab. Er stellt außerdem fest: „Hinsichtlich der Hexensabbate oder Hexentänze . . . kann man sehr zweifeln, ob sie jemals leiblich begangen werden. Ich wünschte, es würde das jemand einmal genau untersuchen." 59 Auch hier wird also relativ vorsichtig formuliert. In der letzten, der 51. Quaestio seiner umfänglichen Arbeit gibt Spee in 46 Punkten nochmals eine zusammenfassende Darstellung der Mängel der Hexenprozesse; sie läuft auf ihre generelle Ablehnung hinaus. E r appelliert dabei an den Kaiser und darüber hinaus an das ganze deutsche Volk, die im Hexenprozeß üblichen Verfahren zu prüfen und für eine Reform einzutreten. So heißt es unter anderem: „Es ist kaum zu glauben, was es bei den Deutschen und besonders . . . bei den Katholiken unter dem Volke für Aberglauben, Mißgunst, Verleumdung, Ehrabschneiderei, heimliches Gerede und dergleichen gibt. Die Obrigkeit bestraft diese Dinge nicht, und die Prediger rügen sie nicht. Sie sind es, die zu allererst den Verdacht der Hexerei in die Welt setzen." 60 Nach einer letzten Schilderung des Verlaufs der Hexenprozesse mit Tortur und Gerichtsfarce kommt Spee zu dem Ergebnis: „Wenn nur die Prozesse unablässig und eifrig betrieben werden, dann ist heute niemand, gleich welchen Geschlechts, in welcher Vermögenslage, Stellung und Würde er sei, mehr sicher genug, sofern er nur einen verleumderischen Feind hat, der ihn verdächtigt und in den Ruf bringt, ein Zauberer zu sein. So steuern wahrhaftig, wohin ich mich nur wende, die Verhältnisse auf ein entsetzliches Unglück hinaus, sofern nicht anderweit Vorsorge getroffen wird." 6 1 Spee hatte sich mit prominenten Gegnern auseinanderzusetzen, vom klassischen „Hexenhammer" einmal abgesehen. Da sprach für das Faktum der Hexerei und ihre Verfolgung Nicolaus Remigius' „Daemonolatria libri tres"; der Jesuit Peter Binsfeld schrieb „De confessionibus maleficorum et sagarum" (1589). Dieser „Tractat Von Bekanntnuß der Zauberer und Hexen" wird in München 1692, Remigius' „Daemonolatria, Oder: Beschreibung von Zauberern und Hexen" in Hamburg 1693 in deutscher Sprache herausgegeben. Dies bezeugt die den Schriften beigemessene Bedeutung und ihre Verbreitung. Viele Auflagen in allen Ländern Europas erlebten die „Disquisitiones magi" Ebenda, S. 217. 58 Ebenda, S. 218. 59 Ebenda, S. 255. 60 Ebenda, S. 279. Ebenda, S. 288—289. — Auch in seinem „Güldenen Tugendbuch", dessen Abfassung zwischen 1627 und 1632 liegt und das postum 1649 in Köln gedruckt wurde, weist Spee im 13. Kapitel des dritten Teils „Noch andere werck der Liebe des nechsten" auf die unschuldig der Hexerei Angeklagten hin. Spee beschäftigte das Hexenthema selbst in seiner Jesuitenlyrik. Vgl. F. von Spee, Güldenes Tugend-Buch, hg. von Th. G. M. van Oorschot, in: F. Spee, Sämtliche Schriften. Histor.-krit. Ausg., Bd. 2, München 1968.

ADAM

TANNER

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carum libri sex" des vielseitig gebildeten Jesuiten M. A. Delrio. Sie erschienen erstmalig in Löwen 1599/1600 in lateinischer Sprache. Delrios Werk ist eine Enzyklopädie der Magie aus gegenreformatorischer Sicht. Seine Thesen stützt der Autor durch beispielhafte Geschichten, deren ergiebige Quelle die schablonenhaften Geständnisse von „Hexen und Zauberern" nach den Prozeßakten bilden. Delrio war es gelungen, J . Lipsius für die katholische Kirche zurückzugewinnen. Für Delrio folgt die Zauberei der Ketzerei wie ein Schatten. Der eigentliche Zweck ihrer Bekämpfung ist für ihn die Unterdrückung der Häresie, natürlich die Reformationskirchen eingeschlossen. Vor allem mit der ausführlichen Beschreibung des „Schadenzaubers" gibt Delrio theoretisch-,,wissenschaftliche" Grundlagen für die Hexenverfolgung. Denn gerade die Hexen, deren Existenz für den Autor unumstößlich feststeht, sind der weißen wie schwarzen Magie mächtig. Hexen sind Werkzeuge des Teufels. Delrios Beispielsammlung galt in Prozessen als Autorität für die Verurteilung von Hexen. Die letzte Ausgabe der „Disquisitiones" erschien 1755 in Köln. Ein frappierender Kontrast besteht zwischen Bodins progressiven Staatsauffassungen und seinem fanatischen Hexenglauben, systematisch in seinem „Traité de la démonomanie" (1580) dargelegt, der 1581 lateinisch und 1586 in der Übersetzung von Johann Fischart unter dem Titel „Vom ausgelassene wütigen Teuffelsheer" in Straßburg deutsch erschien. Gegner der Hexen Verfolgungen vor Spee und Weyer wurden bereits erwähnt. Dazu zählen weiter der Benediktinermönch Guillaume Ebelin, der seine Einwände 1453 mit dem Tod im Kerker „büßte", der italienische Jurist Giovanni Francesco Ponzinibus mit der Arbeit „Tractatus illustrium consultorum de iudiciis criminalibus S. Inquisitionis" (Venedig 1534) und P. Pomponazzi — um nur die bekanntesten zu nennen. Cardanos starke Zweifel am Hexenwesen hat u. a. H. Ley näher untersucht.62 Unmittelbarer „Vorläufer" Spees war der Jesuit A. Tanner. „Über dreißigmal werden Tanners Darlegungen in der Cautio herangezogen, und wahrscheinlich hätte Spee sich ohne Tanners Vorbild doch nicht zu seinem Werke durchgerungen."63 Auch Tanner zweifelte nicht an der Existenz der Hexerei; aber er warnte vor der Gefahr, Unschuldige anzuklagen, jemanden auf Grund der Aussagen gefolterter Hexen hin zu verurteilen; Tortur und Todesstrafe wollte er durch Kirchenbuße und öffentliche 62

63

Vgl. H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 3/1, a. a. O., S. 228— 263. Zu Gegnern des Hexenglaubens vor Weyer vgl. H.-P. Kneubühler, Die Überwindung von Hexenwahn und Hexenprozeß, a. a. O., S. 50—61. Zu Delrio: E . Fischer, Die „Disquisitionum magicarum libri sex" von Martin Delrio als gegenreformatorische Exempel-Quelle, Phil. Diss., Frankfurt/M. 1975. E . Rosenfeld, Friedrich Spee von Langenfeld, a. a. O., S. 277. — Rosenfeld belegt auch, daß die anonyme Schrift „Theologischer Prozeß / Wie mit Hexen und zauberischen Personen zu verfahren seye . . ., Rinteln . . . 1 6 3 1 " von Spee s t a m m t . E s ist eine Anweisung bzw. Handreichung für jene Pastoren, welche die Hexen auf ihrem letzten Gang zu begleiten hatten. (Vgl. E . Rosenfeld, Theologischer Prozeß. Die Rinteler Hexentrostschrift — ein Werk von Friedrich von Spee, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwiss. u. Geistesgesch., Stuttgart 2 9 ( 1 9 5 5 ) S. 37—56.) Die Autorin bringt in ihrer Monographie eine Bibliographie der Ausgaben der „Cautio" (S. 375—376) und u. a. eine Spezialbibliographie über F . von Spee (S. 387—392).

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Demütigung ersetzt sehen, was den Teufel mehr ärgern würde als „tausend Exekutionen". Die Rechte der Richter im Hexenprozeß sollten eingeschränkt werden. Menschenliebe war die Triebfeder, die Spee aus seinen Erfahrungen heraus veranlaßte, die „Cautio criminalis" zu schreiben. Ansätze humanistisch-aufklärerischen Denkens verbergen sich hinter dieser Triebfeder. Wäre nur allein dieses Buch in der ersten Hälfte des 17. J h . erschienen, es hätte ausgereicht, um Borkenaus oben zitierte negative Aussage über diese Zeit zu widerlegen. Unmittelbare praktische Auswirkungen hatte die „Cautio criminalis" zunächst nicht. Unabhängig von ihr sind nach 1631 tatsächlich gewisse Einschränkungen bei den Hexenverbrennungen zu beobachten; nicht zuletzt, weil die Ungerechtigkeiten im Prozeßverlauf so überhand genommen hatten, die allgemeine Unsicherheit so groß war, daß jeder um sein Leben fürchten mußte. Möglicherweise war das Verbot jeglicher Hexenprozesse durch die Königin Christine von Schweden am 16. Februar 1649 auch ein Erfolg der „Cautio criminalis". J . Ph. von Schönborn hat unter dem Einfluß der „Cautio" 1642 als Fürstbischof von Würzburg und nach 1647 als Kurfürst und Erzbischof von Mainz die Hexenprozesse in seinen Territorien verboten.6,5 Spees Werk erlebte 1647 die erste deutsche (auszugsweise) Ausgabe, übersetzt von „Johan Seiferten von Vlm / derzeit Schwedischen Feld-Prediger"; nahezu vollständig erschien 1649 in Frankfurt a. M. eine Übersetzung der Ausgabe von 1632 durch Hermann Schmidt. 65 Auf die verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen Spees schon um die Jahrhundertmitte sei hier nicht näher eingegangen.66 In den Niederlanden war schon Ende des 16. J h . ein Hexenprozeß eine Seltenheit. Hier wurde Spees „Cautio" sehr schnell und sehr umfassend verbreitet. In Deutschland dagegen herrschte in der zweiten Hälfte des 17. J h . eine neue Hexenangst und eine entsprechende Verfolgungswut, die die früheren Perioden womöglich an Umfang überstieg. Ein Schwerpunkt der theoretischen Reflexion lag diesmal in Leipzig, Jena und Wittenberg. An der Wittenberger Universität häuften sich die Dissertationen über Zauberei und ihre Bestrafung. 67 Die „Cautio criminalis" schien völlig vergessen; wo man sie etwa kannte, bekämpfte man sie, wie z. B. in einer Gießener Dissertation von Nikolaus Brandt vom Jahre 1662. 68 Im lutherischen Bereich war zu dieser Zeit B . Carpzow die größte Autorität für Strafrecht. In seiner „Practica nova imperialis Saxonia rerum 64 65

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67

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Vgl. H. Zwetsloot SJ, Friedrich von Spee und die Hexenprozesse, a. a. O., S. 282—283. Vgl. ebenda, S. 285; H. P. Geilen, Die Auswirkungen der Cautio Criminalis von Friedrich von Spee auf den Hexenprozeß in Deutschland, a. a. O., S. 46—55; F. von Spee, Cautio criminalis . . ., Aus d. Lat. übertr. u. eingel. von J. Fr. Ritter, München 1982, S. X X V I - X X X . Vgl. ebenda, S. 286—298; Th. G. M. van Oorschot SJ, Drei Übersetzungen von Friede rieh Spees „Cautio criminalis", in: Ars et ingenium. Studien zum übersetzen. Festgabe für Frans Stoks zum 60. Geburtstag, Hg.: H. Ester, G. van Gemert, J . van Meyen, Amsterdam 1983, S. 138-153. Vgl. z. B. C. Passelius, Exercitatio I—II de magia naturali, Praes. J. Sperling, Wittenberg 1651; Ae. Rothe, De magia in genere et in specie naturali, resp. G. Schubart, Wittenberg 1670; C. Ziegra, De magia, resp. G. F. Magnus, Wittenberg 1665; Chr. Donatus, De spectris, resp. J.G. Frimel, Wittenberg 1688. N. Brandt, Disputatio inaug. de legitima maleficos et sagas investigandi et convincendi ratione. Gießen 1662.

CHRISTIAN

THOMASIUS

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criminalium" (Wittenberg 1635) faßt er den gesamten bisherigen Unsinn über Hexen nochmals zusammen. Seine Rechtspraxis soll 20000 Todesurteile verursacht haben. Diese hohe Zahl wird dadurch wahrscheinlich, daß Carpzow von 1620 bis 1666 (mit einer Unterbrechung von acht Jahren) Mitglied des Leipziger Schöppenstuhls war. An diesen Gerichtshof mußten sich alle sächsischen Gerichte wenden, da allein er befugt war, in Kriminalsachen das Urteil zu fällen, das dann die übrigen Gerichte zu vollstrecken hatten. Zudem kamen auch aus anderen deutschen Ländern Anfragen an den Leipziger Schöppenstuhl. Nicht alle diese Urteile waren allerdings gegen „Hexen" gerichtet. Thomasius hatte sich in seinen Studien mit der Auffassung Benedikt Carpzows über den Hexenprozeß vertraut gemacht. „Nachdem ich . . . des Nandei seine Apologie dererjenigen, die man fälschlich der Zauberey beschuldiget, nebst dem Autore Cautionis Criminalis und sonderlich in diesen das zwantzigste dubium mit Attention durchlesen hatte, fiele mir das obgemeldte praejudicium gleichsam als Schupen von denen Augen meines Verstandes", so schilderte Thomasius selbst seine Bekehrung vom Glauben an den Hexenwahn.6U Die Frucht dieser Bekehrung war 1701 die bereits erwähnte Dissertation, die er von seinem Schüler Johann Reiche in Halle verteidigen ließ: „Theses inaugurales de crimine magiae"; bald verdeutscht: „Kurze Lehr-Sätze von dem Laster der Zauberey . . . mit des Autoris Verteidigung vermehret." 7 0 Der Traktat spricht dem Teufel jeden Einfluß auf materielle Dinge ab; es gibt weder Hexenluftfahrten noch Erscheinungen des Teufels, weder einen Teufelspakt noch schädliche Zauberkunst: Alles ist nur Einbildung oder kann aus natürlichen Ursachen erklärt werden. Die Geständnisse der Hexen sowie der herkömmliche Hexenbegriff sind nur Frucht eines Wahns und der Folter. Der Hexenprozeß entbehrt jeder Begründung, weil es sich um fiktive Verbrechen handelt. Spees „Cautio criminalis" ist für Thomasius die wichtigste Quelle. Zwar muß er zugestehen, daß sie nicht ausdrücklich den Glauben an teuflische Zauberkunst verwirft, aber er meint auch, daß dies „eben so wol nur eine Verstellung und eine Legende sey / wenn er [der Autor der „Cautio criminalis" — S. W.] sich . . . daß es allerdings Hexen . . . gebe / vernehmen lassen. Dieses zu glauben bewegt mich / wenn ich diejenige Gelehrsamkeit und den Fleiß / welchen er in Beantwortung der übrigen Fragen angewendet / gegen die schlechten und läppischen Gründe / die in der gantzen Antwort auff die erste Frage klärlich hervor leuchtet, halte." 7 1 Für Spees Werk hat er wiederholt das höchste Lob: „Und gewiß dieses Tractätgen scheinet mir von solcher Wichtigkeit zu seyn / daß da es bißhero noch von niemanden angefochten worden / ich mich nicht bereden kan / daß ein verständiger Rechtsgelehrter oder ein 69

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Einleitung von Chr. Thomasius zur deutschen Übersetzung von J . Webster „Untersuchung Der Vermeinten und so genannten Hexereyen", Halle 1719, S. 6. Wir benutzen eine Ausgabe vom Jahre 1702 (vgl. Anm. 35 in diesem Kap.). — E s e r schienen noch viele Neudrucke. Lieberwirth gibt „De crimine magiae" und die deutsche Übersetzung von J . Reiche von 1704: Chr. Thomasius, Über die Hexenprozesse. Überarb. und hg. von R. Lieberwirth, Weimar 1967, S. 32—107. Chr. Thomasius, Kurtze Lehr-Sätze Von dem Laster der Zauberey . . . , a. a. O., S. 7.

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VIII.

F . v. S P E E UND D E R

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kluger Politicus gefunden welcher nach Durchlesung dessen noch einige Zweiffei wegen des unbilligen Verfahrens / so wider die Hexen verübt zu werden pflegt / haben könte." 72 Wer der Autor war, blieb Thomasius zunächst noch unbekannt. Merkwürdig ist, daß er den „römischen Theologen" auf dem Titelblatt der „Cautio" für die Maske eines protestantischen Theologen oder Juristen hielt. Der anonyme Autor habe dadurch, so glaubt Thomasius, seine protestantischen Kollegen ins Staunen versetzen wollen, als ob bei den Papisten eher das Licht der Vernunft aufgegangen wäre. 73 Erst im Jahre 1719 konnte Thomasius diese beiden Irrtümer berichtigen, nachdem er erfahren hatte, daß die Schrift Spees schon 1631 erschienen und der Autor ein Jesuit war. Bekanntüch erfuhr auch des Thomasius aufklärerisches Wirken erbitterten Widerstand. Einen entscheidenden Durchbruch gegen den Hexenglauben erzielte erst der friesische reformierte Geistliche Balthasar Bekker mit seinem Werk „De betoverde weereld". Bekker ist Cartesianer und in seiner Ablehnung des Hexenglaubens umfassender als Chr. Thomasius. Auch die „betoverte weereld" basiert auf cartesischen Grundlagen. Bekker überträgt die cartesische Philosophie auf sein Gebiet: die Theologie.74 Die Arbeit erschien 1693 in deutscher Sprache. Im protestantischen Deutschland hörten die Hexenprozesse in den ersten Dezennien des 18. Jh. auf. Verdienstlich und wegweisend war die Abschaffung der Folter durch den preußischen König Friedrich II. (1740). E r konnte dabei auf einem Edikt seines Vaters Friedrich Wilhelm I. fußen. Die letzten Reste der Folter sind in Deutschland allerdings erst in den zwanziger Jahren des 19. Jh. offiziell beseitigt worden. In Preußen fanden die letzten Hexenprozesse 1721 in Nauen und 1728 in Berlin statt. 1740 endete die praktische Hexenverfolgung in Österreich. Noch 1749 wurde in Würzburg eine Nonne als Hexe hingerichtet; der letzte Hexenprozeß auf deutschem Boden endigte 1775 in der damaligen Fürstabtei Kempten mit der Hinrichtung einer alten Frau durch das Schwert. Die letzte Hexenverbrennung in Spanien fand 1781, in der Schweiz 1782 und in Polen 1793 statt. In Mexiko soll es noch 1874 eine offizielle Hexenverbrennung gegeben haben. Hexenprozesse und Hexenverbrennungen waren eine gesamteuropäische Erscheinung. Sie wurden durch die Kolonisatoren und die in ihrem Dienste stehende katholische Kirche auch auf Amerika ausgedehnt. Diese Fakten besagen nicht, daß der Hexenglaube im „zivilisierten", durch die Aufklärung gegangenen Westeuropa nicht bis in die Gegenwart weiterlebte. Es wird zwar nicht mehr gebrannt, aber gebrandmarkt. Selbst sonst seriöse Gelehrte sind nicht unschuldig an pseudowissenschaftlichen Begründungen. So schreibt W.-E. Peuckert ein ergänzendes Kapitel zu einem Buch von J . Caro Baroja, mit dessen Grundthesen er sich identifiziert. Peuckert geht — wie Baroja — von einem bis in die Urzeit reichenden Gegensatz zwischen Mann und " Ebenda, S. 6. ™ Ebenda, S. 7. 74 Vgl. W. Reuning, Balthasar Bekker. Der Bekämpfer des Teufel- und Hexenglaubens, Phil. Diss., Gießen 1925; B. Gloger/W. Zöllner, Teufelsglaube und Hexenwahn, a. a. O., S. 2 2 7 - 2 3 1 .

GESCHICHTLICHE

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BEZÜGE

Frau aus, in dem sich die Frauen zeitweilig enthemmen (Weiberkirmes usw.). Dies sei das Fremd-Geschlechtliche, für den Mann Unbegreifliche. Aus diesem Unbegreiflichen (Mißverständnis der „Weiberverbündnisse") sei auch der Hexenglauben gespeist worden. Es seien Kulte, übernommen aus der Zeit, da die Vorherrschaft der Frau über den Mann galt. Peuckerts Glaubensbekenntnis über die Hexenverfolgungen lautet: „Man wird den Hexenglauben nur aus .eingeborenen Gültigkeiten', seien es diejenigen der Hexe wie diejenigen der Gesellschaft, deuten können. Dann aber fällt jede

These über Schuld

tmd absichtliche

Niedertracht,

über sadistische

Folterlust,

wie über niedergeborenen Aberglauben, und es bleibt nichts, als jenen .eingeborenen Gültigkeiten' nachzuforschen und sie zu erkennen." Was sind solche „eingeborenen Gültigkeiten" ? Peuckert versucht, sie als „die Furcht, das Widereinander zwischen den Geschlechtern, als einen Schlüssel für die Verhexung des Weibes zu begreifen". „Hinter vielem Hexischen" habe der „sexuelle Zwang, dies tief, zutiefst im Menschen Wurzelnde, und so oft Verdeckte" gestanden. „Sexuelle Nöte und Begier", die „die Hexe treiben und antreiben kann", sei also eine weitere „eingeborene Gültigkeit".75 Weitere, hier nicht darzustellende „eingeborene Gültigkeiten" werden auch als „Urängste der Gesellschaft" bezeichnet.76 Peuckert endet: „. . . eingeborene Gültigkeiten lassen sich weder mit der nüchternen ratio noch mit den soziologischen, psychologischen oder parapsychologischen Gesetzen ändern, sie werden mit den Menschen und sie wachsen und fruchten mit dem Menschen. Es werden Hexen sein, solange diese Gültigkeiten in uns leben."77 Wir haben es im allgemeinen vermieden, auf Probleme der Kulturgeschichte näher einzugehen. Wenn wir im Falle F. von Spees von diesem Grundsatz abgegangen sind, so vornehmlich aus zwei Gründen. Einmal ist die Schilderung der Hexenprozesse besser dazu angetan, den Hintergrund zu erhellen, vor dem sich die neue bürgerliche Philosophie im Kampf gegen die Scholastik und das feudale Weltbild herausbildete, als es nüchterne Schilderung der Entwicklung der Produktivkräfte und der politischen Entwicklung allein vermag. Zweitens zeigt gerade das Beispiel Spees, daß auch im gesellschaftlichen Bereich Deutschland keineswegs dem gesamteuropäischen Denken „hinterherhinkte". Spee hätte .sich in seinem Kampf gegen den Hexenaberglauben auch auf Michel de Montaignes „Essais" stützen können. In deren drittem Buch, der Neuausgabe von 1588 hinzugefügt, werden die Berichte über Hexen und Zauberer mit Skepsis betrachtet. Montaigne sieht in ihnen Beweise für die Unzuverlässigkeit und Unzurechnungsfähigkeit menschlicher Wahrnehmungen 73

J. Caro Baroja, Die Hexen und ihre Welt, Einf. und erg. Kap. von W.-E. Peuckert, Stuttgart 1967 (Originalausg. Madrid 1961), S. 311 (Hervorheb. - S. W.), S. 312. Vgl.: S. Bovenschen, Die aktuelle Hexe, die historische Hexe und der Hexenmythos. Die Hexe: Subjekt der Naturaneignung und Objekt der Naturbeherrschung, in: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes, a. a. O., S. 259-312. ™ Ebenda, S. 318. 77 Ebenda, S. 320. — „Die modernen Hexen sind sehr verschwiegen, und Außenseiter wissen nur wenig über ihre Glaubensvorstellungen und Praktiken. Angeblich gibt es in England 6000 Hexen, und ihre Zahl wächst ständig." (R. Cavendish, Die schwarze Magie, a. a. O., S. 365.) 32

Wollgast

498

V I I I . F. v.

S P E E UND DER

HEXENABERGLAUBEN

und Urteile. Daher hält er es für unvertretbar, auf derart zweifelhafte Begründungen hin Menschen zu verurteilen und sogar hinzurichten. Und Montaigne ist in Westeuropa kein Einzelfall — auf einige weitere, so auf F. d. Ponzinibus, wurde bereits verwiesen. In Deutschland hat sich auch Spees Zeitgenosse Chr. Besold gegen die Hexenrichter ausgesprochen. Er hat, wie andere Gegner der Hexenverfolgungen,78 Spees durchschlagende Wirkung nicht erreicht. F. von Spee ist ein Pionier, dessen Leistung nicht vergessen werden sollte. 78

Vgl. Chr. Thomasius, Historische Untersuchung Vom Ursprung und Fortgang des I N Q U I S I T I O N S P R O C E S S E S Wieder die Hexen / Worinnen deutlich erwiesen wird / daß der Teufel / welcher nach buhlet / und sie aufi den Blockers-Berg führet / nicht über anderthalb hundert Jahr alt sey . . . Halle A. 1712, in: Chr. Thomasius, Über die Hexenprozesse, a. a. O., S. 108—217 (lateinisch und deutsch).

NEUNTES KAPITEL

Valentin Weigel

1. Weigels Leben und Schriften. Wirkungen in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts Valentin Weigel ist aus mehreren Gründen relativ ausführlich zu behandeln. Zunächst ist über ihn wenig bekannt. Seine Bedeutung ist größer als oft angenommen und dargestellt. Weigel dient drittens in unserer Arbeit als Beispiel, um die Verflechtung der oppositionellen theoretischen Bestrebungen dieser Zeit, den fast unentwirrbaren Knäuel ihrer Wurzeln und Wirkungen, darzustellen. Valentin Weigel wurde im Jahre 1533 in der Stadt Hayn, jetzt Großenhain, geboren.1 Offenbar stammt er von armen Eltern. Uns ist ein eigenhändiger Lebenslauf Weigels in lateinischer Sprache überliefert. Die Übersetzung lautet: „Ich, Valentin Weigel aus Hain, habe mich von früher Jugend an mit den Wissenschaften beschäftigt, in meiner Vaterstadt ungefähr sechs Jahre; hierauf bin ich der berühmten Meißener Fürstenschule durch meinen frühesten Gönner, den kurfürstlichen Rat Kommerstadt zugeführt worden, wo ich ununterbrochen sechs Jahre lang von meinen Lehrern, dem Rektor Georg Fabricius, Hiob Magdeburger u. a. treulich unterwiesen wurde. Sodann besuchte ich mit Unterstützung des Kurfürsten August neun Jahre lang die Universität zu Leipzig, wo ich die Würde eines Bakkalaureus und eines Magisters erwarb. Endlich habe ich, abermals mit Unterstützung des Kurfürsten August, beinahe vier Jahre die berühmte Wittenberger Universität besucht und bin dann auf Befehl des Kurfürsten zum Pfarrer in dieser Stadt Zschopau berufen und durch den hochwürdigen Paul Eber in Wittenberg ordiniert worden, meinen Lehrer, den ich wie einen zweiten Vater verehre." 2 An diesem kurzen Abriß soll hier das Umfeld ausführlicher dargestellt werden. 1

2

32«

Die Lebensbeschreibung folgt weitgehend der noch heute für jeden Weigelforscher unentbehrlichen Arbeit von J . O. Opel, Valentin Weigel. E i n Beitrag zur Literaturund Culturgeschichte Deutschlands im 17. Jahrhundert, Leipzig 1864. Markante Ergebnisse der seitherigen Forschung werden jeweils belegt. Die Archivquellen werden z. T. bereits bei Opel erwähnt, ihr neuer Standort wird angegeben. — Vgl. zu diesem Kapitel: V. Weigel. Ausgewählte Werke, hg. und eingel. von S. Wollgast, a. a. O.; S. Wollgast, Valentin Weigel (1533—1588) und seine Stellung in der deutschen Philösophie- und Geistesgeschichte, in: Sächsische Heimatblätter, Dresden 23 (1977) S. 2 6 6 - 2 7 6 . Deutsche Übersetzung nach: A. Israel, M. Valentin Weigels Leben und Schriften nach den Quellen dargestellt, Zschopau 1888, S. 5. — Lateinisch überliefert von J . G. Reichel, Vitam, fata et scripta M. Valentini Weigelii e x genuinis monumentis comprobata atque a compluribus naevis ac lapsibus purgata, Dissertatione histórica,

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I X . L . V A L E N T I N W E I G E L — L E B E N UND

WIRKUNG

Die älteste Urkunde, in welcher die Stadt Hayn (seit dem 17. Jh. Großenhain) erwähnt wird, stammt aus dem Jahr 1205.1483 wurde das Dorf Naundorf vom Rat der Stadt Hayn angekauft. Hier soll Weigel geboren worden sein. Naundorf wird schon 1535 als Vorort von Hayn angesehen. 3 Ende der 30er Jahre des 16. Jh. setzte sich Luthers Lehre auch in Hayn durch. Schon in der Reformationszeit scheint Hayn eine Lateinschule besessen zu haben, die vom dortigen Augustinerkloster mit Lehrern versorgt wurde. Seit Gründung der Fürstenschulen hatte Großenhain vier Freistellen auf der Fürstenschule zu Pforta inne. Dazu kamen Stipendien aus dem Armenkasten (das Leipoldische und das Albertsche Stipendium).4 Da Weigel in,St. Afra war, besetzte er offenbar die Freistelle aus den beiden letztgenannten Stipendien. Im Schmalkaldischen Krieg ergab sich Großenhain am 8. April 1547 dem Kurfürsten Johann Friedrich, der aber bereits am 24. April 1547 eine vernichtende Niederlage erlitt und seine Kurwürde an Moritz von Sachsen verlor. Dies beförderte den Aufstieg des Albertinischen Sachsens. Weigel befand sich zu dieser Zeit wohl noch in seiner Heimatstadt — wahrscheinlich als Schüler der Lateinschule. Der von Weigel rühmend erwähnte Georg von Komerstadt 5 hatte um die Förderung und das Gedeihen wissenschaftlicher Bildung in Kursachsen große Verdienste. Von ihm stammen die Pläne zur Gründung der drei „Fürstenschulen." Die Fürstenschulen St. Afra zu Meißen und St. Marien zu Pforta wurden 1543 eröffnet. An Stelle der gleichfalls gestifteten Fürstenschule Merseburg wurde 1550 die Fürstenschule St. Augustin zu Grimma eröffnet. (Zu den Ursachen für die Eröffnung dieser Schulen vgl. Kap. III.) Die Stiftung sah Freistellen für Knaben zwischen 11—12 Jahren mit einer Ausbildungszeit von sechs Jahren vor. 54 Freistellen hatte der Herzog zu besetzen, 100 bestimmten die Städte, 76 waren Familien des ritterlichen Adels vorbehalten. Die Jungen waren in den Schulen internatsmäßig untergebracht. An jeder Schule sollten ein Rektor sowie zwei bzw. drei Baccalaurei angestellt sein. „Der Unterricht auf den neuen Schulen Sachsens näherte sich mit gesteigerten Anforderungen dem Lehrbetrieb auf der Universität an. Latein in reiner Form sollte nach Möglichkeit Schreib- und Umgangssprache sein; Ciceros Briefe wurden daher bevorzugt. Das Griechische ward bald mit Eifer betrieben; auch schwierigere klassische Autoren, selbst Stücke des Neuen Testaments wurden gelesen. Die Erklärung des Sprachlichen und des Sachgehalts wurde bei' der Lektüre ineinandergefügt, so daß ein Stoff realer Kenntnisse nicht fehlte, auch in bezug praeside M. Joh. Zach. Hilligero . . . , Wittenberg 1721, S. 4. Mit geringen Abweichungen sprachlicher Art auch in: G. Buchwald, Wittenberger Ordiniertenbuch, Bd. 2: 1560— 1572, Leipzig 1895, S. 8 7 - 8 8 = Nr. 765. 3 Vgl. W. Schuberth, Chronik der Stadt Großenhain vom Jahre 1088 bis auf die Gegenwart, Großenhain 1887-1892, S. 50, S. 164, S. 184. - Vgl. Großenhain im Wandel der Zeiten, hg. vom Rat der Stadt Großenhain, Großenhain 1954. 4 Ebenda, S. 234, S. 294. 5 Vgl.: ADB, Bd. 16, Leipzig 1882, S. 498; J. Reimers, Aus dem Leben des Dr. Georg von Kommerstädt, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Stuttgart 54 (1935) = 3. F. 5, S. 87—101. Das politische Wirken und die Bedeutung des albertinischen Rates Komerstadt spiegelt wider: Moritz von Sachsen, Politische Korrespondenz, Bd. 2, Leipzig 1904; Bd. 3, Berlin 1978.

S T U D I U M IN L E I P Z I G

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auf Geschichte und Mathematik. Die eigentliche Philologie und höhere Mathematik, Theologie und Philosophie, mehr noch natürlich die eigentlichen Fachwissenschaften des Rechtsund der Medizin blieben der Universität vorbehalten." 6 Wöchentlich gab es 28 Stunden Unterricht, außerdem zahlreiche musikalische Übungen. Im Schülerverzeichnis der Fürstenschule St. Afra zu Meißen wird Weigel in folgender Weise erwähnt: „Valentin Weigel, Haynensis 1549—1554." 7 Nach Weigels eigener Angabe hätte er allerdings schon ab 1548 die Schule besuchen müssen. Opel meint, Weigel könnte das J a h r aus der Erinnerung gegeben und sich dabei geirrt haben. Der genannte Rektor Georg Fabricius, ein hervorragender Humanist, war zu seiner Zeit- durch lateinische Gedichte, durch historische und theologische Schriften und nicht zuletzt durch antike Klassikereditionen (Vergil, Ovid, Horaz) bekannt geworden. 8 Bemerkenswert erscheint, daß sowohl Fabricius als auch der von Weigel erwähnte Konrektor Hiob Magdeburg (Magdeburger) 9 theologisch suspekt waren. Fabricius suchte zwischen Melanchthon und Flacius zu vermitteln und galt mit der Auffassung der Abendmahlslehre im Sinne Melanchthons als Calvinist. Magdeburg wurde als Flacianer 1569 seines Amtes entsetzt und später in Schwerin bzw. Lübeck, seinen späteren Wirkungsstätten, des Manichäismus beschuldigt. Im Sommersemester des Jahres 1554 wurde Weigel an der Leipziger Universität als kurfürstlicher Stipendiat immatrikuliert. Auch aus seiner Immatrikulationsgebühr von 7 Groschen 1 0 — die volle Höhe betrug 10 Groschen — geht hervor, daß er nicht wohlhabend war. Sein Studiengang war der in jener Zeit gewöhnliche. Die Studenten hatten in der Artistenfakultät zunächst ihr Wissen von den alten Sprachen zu vertiefen, ebenso ihre — nicht gerade tiefe — Kenntnis der alten Autoren sowie der antiken, namentlich der aristotelischen Philosophie. „Für das erste Semester war griechische und lateinische Grammatik, Dialektik und Poetik, für das zweite von Neuem die Grammatik der beiden alten Sprachen, ferner Dialektik und Rhetorik, und endlich für das dritte wiederum Poetik und Rhetorik und außerdem noch Physik und die Elemente der Mathematik vorgeschrieben." 1 1 Die angehenden Baccalaurei H. Heibig, Die Reformation der Universität Leipzig im 16. Jahrhundert, Gütersloh 1953, S. 98—99. — Vgl. zu den Fürstenschulen: E . Schwabe, Das Gelehrtenschulwesen Kursachsens von seinen Anfängen bis zur Schulordnung von 1580, Leipzig — Berlin 1914. Heibig fußt stark auf dieser Arbeit. Vgl. G. Zschäbitz, S t a a t und Universität. Leipzig zur Zeit der Reformation, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409—1959. Beiträge zur Universitätsgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1959, S. 34—67. 7 Vgl. A. H. Kreyssig, Afraner-Album. Verzeichnis sämmtlicher Schüler der Königlichen Landesschule zu Meissen von 1543 bis 1875, Meissen 1876, S. 13. Hier ist auch Weigels Geburtstag mit dem 7. August 1533 angegeben. 8 Vgl. zu Fabricius: NDB, Bd. 4, Berlin (West) 1959, S. 7 3 4 - 7 3 5 ; H. Entner, Zum Dichtungsbegriff des deutschen Humanismus, in: I. Spriewald u. a., Grundpositionen der deutschen Literatur im 16. Jahrhundert, Berlin — Weimar 1972, S. 371—372. 9 Vgl. K. Olzscha, Hiob Magdeburg (1518—1595). Lebensbild eines Annabergers, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte von Annaberg und Umgegend, Annaberg 6 (1898) S. 4 5 - 6 0 . , 0 Vgl. G, Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, Bd. I : Die Immatrikulationen von 1 4 0 9 - 1 5 5 9 , Leipzig 1895, S. 6 9 9 : „Valentintis Weigel Hainensis 7 gr.". " J . O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 10. 6

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I X . 1 . VALENTIN WEIGEL — LEBEN UND WIRKUNG

mußten im Bakkalaureatsexamen das Amt eines Respondenten versehen. Weigel unterzog sich dem Examen um Michaelis 1558 (ad Aquinoctium autumnale) unter dem Dekanat des Magisters Michael Barth. 12 Wahrscheinlich wurde er geprüft: in Mathematik von Magister Mauricius Steinmetz, in der Grammatik der alten Sprachen von Magister Georg Masbach, zu einem Dichter (wohl zu Vergil) von Magister Maximus Geritz. 13 Auch nach Erlangung des ersten akademischen Grades mußte der junge Baccalaureus, dem herrschenden Universitätsbetrieb entsprechend, regelmäßig Disputationen und Deklamationen beiwohnen bzw. in ihnen selbst seine Auffassungen verteidigen. Weigels Thesen einer solchen Disputation, die er im Wintersemester 1558/59 hielt, sind erhalten geblieben. „Sie betreffen die Mondfinsterniß und erläutern die einzelnen dabei vorkommenden Erscheinungen in der noch heut üblichen Weise. Bemerkenswerth scheint es aber doch, daß auch hierbei die aristotelische Terminologie eine Rolle spielt, wenn z. B. in der vierten These behauptet wird, der zureichende Grund der Verfinsterung sei der Erdschatten, in welchen der Mond bei seiner Bewegung hineingerathe. Als Zweck (causa finalis) der Erscheinung wird in teleologischer Betrachtungsweise angeführt, daß wir Menschen hierdurch die Größe der Sonne, des Mondes und der Erde so wie ihr gegenseitiges Verhältniß wahrnehmen könnten. Wie Weigel die beiden Quästionen beantwortet hat, ob zur Zeit der Kreuzigung Christi eine natürliche Sonnenfinsterniß gewesen sei, und — ob der Mondkörper größer sei als der Sonnenkörper, darüber können wir leider nicht einmal eine Vermuthung anstellen." 14 Zu Weigels Zeit war Johann Hommel15, latinisiert Johannes Homilius, Mathematikprofessor in Leipzig. Er war der Schwiegersohn des berühmten Joachim Camerarius. Im Gegensatz zu Rheticus war er Gegner des Copernicus. Gerühmt wurde seine Geschicklichkeit, mathematische Instrumente zu erfinden. Mit ihnen bestimmte er u. a. die geographische Länge und Breite von Leipzig genauer. Nachfolger Hommels war der bereits erwähnte M. Steinmetz. Er hatte 1558 ein „Kurzes Verzeichnis der hauptsächlichsten seit Christi Geburt bis 1558 gesehenen Cometen" veröffentlicht. Sein Unterricht mag eine Quelle für Weigels Neigung zur Mathematik und Astronomie gewesen sein. Bereits 12

Vgl. ebenda, S. 11. Jedenfalls lehrten die Genannten zu jener Zeit diese Fächer an der Universität. Vgl. F. Zarncke, Acta Rectorum Universitatis Studii Lipsiensis inde ab anno M D X X I I I usque ad annum MDLVIII, Leipzig 1859, S. 473f., S. 480; F. Zarncke, Die urkundlichen Quellen zur Geschichte der Universität Leipzig in den ersten 150 Jahren ihres Bestehens, Leipzig 1857, S. 793f. 14 Vgl. J. O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 12. Nach: F. Zarncke. Die urkundlichen Quellen, a .a. O., S. 860. — Vgl. M. Schwarzburger, Die Mathematikerpersönlichkeiten der Universität Leipzig 1409—1945, in: Karl-Marx-Universität Leipzig 1409—1959; Bd. 1, a. a. O., S. 355f. Das vorhandene handschriftliche und gedruckte Quellenmaterial wurde von der Autorin leider nicht genutzt. »5 Zu J. Hommel vgl.: ADB, Bd. 13, Leipzig 1881, S. 58; vgl. O. Dorn, Magister .Johannes Hummel aus Memmingen, Professor der Mathematik an der Universität Leipzig, in: Memminger Geschichts-Blätter, Memmingen 22 (1937) S. 6—8. Die auch hier wiederholte Auffassung, Hommel habe nichts veröffentlicht, widerlegt: J. G. Schelhorn, Beyträge zur Erleuterung der Geschichte, besonders der Schwäbischen Kirchen und Gelehrten Geschichte, 1. Stück, Memmingen 1772, S. 171—173. 13

STUDIUM

IN

LEIPZIG

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im Wintersemester 1558/59 wurde Weigel zum Magister promoviert. Die Prüfung leiteten der Prokanzler Magister Jakob Lotgen sowie Michael Barth, Georg Masbach und Caspar Jungermann. 1558 war für die Philosophische Fakultät der Universitas Lipsiensis ein neues Statut bestätigt worden. Demnach gab es an der Fakultät neun Professuren. Ihre Vertreter hatten zu behandeln: „I. Erklärung der besten Autoren beider (klassischen) Sprachen, des Griechischen und Lateinischen, besonders in jedem Jahre etwas aus den Schriften des Aristoteles über Ethik und Politik. II. Erläuterung griechischer Bücher des Aristoteles, häufig zur Dialektik; I I I . (Höhere) Mathematik, IV. Arithmetik und Berechnungskunst ; Lehre über die Sphäre mit Gebrauch der Ringkugel. V. Naturlehre, Physik; elementar nach Melanchthon und sodann nach Aristoteles. VI. Rhetorik, Erklärung von Schriften Quintilians und Ciceros; teilweise durch den Physiker [Straton von Lampsakos — S. W.]. VII. Poetik; Erklärung von Dichtungen Virgils und Komödien des Terenz; Anfertigen (Komposition) eigener Verse. V I I I . Elemente der Dialektik nach einer Schrift Melanchthons für die Knaben. I X . Elemente griechischer und lateinischer Grammatik, gleichfalls nach Melanchthon sowie aus der Syntax des Linacer." 1 0 Wie man sieht, wird auch Aristoteles noch durchaus studiert — nicht nur Melanchthon und andere Kommentatoren! Großer Wert wurde auf Disputationen und Deklamationen gelegt. Für die Zulassung zum Baccalauréat wurde in der Regel ein dreisemestriges Studium verlangt, für das Magisterium weitere vier Semester. Der Baccalaureus sollte das 17., der Magister das 21. Lebensjahr erreicht haben, ohne daß diese Altersfestsetzung dogmatisch beachtet werden mußte. Neben einer gewissen Zahl von Disputationen wurde v6m angehenden Baccalaureus verlangt : Kenntnis der lateinischen und griechischen Grammatik, der Elemente der Dialektik, Rhetorik und Physik sowie der Arithmetik und der Elemeiite der „Weltkunde". Vom Magister wurde darüber hinaus eine etwas gründlichere Kenntnis beider klassischer Sprachen, dazu Wissen in der Philosophie und den mathematischen Disziplinen gefordert. Er sollte zudem mindestens fünfzehn öffentlichen Magisterdisputationen beigewohnt und in dreißig Baccalaureatsdisputationen opponiert haben. 17 Über Weigels Magisterdisputation hat sich nichts erhalten. Wir kennen aber einige Disputationen, die er 1559/60 als bereits promovierter Magister hielt. Weigel disputierte im Sommer 1559 zwei" mal unter dem Dekanat des Magisters Ernst Bock bzw. des Magisters C. Jungermann und ebenfalls zweimal unter dem Dekanat des Magisters Balthasar Gutler im Wintersemester 1559/60. Die Thesen der letzten Disputationen sind denen seiner Bakkalaureatsdisputation nahe verwandt. Sie beweisen, daß der angehende Pfarrer Valentin Weigel stark naturwissenschaftlich bzw. H. Heibig, Die Reformation der Universität Leipzig im 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 115. -T- Zur „Syntax des Lynacer" : Thomas Linacer, englischer Humanist und Arzt (Gründer des „Royal College of Physicans"), gehört zu den Begründern des Renaissancehumanismus und besonders der Griechisch-Studien in England. J . Colet, Erasmus von Rotterdam und Th. Morus gehörten zu seinen Freunden. Unter seinen Schriften erfuhr eine lateinische Stilistik ähnliche Verbreitung wie die Grammatiken Melanchthons. " Vgl. F . Zarncke, Die Statutenbücher der Universität Leipzig aus den ersten 150 Jahren ihres Bestehens, Leipzig 1861, S. 534, S. 531.

16

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I X . 1 . VALENTIN

WEIGEL — LEBEN UND WIRKUNG

philosophisch interessiert war. In den Thesen zu den Magisterdisputationen geht es um Probleme des Einflusses der Gestirne auf den Menschen, über die Unendlichkeit des Himmels, über die ersten Qualitäten: Wärme, Kälte, Flüssiges und Trockenes, deren Zusammensetzung und Vermischung. Wie aus den genannten Disputationen hervorgeht, ging Weigel bei seinen Studien auf Aristoteles selbst zurück. Er begnügte sich nicht mit den Lehrbüchern Melanchthons, die in der Regel den öffentlichen Vorträgen zugrunde lagen. Kurz nach seiner Magisterpromotion wurde Weigel von der bayrischen Nation zum Kurator des Paulinums gewählt. 18 (Das Paulinum würden wir heute als Studentenheim bezeichnen.)Weigel hatte sich offenbar aus materiellen Gründen beim Rektor um dieses Amt beworben. Die Statuten des Jahres 1543 für das Paulinum geben uns über das Reglement der damaligen Studenten anschaulich Aufschluß. 19 Bis zu Weigels Wirken als Kurator mag sich daran wenig geändert haben. So mußten die Kuratoren über die Einhaltung der Hausordnung wachen, die Wohnungen vermieten und wöchentliche Disputationen halten. Sie hatten darauf zu sehen, daß auf den Stuben keine Waffen geführt und keine „allzu großen" Zechgelage veranstaltet wurden, daß man sich bei Tisch des Schreiens und Zankens enthielt, keine Frauen ins Heim brachte, Tische und Bänke nicht beschädigte usw. Für die Überschreitung dieser Vorschriften waren empfindliche Geldstrafen festgelegt. Das Amt des Kurators vermochte also nur jemand zu erfüllen, der entsprechende moralische Festigkeit und Ansehen bei seinen Kommilitonen genoß. Im Jahre 1563 ging Weigel nach Wittenberg. Es ist unbekannt, ob er hier nur studierte oder auch schon lehfte. Opel schreibt zu Weigel in dieser Zeit: „Jedenfalls scheint er in nahem Verhältnis zu . . . Paul Eber, dem Haupte der theologischen Facultät nach Melanchthons Tode, gestanden zu haben." 20 Nun ordinierte ihn zwar 1567 P. Eber, der 1558 Stadtpfarrer zu Wittenberg und Generalsuperintendent des Kurfürstentums Sachsen geworden war, aber Eber hat zwischen 1558 und 1567 die stattliche Zahl von 925 Kandidaten examiniert und zum Pfarramt ordiniert, wie seine erhalten gebliebenen Aufzeichnungen besagen. 21 Daher scheint Opels These etwas gewagt. Immerhin mag Weigel 18

Vgl. F. Zarncke, Acta Rectorum Universitatis Studii Lipsiensis, a . a . O . , S. 495 : „Eodem die [29. April — S. W.] dominus D. Joannes Pfeffinger et dominus Camera" rius mihi scripserunt, quod natio Bauarica elegisset in curatorem Paulinj collegij M. Valentinum Weigelium Hallensern, cum non haberent aliquem in natione sua, qui curationem illam peteret vel suseipere vellet; rogabantque, vt illum pro curatore reeiperem. Id quod statim fecj, cum ipse mihi literas reddidisset." — Es gab in Leipzig vier „Nationen", nach den Herkunftsorten der Studenten: a) die Meißnische Nation (aus dem Herrschaftsbereich des Kurfürsten, dem thüringisch-obersächsischen Raum stammend), b) die sächsische Nation (Vertreter des Kurkreises Sachscn und Brandenburgs, Norddeutschlands, Englands, Skandinaviens, der baltischen Lande), c) die bayerische Nation (Vertreter aus Franken, Süddeutschland, Österreich, der Schweiz, auch Frankreichs, Italiens, Spaniens), d) die polnische Nation (Studenten aus Ostdeutschland, Böhmen, Mähren, Polen, Litauen, Rußland, Ungarn). (Vgl. H. Heibig, Die Reformation der Universität Leipzig . . . , a. a. O., S. 9—10.) 19 F. Zarncke, Die Statutenbücher der Universität Leipzig, a. a. O., S. 289—302. 20 J. O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 17-18. 21 Vgl. Ch. H. Sixt, Paul Eber. Ein Stück Wittenberger Lebens aus den Jahren 1532—

UNIVERSITÄT

WITTENBERG

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auch von E b e r die Vorliebe für die Naturwissenschaften übernommen haben, denn bevor Eber zur theologischen Fakultät überwechselte, war er Professor für Physik und unterrichtete sowohl Mathematik als auch Botanik und Astronomie. Opels Meinung gründet sich wohl auf Weigels o. g. Lebenslauf. Für die Wittenberger Artistenfakultät hatte Melanchthon neue Fakultätsstatuten abgefaßt. 22 So war z. B . dem Gräzisten die Beschäftigung mit Homer, Hesiod, Eurípides, Sophokles, Theokrit, einigen Reden des Demosthenes und einem griechischen Historiker vorgeschrieben. Dazu sollte er von Zeit zu Zeit einen der Paulusbriefe des Neuen Testaments nach Worterklärung und Syntax durchnehmen, um die Hörer vom Nutzen der Sprachstudien für das Verständnis des Neuen Testaments zu überzeugen. Der Griechischprofessor hatte auch die Ethik zu vertreten, dabei primär Aristoteles' „Nikomachische Ethik" zu interpretieren. Die zwei Professoren für Latein sollten die wichtigsten Schriften Ciceros behandeln. In den zwei Professuren für Mathematik waren Grundlage der Vorlesungen: das von Melanchthon neubearbeitete Lehrbuch des Johannes de Sacrobosco „De Sphaera", Euklid, Ptolemaios' „Almagest", die Physik des Aristoteles und die pharmakologische Schrift des Dioskurides. 23 . Der Professor für Naturgeschichte hatte die Auffassungen Plinius' vorzutragen. Vor Weigels Aufenthalt in Wittenberg hatte Caspar Peucer, der Schwiegersohn Melanchthons, die Astronomieprofessur in Wittenberg inne. E r wiederumwar Nachfolger des Erasmus Reinhold, der die „Prutenischen Tafeln" zusammengestellt hatte. Peucer hatte in Wittenberg 1545 den Magistergrad erworben und wurde in die Artistenfakultät aufgenommen, in der er zunächst privatim über Elemente der Astronomie und Mathematik las, bis er 1552 die Vorlesungen Melanchthons in diesen Fächern übernahm. E r trug Mathematik nach Euklid, Astronomie nach Ptolemaios, Elemente der Optik und Geographie vor. Im wesentlichen lagen diesen Vorlesungen die Darstellungen zugrunde, die er in seinem Werk „De dimensione terrae" (Wittenberg 1550) gegeben hatte. Im Jahre 1551 veröffentlichte er ein mit beweglichen Scheiben ausgestattetes Werk „Elementa doctrinae de circules coelestibus et primo motu", dem eine historische Zusammenstellung aller Gelehrten beigegeben war, die sich vor 1550 mit Astronomie beschäftigt hatten. Unter ihnen wird E . Reinhold besonders hervorgehoben. Gleichzeitig nennt er Copernicus den größten Astronomen seit Ptolemaios, 1569, Ansbach 1857, S. 32; G. Buchwald, D. Paul Eber - der Freund, Mitarbeiter und Nachfolger der Reformatoren. Ein Bild seines Lebens und Wirkens, Leipzig 1897. 2 2 Zum folgenden vgl. W. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, Halle 1917, S. 215—218. — Zwischen 1553 und 1560 wurden für den Studiengang an der Universität Wittenberg und das Verhalten der Studenten neue Satzungen erlassen. Vgl.: W. Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Teil 1 (1502—1611), Magdeburg 1926, S. 302—308. Vor dem 15. 1. 1562 wurden auch Ordnungen und Satzungen der Universität und Stadt über Wandel, Kleidung, Unterkunft der Studenten, Verlöbnisse und Hochzeiten beschlossen. Das interessante Zeitdokument in: ebenda, S. 3 2 6 - 3 3 5 . Vgl. auch S. 3 3 5 - 3 3 7 . 20 Vgl. D. Wattenberg. Die Astronomie in Wittenberg zur Zeit des Copernicus, in: Die Sterne, Leipzig 49 (1973) S. 3 3 - 4 3 .

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I X . 1 . VALENTIN WEIGEL — LEBEN UND WIRKUNG

dessen Lehre er aber dennoch ablehnt. Peucers 1553 in Wittenberg gedruckte Schrift „Commentarius de praecipuis divinationum generibus" läßt erkennen, daß er sich auch mit astrologischen Prognostiken beschäftigte. Als Peucer 1554 Nachfolger Reinholds in der Professur für höhere Mathematik geworden war, führte er seine Vorlesungen im alten Sinne weiter, kündigte aber für 1559 ein Kolleg über die Planetenlehre an, in dem er in Aussicht stellte, die Bewegung der Planeten sowohl den Tafeln des Copernicus als auch den Prutenischen Tafeln Reinholds anzupassen. Die Vorlesung wurde zunächst nur in Abschriften verbreitet; ein Exemplar gelangte nach Straßburg, wo das 534 Seiten umfassende Werk 1568 mit einem Vorwort von C. Dassypodius erschien.24 Dassypodius hielt diese Arbeit eines „unbekannten Gelehrten" für ein Werk von E. Reinhold, zumal mehrere Stellen wörtlich mit Reinholds Erklärungen zu Peurbachs „Theoricae novae" übereinstimmen. Das Mißverständnis klärte sich auf, als Peucer 1571 selbst eine neue Ausgabe veranstaltete und darin den schon skizzierten Sachverhalt ausführlich mitteilte. In der Widmungsadresse an den Landgrafen von Hessen unterstrich Peucer noch einmal, die copernicanische Lehre sei als Unterrichtsgegenstand an den Hochschulen nicht geeignet. Jedenfalls zeugt auch dies für die Richtigkeit des bereits an anderer Stelle (vgl. Kap. II und III) Gesagten, daß Copernicus im Bereich des Protestantismus keineswegs totgeschwiegen oder erbittert bekämpft worden ist. Im Jahre 1566 kam Tycho de Brahe nach Wittenberg, um bei Peucer seine Studien fortzusetzen. Dieser war aber 1560 zum Doktor der Medizin promoviert worden und zur medizinischen Fakultät übergetreten. Seine Mathematikprofessur hatte Magister Sebastian Dietrich (Theodoricus) übernommen, der über Mathematik, die Planetentheorien von Ptolemaios und Peurbach sowie allgemeine Kosmographie vortrug. In Wittenberg erschienen auch die umfangreichen „Novae quaestiones sphaerae" von Theodoricus; zuerst 1564, bis 1605 noch in sechs weiteren Auflagen. Seit 1555 lehrte in Wittenberg Bartholomäus Schönborn „niedere Mathematik". Er hatte ebenfalls astrologische Interessen, kündigte 1563 eine Vorlesung über Astrologie und die Nativitäten an, gab neben anderen Schriften einen „Computus vel Calendarium astronomicum" (1567) heraus.25 Schönborn hatte die von Peucer eingerichteten Kurse über Optik, Erdkunde und Meteorologie fortzuführen und das zweite Buch des Plinius, Hesiod sowie die naturwissenschaftlichen Schriften des Aratos und des Pomponius Mela zu erklären. Vom Wirken des Georg Joachim Rheticus, 1537—1542 Professor für Mathematik in Wittenberg und der eigentliche Popularisator des Copernicus,26 hatten sich in Wittenberg offenbar keine Spuren erhalten. 24

25 26

[C. Peucer], Hypotyposes orbium coelestium congruentes cum tabulis Alfonsinis et Copernici, seu etiam tabulis Prutenicis. Mit e. Vorw. v. C. Dassypodius, Straßburg 1568. C. Peucer, Hypotheses astronomicae seu theoriae planetarum; Ptolemaei et aliorum veterum doctrina ad observationes Nicolai Copernici, et canones motuum ab eo conditos accomodatae, Wittenberg 1571. W. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, a. a. O., S. 282. Vgl. K.-H. Burmeister, Georg Joachim Rheticus 1514—1574. Eine Bio-Bibliographie, Bd. I, Wiesbaden 1967; Bd. II: Quellen und Bibliographie, Wiesbaden 1968; Bd. III:

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Insgesamt war die Wittenberger Artistenfakultät, und nicht nur sie, vom Geist Melanchthons geprägt. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Abteilung der Artistenfakultät war in den 50er und 60er Jahren des 16. Jh. im Sinne Melanchthons maßgebend für viele andere Universitäten. 27 Georg Major führte in der theologischen Fakultät ab 1558 ständig das Dekanat. Er las vorwiegend über biblische Exegese und wurde zeitweilig von den Gnesiolutheranern heftig angefeindet. Paul Crells Vorlesungen erstreckten sich über die wichtigsten Bücher des Alten und Neuen Testaments, außerdem über Dogmatik auf der Grundlage der „Loci communes" Melanchthons. In der Artistenfakultät lehrten zu Weigels Studienzeit u. a. Johann Bugenhagen d. Jüng. und der jüngere Cruciger (letzterer z. T. auch in der theologischen Fakultät) sowie Christoph Pezel, der später in Nassau und Bremen als reformierter Theologe eine wichtige Rolle spielte. Hebräisch wurde zu Weigels Zeit von Heinrich Möller gelesen, römisches Recht von Joachim von Beust; auch Michael Teuber und Johann Schneidewein lehrten zu Weigels Studienzeit an der juristischen Fakultät. Esrom Rüdiger vertrat die Physik. Petrus Vincentius bzw. Johannes Ferinarius lasen Ethik und Dialektik. Die Geographie wurde stark beachtet und u . a . auch von Peucer geprüft. In Wittenberg wurden in dieser Zeit Flacius und seine Anhänger erbittert bekämpft. Johann Major läßt die Flacianer in seinen Satiren die Rolle von allerlei schädlichen Pflanzen übernehmen, durch deren Saft die Menschen in borstige Schweine, Hunde, Wölfe, Blattwanzen und Spinnen verwandelt werden. Oder die Flacianer zeigen sich der Welt als lichtscheue Eulen, als in eine Löwenhaut gehüllte Esel; Flacius wird direkt als Esel „besungen". J . Major las ab 1560 an der Wittenberger Universität über Poetik, vor allem über Vergil und Horaz. 28 In Wittenberg erhielt Weigel 1564 aufgrund seines guten Examens wiederum ein kurfürstliches Stipendium. In einem erhalten gebliebenen Revers 29 vom 2. Juli 1564 verpflichtet sich Weigel zum fleißigen Disputieren, Studieren und Predigthören und zur Annahme einer geistlichen Stelle in den kurfürstlichen Landen. Wir wissen über Weigels Wittenberger Zeit fast nichts. Winfried Zeller entdeckte einen Autographen Weigels aus dieser Zeit. In einem neu aufgefundenen Exemplar der Erstausgabe der lateinischen „Confessio Augustana" nebst der „Apologia Confessionis Augustanae" von 1531 fand er viele Textunterstreichungen und Randbemerkungen; am Schluß sind vier Seiten Schreibpapier

27 28

Briefwechsel, Wiesbaden 1968; W. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, a. a. O., S. 257-258. Vgl. zum ff. W. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, a. a. O., S. 262, S. 292. — Siehe auch unser Kap. III. Vgl. G. Frank, Johann Major, der Wittenberger Poet. Ein Beitrag zur Geschichte der protestantischen Theologie und des Humanismus im XVI. Jahrhundert, Halle 1863. — Opel setzt Johann und Georg Major gleich. Vgl. dagegen: ADB, Bd. 20, Leipzig 1884, S. 109—111; G. Ellinger, Die neulateinische Lyrik Deutschlands in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, Berlin — Leipzig 1929, S. 120—126. Faksimile bei A. Israel, M. Valentin Weigel, a. a. O., zwischen S. 6 und 7. Original im Staatsarchiv Dresden, Original-Urkunde Nr. 11722.

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I X . 1 . V A L E N T I N W E I G E L — L E B E N UND

WIRKUNG

eingeheftet. Auf der dritten Seite findet sich der Namenseintrag: „Vallentinus Vigelius 12 Junij anno 64". 3 0 Handschriftliche Untersuchungen ergaben, daß es sich um das Handexemplar des Theologiestudenten Weigel handeln muß. Besonders sind in dem Band die Lehre von der Erbsünde nach der „Confessio Augustana", das Problem der Liebe, das Verhältnis von neuem Leben und Glauben unterstrichen. Der Fund bietet uns einen Einblick in das Material, das sich Weigel 1564 in Wittenberg für theologische Disputationen erarbeitet hat. Darum sind die Unterstreichungen und Randbemerkungen des neuen Weigelfundes in erster Linie für den theologischen Lehr- und Studienbetrieb in Wittenberg zur Zeit Weigels aufschlußreich. „Sie geben aber auch darüber Auskunft, mit welchen theologischen Fragen sich der Wittenberger Theologiestudent Weigel besonders beschäftigt hat. Wenn freilich bei dieser rein schulmäßigen Arbeit kaum eigenständiges Gut Weigels zu erwarten steht, so ist doch nicht zu verkennen, daß sich bereits hier und dort leise jene Interessenkreise andeuten, die im Denken des späteren Weigel eine grundlegende Rolle spielen sollten." 31 Am 16. November 1567 wird Valentin Weigel in das einträgliche Amt eines Pfarrers von Zschopau eingeführt. 32 Zschopau 33 (früher auch Tzschachpe, Scopa, Scapa, Zopa, Tschopa, Tschope, Tzschopa, Tzschoppe u. a.) existierte bereits 1292 als „civitas". Mitte des 15. J h . kam es in Wettinischen Besitz, nach der Erbteilung von 1485 an die Linie der Albertiner. 1451 hatte die Stadt das Marktrecht erhalten. Zschopau wurde wesentlich durch den in seiner Umgebung betriebenen Silberbergbau geprägt, der nach dem Dreißigjährigen Krieg verfiel. Die stärkste Innung in der Stadt waren im 16. J h . die Tuchmacher. Nach Reichel 3 ' 1 verheiratete sich Weigel 1568 mit Katharina Beuche (richtiger Beich), wahrscheinlich die Tochter des Pastors Balthasar Beich (Poch) aus der Großenhainer Ephorie. Aus dieser Ehe sind nach der gleichen Quelle drei Kinder hervorgegangen: Theodora (geb. 29. 9. 30

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W. Zeller, Valentin Weigel und die Augsburgische Konfession. Zu einem neuen Weigel — Autograph, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Leiden 11 (1959) S. 228. Ebenda, S. 232. Reichel teilt aus dem in Gotha aufbewahrten eigenhändigen Verzeichnis der von P. Eber bis 1567 ordinierten Geistlichen (J. G. Reichel, Vitam, fata et scripta Valentini Weigelii, a. a. O., S. 11; vgl. Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 18, Bl. 80) folgenden Bericht Ebers mit: „Anno 1567 d. 16. Novembris . . . a me ordinati sunt hi duo: M..Val. Weigelius Haynensis, egressus Scholani patriae, versatus est in Schola illustrj Misenae sexennium, in Academia Lipsiensi annos none, et liberitate Electoris Sax. in hac Academia, quatuor ferme, vocatus hinc mandato Elect. a Senatu civitatis Misnensis Tschopau, ad munus Pastoris, commendatus mihi litteris ejusdam Senatus . . ." Vgl. auch: R. Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch. Die Parochien und Pfarrer der ev.-luth. Landeskirche Sachsens (1539—1939), T. 1, Freiberg i. Sa. 1939/40, S. 715; T. 2, Abt. 2, Freiberg i. Sa. 1940, S. 999. Vgl. zum folgenden: F. R. Herfurth, Geschichtliche Nachrichten von Zschopau, in: Jahresbericht über das Königl. Schullehrerseminar zu Zschopau, Wiss. Beil., Zschopau 15 (1885) S. 1 - 8 0 . J . G. Reichel, Vitam, fata et scripta Valentini Weigelii, a. a. O., S. 11. — Nach G. Müller (ADB, Bd. 41, Leipzig 1896, S. 472) hat sich Weigel bereits 1565 mit Katharina Poch verehelicht.

P F A R R E R VON Z S C H O P A U

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1569), Nathanael (geb. 12. 2. 1571) und Christian (geb. 15. 4. 1573). Die beiden Söhne Weigels finden sich noch in einem Schriftstück vom 27. 3. 1600, die Absetzung von Weigels Nachfolger, Benedikt Biedermann, betreffend. Es heißt hier im Zusammenhang mit der Beschlagnahme Weigelscher und anderer häretischer Schriften: „Fürs dritte, ein Büchlein Directorium seu Informatorium Theologicum genanndt. Dann desselben Zwey Exemplaria, eines vom Pfarrer Zur Zschopau. Das annder von Zweyen Medicinae studiosis, uf s. Annenbergk (deren Vater Zuuor Zu Zschopau auch Pfarrer gewesen, in den Synodum überschickht . . ,)."35 Aus Weigels Leben und Wirken in Zschopau ist'relativ wenig bekannt. Als einzige Predigt, die zu seinen Lebzeiten gedruckt wurde, gilt seine Leichenpredigt für Martha von Rüxleben, Frau des kurfürstlichen Jägermeisters Cornelius von Rüxleben.36 Das von Weigel unterzeichnete Subskript stammt vom 24. März 1576. Nach Rotth hat Weigel 1568 in seiner Gemeinde die kirchliche Armenpflege organisiert. Er ist „zu niemand gangen / hat sich aller Conversation entschlagen".37 Eine Reihe von Legenden ranken sich um seine Tätigkeit, sie seien hier nicht mitgeteilt. Weigel galt als glänzender Kanzelredner38, und er war so wenig der Häresie verdächtig, daß er als „Visitor localis in Dioecesi Chemnicensi" verordnet worden ist.39 Weigel hat 1577 widerspruchslos die Konkordienformel unterschrieben.40 Die Begründung dafür hat er in seinem „Dialogus de Christianismo" wie folgt gegeben: „Nicht ihrer Lehre oder Menschenbüchern habe ich mich unterschrieben, sondern dieweil sie ihre Intention haben auf die apostolische Schrift und dieselbe allen Menschenbüchern 35

Vgl. S t a a t s a r c h i v Dresden, Oberkonsistorium, Loc. 2000, Generalvisitation der nachvolgenden S t ä d t e im Meißnischen Kreiß . . . 1598-1599, Bl. 307ff. - Theodora Weigel h a t in Annaberg a m 9. 9. 1600 E r a s m u s Mittelbach geheiratet. Sie u n d ihr Bruder N a t h a n a e l werden 1602 im 17. H ä u s e r l e h n b u c h v o n Annaberg, Bl. 278 gen a n n t . Am 9. 8. 1602 wird E. Mittelbach m i t N a t h a n a e l Weigels H a u s in A n n a b e r g belehnt. (19. Häuserlehnbuch von Annaberg, Bl. 37.) Die Familie Mittelbach verzieht nach K a a d e n / B ö h m e n . E r a s m u s M. wird d o r t 1612 Bürger. I m S t a d t b u c h v o n K a a d e n wird Theodora Mittelbach mehrfach e r w ä h n t . (Vgl. u. a. J . H o f m a n n , K u r z e r Leitfaden f ü r Häusergeschichte. Anleitung zur S t o f f s a m m l u n g f ü r die Geschichte der Baulichkeit einer O r t s c h a f t , i n : Erzgebirgs-Zeitung, Teplitz-Schönau 44 (1923) S. 119—121, 142—143.) Ihre Söhne wurden Mediziner! Diesen genealogischen P r o blemen ist hier nicht nachzugehen. 36 Abdruck bei J . O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 343—355. — O r i g i n a l e x e m p l a r in der Universitäts- u n d Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, S i g n a t u r Z-d 1380. Die Predigt ist d e m B r u d e r d e r V e r s t o r b e n e n , Weigels „günstigen H e r r n u n d F o r d e r e r Cäsar v o n B r e i t e n b a c h zu Seigeritz" gewidmet. H i e r f i n d e n sich a u c h Weigelsche G r u n d a u f f a s s u n g e n : Der Tod ist lediglich ein seliger Schlaf, ein Christ m u ß täglich sterben lernen, die W e l t m i ß b r a u c h t die S c h r i f t u. a. Zu C. v . R ü x l e b e n vgl.: S t a a t s archiv Dresden, B e s t a n d : Geheimer R a t , F i n d b u c h I I I , Bd. 1: Malefizsachen, S. 24— 26, 68 = Loc. 9667, 9668, 9889, 9690. 37 Vgl. A. Chr. R o t t h , Nöthiger U n t e r r i c h t Von P r o p h e t i s c h e n W e i s s a g u n g e n . . . D a b e y . . . Insonderheit Von dem Weigelio, w e i t l ä u f f t i g Meldung g e s c h i e h e t . . ., Leipzig 1694, S. [E 8 b]. 38 Vgl. J . G. Reichel, V i t a m , f a t a et scripta V a l e n t i n i Weigelii, a. a. O., S. 12. 39 Vgl. A. Chr. R o t t h , Nöthiger U n t e r r i c h t , a. a. O., S. [E 4 b]. 40 Vgl. S t a a t s a r c h i v Dresden, Geh. R a t (geh. Archiv), Loc. 10 304, S u b s c r i p t i o n e s d e r Theologen . . . 1577, Bl. 24.

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I X . 1 . V A L E N T I N W E I G E L — L E B E N UND W I R K U N G

vorziehen . . k o n n t e ich das wohl leiden . . . Zudem war es eine schnelle Überhuiung oder Übereilung, daß man nicht etliche Tage oder Wochen solche Dinge einem jeden insonderheit zu überlesen vergönnte, sondern [es] nur in einer Stunde dem ganzen Haufen vorgelesen und darauf die Subskription gefordert [hat]. Zum dritten wollte mir . . . nicht gebühren, dem Teufel ein Freudenmahl zu machen und anzurichten, daß der ganze Haufen geschrien hätte: Da, da, wir haben es wohl gewußt, er ist nicht unserer Lehre gemäß . . . Zum Lohn hätten sie mich zertreten und zerrissen, wäre mir billig geschehen, daß ich vor der Zeit mir mein Leben hätte abgekürzet. Mein Bekenntnis wäre keinem unter dem ganzen Haufen nütze gewesen, nur ärgerlich. Keiner wäre von der falschen Lehre abgetreten, mir wäre geschadet worden und ihnen gar nichts geholfen, und viele Dinge wären dahinten geblieben durch mein unzeitiges Bekennen."41 Weigels Bekenntnis und seine theologische Bildung, seine Predigt, Seelsorge und sonstige Amtsverwaltung wurden von Visitatoren und Gemeinde gleichermaßen gerühmt. Dennoch gab es offenbar Reibereien. An den Chemnitzer Superintendenten Georg Langevoith sendet Weigel 1572 (die Vorrede ist unterzeichnet „Gegeben zu Zschopa den 22. Augustj des 1572: Jahres") eine Verteidigungsschrift. Danach muß Weigel aufgrund von 1570— 1572 gehaltenen Predigten denunziert worden sein. In den Akten heißt es: „Pfarherr M. Valentinus Weichet Hainensis . . . ist gelertt vnd gnungsamer geschickligkeitt erfundenn, hatt sich auch in den streitigenn artickeln De persona Christi et de coena Domini gantz richtigk erklehret vnnd sich von hertzen auf die Scripta Lutheri vnd Formutam Concordiae beruffenn . . . Was sich M. Valentinus Weichel vber den pfarherrn uff der Augustusburgk Matthiae Seydel beklagett, ist inliegende aus seiner handtschriefft zusehen." Diese Beilage ist leider nicht mehr bei den Visitationsakten. Seidels Klage dagegen ist erhalten: „M. Valentinus Weigel pfarherr vff der Tzschopa sol auf der Cantzel gesagett haben, R. P. Lutherus sey nicht rein in der Lehre gewesen, als ich aber fragte, ob er auch seine werleute hette, oder hette es selbst von ihme gehöret, gab er zur antwortt, er hette es von hören sagen, wüste keinen mitt namen zu nennen, von dem ers gehörtet! . . . Der gantze Radt vnnd gemeine geben ihren pfarherrn M. Valentino Weichel Zeugniß, er sey in seiner lehr vnd predigten rein, vnd ob er schon von seinem mießgunnern ausgeschrien, als solt er vff der Cantzel gesagt haben, R. P. D. Lutherus sey nicht rein gewesen, so widersprechen sie es doch semptlich vnd sonderlich, das sie solches von ihme niemals gehörtt, sondern sagen, er weise sie vielmehr in seinen predigten in des Herren Lutheri bücher, in denselben sollen sie neben der Bibel nachforschen^" 42 Auch findet sich 1581, als Weigel wegen Krankheit nicht examiniert 41 42

V. Weigel, Dialogus de Christianismo, in: V. Weigel, Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 508-509. Vgl. Staatsarchiv Dresden, Oberkonsistorium, Loc. 2012, Visitationsakten des Konsistoriums Dresden, Bl. 602—603. — Die Visitation vom 12. 3. 1583 attestiert Weigel „gute geschickligkeit" (Staatsarchiv Dresden, Loc. 2040, Visitations-Akten des Consistoriums Dresden 1583, Nr. 1, S. 260 a). — Vgl. G. Kawerau, Rez. zu: A. Israel, M. Valentin Weigels Leben und Schriften, Zschopau 1888, i n: Theologische Literaturzeitvng, Leipzig 13 (1888) Sp. 596.

CHRISTOPH

WEICHART

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werden konnte, in den Synodalakten der Vermerk: „Dieser soll suspekt sein des Calvinismus halben." Valentin Weigel verstarb in seinem Amte 1588. Eine Nachbildung seines Epitaphs 43 befindet sich seit 1888 wieder in der Martinskirche zu Zschopau. Weigel hatte, wie sich später herausstellte, eine Vielzahl von Traktaten, Predigten usw. höchst „gefährlichen", heterodoxen Inhalts hinterlassen. Sie wurden wahrscheinlich vom Kantor Christoph Weichart (Weigkard, Weichert) und von Weigels Nachfolger B. Biedermann liebevoll bewahrt und intensiv studiert. Weichart soll zuerst Schulrektor in Büdingen in der Grafschaft Isenburg gewesen und von dort nach Zschopau gekommen sein. Er stammte aus Döbeln. Von 1580 bis 1591 ist er als Kantor in Zschopau nachweisbar.44 Nach Arnold soll Weichart „die meisten von seinen [Weigels] schrifften nach seinem tod . . . abgeschrieben haben, auch deßwegen hernach seyn abgesetzet worden, worauf er weggezogen, daß man nicht gewust, wo er weiter hingekommen".45 Letzteres trifft nicht zu. Urkundlich gesichert ist Weicharts Wirken als Kantor von 1593 bzw. 1595 bis 1604 in Döbeln. Von dort geht er nach Mühlberg. 1604 bewirbt er sich erfolglos um das bedeutende Freiberger Kantorat458. Eine Verbreitung der Weigelschen Schriften durch Weichart zu Weigels Lebzeiten ist nicht nachzuweisen. Opel stellt schon fest: „Aus den . . . Actenstücken des Königlichen Haupt- und Staatsarchivs zu Dresden über die Absetzung des Pfarrers M. Benedictus Biedermann . . . scheint jedoch hervorzugehen, daß vor dem J. 1598 schwerlich gegen irgend Jemand in Zschopau eine Untersuchung wegen des Weigelianismus angestellt worden ist. Demzufolge könnte auch der Cantor Weickart aus diesem Grunde kurz nach Weigels Tode nicht aus seinem Amte entfernt und wol gar aus der Stadt gewiesen worden sein."46 Vertrauter sind wir mit dem Schicksal Biedermanns. 43

Text in: G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 2, a. a. O., S. 1090. 44 R. Vollhardt, Geschichte der Cantoren und Organisten v o n den Städten im Königreich Sachsen, Berlin 1899 (Reprint, Leipzig 1978), S. 353, S. 59. - Vgl. Staatsarchiv Dresden, Visitationsakten d. Dresd. Consistoriums v o n 1583, Loc. 2049, p. 216; Staatsarchiv Dresden, Religionseide, Loc. 2007, p. 123. 45 G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 2, a. a. O., S. 1091. — Vgl. J. G. Reichel, Vitam, fata et scriptis Valentini Weigelii, a. a. O., S. 19; E. F. W. Simon, Kurze historisch-geographisch-topographische Nachrichten v o n den vornehmsten Denkwürdigkeiten der bis zum Schluß des Jahres 1819 Königl. Sächsischen Amtsäßigen, vom Jahr 1820 an aber als schriftsmäßig zu behandelnden Berg-Stadt Zschopau im erzgebürgischen Kreise, Dresden 1821, S. 134. Simon verweist hinsichtlich Weicharts auf Chr. G. Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexikon, T. 4, Leipzig 1751, S. 1854-1855. Weigel wird von Simon S. 111, Biedermann S. 112 genannt. 45a Vgl. R. Vollhardt, Geschichte der Cantoren und Organisten . . ., a. a. O., S. 206; G. Schünemann, Die Bewerber um das Freiberger Kantorat (1556—1798), in: Archiv für Musikwissenschaft, Bückeburg — Leipzig 1 (1918/19) S. 183. — Vgl. auch Weicharts Religionseid von 1594 (Staatsarchiv Dresden, Loc. 2007, Religionseide 1594, Consistorium Meissen 1594, S. 123 a). « J. O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 30.

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I X . L . V A L E N T I N W E I G E L — L E B E N UND

WIRKUNG

Biedermann stammt aus Chemnitz/'7 1558/1559 hat er in Leipzig studiert, offenbar an der Artistenfakultät. 48 Am 21. 9. 1559 wurde er in die Fürstenschule zu Pforta aufgenommen, also nach seinem Studium, „sei es, daß er sich für seinen Bildungsgang mehr versprach, sei es wegen materiell günstiger Bedingungen — er konnte sich wohl auch in Pforta als Repetent betätigen". 49 Zudem umfaßte der Unterricht hier ja auch wesentliche Elemente des Lehrstoffes der Artistenfakultäten zu Leipzig und Wittenberg. Wohl 1565 verließ er Pforta und wurde „wohl nach einem Theologiestudium eher in Leipzig als in Wittenberg . . . Schulkollege", d. h. wohl Religionslehrer in Chemnitz.50 Den Magistergrad hat er später nachgeholt, bereits als Diakon in Zschopau,51 wo er ab 1571 an der Seite des Hauptpfarrers Weigel wirkte. Gleich Weigel hat er die Konkordienformel unterschrieben. Nach Weigels Tod wurde Biedermann 1588 erster Pfarrer. 1599 erfolgte seine Absetzung.52 Sie endete mit Versetzung in eine andere Pfarrstelle (nach Neckanitz bei Lommatzsch). Hier starb Biedermann 1621. 1598 hatte in Zschopau erneut eine Visitation stattgefunden. Dabei wurden in Biedermanns Bibliothek häretische Manuskripte, vor allem das Weigel zugeschriebene „Informatorium", gefunden. Da sich Biedermann noch dazu auf eine Disputation mit den Visitatoren über Grundfragen des Glaubens einließ, war seine Absetzung — trotz aller Bitten Biedermanns, wegen seines Alters Milde walten zu lassen — unabwendbar. Seit 1609 erschienen die Weigelschen Manuskripte im Druck und erregten größtes Aufsehen. Wer waren die Herausgeber? Arnold schreibt: „Weigelius selbst hat sich bißweilen unter dem namen Udalrici Wegweisers Utopiensis verstecket, wie auch einige seiner editorum unter dem namen Huldreich Meiersbach von Regenbrunn, u. s.w." 5 3 Das Problem der Pseudonyme in dieser Zeit erfordert Spezialuntersuchungen. Sie düften nicht nur für die Weigeliana und Pseudoweigeliana, sondern auch etwa für die Rosenkreuzerschriften und die « Vgl. R. Grünberg, Sächsisches Pfarrerbuch, a . a . O . , T. 1, S. 715; T. 2, Abt. 1, S. 57, S. 702. — Bei den Nachrichten zu Biedermann fuße ich weitgehend auf: F . Lieb, Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte und das Schrifttum seines Schülers Benedikt Biedermann. Eine literaturkritische Untersuchung der mystischen Theologie des 16. Jahrhunderts, Zürich 1962. 4 8 Nach: G. Erler, Die Matrikel der Universität Leipzig, a. a. O., Bd. 1, S. 723. Weigel studierte bekanntlich 1554—1563 in Leipzig. Eine Bekanntschaft beider schon in ihrer Studienzeit erscheint also möglich. 4 9 F. Lieb, Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte, a. a. O., S. 172, Anm. 201. 5 0 Ebenda, S. 63, — Lieb terminiert 1565, weil die durchschnittliche Ausbildungszeit eines Schülers hier 5 bis 6 Jahre umfaßte. 5 1 Ebenda, S. 6 6 . — Nach Lieb 1575, unter Berufung auf: Album Academiae Vitebergensis ab A. Ch. MDII usque ad A. MDCII, Bd. 2, Halle 1894, S. 255. Hier steht aber lediglich, daß ein Benedikt Biedermann unter dem Rektorat von J . Cyriacus, Freiherr von Polheim und Wartenberg, am 10. 7. 1575 in die Matrikel eingeschrieben wurde. 5 2 In der Darstellung der Absetzung folgt Lieb den Quellen aus dem Staatsarchiv Dresden: Geh. R a t (Geh. Archiv), Loc. 7421, Konsistorial- und Pfarrbestallungen 1600, T. 1, Bl. 1 1 2 - 1 1 4 . w G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 2, a. a. O., S. 1091.

D R U C K E SEINER S C H R I F T F N SEIT

1609

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Traktate A. von Franckenbergs interessante Ergebnisse, neue Querverbindungen ergeben. Die Trächtigkeit solcher Untersuchung bezeugen die Ergebnisse van Dülmens hinsichtlich der Schriften D. Möglings. Der Herausgeber von Weigels „Kirchen Oder Hauspostill" („Gedruckt zu Newenstatt bey Johann Knuber 1617") unterzeichnet seine Vorrede mit V. W. V. S., was der erste gehässige Feind Weigels, Johannes Schelhammer, als Ule Wolf von Schleichershausen interpretiert.54 Walch schließt: „Der Editor zeigt sich nur mit den Buchstaben V. W. V. S. an; heisset aber Volcmar Walter von Sangerhausen."55 Schiele meint, darin Opel folgend, damit könne Jonas ä Strein bzw. J. S. N. P. et P. C. identisch sein.56 Der mit den letztgenannten Initialen zeichnende Herausgeber ist schon nach Hunnius57 mit Johann Staricius identisch, der sich in der Vorrede zu der von ihm gleichfalls herausgegebenen „Philosophia de limbo aeterno" des Paracelsus als Joh. Staricius Notarius Publicus et Poeta Coronatus vorstellte. Nach Sudhoff hat Staricius 1623 bzw. 1624 auch zwei Schriften Paracelsi in Magdeburg bei J. Francke herausgegeben. Staricius war ein vielseitig gebildeter Mann. Jurist und Poet, Alchemist und Paracelsist, Mystiker und vielleicht auch Rosenkreuzer — so steht er inmitten der geistigen Strömungen seiner Zeit. Über Staricius wird eine Beziehung zwischen Böhme und Weigel hergestellt. Sie ist um so wahrscheinlicher, als der einzige erhaltene Brief an Weigel „Datum Görlitz die 29 Maij, Anno 1579. Abraham Behem" unterzeichnet ist.58 Er enthält Antworten auf Fragen, die V. Weigel offenbar an Behem gerichtet hatte. Die Antworten sind ganz im Geist des Paracelsismus gehalten. Es geht um Probleme der Schöpfung und Neuschöpfung, der doppelten Auferstehung u. a. Bei Abraham Behem (Böhm) kann es sich nur um den Görlitzer Medicus und Schwager des berühmten und vielseitigen Humanisten und Paracelsisten Bartholomäus Scultetus handeln. Görlitz war in der zweiten Hälfte des 16. Jh. eine Hochburg des Paracelsismus. Hier ist offenbar auch schon sehr früh Weigelsches Gedankengut verbreitet worden.59 (Vgl. Kap. X.) J. Schelhammer, Widerlegung Der vermeynten Postill Valentini Weigelij . . ., Leipzig 1621, S. f I I . 55 J. G. Walch, Historische und Theologische Einleitung in die Religions-Streitigkeiten, welche sonderlich ausser der Evangelisch-Lutherischen Kirche entstanden, T. 4, a. a. O., S. 1030. 56 F. Schiele, Zu den Schriften Valentin Weigels, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Gotha 48, N F 11 (1929) S. 382f. Vgl. J. O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 80-87. 57 N. Hunnius, Christliche Betrachtung Der Newen Paracelsischen vnd Weigelianischen Theology . . ., Wittenberg 1622. Diese Schrift ist der umgearbeitete und erweiterte Extrakt zweier lateinischer Schriften des prominenten Wittenberger Theologen: 1. Principia Theologicae Fanaticae, quam Paracelsus genuit atque Weigelius interpolavit, succinctis thesibus sub examen revocata (Wittebergae 1619); 2. De verbi Dei certitudine et efficacia contra Weigelianos (Wittebergae 1622). 58 Vgl. zum Brief W . Zeller, Die Schriften Valentin Weigels. Eine literarkritische Untersuchung, Berlin 1940, S. 53—54. — Erstveröffentlichung des Weigel-Briefes bei: W . Zeller, Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel, in: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt, hg. von A. Faivre und R. Chr. Zimmermann, Berlin (West) 1979, S. 120 bis 122. 59 Vgl. E.-H. Lemper, Görlitz und der Paracelsismus, in: DZfPh, Berlin 18 (1970) S. 347—360; M. Gondolatsch, Der Personenkreis um das Görlitzer Convivium und Collegium Musicum im 16. und 17. Jahrhundert, in: Neues Lausitzisches Magazin ( 54

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Wollgast

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I X . 1 . VALENTIN W E I G E L — L E B E N UND WIRKUNG

Die Weigeldrucke erschienen (spätere Drucke sind hierbei nicht berücksichtigt)1609 bis 1614 bei Joachim Krusicke in Halle, 60 1615—1619 bei Johann Knuber in New(en)statt, 61 1618—1619 bei Lucas Jennis (Jenes) in Frankfurt/M.62 Zeller unterscheidet drei Etappen im Werk Weigels. Er „beginnt bei der Mystik; und die Gruppe seiner frühen Schriften von 1570/71 zeigt, wie er sich an dem alten mystischen Überlieferungsgut geschult hat. Erst am Ende dieser Periode steht die erste wirklich selbständige Leistung Weigels, das Gnothi seauton. Der zweite Zeitraum des Weigelschen Schaffens, etwa von 1572—76 reichend, umfaßt vor allem eine ausgedehnte erbauliche und Predigten-Literatur. Zahlreiche Textabhängigkeiten dieser Schriften untereinander zeigen den inneren Zusammenhang dieser Gruppe, deren Abschluß das Informatorium bildet. Um 1578 machen sich wesentlich neue Einflüsse auf Weigel geltend. In dieser Zeit bricht Weigel mit der Spiritualisierung, der Vergeistigung der Mystik, und an ihre Stelle tritt eine an der Naturphilosophie des Paracelsus geschulte Mystik der .Yerleiblichung'. Nur aus dieser neuen Gesamthaltung Weigels heraus ist die gegenüber den früheren Schriften veränderte Problemlage der Postille wie auch ebenso die Neuaufnahme des Erkenntnisproblems im Güldenen Griff zu erklären." 63 Dieser Einteilung läßt sich folgen, wenn man ihre Relativität nicht verkennt. Denn Gedanken des Paracelsus und S. Francks, Ideen der Naturphilosophie und des Humanismus, sind bereits in den frühen Arbeiten Weigels nachweisbar. Unter Beachtung dieser, noch näher auszuführenden Einschränkung gehören folgende Werke Weigels in die jeweilige Periode: I. Zu den sog. mystischen Frühschriften: die Traktate „Von der Bekehrung des Menschen", „Von Armut des Geistes oder wahrer Gelassenheit", „Libellus de Vita beata" (alle 1570), „Deus non potest se ipsum negare. Exercitium mentis", „Scholasterium Christianum", „Anleitung zur Teutschen Theology", „Gnothi Seauton", „Vom Gesetze oder Willen Gottes" (alle 1571). I I . Zu den Schriften der Periode von 1572 bis 1576: „Ein Büchlein vom Seligmachenden Glauben", auch Verteidigungsschrift genannt (1572), die handschriftliche Predigtensammlung (1573—74), „Vnterricht Predigte . . . Vber dem Begrebnis der Edlen . . . Frawen Marthe . . . von Ruxleben . . . " (1576), „Vom himmlischen Jerusalem in uns", „Das Büchlein vom Gebet" (vor 1576), „Der Gründliche Bericht vom Glauben" (1576), „Vom Ort der Welt" (kurz vor 1576), „Informatorium oder kurtzer Unterricht, welcher gestalt man . . . den schmalen Weg zu Christo sich führen lassen kan" (1576). I I I . Die Schriften ab 1578: „Der güldene Görlitz 112 (1936) S. 101; E.-H. Lemper, Jakob Böhme, Leben und Werk, a. a. O., S. 3 9 - 4 5 60 Libellus de vita beata (1609); Ein schön Gebetbüchlein (1612); Der güldene Griff (1613); Vom Ort der Welt (1613); Dialogus de Christianismo (1614). 61 Gnothi seauton (1615, 1618); Der güldene Griff (1616); Dialogus de Christianismo (1618); Informatorium (1616); Kirchen-Oder Hauspostill (1618). 62 Kurzer Bericht und Anleitung zur Teutschen Theology (1618); Scholasterium Christianum (1618); Vom himmlischen Jerusalem in uns (1618); Deus non potest se ipsum negare (1619). — Hier wird nuT ein Teil der damals gedruckten Schriften Weigels erfaßt. «3 W. Zeller, Die Schriften Valentin Weigels, a. a. O., S. 7 - 8 .

WEIGELS

WERKE

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Griff" (1578), „Von Betrachtung deß Lebens Christi, unnd wie Christus . . . sol erkennet werden" (1578), „Kirchen Oder Hauspostill Uber die Sontags . . . Evangelien durchs gantze Jahr . . . " (1578/79), Weigels Abschrift der „Auslegung Theophrasti Paracelsi vber die Ersten Funff Capitel Matthaei" nebst einer Abschrift der „Epistola Theophrasti Paracelsi ad Lutherum, Philippum et Pomeranum" (1581), „Schrifftlicher Bericht von der vorgebung der Sünden oder vom Schlüssel der Kirchen", „Dialogus de Christianismo" (1584). Schon Nicolaus Hunnius schrieb 1622 nicht alle unter dem Namen Weigels bzw. des Weigelianismus verbreitete Arbeiten V. Weigel selbst zu. G. Arnold knüpfte daran an: „Was von Weigelü schrifften gedacht worden, daß sie nemlich schwerlich alle entweder gantz von ihm geschrieben, oder auch so, wie er sie concipirt gehabt, in druck gekommen seyn, das haben die Theologi selber erinnert. Womit dann von selbsten hinweg fället, daß Weigelio alle und jede ihm entweder aus frembden und ungewissen schrifften, oder durch ungütige und falsche auslegung und' application beygemessene irrthümer mit grund zugeschrieben werden können." 64 Vor allem J. 0 . Opel und A. Israel haben sich um die Aussonderung der unechten Weigel-Schriften Verdienste erworben. Den vorläufig letzten Stand bezeichnet W. Zellers Dissertation von 1940. Die von W.-E. Peuckert und W. Zeller in Angriff genommene Ausgabe der „Sämtlichen Schriften" Weigels65 wird neue Aufschlüsse geben. Vieles, was früher als echt galt, hat sich bereits als unecht erwiesen und umgekehrt. So erkannte erstmalig F. Schiele, über Israel hinausgehend, die Verwandtschaft von „Gnothi seauton", Buchl, und „Güldenem Griff" sowie von „Scholasterium Christianum" und „Vom Ort der Welt". 66 Fritz Lieb sucht zu belegen, daß V. Weigel der Verfasser der „Viererley Auslegung über das Erste Capitel Mosis von der Schöpffung aller Dinge" war, auf die Zeller zwar hingewiesen, deren Echtheit er aber bezweifelt hatte. Der Verfasser einer fünften Auslegung ist nach Lieb Weigels Schüler Biedermann: „Benedikt Biedermann hat nicht nur — frühestens 1577 — die fünfte Erklärung von Genesis 1 abgefaßt; er ist auch der Autor fast aller übrigen Pseudoweigeliana, auch solcher, die bis heute meist als echte Schriften Weigels angesehen werden, vor allem der sich an Nicolaus Cusanus an-

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G. Arnold, Unpartheyische Kirchen-und Ketzer = Historie . . ., T. 2, a. a. O., S. 1091. Arnold schreibt Weigel 25 Titel zu. 1. Lieferung: V. Weigel, Vom Ort der Welt, hg. v o n W.-E. Peuckert, Stuttgart — Bad Cannstatt 1962 ; 2. Lieferung: Schriftlicher Bericht v o n der Vergebung der Sünden oder v o m Schlüssel der Kirchen, hg. von W. Zeller, ebenda, 1964; 3. Lieferung: Zwei nützliche Tractate, der erste von der Bekehrung des Menschen, der andere v o n Armut des Geistes oder wahrer Gelassenheit (1570). Kurzer Bericht und Anleitung zur Deutschen Theologie (1571), hg. v o n W. Zeller, ebenda, 1966; 4. Lieferung: Dialogus de Christianismo (1584), hg. v o n A. Ehrentreich; ebenda, 1967; S.Lieferung: Ein Büchlein v o m wahren seligmachenden Glauben . . . (1572), hg. v o n W. Zeller, ebenda, 1969; 6. Lieferung: Handschriftliche Predigtensammlung I, hg. v o n W. Zeller, ebenda, 1977; 7. Lieferung: Handschriftliche Predigtensammlung II, hg. von W. Zeller, ebenda, 1978. — Weitere Bände in Vorbereitung. Vgl. die kritische Rezension von G. Seebaß, in: Daphnis, Amsterdam 8 (1979) S. 3 8 5 - 3 8 9 . F. Schiele, Zu den Schriften Valentin Weigels, a. a. O., S. 388 f.

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I X . L . VALENTIN W E I G E L — L E B E N

UND

WIRKUNG

schließenden bedeutenden Schrift ,Von der Seligmachenden erkenntnüs Gottes, nach der Heiligen Dreyeinigkeit'." 67 Lieb untermauert mit seinen Forschungen auch die Auffassung, daß die Werke „Vom Leben Christi" und „Kirchen- Oder Hauspostill" tatsächlich Weigel angehören, abgesehen von einigen (Biedermannschen) Einfügungen, die Lautensacks „apokalyptische Fantasien" heranziehen. „Es läßt sich nämlich über das, was zuletzt W. Zeller gesehen und nachgewiesen hat, hinaus zeigen, daß die vor allem von Paracelsus, aber wohl auch von Schwenckfeld beeinflußte christologische Spekulation über das himmlische Fleisch Christi schon von Anfang an in Weigels Schriften vorhanden ist, zuerst nur nebenher angedeutet, dann aber immer mehr zu einer zentralen Doktrin innerhalb seiner Gedankenwelt ausgebaut und bis zur letzten und literarisch bedeutendsten Schrift, ,Dialogus de Christianismo', aufrechterhalten, während sich gerade Biedermann dieser Spekulation gegenüber ganz deutlich distanziert und schließlich ablehnend verhält." Das, wie Lieb selbst sagt, „erstaunliche chronologische Ergebnis" seiner Untersuchungen ist, „daß das ganze umfangreiche Corpus der vielen Traktate und Traktätchen — oft nur tagebuchartige Notizen — Biedermanns so gut wie vollzählig noch zur Lebenszeit . . . Valentin Weigels . . . entstanden ist . . während man bis jetzt allgemein annahm, die Pseudoweigeliana stammen insgesamt aus einer Zeit nach dem Tode Weigels". 68 W. Zeller, der wohl prominenteste Weigelforscher des 20. Jh., verhält sich zu dieser These Liebs äußerst skeptisch. Zweifellos ist die Untersuchung der Pseudoweigeliana ein wissenschaftliches Desiderat. Sie würde uns helfen, den geistigen Einfluß Weigels auf seine Mit- und Nachwelt näher zu bestimmen. Schon die Existenz einer umfangreichen Pseudo-Weigelliteratur zeugt ja bereits von Weigels Wirken. Denken wir an den Parallelfall Paracelsus. Auch bei Weigel konnte mancher heterodoxe Denker seine oppositionellen Auffassungen dem toten ehemaligen Zschopauer Geistlichen „unterschieben". Zeller hält es m. E. zu Recht für einseitig, die Pseudoweigeliana „nur unter dem Gesichtspunkt der sekundären Abhängigkeit und einer verflachenden Sammlertätigkeit oder gar dem der Fälschung zu betrachten". E r schreibt weiter: „Eine beträchtliche Zahl der weigelianischen Schriften gehört zeitlich sicher noch in das ausgehende 16. Jahrhundert, ja dürfte zum Teil bereits zu Weigels Lebzeiten entstanden sein". 69 F. Lieb, Valentin Weigels Kommentar zur Schöpfungsgeschichte, a. a. O., S. 10—11. —Das Buch „von der Seligmachenden erkentnüs" bezeichnet A. Israel noch als echt weigelisch und druckt es (M. Valentin Weigels Leben und Schriften, a. a. O., S. 9 7 - 1 2 9 ) ab. W. Zeller (Die Schriften Valentin Weigels, a . a . O . , S. 65) bezeichnet Weigels Autorschaft als „sehr- unsicher". Lieb (a. a. O., S. 11—12) hält diese Schrift für die bedeutendste Biedermanns, es Ebenda, S. 11, S. 12. 69 W. Zeller, Der frühe Weigelianismus. Zur Kritik der Pseudoweigeliana, in: W. Zeller, Theologie und Frömmigkeit, Bd. 1, a. a. O., S. 51. — Natürlich wirkten auch die Pseudoweigeliana geistesgeschichtlich. So bezeichnet nach Scholtz die „unter Nachfolgern Weigels entstandene Schrift. . . ,Astrologia Theologizata' . . . die Vorstufe zu Andrea" (vgl. H. Scholtz, Evangelischer Utopismus bei Johann Valentin Andrea, a. a. O., S. 22). 67

VERLAGSORTE

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Das könnte bedeuten: Weigels Manuskripte wären zu seinen Lebzeiten bereits einem größeren Kreis von Anhängern bekannt gewesen. Damit würde die These von dem nach außen hin orthodoxen, nur „für die Schublade" schreibenden Zschopauer Geistlichen hinfällig. Zumindest hatte er seine Manuskripte zirkulieren lassen müssen, damit sich Anknüpfungen ergeben konnten, denn es ist ziemlich fragwürdig, daß so viel Personen zu gleicher Zeit auf dieselben Ideen gestoßen sein sollten wie V. Weigel. Zudem schließt Zeller diese Möglichkeit mit den Worten aus, „daß die in dieser [pseudoweigelischen — S. W.] Literatur auftretenden Tendenzen weithin auf Anlehnungen an Werke Weigels zurückgehen"70. Oder sollten Weichart bzw. Biedermann diese Verbreitung mit oder ohne Duldung Weigels besorgt haben? Diese und andere Fragen wären zu beantworten, bevor Zellers These als bewiesen zu erachten wäre. Auf Einzelheiten des pseudoweigelianischen Schrifttums soll hier nicht eingegangen werden.71 Merkwürdig ist in der Tat Zellers Nachweis: Der pseudoweigelische dritte Teil des „Gnothi-Seauton" entsteht um 1587. Dabei wird bereits die ebenfalls pseudoweigelische „Astrologia Theologizata" als Vorlage benutzt. Wenn Zeller andererseits feststellt, daß hier schon Weigels Grabspruch zitiert wird, so erscheint die Zeitangabe wieder fragwürdig.72 Auch die pseudoweigelische Schrift „Eine kurze ausführliche Erweisung", die im Neuenstatter Druck von 1618 an Weigels „Vom Leben Christi" gehängt ist, scheint kurz vor 1588 entstanden zu sein.73 Warum wurden nun Waigels Schriften zunächst in Halle gedruckt? Halle stand im 16. Jh. im Schatten von Leipzig, dem Zentrum für das literarische Leben in Norddeutschland.74 Joachim Krusicke war der erste bedeutende Buchhändler und Verleger Halles. Christoph Bismarck, in einigen Drucken Weigelscher Schriften namentlich angegeben, druckte für Krusicke, ebenso Erasmus Hynitzsch. Bismarck (Bißmar) hat in Halle nachweislich von 1611 bis 1620 gedruckt. „Auf welchem Wege die weigel'sehen Manuscripte gerade nach Halle gelangten, darüber lassen sich nur Vermuthungen anstellen. Vielleicht hoffte ein begeisterter Anhänger des zschopauer Mystikers hier noch am ersten der gefährlichen Censur zu entgehen. Er täuschte sich nicht. Die halleschen Drucke weigel'scher Schriften sind alle ohne Erlaubniß der städtischen Behörde, welche die Censur im Namen des Landesherrn ausübte, gedruckt und unter der Hand verbreitet worden."75 Nicht ohne Erfolg. Zwei Tischler, Martin 70

W. Zeller, Der f r ü h e Weigelianismus, a. a. O., S. 52. Vgl. ebenda, S. 54—58. — E i n e gewisse Ü b e r s i c h t ü b e r die Pseudoweigeliana gibt bereits A. Israel. Die A n g a b e n werden d u r c h Zeller (1940 u n d 1971) sowie F. L i e b (1961) präzisiert. 72 W. Zeller, Der f r ü h e Weigelianismus, a. a. O., S. 57. 73 E b e n d a , S. 61. Zeller gibt weitere Beispiele f ü r die E n t s t e h u n g pseudoweigelianischer M a n u s k r i p t e zu Lebzeiten Weigels. 74 Vgl. J . O. Opel, V a l e n t i n Weigel, a . a . O . , S. 7 1 - 7 3 ; G. Schwetschke, V o r a c a d e mische Buchdruckergeschichte der S t a d t H a l l e — eine F e s t s c h r i f t . H a l l e 1840, S. 63—66; H. Barge, Geschichte der B u c h d r u c k e r k u n s t v o n ihren A n f ä n g e n bis zur Gegenwart, Leipzig 1940, S. 195-198, S. 2 0 8 - 2 2 4 . ?5 J. O. Opel, Valentin Weigel. a. a. O., S. 73. - G. F . Hertzberg, Geschichte der S t a d t 71

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I X . 1 . VALENTIN WEIGEL — LEÖEN UND WIRKUNG

und Hans Hirnmaul, wurden, weil sie von oppositionellen, „häretischen" Lehren unter keiner Bedingung ablassen wollten, zeitweilig aus der Stadt verbannt. 7 6 Wahrscheinlich konnten die Schriften Weigels infolge Verbots dann nicht mehr in Halle erscheinen. Ihr nächster Verlagsort ist Newenstatt (Neustadt), ein Pseudonym. Ebenso pseudonym ist der Verleger Johannes Knuber. Opel meint: „Unter diesem Neustadt ist wahrscheinlich Magdeburg, wo im Jahre 1609 oder 1610 auch Arndts vier Bücher vom wahren Christenthum zuerst erschienen waren, oder vielleicht auch Halle zu verstehen, da mehrere der betreffenden Schriften Gliedern des magdeburgischen Stiftsadels oder einer benachbarten anhaltlichen Adelsfamilie gewidmet sind . . ," 77 Nach Zeller ist Newenstatt letztlich mit Halle identisch und Knuber mit Krusicke. 78 Handelt es sich um eine Geheimdruckerei? Bevor Weigels Schriften gedruckt wurden, müssen sie bereits in zahlreichen Abschriften zirkuliert sein. Wir wissen bereits, daß Weigels Nachfolger Biedermann und Weigels Söhne in Annaberg dessen Auffassungen weiterentwickelten bzw. verbreiteten. Weigels Söhne erklärten: „Der Katechismus Luther's bedeuchte sie nicht in allem Gottes Wort und der Wahrheit gemäß; 2. Christus habe nicht Kain's Fleisch, sondern ein himmlisches Fleisch an sich genommen; sei auch nicht unsers Geschlechts, sei in Mariens Leib nur mutiret worden; 3. die Seligkeit sei nicht an die äußerlichen Worte gebunden; 4. die Privatbeichte sei ärgerlich; es sei am besten, man bleibe bei der Bitte des Vaterunsers: Vergib uns unsere Schuld u.s.w.; 5. Prediger verkündigen nur, aber Gott vollziehe die Vergebung der Sünde; 6. Sacramente seien nur Zeichen; 7. die Taufe bewirke nichts, sondern sei nur Zeichen für Gnade und Seligkeit; 8. das gesegnete Brot und der gesegnete Kelch sei zwar der Leib und das Blut Christi, aber nur den Gläubigen; 9. die Ungläubigen und Unmündigen empfingen nach Augustin's Ausspruch nur ,Panem Domini, sed non Panem Dominum'; sie führten zum Beweis Joh. 6 an, Christi Fleisch sei Halle an der Saale v o n den Anfängen bis zur Neuzeit, Bd. 2: Halle w ä h r e n d des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s , Halle/S. 1891 folgt (S. 347-349) bei diesem Problem J . O. Opel. E b e n s o weitgehend E . Neuß, Gebauer-Schwetschke — Geschichte eines deutschen Druck- u n d Verlagshauses 1733—1933, Halle/S. 1933, S. 3—6. 76 G. Olearius, H a l y g r a p h i a : Topo-Chronologica. D a s i s t : Ort- und Zeit- Beschreib u n g der S t a d t H a l l in Sachsen . . ., Leipzig 1667, S. 361. — D a ß es sich u m Weigelianer h a n d e l t , ergibt sich aus dieser Quelle nicht. Opel (a. a. O., S. 73—74) schließt dies o f f e n b a r ohne zureichende Begründung. Die Schreiner Merten u n d J o h a n n e s H i r r n m a u l aus H a l l e f i n d e n sich 1615 u n t e r den Anhängern E . Stiefels in E r f u r t (vgl. P. Meder, Der Schwärmer E s a j a s Stiefel. E i n kulturgeschichtliches Bild aus E r f u r t s alter Zeit, i n : Mittheilungen des Vereins f ü r Geschichte und A l t e r t h u m s k u n d e von E r f u r t , E r f u r t 20 [1899] S. 109). 77 J . O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 7 5 - 7 6 . - F ü r Walch (Historische u n d theologische E i n l e i t u n g . . . , a . a . O . , S. 1029) gilt: „Neuen-Stadt, so Magdeburg ist". 78 Vgl. W. Zeller, Der f r ü h e Weigelianismus, a. a. O., S. 82. - Vgl. die Meinung A. Israels (M. Valentin Weigels Leben u n d Schriften, a. a. O., S. 28—29): „ E s ist ungewiß, ob u n t e r N e u s t a d t Magdeburg oder Halle zu verstehen, ungewiß auch, o b K n u b e r ein P s e u d o n y m ist. Sicher aber sind bei den beiden 1616 erschienenen N e u s t ä d t e r D r u c k e n des .güldenen Griffs' die Holzstöcke der ersten v o n Bismarck in Halle gedruckten Ausgabe b e n u t z t worden; auch s t a m m e n die meisten Drucke, die n u r die J a h r z a h l 1618 oder 1619 e n t h a l t e n , aus derselben Druckerei, aus welcher die

K U R S I E R E N D E M A N U S K R I P T E VOR 1 6 0 9

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ein lebendig machendes Fleisch; 10. unser Fleisch werde nicht auferstehen, sondern ein anderer und neuer Leib. Sie hatten bereits ins dritte J a h r sich des Genusses des heiligen Abendmahls enthalten, weil sie nach der Novatianer Meinung neben andern Unwürdigen, Wucherern, Säufern, Gotteslästerern u.s.w. nicht communiciren wollten. Da sie sich der Belehrung nicht unzugänglich zeigten, wurden sie milde behandelt." 7 9 In einem Visitationsbericht vom 27. März 1600 heißt es, daß „von dem Cantore zu Döbeln, welcher hierbevor zu Zschopau, in der Schule gedienet, etwas berichtet worden, wie derselbe solch Buchlein [Weigels — S. W ] umbschreiben und gueten freunden schenncken soll . . . Gegen Marienbergk ist aber ein Tuchmacher kommen, mit namen Simon Schmidt, welcher dise greuliche Artículos . . . hartneckig für dem Ministerio, verteidigen wollen . . ." 80 Schon im Jahre 1602 hat der Apotheker Jakob Pistorius in Hall am Inn (Tirol) das „Gnothi Seauton" und den ersten Teil des „Büchleins vom Leben Christi" abgeschrieben. 81 Johann Arndt in Eisleben erhielt 1605 eine Abschrift des „Schön Gebetbüchlein" zugeschickt. E r übernahm daraus in sein „Buch vom wahren Christentum" in das 34. Kapitel des 2. Buches einen größeren Abschnitt dieses Weigelschen Werkes (Kapitel 1—9 und 11—13) teils wörtlich, teils auszugsweise. Als die Übernahme bekannt wurde, verteidigte sich Arndt: „als mir ungefehr für 15: Jahren / da noch des Weigels Schafften das Liecht nicht gesehen hatten / diß Tractätlein der 12. Capittel vom Gebet von einem guten Freunde verehret wart / unnd ich dasselbe andechtig / Schrifftmessig / und lehrhaftig befandt / daß ichs mir belieben lassen / mit in mein ander Buch zusetzen." E r habe „der Apostolischen Regel gebraucht . . . prüfet alles / das gute behaltet". 8 2 Den Namen des „guten Freundes" nennt Arndt nirgends. E r verschweigt auch, was erst W. Zeller nachwies, daß er im 6. und 7. Kapitel des „Wahren Christentums" auf Weigels „Informatorium" fußte. 83 Die Berufung auf das Bibelwort „Prüfet alles, und behaltet das Beste" (1. Thess. 5, 21) ist eine typische Argumentation häretischer Kreise. Die ideologischen und philosophischen Zusammenhänge in Deutschland gerade in der ersten Hälfte des 17. J h . sind verschlungen: Orthodoxes verbindet sich mit Vorwärtsweisendem. Bei der Anknüpfung an „Vorläufer" ist eine einheitliche Linie schwer zu erkennen. Auch vermischen sich Rosenkreuzertum, Paracelsismus, Weigelianismus oft so stark, daß der betreffende andern hervorgingen, welche Neustadt als Druckort und Knuber als Verleger angeben." '9 Vgl. Anm. 35. 80 Staatsarchiv Dresden: Geh. Rat (Geh. Archiv), Loc. 7421, Consistoria und Pfarrbestallungen 1600, T. 1, Bl. 113. 81 Vgl. A. Israel, M. Valentin Weigels Leben und Schriften, a. a. O., S. 27. 82 J. Arndt, Repetitio apologética. Das ist: Wiederholung unnd Verantwortung der Lehre vom waren Christenthumb, Lüneburg 1620, S. 77—78. 83 Vgl. W. Zeller, Die Schriften Valentin Weigels, a . a . O . , S. 39; E.Weber, Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum als Beitrag zur protestantischen Irenik des 17. Jahrhunderts. Eine quellenkritische Untersuchung, 3. verb. Aufl., Hildesheim 1978, S. 7 4 - 7 7 .

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I X . 1 . VALENTIN WEIGEL — LEBEN UND WIRKUNG

Denker nicht eindeutig einer der genannten Richtungen zuzuordnen ist. Die offizielle Kirche gebraucht bei ihren Angriffen die Bezeichnungen dieser oppositionellen Strömungen weitgehend synonym. Die einzelnen Denker selbst sind nicht epigonal auf Weigel, Böhme, Paracelsus usw. eingeschworen. Böhme z. B. läßt sich in seinen Quellen schon nicht festlegen. Eine globale Einordnung der breiten häretischen Strömung in Deutschland bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges ist also schwer, will man nicht für die extremste Gruppe den mißdeutigen Sammelbegriff „mystischer Spiritualismus" verwenden. Von der Orthodoxie jener Zeit wird auch Johann Arndt entschieden verketzert. 84 Ähnlich wie die katholischen oder protestantischen Reformtheologen des 16. und 17. Jh. erkannte Arndt wesentliche Mängel in seiner Kirche deutlich und sprach sie entschieden aus. Dabei stand er aber auf dem Boden seiner Kirche, wollte sie bessern, verinnerlichen, auf ihr eigentliches Anliegen zurückführen, nicht etwa aufheben oder grundlegend umgestalten. Zu jeder Zeit waren und sind Reformer ihrer Bewegung den Angriffen der konservativen Kräfte ausgesetzt. Arndt verarbeitete das vorhandene naturphilosophische, humanistische und theologische Material und konnte somit auch auf oppositionelle Bestrebungen anregend wirken. Wenn auch Arndt in der Tradition der Mystik steht, häufig Tauler zitiert, neben der „Imitatio Christi" auch die „Theologia teutsch" mehrfach herausgibt, so sind doch seine Beweggründe nicht revolutionär, sondern reformerischer Natur. Arndt will eine Rettung der Kirche in die Innerlichkeit bei Bewahrung ihrer Organisation und bedient sich dabei der Mystik. Weigels Wirken dagegen bedeutet in der Konsequenz Aufhebung der Kirche. Hier zeigt sich erneut, daß an Tauler unterschiedlich angeknüpft wird. Die lutherische Orthodoxie entsprach nicht mehr den gesellschaftlichen Erfordernissen, um es global zu sagen. Die katholische Kirche hatte — besonders im Jesuitenorden — durch die Besinnung auf die Innerlichkeit des Menschen, durch die Wiederaufnahme mystischer Elemente große Erfolge erzielt. Die Bestrebungen Arndts sind ein Nachvollzug dieses Schrittes. Daß sie dabei von den Kräften des Konfessionalismus angegriffen werden, die die Zeichen der neuen Zeit nicht verstehen, ist nur verständlich. Objektiv aber — das sei nochmals gesagt — wird durch Arndts „Wahres Christentum" zwar die lutherische Kirche gestärkt, zugleich werden Grundlagen dafür geschaffen, daß sie sich in Gestalt des Pietismus neu formieren kann und den Interessen des sich entwickelnden Bürgertums besser gerecht wird. Arndt benutzte bei der Entwicklung seiner Auffassungen heterodoxe Quellen. Wirklich oppositionell Gesinnte knüpften an ihn Hoffnungen. Die Orthodoxie stellte ihn in eine Reihe mit Schwenckfeld, Weigel und den Rosenkreuzern, z. T. sogar mit Recht. So ist es nicht verwunderlich, daß auch von Arndt häretische Impulse ausgingen, daß er von Freund und Feind oppositioneller gesehen wurde, als er tatsächlich war. Bereits ab 1607 wurde Arndt des Enthusiasmus bezichtigt. Zu seinen Freunden gehörte Christoph Besold, der in Arndts Celleschem Freundeskreis als „amicissimus" Arndts galt. 85 Über Besold wurde Arndt auch mit J. V. Andreae bekannt, nach Koepp 84 85

Vgl. S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 2 8 6 - 2 8 8 . W. Koepp, Johann Arndt. Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum, Berlin 1922, S. 79.

JOHANN ARNDTS „ W A H R E S CHRISTENTUM"

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wohl noch 1615. In dem um 1620 einsetzenden offenen und erbitterten Kampf um Arndts „Wahres Christentum" wurde Arndt des Weigelianismus, "der Rosenkreuzerei und des Enthusiasmus, dazu des Osiandrismus, Papismus, Schwenckfeldianismus und Paracelsismus angeklagt. Nach Koepp gab es zu jener Zeit in Stargard und Danzig Weigelianer, 86 die offenbar auch Arndts „Wahres Christentum" propagierten. Waren doch „viel Leuthe in den falschen wahn gerathen . . . / als were H. Johann Arnd unnd Weigelius ein author / nur mit geenderten Namen". 8 7 Dilger nimmt Arndt gegen den Vorwurf in Schutz, er vertrete Ansichten Weigels, Schwenckfelds und A. Osianders d. Ä. Dabei beweist Dilger eine ausgezeichnete Kenntnis von Werken Weigels und vermag sich dabei auch auf Arndts „Kurtzes Bedencken über Valentin Weigels Dialogum ,de Christianismo'" zu berufen. Arndt stellt fest, daß sich der Dialog gegen das Predigtamt und die Augsburgische Konfession richtet. Weigel sei „ein grewlicher Calumniant", in dem „nicht ein Füncklein eines einigen wahren Trostes zu finden" sei. 88 Kurz nach seinem Tode (1621) werden Arndts Auffassungen, vornehmlich sein „Wahres Christentum", Gegenstand scharfer Kritik. Wieder waren es die Stargarder „Häretiker" — Koepp nennt sie auch Rosenkreuzer —, die Ende 1620 Arndt als Elias Artista, als dritten Reformator nach Hus und Luther, gefeiert hatten. E s handelt sich um zwei Schriften, eine von Gottschalk Bünting, die andere von Bannier. 8 9 In dieser Situation erschien außerdem von dem jungen Arzt Melchior Breller „Mysterium iniquitatis pseudo evangelicae" (Goslar 1621), die kühnste und interessanteste Verteidigungsschrift für Arndt. Breller nimmt zwar Arndt vor dem Weigelianismus in Schutz, verteidigt aber den Enthusiasmus. Das gewichtigste, schärfste und interessanteste Buch gegen Arndt erschien 1623; Verfasser war Lucas Osiander d. J . , hinter dessen Buch die ganze Tübinger Theologenfakultät stand. Anlaß war letztlich die Auseinandersetzung mit den Weigel- und Schwenckfeldianern, die sich auf Arndt berufen hatten, u. a. in der Wild-Affäre. B e i Koepp nimmt sie sich so aus: „Etliche von den Weigelianern hatten sich auf Arndt berufen, und vornehme Schwenkfelder hatten Arndt's .Wahres Christentum' in guter Anzahl gekauft und binden lassen und anderen verehret und empfohlen." Auch Osiander „hat . . . eine Fülle von allen nur erdenklichen Ketzernamen bereit für die Gefährlichkeit des Gegners, und nirgends scheut er auch die gewagteste Konsequenzmacherei: die entferntesten Folgen bis hin zu Aufruhr und Aufstand sieht er in greifbarster Nähe (S. 253ff., Vorr. usw.)." 9 0 se Ebenda, S. 88. 87 D. Dilger, Des Ehrwürdigen / Achtbaren und Hochgelarten Herrn Johannis Arndes . . , Richtige / und in Gottes Wort wolgegründete Lehre / in den vier Büchern vom wahren Christenthumb . . ., Altenstettin 1620, S. M 5. 88 [M. Breller], Warhafftiger / Glaubwirdiger und gründlicher Bericht von den vier Büchern vom Wahren Christenthumb Herrn Johannis Arndten / auß den gefundenen brieflichen Urkunden zusammen getragen . . . Nebenst Herrn Johann Arndten kurtzen Bedencken über V. Weigelij Dialogum de Christianismo . . ., Lüneburg 1625, S. 124. — Aus Weigels „Dialogus" (Ausg. Halle 1615) werden Grundgedanken der Seiten 12-14, 16-18, 32, 38, 43, 56, 62, 63, 65, 70, 76, 77, 79 und 80 verworfen (ebenda, S. 125—136); vgl. F. E. Stoeffler, Johann Arndt, in: Orthodoxie und Pietismus. Hg. v. M. Greschat, Stuttgart [u. a.] 1982, S. 3 7 - 4 9 . W. Koepp, Johann Arndt, a. a. O., S. 102. «> Ebenda, S. 111, S. 112.

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I X . 1 . V A L E N T I N W E I G E L — L E B E N UND W I R K U N G

Der Grundtendenz der Einschätzung Arndts durch Edmund Weber möchte ich mich anschließen. Sie belegt, daß Arndt nicht uneingeschränkt in die oppositionell-häretische Linie in Deutschland gehört: „In der Forschung wurde meist versucht, Arndt entweder als streng orthodoxen Lutheraner hinzustellen, wobei man die Bedeutung der fremden Quellen im ,Wahren Christentum' abwertete, oder aber ihn als Häretiker zu deuten, indem man nur auf die fremden Quellen verwies. Die Quellenanalyse selbst zeigt, daß Arndt seine Vorlagen mehr als man bisher annahm, aufgegriffen hat, sie zugleich aber einer strengen lutherischen Revision unterwarf." 91 Letzteres geschah insbesondere durch vier Methoden: „1. der Eliminierung, 2. der Kommentierung, 3. der Biblisierung und 4. der Laisierung. Soweit als immer möglich merzte er alle spezifisch römischen, n^stischen, monastischen und sonstige extrem-unlutherische Stellen aus oder bezog sie erst gar nicht ins ,Wahre Christentum' mit ein. Wenn es ihm nicht gelang, dem Quellenstoff literarisch seine eigene Konzeption aufzuzwingen, versah er ihn zumindest mit einem lutherisch gestimmten Kommentar, deutete also um. An unzähligen Stellen fügte er Bibelzitate ein. Wo die Quelle auch nur einen leisen Anklang an die Bibel vernehmen ließ, setzte Arndt sofort den betreffenden Spruch ein. Immer wieder veranschaulichte Arndt den Stoff durch Gleichnisse, Analogien und Beispiele." 9 2 Koepp nennt Chr. Hoburg als einen der späteren Anhänger Arndts und konstatiert: Es gab in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges „wohl noch manche kleineren Geister, für die Arndt eine Hinführung zur Schwärmerei, eine Manuduktion zu Weigel wurde" 93 . Koepp nennt den Havelberger Bürgermeister Pantel Trapp, den „Handwerker und Arbeiter" Paul Matth aus dem Salzburgischen, der 1625 nach Nürnberg kam, ebenso Teting und Lohmann in Husum. Wir sehen hier erneut die innere Verwobenheit der geistesgeschichtlichen Strömungen jener Zeit. Hier wird Arndt vornehmlich erwähnt, um die Verbreitung Weigelscher Schriften schon vor 1609, also vor dem Druck, noch ausdrücklicher zu belegen. Weigels Schriften erregten sofort nach ihrem Erscheinen großes Aufsehen, „und namentlich der gebildetere Theil des damaligen Publicums, vor Allem der Adel des Erzbizthums [Magdeburg — S. W.] und der angrenzenden Landschaften begünstigte die Verbreitung weigel'scher Lehren mit großem Eifer, gerade wie auch später Jacob Böhme vorzugsweise unter dem schlesischen Adel seine Anhänger und Beschützer fand" 94 . Diese Auffassung scheint mir einseitig. Einmal finden wir bereits unter den ersten bekannten Anhängern Weigels den Tuchmacher Simon Schmidt aus Marienberg. Später ist der Weigelianismus gerade auch bei den „unteren Schichten" des Volkes verbreitet. Zum anderen fehlt bei Opel eine Erklärung für die Förderung durch den Adel. Der Vergleich mit Böhme hinkt. Spätestens seit Lemper 9 5 wissen wir, daß es höchst eigennützige Ziele und Interessen des schlesischen E . Weber, Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, a. a. O., S. V. »2 Ebenda, S. 4 0 - 4 1 . 93 w . Koepp, Johann Arndt, a. a. O., S. 139. 94 J . O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 81. 93 E . - H . Lemper, J a k o b Böhme, a. a. O., S. 6 9 - 8 5 , S. 9 7 - 1 1 0 . 91

SCHELHAMMERS ANTI-WEIGEL

523

Adels waren, die den Görlitzer Schuster zeitweilig für ihn interessant werden ließen. Eine Untersuchung der Widmungen der Weigelschen Editionen an einzelne Adelige durch den anonymen Herausgeber Jonas a Strein kann hier nicht geführt werden. Ist die Widmung nur erfolgt, um dem Werk größere Verbreitung zu sichern? Denken wir daran, daß der Materialist La Mettrie sein „Der Mensch — eine Maschine" in bos-, bzw. scherzhafter Absicht dem frommen und theistischen Schweizer Physiologen und Dichter Albrecht von Haller widmete. Welchen Beweggrund die Widmungen der Weigel-Drucke hatten, ist noch zu untersuchen. Man kritisiert, was wirkt. Wenn sich die orthodoxe Kritik mit wahrem Ingrimm auf Weigels Schriften stürzte, den Autor postum mit allen nur möglichen Beschimpfungen und Unterstellungen bedachte, so muß Weigel stark gewirkt haben. Für fast ein halbes Jahrhundert wurde er zum Inbegriff des Antiklerikalismus und Antikonfessionalismus, ja des Atheismus. Dabei geht es nicht allein um die Kirche, es handelt sich hier um philosophische und ideologische Probleme. Daß Weigel wie seine Gegner subjektiv gläubig waren, ist dabei sekundär. In seiner Dissertation von 1721 führt Reichel 29 Schriften gegen Weigel aus dem Lager der Lutheraner und 7 aus dem der Reformierten namentlich an.96 Nicht alle können hier behandelt werden, es sei nur auf einige exemplarisch verwiesen. Eine der ältesten Quellen zur „Widerlegung" Weigels ist die Arbeit des damaligen Hamburger Hauptpastors Johannes Schelhammer. Sie ist zugleich die tendenziöseste und haßerfüllteste und beschäftigt sich fast ausschließlich mit Weigels „Kirchen- Oder Hauspostill". Bereits G. Arnold weist Schelhammers Angaben zur Person Weigels und viele seiner Anwürfe entschieden und sachkundig zurück. Schelhammers mit den Empfehlungen der theologischen Fakultäten zu Wittenberg und Leipzig bedachte Schrift umfaßt — außer den Vorreden — genau 650Quartseiten. Ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Fragwürdigkeit legt sie davon Zeugnis ab, welchen Haß die Orthodoxie gegen Weigel hegte und welche seiner Lehrpunkte sie für besonders verderblich und „unchristlich" erachtete. Schelhammer beginnt seine Angriffe gegen Weigel mit Luthers Autorität. Schon Luther habe solche „vollbäckige Sprühhamster", wie Weigel einer sei, gerochen, „wie zu lesen ist Tomo Jenens. 3. fol. 382, da er also schreibet: Der Müntzer ist todt / aber sein Geist ist noch nicht außgerottet." 97 Nach Schel9« J . G. Reichel, Vitam, fata et scripta M. Valentini Weigelii, a. a. O., S. 2 8 - 2 9 . Vgl. S. Wollgast, Zur Wertung Thomas Müntzers durch Valentin Weigel und antiweigelische Streitschriften, in: Der deutsche Bauernkrieg und Thomas Müntzer, hg. von M. Steinmetz, Leipzig 1976, S. 1 8 3 - 1 9 0 . 97 J . Schelhammer, Widerlegung der vermeynten Postill Valentini Weigelij . . ., a. a. O., Vorrede, p. e iiv. — Luther hat diese Feststellung wiederholt getroffen. Vgl. u. a. M. Luther, WA, Bd. 23, Weimar 1901, S. 283; Luther an Spalatin, 24. 1. 1528, in: W A B , Bd. 4, Weimar 1933, S. 355. Eine Zusammenstellung der wesentlichen Lutherstellen über Müntzer gibt WA, Bd. 58, T. 1 (Gesamtregister), Weimar 1948, S. 2 5 5 - 2 5 7 .

524

IX.1.

V A L E N T I N W E I G E L — L E B E N UND

WIRKUNG

hammer steht zu befürchten, daß die Anhänger Weigels „alle Mawr un Steinkirchen einreissen / schleiffen und ein gut Müntzerisch wesen / mit J o h a n Leiden und Knüpperdölling anrichten". 9 8 Weigel und seine Lehre wird von Schelhammer also schon einleitend mit Müntzer auf eine Ebene gestellt. Es sei Weigels Herzenswunsch, „daß er möchte einen Hauffen auffrührische Bawren und Schulfeinde finden / die alle hohe Schulen / und Kirchen niederrissen / schleuffeten / Gelehrten / Professores, Prediger / und Studenten todt schlügen". 99 Die weltliche Obrigkeit wird daher ausdrücklich ermahnt, sich Weigels und seiner Gesinnungsgenossen entsprechend anzunehmen: „Darumb hohe Potentaten auff solche Weigelbrüder wol ein Auge haben mügen: daß sie nicht mit Thomas Müntzers Panir sich der eins her für thun . . ," 1 0 0 Dabei ist Schelhammer in der Wahl seiner Worte nicht zurückhaltend. E r „nennt Weigel einen himmelblauen Propheten mit Kalbshirn, einen heiligen Pfingstfinken, eine Stachelsau, die giftige Stachelfedern schießt, einen dreifröschigen Propheten mit absinnigem, kollerndem Gehirn, oder kurzweg Säuweigel. . ." 101 Schelhammer bleibt bei diesen Verunglimpfungen, Verdächtigungen und der Behauptung von geistigen Verbindungen zwischen Weigel und Müntzer, von denen hier nur einige angeführt werden, nicht stehen. E r will auch theoretisch den Einklang von Müntzerischem und Weigelschem Denken erweisen. Daher gibt er einen „Appendix oder Anhang dieses Buchs. Von Valentini Weigelii, Thomae Müntzers / Nicolas Storchs / Bernhard Knipperdöllingks / und J o h a n von Leidens / einträchtiger / gleichlautender Lehr und Glauben." 102 Bei seinem Vergleich bedient sich Schelhammer der Amsterdamer Ausgabe der Arbeit Christoffel van Sichems 1 0 3 von 1608 und unterscheidet zwischen den Auffassungen Müntzers und der Täufer, besonders derer von Münster. Das ist in dieser Zeit verhältnismäßig selten und daher besonders erwähnenswert. Interesse verdient auch: Wenngleich Weigel von Schelhammer gelegentlich mit N. Storch verglichen wird, so erreicht dieser Vergleich niemals die Intensität des Vergleichs von Müntzer mit Waigel. In 24 Punkten stimmen nach Schelhammer Müntzers und Weigels Lehren überein. Die Punkte besagen in Kurzfassung: Alle katholischen Priester und evangelischen Pfarrer sind nicht von Gott gesandte Schriftgelehrte. Sie predigten nur den toten Buchstaben der Schrift, nicht das lebendige Wort Gottes. Der Glaube komme aber nicht vom gepredigten Wort oder aus der J . Schelhammer, Widerlegung der v e r m e y n t e n Postill a. O., Vorrede, p, e i i v. 99 E b e n d a , S. 21-8. E b e n d a , S. 5 9 2 . 101 Y g i a . Israel, M. V a l e n t i n Weigels L e b e n und Schriften, a. a. O., S. 35. — M a n k ö n n t e n o c h e r g ä n z e n : Weigel, „der hocherleuchte Affenschwantz und beschissene P r o p h e t " ( J . S c h e l h a m m e r , Widerlegung der v e r m e y n t e n Postill . . ., a. a. O., S. 4 7 6 ) u. a. 102 J . S c h e l h a m m e r , Widerlegung der v e r m e y n t e n Postill . . . , & . a. O., S. 606—641. 169 Ebenda, S. 46, vgl. S. 62. i?o Ebenda, S. 47; vgl. zum ff. S. 4 7 - 6 2 .

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I X . 1 . VALENTIN W E I G E L — L E B E N UND

WIRKUNG

pörten Protest wie Weigels Dreiteilung des Menschen in Leib, Seele und Geist. In dieser Weise wird ein Katalog von 52 Vergehen Weigels und der Weigelianer gegen die „rechte Lehre" aufgestellt. Die Anlehnung an Schelhammer ist auch hier unverkennbar. Nachdrücklich wird die Nähe bzw. Identität der Weigelschen Auffassungen mit denen der Wiedertäufer betont; daß Weigel nicht selbst so getauft habe, spreche nicht gegen diese Nähe bzw. Identität. Weigel spielte also auch noch zu dieser Zeit — 1702, im Prozeß der Frühaufklärung — in der Auseinandersetzung der Orthodoxie mit oppositionellen Strömungen eine Rolle. Noch 1708 schreibt Joh. Heinrich Feustking über den „Weigelianismus", daß er „ein solcher Greuel ist / darinnen der Satan / was er sonst Stücksund auch Zeitenweise durch die Valentinianer / Chiliasten / Manichäer / Enthusiasten / Donatisten / Schwenckfeldianer / Carlstadianer / Flacianer / Osiandristen und Wiedertäuffer / in etzlichen Stücken auch / durch die Papisten / Calvinisten / und heutigen Photinianer ausgespeiet / gleich als auf einen Bissen gefasset / und durch diesen Schwärm / nicht nur die Person / das Ampt Christi / nicht nur ein Sacrament / oder einen einzigen Artikel des Glaubens / insonderheit angetastet / sondern die gantze Bibel / und damit alles / was Gottes Wille / Meynung / Hertz und Gedancken sind / in allen Stücken zugleich angefallen / und mannigfaltiger Weise verkleinert und verlästert . . . mit höchster Schwächung der Ehre GOttes / und vieler Menschen Seeligkeit gäntzlicher Verhinderung".171 Feustking fußt auf den Urteilen und Einschätzungen Schelhammers und Hunnius'. Unter den „vornehmsten Weigelianern" nennt er „die Stiefelianer und Methisten welche . . . in Thüringen / in Meissen und Sachsen / im vorgen Jahr-Hundert allerhand Unruhe erreget . . . " Die Anhänger Böhmes seien „ebenfalls als eine Frucht der himmlischen Propheten / und ihres Vertheidigers und Fortpflantzers des Weigelii, anzusehen . . ,".172 Man werde auch gestehen müssen, „daß der Böhmismus ein auffgewärmter Weigelianismus sey"173. Neben vielen anderen, z. B. den Quäkern, werden auch P. Felgenhauer und Elias Prätorius (Chr. Hoburg) in diesem Zusammenhang genannt. 174 171

N. Hunnius, Mataeologia Fanatica, oder Ausführlicher Bericht von der Neuen Propheten / Die sich Erleuchtete und Gottesgelehrte nennen / Religion / Lehr und Glauben, gestellet durch das Collegium Tripolitanum. Mit einer neuen Einleitung J. H. Feustkings, Dresden 1708, S. 63—64 (im Original hervorgehoben). Ebenda, S. 67, S. 68. "3 Ebenda, S. 89. 174 Ebenda, S. 99. — Ansonsten wird der Bericht von 1634 (d. h. die Arbeit über den Lübecker und Hamburger Kreis, vgl. Kap. VII, S. 435f.) nochmals gebracht. Es wird auch bestätigt, daß er vornehmlich v o n N. Hunnius verfaßt wurde. Die bei Reichel und Arnold erwähnten antiweigelischen Streitschriften: Andreas Merckius, Treuherzige Warnung vor dem Weigelianismo (Halle 1620), und: Zacharias Theobald, Widertauferischer Geist / Das ist Glaubwürdiger und historischer Bericht / Was Jammer und Elend die alten Widertäufer angerichtet . . . Daraus zu schließen: Was man von den neuren genandten Weigelianern, Rosenkreuzern und Pansophisten zu gewarten hab . . ., Nürnberg 1623. waren mir nicht zugänglich.

W E I G E L ALS

2. Weigels

PHILOSOPH

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Anschauungen

Weigel ist idealistischer Pantheist. Es ist ein Pantheismus voll oppositionellen Sprengstoffs, der auf die herrschende Ideologie zersetzend wirkt. Seine theologisch-philosophische Spezifik erklärt sich auch aus den deutschen Verhältnissen jener Zeit. Weigel vertritt keine reine Mystik — trotz seiner Rezeption Taulers und der „Theologia deutsch". Zwischen Tauler und Weigel liegen die Reformation, eine neue Stufe des Humanismus, eine höhere Entwicklungsstufe sowohl der sozial-ökonomischen Verhältnisse als auch der Naturwissenschaften. Diese Naturwissenschaft ist noch nicht die klassische, deren ausgearbeitete Form erst die zweite Hälfte des 17. Jh. charakterisiert. In der Zeit Weigels haben wir es vorrangig mit einer Naturwissenschaft in Form der Naturphilosophie der Renaissance bzw. des Paracelsischen Denkens zu tun. Sie ist gegenüber der sklavischen Wiederholung der Lehren Galens, Aristoteles' u. a. hervorragender Vertreter der Antike originell. Bei Weigel fließen Mystik, Humanismus und Naturwissenschaft der Zeit zusammen. Ebenso fließt in die Spezifik seines Denkens die Reflexion der gesellschaftspolitischen Verhältnisse der zweiten Hälfte des 16. Jh. ein. Aus der Synthese ergibt sich die höhere Stufe seines Philosophierens. Schon Opel betonte, daß Weigel vornehmlich Philosoph, weniger Theologe gewesen sei. Wer Meister Eckhart, Tauler, Seuse und schließlich Böhme zu den Philosophen rechnet, wird diesen Anspruch bei einiger Konsequenz auch für Weigel gelten lassen müssen. Weigels subjektive Frömmigkeit im Sinne des von ihm entwickelten Gottesbegriffs ist dabei sekundär. Weigel wirkt ins Heute durch seine philosophischen Ideen, die ein wichtiges Mittelglied zwischen den „Linken der Reformation" und der Frühaufklärung darstellen. Sie werden allerdings vielfach theologisch ausgedrückt. Valentin Weigels „Kirchen- Oder Hauspostill" ist sein umfangreichstes und zugleich am meisten angegriffenes Werk. Es handelt sich um nicht gehaltene Predigttexte, die seine Auffassungen von der Bibel und vom Christentum enthalten. In seiner „Postill" konzentriert Weigel seine philosophischen, naturwissenschaftlichen und theologischen Auffassungen. Zeller hält es für „unbedingt sicher, daß die Post, in den weitaus meisten Teilen als echt anzusehen ist" 175 . E r weist ihre inhaltliche Nähe zu Weigels Traktat „Von der Vergebung der Sünden" nach und hält sie für einen unmittelbaren Vorläufer des „Dialogus de Christianismo". Im folgenden sei auf die wichtigsten Gedanken des Häretikers und Philosophen Weigel eingegangen. Dabei wird gleichzeitig auf Angriffe verwiesen, die zeigen, daß Schelhammer, Hunnius, Rostius, Feurborn u. a. durchaus klarer die aus Weigels Ideen erwachsenden Gefahren für die herrschende Ideologie und Kirche erkannten als jene Theologen unserer Zeit, die Weigel wieder zu einem orthodoxen Lutheraner, höchstens zu einem Reformtheologen, machen wollen. Bei der Interpretation der „Kirchen- Oder Hauspostill" ziehen wir Parallelen zu Weigels „Handschriftlicher Predigtensammlung", die Zeller erstmalig nach den Manu175

W. Zeller, Die Schriften Valentin Weigels, a. a. O., S. 51.

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I X . 2 . WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

Skripten herausgab. Diese Predigtensammlung umfaßt den Zeitraum vom 29. November 1573 bis zum 28. März 1574.176 Es zeigt sich darin, daß Weigel schon in seiner ersten Schaffensperiode viele Gedanken äußert, die mit Luther, Melanchthon, dem Lehrsystem der damaligen lutherischen Kirche, ja selbst mit deren Bekenntnisschriften nicht übereinstimmen. So wendet sich Weigel hier u. a. gegen die lutherische Ubiquitätslehre. 177 Ausdrücklich verwirft er Luthers Auffassung, daß das Sakrament der Taufe Vergebung der Sünden bewirke. 178 Hier heißt es schon: „Das Priesterthum mit den Ceremonien machet keinen zum Christen, sondern die rechte Erkenntnis Gottes von innen." Zwischen Wasser- und Geisttaufe wird scharf unterschieden. Der Glaube mache den Christen, nicht das Äußere, nicht das Bekenntnis (zu den Zeremonien).179 Heißt es bei Luther, die Wassertaufe „wirckt Vergebung der sünden, erlöset vom tod und teufel und gibt die ewig seligkeyt allen die es glauben . . ,",180 so fragt Weigel: „Wie darf dann der Antichrist so trutziglich lehren, die Wassertauf f mache seelig, würcke Vergebung der Sünden, sie pring mit sich den Glauben und heiligen Geist?" 181 Luthers kanonisierte Lehre ist also nach Weigel Lehre des Antichrist. Es zeigt sich, daß er sich graduell von den Taufauffassungen der Täufer, aber qualitativ von denen der Lutheraner unterscheidet. Die Vorrede zur „Postill" ist — wie bereits erwähnt — U. W. V. S. unterzeichnet und vom 6. März 1617 datiert. Sie ist „Herrn Joachim Bernhard von Rohr / Dohmherrn und Scholastico, der Primat und Ertzbischofflichen / auch Probsten S. Nicolai Stifftkirchen in Magdeburgk / Erbherrn uff Elsterwerda und Krauschitz " gewidmet, den U. W. V. S. als seinen „Großgünstigen Herrn" bezeichnet. Der Herausgeber spricht die Dedikation aus, weil er von Rohr viel Gutes erfahren hat, vornehmlich aber, „weil mir bewust / das dieselben ein Liebhaber der warheit sein / und das in dem beweisen / das sie alle solche Bücher mit fleis lesen und hoch achten" 182 . V. Weigel, HP, a. a. O., S. 8. V. Weigel, Predigt am 2. Sonntag nach Epiphanias, in: ebenda, S. 208, S. 214. 578 Predigt am 4. Adventsonntag, ebenda, S. 67—84. '79 Ebenda, S. 7 1 - 7 2 . >80 M. Luther, Der Kleine Katechismus, in: M. Luther, WA, Bd. 30, 1, Weimar 1910, S. 256. — Vgl. M. Luther, Deudsch Catechismus (Der große Katechismus), in: ebenda, Bd. 30, 1, S. 218, S. 212, S. 217; M.Luther, Das Taufbüchlein, in: ebenda, Bd. 19, Weimar 1897, S. 537. 181 v . Weigel, Predigt am 4. Adventsonntag, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 73. — Vgl. V. Weigel, KOP, T. 1, Evangelium am vierdten Sontage Deß Advents, S. 31—32. „Die Tauff Johannis und aller Priester durch und durch würcket nichts, weder Süßes noch Saurs, pringet keine Gnad, lesset den Mentschen wie er zuvor war; denn sie siehet nicht auf den Geist, nur auf den Leib " (V. Weigel, Predigt am 4. Adventsonntag, in: V. Weigel, HP, a. a. O., S. 76.) Dabei wird — ohne Namensnennung — ständig gegen Luthers „Kleinen Katechismus" und die dort gegebene Erklärung der Taufe polemisiert, wie Zeller erstmalig sachkundig belegt. (Vgl. z. B. ebenda, S. 75—78.) Zusammenfassend legt Weigel in acht Punkten dar, weshalb die Wassertaufe weder selig macht noch den Glauben an Christus ausmacht. Weigel wandte sich gleichermaßen gegen die katholische Transsubstantiations- und die lutherische Ubiquitätslehre. 182 v . Weigel, KOP, a. a. O., 2, ii b. — „Der Sommerteil hat . . . ursprünglich vor den Winterteil gehört, und der uns erhaltene vollständige Predigtenzyklus beginnt 177

Gnothiseauton"

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Nach Weigel sind die Gotteshäuser „eitel Mördergruben". In den großen Gotteshäusern seiner Zeit werde unter dem Namen Christi der Antichrist verkündet. Weigel erinnert daran, „das im newen Testament der rechte Tempel Gottes keine gemawerte Kirche sey / noch ein Steinhauffe / sondern der Mensche selber solle der Tempel seyn"183. Damit steht Weigel in der Nachfolge des Paracelsus, S. Francks und anderer Vertreter des „linken Flügels der Reformation" und nimmt ähnlich lautende Auffassungen Böhmes vorweg. Gott und Christus müssen in uns sein, sollen sie für uns von Nutzen sein — diese Grundauffassung variiert Weigel in seinen Schriften ständig. Gehen wir zunächst auf seine philosophischen Auffassungen ein. Das erste Buch von „Erkenne dich selbst" geht davon aus, daß der Mensch ein Mikrokosmos sei. Er ist mit zweifacher Erkenntnis begabt: Die eine gewinnt er aus der Philosophie, die andere aus der Bibel. „Die zweifache Erkenntnis ist das Edelste am Menschen, denn da lernet er, woher er kommt, woraus er gemacht ist, wo[zu] er geschaffen ist, wie er leben und wandeln soll, beides, in dieser Zeit und hernach in Ewigkeit." 184 Entsprechend seiner natürlichen und übernatürlichen Erkenntnis hat der Mensch einen natürlichen und einen göttlichen Geist; er erfährt eine natürliche wie eine göttliche Geburt. Neben der — bei Paracelsus wie Böhme zu findenden — Zweiteilung des Menschen in Körper und Geist findet sich eine Dreiteilung : Seiner natürlichen Schöpfung nach besteht der Mensch aus dem Leib, der den Elementen entstammt, dem Geist, der vom Gestirn kommt, und der Seele, die aus dem „spiraculum vitae" herrührt. Schon hier, in Weigels Frühschrift, erscheint Zellers an anderer Stelle zitierte Trennung von „mystischer" und „paracelsischer" Phase bei Weigel fragwürdig; das ganze Büchlein atmet Paracelsischen Geist, wie wir an Beispielen dartun werden. Dieser Dreiteilung zufolge ist der Leib dem Menschen gemeinsam mit den anderen Geschöpfen, der Geist aber — „seine Kunst, Verstand, Witz, Klugheit für dieses tödliche Leben" — ist für ihn spezifisch, die Seele kommt vo n Gott. 185 „Wasserleute, Erdleute, Luftleute und dergleichen" stammen nicht demnach Ostern 1578 und endete Palmsonntag 1579 (W. Zeller, Valentin Weigels Schriften, a. a. O., S. 47). - Zu J. B. von Rohr vgl. : J. F. von Gauhe, Des Heil. Rom. Reichs Genealogisch-Historisches Adels-Lexikon, T. 1, Leipzig 1740, Sp. 1417. Nähere Forschungen zu von Rohr habe ich nicht vorgenommen, halte sie aber für ein wesentliches Desiderat. )83 Ebenda, Evangelium am Ersten Sonntage deß Advents, S. 5. — Vgl. V. Weigel, Ein Büchlein vom himmlischen Jerusalem in uns . . ., in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 172, S. 174. w v . Weigel, Gnothi seauton, I, in: Ders., Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 167; ähnlich S. 170. — Eine Geschichte des „Gnothi seauton" u. a. delphischer Maximen gibt E. G. Wilkins (The Delphic Maxims ih Literature, Chicago/111. 1929). Besonders Kap. 4—6 (S. 49—115) wird das Thema des „Nosce te ipsum" in der antiken griechischen und lateinischen, in der mittelalterlichen europäischen und in der Literatur des 16. und 17. Jh. behandelt. Die reich belegten Feststellungen (vgl. Anm. S. 223 bis 239) untermauern den höchst unterschiedlichen Gebrauch dieses Wortes im Laufe der Jh. in der weltlichen wie geistlichen Literatur. 185 Ebenda, S. 174. — Vgl. Paracelsus, Astronomia magna . . ., in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke, hg. von K. Sudhoff, Abt. 1, Bd. 12, München - Berlin 1929, S. 22.

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I X . 2 . WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

von Adam her und haben zugleich keine Seele, daher bestehen sie nur aus Geist.186 Nach dem Tode des Menschen verfault sein Leib in der Erde, der „Geist aus der Natur" wird vom Firmament verzehrt, die Seele geht zu Gott. Allein sie ist unsterblich; der siderische Geist vermag allerdings noch einige Jahre nach dem physischen Tod des Menschen zu bestehen. 187 Wollte man den Menschen, den Mikrokosmos, allumfassend erkennen, so müßte man selbst eine unendliche Erkenntnis besitzen. Gott hat die Welt aus nichts geschaffen, den Menschen dagegen aus dem „Erdenkloß". Er ist die „quinta essentia" und hat daher die Eigenschaften aller Dinge in sich. Insgesamt gilt: „Also ist der sterbliche Mensch aus der Welt und ist in der Welt und die Welt ist in ihm." 188 Diese Auffassung zielt noch nicht auf Pantheismus, denn das Verhältnis Gott — Mensch ist davon noch nicht berührt, es ist noch Kreationismus. Dennoch ist diese Präformationstheorie bemerkenswert, denn nach Weigel ist die Welt nicht nur im Menschen, sondern auch im Samen, in einer Erbse oder einer Nuß enthalten. 189 Der Mensch ist ein Abbild Gottes und der Welt. Da die Welt als Makrokosmos in zwei Teile, in die sichtbare Erde und in das „ungreifbare" Gestirn zerfällt, hat der Mensch als Mikrokosmos von beiden einen Teil. Beide Teile verbinden sich in ihm. Ebenso hat er, davon abgeleitet, zwei Geister in sich. Der sichtbare Mensch, sein Leib, ist nicht das spezifisch Menschliche, es ist das Haus des Menschen, seine sterbliche Hülle. Der äußere Leib ist in Bauch, Brust und Haupt unterteilt. Meines Wissens findet sich diese Dreiteilung erstmals bei Piaton, 190 in ähnlicher Weise dann auch bei den Scholastikern und bei Luther. Der Bauch weist alle Werkzeuge auf, derer der Mensch „zur Küche" bedarf, in der Brust sind Luft und Leben lokalisiert, im Haupt sind die menschliche Klugheit, Verstand und Weisheit angesiedelt. Doch ist der Leib mit diesen Teilen wiederum nur ein Werkzeug des inneren Menschen. Allerdings kann der Mensch einem dieser Teile die Oberhand verleihen, z. B. dem Bauch. Aber, und das ist entscheidend: „Der Mensch wird nicht gezwungen vom viehischen Geist, das ist: vom Gestirn, sondern er ist Herr, sofern er will." 191 Von hier kommt Weigel auf die Erkenntnistheorie. Ausführlicher geht er auf sie im „Güldenen Griff" ein.192 Den Abschluß des Buches bilden zwei Kapitel über die Astronomie, wobei keine Trennung von der Astrologie er188

Ebenda, S. 175. - Vgl. V. Weigel, Vom Ort der Welt, in: V. Weigel, Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 304; Paracelsus, Liber De nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke, Abt. 1., Bd. 14, München - Berlin 1933, S. 115-151, bes. S. 120-124. 187 Ebenda, S. 175. — Vgl. ebenso: Paracelsus, Astronomia magna . . ., a. a. O., S. 137 f. »88 Ebenda, S. 179. »89 Vgl. ebenda, S. 179-181. 190 Ebenda, S. 186. - Vgl. Piaton, Politeia, 434 d ff., 439dff., 580 d ff. Die Unterscheidung der Menschen in „drei Ordnungen" — sensuales, rationales und intellectuales bzw. mentales — auch in V. Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium am Sontage Invocavit, S. 186. 191 Ebenda, S. 183. — Vgl. Paracelsus, Astronomia magna, a. a. O., S. 33—51. im Ebenda, S. 1 8 8 - 1 9 8 ( = Kap. 9 - 1 1 , 15-17). - W. Zeller (Die Schriften Valentin Weigels, a. a. O., S. 43—44) weist folgende Parallelen zwischen „Gnothi Seauton I"

GNOTHI

SEAUTON"

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folgt. Weigel unterscheidet drei Welten: Gott, Himmel und Erde. Dementsprechend unterscheidet er auch drei Welten im Menschen: Erde, Himmel und Gott sind im Menschen. Die Verwobenheit dieser drei Welten offenbart sich in allen Sprachen, Handwerken, Künsten, Wissenschaften usw.,193 so daß sich in einer spezifischen Weise von der Einheit der Welt sprechen läßt. Ist das erste Buch des „Gnothi seauton" der Erkenntnis nach der Natur, so das zweite der Erkenntnis aus der Gnade gewidmet. Von Christus weiß die Natur nichts, und ohne die Neugeburt vermag der Mensch ihn nicht anzunehmen. Unser Ziel muß daher sein, daß der alte Mensch — Adam — in uns erstirbt, auf daß Christus in uns Raum finde. Das ist die zweite Wiedergeburt. Sie ist kein menschliches Werk. Adam steht für den äußeren, Christus für den inneren Menschen. Adam sucht Gott zu entgehen, und jeder Mensch ist Adam. Christus will ganz Gott leben, ganz seinen Eigenwillen aufgeben. „Wer nun durch den Glauben aus dem alten Adam versetzet ist in Christus, den neuen Menschen, der findet auch solche Natur und Eigenschaft in sich."194 Denn ein jeder Mensch kann Christus werden. Dazu muß er aber Adam ablegen. Nur dem kann die Erbsünde Schaden zufügen, der noch dem alten Adam anhängt. Nach dem Fall im Paradies sind in jedem Menschen Adam und Christus angelegt. Aus der Natur werde man allerdings nicht selig. „Es muß es die Gnade, der Glaube, die Neugeburt tun."195 Nicht die Werke machen den Christen, sagt Weigel mit Luther. In jedem Menschen liegen Adam und Christus im ständigen Kampf. Deshalb muß sich jeder Mensch vor sich selbst hüten; er ist selbst sein ärgster Feind. Der innere Mensch ist aus Gott hervorgegangen; wenn er sich gegenüber dem äußeren durchsetzt, wird er wiederum vergottet. Jeder Mensch hat beide Menschen in sich, es liegt an ihm, für wen er sich entscheidet. „Der Mensch wird geheißen innerlich und äußerlich, alt und neu, gläubig oder ungläubig nach dem Teil, der da herrschet." 196 Der Gedanke des Kampfes der zwei Menschennaturen in einem Menschen wird von Weigel immer wieder variiert. Gott, damit der Himmel, ist in uns. Ebenso findet sich Christus nicht außer uns. Auch er ist in uns, es gelte lediglich, ihn zu erkennen. Diesen Zentralsatz seiner Theorie belegt Weigel mit einem umfänglichen Eckartzitat, das damals nur durch Tauler überliefert war (Weigel benutzt den Baseler Taulerdruck von 1521).197 Bei seiner Bekräftigung, daß jeder Mensch Gott in sich trage, verweist Weigel auf Paracelsus.198 und dem „Güldenen Griff" auf: Gnothi Seauton Kap. 10, 11, 14, 15 s t i m m t überein mit „Güldener Griff" Kap. 7, 8, 10 bis 12, 16. Ebenda, S. 201-204. 194 v . Weigel, Das andre Büchlein Von der Erkenntnis seiner selbst, a. a. O., S. 221. »95 Ebenda, S. 226. !9« Ebenda, S. 229. - Vgl. KOP, T. 2, a. a. O., Evangelium am Pfingstmontage, S. 92; S. Franck, Paradoxa, a . a . O . , S. 358: „Quod mundus charitatem vocat. odium dei est — Was die Welt Liebe nennt, ist vor Gott Haß." 497 Ebenda, S. 238-240. - Vgl. Die Eckhart-Predigt LVIII (Meister Eckhart, [Predigten, Tractate], hg. von F. Pfeiffer, 4. Aufl., Göttingen 1924, S. 184-188). D a s entspricht dem Basler Taulerdruck von 1521, fol. 310 ra—vb. 198 Ebenda, S. 240. — Vgl. Paracelsus, Liber de fundamento scientiarum sapientaeque,

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I X . 2 . WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

Weigel bestimmt Gott als ein ewiges, unwandelbares Wesen, dessen Wille ebenfalls unwandelbar ist. Dieser Wille hat stets gewollt, daß wir in Christus leben. Christus ist ein Bild Gottes, der Weg zu Gott. Wir sollen uns — wie Christus — als Bildnis Gottes ansehen und entsprechend verhalten. Das Bild verweist auf seinen Schöpfer. Es kann — das gilt für Christus — ein völliges Ebenbild seines Schöpfers sein. Und wie wir nicht von uns selbst, sondern von Gott gemacht sind, als sein Bild, sollen wir ganz nach dem Willen Gottes leben. 199 Ist also Christus ein vollkommenes Bildnis Gottes, so sind wir ein Bildnis Christi, eine mehr oder minder gute Kopie, wobei wir es wiederum in der Hand haben, zu einem völligen Ebenbild von Christus zu werden. Das verlangt von uns das Bemühen, zu einem inneren Menschen zu werden. Dieses Bemühen verlangt den Glauben. Vor dem Sündenfall war Adam ein vollkommenes Ebenbild Gottes. Durch den Sündenfall, weil der Mensch den Eigenwillen anstrebte, verlor er diese Fähigkeit. Das stellt Weigel unter Berufung auf die „Theologia deutsch" dar. 200 Nach Weigel gleicht der Mensch im Verhältnis zu Gott dem Schatten eines Baumes, einem Bild in einem Spiegel usw. Weil für Weigel diese Gott-Mensch-Relation als Spiegel-Abbild-Relation so wichtig ist, nimmt die Erkenntnistheorie in seinem Werk großen Raum ein. Der vollkommene Mensch bedürfe keiner Zeremonien und keiner Schrift — auch keiner Kirche. „Schrift, Gesetze, Zeremonien . . ., Opfer, Beschneidung, steinerne Tafel, Tabernakel oder Tempel, Taufe, Schlüssel, Nachtmahl etc." sind Hilfsmittel für den äußeren, nicht von Gott (oder Christus) erfüllten Menschen. Der innere Mensch — wie Christus selbst — hat sie in sich und bedarf ihrer nicht. 201 Der Weg zu Christus führt über die Abtötung des „natürlichen Menschen". Christus ist der Spiegel für uns, um zu sehen, wie wir uns gegenüber Gott verhalten sollen und wie Gott gegen uns gesinnt ist. Aber Christus ist weitgehend unbekannt. Tauler und die „Theologia deutsch" haben zwar einen rechten Christen beschrieben, wenngleich dabei viel Irrtum unterlaufe, sonderlich bei Tauler. Zugleich wird unter Berufung auf Tauler dargelegt: Nur wer Christus gleich wird, mit ihm leidet und stirbt, kann zur Seligkeit kommen. 202 in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke, Abt. 1., Bd. 13, München - Berlin 1931, S. 287-334. «99 Vgl. dazu ebenda, S. 242-243. 200 Ebenda, S. 245-246. - Vgl. Theologia deutsch, hg. v. H. Mandel, Leipzig 1908, S. 1 0 - 1 3 , 8 5 - 8 7 , 9 0 - 9 1 (Kap. 2 - 4 , 42, 47 u . a . ) ; „Der Franckforter" (Theologia Deutsch), Krit. Textausgabe v. W. v. Hinten, München—Zürich , S. 73—75 u. a. 201 Ebenda, S. 248. — Vgl. zu diesem Komplex S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 366 bis 368: „Christianismus non cadit sub regulas — Das Christentum leidet keine Regel, kein Gesetz und keine Ordnung" (Par. 232); „Spiritus sanctus non patitur concilia et decreta hominum — Das Evangelium, der heilige Geist, leidet kein Konzil, keinen Bedacht, Ratschlag und keine Auslegung der Menschen." Ebenda, S. 285—287: „Novum Testamentum spiritus sanctus, non liber atramento scriptus, sed digito dei in cordis tabulis — Das Neue Testament, das der heilige Geist ist, ist kein geschriebenes Buch, sondern mit dem Finger Gottes in die Tafeln des Herzens geschrieben." (Par. 172) u. a. 202 Ebenda, S. 252-253. - Vgl. J. Tauler, Predigten, hg. von F. Vetter, Berlin 1910, Predigt 50, S. 225-226.

„VOM ORT DER

WELT"

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Im „Ort der Welt" nimmt Weigel seinen Gedanken auf, daß der Mensch aus Leib und Geist besteht, daß der Leib in diesem Leben an einen bestimmten Ort gefesselt ist, der Geist hingegen nicht. Gleich Paracelsus 203 ist für Weigel die Welt (Erdkugel) wie ein Ei zusammengesetzt aus Dotter und Eiklar. Gleich wie das Eiklar den Dotter, umgeben acht Sphären samt der Luft das Meer und die Erde wie eine Kugel. Erde und Meer als untere Sphäre werden geschieden von Luft oder Firmament („welches auch Himmel heißet bei den Einfältigen"). Der Himmel wird wieder in 8 sichtbare unterschiedliche Sphären geteilt — zu denen Mond, Sonne und die damals bekannten 5 Planeten gehören. Im 8. Himmel befänden sich alle Sterne des Firmaments samt den 12 himmlischen Zeichen im Zodiakus, unter welchem die „7 Planeten" ihren Lauf vollenden. Eine 9. Sphäre zählten die Astronomen dazu; über den 9. und 10. Himmel der Theologen will sich Weigel nicht näher äußern. Die Darlegungen Weigels zu diesem Problem folgen der „Cosmographie" des P. Apianus.20'' Bei seinem kurzen Überblick über die ihm bekannten vier Erdteile beruft sich Weigel auf S. Francks „Weltbuch". 205 Übrigens übernimmt Franck selbst ganze Abschnitte aus Apian.20e Weigel benutzt nicht das copernicanische, sondern das ptolemäische Weltbild mit seinen Epizyklen.207 Mit seinen geographischen und astronomischen Ausführungen aus Apian und Franck bereitet Weigel sein eigentliches Anliegen vor. Deshalb legt er auch auf Exaktheit noch keinen Wert. Viele Zahlen werden bei der Übertragung aus der Vorlage stark abgerundet, wodurch sie z. T. falsch werden. Seine Schlußfolgerung: Die Erde ist eine Kugel, sie steht in der Mitte des Firmaments. Man kann von ihr auf keiner Stelle herunterfallen, denn stets hat man den Himmel (das Firmament) über sich und ebensowenig kann die ganze Welt irgendwo hinfallen. Gott hat die große Erdkugel gesetzt „mitten in die Luft und die ganze Welt ist ein Nichts". 208 Es sei falsch, daß Gott oder die Engel die Erde in der Mitte hielten, auf daß sie nicht aus der Welt falle. Außerhalb der Welt gibt es kein leibliches Ding, auch keine Stelle und keinen Ort. Wäre die Welt etwa von Luft umschlossen, so erhöbe sich die Frage, was hinter ihr wäre usw., ad infinitum. Weigel schließt aus, daß man den Himmel oder das „rechte Vaterland" an irgendeiner Stelle im Raum oder außerhalb des Raumes ansiedeln könne, es sei allein in uns zu suchen.209 Zur Erhärtung seiner Auffassung wendet sich Weigel auch gegen Augustins Leugnung der Antipoden in 203 v , Weigel, Vom Ort der Welt, a. a. O., S. 265. — Vgl. Paracelsus, Philosophia de generationibus et fructibus quatuor elementorum, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke, Abt. 1., Bd. 13, a. a. O., S. 15—16. 204 Weigel verwendet offenbar: P. Apianus, Cosmographia per Gemmam Frisium, Antwerpen 1550. Diese Arbeit erschien erstmals 1524, ab 1529 in vielen weiteren Auflagen mit den Korrekturen und Zusätzen R. Gemma Frisius'. 205 Vgl. v . Weigel, Vom Ort der Welt, a. a. O., S. 277-278. - Vgl. S. Franck, Wahrhafftige Beschreibunge aller theil der Welt . . . jetzt aber mit sondern fleiß auff ein neuwes übersehen . . . Anno MDLVII. Diese Ausgabe hat Weigel wahrscheinlich benutzt. 206 Vgl. S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert. Sebastian Franck und seine Wirkungen . . ., Berlin 1972, S. 212-215. 207 vgl. V. Weigel, Vom Ort der Welt, a. a. O., S. 279f. 208 Ebenda, S. 287. 29 Ebenda, S. 292.

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ANSCHAUUNGEN

seinem „De civitate Dei" (XVI, Kap. 9). Auch Gott und die Engel sind an keinem Ort. In ihnen ist der Geist. „Im geistlichen, sichtbaren Wesen ist die Größe und Kleinheit ein Ding: Magni et parvi eadem est mensura et divinitas etc." 210 Mahnke kommentiert diese Stelle als besonders aufschlußreich: „weil sie uns noch einmal bestätigt, daß zu den Quellen Weigels außer dem . . . ausdrücklich genannten hermetischen Schrifttum und der Mystik des Meisters Eckhart auch die Philosophie des Kusaners gehört. Denn es ist ein für diese charakteristischer Gedanke, daß die Gottheit oder das absolut Unendliche, in dem das Größte u n d Kleinste

zusammenfallen, das Maß für alles zugleich

ist." 211 Einem Geist ist nach Weigel Ortsnähe und -ferne ein Ding, wobei sich Weigel wieder auf Meister Eckhart beruft. 212 In der Vorstellungswelt der Sinne und des fleischlichen Auges ist das nicht zu verstehen. Gegenüber der Unendlichkeit verhält sich die Welt wie ein in einem großen Reifen hängendes Senfkorn oder wie ein Tropfen im Meer. Gott schuf durch sein Wort die Engel, in denen schon die ganze Welt mit allen Geschöpfen unsichtbar vorhanden war. Nach dem Fall Luzifers erschuf er die sichtbare Welt mit all ihren Geschöpfen. Alle leiblichen Dinge „sind ein Exkrement oder ein koagulierter Rauch . . . von den unsichtbaren astris". 213 Dieser „Rauch" besteht aus den drei Substanzen: Sal, Sulphur, Mercurius. Vor der Weltschöpfung war nur die unendliche Weite. Seit Entstehung (Schaffung) der Welt gibt es Raum und Zeit — und beide bestehen nur in der endlichen Welt. Durch die Schaffung des Endlichen — der Welt — hat die Unendlichkeit aber keine Minderung erfahren. Nach dem Ende der Welt bleibt die Unendlichkeit. In ihr werden sich die Seelen der Seligen und Verdammten, Engel und Teufel aufhalten. Die Seligen sind in Gott, die Verdammten außerhalb Gottes. Außerhalb heißt jedoch nicht außer dem Willen Gottes, denn alles ist in Gott. Aber sie sind nicht im rechten Paradies. Dieses Paradies oder das Reich Gottes ist im Menschen, wie Weigel unter erneuter Berufung auf die „Theologia deutsch" feststellt. 214 Himmel und Hölle sind an keinem bestimmten Ort und nicht durch materielle Mauern geschieden, Geister können ja auch durch Holz und Eisen hindurchgehen, wie Weigel am Beispiel der Sylphen, Salamander, Nymphen und Pygmäen erweist. Diese Auffassung übernimmt er ebenfalls von Paracelsus. 215 Die Trennung von Himmel und Hölle ist eine rein geistige. Wo aber sind in dieser Welt Himmel und Hölle zu plazieren? Die Teufel sind hier an die materiellen Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde) gefesselt. Aber damit ist nicht gesagt, daß die Hölle in der Erde ist, 210 E b e n d a , S. 296. 211 D. Mahnke, Unendliche Sphäre u n d A l l m i t t e l p u n k t . Beiträge zur Genealogie der m a t h e m a t i s c h e n Mystik, Halle/S. 1937, S. 126. M a h n k e b e r u f t sich zum Beleg auf Nicolaus v. Kues, Die belehrte Unwissenheit (Docta ignorantia), übers, u. m i t Vorw. u. Anm. hg. von P. Wilpert, Buch I, Berlin 1964, S. 16, 20, 21, 23. 212 V. Weigel, Vom Ort der Welt, a. a. O., S. 297. - Vgl. Meister E c k h a r t , Predigten, hg. v. F. Pfeiffer, a. a. O., S. 105, 2 6 - 2 9 = 29. Predigt. 2»3 E b e n d a , S. 299. 2« E b e n d a , S. 303. - Vgl. Theologia deutsch, hg. von H . Mandel, a. a. O., S. 91 = K a p . 47; S. F r a n c k , P a r a d o x a , a. a. O., S. 148f. (Par. 89). 215 V. Weigel, Vom Ort der W e l t , a. a. O., S. 104. - Vgl. T h e o p h r a s t von Hohenheim, gen. Paracelsus, Liber De n y m p h i s . . ., a. a. O., 1. Abt., Bd. 14, S. 117—151.

CUSANISCHE D I A L E K T I K

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etwa sichtbar werdend am Austreten von warmen Quellen, die angeblich von höllischem Feuer in der Erde zeugen. Wieder verweist Weigel auf Paracelsus, der das Problem der heißen Quellen richtig behandelt habe. 216 Das 16. Kapitel von Weigels „Ort der Welt" ist zentral, denn es bringt 17 Schlußfolgerungen aus dem bisher Dargestellten. 217 Daraus sei nochmals hervorgehoben: Gott ist in dieser Welt allerorts gegenwärtig, da er und die Engel keines Ortes bedürfen. Er ist uns in dieser Welt ebenso nahe wie nach dem Untergang der Welt. Der Himmel, das Reich Gottes, Christus, das Paradies stehen allein im Geist. Die äußeren Erscheinungen deuten nur auf den ewigen Grund. Der wahre Christ kann durch keinen Menschen — auch nicht durch den Teufel — des Wortes Gottes beraubt werden, selbst wenn ihm das Sakrament und die mündliche Predigt entzogen würden. Nach Weigel ist entscheidend, „daß der Himmel der Seligen und die Hölle der Verdammten kein leiblicher, beschließlicher Ort ist, sondern: wie sich ein jeder abwendet durch die Sünde und ein jeder zukehret durch den Glauben, also wird er auch fühlen und finden seine Hölle oder Himmel. Darum tragen die Gottlosen die Hölle bei sich selbst, ebenso wie die Frommen den Himmel auch." 218 Die Weisheit, Christus, den Himmel soll man also nicht in äußeren Dingen wie Reichtum und Besitz suchen. Alle Kreaturen stehen in Gott, denn er ist ein Inbegriff aller sichtbaren und unsichtbaren Geschöpfe. Christi Himmelfahrt ist nicht „localiter" geschehen. Seine Höllenfahrt besagt, daß er unser irdisches Fleisch annahm. Der Cusanische Gedanke der Dialektik von Endlichem und Unendlichem schimmert bei Weigel allerorts durch. Gehen wir deshalb auf einige Ideen des Nicolaus Cusanus ein. Für ihn ist der äußerst abstrakt gefaßte Gott nicht von der Natur und vom Menschen getrennt, sondern ihnen in jeder Hinsicht nahe. Er wird — pantheistisch verstanden — zum wichtigsten Ausdruck der Einheit der Natur selbst. Gott ist so in den Dingen wie diese in ihm. 219 Einheit drückt nicht nur das Wesen Gottes selbst aus, sondern ist auch als Form der Beziehung des einen Gottes zur mannigfachen Welt zu verstehen. Das göttliche Absolute, das aus den Tiefen der Natur wirkt, geht allerdings nicht restlos in den Dingen und Erscheinungen der Welt auf. Aber obwohl Gott etwas gänzlich Besonderes darstellt, ist das Absolute keineswegs gleichgültig gegenüber der Welt der Dinge und Erscheinungen. Diese Welt ist keine isolierte und äußerliche Gesamtheit von Einzelheiten. Insofern als „Gott . . . der einzige absolut einfache Seinsgrund des gesamten Universums" ist, 220 besteht seine wichtigste Funktion darin, die Einheit und die Mannigfaltigkeit in die Welt hineinzutragen. Damit stellt sich das dialektische Problem der gleichzeitig unendlichen und einheitlichen, ganzheitlichen Welt. Cusanus betont die „be216 Ebenda, S. 307. — Vgl. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, „De mineralibus", in: Paracelsus, Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 3, München — Berlin 1930, S. 29—63; ders., Von den natürlichen bedern, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 2, München — Berlin 1930, S. 225-260. 217 Ebenda, S. 308-311. 218 Ebenda, S. 310. 21» Vgl. Nicolaus v. Kues, Die belehrte Unwissenheit, Buch II, Berlin 1967, S. 3 6 - 3 7 . 220 Ebenda, Buch I, a. a. O., S. 95.

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wundernswürdige Einheit" der Dinge. 221 In der „Weltmaschine" offenbart sie sich im wechselseitigen Einfluß der Erde, des Mondes, der Sonne und aller Planeten aufeinander. 222 Die Einheit der Welt setzt für Cusanus die kausale Verknüpfung all ihrer Teile voraus. Auch der Mensch ist ein endlich-unendliches Wesen; endlich als körperliches, unendlich als geistiges Wesen. Schon diese wenigen Beispiele lassen unschwer erkennen, welche engen Beziehungen Weigels Auffassungen zur Philosophie des Kusaners haben. Für Weigel sind auch Teufel und Hölle in Gott. Aber Gott will für sich selbst nichts, „er wird erst in der Kreatur wollend und zum Willen" 223. Lebt der Mensch jedoch nach seinem eigenen Willen, kommt er von Gott ab. Darum sind der Teufel und alle Bösen, weil sie sich nicht Gott ergeben, nicht selig. Wäre also eigener Wille nicht, so wäre auch keine Hölle, sondern nur Himmel. 224 Gott ist die ewige Ruhe, er ist wirklos. Wenn der Mensch Eigenwillen entfaltet, verliert er diese Ruhe. Diese Ruhe, sein Vaterland, läßt sich vom Menschen nicht erlaufen, sondern Christus muß von innen erwartet werden. 225 „Gott, das höchste Gut, bleibet immer, wie er ist: unwandelbar — du liebest ihn oder hassest ihn, du fluchst oder betest, so wirst du ihn weder betrüben noch erfreuen, etwas geben oder nehmen, er sitzet dir zu hoch. Darum: Alle Änderungen geschehen nur in der Kreatur und nicht in dem unwandelbaren Gott." 2 2 6 Diese Position korrespondiert mit Auffassungen Luthers, wie er sie in „De servo arbitrio" (1525) gegen Erasmus von Rotterdam entwickelte. Auch Luther geht es bei der Darlegung seiner Position zum freien Willen nur um das MenschGott-Verhältnis. Da aber Luther von einem völlig anderen Gottesbegriff ausgeht, ist seine Stellung zur Willensfreiheit mit der Weigels keineswegs identisch. Nach dem Jüngsten Tag, dem Ende der Welt, wird nach Weigel jedes natürliche und leibliche Ding aufhören. E s bleibt die Unendlichkeit, in der die Geister schweben, mit einem vergeistigten, übernatürlichen Leib ausgestattet. Der Concionator im „Dialogus de Christianismo" berichtet, wie Weigel das meint: In jener Welt werde es kein Studium der Sprachen, keine Künste, Wissenschaften und Prediger mehr geben, denn jenes Reich ist ja vollkommen. Das Endliche ist wieder in das Unendliche zurückgekehrt, in dem alles in Fülle vorhanden ist, nicht aber Teufel, Krankheiten, Eigentum, Nonnen, Stände, Titel, juristische Händel, Kaiser, Papst und andere Obrigkeit. Für Weigel heißt im Himmel oder in der Hölle sein, im Willen Gottes zu sein. Wille Gottes wird mit Christus, seinem Wort, dem Wesen aller Kreaturen, 221 Vgl. ebenda, Buch II, a. a. O., S. 4 0 - 4 1 . 222 Ebenda, S. 9 4 - 9 5 . 223 V. Weigel, Vom Ort der Welt, a. a. O., S. 313. — Vgl. ebenso S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 22, 25, 28, 38 (Par. 3, 6, 8, 14). 224 Ebenda, S. 314. - Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 256 (Par. 148a): „Eigener Wille brennt in der Hölle." Diesen Gedanken variieren Franck und Weigel immer wieder. 225 Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 82 (Par. 36): „Deus repenti obvius, fugit insequentem — Gott läßt sich erschleichen, aber nicht erlaufen." 226 y . Weigel, Vom Ort der Welt, a. a. O., S. 325. - Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 29 (Par. 9): „Deus ceu indigens aliquo, manibus humanis non colitur. Gott kann niemand dienen oder schaden."

IDEALISTISCHER

PANTHEISMUS

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gleichgesetzt. Gott „will nichts, aber in, mit und durch das Wort und Kreatur wird er uns zum Willen und wird wollend, vornehmlich im Erstgeborenen Christus . . .",227 Dementsprechend will er, daß der Mensch mit Christus eins ist, nach ihm lebt. Abfall des Willens von Gott führt zum Bösen. Christus hatte den freiesten Willen, da er aber mit Gott eins war, den Willen ganz auf Gott richtete, war er eins mit Gott. Wer nun wie Christus handelt, ist im Himmel. Wer sich selbst lebt, ist in der Hölle. Im Cusanischen Sinne verdeutlicht Weigel seine Auffassung mit Begriffen wie „Zentrum", „Linie", „Punkt", „Zirkel". In Gott ist alles nach dem Wesen, nicht nach dem Willen. Gott umschließt alles, birgt seinem Wesen nach alles in sich. Hier läßt sich nur von einem idealistischen Pantheismus sprechen. Weigel verdeutlicht seine Auffassung wie folgt: Man kann sagen, das Bier ist in der Kanne, der Wein im Faß, das Mehl im Sack — nicht umgekehrt. Aber das galt nur für die Welt des Körperlichen. Er setzt fort: „Ich bin im Reich Gottes, und das Reich Gottes ist in mir; ich bin in Christus, und Christus ist in mir; ich bin im Heiligen Geist, und der H[eilige] G[eist] ist in mir; ich bin in Gott, und Gott ist in mir; ich bin im Himmel, und der Himmel ist in mir; ich bin im Willen Gottes, und der Wille Gottes ist in mir." 228 Die neue Geburt ist Sache Gottes. Der Mensch muß dazu bereit sein, Gott vollzieht sie. „Die Wiedergeburt ist nicht Kreaturwerk, sondern Gottes Werk in dem gelassenen Menschen. Gott will nicht ohne den Menschen, und der Mensch kann nichts ohne Gott, sondern die beiden miteinander, Gott wirkend, der Mensch leidend." 229 Hier kommt ein mystisch-kontemplativer Zug zum Ausdruck, der Einfluß der Gelassenheit. Weigels Hauptschriften aus seinen verschiedenen Schaffensperioden stehen in einem inneren Zusammenhang. So sind Teile des „Güldenen Griffs" schon im „Gnothi seauton" relativ ausführlich dargelegt. „Der güldene Griff" ist das erkenntnistheoretische Hauptwerk Weigels, das seine Gott-Mensch-Welt-Auffassung untermauern soll. Weigel stellt seine Grundgedanken in immer neuen Variationen dar. Gerade im „Güldenen Griff" schließt jedes Kapitel mit einem Gebet. Weigel setzt Paracelsus' Auffassungen gegen Aristoteles an den Anfang seiner Betrachtungen: Das „Element" Firmament, von Gott geschaffen, bringt Früchte wie Schnee, Hagel usw.230 Der Schöpfungsprozeß habe dazu geführt, daß durch das Wort aus Nichts die Dinge in das Wesen aller Dinge, aus dem Unsichtbaren in das Sichtbare kommen, aus dem Geistlichen in das Körperliche, Leibliche. Alle Dinge fließen von innen heraus, gelangen nicht von außen in sie hinein. Das ergibt sich aus dem Urgrund Gott, der Einheit ist, aus dem die Mannigfaltigkeit stammt. Also gilt es, sich auf Gott, das Eine zu konzentrieren, um wirklich zu Weisheit zu gelangen. Ebenso hat jeder Ebenda, S. 341. Ebenda, S. 343. 22» Ebenda, S. 348. 230 y Weigel, Der güldene Griff, a. a. O., S. 370. — Vgl. Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, De Meteoris, in: ders., Sämtliche Werke, Abt. 1., Bd. 13, a. a. O., S. 142—143. „De meteoris" war bereits 1566 zu Köln und zu Neiße erschienen.

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22s

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Wollgast

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Mensch die Fähigkeit zu Erkenntnis und Urteil in sich. Die Welt meine, die Erkenntnis komme vom Gegenwurf, z.B. durch Bücher werde Verstand in den Menschen getragen. Wenn der Verstand nicht vorher im Menschen sei, so sei er vom Buche her nicht aufnehmbar. Weigel argumentiert: Könnte man aus einem Buch die Weisheit entnehmen, so müßten seine Leser alle den gleichen Gewinn daraus ziehen. Das Beispiel der Bibel zeige am besten, daß dies nicht der Fall ist. Dieser Gedanke ist Weigel so wichtig, daß er ihn im 4. Kap. des „Güldenen Griffs" entwickelt und im 9. Kap. nochmals durch eine Vielzahl von Beispielen erläutert. Nach Weigel gehören drei Bestandteile zum Sehen und Urteilen: das Auge, das Objekt (der Gegenwurf), ein Medium zwischen Auge und Gegenwurf. Sei der Gegenwurf ein Baum, so brauche ich gewisse Lichtverhältnisse, um ihn wahrnehmen zu können. Denn würde ich die geschlossenen Augen an den Baum legen, käme ich zu keiner Wahrnehmung. Das gilt für alle Sinne hinsichtlich der Erkenntnis der Außenwelt. Auch für die theoretische Erkenntnis bedarf es im Prinzip dieser drei Bestandteile. Aber letztlich ist dabei nicht das Medium entscheidend, sondern das (innere) Auge und der Gegenwurf. Das (innere) Auge hat selbst das erforderliche Licht in sich. Es gibt bei Weigel drei Erkenntnisarten: sinnliche, vernünftige und gründliche (geistige) Erkenntnis. Die sinnliche Erkenntnis haben wir mit den Tieren gemeinsam, die vernünftige Erkenntnis (Erfahrung von Wissenschaften, Werken, Sprachen) ist dem Menschen spezifisch, die geistige Erkenntnis ist mit der Seele verbunden. Hugo von St. Viktor hat auf die Erkenntnistheorie Weigels großen Einfluß. E r sagt: „Es waren drei Dinge, Körper, Geist, Gott. Körper war die Welt, Geist die Seele. Und die Seele war gleichsam in der Mitte, außer sich die Welt, in sich Gott." Nach Hugo hat nun die Seele ein „dreifaches Auge": „oculus carnis", mit dem sich die äußere Sinneswelt erkennen läßt, „oculus rationis", mit dem die Seele sich und das, was in ihr ist, erfaßt, und „oculus contemplationis", mit dem Gott und was in Gott ist, geschaut wird. 231 Ähnlich unterscheidet Hugo drei Stufen der intellektuellen Tätigkeiten, die erste (cogitatio) ist das unmittelbare denkend-bewußte Erfassen der Welt, die zweite (meditatio) das innere Verarbeiten des mit der cogitatio Erfaßten, welches das hinter den werdenden und vergehenden äußeren Formen verborgene Wesen der Dinge zu erfassen sucht. Beide sind auf den Erfahrungsbereich beschränkt, während die dritte und höchste Stufe (contemplatio) zur unmittelbaren Anschauung (visio) des Göttlichen führt. 232 Hugo von St. Victor und sein jüngerer Nach231 Hugo von St. Victor, De Sacramentis Christianae fidei, in: J.-P. Migne, Patrologiae cursus completus, Ser. Latina, Bd. 176, Paris 1854, Sp. 329c—330a. — L. Noack, Die christliche Mystik nach ihrem geschichtlichen Entwicklungsgange im Mittelalter und in der neueren Zeit. T. 1: Die christliche Mystik des Mittelalters, Königsberg 1853, S. 6 4 - 9 1 . 232 Ygi Hugo von St. Victor, De unione corporis et spiritus, in: ebenda, Bd. 177, Paris 1854, Sp. 287 seq. — Vgl. E. Werner, Stadt und Geistesleben im Hochmittelalter, 11. bis 13. Jahrhundert, Weimar 1980, S. 158ff.; V. V. Sokolov, Srednevekovaja filosofija, a. a. O., S. 187-190.

ERKENNTNISTHEORIE

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folger und Schüler Richard von St. Victor lassen mit dieser Lehre Einflüsse Augustins erkennen. Augustin wiederum hat zeitweilig ein enges Verhältnis zum Neuplatonismus, der auch in Boethius' Erkenntnistheorie und bei seinem Kommentator Wilhelm von Conches stark mitschwingt. So hat die spätere Dreiteilung der Erkenntnis in „imaginatio", „ratio" und „intuitio" — die Bezeichnungen für die einzelnen Erkenntnisarten wechseln — ihre Grundlage im Neuplatonismus. Augustin führt das „Dasein" der Dinge, ihre objektive Realität, als Gegenstand eines „Glaubens" ein. Für Weigel besteht am außerhalb und unabhängig vom Menschen existierenden „Gegenwurf" kein Zweifel. In seiner Erkenntnis folgt er dem Neuplatonismus der Renaissance: „Das oft gebrauchte Bild vom .Einswerden' mit dem Gegenstand in dessen Erkenntnis schließt zum mindesten, wenn auch vielfach unbemerkt, die Grundfrage nach der Struktur des Gegenstandes und mit ihr die Aufgabe ein, den Begriff der Erkenntnis, d. h. der Methode an dieser Struktur zu klären." 233 So kann auch der in dieser Fragestellung lebende und auf Weigel überkommene sog. Renaissanceplatonismus als eine Quelle'der Weigelschen Erkenntnistheorie angesehen werden. Alles, was Gott erschaffen hat, vermag der Verstand zu begreifen, dagegen das Unendliche, Gott, nur von Ferne her. Aus dem Gegensatz von Gott und Welt, aus dem Gegensatz von unendlichem Einen und endlichem Vielen ergeben sich zwei Arten von Philosophie: eine natürliche durch das Licht der Natur und eine übernatürliche durch das Licht des Glaubens und des Geistes in Christus. Diese Unterscheidung trifft auch Paracelsus. Er unterscheidet neben der von ihm sehr weit gefaßten Philosophie eine „philosophia adepta coelestis". Letztere hat Himmel, Paradies und das Göttliche im irdischen, elementischen Sein zum Gegenstand.234 Man soll nach Weigel beide Philosophien (die übernatürliche wird auch als Theologie bezeichnet) nicht miteinander vermischen, aber beide betreiben. Ebenso wie eine zweifache Philosophie setzt Weigel auch auf eine zweifache Erkenntnis: natürliche (wirkende) und übernatürliche (leidende) Erkenntnis. Letztere erfährt der Mensch von Gott selbst, der sich in dem leidenden Auge ergießt. In dieser Erkenntnis wirkt der Mensch nicht. Damit werden folgende Gegensatzpaare in dieser Welt verbunden: Licht der Natur und Licht der Gnade, irdischer und himmlischer Adam (Christus), angeborener Glaube aus Gott R. Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie, Berlin 1933, S. 78. — E. Cassirer (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1, Berlin 1906, S. 88f.) sieht in der neuen Stellung zur Erkenntnistheorie die Einheit der verschiedenen Richtungen der Renaissance. Vgl. H. Ostler, JDie Psychologie des Hugo von St. Viktor. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie in der Frühscholastik, Münster i. W . 1906; J. Ebner, Die Erkenntnislehre Richards von St. Viktor, Münster i. W . 1917; H. R. Schlette, Die Nichtigkeit der W e l t der philosophische Horizont des Hugo von St. Viktor, München 1961. Vgl. zusammenfassend: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd. 2: Mittelalter. Hg. v. K. Flasch, Stuttgart 1982. — Wieweit M. Luthers erkenntnistheoretische Auffassungen (vgl. B. Lohse, Ratio und Fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, a. a. O.) direkt auf Weigel wirken, bedarf der Prüfung. 234 v . Weigel, Der Güldene Griff, a. a. O., S. 378. — Vgl. Paracelsus, Astronomia magna . . ., a. a. O., S. 395-399.

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ANSCHAUUNGEN

in allen Menschen und Glaube aus Gnade, aus Erkenntnis Christi. Der natürliche Gegenwurf (die Objekte dieser Welt) ist erlernbar, der geistige Gegenwurf, Gott, ist unendlich und daher in seiner Fülle nicht erkennbar. In Weigels Erkenntnistheorie spielt das Auge eine bedeutende Rolle. Er stellt — vgl. oben — eine ganze Rangfolge der „Augen" auf. Oculus carnis begreift äußerlich die fünf Sinne und innerlich die Imaginatio (etwa das Vorstellungsvermögen) in sich, wobei Imaginatio unter Berufung auf Paracelsus als der siderische Geist, das Gestirn im Menschen interpretiert wird.235 Oculus rationalis steht eine Stufe höher, und den Schlußpunkt der Erkenntnis bildet oculus mentalis. Das oberste Auge vermag jederzeit ohne Hilfe des unteren zu wirken, das unterste hingegen kann ohne das oberste Auge nichts schaffen. Allerdings vermag das unterste Auge die Wirkung des oculus rationalis und oculus carnis zu verhindern. Soll oculus mentalis wirken, so muß „der Verstand stillstehen". Das Verhältnis der drei Augen bzw. Erkenntnisarten stellt Weigel in einer Skizze als ineinandergreifende Dreiecke dar, wobei die Spitze eines jeden Dreiecks die Grundfläche des anderen berührt: Diese Darstellung findet sich auch bei N. Cusanus.236 Weigel gibt als Regel: „Unitas monis est in sua alteritate ut lux in tenebris; et omnis alteritas est in sua unitate ut tenebrae in luce." 237 Diese Regel bringt die coincidentia oppositorum zum Ausdruck und findet sich beim Cusaner in gleicher Weise: Er bezeichnet wie Valentin Weigel die Dreiecke mit unitas und alteritas. Aus der Beschaffenheit des jeweiligen Auges ergibt sich auch der Charakter der Erkenntnis: „Ist das Auge ein lauteres, klares Gesicht, so wird die Erkenntnis rein, lauter und klar geurteilt sein. Ist aber das Auge stumpf und dunkel, so wird auch das Sehen falsch und dunkel sein."238 Die Konsequenz der Erkenntnislehre Weigels ist letztlich: Es bedarf der sichtbaren Kirche nicht. Wenn der Mensch Christus, das Himmelreich, das Paradies in sich hat, ist er, so er diese erkennt, auf die äußeren „Wegweiser" — Kirche, Zeremonien, Sakramente etc. — nicht angewiesen. Das ist wohl auch eine Hauptursache für Weigels ständig wiederholte These, daß vom „objectum", vom Gegenwurf, keine Erkenntnis kommt. Damit ist der Wert der Theologie und der Bibel stark gemindert. Das einzige Objekt, das von außen in uns kommt, ist Gott. Dies ist aber nur möglich, weil Gott schon in uns ist. Übrigens bedarf der „Güldene Griff" noch eingehender Untersuchung hinsichtlich des Vergleichs der erhaltenen Handschriften und des gedruckten Textes. Nach W. Zeller239 enthält der gedruckte Text Interpolationen und ist an vielen Stellen tendenziös korrigiert. 235 Ebenda, S. 385. — Vgl. Paracelsus, Liber de Imaginibus, in: Theophrast von Hohenheim, gen. Paracelsus, Sämtliche Werke, Abt. 1., Bd. 13, a . a . O . , S. 359—386; ders., Fragmentum libri De Virtute imaginativa, in: ebenda, Bd. 14, a. a. O., S. 309—319. Beide Schriften des Paracelsus sind 1572 bzw. 1567 im Druck erschienen, Weigel dürfte sie gekannt haben. 236 Ebenda, S. 387. — Vgl. Nicolaus v. Kues, Mutmaßungen, übers, u. mit Einf. u. Anm. hg. v. J. Koch und W. Happ, Hamburg 1971, S. 46-49, Kap. 41. 237 Ebenda. 238 Ebenda, S. 395. 239 vgl. w . Zeller, Die Schriften Valentin Weigels, a. a. O., S. 42.

ANKNÜPFUNGEN

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In Weigels „Dialog über das Christentum" sind von den sieben Gesprächspartnern der Tod (Mors), der Zuhörer (Auditor) und der Prediger (Concionator) die Hauptpersonen. Die Schrift ist in der Form des Dialogs verfaßt, die Weigel aus dem Renaissancehumanismus übernahm. Der Auditor (auch idiota genannt) repräsentiert den Laien oder „gemeinen Mann", ungeachtet des Standes. Der Concionator steht für den geistlichen Stand — vom Papst bis zum einfachen lutherischen Prediger. Mors steht für (den inneren) Christus. Die theologischen Argumente sind hier lediglich konzentriert und weitgehend ohne Beiwerk dargeboten. Explizit wird die in der Konkordienformel festgelegte Lehre von der iustitia imputativa 2 ' 10 abgelehnt. Mit dem Kreuzestod Christi erfüllt sich das Gesetz, wir sollten nur auf rechte Weise glauben, so würden wir erlöst. Die Auffassungen des Idiota — dessen Position Weigel einnimmt — verketzert der Concionator als osiandrisch, müntzerisch, schwenckfeldisch, enthusiastisch, schwärmerisch, täuferisch. 2 '' 1 Die Schlußfolgerungen für den Alltag des ausgehenden 16. bzw. des beginnenden 17. Jh. werden in den beiden Weigelschen „Postillen" ungleich schärfer formuliert als im „Dialog". In den Werken der Mystiker und oppositionell Gesinnten nach der Mitte des 16. Jh. „ist der Kampf zu spüren zwischen vorwärtsweisendem, vom Geist der Renaissance entfachten, wenn auch spekulativen Denken, das auf die Erkenntnis der Welt und Verbesserung des menschliehen Lebens gerichtet ist, und dem resignativen Sich-Abwenden von der Welt und dem bloßen Versenken in das Ich, das schließlich alle gesellschaftliche, die Persönlichkeit bedrückende Unbill negiert oder gelassen auf sich nimmt". 2 '' 2 In Weigels Leben und seinen Schriften wird dies deutlich. Immer wieder betont Weigel: „. . . ein gezwungener Glaube ist kein Glaube / es muß mit gutem Willen geschehen / vnnd nicht wider den Willen." 243 Das paradoxe Denken ist auch Weigel eigen. Er begründet: Der Glaube ist allen gehorsam und Untertan, der Glaube ist niemand gehorsam und Untertan. 244 Diese Formulierung ist zwar in Analogie zu dem berühmten Satz aus Luthers „Freiheit eines Christenmenschen" gebildet, aber inhaltlich mit Luther völlig unvereinbar. Nach Weigel ist Gottes Wort in der Schrift verdeckt und verborgen. Der fleischliche Christus, der auf Erden gelebt hat, ist nur ein Weg, ein Licht, eine Tür und Pforte in den Himmel, d. h. zu Gott. Es sind „beyde Geburten in einen Menschen / die Alte und die Newe / welche stettig mit einander streitten vnd kriegen".2'15 Kein Mensch ist von vornherein Christ; er muß sich erst zum Christen entwikkeln. Die vielfältigen Kirchenspaltungen werden abgelehnt. Eine Marginalie in Vgl. a u c h : K O P , T. 1, a. a. O., S. 170, S. 1 7 5 - 1 7 6 ; B e k e n n t n i s s c h r i f t e n der e v a n gelisch-lutherischen Kirche, a . a . O . , S. 781-782, S. 929; P. T s c h a c k e r t , Die E n t stehung der lutherischen u n d der r e f o r m i e r t e n Kirchenlehre s a m t ihren i n n e r p r o testantischen Gegensätzen, Göttingen 1910, S. 613—614. 241 Vgl. z. B. V. Weigel, Dialog über das C h r i s t e n t u m , i n : V. Weigel, Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 473, 491, 550 u. a. 242 Geschichte der deutschen L i t e r a t u r von den A n f ä n g e n bis zur Gegenwart, Bd. 5: 1600-1700, a. a. O., S. 238. a « Vgl. z. B. V. Weigel, K O P , T. 1, a. a. O., E v a n g e l i u m a m Christ Tage, S. 41. 244 E b e n d a , E v a n g e lium a m ersten Sonntage n a c h E p i p h a n i a e , S. 101—108. 245 E b e n d a , E v a n g e lium a m Tage J o h a n n i s Deß Täuffers, S. 58.

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ANSCHAUUNGEN

der „Hauspostill" lautet: „Geht jitzt noch so zu / eine jede Sect hat jhren besondern vermeynte Gottes dienst / Ceremonien unnd Ordnög. Aber vergeblichen dienen sie Gott mit Menschetande."246 Kein Sakrament noch Zeremonie macht selig. Die Seligkeit oder Verdammnis muß vom inneren Menschen herkommen. Auf den Universitäten oder in den großen Handelsstädten kann man keine Kenntnis von Christus erlangen. Zur Erkenntnis Gottes gelangt man durch das Studium der Natur. Wer also im Buche der Natur liest, der liest auch im Buch der Schöpfung. Hier ist der Einfluß von Paracelsus auf Weigel ganz offensichtlich, wie ja bei beiden der Begriff des „Lichtes der Natur" eine wesentliche Rolle spielt. Der Ausdruck „Buch der Natur", wohl von Augustin geprägt, wird von Bonaventura, Raimundus Lullus, Raimund von Sabunde u. a., auch von M. Montaigne, Nicolaus von Cues, Francis Bacon, Kepler und Galilei verwendet. Nach Weigel ist es „eine große Blindheit und Thorheit / daß sich weltliche Regenten unterfangen / die Kirchen zumeistern / den Glauben zugebieten / es ist doch alles umbsonst dem Gläubigen nach dem jnnern Menschen / ist auffgehaben aller Gewalt / er ist Niemand gehorsam noch unterthan"247. Der innere Mensch ist frei, keiner Obrigkeit unterworfen, nur der äußere Mensch ist an sie gebunden. Deshalb brauchen die Fürsten, setzt Weigel hinzu, vor den wirklichen Christen keine Furcht zu haben. Diese seien als Untertanen gehorsam, sie leiden, erdulden, empören sich aber keineswegs. Auch diese Auffassung reflektiert die deutschen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 16. Jh. Mit Luthers ursprünglicher Zwei-Reiche-Lehre hat sie durchaus Gemeinsamkeiten. Schon seit 1515 hatte Luther mit dem Freiheitsproblem gerungen, und seine Auffassungen hatten mit seiner berühmten Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" (1520) zu einer folgenreichen Klärung geführt. Seine mit dem Freiheitsproblem verbundene Zwei-Reiche-Lehre hatte Luther u. a. in seiner Grundsatzschrift „Von weltlicher Oberkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei" (1523) entwickelt. (Nebenbei: in dieser Schrift prophezeit Luther das Ende der Fürstenherrschaft. Die Fürsten und Herren hätten durch ihr Schinden und Schaben, durch ihre unerträgliche Aussaugung der Armen den ihnen von Gott erteilten Auftrag verwirkt. Deshalb habe Gott beschlossen, mit dem Fürstenregiment Schluß zu machen.2/i8) Ausgehend vom Gegensatz der Aussagen in der Bergpredigt, Matth. 5—7 (Gewaltlosigkeit) einerseits und Rom. 13 (Anerkennung der Gewalt) andererseits, sucht Luther äußere Ordnung, Macht, Gewalt und Evangelium so zu unterscheiden, daß beide Bereiche selbständig bleiben. Insgesamt entspricht Luthers Zwei-ReicheLehre seiner Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Luther anerkannte ein Widerstandsrecht gegen angemaßte Obrigkeit von kirchlichen Amtsträgern. Gegen gottlose weltliche Obrigkeiten gestand er Widerstand nur durch das Wort zu, ansonsten waren ihm die weltlichen Obrigkeiten Vollstrecker des göttlichen Willens in der Gesellschaft — die Obrigkeiten haben das Schwert, zu 246

Ebenda, Evangelium an Newen Jahrstage, S. 70. Ebenda, Evangelium am ersten Sontage nach Epiphaniae, S. 105. 248 Vgl. M. Luther, Von weltlicher Oberkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei, in: WA, Bd. 11, Weimar 1900, S. 265.

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strafen die Bösen und zu schützen die Guten —, und jeder Aufruhr gegen die Obrigkeit ist teuflisch, ist gegen Gottes Willen. Diese Grundüberzeugung hat Luther schon vor dem Bauernkrieg geäußert. Wenn Engels formuliert: „Die lutherische Reformation brachte es allerdings zu einer neuen Religion — und zwar zu einer solchen, wie die absolute Monarchie sie gerade brauchte"249, so wird damit die noch zu besprechende proabsolutistische Umdeutung der Lutherischen Zwei-Reiche-Lehre erfaßt. Weigel folgt aber progressiven Auffassungen des jungen Luther, setzt sie fort. Beichten vor dem Priester ist nach Weigel eine Sache des äußeren Menschen, der innere Mensch beichtet und bekennt nicht dem Priester, sondern Gott. Weigel bestreitet, daß beim Abendmahl das Brot zum Fleisch und der Wein zum Blut Christi wird. Auch unser irdischer Leib wird ja nicht in einen himmlischen verwandelt. Zur unsichtbaren Kirche meint Weigel, man könne nicht sagen: „Die Lutherischen seynd das Reich Christi / oder die Bäpstischen seynd das Reich Christi / oder die Zwinglischen / oder die Schwenchfeldischen seynd das Reich Christi / oder die / oder jene / Nein / also kan man mit Warheit nicht sagen / wiewol ein jeder Hauffe vermeynt das Reich Christi zu seyn / . . . Christi Reich ist nicht Zeigefinger in einem gewissen Volcke oder Hauffen / sondern unter allen Völckern / Heyden / Sprachen / hat Christus die seinen / sie seynd zerstrewet hin und her / und die Weitzenkörnlein / müssen unter der Sprew hereiner fahren. Darumb gedencket meine lieben Brüder / daß jhr nicht vornehmet Ketzer zutödten / die Kirche zu fegen / Den umbs Glaubens willen sol niemandt getödtet werden / es thun es auch die Gläubigen nicht / daß sie jemandes verketzern und tödten/umb des Glaubens willen."250 Weigel stellt fest: „Wolte man die Ketzer tödten / so müste man die gantze Welt tödten / und den aller geringsten Theil leben lassen."251 Das Reich Gottes können wir nicht durch unser Verdienst erwerben oder ererben. Es wird uns aus Gnade geschenkt, und dazu bedarf es unseres Glaubens. Von hier ist es nur ein Schritt zu den rein pantheistischen Äußerungen, wie sie sich z. B. in der „Postill" u. a. in folgenden Worten finden: „Gottes Wort ist nicht ein Same ohne den Menschen / und der Mensche ist nicht ein Same ohne Gott / sondern beyde miteinander / keines ohne das ander." 252 In der „Hand2/ 9

' F. Engels, Einleitung [Zur englischen Ausgabe (1892) der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 300. 250 y Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium am Fünfften Sontage nach Epiphaniae, S. 140. — Vgl. u. a. auch Evangelium am Vierten Sontage nach Trinitatis, S. 150ff.; S. Franck, Paradoxa, hg. u. eingel. von S. Wollgast, a. a. O., S. 124 bis 128, S. 366ff.; V. Weigel, Predigt am 5. Sonntag nach Epiphaniae, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., Evangelium am ersten Sontage nach Epiphaniae, S. 108, S. 245; vgl. S. 247f.: es „soll sich kein Mentsch unnerstehen, die Ketzer zu tödten oder außzureuten — / — man möchte sonst den Waitzen ergreiffen vor das Unkraut, wie dem allemal geschehen von den hitzigen Ketzermeistern, daß sie die fromen Lehrer für die falschen haben v o m Brott gerichtet". Weigel sagt weiter, viele „Ketzermeister" seien selbst oft die größten Ketzer, und bezieht sich zur Begründung auf S. Francks „Geschychtbibel". Vgl. ebenda, S. 250—251. 251 V. Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium am fünfften Sontage nach Epiphaniae, S. 140-141. 252 Ebenda, Evangelium am Sontage Sexagesimae, S. 164.

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ANSCHAUUNGEN

schriftlichen Predigtensammlung" 253 wendet sich auch Weigel (in Bildern) gegen die Lehre, durch die Erbsünde habe der Mensch „einen Groschen" verloren (Luk. 15, 8—10; Matth. 25, 14ff.). Gemeint ist, wie Weigel das Gleichnis erläutert: „Gott gibet einem ieden mit dem spiraculo vitae durch das Einplasen seines Geistes den Groschen." 2 5 4 Weigel lehnt Luthers Ubiquitätslehre, die Lehre von Taufe und Abendmahl und nun auch die Lehre vom Sündenfall a b ! Denn nach Weigel ist alles dem Wesen nach gut, erst durch die freiwillige Abkehr vom Guten, d. h. von Gott^ ist das Böse entstanden. Auch dieser Gedanke wird vom Geist des „mystischen Pantheismus" gespeist. Generell geht Weigels Gottesbegriff von dem Gegensatz von Einheit und Vielheit, Endlichem und Unendlichem aus. Gott ist das Prinzip aller Dinge, und er ist alles (nicht dies oder das oder eine bestimmte Gestalt). Aus Gott, der in allem ist, entsteht auch alles. Gott ist aller Kreaturen Wesen. E s ist unendlich, der Mensch endlich. Gott ist vollkommen, der Mensch Stückwerk. Weil Gott in allen Kreaturen ist, ist die Kreatur auch Gott. Der Mensch besitzt Intelligenz (Denken) und freien Willen. Diese befähigen ihn, zu Gott zurückzukehren, mit ihm eins zu werden. Treffend resümiert Opel: „Wenn nun Gott selbst die Seligkeit ist, und die Menschen durch die Annahme der Seligkeit selig werden, so werden sie damit zugleich göttlich. Durch die Annahme der Göttlichkeit wird Einer Gott: jeder Selige ist Gott." 255 F ü r die Humanisten war Gottwerdung ein Ziel des Menschen. Gedanken Augustins aufnehmend und den Neuplatonismus eigentümlich nutzend, ist etwa für M. Ficino Gott innerlichst bewegende Macht, leuchtende und Wärme schenkende Liebe. Diese Auffassung wird bei den „Linken" der Reformation, bei V. Weigel, J . Böhme, dann u. a. bei A. Silesius weitergeführt. Dabei schließt das bei Weigel die — philosophisch-erkenntnistheoretische — Frage ein, ob und wie Gott erkannt werden kann. Die Transzendenz Gottes tritt gegenüber der Immanenz zurück. Immer wieder geht Weigel auf die Toleranzidee ein: „Vergebens und umb sonst ists / das eine Sect die ander verfolget und verketzert umb der Sacramenten willen / E s stehet keinen Christen zu / kein Christ thut es auch nicht / nur die falschen setzen sich zu Ketzermeistern und Richtern / vber jhren Nechsten." 2 5 6 Weiter verweist der dem „mystischen Pantheismus" anhängende „Ketzer" von Zschopau auf „ein Büchlein geschrieben vor etzlichen Jahren / heisset Vom Bawm des Wissens deß guten und bösen / lehret uns auch recht erkennen 253 V. Weigel, Predigt am Sonntag Septuagesimae, in: V. Weigel, H P II, a. a. O., S. 284 —285 wird auf Taulers Begriff der Gelassenheit verwiesen. Vgl. zu diesem Problemkreis: V. Weigel, KOP, T. 1, a . a . O . , S. 153; V. Weigel, Predigt am ersten Adventsontage, in: V. Weigel, HP, I, a . a . O . , S. 29; V. Weigel, Predigt am 3. Adventsontag, in: ebenda, S. 53—65. 254 Ebenda, S. 286. — Das ist, wie W. Zeller bemerkt, gegen die Lehre vom Sündenfall gerichtet, wiesie die Apologie der Augsburgischen Konfession, Art. 2, § 23 (Bekenntnisschriften, Bd. 1, a. a. O., S. 151, 1 9 - 2 5 ) , darstellt. 255 J . O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 129. 256 v . Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium am Sontage Quinquagesimae, S. 171. — E s ließen sich fast zu jeder hier angeführten Äußerung Parallelstellen aus S. Francks „ P a r a d o x a " anführen. Vgl. S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 1 1 3 - 1 9 0 .

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CHRISTENTUM

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den alten und newen Menschen / was Adam unnd Christus sey in uns / wird auch verworffen von den Pseudotheologen". 257 Das ist m. E . eine unmittelbare Anspielung auf Franck und seine Lehre. 1561 ist die lateinische Übersetzung von Francks „Baum des Wissens" in Mülhausen (Elsaß) erschienen. Meint Weigel diese Ausgabe „vor etzlichen Jahren"? In seinem Kommentar zur „Theologia deutsch" verweist er mehrfach auf Francks Arbeit über den „Baum des Wissens". 258 Wenn Weigel gerade Franck in seinem Predigttext zum Studium empfiehlt, so spricht das für die hohe Wertschätzung, welche dieser bei Weigel genießt, nicht für eine bloße flüchtige Bekanntschaft mit Franckschen Schriften. Auch ist die indirekte Erwähnung Francks in der „Kirchen- Oder Hauspostill" keine „Eintagsfliege". Alles Reden und Schreiben der Theologen ist nach Weigel nicht Gottes Wort, lediglich ein Gezänk um Worte. Es sei völlig verfehlt, daß der junge Priester beim Amtsantritt auf eine bestimmte Lehre vereidigt werde. Die Weltgelehrten schätzen die Bibel geringer als die Bücher der Menschen — ein Beweis, daß Christus von ihnen gegangen ist. Christus ist auch nicht bei unnützen Disputationen „von Beicht gehe / von der nohttauffe / von der Erbsünde / vom freyen willen / und dergleichen / einer vertheidigt das / der ander ein anders / giessen einer den andern an bey der Weltlichen Obrigkeit / das sie vertrieben / verjagt incarcerirt werden / und in Leibes Gefahr kommen /umb eines elenden Pfaffen Artickels willen". 2 5 9 Die Weltgelehrten verkünden eine Maulfrömmigkeit. Die Pfaffen bezeugen schon durch ihr Leben die Verachtung des inneren Wortes und des inneren Christus. Für Weigel sind drei Dinge gemeinsam erforderlich, um dem Satan — der in uns ist — zu widerstehen: 1. ein nüchternes mäßiges Leben; 2. ein starkes Gebet; 3. der wahre Glaube. Letzteres kann nur der innere Glaube des inneren Christen sein. Das nüchterne Leben, die Mäßigkeit betont Weigel immer wieder. Das Böse in uns wirkt der Satan, genau so wie Christus in uns die guten Werke wirkt, wenn wir ihn annehmen. Weigel sieht die Ursache dafür, daß in seiner Zeit das Predigen nichts oder nur mehr wenig fruchtet, einmal bei den Predigern, die auf den „Hohen Schulen" einen falschen, amputierten, weltlichen Christenglauben annehmen mußten und gelehrt bekamen. Versuche aber einer, aus der Bibel allein zu predigen, „so heissen sie jhn einen Abtrünnigen von der Augspurgischen Confession / einen Schwermer / einen Schwenckfelder . . ," 2 C 0 Die Schuld trifft auch aus 2« Ebenda, S. 176. 258 Vgl, V. Weigel, Kurze Einleitung zur Theologia teutsch, a. a. O., S. 9 4 - 9 5 , S. 110 bis 112. — In seiner H P , a. a. O. (Predigt am Sontag Invocavit, 1. Predigt, S. 329), schreibt Weigel: „Waß du hie nit findest und verstehest, suche an andern Enden und sonderlich im Büchlein über den Genesin von dem B a u m des Paradeiß usw.", was Zeller auf Francks „von dem Baum des Wissens guts und böses," bezieht. 259 v . Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium am Sontage Reminiscere, S. 193f. — Vgl. V. Weigel, Dialog über das Christentum, in: V. Weigel, Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 535 ff. Hier faßt Weigel in 4 Punkten die Irrtümer der Geistlichen seiner Zeit zusammen. 2 6 0 Ebenda, Evangelium am Sontage Iudica, S. 222. — Wer nicht „durch Ceremonien, Tauff, Nachtmal, Beicht, Absolution, Predigthören selig werden unnd vor Gott

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IX.2. WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

den unterschiedlichsten Gründen die Zuhörer. Die Dritten, die an der Fruchtlosigkeit der Predigten Schuld tragen, sind wiederum die Schriftgelehrten, die Weltgelehrten in den „Hohen Schulen". In seinem Haß auf falsche Gelehrsamkeit kommt Weigel S. Franck durchaus nahe. Wie die alten Juden aus dem Tempel ein Wechselhaus machten, so sei es auch im 16. Jh.: „daß alle großen Mawrkirchen als Rom / Aach, Eystädt / S. Jacob / und andere mehr unbenäntliche Ort / nichts anders seyn als Mördergruben / da die Seelen ermordet werden / durch falsche Lehre . . ." 261 Weigel stützt seine Version von der Auferstehung des Menschen mit dem Laufe der Natur. Ein Korn wird in den Boden geworfen, stirbt und fault. Daraus entsteht die Ähre. Ähnlich sei das Sterben des Menschen nur eine Veränderung des Seins, denn wir Menschen sind aus göttlichen und irdischen, sterblichen und unsterblichen Teilen zusammengesetzt. Ein allerdings radikaleres Parallelbeispiel gibt bekanntlich G. Bruno in seiner Arbeit „Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen". Nach der Auferstehung bleibt nach Weigel nur der innere Mensch, der äußere werde vom Feuer verzehrt. Dabei spricht Weigel von zweierlei Auferstehung des inneren Menschen. „Die erste Aufferstehung verstehe ich / daß sie anfahe in diesem Leben / als da man in Christo wandele und in Christo entschlaffe . . ."- ñl Auferstehung wird also als ein Prozeß der Vergottung, des Werdens des inneren Menschen schon im irdischen Leben gefaßt. Die deificatio wird bei Weigel wesentlich im Sinne Meister Eckharts gefaßt, anders als in der Version des Bernhard von Clairvaux. Kann bei Eckhart der Mensch Gott werden, so ist nach Bernhard deificatio eine Schau Gottes, die im Diesseits nur in Augenblicken der Ekstase, erst im Jenseits ständig sein wird. Der Mensch hat es nach Weigel in seiner Hand, schon in seinem irdischen Leben im Stande der Auferstehung zu sein. Die zweite Auferstehung mit Christi Wiederkehr befreit dann den Menschen, d. h. seine unvergängliche Seele aus ihrem Grab, in das sie mit dem vergänglichen Körper beim physischen Tode gelegt wurde. In seinen Predigten betont Weigel: „Darumb mögen die Schäfflein nicht zerstrewet werden durch die Wölffe / in mancherley Rotten / Parteyen / Secten / sondern wie ein Hirte ist / als so bleibet auch eine Kirche / eine Heylige / Catholische allgemeine Versammlung nicht hie oder da leiblich in einem gewissen Lande / . . . sondern im Glauben und Geiste." 263 Hingegen gibt es nach Weigel gerecht" sein will, von dem sage die öffentliche Meinung: „Diser ist ein neuer Ketzer, ein Enthusiast, ein Schwenckfelder, ein Verführer, ein Samariter. Er hat den Teuffei, macht die Leuth irr im Glauben, hinweg mit ihm! Er lessets nicht pleiben bei unsern Vorfahrn, er pringet neue Dinge auf die Bahne." (V. Weigel, Predigt am Sonntag Iudica, in: V. Weigel, H P , I I , a. a. O., S. 413). 261 Ebenda, Evangelium am Palm Sontage, S. 239. — St. Jakob meint die berühmte Wallfahrtskirche in Santiago de Compostella. Vgl. L. Dietze, Das Pilgerwesen und die Wallfahrtsorte des Mittelalters, Phil. Diss., Jena 1957. 262 y Weigel, K O P , T. 2, a. a. O., Sommertheil, oder Außlegung der Evangelien von Ostern bis auffs Advent. Evangelium am Oster Tage, S. 12. 263 Ebenda, Evangelium am Sontage Misericordias Domini, S. 41. — Vgl. T. 2, Evangelium am Zwey und zwantzigsten Sontage nach Trinitatis, S. 329: „So ist nun die heilige Catholische Kirche weder zu Rom noch zu Witteberg / noch zu Metha / sondern durch die gantze Welt / unter allen Völckern / Heyden und Sprachen /

SOZIALE

ORIENTIERUNG

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viele falsche Hirten, die aus dem Evangelium einen Handel machen, um des Lohnes willen predigen. Alle können Jesus erkennen, durchaus auch die einfachen Menschen. Ja, gerade die ungelehrten „Schäfflein", die nichtstudierten Gläubigen, vermögen Christus zu „schmecken". In Weigels „Postill" — wie in seinem Werk überhaupt — findet sich eine Reihe von Ausdrücken, die auch immer wieder von Franck angeführt werden. Damit ist nicht gesagt, daß Franck diese Begriffe prägt. Sie sind Gedankengut der Mystik, des Neuplatonismus, des Paracelsus, des „linken Flügels" der Reformation. Um nur einige zu nennen: „Gelassenheit", „Ergebenheit", „Licht der Natur", „Christum anziehen", „Gott ist unparteilich", „das innere Wort", „zechen auf Christi Kreide", „ausmustern vom Reiche Gottes" usw. Es wäre lohnend, würde man den Ausgang Weigels von Franck und von der Mystik philologisch nachweisen. 264 Gleich Franck stellt Weigel fest: „Gott hat keinen Nahmen er ist selbst der Nähme." 265 Gott würde gern in uns als in seinem Reich regieren, wenn wir es nur zuließen. Dementsprechend sind die zehn Gebote dem inneren Menschen leicht zu halten, dem äußeren Weltmenschen hingegen zu halten unmöglich. Fast wörtlich stimmt mit Franck überein: „Gott gibt uns zuvor was wir bitten / und kömpt uns zuvor / darnach heist Er uns darumb bitten / darnach heist Er uns dasselbe suchen / dann er hat uns hingelegt und heist uns anklopffen / Gott gebeut uns die Liebe / wir sollen jhn lieben / und unsern Nehesten / und eben das Er gebeut / das ist Er selbst / Gott ist die Liebe / unnd wil auch selbst die Liebe in uns wircken / so wir nur könten schweigen /feyren und hinhalten."26(5 Ebenso bleiben die Seligen und Verdammten nach dem Tode als Geister Teil dieser Wrelt: „Der Orth der Qual oder Finsterniß / und der Orth deß Trostes und deß Paradeises / darauß weiter folget /' daß unter dem Papst / unter dem Luther / unter dem Mahomet / die rechte Catholische Kirche gefunden wird." Vgl. ebenso Evangelium am Tage Michaelis deß Ertzengels, in: V. Weigel, KOP, T. 3, Homiliae Oder Kurtze Außlegung der Evangelien von Fest: Und der heiligen Feyer Tagen, S. 94: „ich wolte lieber in dem Reich deß Teuffels seyn / als in der SteinKirchen bey den Verdampfen / also Gefangen / gebunden / mit dem schweren Joch jhres erdichteten Gottesdiensts . . ." 264 Nach H. Weigelt (Sebastian Franck und die lutherische Reformation, Gütersloh 1972, S. 63—65) findet S. Franck bei Weigel an folgenden Stellen Erwähnung: mit Titelangabe verweist er in seiner H P (vgl. V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 248) auf Francks „Geschychtbibel"; im „Ort der Welt" auf dessen „Weltbuch" (vgl. V. Weigel, Ausgewählte Werke, hg. von S. Wollgast, a . a . O . , S. 277, S. 278). Auch hat Weigel gelegentlich Francks Schriften ohne Quellenanzeige zitiert, so das „Encomion" in seinem „Gnothiseauton" (vgl. V. Weigel, Gnothi Seauton,Newenstatt 1615, S.68—69). Die geringe Zahl von wörtlichen Erwähnungen Francks steht einer Vielzahl von gedanklichen Übereinstimmungen gegenüber (vgl. die Anmerkungen in: V. Weigel, Ausgewählte Werke, hg. von S. Wollgast, a. a. O., S. 2 0 8 - 2 0 9 , 2 5 7 - 2 5 9 , 351-362, 4 4 3 - 4 5 0 , 578-588). Weigelt schreibt auch die „Philosophia Theologica" Weigel zu und verweist darauf, daß dort die „Guldin Arch" zitiert wird (Frankfurt/M. 1718, S. 205). Doch gehört dieses Werk m. E . zu den Pseudoweigeliana. Gleichwohl ist auch damit das Weiterwirken S. Francks im 17. J h . bezeugt. 265 v . Weigel, KOP, Evangelium am Sontage Vocem Iucunditatis, S. 68. — Vgl. V. Weigel, Predigt am 1. Sonntag nach Epiphaniae, in: HP, I, a. a. O., S. 192. 266 v . Weigel, KOP, T. 2, Evangelium am Pfingsttage, S. 87. - Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 28: „Gott gebietet die Liebe, er ist die Liebe . . . E r gebietet das Gute, er ist gut. Er gebietet die Wahrheit, Treue, Gnade und Barmherzigkeit. Er ist dieses alles selbst, darum bietet Gott sich selbst allen vernünftigen Kreaturen

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I X . 2 . WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

seyndbeyde jnnerhalb der Welt / und mit eusserm Firmament beschlossen." 267 Weigel unterscheidet wie S. Franck zwischen „impii" und „peccatores". 268 Im Sinne Weigels ist letztlich auch keine christliche Obrigkeit möglich. Alle unterliegen dem Gesetz Gottes: „Also muß Christliche Obrigkeit / eben so wol unter dem Glauben bleiben/ als jhreUnterthanen (wiewol Obrigkeit haben nicht was new Testamentisch ist) die ungläubige Obrigkeit ist ausser der Kirchen / die richtet / tödtet / hencket / köpffet / verjaget." 209 Doch gibt es eine innere und eine äußere Gerechtigkeit, die dem inneren und äußeren Menschen entsprechen. Die äußere Gerechtigkeit stammt aus dem Buchstaben, aus dem Gesetz Moses, die innere Gerechtigkeit aus dem Neuen Testament, und hier nicht aus der Hoffnung auf Belohnung oder Furcht vor Strafe, sondern aus freiwilliger Liebe.270 Eine weitere direkte Beziehung auf Franck ist bei Weigel in folgender Stelle zu sehen: „Das dritte ist jhre [der Schriftgelehrten — S. W.] grosse Hoffart / daß sie sich oben an setzen / ja an Gottes statt sitzen / darumb sollen sie geniedriget werden / mit dem Lucifer biß in den Abgrund der Hellen / dan da müssen sie mit ewiger Scham von jrem Stul gestürtzet werden / darauß wir einfeltigen vornehmlich lernen sollen / daß alle Gleubigen in der Freyheit des Geistes wandeln / und lassen sich nicht gefangen nemen / durch die dinge so uff den eussern Menschen geordnet sind / machen jhnen kein Gewissen / dann der Geist regieret sie / und nicht das Gesetze / sie wissen wol daß die Noth kein Gebot habe / und daß die Liebe über alle Gesetze sey / unnd daß sie durch das nicht halten des Gesetzes / eben das Gesetze halten / und daß sie durch die Ubertrettung des Gesetzes — halten das Gesetze / wie das Paradoxum, . . . lautet / Fide legem & abrogamus & stabilimus, durch den Glauben heben wir beydes das Gesetze auff und halten es durch den Glauben / wie wir an Christo unserm Meister sehen / daß er durch das nicht halten des Gesetzes / eben dem Gesetze gnug thue." 271 Auch Franck bezeichnet die Paradoxa ja als Wunderreden. 272 an und trägt sich selbst jedermann feil und begehrt nichts, als sich selber uns zu geben, sich mit uns zu vereinigen, in uns auszugießen und uns zu lieben." 267 Ebenda, T. 2, Evangelium am ersten Sontage nach Trinitatis, S. 125—126. — Zur Todesproblematik vgl.: F. van Inghen, Vanitas und memento mori in der deutschen Barocklyrik, Groningen 1966, S. 1—15; W. Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik, Halle/S. 1928; Ph. Aries, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München — Wien 1976. 268 Ebenda, T. 2, Evangelium am Dritten Sontage nach Trinitatis, S. 137—138. — Vgl. S. Franck, Paradoxa, S. 121: „Es ist ein großer Unterschied zwischen einem Sünder, den die Latini peccatorem, und einem Gottlosen, den sie impium nennen, welchen [Unterschied — S. W.] niemand merken will, und der doch viel Verstand der Schrift bringt." 269 Ebenda, T. 2, Evangelium am Vierdten Sontage nach Trinitatis, S. 155. 270 Vgl. ebenda, T. 2, Evangelium am Sechsten Sontage nach Trinitatis, S. 170—175. 271 Ebenda, T. 2, Evangelium am Siebenzehenden Sontage nach Trinitatis, S. 270. — Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 346 (Par. 218): „Fide legem et abrogamus et stabilimus." Weigel hat hier Franck „ausgeschrieben". Franck schreibt: „Mit dem Glauben heben wir das Gesetz auf und erfüllen oder befestigen es . . . Also, daß das Gesetz niemand hält, als der äußerlich davon befreit, frei ist . . . Die aber das Gesetz nicht halten, sind noch nicht frei vom Gesetz, sondern Mosis Jünger unter dem Gesetz. Die aber frei vom Gesetz sind und weit über dem Gesetz leben, schweben und in Freiheit des Geistes herrschen, diese allein halten das Gesetz." (Ebenda, S. 346—348). 272 S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 4: „Nun habe ich diese meine Philosophie .Paradoxa'

A U F DEM „ U N K E N F L Ü G E L " D E R

REFORMATION

557

In der gleichen Predigt sagt YVeigel weiter: „Darumb dieweil sie der Liebe mangelt en / die da ist ein anfang deß Geistes / so hielten sie den Sabbath nicht / durch jhr halten / und Christus dargegen durch sein nicht halten deß Sabbaths / hielte den Sabbath nach Art deß newen Testaments / da die Freyheit deß Geistes herrschet / da man erkennet daß die Liebe mehr sey denn alle eusserliche Gesetze / die noth hat kein Gebot / necessitas caret lege, wie das Paradoxum oder Wunderrede lautet". 273 Bei Franck heißt das Paradoxon 178: „Necessitas caret feriis — die Not hat kein Gesetz." Sein Paradoxon 179 trägt den Titel: „Die Liebe ist allein die unvermeidliche, gesetzlose, entschuldigende Not."27'* In der Problemstellung und -lösung stimmen Franck und Weigel überein. An anderer Stelle führt Weigel an: „Mundus non credit, quod credit, die Welt glaubet und weiß doch in der Wahrheit nicht was sie glaubet." Francks Paradoxon 18 lautet: „Mundus hoc ipsum, quod credit, non credit — die Welt glaubt auch das nicht, was sie glaubt." 275 Weigels enge inhaltliche Verwandtschaft mit S. Franck, aber auch mit anderen Vertretern des „linken Flügels" der Reformation, nicht zuletzt mit dem religionsphilosophischen Werk des Paracelsus, dürfte deutlich geworden sein. Auf S. Franck wird häufiger verwiesen, weil ich ihn an anderer Stelle ausführlich untersucht habe. Dieser Bezug will weder eine ausschließliche noch eine lineare Beziehung zwischen Franck und Weigel konstatieren. Viele dieser Auffassungen fußen auf Luther. Franck wie Weigel verstehen Luther progressiv, argumentieren mit ihm gegen die lutherische Orthodoxie ihrer Zeit. Immer wieder warnt Weigel vor den „falschen Propheten", den Weltweisen und auch vor den ordinierten Pastoren der Kirchen. Immer wieder mahnt er zu Toleranz und spricht sich gegen den Krieg aus. Weigel beruft sich sparsamer auf Bibelstellen als Franck. Er macht auch fast ausschließlich das Neue Testament zum Gegenstand seiner Predigten — das ganze Kirchenjahr hindurch. Bezüge auf das Alte Testament sind spärlich. Hinweise auf Sprichwörter finden sich selten, ebensowenig volkstümliche Redewendungen. Auch ausdrückliche Berufungen auf Gesinnungsgenossen und Vorbilder sind in Weigels „Hauspostill" und in der „Handschriftlichen Predigtensammlung" gering. Er empfiehlt „das Schreiben von dem Antichristo deß hochbegabten betitelt, und Paradoxon als eine ,Wunderrede' oder ein .Wundervvort' verdeutscht . . ." — Vgl. V. Weigel, KOP, T. 1, Evangelium am Ersten Sontage nach Epiphaniae, S. 101. Ähnlich S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 348—358. Vgl. auch das Titelblatt der „Paradoxa", ebenda, S. 1. Zum Verhältnis von S. Franck und V. Weigel vgl. zusammenfassend: S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 267—286. Einige der dort von mir geäußerten Auffassungen werden hier präzisiert. W. Zeller betont in jüngerer Zeit (Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel, in: Epochen der Naturmystik, a. a. O., S. 105—124) den Einfluß Francks auf Weigel stärker als in früheren Arbeiten. 273 v . Weigel, KOP, T. 2, a. a. O., Evangelium am Siebenzehenden Sontage nach Trinitatis, S. 274-275. ™ Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 302-303. 275 Y, Weigel, KOP, T. 3, a. a. O., Homiliae Oder Kurtze Außlegung der Evangelien von Fest: Und der Heiligen Feyer Tagen. Evangelium Am Tage Thomae des Apostels, S. 18. — Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 48.

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IX.2. WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

Theophrasti paracelsi" 27(i. Relativ oft wird Tauler erwähnt, 277 einige Male auch auf Pseudo-Dionysius Areopagita verwiesen.278 Wenn Weigel schon Autoren, Personen oder Schriften anführt, dann meist zustimmend. Das gilt auch für Piaton 2 7 9 und Hermes Trismegistos.280 Simon Magus 281 wird allerdings negativ erwähnt. Wenn wir noch hinzufügen, daß auch Vergil und Cicero bei Weigel vorkommen, so können wir mit Recht sagen: Weigels Quellen ähneln auch hier V. Weigel, KOP, T. 1, a . a . O . , Evangelium am Sontage Reminiscere, S. 195. — Nach Goldammer sind damit wohl Paracelsus' „Sermones de Antichristo" gemeint (K. Goldammer, Friedensidee und Toleranzgedanke bei Paracelsus und den Spiritualisten. T. 2: Franck und Weigel, in: Archiv f. Reformationsgeschichte, Gütersloh 47 [1956] S. 203). Vgl. V. Weigel, KOP, T. 2, a. a. O., Evangelium am Fünffzehenden Sontage nach Trinitatis, S. 257. 277 Vgl. u. a. V. Weigel, KOP, T. 2, Evangelium am Pfingsttage, S. 8 6 - 8 7 ; Evangelium am Pfingstdienstage, S. 104; Evangelium am Zehenden Sontage nach Trinitatis, S. 210; Evangelium am Fünffzehenden Sontage nach Trinitatis, S. 256. Häufig ist die Berufung auf Tauler auch im „Gnothi Seauton", vgl. V. Weigel, Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 205, 236, 237, 240, 252, 253. Zur Nutzung Taulers, Eckharts und der „Theologia deutsch" in der „HP" vgl. V. Weigel, HP, I , Predigt am Tag des Evangelisten Johannes, a. a. O., S. 111 (vgl. J . Tauler, Predigten, hg. v. F. Vetter, Berlin 1910, Predigt 40, S. 162, 2 8 - 2 9 ) ; V. Weigel, HP, I, Predigt am Sontag Sexagesimae, S. 301 (J. Tauler, ebenda, Predigt 4, S. 21, 13—17. Das hier gebrauchte Bild findet sich bei Weigel u. a. auch in seinem „Güldenen Griff", Kap. 14); V. Weigel, HP, II, Predigt am Tage der Verkündigung Mariae, a. a. O., S. 434 (J. Tauler, Predigten, a. a. O., Predigt 1, S. 11, 10); V. Weigel, HP, I, Predigt am 1. Adventsonntag, a. a. O., S. 34 (vgl. Meister Eckhart, Predigten, Bd. 3, hg. und übers, von J . Q u i n t , Stuttgart 1976, Predigt 73, S. 3 7 - 3 8 ; vgl. J . Tauler, Predigten, a. a. O., Predigt 11, S. 54, 2 4 - 2 8 ) . V. Weigel, HP, I, Predigt am 1. Sonntag nach Epiphanias, a. a. O., S. 191 (vgl. Meister Eckhart, Predigten, in: Meister Eckhart, [Predigten, Tractate], hg. von F.Pfeiffer, 4. Aufl., Göttingen 1924, Predigt 3, S. 16, 2 3 - 2 4 ) ; V. Weigel, HP, I, Predigt am 3. Adventsonntag, a. a. O., S. 64 (vgl. Theologia deutsch, hg. von H. Mandel, a. a. O., Kap. 13, S. 31, Kap. 14, S. 33; Der Frankforter. „Eyn Deutsch Theologia", hg. von W. Uhl, Bonn 1912, Kap. 15, S. 19, Kap. 16, S. 20); V. Weigel, HP, I, Predigt am 5. Sonntag nach Epiphanias, a. a. O., S. 246 (vgl. Theologia deutsch, a. a. O., Kap. 47, S. 90, 2 3 - 2 6 ; Der Frankforter, a. a. O., Kap. 49, S. 55, 1 7 - 1 9 ) . 278 Vgl. V. Weigel, KOP, T. 2, a. a. O., Evangelium am Pfingstdienstage, S. 104; ebenda, Evangelium am Zehenden Sontage nach Trinitatis, S. 210. 279 Vgl. ebenda, Evangelium am Sontage Exaudi, S. 78. 280 Vgl. ebenda, Evangelium am Sontage Misericordias Domini, S. 39; ebenda, Evangelium am Pfingstmontage, S. 92; ebenda, Evangelium am Sechszehenden Sontage nach Trinitatis, S. 263; ebenda, T. 3, Evangelium am Tage Johannis Baptistae, S. 77. — In seiner H P bezieht sich Weigel bei Darlegung des Unterschieds zwischen innerem und äußerem Menschen auf Paracelsus, auf S. Francks Ketzerwertung in der „Geschycht-Bibel", die er teilt und den er wörtlich zitiert, und er benutzt im Müntzerschen Sinne dessen Begriff „honigsüsser Christus" (V. Weigel, Eine Predigt vom innern und äußern Menschen, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 465; vgl. Theophrastus Paracelsus, Außlegung oder Bericht über die Wort: Sursum Corda, das ist: Wie man sein Hertz alle zeit zu Gott erheben soll, Frankfurt/M. 1619; V. Weigel, Predigt am 5. Sonntag nach Epiphanias, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 248, S. 255; V. Weigel, Predigt am Sonntag Oculi, in: ebenda, S. 379; Predigt am Sonntag Judica, in: ebenda, S. 416). 2 8 1 Vgl. Evangelium am Sontage Invocavit, in: V. Weigel, KOP, T. 1, a . a . O . , S. 188. — Zu Simon Magus vgl. u. a. K. Rudolph, Die Gnosis, a. a. O., S. 312 bis 317.

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ZWEIFACHER LEIB DER

RENATI

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S. Franck und dessen gedanklichem Hinterland. Es wäre aber einseitig, wollte man sie auf Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen mit S. Franck reduzieren. Hinzu kommen u. a. die neueren naturphilosophischen bzw. -wissenschaftlichen Ergebnisse. Trotz seiner Vorliebe für Astrologie will Weigel den „Jüngsten Tag" nicht bestimmen. Eschatologische Gedankengänge liegen ihm fern.282 In dieser Hinsicht liegen Berührungen zu Kepler vor, der 1620 eine Schrift gegen die Ausrechnung des „Jüngsten Tages", gegen vorgebliche Rosenkreuzer verfaßte (gegen Paul Felgenhauer u. a. — vgl. Kap. IV).283 Allerdings sieht Weigel Anzeichen für das Herannahen des „Weltgerichtes": 1. Verwüstung der Herzen und Länder; 2. Zeichen am Himmel, die nicht aus den Ptolemäischen Tafeln ablesbar sind (die Alfonsinischen und Prutenischen Tafeln erwähnt Weigel nicht); 3. unmäßiges Fressen und Saufen, worüber die Sorge um das sittliche Heil vergessen wird; 4. Krieg und Hader der weltlichen Häupter, vornehmlich Glaubenskrieg.28/* Die wahrhaft Gläubigen sehen der Endzeit aber gelassen entgegen, weil sie ihren Schatz im Herzen haben, ihren Glauben nicht mit Krieg und Streit verteidigen. Weigel spricht vom „Fleische und Blute Christi / welches nicht von der Erden ist / sondern vom Himmel / welches nicht auß Adam ist / sondern auß dem H. Geiste / in der Jungfrawen . . ,".285 Dieser Gedanke des himmlischen Fleisches Jesu ist bei Weigel ein entscheidender theologisch-philosophischer Grundsatz. Er schreibt: „viel meynen / Gott habe menschliches Fleisch an sich genommen / und als das Adamische Fleisch ernewret / und mit sich im Himmel geführt / Derwegen müssen wir auch mit dem Adamischen Fleische unnd Blute in Himmel kommen / das doch ist die alte verfluchte Creatur / die deß Todes bleibt / aber Nein / es ist Christi Fleisch und Blut nicht von der Erden / sondern vom Himmel / Er ist nicht von Manssamen empfangen / sondern vom heyligen Geiste / und ist der Schöpffer der newen Creatur." 286 An anderer Stelle heißt es: Christus „ist nicht von unserm Fleische noch Gebeine auß der Erden / Dann so er Adams Fleisch und Blut / unnd Knochen auß der Erden an sich genommen hette / so were er auß unserm Fleische / auß unserm Gebeine / unnd hette nicht sich selber für seinen eigenen Leib geben können / Er were nicht ein Heylandt seines Leibes gewesen / Er hette nicht seine Gemeine mit Adams Fleische unnd Blute erlösen können." 287 Nach Weigel ist es vermessen 282 v . Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium am andern Sontage deß Advents, S. 12; vgl. V. Weigel, Predigten am 2. Adventsonntag, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 45, S. 47; Predigt am Tage Epiphaniae, in: ebenda, S. 162; vgl. W. Zeller, Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel, a. a. O., S. 111—112. 283 Vgl. j . Kepler, Kanones Pueriles, in: J. Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 5, a. a. O., S. 371-394. 284 v . Weigel, KOP, T. 1, Evangelium am andern Sontage Deß Advents, S. 1 2 - 1 3 ; — Vgl. dazu als Quelle Matth. 24. Zum Problem der Eschatologie vgl. Kap. V und X. 285 v . Weigel, KOP, T. 1, Evangelium am Christ Tage, S. 38. 286 Ebenda, S. 39. 28? Ebenda, Evangelium am andern Sontage Nach Epiphaniae, S. 111. — Vgl. V. Weigel, Predigt am 6. Sonntag nach Epiphanias, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 266 bis 267.

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I X . 2 . WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

zu glauben, Christus habe einen gleichen Körper gehabt wie der Verräter Judas. Christus habe nichts Irdisches an sich, es sei denn angenommene menschliche Affekte und Funktionen. 288 Diese Vorstellung wird auch auf Maria ausgedehnt. Maria ist die himmlische Eva, die den himmlischen Urmenschen Adam — Christus geboren hat. „Also ist Christus nicht allein nach dem Geiste Gottes Sohn / sondern ein natürlicher Sohn Gottes / auch nach dem Fleische." 289 Eva (-Maria) ist die Gemahlin Gottvaters. 290 Die Lehre von der „communicatio idiomatum" in der Konkordienformel lehnt Weigel ab. 291 Ausgehend von der Auffassung eines inneren und äußeren („geschichtlichen") Christus faßt Weigel die Wiedergeburt als Ablegung des adamitischen und Annahme des himmlischen Fleisches und Blutes. Die Seele bleibt unverändert, sie wird nur mit einem neuen Leib bekleidet, der nicht aus Adam, d. h. aus den vier Elementen, sondern aus Christus besteht. So haben die Wiedergeborenen einen zweifachen, einen irdischen und einen himmlischen Leib.292 Durch das himmlische Fleisch werden wir zu neuen Kreaturen umgeschaffen, die den Himmel besitzen. Die Gläubigen können nicht mehr sterben, obschon ihr Leib stirbt. Sie sind natürliche Kinder Gottes. 293 In Abwandlung eines Wortes von F. Engels läßt sich fragen: Und hinter diesen pedantisch-dunklen, mystischen Passagen sollen sich oppositionelle Ideen verbergen? Und doch ist es gerade hier der Fall. Die Bestreitung der menschlichen Natur Christi war seit Entstehen des Christentums Bestandteil häretischer Bewegungen. Ihre Vertreter suchten damit einen Ausweg aus den dem Verstand wenig einleuchtenden Thesen: Gott (Christus) ist von einer Frau (Maria) geboren worden, er hat als Gott wie ein Mensch leiden und schließlich den schimpflichen Kreuzestod erleiden müssen. Schon die Valentinianer — also Gnostiker — fragten, wie Tertullian überliefert: Wenn Christus aus gleichem Fleisch wie wir Menschen war, wie kann da unser Körper verwesen, müßte er nicht ebenfalls auferstehen und in den Himmel erhoben werden? Marcion, der in gewisser Hinsicht auch in die Geschichte der Gnosis gehört, hielt dafür, Christus habe nur einen Scheinleib („Phantasma") gehabt, eine Lichtnatur. 2

88 V. Weigel, KOP, T. 2, Evangelium am Festtage der H. Dreyfaltigkeit, S. 113. — Vgl. ebenda, T. 1, Evangelium an Newen Jahrstage, S. 78. 289 V. Weigel, KOP, T. 2, Evangelium am Achtzehenden Sontage nach Trinitatis, S. 285. — Vgl. V. Weigel, Homiliae Oder Kurtze Außlegung der Evangelien von Fest: Und der Heiligen Feyer Tagen, Evangelium am Tage Johannis Baptistae, ebenda, T. 3, S. 74; ebenda, T. 3, Evangelium am Tage Mariae Heimsuchung, S. 82. 290 Ebenda, KOP, T. 3, Evangelium am Tage Johannis Baptistae, S. 74; ebenda, Evangelium am Tage Mariae Heimsuchung, S. 81. 291 y Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium an vierdten Sontage nach Epiphaniae, S. 136. — Zur Idiomenkommunikation vgl. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV, 2, Zollikon - Zürich 1955, S. 79-91. 292 Ebenda, T. 1, Evangelium am Sontage nach dem Christ Tage, S. 62—63; ebenda, T. 2, Evangelium am Festtage der H. Dreyfaltigkeit, S. 111. — Diese Vorstellung geht wohl auf C. Schwenckfeld zurück. Vgl. C. Schwenkfeld, Letters and treatises: 1524-1527, ed. Ch. D. Hartranft, Leipzig 1911, S. 343 (Corpus Schwenckfeldianorum. Vol. 2): „. . . homo Christianus duplex homo est, ut ita loquar, Internus & Externus . . .". 293 Vgl. y . Weigel, KOP, T. 1, a. a. O., Evangelium am Sontage Laetare, S. 2 1 3 - 2 1 5 ; ebenda. T. 2, Evangelium am Sechszehenden Sontage nach Trinitatis, S. 262 u. a.

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I m 4. Jh. vertritt Apollinaris von Laodicea die These vom himmlischen Fleisch Christi. Immer stärker rücken nun die Konsequenzen in den Mittelpunkt, die sich aus der Menschwerdung Gottes ergeben: „Nicht einfach dadurch, daß Gott Mensch wurde, wird der Mensch erlöst, sondern durch den Wandel Christi auf Erden im himmlischen Fleisch ist die Möglichkeit zur realen Teilhabe an diesem Fleisch d. h. zur Vergottung ( d s t o g i d e r Menschen erschlossen worden . . . Die Teilhabe des Menschen am himmlischen — nicht erst dem erhöhten und verklärten — Fleisch Christi, das er als Speise im Abendmahl in den eigenen Leib überführt, stellt das Sakrament in den Dienst der realen ééaj;ic;. Die Erfüllung der Menschheit mit ewigem Leben . . . beinhaltet das christliche Mysterium der Menschwerdung Gottes." ' m Es ist bezeichnend, daß der Doketismus gerade von den „Linken der Reformation" aufgegriffen wird: von C. Schwenckfeld, M. Hofmann, Menno Simons u. a. Die Ziele, die damit erreicht werden sollten, sind unterschiedlich. Bei Weigel richtet sich diese Argumentation gegen die lutherische Kirche: „Der himmlische Leib tritt bei Weigel an die Stelle, die die Rechtfertigung aus dem Glauben bei Luther hat. Denn die iustitia essentialis wird durch das Empfangen des geistlichen Leibs im Glauben zuwegegebracht. Also nicht Christi Kreuzestod kauft den Menschen von der Sünde los und bewirkt eine iustitia imputativa, sondern der im Glauben angeeignete himmlische Leib Christi, der .Christus in uns' bewirkt die transmutatio realis, vergottet den Menschen, läßt ihn die Sünde verlassen und in die Seligkeit eingehen. Werden die Gläubigen auf diesem Wege realiter Glieder des Christusleibs, dann bedarf es dazu keiner äußeren Anstaltskirche, sondern die Teilhabe am himmlischen Christusleib stiftet eine unsichtbare Verbundenheit aller Gläubigen (.Geistkirche') quer durch alle geschichtlichen Kirchen hindurch." 295 Hans Maier formuliert zutreffend: „Zur Einigung des Endlichen mit dem Unendlichen ist der geschichtliche Christus keine Notwendigkeit. An die Stelle des Christus pro nobis tritt der Christus in nobis. Das spiritualistische Schema von Fleisch und Geist ergibt, auf Christus übertragen: Der geschichtliche Jesus ist Zeuge der Wahrheit, ein Geschenk und Vorbild. Der innere Christus dagegen ist Kraft, Wirkung und Leben. Der historische Jesus hat also nur vorbereitende, der innere Christus allein erlösende Bedeutung. Die versöhnende und erlösende Wirksamkeit des geschichtlichen Jesus wird aus der transpsychologischen Historie durch die Identifizierung des idealen Christus mit dem inneren Wort in das Subjekt projiziert. Damit tritt an die Stelle der objektiven Erlösung die Selbsterlösung, die subjektive Erlösungstheorie."296 Auf diese Problematik kann hier nur verwiesen, ihr jedoch nicht gründlich nachgegangen werden. H.-J. Schoeps, Vom himmlischen Fleisch Christi. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, Tübingen 1951, S. 23. — Gerade die oppositionellen Aspekte der deificatio werden von W. Goerdt im Artikel „Gottwerdung, Vergottung, Vergöttlichung" (Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 3, Basel — Stuttgart 1974, Sp. 842-845) nicht betont. 285 Ebenda, S. 62. 296 H. Maier, Der mystische Spiritualismus Valentin Weigels, Gütersloh 1926, S. 84. — Vgl. auch G. Krodel, Die Anthropologie Valentin Weigels, Phil. Diss., Erlangen 1948.

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Wollgast

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ANSCHAUUNGEN

Johannes Schelhammer, der Erzfeind Valentin Weigels, hat zumindest das Verdienst, alles für die Orthodoxie seiner Zeit Anstößige in Weigels „Postill" gründlich gesammelt zu haben. Zu den Stellen über Besitz und Eigentum heißt es: „Es ist auch wider die Natur / GOttes Gebot und Ordnung / gantz Widertäufferisch / Schwärmerisch / Müntzerisch und Teuffelisch / alles gemein und ohne Eigenthumb haben."21)7 Das aber sei Weigels Standpunkt in seiner ganzen „Postill". Dazu einige Worte der Richtigstellung. Zunächst ist folgendes von Schelhammer angeführte Weigelzitat keineswegs gegen das Privateigentum, sondern gegen einige seiner zeitgenössischen Mißbräuche gerichtet: „Bitten umb das tägliche Brot / heist kein Zinß / Rend / noch Schätzung mache / sondern dermassen also leben / als haben wir morge nichts /. . . wer sich selber versorget mit Geitz / Vorrath / Wucher / Rend / Zinsen / der darff nit sorgen . . . " 2 9 8 Die Formulierung: „bleibet der Mensche behafft mit zeitlichen Gütern biß in den Todt / so ist es jhm unmüglich selig zu werden"290 entspricht Weigels philosophisch-theologischer Grundhaltung. Daraus leitet Weigel keinesfalls gesellschaftliche Forderungen ab, Weigel gibt nur eine individuelle Lösung — noch dazu eine rein theoretische. Schelhammers Angriff bezieht sich auch auf Weigels Schilderung der Hochzeit zu Kana 300 , aus der Schelhammer schließt, Weigel verachte die Reichen, womit er recht haben mag. Gleichheitskommunismus vermag ich aus Weigel nicht herauszulesen, lediglich Liebe zum Armen, zum ausgebeuteten Mann. Selbstgefällig stellt Schelhammer gegen Weigel als Argument: „Reiche und Arme müssen untereinander seyn / der HErr hat sie alle gemacht. Denn wenn wir alle Betler weren / wer wolt uns mit Almosen helffen / und die Liebe beweisen? Wenn wir auch alle Reich weren / wer wolte andern dienen? Wer wolte Arbeiten / Pflügen / Handwerck lernen und treiben? Diese sündige gebrechliche Welt könte nicht lange bestehen." 301 Damit benutzt er die klassische Argumentation der Ausbeuter, und schließlich darf natürlich das Argument nicht fehlen, Gott habe in der Bibel selbst arm und reich eingesetzt. Schelhammer bringt immer wieder Weigel mit den Täufern, Enthusiasten und Th. Müntzer in Verbindung. Weigel bezeichne die Schrift als „einen todten Buchstaben / wie die Widertäuffer und Enthusiasten sie auch also nennen". Die Theologen schelte er auf fast jedem Blatt seiner „Postill" „Buchstäbler", zu welchem Beinamen sich Schelhammer aber voll Stolz bekennt.302 Die Meinung Weigels und anderer, wonach die Bibel allegorisch zu verstehen sei, wäre Ketzerei. Weigel verfälsche oft den Bibeltext und stelle falsche J. Schelhammer, Widerlegung der vermeynten Postill . . . , a. a. O., S. 572. 298 v . Weigel, KOP, T. 2, a. a. O., Evangelium am Fünffzehenden Sontage nach Trinitatis, S. 255. 299 Ebenda, T. 1, Evangelium am Sontage Septuagesimae, S. 153. — Vgl. ebenda, T. 2, Evangelium am andern Sontage Nach Trinitatis, S. 133. Ähnlich: Evangelium am Fünffzehenden Sontage Nach Trinitatis, ebenda, S. 253. 300 Ebenda, T. 1, Evangelium am andern Sontage Nach Epiphaniae, S. 113f. 301 J. Schelhammer, Widerlegung der vermeynten Postill . . . , a. a. O., S. 576. — Abschließend wird in diesem 22. Kap. gesagt, daß Weigels Auffassung vom Gemeineigentum „eitel Ungrund / Trigerey / und Widertäufferisch / grob Eselsgeschrey ist" (ebenda, S. 588). 3»2 Ebenda, S. 73; vgl. u. a. S. 82f. 297

V O R W U R F DES MÜNTZERTUMS

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Bezüge her. Er rühme sich seiner Unparteilichkeit, diese sei aber nicht echt und entspreche noch dazu nicht dem Bibeltext. Wer wie Weigel glaube, den Heiligen Geist erwerbe man nur durch Einsprechen, dem könne „der Satan gar leicht eine schöne Brill / von allerley wolgeferbten Gläsern auffsetzen . . . / wie die Historien von dem Müntzer / Johann von Leyden / und Davide Georgia gnugsam außweisen".303 Weigel bekenne offen, daß hinsichtlich der Lehre vom inneren Wort „die Lehr der Widertäuffer recht sey" 304. Nach der lutherischen Lehre der Zeit ergibt sich aus der äußeren Predigt das innere Zeugnis, also Reue, Buße und Bekehrung ; sie werden ausschließlich durch die Prediger und Gelehrten vermittelt. Beides lehnt Weigel bekanntlich ab. (Damit steht er nicht allein, auch Vertreter der sog. Reformorthodoxie vertreten diese Auffassung.) Schelhammer sucht auch diese Auffassungen Weigels zu widerlegen. Immer wieder ist der orthodoxe Autor über Weigels Auffassung erbost, Gott habe nie einen Gelehrten zum Prediger oder Propheten bestimmt. Schelhammer unterscheidet zwischen wahren und falschen Propheten. Den falschen Propheten falle der Pöbel zu (vgl. Ps. 73, 8—10). „Hat nicht zu unser Zeit Johan Leiden und Thomas Müntzer beyde falsche Propheten / sich grossen Anhang gemacht / und ist des Müntzers Anhang gewesen bey hundert tausent Menschen / die aus Schwaben / Francken / Brißgaw / Elsaß und Thüringen bey Hauffen jhm zugelauffen sind / ohne Zweiffei hat Weigel seinen heimlichen Anhang und Hauffen / die nur auff gelegenheit warten und lauschen / darauff große Herrn wol möchten ein Auge haben / bey Zeiten." 305 Nicht nur werden hier wieder Müntzer und Weigel gleichgestellt — die handfeste Denunziation Weigels an die Staatsmacht kommt noch hinzu. Die rechten Propheten habe Gott jederzeit selbst berufen. Weigel habe sich jedoch selbst zum Propheten aufgeschwungen, er sei ein Betrüger. Voller Entrüstung wendet sich Schelhammer gegen Weigels Begriff der „gelassenen Gelassenheit". Er bringt ihn dabei mit Karlstadt zusammen, „welcher in der Widertäuffer und Auffrührer Gesellschaft gewesen / die Anno 25. der Bawren Auffruhr gestiftet / wie auch mit dem Schwenckfeld und Krautwalt gute Freundschafft gehalten . . .". An anderer Stelle wird Weigel zu „Carlstadts / Schwenckfelds und Krautwaldes Gesellen" gezählt.306 Mit Weigels Lehren werden auch zugleich seine Lehrer und Quellen zu widerlegen gesucht und geschlußfolgert : Solche Lehren führen zu einem neuen Bauernkrieg. Für Schelhammer ist alles bei Weigel verdächtig, was aus der Mystik stammt. So auch sein Terminus von der „übersüßen Süßigkeit". Außerdem verwerfe Weigel die von Gott verordneten Stände: das Predigtamt und über3°3

Ebenda, S. 113. — Vgl. S. 101 : Weigel bekenne sich mit diesen Auffassungen zu den Täufern. Ähnlich S. 165; vgl. auch S. 399. Zu den Auffassungen der Täufer, speziell der Täufer von Münster, vgl. G. Brendler, Das Täuferreich zu Münster 1534/35, a. a. O. ; Das Täuferreich zu Münster 1534—1535, Berichte und Dokumente, hg. von R. van Dülmen, München 1974. Ebenda, S. 115; vgl. auch u. a. S. 179. MS Ebenda, S.136. 306 Ebenda, S. 177, S. 504. - Zu Valentin Krautwald vgl. H. Weigelt, Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien, Berlin (West) — New York 1973; Texte deutscher Mystik des 16. Jahrhunderts. Unruhe und Stillstand, eingel. und hg. von J . Seyppel, Göttingen 1963, S. 34—42. 36»

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IX.2. WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

haupt den geistlichen Stand; die Obrigkeit bezeichne er als Tyrannen, bestreite ihr das Recht auf Steuer und Zoll sowie das Recht zum Kriegführen. Schelhammer pocht darauf, daß das Predigtamt von Gott gesetzt ist, daß nur der Prediger taufen, Abendmahl reichen, absolvieren usw. kann und darf. Und wiederum wird Weigel bezichtigt, er sage „mit den Widertäuffern / wir haben vorhin Vergebung der Sünden / durch den Glauben / wir dürften sie nicht erst im Beichtstul oder Absolution holen".307 Bei den Täufern sei man der Meinung, vor dem Jüngsten Tage werde Christus auf dieser Erde noch ein „Aurum seculum Spiritus" anrichten. Dieses „Blendwerk" finde sich auch bei Weigel. Das sei die Lehre von einem Schlaraffenland für die Faulen und völlig unchristlich. Nie hätten die Propheten und die Apostel je ein Wort davon verlauten lassen. Deutlich artikuliert Schelhammer damit die Ablehnung von Apokalyptik und Chiliasmus durch die Orthodoxie. Weigel macht radikal Ernst mit dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen. In den Geistlichen sieht er die Vertreter des hierarchischen Prinzips; sie dämpfen den Geist, das „innere Wort". Sie verbieten den „rechten Scribenden und Lerern den Druck". „Da bindet man die unwissende Jugend an die Schnitten Zwinglij, Calvini / Lutheri / Philippi / und anderer / da müssen gelten loci Philippi, da müssen gelten Augustana Confessio, das corpus doctrinae, die formula Concordiae,"308 Die Geistlichen setzen sich an Gottes Statt als „vicarius Christi". Der Herrschaft der Kirchen und der Geistlichkeit stellt Weigel die Selbständigkeit des Subjektes in Glaubenssachen gegenüber. Dabei wendet er sich immer wieder gegen das äußere Christentum, das glaubt, „man kann eußerlich mit den Geberten einen Christen machen, alß sich teuffen lassen, beichten vor dem Priester, Sacrament nehmen, bißweilen zur Predigt spaciren oder daheim in einer Postillen lesen, darnach zum Bier oder Wein gehen, dantzen, spielen, fluchen, Gott lestern, singen, springen usw."309 Alle äußeren Zeremonien sind von Gott für die „Einfältigen" verordnet, daß sie mit ihrer Hilfe zum inneren Menschen kommen. Dazu gehören: „das Opfer, die Beschneidung, das Osterlamb im Alten Testament und die Tauff und Nachtmal in Neuen Testament." Es sind nur „Gnadenzeichen", man kann durchaus auch ohne sie glauben bzw. selig werden. „Denn nichts Eußerliches machet seelig, weder im Alten noch im Neuen Testament, es heiße, wie es wolle."310 J. Schelhammer, Widerlegung der vermeynten Postill . . . , a. a. O., S. 526; vgl. S. 534. - Vgl. V. Weigel, Dialog über das Christentum, a. a. O., S. 557-568. 308 v . Weigel, K O P , T. 1, a. a. O., Evangelium am Sontage Reminiscere, S. 193. - V g l . V. Weigel, Dialog über das Christentum, a. a. O., S. 480, S. 580. 309 v . Weigel, Predigt am Neujahrstage, 1. Predigt, in: V. Weigel, H P , I, a. a. O., S. 138. — Vgl. V. Weigel, Predigt am 1. Sonntag nach Epiphaniae, in: ebenda, I, S. 181—182, ' S. 185 ff. 310 v . Weigel, Predigt am Neujahrstage, 2. Predigt, in: ebenda, I, S. 145. — Gegen Luthers Katechismus wird mit folgenden Worten angegangen: „Verflucht sei der antichristliche Hauff, der da schreibt und sagt, die Sacrament würcken den Glauben, die Vergebung der Sünden, machen einen Christen." (Ebenda, S. 145.) Vgl.M. Luther, Der Kleine Katechismus, a. a. O.. S. 256. Vgl. auch uns. Kap. X I I , 2, S. 788ff. 307

SUBJEKTIVITÄT DES

GLAUBENS

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Nach Weigel bringt ein „gezwungenes Christentum" keinen neuen Menschen hervor. Er bleibt der alte, „wie jetzund noch geschiehet / da ein jedes Land der vorgesatzten Lehr gleubet / un den Regenten zugefallen auß furcht der Straffe / oder auß Liebe der Obrigkeit / welches stracks wieder die Liebe deß Glaubens ist / und wieder die newe Geburt".311 Die von Menschen gelehrten Prediger sind Mietlinge, und er fügt hinzu: „Wie wir leider jetzund alle seynd / keiner außgenommen."312 Selbst wenn einer nur aus der Bibel Gott verkünden wolle, so dürfe er es nicht, er müsse Menschenbücher dafür nehmen und aus Postillen predigen. Besieht man die kirchliche Situation im Luthertum dieser Zeit, so ist dies alles gegen die herrschenden Vorschriften gerichtet. Warum ist Christus gekommen? Diese Frage variiert Weigel immer wieder. Er nennt mehrere Gründe, z. T. banale, weil sie lediglich aus dem Schriftwort abgeleitet sind, z. T. orthodoxe. Aber auch hier erfolgt die „Umbiegung" ins Heterodoxe, Oppositionelle. Ein Christ kann keinen Christen zeugen, weil Christ-Sein nicht vererbbar ist. Weigel predigt einen leidenden Glauben (vgl. die Kreuzestheologie Müntzers, aber auch Auffassungen Luthers). Wo Christus ist, da ist auch das Kreuz. Das Kreuz bedeutet Haß, Verfolgung, Schmähung. Ohne das Kreuz gelangt man nicht zu Christus. Das Kreuz erwirbt man sich schon, wenn man gegen die Welt und ihre Weisheit steht. Zum Beispiel: „CHristus bringet den Frieden / Aber die Welt machet Unfriede und Auffruhr / CHristus wil deß Sünders Todt nicht / sondern daß er bekehrt werde unnd lebe / so wiedersprechen die Juristen / durch den Justinianum [Corpus juris civilis, von Justinian I. zusammengestellt — S. W.l, und sagen / man müsse das böse straffen / und die Sünder tödten. Christus sagt und lehret / man solle das Unkraut nicht außgeten für der Erndte . . . So wiedersprechen die Weltgelehrten / und sagen: Kriegen sie nicht Mörderey / und es könne einer wol mit dem Schwerd zukriegen den Glauben verfechten. CHristus lehret / man soll nicht rechten für dem Gerichte / man soll ehe den Mantel zum Rock hinlassen / So sagen die Weltgelehrten / es schade den Christlichen Glauben nichts / ob man gleich das seine mit Recht vertheidigen und erhalten / darüber zancke und haddere. Und in Summa / besiehe das gantze Leben Christi / so wirstu nichts anders finde / in allen Puncten / als eine Widersprechung I das man mit Lehre / Leben / Wandel gantz unnd gar wieder Christum handelt." 313 3" V. Weigel, KOP, T. 1. a. a. O., Evangelium am Christ Tage, S. 42. Ebenda, Die ander Christ Predigt am Tage Stephani, S. 44. — Die „buchstabische Gelerte und Maulchristen", meint Weigel, würden seine Predigten nicht billigen und sich „trencken mit den faulen Sumpfen deß Buchstabens". (V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 23-24.) 313 Ebenda, Evangelium nach dem Christtage, S. 65. — Weigel beruft sich auf das „Büchlein vom Leben Christi". Ein Verweis darauf z. B. auch: Evangelium am Sontage nach der Beschneidung (ebenda, S. 85) sowie Evangelium am Fünfften Sontage nach Trinitatis, ebenda, T. 2, S. 186; Evangelium am Neunzehenden Sontage nach Trinitatis, ebenda, T. 2, S. 293, S. 166. Nach W. Zeller (Die Schriften Valentin Weigels, a. a. O., S. 49) beruft sich Weigel damit auf eine eigene Schrift vom Jahre 1578, die mit der „Hauspostill" viele Ähnlichkeiten aufweist. 3,2

566

IX.2.

WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

Ständig vergleicht Weigel seine gesellschaftlichen Auffassungen mit den Zuständen seiner Zeit. Dabei wird als Grundgedanke betont: „kein Sacrament noch Ceremonien machet selig."314 Ebenso heißt es: „Hie mögen auffsehen / alle die so auff den hohen Schulen / unnd durch hülffe der potentaten sich unterstehen / den Glauben fortzupflantzen / ein zudringen / zu nötigen in das Menschliche Angeben / sie sind eben hiemit wieder den Glauben / unnd handeln alle wieder CHRIstum." 315 Ebenso wird gesagt: „Wie dürften den nu die jenigen sich Christi oder deß Glaubens rühmen / welche umb Land und Leute kriegen und Feldschlachten thun / sie sind gantz wider den Glauben / das ist wider Christum und sein Leben / und bezeugen / daß sie weder Christum noch die Schrifft erkant haben." 316 Damit stellt sich Weigel gegen die herrschenden Klassen und Schichten wie auch gegen die sie stützenden und sanktionierenden Geistlichen. Krieg war ja die Regel, und Kriege wurden im Namen Gottes, im Namen Christi geführt, wogegen schon u. a. Erasmus, Paracelsus, Franck Stellung nahmen. 317 Insgesamt predigt Weigel durchaus keine Weltverachtung, wie es bisweilen erscheint. Die Betrachtung der natürlichen Dinge läßt den erkennen, der sie gemacht hat, den sog. Werkmeister. Die Geschöpfe weisen uns auf den Schöpfer. Warum aber gibt es so wenige, die Christus erkennen? Die Ursache ist erstens Furcht: „O wie viel Unterthanen sind in Städten / in Dörffern / im Lande / im Reiche / in der Welt / die da wol möchten das Kind JESum annehmen / und durfften nicht für Obrigkeit / ein jede Stadt unnd Land muß sich deß Glaubens erhalten den der Regent hat." 3 1 8 Hier greift Weigel erneut den Grundsatz „cuius regio, eius religio" und die seit 1555 damit verbundene Praxis an. Der zweite Grund liegt in der Bosheit der Menschen; der Mensch will von seinem Eigentum nicht lassen. Ein dritter Grund sind „Weltgelehrte in der hohen Schulen / die kommen zusammen/ /und helffen das keine Wahrheit h e r f ü r k o m m e / sie dempffen den Geist / und darff kein frommer Mann auff stehen / 314

Ebenda, T. 1, Evangelium am Newen Jahrs Tage, S. 77. — „So ist nun die rechte, wahrhafftige, seeligmachende Tauff die Gnade, der hl. Geist, das himmlische Wasser, Christus in unß durch den Glauben wohnhafftig. Wer disen Glauben hat, der hat die Tauff Christi, der hat .Vergebung der Sünden, Leben und Seeligkeit.'" (V. Weigel, Predigt am 4. Adventsonntag, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 74.) So setzt Weigel seine Auffassung bewußt gegen die Luthers, denn die in diesen Worten zitierten Teile sind ja ebenfalls aus Luthers „Kleinem Katechismus" — allerdings sind sie dort im Zusammenhang mit dem Sakrament des Abendmahls gebraucht (M. Luther, Der kleine Katechismus, a. a. O., S. 317). 315 Ebenda, T. 1, Evangelium am Sontage nach der Beschneidung, S. 84—85. 316 Ebenda, T. 1, S. 87. Vgl. ebenda, S. 91: „Da siehestu den Brunn aller Kriegen / nemlich auß dem Eigenthumb deß willens der Güter / auß welchen kompt Zanck / Hader / Krieg / Todtschlag / welches kein Christ noch Evangelischer thut noch thun kan / so ers thete und kriegete umb zeitliche Güter / s o were er nicht gläubig noch Evangelisch." 317 Vgl.: Zur Friedensidee in der Reformationszeit. Texte von Erasmus, Paracelsus, Franck, eingel. u. m. erkl. Anm. hg. von S. Wollgast, Berlin 1968; S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 219—248; S. Wollgast, Erasmus von Rotterdam und Sebastian Franck — Vertreter zweier Linien des Friedensgedankens im 16. Jahrhundert, in: Daphnis. Zeitschrift f. Mittlere Deutsche Literatur, Amsterdam 14 (1985) H. 3, S. 497-516. 318 V. Weigel, KOP, T. 1, Evangelium am H. Drey König Tage, a. a. O., S. 97.

GESELLSCHAFTSBEZÜGE

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der da den Glauben oder Christum predigen dorffte / was die Gelehrten nicht vermügen wider Christum / das richten sie auß durch Hülffe der Obrigkeit / unnd das die Oberkeit nicht weiß / das erforschet sie von der hohen Schule,"319 Weigel sieht also die Abhängigkeit der damaligen Bildungseinrichtungen von den herrschenden Feudalschichten. Auch er verwendet das Mittel der Paradoxien, wir haben darauf bereits hingewiesen. Der äußere Mensch ist für ihn der Obrigkeit willig Untertan: „Die Unterthanen die da gläubig seyn / bleiben gehorsam in aller Gedult unnd Obrigkeit mit Leib und Gute ohne murmeln / dann kein Christe empöret wieder die Obrigkeit / nicht allein von wegen der Straffe / wie die Ungläubigen umb der Straffe willen müssen gehorsam seyn / sondern um deß Gewissens willen für GOtt / wie der Apostel gebeut / Rom. 13. 1. Petr. 2." 3 2 0 Frei ist im christlichen Sinne allein der innere Mensch — er ist niemand Untertan. Hier liegt ein progressiver Ansatz: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, religiöse Toleranz — all das sind Vorformen der Freiheiten, um die die junge Bourgeoisie in ihren Revolutionen rang. In diesem Sinne ist es zu Weigels Zeit kühn und progressiv, zu sagen: „Was den Glauben angehet / hat die Obrigkeit nichts zu gebieten / sie kan jhn weder nehmen noch geben / weder fördern noch wehren. . ," 3 2 1 Auch wenn Weigel den Fürsten seine These im Anschluß an die zitierten Worte zu erklären sucht und behauptet, von diesem Ungehorsam hätten sie nur Vorteile — seine Begründungen für die Unschädlichkeit der Freiheit des inneren Menschen gegenüber den Regenten sind wenig überzeugend. Die These bleibt revolutionär, ebenso wie die fast wörtlich damit übereinstimmenden Worte Luthers so gewirkt haben. Luther hat sich auch für die politische und noch mehr für soziale Freiheit eingesetzt. Seine freimütigen, kühnen Anklagen gegen schlechte, pflichtvergessene Fürsten und Herren, gegen Bedrückung und Aussaugung sind Legion. Dabei darf — und hier setzt der Gegensatz zu Weigel ein — nicht übersehen werden, daß gleichzeitig zwei Wurzeln des Untertanengeistes unter dem Absolutismus und in den deutschen Monarchien bis 1918 auf Luther selbst zurückgeführt werden können: das monarchische Summepiskopat (der Fürst als Kirchenherr, als „Notbischof"), der die schutzlose junge Kirche politisch absicherte, das dadurch bedingte Bündnis von Thron und Altar und Luthers paulinische Unterscheidung von innerer und äußerer Freiheit. Weigel findet mit der Zweiteilung in den äußeren und inneren Menschen auch die Rechtfertigung für sein eigenes Handeln. „Item / bistu in d' Zahl der Priester / und wirst gewar daß dein Stand falsch und ungöttlich ist / laß den eussern Menschen ein Priester seyn / laß jhn das Joch oder dz Creutz trage / klage du es Gotte / und hüte sich ja / das du nach dem innern Menschen kein Priester seyest." 322 Weigel bestätigt Luthers frühe Auffassung vom allgeEbenda, T. 1, S. 9 8 - 9 9 . 320 Ebenda, T. 1, Evangelium am ersten Sontage nach Epiphaniae, S. 102. — Vgl. ebenda, T. 1, Evangelium am dritten Sontage nach Epiphaniae, S. 128. 3 2 1 Ebenda, T. 1, S. 105. — Vgl. Evangelium am fünfften Sontage nach Epiphaniae, ebenda, T. 1., S. 1 3 9 - 1 4 0 . 322 Ebenda, T. 1, S. 108. — Vgl. allgemein zum Verhalten des wahren Christen zu Zeremonien : ebenda, Evangelium am Sontage Quinquagesimae, S. 172.

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I X . 2 . WEIGELS ANSCHAUUNGEN

meinen Priestertum der Christen. Damit korrespondiert Weigels oben angeführte Erklärung, weshalb er die Konkordienformel unterschrieben und eigentlich sein ganzes Leben eine Trennung von innerem und äußerem Menschen praktiziert hat. Am Beispiel der Hochzeit zu Kana beschäftigt sich Weigel kurz mit der Ehe. Er sieht in den Eheleuten ein Fleisch, so daß, wenn ein Ehepartner dem anderen Schaden zufüge, er damit sich selbst schade. 323 Das widerspricht der rigoristischen Haltung, der Forderung nach geschlechtlicher Enthaltsamkeit, die sich sonst mit Weigels Eheauffassungen verbindet. Es widerspricht ebenso dem Libertinismus anderer Häretiker. Für Valentin Weigel ist Kirche stets Kirche der Armen. Christus sei auf keine Hochzeit gegangen, nur zu der von Kana. Und dort „waren arme Leutlin / veracht / verschmähet / weren sie von Adel gewesen / oder Grafen / oder Fürsten / oder Könige / es were weder Christus noch seine Mutter auff die Hochzeit kommen". Weigel vergleicht die Hochzeitsgäste mit den Menschen aus dem Zschopauer Milieu seiner Zeit: „Als wenn man bey uns etwan arme Neterin oder Radtspinnerin auffm Dorffe seye." 324 Wenn Christus Wasser in Wein verwandelt habe, so sei das kein Beweis dafür, daß durch das Wort des Priesters (Konsekration) Brot in den Leib Christi verwandelt werde bzw. Wein in Christi Blut. Denn das setzte voraus, daß Christus adamitisches Fleisch hätte und wir dann davon essen. Das aber diene nicht zum ewigen Leben. 325 Zentralstück des Christentums ist für Weigel der Glaube. Nach Weigel reinigt „weder die Ohren-Beichte noch das Sacrament . . . von Sünden / noch die Absolvierung bey dem Priester". 326 Die Reinigung erfolgt allein durch den Glauben: „So den Türcken mit Ernst der Glaube gepredigt würde / ohne Zweiffei / es würden sehr viel seyn / die da mehr Früchte bringen solten / als unsere Maul Christen." 327 Es sei falsch, daß eine Religionsgemeinschaft die andere verfolge. „Wie viel frommer Christen würden mit auffgereumet / so man solte den Bapst außrotten / Also wie viel gläubige Christen würden außgereuffet / so man solte die Lutherischen umbbringen / 323

Ebenda, T. 1, Evangelium am andern Sontage nach Epiphaniae, S. 110—111. — Vgl. V. Weigel, Predigt am 2. Sonntag nach Epiphanias, in: HP, II, a. a. O., S. 201—214. 324 Ebenda, T. 1, S. 113. — Dagegen ist bei den Reichen „der hoffertige Sathan . . . jhr Hochzeit Gast" (ebenda, S. 114). 32 5 Ebenda, T. 1, S. 115-116. 326 Ebenda, T. 1, Evangelium am dritten Sontage nach Epiphaniae, S. 121. — Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 180-192, 210-212. - Nach W. Zeller bezeichnen folgende Worte Weigels einen direkten Angriff auf Luther: „Das ist ein gewisses Merckzeichen, daß der Lehrer nit gewust noch erkandt habe, was Christus oder der Glaube sei, da da die Leuth weiset, sie sollen den Glauben auß den Sacramenten holen und die Sacrament nehmen und empfangen ad remissionum peccatorum." „Darum sein solche Lehrer blindt und verkehren die Schrifft nach ihrem Gefallen, welches sie vor Gott zu verantwortten schwer und sauer genug wird ankommen." (V. Weigel, Predigt am Neujahrstage, 2. Predigt, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 153.) Unter Verweis auf: M. Luther, Der Kleine Katechismus, 4. Hauptstück, Zum andern und 5. Hauptstück, Frage: „Was nützet denn solch Essen und Trincken?", a. a. O., S. 317. 327 Ebenda, T. 1, Evangelium am dritten Sontage nach Epiphaniae, S. 126.

GLAUBENSBEGRIFF

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Also mit den Zwinglischen Picarten / mit den Türcken selber / denn Gott hat die seinen so wol unter den Moscowittern und Türcken / als unter dem Bapst und Luther."328 Den wahrhaft Gläubigen stört nicht die Umgebung, in der er lebt. Diesen Gedanken begründet Weigel im „Ort der Welt" theoretisch weiter. Christus gibt uns alles aus Gnade, wir können nichts durch unseren Verdienst erwerben. Gott ist unparteiisch, „ist kein Anseher der Person"329. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Auch das ist ein Grundprinzip Weigels. Durch verschiedene Gründe lassen sich die Menschen vom Reich Gottes in sich abhalten. Einmal aus Wankelmut: Denn das innere Leben mit Christus ist ein beschwerliches Leben und bringt keine zeitlichen Vorteile. Auch schreckt Furcht manche Menschen ab, wenn ihnen andere zum Beispiel sagen: „Ey was wiltu machen / du kommest umb deinen guten Namen / umb dein Ehre / und umb dein Gut / umb dein Leben / man nennet dich einen Ketzer / einen Schwermer / einen Sacramentirer / einen Schwenckfelder / einen Enthusiasten / einen Lutherischen Buben / einen Catholischen oder Bäbstischen Schelm / bleibe du bey dem gemeinen Hauffen / so beheltestu deine Ehre / Nahmen / Güter / Leben." Drittens erstickt die Gier nach Besitz und Ansehen in der Welt das innere Wort. Viele „dancken Gott nur mit dem Maule / daß sie das reine Wort Gottes haben auffm Pappier in dem Buche / in der Mawrkirchen / daß sie können zur Beichte gehen / die Sacramenta brauchen / machen Gebetlein darzu / und bitten Gott öffentlich / GOtt wolle sie erhalten bey gesunder reiner Lehr / und wil doch keiner unter jhnen in den gesunden jnnwendigen Grund kehren / das lebendige Wort Gottes im Hertzen zuschmecken / bleiben also ohne Busse / ohne Rew / ohne Leyd / über jre Ungerechtigkeit / Geitz / Wucher / Betrug etc." 330 Die Prediger, die nur das äußere Wort von der Kanzel predigen, dröschen nur leeres Stroh. In der Gestalt des Concionators im „Dialogus de Christianismo" hat Weigel den Prototyp des ihm vorschwebenden äußeren Christen dargestellt. Weigel lehnt nicht nur die Konkordienformel, sondern auch entscheidende andere lutherische Bekenntnisschriften ab, damit theoretische Grundlagen des Luthertums. Er bezieht den neutestamentlichen Bericht vom Zusammenstoß Jesu mit den Weltgelehrten in der Synagoge auf seine Zeit und fragt, warum die Wahrheit und Christus in den Universitäten und bei den Weltgelehrten nicht zu finden seien331: 1. Die Weltgelehrten, vornehmlich natürlich die Theologen, schätzen die menschlichen Gesetze höher als die göttlichen. Weigel polemisiert gegen jegliche Verbindung von Staat und Kirche, gegen eine Gewissenstyrannei, die den Staat zum Büttel der religiös-kirchlichen Intoleranz und zum Schützer der „reinen Lehre" macht. Die Politik war nach 328

Ebenda, T. 1, Evangelium am fünfften Sontage nach Epiphaniae, S. 141; vgl. S. 164. — V. Weigel, Dialog über das Christentum, a. a. O., S. 514. 329 Ebenda, T. 1, Evangelium am Sontage Septuagesimae, S. 159. — Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 66—67; V. Weigel, Predigt am 3. Sonntag nach Epiphaniae, in: V. Weigel, HP, I, a. a. O., S. 218, S. 223; V. Weigel, Predigt am Sonntag Septuagesimae, in: ebenda, I, S. 277—289; V. Weigel, Predigt am Sonntag Sexagesimae, in: ebenda, II, S. 2 9 1 - 3 0 5 u. a. 330 v . Weigel, KOP, T. 1, Evangelium am Sontage Sexagesimae, S. 162 f. 331 Ebenda, T. 1, Evangelium am Sontage Reminiscere, S. 192.

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I X . 2 . WEIGELS

ANSCHAUUNGEN

Meinung des „unparteiischen Mystikers" eine entscheidende Triebkraft in der Entwicklung der Reformation. Hier wie überhaupt wird das lutherische Dogmenwerk in Frage gestellt und lediglich das „Symbolum apostolicum" hat noch Geltung. 2. Die Weltgelehrten — wieder sind die Theologen gemeint — schaffen mit den von ihnen geschriebenen Büchern unnütze Probleme und Disputationen: so über die Nottaufe, die Erbsünde, den freien Willen usw. Ein Streit um die Erbsünde oder den freien Willen ist leere Schaumschlägerei. Es verwundert also nicht, daß die Orthodoxie des 17. Jh. Legionen von Bannflüchen gegen Weigel schleudert. Weigels allgemeine Aussagen über Gott bewegen sich in den Bahnen des Neuplatonismus; Piaton, Plotin, Proklos, Hermes Trismegistos, Mercurius (Pseudo-Apuleius Asclepios), Pseudo-Dionysius Areopagita und Boethius bezeichnen eine Linie, an die sich Weigel bewußt anschließt. „Die Antinomien, die schon dem Gottesschema Plotins ein eigentümliches Gepräge geben, sind auch hier noch nicht ausgeglichen — weil sie sich in ihrer antithetischen Schärfe überhaupt nicht überbrücken lassen: Gott wird einerseits soweit in die Transzendenz hinausgerückt, daß er in seiner einsamen Höhe jede Verbindung mit der Welt zu verlieren droht, anderseits wieder der Seele immanent gedacht." 332 Als der Transzendente ist sein Wesen nur durch Negationen zu erfassen. Alle Eigenschaften, die in Gott eine Bewegung oder Veränderung hineininterpretieren, sind hinfällig: Gott ist reines unwandelbares Sein. Der fluktuierenden Erscheinungswelt gegenüber ist Gott „willenlos, affektlos, begierdelos, zeitlos, namenlos". Er ist nichts als Negation — omnis determinatio est negatio. Das bedeutet Pantheismus, der zu Spinoza hinführt. Die Idee der Einheit von Mikro- und Makrokosmos ist letztlich stets pantheistisch. Auch hier ist die Entwicklungsstufe des jeweiligen Pantheismus zu beachten. Bei Weigel finden wir — wie bei Paracelsus und in dessen Verständnis — vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft, Erde) und drei Substanzen (Mercurius, Sulphur, Sal). Paracelsus wie Weigel stellen den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, denn der Mensch trägt — als Mikrokosmos — Welt und Gott, Endliches und Unendliches, Vergängliches und Ewiges in sich. Auch Weigel hat — gleich Paracelsus — für die vergängliche Schicht des Menschen den Begriff „Gottebenbildlichkeit". Weigel erachtet neben der mit Astrologie verquickten Astronomie auch alle anderen Wissenschaften als bedeutsam; abgelehnt wird „falsches" Wissen, Buchstabengelehrtheit, der Versuch, Gott aus Büchern zu erlernen. Für die Theologie ist die Wissenschaft zumindest unnütz. Dies hat aber andere Gründe als etwa die Wissenschaftsfeindlichkeit eines Daniel Hofman. Mit einer etwas gewagten Analogie läßt sich sagen: Wie R. Descartes durch die Zweiteilung der Welt in res cogitans und res extensa die Naturwissenschaft vor dem Zugriff der Theologie rettet, die res extensa der materialistischen Forschung ohne fremde Zutat freigibt, so tut dies Weigel für die elementische bzw. — bei Dreiteilung des Menschen — für die elementische und siderische Schicht des Men332

H. Maier, Der mystische Spiritualismus Valentin Weigels, a. a. O., S. 39. — Vgl. F. Cumont, Plotin, in: Die Philosophie des Neuplatonismus, hg. von Cl. Zintzen, Darmstadt 1977, S. 1 4 - 3 7 .

ERKENNTNISTHEORIE

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sehen. Der Mensch, dessen Seele nicht mit Gott vereint ist, bleibt den n a t ü r lichen Mächten unterworfen. Der natürliche Mensch ist zur H e r r s c h a f t über den Kosmos bestimmt. Ähnliche Trennungsversuche finden sich bereits in der protestantischen Schulphilosophie u n d bei Luther selbst. Eine echte Weiterentwicklung der Philosophie stellt Weigels E r k e n n t n i s theorie dar. Zentral für Weigels Ausgangspunkt sind die Kapitel 14 bzw. 24 des „Güldenen Griffs". Weigel geht davon aus, d a ß das menschliche E r k e n n t nisstreben die Möglichkeit des Irrtums in sich birgt. Aber der Mensch k a n n sich seines I r r t u m s bewußt werden, nach den Ursachen des I r r t u m s u n d nach Wegen zu seiner Überwindung bzw. zur Ausschaltung des Nichtwissens forschen. E r benutzt dazu sein „Erkenntnisorgan" als inneres Mittel, W a h r heit u n d I r r t u m zu trennen. Dieses innere Organ ist der „Güldene Griff" zur Erkenntnis der Wahrheit. Es wird von Weigel in K a p . 3 der gleichlautenden Arbeit erläutert. Danach irrt der Mensch, weil er der Einheit (Gott) entfremdet ist und als Teil der Vielheit ein Eigenleben f ü h r t . E r erlebt die Umwelt als ihm gegenüberstehenden Gegen-stand oder „Gegenwurf". Das ganze Dasein zerlegt sich dem Menschen in eine Innen- u n d eine Außenwelt des Gegenstandes oder der Gegenstände, in eine Subjekt- u n d eine Objektsphäre. Beide Bereiche werden als eine Einheit von Gegensätzen empfunden. Diese Spaltung m a c h t den I r r t u m möglich, sie ist aber zugleich die Grundvoraussetzung für alles Erkennen. Ich k a n n nur erkennen, wenn m i r etwas gegenübersteht, wenn das Subjekt einen Gegenstand, ein O b j e k t , h a t u n d umgekehrt. Wenn subjektiver Idealismus bei Weigel vorliegt, jedenfalls im Ansatz, wie Heinz Längin meint, 3 3 3 so wäre näher zu untersuchen, wie Weigels Theorie der eingeborenen Ideen mit der These von der O b j e k t - u n d Spiegelwelt übereinstimmt. Darauf k a n n hier nur verwiesen werden. E s handelt sich erkenntnistheoretisch bei Weigel jedenfalls u m eine eigentümliche Subjekt-Objekt-Dialektik. Weigel weiß: N u r wenn es I r r t u m gibt, ist auch W T ahrheitserkenntnis möglich. E r betrachtet die Ergebnisse unseres Erkennens u n d sucht zu erschließen, welchen Anteil Subjekt u n d Objekt an ihrem Z u s t a n d e k o m m e n h a b e n . Ein Gegenstand muß, wollen wir ihn erkennen, mit sich selbst identisch sein. Würde sich dieser Gegenstand in unserem E r k e n n t n i s o r g a n gleichsam abdrücken (wie damals nach Aristoteles gelehrt w u r d e ; die Auffassung geht auf Demokrit zurück u n d ist hier verwässert) u n d dieses sich rezeptiv verhalten, dann m ü ß t e n unsere Erkenntnisergebnisse so eindeutig wie der Gegenstand selbst sein. Aber die Urteile über einen Gegenstand sind verschieden. Der Gegenstand selbst k a n n also nicht die E r k e n n t n i s erwirken; der Mensch m u ß selbst der tätige Teil sein. Von außen her fließt kein wirklichkeitsgetreues Abbild in das Erkenntnisorgan; dieses m u ß sich vielmehr die E r k e n n t n i s erst 333

H. Längin, Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Berlin 41 (1932) S. 435. — Es ist problematisch, wenn aus der Annahme eines „Mittels" zwischen Subjekt und Objekt geschlußfolgert wird, damit habe Weigel „Kants Ansicht über das Zustandekommen der sinnlichen Erkenntnis in den Anschauungsformen von Raum und Zeit geahnt" (G. Krodel, Die Anthropologie Valentin Weigels, a. a. O., S. 56).

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bilden. Ohne selbsttätige bzw. vom Menschen in Tätigkeit gesetzte Erkenntniswerkzeuge wäre Erkenntnis undenkbar. Das Subjekt, also der Mensch, kann _ selbsttätig sein, weil er Erkenntnisse zu erarbeiten vermag. Besäße er nicht die Fähigkeit zu denken, so wäre verstandesmäßiges Erkennen nicht möglich. Weigel meint, völlig zu Recht, daß das erkennende Subjekt die auf ihn einwirkenden Eindrücke der objektiven Realität in seinem Bewußtsein verarbeiten muß. E r irrt, wenn er dafür „ideae innatae" verantwortlich macht. Nach Weigel ist nicht nur das Erkenntnisvermögen, sondern auch der E r kenntnisinhalt dem Menschen eingeboren. Würde man sich alles Wissen von außen (aus Büchern, von anderen Menschen usw.) aneignen, so wäre Erkenntnis ein unbewußter rechnerischer oder organischer Naturvorgang. Der E r kennende müßte alles kritiklos aufnehmen. Da wir aber auch völlig neue Erkenntnisinhalte kritisch beurteilen können, sie als Wahrheit oder Irrtum anzuerkennen vermögen, müssen wir über einen „Erbteil" verfügen, mit dem wir bewußt die Geistesarbeit anderer frei und selbständig nachschaffen, kritisch beurteilen, annehmen oder ablehnen können. Alle „Weisheit und K u n s t " liegen bereits in uns verborgen. Dabei wendet sich Weigel entschieden gegen die Auffassung, das Objekt sei überhaupt überflüssig. Das Subjekt kann erst tätig werden, wenn es eine Einwirkung von außen erfährt. „Alles, was an Kräften, Fähigkeiten, Ideen usw. in uns der Anlage nach, aber unbewußt vorhanden ist, hat sein Spiegelbild in der Außenwelt; es kommt zur Entfaltung und tritt ins Bewußtsein, wenn ihm sein Spiegelbild entgegengehalten wird. Die Erkenntnis kommt demnach in folgender Weise zustande: Durch die Be-gegnung mit einem Gegen-stand wird das Subjekt erweckt; d. h. es wird aufmerksam (,Erinnern') darauf, daß ihm etwas gegenübersteht (Gegenstandsbewußtsein) und daß es selbst etwas anderes ist als das Gegenüberstehende (Selbstbewußtsein). Der Spalt hat sich aufgetan; den Menschen verlangt danach, ihn wieder.zu schließen: Das Subjekt beginnt seine Tätigkeit, durch das Zusammentreffen mit dem Gegenstand angeregt (.Ermuntern'), j a aufgestachelt (»Ermahnen'). Die a priori in den Tiefen der Seele ruhender! Erkenntnisinhalte sind aus dem Innern hervorgelockt (.Erinnern') und werden nun vom Tageslicht des Bewußtseins beleuchtet. Das Problem selbst wird dann ,an dem Gegenwurf', aber nicht in ihm, entdeckt (.erfunden') und im Hinblicken auf denselben zur Lösung gebracht (,durch . . . Nachsuchen . . . erfunden')." 3 3 '' Im Kap. 9 des „Güldenen Griffs" zeigt Weigel auch, wodurch der Irrtum entsteht und wie es zu Fehlurteilen kommt. Die Spaltung der Gesamtwelt in eine Innen- und Außenwelt hat die Voraussetzung für den Irrtum geschaffen. Wenn das Objekt dem Subjekt die Erkenntnis „eingösse", wäre jeder Irrtum ausgeschlossen. Aber da das Subjekt die Erkenntnis selbst erarbeiten muß, das Objekt nur als Spiegel benutzen kann, hängt alles von der Beschaffenheit des Werkzeuges (Auge usw.) ab. Die Leistungen der einzelnen Erkenntniswerkzeuge sind schon an sich ungleichartig und ungleiohwertig und außerdem noch bei allen Menschen individuell verschieden (vgl. Güldener Griff, Kap. 10). 33« Ebenda, S. 446-447.

ERKENNTNISTHEORIE

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Weigel unterscheidet zwischen Sinnes- und Verstandeserkenntnis. Sinneserkenntnis ist nur unter bestimmten äußeren Bedingungen möglich. Sie ist an materielle und raum-zeitliche Voraussetzungen gebunden, ist noch keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne. Die Verstandeserkenntnis hat demgegenüber bedeutende Vorzüge. Der Verstand empfängt seine Grundlagen von den Sinneseindrücken. Er ordnet sie, verknüpft sie zu Urteilen, Begriffen usw. Aber auch der Verstand gerät beim Schließen leicht auf Irrwege („Güldener Griff", Kap. 24). Nach dem Satz vom Widerspruch können zwei kontradiktorische Gedanken über ein und denselben Gegenstand, die in ein und derselben Zeit in ein und derselben Beziehung gewonnen wurden, nicht wahr sein. Wie kommt ein falsches Urteil dann zustande? Äußere Faktoren, wie die der Sinneserkenntnis, spielen dabei keine Rolle. Der Widerspruch entsteht vielmehr dadurch, daß jeder seine individuelle Betrachtungsweise zur universellen Gültigkeit erhebt.335 Die Urteilenden übersehen, daß ihr Urteil nicht absolut, sondern nur relativ gültig ist. Natürlich ist jeder Mensch als beschränktes Einzelwesen an seine individuelle Erfahrung und seinen Standpunkt gebunden. Die Fehlerquelle liegt also in uns. Dem Vermögen der sinnlichen und verstandesmäßigen Erkenntnis sind Grenzen gesetzt. Ist man sich ihrer bewußt, kann man Fehler vermeiden. Da ihm die Unvollkommenheit der Erkenntnis die Folge unvollkommener Erkenntniswerkzeuge ist, will Weigel diese vervollkommnen. Daher entwickelt er im „Güldenen Griff" (Kap. 12) ein höheres „übernatürliches" Erkennen, das nach seiner Meinung aus dem Irrtum herausführt. Die „übernatürliche" Erkenntnis ist der anderen dreifach überlegen durch die Wendung nach innen, zur Selbsterkenntnis. Der Mensch muß zur Erkenntnis gelangen, daß er als (eingeschränktes) Einzelwesen unvollkommen ist. Will er sich dem Schöpfer nahen, so muß er alles in sich abtöten, was ihn von diesem trennt und unvollkommen macht, nämlich sein natürliches Menschsein als solches. Diese Auffassung arbeitet Weigel besonders in seinem „Kurzen Bericht und Anleitung zur deutschen Theologie" aus. Es ist zudem eine Grundthese seiner Philosophie. In der übernatürlichen Erkenntnis ist das Subjekt vollkommen. Es kann diese Vollkommenheit allerdings nur erreichen, indem es seine kreatürliche Eigentätigkeit aufgibt. Deshalb nennt sie Weigel „leidende" Erkenntnis. Sie wirkt nicht aus der Natur, sondern aus der Gnade. Diese Erkenntnis ist ein rein innerlicher Vorgang, in deren Verlauf der Mensch zu Gott wird. „Während bei der natürlichen Erkenntnis ein Einzelwesen als .Erkenner' einem andern Einzelwesen als dem ,Gegenwurf' gegenüberstehen muß, ist bei der übernatürlichen Erkenntnis die Subjekt-Objekt-Spaltung praktisch aufgehoben-, denn ,Gott' ist ein Wesen, dem nichts gegenüberstehen kann, weil es selbst alles umfaßt."336 Die Erkenntnistheorie Weigels ist wieder gegen die Orthodoxie gerichtet. Auch die Bibel ist Objekt unserer Erkenntnis — wie jeder andere Gegenstand. Sie vermag also dem Menschen nicht direkt Erkenntnis 335 Vgl. v . Weigel, Der Güldene Griff, in: V. Weigel, Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 428-430. 336 H. Längin, Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, a. a. O., S. 461.

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I X . 2 . W E I G E L S ANSCHAUUNGEN

zu vermitteln. Von hier aus wird auch theoretisch Weigels Polemik gegen die „Schriftgelehrten" und „Buchstabier" verständlich, die meinen, der Glaube fließe aus dem Buchstaben der Schrift. Dabei wird in dieser Erkenntnis wieder — und das ist für Weigels Pantheismus wichtig — nur vereinigt, was bereits dem Wesen nach eins ist, sich dieser Einheit aber nicht bewußt war. Allerdings geht Längin zu weit, wenn er aus der Idee des „Seelenfünkleins" in der Mystik und speziell bei Weigel schließt: „. . . es kann sich schließlich selbst zum Gegenstand seiner erkennenden Tätigkeit machen, d. h. zugleich Subjekt und Objekt der Erkenntnis werden . . . (Kants Grundsatz von der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins [der Apperzeption] ist hier schon ausgesprochen!)." 337 Eine nähere Untersuchung dieses Gedankens, vor allem der Vermittlungsstufen, wäre durchaus erforderlich. Kant bestimmt ja das „ich denke" als oberste synthetische Einheit aufgrund einer „Architektonik" der theoretischen Vernunft. „In der übernatürlichen Erkenntnis hat Weigel das Ziel seines Wahrheitsstrebens erreicht." Er ist durch sie erleuchtet, als Gesamtmensch wiedergeboren. Zum Schluß will er die Ergebnisse beider Erkenntnisarten, der natürlichen und übernatürlichen, in Übereinstimmung bringen. „In der übernatürlichen Erkenntnis wird die Wesenseinheit alles Seienden erschaut. Die natürliche Erkenntnisart dagegen verwickelt den Erkennenden, der ihre Ergebnisse folgerichtig zu Ende denkt, notwendig in Widersprüche, die sie selbst nicht lösen kann. Das Zusammenwirken von natürlicher und übernatürlicher Erkenntnisweise kann demnach nichts anderes sein, als eine Zusammenschau der Standpunkte und der scheinbar unüberwindlichen Gegensätze in einer höheren Einheit." 338 Weigels Erkenntnistheorie versteht sich als Frucht dieser Zusammenschau. Nach Weigel ist die Wahrheit konkret („Güldener Griff", Kap. 17). Die Welt wird als Einheit in der Mannigfaltigkeit gesehen. Ist der Mensch erst einmal zur Erkenntnis gelangt, wird er nicht, wie ein Mönch, die Welt fliehen, sondern „als Christ" sich die Aufgabe stellen, beide Welten, alteritas und unitas, Himmel und Erde, zu vermählen und in sich selbst zu einer geschlossenen, allumfassenden Einheit auf höherer Stufe zu verschmelzen. Er muß sich der Ratio bedienen, wenn er innerhalb dieser Welt wirken will. Karl Marx schreibt in seiner berühmten ersten Feuerbachthese: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus . . . ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus — der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt — entwickelt." 339 Das Ausbilden der tätigen Seite zeich337 Ebenda, S. 464. - G. Krodel (Die Anthropologie Valentin Weigels, a. a. O., S. 58) meint, Weigel habe „bereits den subjektiven Idealismus vertreten, der in Kants transzendentaler Apperzeption seine Krönung fand". Aus marxistischer Sicht ist das eine Fehldeutung der Kantischen transzendentalen Apperzeption. 338 Ebenda, S. 4 6 6 - 4 6 7 . 339 K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1958, S. 5. - Selbst G.

RATIONALISMUS DER

MYSTIK

575

net die Erkenntnistheorie Weigels aus. Sie enthält Elemente des Rationalismus, die Weigels von heterodoxer Mystik und Paracelsismus geprägtes Weltbild bereits bestimmen. Weigel bezeichnet einen Übergang zur Philosophie der Neuzeit, wenn er auch wesentliche wissenschaftliche Entdeckungen nicht zur Kenntnis nimmt, wie z. B. das copernicanische Weltbild. Aber das ist kein Kriterium für die objektive Einordnung eines Denkers. Auch F . Bacon hat epochemachende Entdeckungen seiner Zeit entschieden abgelehnt, und dennoch gebührt ihm der Ruhm, einer der Begründer der klassischen bürgerlichen Philosophie zu sein. Dogma und Historie sind dem Mystiker und dem Rationalisten Symbole, objektivierte Sinnbilder zeitloser universaler Wahrheiten und Ideen, die im Individuum immer wieder Wirklichkeit werden. Für Weigel ergibt das folgende Konstellation: „Das innere Wort ist . . . aus einer sporadisch und plötzlich aufsprühenden supranaturalen Offenbarung zu einem fest verankerten und dauernden religiösen Naturfonds geworden. Tertullians von der Stoa inaugurierte Behauptung von der anima naturaliter christiana ist der Grundton der Weigelschen Religionsphilosophie. In diesen Ansätzen einer spezifisch-naturalistisch-anthropologischen Auffassung der Religion gründet die Geistesverwandtschaft der Mystik mit dem Rationalismus." 3 4 0 Diesem Problem ist in der Forschung noch nachzugehen. Die Beziehungen von Mystik und Rationalismus durchziehen die ganze Philosophiegeschichte: Das neuplatonische System ist rational begründet, Mystik und Rationalismus begegnen sich bei Spinoza wie Nicolaus von Kues. Das Erkenntnisziel der Mystik — auch der philosophischen Mystik — steht über der ratio, es ist transrational. Die ganze philosophische Mystik, auch die des europäischen Mittelalters, operiert mit rational geordneten Erkenntnisgraden. Bei Meister Eckhart läßt sich dies gut nachweisen. Natürlich ist dabei eine breitere Bedeutung von Rationalismus anzunehmen, als er im 17.—18. J h . in dem traditionellen Gegensatzpaar Rationalismus — Empirismus unterstellt wird. Krodel 3 4 1 hat darauf verwiesen, daß sich Weigels Menschenauffassung von der Luthers wesentlich unterscheidet. Während Weigels gesamte Theologie die Geburt Gottes in der Seele zum Thema hat, ist Luthers Theologie „historische" Theologie der Offenbarung Gottes. Luthers Gott wohnt nicht in der Seele des Menschen, sondern ist Herr der Geschichte, der Mensch geht nicht in ihm auf, sondern steht ihm gegenüber. Luther versteht unter Glaube das bedingungslose Vertrauen auf Gottes Verheißung, bei Weigel ist der Glaube an das Aufgeben des Eigenwillens, das Absterben des äußeren Menschen gebunden. Durch die Projektion Gottes in die Seele ist es für Weigel undenkbar, von einer Geistwirkung des Wortes und der justitia imputativa ab extra zu sprechen. Ein Höhepunkt des Weigelschen Schaffens ist sein „Dialogus de Christia-

340 341

Wehr stellt fest: Weigels Ziel sei die „Erkenntnis des Menschenwesens. Diese Selbsterkenntnis findet ihr Ziel in der Selbstverwirklichung . . . Weigel . . . setzt auf Veränderung; echte Veränderung hat innen zu beginnen." (G. Wehr, Valentin Weigel. Der Pansoph und esoterische Christ, Freiburg i. Br. 1979, S. 30.) H. Maier, Der mystische Spiritualismus Valentin Weigels, a. a. O., S. 108. G. Krodel, Die Anthropologie Valentin Weigels, a. a. O., S. 1 3 2 - 1 3 4 .

576

I X . 3. D I E

„WEIGELIANER"

nismo", auch sprachlich eine Meisterleistung. Die aktivistischen Züge der Mystik sind bei Weigel durch die Verbindung mit Paracelsus und Elementen des neueren Rationalismus noch verstärkt. Hier finden wir vorgeformt, was wir in der klassischen deutschen Philosophie so schätzen: das aktive Element, wie es etwa in Fichtes Tatphilosophie zum Ausdruck kommt. Durch die Betonung des aktiven Elements in der Erkenntnis, aber auch im Handeln wird Weigel zwar noch nicht zum „Vorläufer" Fichtes, wie A. Israel meint. Lineares Kontinuitätsdenken führt auch in die Irre. Aber eine genauere Untersuchung würde den Anteil Weigels an der Herausbildung von Voraussetzungen der klassischen deutschen Philosophie wohl höher einschätzen, als bisher geschehen. Das gilt übrigens auch für Böhme, wenngleich Böhme nicht ganz so stiefmütterlich wie Weigel behandelt wurde. ,ya

3. Die

r>

Weigelianer"

Schon die von Reichel genannten Widerlegungsschriften beweisen die ungeheure Wirkung von Weigels Auffassungen. G. Baring hat in gewisser Hinsicht Recht, wenn er schreibt: „Als .Weigelianismus', das heißt mit Valentin Weigels Namen, wurde fast 100 Jahre jede Richtung innerhalb der evangelischen Kirche bezeichnet, deren Meinungen im Gegensatz zur orthodoxen Lehre standen." 3 '* 3 Eine genauere Untersuchung der Einflüsse Weigels auf Persönlichkeiten und Gruppen des 17. Jh., auch eine Darstellung des Verhältnisses vom Weigelianismus zu den „spiritualistischen" Denkern z. Zt. des Dreißigjährigen Krieges sowie zum radikalen Pietismus, steht m. E . noch aus. Daher sollen hier — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — einige Hinweise auf Einflüsse Weigels gegeben werden. Das Verhältnis von Böhme und Weigel verlangt gesonderte Untersuchung. (Vgl. Kap. X . ) W. Zeller bemerkt zu Recht: „Die Weigel-Forschung steht . . . vor dem Dilemma, daß sie wohl eine Fülle von weigelianischem Schrifttum zu erschließen vermag, jedoch kaum über ihre Urheber etwas auszusagen imstande Zu den Wirkungen Weigels auf Böhme vgl. S. Wollgast, Valentin Weigel und Jakob Böhme. Vertreter einer Entwicklungslinie progressiven Denkens in Deutschland, in: Protokollband, Jakob-Böhme-Symposium Görlitz 15. u. 16. 11. 1974, Görlitz 1977, S. 67—86. — R. van Dülmen kündigt (Schwärmer und Separatisten in Nürnberg (1618—1648). Ein Beitrag zum Problem des „Weigelianismus", in: Archiv f. Kulturgeschichte, Köln —Wien 55 (1973) S. 107—108) „eine größere Untersuchung über das radikale Schwärmertum und den Weigelianismus im 17. Jahrhundert" an. Eine solche Arbeit wurde mir bis Redaktionsschluß meiner Arbeit nicht bekannt. Vgl. B. Gorceix, La Mystique de Valentin Weigel 1533—1588 et les origines de la th6osophie allemande, Lille 1972. Diese Arbeit wurde mir zu spät zugänglich, als daß ich ausführlich auf sie einzugehen vermag. Gorceix benutzt einen Großteil der auch von mir zugrunde gelegten Schriften Weigels bzw. der Sekundärquellen. Insgesamt bietet Gorceix wertvolles Diskussionsmaterial. Er sucht ein umfassendes Bild des Theologen, Mystikers, Paracelsisten und Philosophen V. Weigel aus den Quellen zu erarbeiten. Seine Schlußfolgerungen unterscheiden sich aber in vielen Punkten von meinen. 343 G. Baring, Valentin Weigel und die „Deutsche Theologie", in: Archiv für Reformationsgeschichte, Gütersloh 55 (1964) S. 5.

342

ANONYME

ANHÄNGERSCHAFT.

J.

BANNIER

577

ist. Gehört es doch zu den Kennzeichen des frühen Weigelianismus, daß sein Schrifttum weitgehendst anonym oder pseudonym überliefert ist. Wie Weigel selbst seine Werke vermutlich namenlos handschriftlich umlaufen ließ, so haben auch seine Anhänger in der Zeit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert mehr Wert auf die Verbreitung ihrer Ideen als auf die Kenntnis ihrer Namen gelegt."3'14 Daß dies offenbar aus Angst vor Verfolgung geschah, spricht Zeller nicht aus. Gottfried Arnold bezeugt,345 daß sich der Superintendent Lorenz Andreae in Weida (Thür.) in einem Brief an den Wittenberger Theologen Balthasar Meisner über einen Arzt beklagt, der Weigelsche Auffassungen vertrete und ihn „sehr exercire". In einem anderen Brief an Meisner ist die Rede davon, daß Weigel in Schwaben viele Anhänger habe, darunter J . Faulhaber zu Ulm. Colberg zählt zu den Anhängern Weigels u. a. die noch näher zu behandelnden Meth und Stiefel sowie J . Rauppe an der Universität Jena. 346 Ebenso bezeichnet er den Schneider Johann Bannier als Weigelianer, der aus Havelberg stammte, aber 17 Jahre zu Stargard in Pommern lebte. 1617 war Bannier nach Havelberg zurückgekehrt, hatte sich dann mit Gottschalk Bünting nach Danzig begeben und kam 1624 nach Lübeck. Zuvor war er bereits aus Dänemark und Schweden ausgewiesen worden. In Lübeck verhörte N. Hunnius im Januar 1625 Bannier unter Zeugen. Dem Verhör lag das „Verzeichniß der Irrthümer Johann Banniers" zugrunde, das Hunnius in einem persönlichen Verhör Banniers aufgesetzt hatte. Es lautet: 347 „1. Adam / und Eva haben ihre Kinder in Unzucht gezeuget / dieweil GOtt nicht verordnet / daß sie dieselben solten in Sünden zeugen. 2. Die abstinentia a conjugio, ejusq; actibus sey eine Frucht des Geistes / Gal. 5. und wer noch in der Ehe lebe / sey kein wiedergebohrner. 3. Henoch / von dem geschrieben stehet / er sey in einem Göttlichen Leben geblieben / und Söhne / und Töchter gezeuget / habe allein geistliche Kinder gezeuget / und nicht nach dem Fleisch. 4. Isaac sey nicht in Unzucht / und Sünden gebohren / dan er nach der Verheissung gezeuget / und nicht nach dem Fleisch. 5. Isaac sey nicht gestorben / sondern allein aufgelöset worden. 6. Der verbotene Baum / von welchem Eva gegessen / ist Adam gewesen / mit dem sie Kinder gezeuget nach dem Fleisch. 7. Die Schlange / die Evam verführet / sey weder die natürliche Schlange / noch der Teuffei / sondern die böse Lust. 8. Was in der Schrifft gemeldet sey von Mose / Josua / Paulo etc. sey nicht nach dem Buchstaben zu verstehen / sondern nach dem Geist . . . Was ist Christus? ein Gesalbter / nemlich einjeder wiedergebohrner. 9. Imgleichen die Historien müste man nach dem Geiste verstehen . . . Diese Auslegungen zu beweisen beruffte er sich einig / und allein auf die Unctionem, die Salbung / das Zeugniß des Geistes / dessen Einsprechen / und das innerliche Wort GOttes. 10. Die Weissagungen vom künfftigen Zustand der Christenheit seyn wahr / und was Nagelius geschrieben / habe er aus dem Heiligen Geist geschrieben / und ob es schon das Ansehen habe / als wäre etliches nicht erfolget / so sey doch vor W. Zeller, Der frühe Weigelianismus, a. a. O., S. 79. G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 2, a. a. O., S. 1113. 346 E . D. Colberg, Das Platonisch-Hermetische Christenthum . . . , a. a. O., S. 2 2 0 - 2 2 7 . 3« Vgl. C. H. Starcke, Lübeckische Kirchen-Historie, Bd. 1, a. a. O., S. 9 3 9 - 9 4 0 .

344

345

37

Wollgast

578

IX.3. DIE

„WEIGELIANER"

GOttes Angesicht tausend Jahr / wie ein Tag / es werde sich alles noch finden. Desgleichen / was von den Münsterischen Propheten verkündiget / sey noch nicht fürüber / es werde noch alles erfüllet werden / und liege nichts daran / daß es lang verziehe / den 100 Jahr vor GOtt / als keine Zeit zu achten. 11. Lutherum hält er hoch / als einen fürtrefflichen Propheten / aber seine Teutsche Bibel sey nicht richtig / habe viel Mängel / (welche er aus dem Novo Testamento Erasmi beweisen wolte). Wen man aber eine rechte Lutherische Bibel haben wolte / so sey die Straßburgische edition An. 1530 die beste / . . . 12. Sonst hatte er von den Creaturen mancherley seltzsame Gedancken / als / daß alles aus contrariis erschaffen / welches kundt wäre aus dem hefftigen Streit / den Sonn / und Mond wieder einander führen / dann sobalde die Sonne ihre Strahlen in den Mond schiesse / entstehe das grausame Blitzen / und Donnern / auch haben die Himmel ihre contrarietät / wie an ihrem Krachen abzunehmen / solches Krachen / obs schon niemand gestehen wolle / daß ers höre / so könne er es doch gar eigentlich hören . . . " Es ist näher zu prüfen, ob all das primär weigelisch ist. Bannier begründet seine Auffassungen nochmals in einem Brief an Hunnius vom gleichen Jahr 1625. Auch hier bezieht er sich ausdrücklich auf Arndts vier Bücher vom wahren Christentum. Von Weigel kein Wort, m. E. nicht nur aus Vorsicht. Gegen Bannier hat Johannes Corvinus, Pfarrer in Danzig, in der „Vorrede zweyer Theologischer Bedenken über ein Fanatisches Büchlein / dessen Titel: Spiegel oder Abriß der Greuel der Verwüstung (gedruckt 1623 zu Alten Stettin)" geschrieben. Bannier wurde noch 1625 aus Lübeck ausgewiesen, soll wieder nach Schweden gegangen sein und dort den Tod gefunden haben. Weiter rechnet Colberg zu den Anhängern Weigels Gottfried Friedeborn aus Pölitz bei Stettin, Sohn eines dortigen Pfarrers, und Adolph Held, ehemaliger Prediger zu Stade. Held wurde 1639 seines Amtes wegen „wunderbarer Meynungen des Chiliasmi und Weigelianismo" (J. H. Zedier) enthoben und starb in Altona, nachdem er einige Jahre in Bremen und in den Niederlanden gelebt hatte. Er soll unter dem Namen Elias Prätorius das Buch „Prüffung der Sache eines Evangelischen Predigers mit den Evangelischen Lutherischen Predigern" (Rotterdam 1646) geschrieben haben. Auch Christian Hoburg habe den Weigelianismus fortgepflanzt, und Joachim Betke gehöre ebenfalls zu den Anhängern Weigels.348 Ebenso hätten H. Lohmann und N. Teting 1624 im Holsteinischen mit ihren Weigelianischen Auffassungen „viel Unruhe angerichtet". Nikolaus Teting, auch Knutzen genannt, wurde zu Husum geboren.349 Er hat wahrscheinlich in Leiden studiert. In Flensburg wirkte er als Arzt. Hartwig Lohmann bekleidete ab 1616 in Flensburg das angesehene Amt des Stadtsekretärs. Zu ihrem Kreise gehörte Anna Ovenna, verehelichte Hoyers. Seit 1621 wurden Lohmann und Teting in Flensburg des Weigelianismus beschuldigt. Ein Bekenntnis zur „Confessio Augustana" lehnten beide ab und mußten daher die Stadt verlassen. In Husum weilten sie zeitweilig bei A. 349

E. D. Colberg, Das Platonisch-Hermetische Christenthum, a. a. O., S. 238-244. Vgl. zum folgenden E. Feddersen, Kirchengeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 2: 1517-1721, Kiel 1936-1938, S. 297-308.

N . TETING, A N N A OVENNA HOYERS

579

Ovenna Hoyers. Wieder wurden sie von der Geistlichkeit — und der weltlichen Obrigkeit — verklagt und mußten jetzt Schleswig überhaupt verlassen. Nach Walch haben Teting und Lohmann „Irrthümer" über den himmlischen Leib Christi, über die wesentliche Vereinigung Christi mit den Gläubigen, die unmittelbaren Offenbarungen, über die gänzliche Erfüllung des Gesetzes vertreten. Außerdem hätten sie den Krieg, den Eid und das Zinsnehmen für sündhaft erklärt.350 Lohmann hatte 1625 in Amsterdam seinen „Speculum fidei" erscheinen lassen, der 1638 nochmals erschien. Er wandte sich nach Kopenhagen, später nach Odense und rückte allmählich von seinen häretischen Auffassungen ab. Teting dagegen wird in dem „Ausführlichen Bericht von den neuen Propheten . . ." (Lübeck 1634) von N. Hunnius erneut wegen seiner Auffassungen angegriffen (vgl. Kap. VII). Tetings Verteidigung fruchtete nichts, er mußte seine neue Heimat — er hatte seit zehn Jahren in Hamburg gelebt — erneut verlassen. A. Ovenna Hoyers wandte sich in satirischen Versen gegen die neuerliche Verfolgung Tetings. Anna Ovenna Hoyers wurde um 1584 in Coldenbüttel bei Eiderstedt (Herzogtum Schleswig) geboren. Ihr Vater, ein reicher und angesehener Mann, verheiratete sie schon 1599 an Hermann Hoyers, den Landvogt der Landschaft Eiderstedt. Nach dem Tode ihres Mannes (1622) trat sie mit Teting in Verbindung. Ihr Gut wurde zum Treffpunkt vieler Oppositioneller. Sie selbst schrieb mystische Gedichte. Infolge ihrer Freigebigkeit geriet sie in Schulden und mußte ihr Gut verkaufen. Sie soll sich ab 1632 nach Schweden begeben und um 1633 in Gotland aufgehalten haben. Maria Eleonora, Witwe Gustavs I I . Adolf von Schweden, schenkte ihr nach 1648 in der Nähe von Stockholm ein kleines Landgut, wo sie 1655 starb. Nach dem allerdings nicht immer zuverlässigen Adelung habe die Ovenna in ihrer „Schwärmerzeit" kein Tier getötet, ausgehend von dem Gedanken der Seelenwanderung. Er fügt hinzu, diesen Gedanken könne sie aus Weigels Schriften gelernt haben. Schon G. Arnold erklärt, wie Adelung selbst zugesteht, diese Behauptung für eine Verleumdung.351 Die zeitgenössische Literatur, Anna Ovennas Verhalten und ihre Gedichte machen allerdings deutlich, daß sie Ideen Schwenckfelds, Paracelsus', der Rosenkreuzer, D. Joris' und — neben weiteren — auch V. Weigels verarbeitete. J. H. Feustking meint sogar: „Sie hat den Tetingium, welcher als ein Prophete / und grosser Wundermann auf ihrem . . . Gute gehalten und wohl versorget ward / mit Eyffer den Weigelianismus fortzupflantzen weit übertroffen." Das habe sie nicht nur „mit schmähen und lästern / ja gar in Schrifften und mit der Feder . . .gnugsam an den Tag gegeben."352 Sie habe 350 361

362

37«

J. G. Walch, Historische und theologische Einleitung . . . , a. a. O., S. 1072-1075. J. Chr. Adelung, Geschichte der menschlichen Narrheit, oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholden, T. 4, Leipzig 1787, S. 198. — „Narrheit" ist hier im Sinne von „anti-aufklärerisch" zu verstehen. J. H. Feustking, Gynaeceum Haeretico Fanaticum. Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen / Quäckerinnen / Schwärmerinnen / und andern sectirischen und begeisterten Weibes-Personen, Frankfurt und Leipzig 1704, S. 357. — Vgl. B. Becker-Cantarino, Werkbibliographie der Anna Ovena Hoyers, in: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten, Wiesbaden 12 (1985) S. 97-101. A . Ovenna Hoyers, Geistliche und weltliche Poemata (1650), hg. v. B. Becker-Cantarino, Tübingen

580

IX.3. DIE

„WEIGELIANER"

auch das evangelische Predigtamt sowie „alle Universitäten und Ministeria" verunglimpft, vor allem den Propst von Flensburg. Roe stellt zu A. Ovenna Hoyersfest: „In her quest after godliness she came upon the writings of Caspar Schwenckfeld, David Joris, and Valentin Weigel . . . There she found, among many extreme and curious theories, much that was alive with a real devotional spirit. Her poems are permeated with the phraseology of these men; and since her teachers were outlawed by the church, she could hardly expect a better fate herself." Weigels „influence upon Anna Owens is most apparent in the emphasis which she lays upon the necessity of an absolute renunciation of self-will, if the soul is to enter into communion with God and be taught by Him: Ich geb mich gantz in deinen Zwang, Und will dein seyn mein lebenlang. Fast ewer Seel gedultig in der still, Denn disz allein ist sein befehl und will."353 Jacob Taube von Isselburg, ehemals Prediger in Arnheim, soll in Lübeck, gemeinsam mit seinem Schüler Thomas Tanto, den Weigelianismus verbreitet haben. Dabei habe sich Taube auf Friedrich Breckling bezogen, in den „der Paracelsistische und Weigelianische Schmäh- und Lästergeist . . . gefahren" sei.354 Colberg führt zum Beweis eine Reihe von Schriften auf, die er für weigelianisch hält. Über Philipp Heinrich Homagius und Georg Zimmermann gibt es reichhaltiges urkundliches Material.355 Beide waren Lehrer am Pädagogium zu Marburg. Im Dezember 1619 traten sie mit ihren Auffassungen hervor. Sie wand1984, k o n n t e nicht mehr b e n u t z t werden. — E i n unentbehrliches A r b e i t s m i t t e l bei Beschäftigung m i t oppositionellem, mystisch orientierten Denken des 17. J h . i s t : J . Bruckner, A Bibliographical Catalogue of seventeenth-Century G e r m a n books published in Holland, a. a. O. 353 A. B. Roe, A n n a Owena Hoyers, a poetess of t h e s e v e n t e e n t h Century, B r y n Mawr / P e n n s y l v a n i a 1915, S. 48, S. 56. 354 E . D. Colberg, D a s P l a t o n i s c h - H e r m e t i s c h e C h r i s t e n t h u m , a. a. O., S. 246—247. — Vgl. zu J . T a u b e : J . H . Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wiss e n s c h a f t e n u n d K ü n s t e , Bd. 42, Leipzig u n d Halle 1744, Sp. 177-181. J . G. Reichel (Vitam, f a t a e t Scripta M. V a l e n t i n i Weigelii, a. a. O., S. 30—31) zählt u n t e r die A n h ä n g e r Weigels H u l d r e i c h Meiersbach v o n Regensbrunn, J o n a s ä Strein, E . Stiefel, E . Meth, P. Nagel, J . Böhme, P. Felgenhauer, Elias P r ä t o r i u s (Chr. Hoburg), die Rosenkreuzer u . a . ; J . A r n d t und J . G e r h a r d werden ausdrücklich v o m Verd a c h t des Weigelianismus freigesprochen. G. L i e f m a n n (Dissertatio de f a n a t i c i s Silesiorum et speciatim Quirino K u h l m a n n o , 4. ed., W i t t e n b e r g 1733, p. 25) m e i n t : „Val. Weigelius q u e m a d m o d u m in o m n i b u s ferecum Schwenckfeldio convenit, & utrisque egregius i n t e r p o l a t o r est Jac. Böhmius ,famosus ille Görlicensis Enthusiasta, ita a m b o n o n paucos o p i n i o n u m s u a r u m f a n a t i c a r u m a d m i r a t o r e s assertoresque in Silesia i n v e n e r u n t , q u o r u m insigniores, ne n i m i u m longa s u m a t u r oratio, hic c o m m e m o r a b o " . Zu diesen h a b e A. F u h r m a n n gehört. Darauf k a n n hier nicht eingegangen werden. 355 Vgl. K . W . H . H o c h h u t h , Mittheilungen aus der p r o t e s t a n t i s c h e n Secten-Geschichte in der hessischen K i r c h e , T. 1: I m Zeitalter der Reformation, Abt. 4 : Die Weigelianer u n d Rosenkreuzer, . .., a. a. O., S. 86—144.

P H . H . HOMAGIUS, G . ZIMMERMANN

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ten sich gegen die weltliche Schulbildung, vor allem an Hand der damals gebräuchlichen Schriften Vergils, Ciceros, Piatons, Aristoteles' u. a. Homagius und Zimmermann wurden zunächst vom Dienst suspendiert, dann in Gewahrsam genommen. Schon in einem ersten Verhör sagte Zimmermann, die Menschen seien in drei Gruppen zu unterteilen: „1. brutales oder sensuales, das sind Diejenigen, so mit groben und öffentlichen Sünden beladen; 2. rationales] dahin gehören Aristoteles und die Academici; 3. mentales, die da ihre Sinne und Herzen dem Herrn Christo gänzlich ergeben." 356 Bei einer Haussuchung wurden bei Homagius und Zimmermann einige Bücher Weigels und pseudoweigelische Schriften gefunden (wofür der „Tractatus de opere mirabili uldarici wegweisers utopiensis" steht). 357 Das „Informatorium" wird mehrfach erwähnt. Im Verhör vor dem geistlichen Ministerium, bei dem sich beide Verhörten als Propheten und Geistinspirierte gaben, beschuldigte Zimmermann die Anwesenden: „Ihr legt Euer Geld auf Wucher, Ihr steigert den Seckel, der arme Mann seufzt." Zimmermann und Homagius halten die Pfaffen für Mietlinge, die „die Heerde und die armen Schäflein helfen berauben, bestehlen und erwürgen"; sie hätten einen toten Glauben. 358 Beide fordern zur Buße auf, Wort und Tat müßten bei Christen übereinstimmen. Gott frage nicht nach Zeremonien. Beide „Häretiker" setzen ihr volles Vertrauen in den Landgrafen zu Kassel, ihr Protest richtet sich „nur" — sozial artikuliert — gegen die Geistlichkeit. Die landgräfliche Untersuchung ergab, „daß die weigelianische Schwärmerei nicht nur unter einigen Alumnen des Pädagogiums und in der Bürgerschaft zu Marburg hin und wieder Wurzeln zu schlagen begonnen, sondern daß dieselbe auch nach Aussen hin getragen wurde durch die vorübergehend bei Homagius und Zimmermann sich aufhaltenden Anhänger derselben. Zu den Letzteren gehörte namentlich Hans Wolf Holstein und die Brüder Philipp, Josias und Gideon Homberger." Verdächtig erschienen auch der Pfarrer zu Wanfried (bei Eschwege), Otto Langius, ein Doktor Conrad Seurinus und der Superintendent Georg Reinmann aus Eschwege. 359 Sie alle wurden vernommen; die letzteren leugneten eine Kenntnis von Weigels bzw. Zimmermanns und Homagius' 35« Ebenda, S. 92. 367 Ebenda, S. 89. — Die Titel der gefundenen Werke Weigels sind entweder nicht bekannt oder Hochhuth legte ihnen bei seinen Archivstudien keine Bedeutung bei. Nach brieflicher Mitteilung des Hessischen Staatsarchivs Marburg vom 24. 3. 1983 ist die offenbar von Hochhuth benutzte Akte (Best. 4 i 235) wohl später nicht wieder ausgewertet worden. SM Zit. nach ebenda, S. 96, S. 101. 359 Ebenda, S. 104, S. 105. Hier werden nur einige bei Hochhuth angeführte Namen genannt. — Gleichzeitig fanden in Gießen Untersuchungen wegen Weigelianismus statt. Die Professoren Nebelkron und M. Macrander wurden abgesetzt. C. Dieterich schreibt 1623: „Wie es mit den Weigelianischen Sachen und Händeln zu Gießen ein Ende genommen und wie darüber D. Nebelkron, D. Samuel und M. Macrander ihrer Professionen und Diensten entsetzt worden, wirst Du von andern berichtet worden sein. Zu Worms haben sie auch mit dem Grunio zu tun, welcher a Senatu naher Gießen geschickt worden, allda mit den Theologis zu konferieren; hat, wie ich vernehme, frei wacker geleugnet, wie unser gewesener Hofprediger, was er sonst public gepredigt gehabt. Die andern zu Gießen sind itz stille, wilt nunmehr keine mit der Sachen zu tun haben, weil sie gesehen, daß übel ausgelaufen. D. Kizel zeucht

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IX.3.

DIE

„WEIGELIANER"

Theorien. Holstein und Ph. Homberger müssen ihre Bekanntschaft mit beiden eingestehen, auch ihre Kenntnis von Rosenkreuzerschriften, nach denen die Untersuchungsrichter ausdrücklich fragen. Aus den Akten teilt Hochhuth zu Homagius' und Zimmermanns Glaubensbekenntnis u . a . mit: 3 6 0 Die ganze Bibel sei allegorisch zu verstehen. Gottes Wort ergebe sich nicht aus dem Buchstaben, sondern aus dem inneren Geist, es werde vom „lumen internum" gelehrt. Weigel, Paracelsus und die „Theologia deutsch" solle man vor allem lesen. Unter Berufung auf Weigel wird Gott für ewig und nicht ewig zugleich gehalten. Gleiches gelte für die Welt. Homagius teilt die Lehre vom himmlischen Fleisch Christi, von der himmlischen Eva sowie Weigels Auffassung, Christus habe nicht Adams Fleisch angenommen. Seine Vorstellung von der Trinität geht auf Paracelsus zurück. Auch die zehn Gebote seien allegorisch zu interpretieren. Die Spirituales (Weigels Renati) haben Sünde, tun sie aber nicht. Die „justitia imputativa" sei aus der Bibel nicht belegbar. Taufe und Abendmahl werden nicht als Sakramente angesehen. Die Kirche sei unsichtbar. Homagius spricht von drei Zeitaltern; in „tertio saeculo" gibt es keine Obrigkeit mehr. „Die Theilung der Güter repugnare legi naturae et scripturae, darwider sei sie eingeführt worden." Die eigentliche Reformation stehe noch aus, sie werde Blutvergießen erfordern. Calvins Prädestinationslehre wird abgelehnt, ebenso die Universitäten. Homagius „recommandirt scripta Weigelii und Theophrasti zu lesen, diese seien exquisitissimi illuminatissimi Kern-Theologi . . . 2. Die fratres R. C. seien . . . hocherleuchtete perfecte Christen-Männer, er halte höher von ihnen, als er mit dem Munde ausreden könne. 3. Die fratres R. C. und Theophrasti und Weigelii discipuli seien in Fundamental-Artikeln des Glaubens einig . . ." Hier begegnet uns die Verbindung des Weigelianismus mit den Rosenkreuzern, Zimmermann fügt die ausdrückliche Ablehnung des Eides hinzu. Er empfiehlt Paul Nagels Schriften, erklärt aber: „Wolle man sein Bekenntniß wissen, so suche man es in Weigelio, dabei bleibe er." 3 6 1 Auch Zimmermann bekundet seine Hochachtung vor der Fraternität der Rosenkreuzer, deren Vorbild er in der Gemeinde zu Philadelphia (Offb. 3, 7 - 1 4 ) erblickt. Hinsichtlich des Strafmaßes für die Marburger Weigelianer wurde ein Gutachten der theologischen und der Juristenfakultät zu Tübingen angefordert. Im Gutachten der theologischen Fakultät wird die Aussage der Weigelianer zu Marburg angeführt, „daß ihrer Societät und Conjuration wol über zweihundert zugethan sind, so anno 1621 herfürtreten und . . . eine neue Reformation vornehmen sollen . . .", 362 Daraus schließt die Fakultät auf die Genoch draußen herumb, hat sich seit währender commission nicht praesentiren wollen: J . F . G. aber haben befohlen, ihn zu citiren. Die Leut wollen mit dem Weigelianismo nichts zu tun haben und haben doch des Nollii speculum, welches lauter Weigelianisch, nicht wollen confiscirt noch supprimirt haben, nur den Theologis zuwider, welche sie zu Klägern haben machen und einen Juristischen Prozeß mit ihnen anfangen, welches, als es ihnen mislungen, sind sie darnach zornig und böse worden und haben doch niemand geschadet, als ihnen selber" (H. Dieterich, D. Konrad Dieterich . . . und sein Briefwechsel, a. a. O., S. 4 6 ; vgl. S. 47). 360 Ebenda, S. 1 1 3 - 1 1 7 . 361 Ebenda, S. 1 1 6 - 1 2 0 . 362 Ebenda, S. 127 f.

CHR. A . RASELIUS,

ST.

GRUNIUS

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fahr eines Aufstandes. Homagius wurde zu lebenslänglichem Kerker verurteilt. Zimmermann durfte öffentlich widerrufen, danach wurde, er auf ewig des Landes verwiesen. Auch zwei Alumnen des Pädagogiums (Johann von Segar und Heinrich von Ittersum) erfuhren Landesverweisung. All dies geschah im Juli 1620. Zimmermanns Widerruf war jedoch nur vorgetäuscht. Homagius vermochte sich aus der Haft mit Gesinnungsgenossen wie dem Pfarrer Peter Weber zu Butzbach und H. Nollius in Gießen in Verbindung zu setzen. Er soll schließlich 1626 gestäupt und des Landes verwiesen worden sein. „Zimmermann dagegen soll sich nach Holland zu den Wiedertäufern begeben haben und dann in einer Hanse-Stadt gestorben sein." 363 Tatsächlich jedoch führt Zimmermanns Spur nach Tübingen. Ein Zusammenhang zwischen dem Kreis um Andreae, den Rosenkreuzern und dem Weigelianismus wird auch von hieraus verständlich. Auch Christoph Andreä Raselius (Roselius) wird zu den Weigelianern gezählt. Gebürtiger Regensburger, studierte er 1609 in Wittenberg, wurde nach 1614 Pfarrer zu Immekeppel im Bergischen, nach 1622 zu Schwarne an der Weser. Beide Stellen verlor er wegen seiner oppositionellen Auffassungen. Wie aus seinen Schriften hervorgeht (vgl. Kap. VII, Fußnote 46), ist er geistig eher Paul Felgenhauer verwandt, obwohl es auch Berührungspunkte mit Weigel gibt. Also: Nicht alle der hier Genannten sind „orthodoxe" Weigelianer. Stephan Grunius war seit 1612 Pfarrer in Worms. 1623 wurde er des Weigelianismus beschuldigt. Er hatte u. a. die Teilung des Menschen in Leib, Seele und Geist gepredigt. Grunius wies den Vorwurf des Weigelianismus zurück; er habe nie mit dieser „Sekte" zu schaffen gehabt. Er widerrief dennoch seine „Irrtümer", predigte aber weiter im Sinne Weigels. Landgraf Ludwig V. von Hessen-Darmstadt schreibt am 8 . 8 . 1624 an Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen in einem ausführlichen Brief zu dieser Angelegenheit: „Wann es dann ahn dem ist, daß das schädliche gifft solcher neuwen schwermerey die Burgerschafft zue Wormbs vnd andere Reichs Städt, zuemahl auch unsere alls eines Benachbarten Stadts einfeltige vnderthanen gar leuchtlich inficiren, vnd neben lesterung der Ehren gottes, auch Zerrüttung, aufruhr, vnd Verwicklung aufrichten könte, Welchen ungelegenheitten im anfangk desto vleißiger vorgebogen sein will, weill mann weiß unncl erfahren hatt, was anderßwo, aus noch geringeren bösen Principijs vor großer Jammer entsprungen." 3(i,i Also wurde Grunius wegen Verdachts der Erregung von Auf363 Ebenda, S. 144. — A. Ovenna Hoyers machte auf die Verurteilung Zimmermanns und Homagius' in Marburg ein Gedicht (ebenda, S. 144ff.), in dem sie ihre Bewun" derung für beider Lehre ausdrückt. Der Weigelianismus in Hessen schien untere drückt. Aber 1640 sah sich noch der Marburger J . Crocius, der in der Untersuchung gegen Homagius und Zimmermann eine führende Rolle gespielt hatte, genötigt, einen „Antiweigelius" zu verfassen. (Vgl. H. Heppe, Kirchengeschichte beider Hessen, Bd. 2, Marburg 1876, S. 142.) 3 6 4 Staatsarchiv Dresden: Geh. R a t (Geh. Archiv), Loc. 10165, Der des Weigelianismus wegen des Amts entsetzte Prediger Stephanus Grunius zu Worms, 1624, Bl. 2. — Vgl. K. W. H. Hochhuth, Mittheilungen aus der protestantischen Secten-Geschichte in der hessischen Kirche, Teil 1: Im Zeitalter der Reformation, Abt. 4 : Die Weigelianer und Rosenkreuzer. Grunius und Nollius, a. a. O., S. 169—188.

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IX.3.

DIE

„WEIGELIANER"

rühr, aus politischen Gründen, verfolgt! Letzten Endes sind es immer politische Gründe, die sich hinter der Verfolgung der „Weigelianer" verbergen. Selbst der orthodoxe Opel muß für Zimmermann und Homagius zugeben: „Bei ihrer Verurtheilung scheinen jedoch ausschließlich politische Motive, vor Allem die Furcht vor theokratisch-demokratischen Bewegungen den Ausschlag gegeben zu haben." 3 6 5 Die Angst vor demokratischen Folgerungen aus der Lehre Weigels war also einer der entscheidenden Beweggründe der postumen Verfolgung seiner Ideen! Auch auf die englischen Puritaner soll Weigel gewirkt haben. 366 Meines Erachtens wird auch Weigel getroffen, wenn sich Hunnius' bereits mehrfach zitierte, 1634 erschienene Schrift vornimmt, „der Erleuchteten, oder newen Propheten / meidung zuthun. / Das ist eine Gesellschaft / die von dem Carlstadischen / Müntzerischen / Wiedertäufferischen / und Schwenckfeldischen Geist getrieben / dieselbe alte Irrthumb in der Christenheit außsäet / unnd auff einen Hauffen zusammen raspelt / was fast alle / alte und newe Ketzer / wider die seligmachende Lehr unser Kirchen auffgebracht / unnd sie damit geplaget / unnd getrucket haben . . ." :!67 Wer zwischen 1620 und 1649 in Deutschland für Glaubensfreiheit und Toleranz eintrat, sich gegen den Krieg aussprach, wurde kurzweg als Weigelianer bezeichnet. Aus dieser Sicht kann die Nachricht stimmen, zwischen 1616 und 1624 seien mehr als 300 Weigelianer in Nürnberg gewesen. Unter den Nürnberger „Weigelianern" befanden sich Kaufleute und viele Handwerker. Sie vertreten den Täufern der Reformationszeit, Schwenckfeld, Böhme, Weigel eigentümliche und verwandte Lehren. Manche Namen lassen darauf schließen, daß wir es mit Abkömmlingen niederländischer Täufer zu tun haben, welche hundert und mehr Jahre zuvor nach Nürnberg eingewandert sein mögen. Sie sind einig im entschiedenen Widerstand gegen die bestehende Kirche undderen„Gnadenmittel". Schon 1618 waren in Nürnberg „allerlei Schwenckfeldische Tractätlein" beschlagnahmt worden, die angeblich V. Weigel einst dem Druck übergeben hatte. 1622 werden einige mutmaßliche Weigelianer verhört. Der Pfarrer Wolfgang Siebmacher von St. Leonhard soll 1624 des Weigelianismus bezichtigt und sofort seines Amtes entsetzt worden sein. Der Österreicher Paul Math genoß 1625—28 als Exulant den Schutz der Stadt, bis er „in öffentliches Geschrey irriger und in specie Weigelianischer Lehr und Schwärmerey" geriet und Nürnberg verlassen mußte. Van Dülmen rückt Math in die Nähe Schwenckfelds, die mitgeteilten Bruchstücke aus seinen Auffassungen können m. E . aber auch durchaus weigelianisch sein. Die häretische Gruppe in Nürnberg steht wahrscheinlich mit den schon 1622 des Weigelianismus Verdächtigten im Zusammenhang. Nach van Dülmen handelte es sich aber eher um Schwenckfeldianer als um Anhänger Weigels. Intensive Kontakte pflegte diese Gruppe u. a. mit Straßburg, Frankfurt/Main, Danzig und Schlesien. Ihr Haupt war wohl der angesehene Nürnberger Handelsmann Nikolaus Pfaff. E r kannte u. a. den Frankfurter Buchhändler J . O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S 300. 366 Ebenda, S. 307 ff. 367 Außführlicher Bericht Von Der Newen Propheten (die sich Erleuchtete / Gottesgelehrte / und Theosophos nennen) . . . , a. a. O., Vorrede b II b.

V E R H Ö R E DER NÜRNBERGER

GRUPPE

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und Kupferstecher Matthias Merian, den Sozinianer und Keplerfreund Florian Crusius aus Danzig, Abraham von Franckenberg und Homagius. Die von Pfaff geführte Bewegung wurde aufgedeckt, als man bei dem Glasschneider Georg Schwanhart eine „weigelianische" Schrift beschlagnahmte. 1640 fand eine Befragung der Verdächtigten statt, deren Protokoll erhalten geblieben ist. Im Aktenstück werden die Befragten namentlich aufgeführt, die ihnen vorgelegten 32 Fragepunkte und ihre Antworten einzeln verzeichnet. 368 Die Verhörten heißen: Caspar Werlin, N. Pfaff, G. Schwanhart, Georg Gellmann, Johann van der Houven, Hans Barthel Coster, Andreas Coster, Peter Credon, Johann Faber, Johann Benedikt Haßler, Jacob Hepner, Hans Startz. Als der radikalste von ihnen erwies sich Pfaff, der auf die erste Frage: Ob es Gottes Wort gemäß sei, wenn die Obrigkeit ihre Untertanen wegen ihrer religiösen Überzeugung zur Verantwortung ziehe, erklärte, „er gestehe rotundo, daß er nicht lutherisch oder hiesiger Religion sey, begehre auch nimmermehr sich dazu zu bekennen, vielweniger so genannt zu werden. Wolle man ihn aber hier nicht logieren lassen, so wolle er weiter gehen und suchen, ob er ander Orthen möchte geduldet werden." Auf alle weiteren Fragen verweigerte er die Antwort. Die Frage, ob die Obrigkeit von Gott verordnet sei, bejahte fast jeder, z. T. unter Berufung auf die paulinischen Schriften. Nur Gellmann wies die Frage ab. Das Recht der Obrigkeit, Todesstrafen zu verhängen, verneinte keiner. Das Recht, Kriege zu führen, wird einhellig verneint: Christus habe befohlen, die Feinde zu lieben, auch lieber Unrecht zu leiden, denn Unrecht zu tun, sagte der Barbier Gellmann. Hans Barthel Coster bezeichnete sich als einen Friedensmann. Ob man Prozesse führen dürfte, bejahte nur Schwanhart uneingeschränkt; die anderen bemerkten: Nach Christi Regel sei es nicht recht; es wäre besser, man rechte nicht — ja, wenn man Recht Recht sein ließe; das Recht habe eine „wixene" Nase. Alle Befragten erklärten die Augsburgische Konfession nicht für ihr Bekenntnis. Das „Apostolicum" wollten sie gelten lassen, aber auch in unterschiedenem Sinn: Werlin und Schwanhart „nur nach dem Buchstaben"; Gellmann „nach der Schrift"; van der Houven „nach dem Geist". Fast einhellig trennten die Verhörten „das selbständige und das geschriebene" Wort Gottes. „Die Bücher des Alten und Neuen Testaments seien nur ein Zeugnis und nicht Gottes Wort, denn Gott sei das Wort", meinte Faber. Gellmann erklärte, „Christus predige selbst aus den Rechtgläubigen", doch sei er nur ein Wort. A. Coster sagte, Christus sei das lebendige Wort, das äußerliche zeuge von ihm. Für P. Credon gilt das äußere Wort als ein Zeugnis Christi, „wenn es aber wirkt, so tuts das innere Wort, nämlich Christus". Damit stimmt überein, daß A. Coster auf die Frage, ob die Predigt des Schriftwortes ein Mittel zur Seligkeit sei, erklärt: „er getraue ihm wohl, ohne die äußerliche Predigt selig zu werden", während der Glasschneider Startz vermittelnder urteilt: „er höre gern von Gottes Wort reden; sei auch nötig zur Seligkeit." 368

Zum folgenden: H. Clauß, Weigelianer in Nürnberg, in: Beiträge zur Bayerischen Kirchengeschichte, Erlangen 21 (1915) S. 2 6 7 - 2 7 1 . - Vgl. R. van Dülmen, Zum Weigelianismus in Nürnberg, a. a. O., S. 107ff.

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IX.3.

DIE

„WEIGELIANER"

Als das rechte Mittel Gottes zur Seligkeit erklärten die Nürnberger Verhörten „Christus" oder „den hl. Geist" oder „die Liebe". Einige meinten auch, Gott brauche überhaupt kein Mittel. Keiner antwortete lutherisch, daß der Glaube selig macht. Glaube und Liebe werden von den Nürnberger „Weigelianern" geradezu identifiziert, aber der Liebe noch der Vorzug gegeben: „Glaube und Liebe sind eins, doch ist die Liebe des Glaubens Fundament", sagt H. B. Coster; „die Liebe ist das Größte, durch die Liebe wolle er selig werden", der Organist J . Benedikt Haßler. Alle nahmen das Recht für sich in Anspruch, in Glaubenssachen ihrem eigenen Standpunkt gemäß zu entscheiden und keiner geistlichen Autorität Untertan zu sein. Bisweilen wird eine bis zu fanatischem Haß gehende Abneigung gegen die offizielle Kirche erkennbar. Auf die Frage, ob in Glaubenssachen jedes Pfarrkind das Recht zu eigenem Urteil habe, brach van der Houven los: er sei kein Pfarrkind, wisse auch von keinem Pfarrer, gehe auch in keine Kirche oder Predigt, denn in denselben schände und schmähe man nur, wie er bei dem vor einem J a h r angestellten Verhör 3 6 9 erklärt habe; die Kirchen seien Hurenhäuser. Van der Houven sagte weiter, Gott rede mit jedem Menschen unmittelbar, ohne das Medium des Wortes, auch ohne Christus; ihn habe GottVater zuerst ergriffen und dann erst zur Erkenntnis Christi geführt. Die Frage, ob das Wort Gottes, von einem ein sündhaftes Leben führenden Prediger verkündigt, wirksam sei, wird einmütig verneint. Doch wollen nicht alle das Predigeramt überhaupt verwerfen, weil etwa sein Trägpr mit Mängeln und Fehlern behaftet sei. Die Kirchengegnerschaft kommt besonders bei den Fragen über Berechtigung und Wert von Beichte, Taufe und Abendmahl zum Ausdruck. „Sie wüßten von keiner Beichte im neuen Testament", erklärten die beiden Coster. Nach Credon ist die Beichte „kein Stück des Predigtamtes und komme jedem Christen zu". Gellmann erklärt: „Sünden zu vergeben stehe jedem Christen zu, aber Beichthören niemandem, sei weder von Christus noch von den Aposteln befohlen." Startz meint: „sein Beichtvater sei allein Christus", und Faber hält von der Beichte „ganz nichts". Die Wassertaufe sei nur „ein Zeugnis". Ein einziger will sie für ein Bad der Wiedergeburt ansehen; ein anderer meinte, sie sei ein Mittel zur Seligkeit bei den Kindern, die jung sterben; sonst mache die Taufe niemanden selig, „der die Liebe nicht habe". Von der Kindertaufe stehe nichts in der Bibel. Das Abendmahl sei nur ein Gedächtnismahl, kein Mittel zur Seligkeit und auch nicht als ausdrückliches Gebot von Christus eingesetzt. Credon erklärte: „er kommuniziere täglich mit seinem lieben Gott und gehe täglich mit ihm in die Predigt." Gellmann behauptete sogar: „statt zur Seligkeit zu helfen stärke das Abendmahl die Leute vielmehr in ihren Sünden." Die Mehrzahl der Nürnberger Gruppe sagt vom Wiedergeborenen aus: „Er sündige nicht, habe aber Sünde", „er könne Sünde tun, lasse sie aber nicht herrschen". Gellmann unterscheidet: „Lust sei keine Sünde; ein anderes sei 369

„Die Weigelianer . . . wurden alljährlich einem obrigkeitlichen E x a m e n unterzogen, um ihre innere Weiterentwicklung im Auge behalten und zur rechten Zeit eingreifen zu k ö n n e n " (ebenda, S. 269).

VERHÖRE DER NÜRNBERGER

GRUPPE

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Lust haben, ein anderes das Tun." Chiliastische Ideen werden außer von van der Houven abgelehnt. Über die Trinitätslehre denkt mehr als die Hälfte der Beteiligten häretisch. Sie erklären: „Es sei ein Gott Vater Sohn und Geist, wie er sich geoffenbart; aber nicht drei unterschiedene Personen; das Symbolum Athanasii rede nicht mit der Schrift." Gott sei keine Person, sondern ein Geist, „und also nicht drei Personen". Faber sagt: „es seien nicht drei Personen; wenn man wolle, könne man zwölf daraus machen, weil Gott auch König, Fürst etc. genannt werde." Er verflüchtigt also den Begriff der Person zum bloßen Namen. (Dieser Gedanke ist auch bei Weigel zu finden.) Nur vier der Befragten bejahten die kirchliche Trinitätslehre vorbehaltlos. Man sollte gelegentlich untersuchen, ob hier nicht auch sozinianisches Gedankengut einströmt. Altdorf und Nürnberg liegen nahe beieinander, der Kryptosozinianismus in Altdorf hat sich nicht nur auf die dortige Universität beschränkt, zudem bestanden ja auch Verbindungen zu F. Crusius. Hinsichtlich der Christologie differieren die Ansichten. Einige vertreten einen Dyophysitismus; andere beschränken sich auf die Formel „Gott und Mensch in einer Person", ohne sich auf eine nähere Erklärung einzulassen. Für van der Houven und H. B. Coster ist auch die menschliche Natur von Ewigkeit her. Nach Haßler hat Christus ein geistliches Fleisch vom Himmel mit her abgebracht. Am ausführlichsten äußert sich Gellmann: „Es sei ein Christus; von zwei Naturen stehe nichts in der Schrift sondern sie sage: Gott und Mensch. Als er die Lehre des Symbolum Athanasii darüber gelesen, seien ihm die Haare gen Berg gestanden. Er habe über diese Lehre mit den Herren Predigern gestritten und sie in faciem neue Pharisäer gescholten; und wenn die (weltliche) Obrigkeit nicht wäre, dann wären er und seines gleichen von ihnen schon längst persequiert worden wie Christus von den Pharisäern. Er sei auch nicht mehr gewillt, mit den Kirchendienern zu konvenieren, sintemal keiner unter ihnen selbst die Erkenntnis Christi habe." Betrachtet man die Aussagen der Verhörten insgesamt, so ergibt sich: Sie dürften nicht alle Weigelianer gewesen sein. Nach der Befragung wurden bis 1644 keine weiteren Schritte gegen diese Gruppe unternommen. 1644 wurden J . van der Houven und G. Gellmann als die eigentlichen „Rädelsführer" angeklagt. Bei van der Houven wurde Chr. Hoburgs „Spiegel der Mißbräuche des Predigtamts" entdeckt, als „weigelianische Lästerung" beschlagnahmt und eine Untersuchung eingeleitet. Die Untersuchungen dauerten jahrelang an. Der Rat verhängte — gegen den Widerstand der Geistlichkeit — äußerst milde Urteile. 370 Auch hier erklärte der Hauptfeind der „Weigelianer", der Prediger Johann Saubert, aus der weigelianischen Lehre erwüchsen vor allem Gefahren für die Obrigkeit, umstürzlerische Ideen. 371 1646 bzw. 1647 wurden die Nürnberger „Weigelianer" der Stadt verwiesen. Der ehemalige Bürger und Ratsmann zu Havelberg, Pantaleon (Pantel) Trapp, verteidigte noch 1637 von Holland aus, wo er Zuflucht gefunden hatte, 370 y g i R v a n Dülmen, Zum Weigelianismus in Nürnberg, a. a. O., S. 127ff. 371 Ebenda, S. 131.

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I X . 3 . DIE

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entschieden den Weigelianismus. 372 Wenn auch er die Weigelianer vor dem Vorwurf zu reinigen suchte, sie wollten den Stand der Obrigkeit aufheben, so muß doch wohl diese Auffassung eine gewisse Verbreitung gehabt haben. Nachdem sich der Drucker Lucas Jennis in Frankfurt/Main niedergelassen und weigelianische Traktate zu drucken begonnen hatte, tauchte auch hier weigelisches Ideengut auf. 373 Zwischen 1623 und 1646 wurden Klagen über das Wirken von Weigelianern in Frankfurt / M. laut. So wurde dem Frankfurter R a t von der lutherischen Geistlichkeit 1646 mitgeteilt, aus Nürnberg und Hanau vertriebene „Weigelianer" wollten sich in Frankfurt ansiedeln. Untersuchungen über Hilarius Prache stehen offenbar noch aus.37'* Nach Schulbesuch in Breslau, einem Aufenthalt in Ungarn, nach Studium in Altdorf und Leipzig, nach einigen Jahren Erziehertätigkeit wurde er 1650 Pastor in B a d Diersdorf im Herzogtum Brieg. E r übersetzte in seiner Amtszeit u. a. des J e d a j a Bedarschi (Hapenini) „Bakkascha" ins Lateinische und versah sie mit Anmerkungen. Auch A. von Franckenbergs „Notae mysticae" gab Prache heraus (o. O., 1673). Gleichzeitig las er „nicht nur der Fanaticker Schriften fleissig (z. B . Böhms, Val. Weigels), sondern scheuete sich auch nicht, deren irrige und Seelenschädliche Lehrsätze seiner Gemeinde einzuflössen". Deshalb wurde er 1661 abgesetzt, 1662 wieder Pastor in Goldberg, machte sich aber auch hier mißliebig, erwirkte selbst 1669 seine Entlassung und wandte sich den Schwenckfeldern zu. 1674 ging er mit seiner Familie nach London, trat zu den Quäkern über und arbeitete in London und Cambridge als Übersetzer und Korrektor „in den Buchdruckereyen seines Schwanns". Ehrhardt rühmt seine ausgezeichneten orientalischen und „rabbinischen" Sprachkenntnisse. In London soll er auch S. Francks „Von dem Bawm deß wissens Gütz und böß . . . " übersetzt haben. Prache ist offenbar keine Ausnahme, eine gründliche Untersuchung der Anhänger Weigels würde weitere Erkenntnisse bringen. Noch 1657 reiste der Pfarrer von Wetzhausen bei Hofheim (Unterfranken), J a c o b Merckius, nach Tübingen, „da man ihn des Weigelianismi beschuldigte", um „von dem dasigen Consistorio ein Zeugnis seiner reinen Orthodoxie zu holen". 3 7 5 Merckius stammte J . O. Opel, Valentin Weigel, a. a. O., S. 319. — Vgl. A. Tholuck, Lebenszeugen der lutherischen Kirche aus allen Ständen vor und während des dreißigjährigen Krieges, Berlin 1859, S. 4 4 8 - 4 5 2 . 373 Ebenda, S. 303. — Vgl. H. Dechent, Kirchengeschichte von Frankfurt am Main seit der Reformation, Bd. 2, Leipzig — Frankfurt a. M. 1921, S. 55. 374 Vgl. S. J . Ehrhardt, Presbyterologie des evangelischen Schlesiens, T. I I : Die Protestantische Kirchen- und Prediger-Geschichte der Stadt und des Fürstenthums B R I E G , Liegniz 1782, S. 343—348. — J . H. Zedier (Grosses vollständiges UniversalLexikon, Bd. 54, Leipzig und Halle 1747) referiert unter dem Stichwort „Weigelianer" (Sp. 303—326) zwar ausführlich die Auffassungen Weigels, auf denen die „Weigelianer" basierten, nennt namentlich als „Weigelianer" aber auch nur E . Stiefel, E . Meth, N. Teting, H. Lohmann, A. Held, G. Friedeborn, A. Fuhrmann, G. Zimmermann, Ph. H. Homagius, J . Bannier, G. Bünting, Chr. A. Raselius, Chr. Hoburg, J . Betke und F . Breckling. Bei Fuhrmann zweifelt Zedier den von Colberg erhobenen Vorwurf des Weigelianismus a n ; Hoburg, Betke und Breckling zählt er eher unter die Anhänger Böhmes. Selbst Zeller (Der frühe Weigelianismus, a. a. O., S. 79—84)vermag keine neuen Namen zu nennen bzw. Aufklärungen über Weigels Editoren zu geben. 3 7 5 J . M. Große, Historisches Lexikon Evangelischer Jubelpriester . . . , T. 1, Nürnberg 372

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aus Württemberg und war zuvor u. a. Pfarrer in Schlesien (Groß-Glogau) und Rentweinsdorf in Franken gewesen. Auch G. W. Leibniz hat sich mit Weigel beschäftigt. 376 Auf 10 bzw. 15 Blättern seiner hinterlassenen Handschriften machte er sich genaue Notizen aus Weigels „Dialogus de Christianismo", dem „Güldenen Griff", dem „Ort der Welt" und der „Auslegung der Offenbarung Jesu Christi Paul Lautensacks". Dabei hat ihn neben den philosophisch-theologischen Auffassungen Weigels auch das mathematisch-mystische Zentrum- und Zirkelsymbol interessiert. 377 Für G. Arnold und andere zeitgenössische Autoren gilt Esajas Stiefel als einer der wichtigsten Anhänger Weigels. Wenn man feststellt, daß sich J. Böhme in zwei Arbeiten gegen Stiefel wandte, 378 zugleich aber Böhme für wesentlich von Weigel beeinflußt hielt, so tut sich hier ein augenscheinlicher Widerspruch auf. Dieser ist lösbar, wenn wir Stiefels Auffassungen etwas näher betrachten. Esajas Stiefel wurde zwischen 1556 und 1564 als Sohn eines Tuchmachers und Tuchhändlers in Langensalza (Thüringen) geboren, 379 in späteren Jahren war er selbst ein weitgereister Händler. 1604 geriet er mit dem Rat und den Theologen seiner Heimatstadt in Konflikt, weil er seine Kinder von Schule und Kirche fernhielt und mit „schwärmerischen Ideen" hervortrat. Im Jahre 1605 mußte er sich vor dem Konsistorium in Leipzig wegen seiner „Irrlehren" verantworten. Er hatte sechs Fragen zu beantworten, so, ob er sich für Christus halte und ob, wer sich ihm widersetze, den Heiligen Geist lästere. Stiefel sagte aus, die Gläubigen sündigen nicht und er sei kein Sünder, es bedürfe keiner Absolution und keines Predigtamtes, das Abendmahlssakrament sei ohne Kraft, die Kindertaufe überflüssig. 380 In einem Verhör in Langensalza hatte er am 12. 2. 1605 erklärt, aus ihm spreche Christus, er sei nicht nur nach der Kraft, sondern auch nach dem Wesen Christus; sein Fleisch und Blut sei Christi wesentliches Blut, er brauche nicht zur Kirche zu gehen 1727, S. 321. — Noch 1755 werden (Neue Beyträge von Alten und Neuen theologischen Sachen . . . Auf das Jahr 1755, Leipzig 1755, S. 862-882) „M. Valentini Weigelii irrige Lehren aus heiliger Schrift widerleget aus Mosemanni politischer Kayser-Chronicke LIV, p. 206 seqq." abgedruckt. Gemeint ist: H. Fabronius Mosemannus, Monarchia Caesarea: Politische Keyser-Chronica / Und Historische Beschreibung der grossen Monarchia des Römischen Keyserthumbs, 2. Ed., Darinnen beygefüget / was sonderlich bei der Regierung Keyser Ferdinand II. bis auffs Jahr Christi 1627 zugetragen, Schmalkalden 1627, S. 2 0 6 - 2 2 3 . 376 Ygi Leibniz-Nachlaß der Niedersächsischen Landesbibliothek zu Hannover, L H I (Theol.) 5, 4 Bl. 1 - 1 0 . 377 VGL. D. Mahnke, Die Rationalisierung der Mystik bei Leibniz und Kant, in: Blätter für deutsche Philosophie, Berlin 13 (1939) S. 1 - 7 3 , bes. S. 4, S. 13; G. W. Leibniz, Die Theodizee, a. a. O., S. 4 0 - 4 1 (Einl. § 9). 378 J. Böhme, Anti Stiefelius I . O d e r : Bedenken über Esaiä Stiefel's Büchlein: Von Dreierlei Zustand des Menschen und dessen neuer Geburt. Geschrieben im Jahre 1621, in: BSW, Bd. 7, a. a. O., S. 138ff.; J. Böhme, Anti Stiefelius II. Oder: Vom Irrthum der Sekten Esaiä Stiefel's und Ezechiel Meth's, betreffend die Vollkommenheit des Menschen . . . Geschrieben im Jahr 1622, in: ebenda, S. 165ff. 379 Vgl. P. Meder, Der Schwärmer Esajas Stiefel, a. a. O., S. 98. 380 Vgl. G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 3, a . a . O . , S. 33—35; C. F. Göschel, Chronik der Stadt Langensalza, Bd. 3: Vom Jahr 1539 bis zum Jahr 1648, Langensalza 1905, S. 105-134.

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und die Predigten zu hören, denn der Heilige Geist habe ihn hinreichend und vollkommen belehrt und unterrichtet. E r brauche und dürfe nicht beichten, er wisse weder von einem zeitlichen noch von einem ewigen Tod der wahren Christen. Stiefel wurde nach dem Leipziger Verhör nach Langensalza zurückgeschickt und dort inhaftiert. Lange versuchte man, ihn mittels physischen und psychischen Drucks zum Widerruf zu bringen; so setzte man seine Aussagen immer wieder mit Müntzers Auffassungen gleich. Schließlich gab Stiefel die ihm abgerungene eidliche Erklärung der Rechtgläubigkeit und siedelte anschließend mit seiner Familie in das schon damals zu Erfurt gehörige Dorf Gispersleben über. In Langensalza hinterließ er eine Gemeinde von Gleichgesinnten, mit denen er in Verbindung blieb. In Gispersleben hielt sich Stiefel ruhig, verfaßte aber „etliche Tractätlein". 381 Ein Gesinnungsgenosse Stiefels war Ezechiel Meth, Stiefels Schwesternsohn. Meths Vater war Arzt und Paracelsist. E. Meth hatte die Fürstenschule in Pforta besucht und in Langensalza ebenfalls eine Gruppe geschaffen, die nicht zur Kirche ging und auch nicht am Abendmahl teilnahm. Er beschuldigte die Theologen, nicht Gottes Diener zu sein und Christi Wort nicht zu verkünden. In anderen Auffassungen findet sich ebenfalls starke Übereinstimmung mit Stiefel. Da er seine Auffassungen nicht zurücknahm, wurden er und seine Anhänger 1614 vor das Oberkonsistorium nach Dresden zitiert. Die Angelegenheit muß auch hier größtes Aufsehen erregt haben, wovon u. a. eine in der Sächsischen Landesbibliothek (Dresden) erhaltene Flugschrift zeugt. 382 Neben der im Titel der Flugschrift enthaltenen Hauptbeschuldigung finden sich 12 häretische Punkte, die E. Meth zur Last gelegt wurden und zu denen er sich auch bekannte: Predigtamt, Taufe, Abendmahl seien unchristlich; da Christus in den wahren Gläubigen wohne, seien sie unsterblich. „12. Das keine Aufferstehung der Todten / auch kein Ewiges Leben sey / dann sie alberet ein mahl der Welt gestorben weren / und die Freude des Ewigen Lebens / welche Christus verheissen an jhren Leben gewiß und volkömlich Empfinden." Sündigen könne der wahre Christ nicht; da Christus, also Gott, in ihm wohne, würde ja dann Gott sündigen. Diesen zwölf Punkten ist das Kurfürstliche Mandat Johann Georgs I. von Sachsen beigefügt. Es wiederholt und kommentiert nochmals die zwölf Hauptpunkte. Das Mandat verurteilte Meth — und den in den zwölf Punkten als Vorbild genannten Stiefel — als halsstarrigen „Gotteslesterer Schwermer und auffwiegler". Das ganze Land wird vor ihnen und ihrem Anhang gewarnt. Meth und seine Anhänger widerriefen in Dresden und wurden dann nach Langensalza zurückgeführt. Einige hartnäckige Methianer wurden auch auf die Festungen Königstein und Hohnstein geschickt. Anschließend nahm der Erfurter Rat das Verhör von Stiefel auf und zitierte 381 Vgl, seine eigene Aussage im Brief an C. von Rüxleben vom 26. 6. 1613, in: Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen, Leipzig 1712, S. 787-792. 382 Newe Zeytung. Churf. Sächsisch Mandat / Bericht: Und Artickel / von den new erstandenen Ketzer Ezechiel Meth von Langen Saltze / welcher neben seinen Anhang Vorgeben: E r sey Christus / und Gottes Sohn auch andere GOttesterungen [sie!] mehr . . ., o. O. 1614. — Vgl. G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 3, a. a. O., S. 41.

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ihn am 19. Februar 1614, nachdem der Langensalzaer diesen entsprechend informiert hatte. Stiefel hatte 18 Fragen zu beantworten.383 Er leugnete, daß er sich für Christus halte, aber Christus sei in ihm. Er bestritt, daß er Predigtamt, Sakramente und Obrigkeit ablehne und daß er sich gegen Kursachsen und Kurfürst Johann Georg I. persönlich gewandt habe. Er missioniere nicht, halte seine Schriften nicht für „ewig bleibende göttliche kräfftige wort". Er halte auch weder Meth noch sich für unsterblich und beantwortete auch ähnliche Fragen verneinend oder ausweichend. Stiefel hat in diesem Verhör jedoch nicht die Wahrheit gesagt. Das wußte oder ahnte auch die Obrigkeit, denn Stiefel wurde inhaftiert. Kurfürst Johann Georg bat den Erfurter Rat, Stiefel als das Haupt der „Methianer" bzw. „Stiefelianer" auszuliefern, was auch geschah. In Dresden schworen alle ab; Stiefel wurde mit einer Strafe von 500 Talern belegt.38'» Er durfte nach Gispersleben zurückkehren, wo sein Haus immer mehr zum Mittelpunkt oppositionell Denkender wurde. Auch der Nürnberger Kaufmann M. A. Adler befand sich darunter, der Stiefel oft materiell unterstützte. Ab 1615 begann Stiefel seine Auffassungen öffentlich vgrzutragen. Er wurde mehrfach vor das geistliche Ministerium geladen und verhört. 385 Der Erfurter Chronist Z. Hogel, selbst Mitglied des Ministeriums, der sicher der Verhandlung beiwohnte, überliefert, daß Stiefel auch darüber befragt worden ist, „was er doch durch den innerlichen und durch den äusserlichen menschen verstünde". Er entgegnete:• „der äusserliche sündigt, jener aber nicht: denn das Wort Christus wohne in ihm. Wort und Sakrament weren mittel, Gott aber were Ursach unserer Seligkeit. Der neue innerliche Mensch . . . were Christus das in wohnende Wort. Die Sünde hieß er des Teufels Wesen, unsere Gerechtigkeit aber Christi wesentliche Gerechtigkeit und den Glauben Christum selbst, der in uns wohnte." In einem weiteren Verhör wurden Stiefel dreißig Fragen gestellt. Auf Frage 10 erklärte er, „das Evangelium sei das göttliche Wesen / Seelen-Wort in anima"; auf Frage 24, „Christus wohne in uns spiritualiter & personaliter". Da im Hause Stiefels weiter Zusammenkünfte stattfanden, ließ der Rat einmal seine Gäste festsetzen. Unter den Festgenommenen befinden sich auch die Schreiner Merten, David und Johann Hirnmaul — alle aus Halle.386 Wahrscheinlich gehörten zu ihnen jene zwei Gebrüder Hirnmaul, die wegen oppositioneller Auffassungen aus Halle verwiesen worden waren. Um diese Zeit hatte sich der Aktionsradius Stiefels und seines Verwandten Meth bereits beträchtlich erweitert. Stiefel wurde schließlich 1616 aus Erfurt verwiesen. Er wandte sich nach Frankfurt am Main und Basel. Unterwegs wurde er überall feierlich begrüßt und als „Gott, der Sohn Gottes, das Wort Gottes, 383 Vgl. G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 3, a . a . O . , S. 39-41. 384 Vgl. Staatsarchiv Dresden, Geh. Rat (Geh. Archiv), Loc. 7423, Universitäts-, Consistorial- und geistliche Sachen 1614—1616, Bl. 30—81. 385 Vgl.: Z. Hogel, Crónica von Thüringen und der Stadt Erffurts insonderheit vom Jahr 320 bis 1628, Bl. 4 2 6 b - 4 2 7 a , 429a (Manuskript heute in: Archiv und Bibliothek des Evangelischen Ministeriums zu Erfurt); Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen . . . , Leipzig 1715, p. 762. 386 Vgl. ebenda, Bl. 4 2 6 b - 4 2 7 a ; P. Meder, Der Schwärmer Esajas Stiefel, a. a. O., S. 109

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das lebendige Wort Gottes, der Herr Zebaoth und Jesum Christum" angeredet. Das bezeugt auch, wie weit sich Stiefels Auffassungen bereits verbreitet hatten. Ende Dezember 1616 kehrte Stiefel nach Erfurt zurück. E r schickte Boten aus, die die Ankunft Christi ankündigten; er identifizierte sich also mit Christus. E r und seine Begleiter wurden verhaftet. Der Rat ließ aus Stiefels und seiner Mitgefangenen Schriften 23 Irrtümer herausziehen, z. B . : „3. Die wahren Christen können nicht sündigen und seyn ohn alle sündliche wiederwertige affecten. 4. Das Predigtamt und die Sacramente müßen durch lauter Heilige untadlichte Christen verrichtet werden . .,.5. Die H. Schrift sey ein toder Buchstab . . . 7. Dz brodt und Wein im Nachtmahl werden erst in dem gläubigen, der sie von einem heiligen Priester empfängt, zum H. Nachtmahl. 8. Der Gebrauch des Nachtmahl sey nicht iedem nöthig." Im Mai 1617 wurden die meisten Verhafteten, so a u c h E . Meth, freigelassen, nach erfolgtem Widerruf (1619) auch Stiefel. E r durfte wieder in Erfurt leben und handelte mit Waid. 1621 begann er erneut seine häretischen Auffassungen zu verbreiten und verstärkt zu publizieren. 387 Als der Rat erneut gegen ihn einschreiten wollte, wurde er flüchtig, bald aber ergriffen und nach Erfurt ausgeliefert (März 1624). Der Erfurter Rat übersandte die Akten der neuen Verhöre an die theologischen Fakultäten zu Wittenberg und Jena. Darin wurde u. a. gefragt, ob es angemessen sei, entsprechend dem bereits vorliegenden juristischen Gutachten die Todesstrafe über Stiefel zu verhängen. Stiefel selbst war zu dieser Zeit in Erfurt, zeitweise in gemäßigter Haft, zeitweise frei. Daß ihm nichts Schlimmeres widerfuhr, ist vielleicht der Gräfin Erdmuth Juliana von Gleichen und Ohrdruf zu danken, die er für seine Lehre gewonnen hatte und die ihm und E . Meth eng verbunden war. 1627 verstarb Stiefel in Erfurt. Wer es sich so einfach macht wie Meder, wird um eine Eingruppierung Stiefels nicht verlegen sein. Denn für ihn ist Stiefel „ein Lügner, Betrüger und Verführer gewesen . . . , der durch schöne Redensarten und falsche Prophezeiungen hysterischen Frauenzimmern die Köpfe verdreht, ein Mann, der Zwietracht und Unfrieden in Ehen stiftet . . . " usw. 388 Göschel meint gar, Stiefel Einige hier nicht behandelte Schriften Stiefels: E. Stiefel, Etzliche Christ- und Gottselige Tractetlein / den Ausserwehlten Kinder Gottes / und beruffenen rechtgleubigen Christen zu Trost / und ans Tage Liecht der Welt in Druck gegeben, Dantzig 1622. — Als Antwort auf dieses Traktat verfaßt J. Weber, Brevis censura Stiefelianismi Oder Kurtze Erzehlung und Wiederlegung der vielfältigen Irthumbden / welche Esaias Stieffei in einem Büchlein: Etzliche Christ- und Gottselige Tractetlein . . . newlich in Druck außgesprenget, Erfurt 1624. Darin gibt er (S. 273—279) die 10 Punkte des Widerrufs von Meth und Stiefel wieder. — Weitere häretische Schriften Stiefels: E. Stiefel, Verantwortung des Büchleins / Dessen Tittel: Etliche Christliche uii gottselige Tractätlein / etc. Wider die Schrifftgelehrte / Pharisäische / Hohepriesterliche Warnung . . . Johann: Piscatoris . . . , [o. O.] 1624; E. Stiefel, Vom ersten Anfang und Ursprung seines heiligen Christenthums, Frankfurt [o. J. ]; E. Stiefel: Commentare über die Propheten Joel, Micha, Zephania und die Offenbarung Johannis. „Himmlische Kohlen", „von dreyerley Adam", „Baum Jacobs . . .". — Hier wird G. Arnolds und P. Meders Angaben gefolgt, da ich diese Schriften weder bibliographisch noch im Original nachzuweisen vermochte. 388 p. Meder, Der Schwärmer Esajas Stiefel, a. a. O., S. 124.

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und Meth seien „weniger merkwürdig für die Religionsgeschichte . . . , als für die Geschichte der Verirrungen des menschlichen Verstandes", und Stiefels Fall eigne sich für eine Irrenanstalt. 389 Eine Aussage Stiefels läßt sein eigentliches Anliegen erkennen. „Da er noch als ein Handelsmann in Städten und Ländern herumbgezogen / hätte er nirgend weder bey den Lutherischen / noch Calvinischen noch Papisten die rechte Kirche Gottes gefunden / darumb müste er eine rechte Kirche anrichten und bauen." 3 9 0 Stiefel war ein begabter Mann, der eine gute Schulbildung genossen hatte und sich in der lateinischen wie der deutschen Bibel sowie Luthers Schriften gut auskannte. Ihm war das theologische Gezänk jener Zeit höchst zuwider. Zweifellos hatte er echte religiöse Bedürfnisse, die die orthodoxen Erörterungen, in trockenem Ton und ungelenker, steifer Sprache vorgetragen, nicht zu befriedigen vermochten. Kein Wunder, wenn sich eine neue Welt für ihn auftat, als er mit der Lehre der „Schwärmer" bekannt wurde: eine Lehre, die alles äußere Kirchentum verwarf und nur auf Verinnerlichung drang, eine Lehre, nach der man sogar vergottet, Christus selbst werden konnte. Wer aber führte ihn in diese Lehre ein? Wenn Meder den „moralisch verkommenen" Stiefel mit Müntzer in Verbindung bringt, so sicher deshalb, weil Müntzer für ihn ebenfalls ein Ausbund an Schlechtigkeit ist: „Die Grundideen Münzers hat er . . . übernommen, so die Verwerfung der Kindertaufe, an deren Stelle eine Art Geistestaufe t r i t t . . ., und des Abendmahles im kirchlichen Sinne, des weltlichen Regiments . . . und der H. Schrift als des , toten Buchstabens' . . . Hinweis auf Träume und Offenbarungen, auf das innere Wort des Geistes . . . Den Grundsatz Münzers' ,omnia sunt communia', hat er in thesi zwar nicht aufgestellt, in praxi war er davon ein begeisterter Vertreter . . . Ausser Münzers Schriften hat er auch die anderer Schwärmer gelesen. So trifft ihn der Vorwurf, er sei ein David Georgischer, Weigelianischer, Schwenkfeldianischer, Paracelsischer Bösewicht." 391 Für die Übereinstimmung von Müntzer und Stiefel gibt Meder viele Belegstellen. Weigels Schriften waren noch nicht publiziert, als Stiefel mit seinen Ideen hervortrat. Weigels und Böhmes Schriften ähneln z. T. denen Stiefels und Meths äußerlich. Chiliasmus und Gruppenbildung finden sich weder bei Weigel noch bei Böhme. Der Zusammenhang von Weigel und Böhme ist wesentlich, der von Stiefel mit Böhme und Weigel zufällig. Ein Vergleich der Auffassungen Müntzers und Weigels wäre als Beispiel für die Wirkgeschichte Müntzers wünschens389 C. F. Göschel, Chronik der Stadt Langensalza, Bd. 3, a. a. O., S. 105, 109, 130. 390 Zit. nach: Chr. Thomasius, Von Esajas Stieffein und Ezechiel Methen / etliche Ungemeine Umbstände, in: Chr. Thomasius, Historie der Weiszheit und Thorheit, Der dritte Monat des 1693sten Jahres, Halle 1693, S. 155. 391 P. Meder, Der Schwärmer Esajas Stiefel, a. a. O., S. 126. - Mit David Georg ist D. Joris gemeint. Weber führt 13 Punkte an, in denen Stiefel mit Joris übereinstimme. Vgl. J. Weber, Pseudo-Christus Ocreatus: Oder Bericht / wie Esaias Stiefel sich vor den wahren / leibhafftigen / dreyeinigen Christum / das ist / vor Gott / Vater / Sohn / und H. Geist / die in ihme Fleisch worden / außgebe und darvor angebeten seyn wolle . . . , Erfurt 1624, p. 178—203. Auch Göschel rückt Stiefels und Meths Lehren in die Nähe von Th. Müntzer und der Täufer. Meth sei von Paracelsus, Weigel und der „Theologia deutsch" beeinflußt. (C. F. Göschel, Chronik der Stadt Langensalza, Bd. 3, a. a. O., S. 131.) 38

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wert. Es ist wohl nicht zufällig, daß fast alle Anti-Weigelianer die Beziehung zwischen beiden oppositionellen Denkern herstellen. „Ob und wie intensiv Einflüsse [Müntzers — S. W.] auf die Weigelianer und radikalen Pietisten, dann über die Niederlande auf die englische chiliastische und sozial-revolutionäre Bewegung zur Zeit der puritanischen Revolution ausgingen, bedarf noch der genauen Untersuchung." 392 Stiefel geht in einer seiner Schriften davon aus: „Daß / wann man einen Gläubigen siehet / höret und betastet / sihet / höret und betastet man Christum mit der Fülle seiner Gottheit selbst." 3 9 3 Gläubige sind Auserwählte, wie Stiefel aus der Bibel nachzuweisen sucht. Seit Christi Geburt währte die „Knechtschafft / aller Heiligen Dienst in und mit dem Geiste Christi" 1260 Jahre. Darauf folgte die große Bedrängnis durch das Tier der letzten vierten Monarchie. In seinem Zeichen währte die Zeit der Verfolgung der Gerechten 350 Jahre. Darauf folgte „die Erscheinung der heiligen göttlichen Kindschafft". Es erscheint „Ein vollkommener Christus".3fl/1 Es folgt die Entdeckung der heiligen reinen Jungfrau. Sie wird sich mit dem Erschienenen vermählen und reine Kinder ohne Schmerzen gebären. Gelegentlich wird — nebst vielen Bibelstellen — Luther angeführt. Der ganze Ansatz der Schrift ist bedeutend grobschlächtiger als etwa bei Weigel und Böhme. Die falsche Weltweisheit wird abgelehnt. Die große Schar der Ungläubigen verfolge — obwohl sie Christen zu sein vorgeben — den wahren, von Stiefel dargebotenen Glauben. Trost liege in dem Bewußtsein, daß man diesen wahren Glauben besitze. Chiliasmus mischt sich mit der Hoffnung, daß alle Ungerechtigkeit auf Erden, auch ungerechte Obrigkeit, zuschanden werden wird. Zu jenen, die ob ihres „wahren" Glaubens von den „Ungläubigen verhöhnt und verfolgt" wurden, zählt sich vorrangig Stiefel selbst. Viele Gleichnisse, Verse, Bibelstellen variieren diese Grundgedanken, sollen Trost und geistige Hilfe geben. Joachitisches Gedankengut schimmert hier durch. Stiefel läßt seine Gemeinde wissen, er habe nur aus taktischen Gründen, nach zwanzig Monaten Haft, in „Saltza" eingestanden, ein Wiedertäufer, Enthusiast, Schwärmer, Aufwiegler, Volksverführer gewesen zu sein. Darauf war er freigelassen worden. E r sei natürlich nichts von alledem. Auch die ihm in der Haft in Erfurt abgerungene Bekenntnisschrift und der entsprechende Eid gälten nichts, weil sie eben erzwungen waren. In einem „Verantwortungs-Schreiben der Hochwohlgebornen Gräffin und Frawen . . . Erdehmuth Julianen . . . Gräffin zu Gleichen / Spiegelberck un Pyrmond . . . " werden einige gegen Stiefel erhobene Vorwürfe und seine Widerlegungen näher geschildert. Die dritte Beschuldigung gegen Stiefel lautete, daß er „die wesentliche Einwohnung Gottes der heiligen Dreyfaltigkeit in der Person C H R I S T I mir einbilde / unnd meiner Person wesentlich vereiniget zuglaube und wesentlich imputire".305 Viertens bezeichne er sich als R. van Dülmen, Müntzers Anhänger im oberdeutschen Täufertum, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, München 39 (1976) S. 883. 393 E . Stiefel, Kürtzlicher Gründlicher Verlauft in heiligen Religion-Sachen: S o m i t Christlicher Persohn Esaias Stieffels / Nuh in die zwantzig J a h r / von Anno 1604. biß in das jetzige vier und zwantzigste / sich begeben und zugetragen . . . , [o. O.] 1624, S. 23. 394 Ebenda, S. 47, S. 54. 3« Ebenda, S. 327. 392

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„Christum / den Dreyeinigen GOTT oder Dreyeinigen Christum". 396 Er sehe Christus als den neuen Menschen, verachte die Kreaturen und verwerfe die Medizin. Gegen den achten Vorwurf verteidigt er sich: „Daß ich den Teuffei von Ewigkeit statuiren und jhme endlich auch die Seligkeit / gleich den Weigelianern / wie sie vorgebe / zubilligen solte / sage ich glat nein / und ist solches in ewigkeit auff mich nicht zuerweisen." 397 Auch den Vorwurf, ein Weigelianer zu sein, weist Stiefel zurück, wie mir scheint, mit Recht. 308 Weber stellt in einer gegen Stiefel gerichteten Streitschrift dessen Übereinstimmung mit Weigel und Paracelsus fest. Er weist Stiefel grundlegende Irrtümer nach. Die für unser Thema wichtigsten werden hier angeführt: Da Stiefel in Gott drei Wesen annehme, konstituiere er auch drei Götter statt der in einer Gottheit vereinigten drei Personen der christlichen Lehre. Dabei wird Weigels Auffassung mit der G. V. Gentiles, Plotins, Paracelsus' und M. Servets auf eine Stufe gestellt. Stiefel werde damit auch zum Weigelianer, „das er doch nicht seyn will" . 3 " Die göttlichen Tugenden bewerte Stiefel unter-

schiedlich, die Liebe sei die größte unter ihnen. Diese Liebe sei das Weib Gottes, mit der er seinen Sohn — Jesus Christus — gezeugt habe. Diese Auffassung bringt Weber mit Weigels Lehre von der himmlischen Eva in Zusammenhang (unter Berufung auf die Pseudoweigeliana Astrologia Theologizata C 4, lit. D., 3; Informatorium T. 3, c. 4). Die Heilige Schrift sei ein toter Buchstabe, stumm und ohne Leben. Das göttliche Wesen besäßen Menschen und Engel gleichermaßen, woraus Weber schließt, nach Stiefel sei der Mensch selbst Gott. Gott habe Adam nicht zu, sondern in seinem Ebenbild geschaffen. Damit werde Adam nicht zum Ebenbild Gottes, sondern allein das seines Sohnes. Adams Seele sei ein dreieiniger Odem, bestehe in Kraft, Rede und Leben, und dies sei der wahre Mensch. Immer wieder bringt Weber solche Stellen mit Auffassungen Weigels in Verbindung (Gnothi Seauton, Buch I, c. 7, p. 20). Christus sei allein im Menschen gut, und im Himmel wie auf Erden sei nichts gut, ohne allein Gott. Der Teufel existiere von Ewigkeit ohne Raum und Zeit, womit sich Stiefel zum Manichäer mache. Christus sei selbst der dreieinige Gott. In Christus sind zwei Personen, eine große und eine kleine. Die große wird noch immer Mensch in den Gläubigen. Die menschliche Natur, die Christus annimmt, ist der dreieinige Odem Gottes oder „der erlösten Seelen Mensch". Christus wird „in Centro und inwendigen" des menschlichen Herzens empfangen und geboren. In der kleinen Person ist er von Anfang an, doch unvollkommen, „gemenschet" worden. Die Rechtgläubigen werden aus Gott und in seiner Gemahlin wesentlich und eingeboren und sind Mensch-Gott und Gott-Mensch, dazu männlich oder weiblich. Diese Renati sind eins mit Gott, ein Fleisch und Blut mit Christus. Die wesentlich Wiedergeborenen sind allmächtig, allwissend und sitzen zur Rechten Gottes. Sie zeugen sündenlose Kinder. Zur Widerlegung verweist Weber wieder auf die Ähnlichkeit mit Weigel (Kirchen Oder Hauspostill, T. 1, p. 57). Auch die Gleichsetzung Stiefels mit Paracelsus kommt bei Weber häufig vor, und es werden dafür — echte und 396 Ebenda, S. 329-330. 397 Ebenda, S. 337. 398 Ebenda, S. 339-341. 399 j Weber, Brevis censura Stifelianismi, a. a. O., S. AV, S. 5. 38*

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DIE

„WEIGELIANER"

nur unter Paracelsi Namen laufende — Stellen reichhaltig angeführt. Das 9. Kapitel seines Büchleins widmet Weber dem Beweis: „Daß die wesentliche Widergeburth eine Paracelsische Lehre sey". Nach Stiefel seien die essentiell Wiedergeborenen unsterblich, die Schriftgelehrten hülfen mit ihrem Amt nichts zur Wiedergeburt, das römische Reich in seinen geistlichen und rechtlichen Gliedern werde plötzlich und schändlich untergehen, das mündliche Predigtamt ausgerottet werden. Natur, Kreatur, Geist samt allen Künsten und Studien seien Sünde und Weltgeist. Die Renati bedürften keiner Medikamente und Ärzte, sie vermögen durch Handauflegung zu heilen. Damit geben wir einen höchst globalen Überblick über die Stiefel vorgeworfenen Häresien und Ketzereien. Stiefels Gönnerin, Gräfin E. Juliana von Gleichen, beantwortete in einem Sendschreiben an Stiefel nach Erfurt Angriffe Webers, der ihre an Stiefel geformte Auffassung vom Christentum für ketzerisch erklärt hatte. Sie weist den Anwurf zurück, seine Lehre sei enthusiastisch und weigelianisch. Zugleich wird Stiefels Auffassung als wahrhaft christlich verteidigt.400 Stiefel selbst sucht auch Weber zu widerlegen/'01 Es geht dabei vor allem um die von ihm vertretene Ein- und Beiwohnung von Christi Wesen, bei, in, durch und an uns, d. h. den Gläubigen. Sie wird von Weber bestritten. Seine „Apologia" beginnt Stiefel mit viel Polemik, die an Schärfe und Invektiven nichts zu wünschen übrig läßt. Stiefel vertritt die Anschauung von dem heiligen Fleisch in und bei den wahrhaft Gläubigen vor und nach Christus. Durch Christi Blut sei seine Person „durch meinen heiligen Glauben von allen Sünden gereiniget / und zum heiligen Tempel der wesentliche Einwohnunge / der gantzen heiligen Dreyfaltigkeit geweihet un geheiliget".402 Interessant ist das fortlaufende Bestreben Stiefels, sich selbst als echten Lutheraner darzustellen. Dies auch in den anderen referierten Schriften. Ebenso beruft er sich auf das sog. Athanasianum, die Konkordienformel u. a. Bekenntnisschriften der lutherischen Kiiche. Immer wieder grenzt sich Stiefel entschieden gegen Weigel ab, mehrfach auch gegen Paracelsus und die Rosenkreuzer, und immer wieder kommt der Haß auf weltliche Gelehrsamkeit durch. Piaton, Aristoteles usw. zu lesen erscheint ihm unnütz. Hier steht wahrlich kein Böhme, kein Weigel vor uns. Für Stiefel gibt es zwei säuberlich geschiedene Welten: die des Guten und die des Bösen, die Gottes und die des Teufels. Entsprechend gibt es eine innere und eine äußere Bekehrung. An den Menschen ist nach der inneren Bekehrung 400

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E r d m u t h Juliane Gräfin zu Gleichen, Christliche Verantwortungs-Schreiben . . . Auff die fälschliche / lästerliche Beschuldigung D. Johann Webers / Ihr Gr. Gn. Hoff- und Stadt-Pfarrers in Ohrdruff . . ., [o. O.] 1624. E . Stiefel, Kürtzliche Antwort Auff D. Johann Webers / Hoff- und Stadtpfarrers zu Ohrtruff . . . etc. Außgesprengte Lateinische Disputation, Wider die heilige göttliche / wesentliche Heiligung der Gläubigen, [o. O.] 1624. E . Stiefel, Apologia Und RettungsSchrifft Des heiligen Namens J E S U Christi in Syhon, aller Heiligen Fleisch und Blut . . . zuwider Den außgescheumeten Lügen unnd Lästerungen des schändlichen Sathans und mördlichen tyrannischen Teuffels (In Doctor J o H a n n s Webers außgesprengten Buch Brevis Censura Stifelianismi intituliret zu befinden) . . . , [o. O.] 1624, S. 43. — Die Anm. 391 angeführte Schrift ist die Apologie Webers auf diesen Traktat Stiefels.

JAKOB BÖHME ÜBER

STIEFEL

597

nichts „Verdammliches" mehr. Wenn sie noch sündigen, etwa die Heiligen des Alten Testaments, so ist es der Rest des alten Fleisches. Weitere Themen der „Apologia" sind die Wiedergeburt aus Gott, die Eigenschaften der Wiedergeborenen und das Reich der ewigen Vollkommenheit. Hier beginnen die Einwände Jakob Böhmes. Stiefel sei zuzustimmen, wenn er die Wiedergeburt auf den „inneren neuen Menschen aus Christo geboren" beziehe, nicht aber, wenn er den „sterblichen verweslichen Menschen" meine. Böhme will zunächst die Absicht und die Rechtgläubigkeit Stiefels nicht anzweifeln, meint aber, dieser halte Geist und Fleisch nicht auseinander. Böhme verweist auf seine eigenen Schriften und bestreitet, daß — wie Stiefel meint — der Mensch dieser Welt Christus gleich werden könne. Das „äußere" Fleisch und Blut sei eben nicht Christi Fleisch, heilig und ohne Makel: „obgleich Gott in Christo in uns geboren wird, so können wir noch lange nicht sagen, wenn wir vom ganzen Menschen reden, ich bin Christus; denn der äußere ist nicht Christus. Sondern also können wir mit Grunde sagen: Ich bin in Christo, und Christus ist in mir Mensch worden." 403 Wie aber Christi Reich nicht von dieser Welt sei, so auch nicht der innere, neue Mensch in Christo. Auf dieser Erde gibt es keine Vollkommenheit und so auch keinen vollkommenen Menschen. Stiefels Behauptung, er sei so weit vergottet, daß er nicht mehr sündigen könne, bestreitet Böhme ebenso. So wenig wie die äußere sichtbare Welt Gott genannt werden kann, so wenig gehört dem äußeren Leben der Name Gottes. Weiter warnt Böhme vor einem angemaßten Prophetenamt Stiefels. Der Geist Gottes komme nicht von außen in die Menschen. Er eröffne sich „durch das Seelenfeuer". Auch der Weltuntergang bzw. das Weltende werde nicht durch einen Propheten verkündet. In seiner zweiten Streitschrift gegen Stiefel geht Böhme erneut davon aus: Einen vollkommenen Menschen hat es auf dieser Erde nie gegeben und wird es nicht geben. Selbst der Mensch Christus war nicht vollkommen. Böhme schließt, Meth oder Stiefel setzten sich selbst in die Dreifaltigkeit, was unmöglich sei. Denn: „Man muß allezeit die Menschheit und die Gottheit unterscheiden, und den menschlichen Willen von Gottes Willen." 404 Daher könne Stiefel weder wie Gott sein noch wie Gott reden. Stiefel verleugnet „die Sterblichkeit und Auferstehung der Todten, weil er sagt: Er habe das ewige vollkommene Leben von innen und außen ganz angezogen, und er sei es nicht mehr, der er gewesen ist nach Adam's Fall; es sei nur ganz Christus in ihm; er sei todt und Christus lebe allein in ihm. Darum hält er sich Gott dem ewigen, einigen Wesen in allen Dingen, im Wissen, Wollen und Thun gleich. Und dieses ist die ganze Summa seiner Lehre in allen seinen Schriften." 405 Böhme hat hier den nervus rerum der Schriften und des Ideengebäudes Stiefels erkannt. Er bestreitet auch Stiefels Auffassung, Maria, die Mutter Jesu, sei in jeder Hinsicht makellos und fehlerfrei, also göttlich gewesen und habe nichts Fleischliches an sich gehabt. 406 Unter J. Böhme, Anti-Stiefelius I. Oder: Bedenken über Esaiä Stiefel's Büchlein: Vo. Dreierlei Zustand des Menschen und dessen neuer Geburt, in: BSW, Bd. 7, a. a. O S. 148 (§ 54). 404 J. Böhme, Anti-Stiefelius II. Oder: Vom Irrthum der Sekten Esaiä Stiefel's und Ezechiel Meth's, . . . in: BSW, Bd. 7, S. 183 (§ 95). «5 Ebenda, S. 190-191 (§ 142). » G. Mühlpfordt, Der frühe Luther als Autorität der Radikalen, a. a. O., S. 2 1 2 - 2 1 3 . 106

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letzten Sinne wird Luther von V. Weigel und J . V. Andreae, später vom radikalen oder „linken" Pietismus verstanden. Ja, in gewisser Hinsicht bezieht der ganze Pietismus in seiner Anfangsphase (mindestens bis zu Speners Tod) diese Komponente mehr oder weniger ausgeprägt in sein Programm ein. Diese dritte Komponente wurde besonders durch Luthers dritte Reformationsschrift des Jahres 1520 „Von der Freiheit eines Christenmenschen" herausgearbeitet. Entscheidende Losungen sind hier die Worte: „Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan" und der „Christenmensch" sei „empunden von allen gepotten und gesetzen: ist er empunden, ßo ist er gewißlich frey". 110 Luther meint mit „gesetzen" wie alle Theologen seit Paulus das Gesetz Moses. Luther formulierte gleichzeitig, ein Christenmensch sei ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan. Beide Aussagen sind bei ihm antithetisch und zielen auf den inneren bzw. den äußeren Menschen. Das Volk aber verstand unter Luthers Worten auch die Gesetze und Befehle seiner Unterdrücker, der Fürsten und Herren. Es ist also nur eine Widerspiegelung der lutherischen Freiheitsschrift, wenn noch G. Arnold erklärt: „Dieses ist nicht zu leugnen, daß die leute auf Lutheri Vortrag von der freyheit der Christen sich beruffen, als er anno 1520 in dem büchlein von der christlichen freyheit gesetzet hatte: Ein Christen = mensch sey ein Herr aller dinge, und niemanden unterworffen. Dahero die scribenten setzen: Es seyen aus der lehre Lutheri Libertiner entstanden, und sie hätten sich auf ihn beruffen." JJ) Auch Boethius hat auf Weigel, überhaupt auf die „mystischen Pantheisten" der dargestellten Zeit stark gewirkt, z. B. mit seiner Raum auffassung. Man vergleiche etwa Weigels „Ort der Welt" und das „Libellus de vita beata". Boethius verknüpfte neuplatonische und stoische Ideen und propagierte und übersetzte zugleich Aristoteles. Die Idee der Gottheit ist der Ausgangspunkt seines Systems. Die Gottheit ist das vollkommenste Eine und wird am deutlichsten und reinsten mit dem Begriff des Guten bezeichnet. Sie hat aus Güte die Welt gebildet — mehr im Sinne eines platonischen Demiurgen als in dem eines Schöpfers aus dem Nichts, und aus ihr leitet sich die ganze Welt in immer abgeschwächterer Abstufung her. Die Stellung der Seele in der Mitte des Weltganzen, zwischen Gottheit und körperlicher Natur, findet man z. B. im neunten Gedicht des dritten Buches von Boethius' „De consolatione philosophiae" ausgesprochen. Die gleiche Stellung nimmt sie, wie wir sahen, bei Hugo von St. Viktor ein. Auch im sechsten Prosaabschnitt des 4. Buches der „Tröstungen der Philosophie" des Boethius findet man die verschiedenen Erscheinungsformen der Seele und neben den himmlischen Geistern auch die Zwischenstufe der Dämonen und die mit diesen wohl ziemlich gleichstehenden „Engel" erwähnt und z. T. dargestellt. Die Ableitung der Menschenseele aus der Gottheit wird ähnlich wie bei den Neuplatonikern angegeben. Auch bei Boethius wird die Seele schon vor ihrem Eintritt in die Körperwelt mit einem immateriellen Leib bekleidet gedacht. Für Weigels Erkenntnis- und Urteilslehre ist besonders der Abschnitt 4 von „De consolatione" von Bedeutung. "o M. Luther, WA, Bd. 7, Weimar 1897, S. 21, S. 24f. - Vgl. G. Brendler, Martin Luther — Theologie und Revolution, a. a. O., S. 214—216. 111 G. Arnold, Unpartheyische Kirchen- und Ketzer = Historie, T. 2, a. a. O., S. 728.

W E I G E L UND DIE RADIKALEN

DER

REFORMATION

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Boethius fordert vornehmlich ein neuplatonisch-stoisches Sich-Erheben über die Außenwelt. Der Mensch soll sein Streben auf Erkenntnis und auf Erreichen des höchsten Gutes richten, das in letzter Instanz mit der göttlichen Güte identisch ist. Unbewußt streben zwar alle Menschen nach dem höchsten Gut, aber täuschender Irrtum lenkt sie vom rechten Wege ab und spiegelt ihnen falsche Güter bzw. Werte vor. Der Weise erkennt die Nichtigkeit dieser trügerischen Ziele, und wie er schon in den irdischen Dingen, soweit er es vermag, die Idee des Guten möglichst rein zu verwirklichen sucht, so erhebt er noch mehr seine eigene unsterbliche Seele über alles Menschliche, um sie der höchsten Güte, ihrem Ursprung immer näher zu bringen. Er sucht des göttlichen Wesens, der göttlichen Vollkommenheit teilhaftig zu werden.112 In der neueren Weigelforschung spielt die Beziehung zwischen Weigel und Müntzer wieder eine beachtliche Rolle. Schelhammer hatte sie betont, um Weigel zu verunglimpfen. Heute sind Ton und Argumentation sachlicher geworden. Man sucht in wachsendem Maße in der bürgerlichen Geschichtsschreibung Müntzer gerecht zu werden. Lenin stellte fest: „Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Haß begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu . . ., wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert."113 Auch diese Seite wird in der Gegenwart von bürgerlichen Ideologen hinsichtlich Müntzers praktiziert. Es erscheint eine wahre Flut von Druckschriften, in denen neben den Täufern, „Spiritualisten", allen von den Kirchen in der Vergangenheit verfemten und verfolgten oppositionellen Denkern und Strömungen nun auch Müntzer in die una sancta ecclesia zurückgeführt werden soll.114 112 Vgl. z u Boethius: H. Ley, Geschichte der Aufklärung und des Atheismus, Bd. 2/1, a. a. O., S. 1 0 4 - 1 2 3 ; G. Schenk/H.-U. Wöhler, Boethius - Gedanken zu Werk und Wirkungsgeschichte, in: DZfPh, 28 (1980) S. 1324-1337; H. R. Patch, The Tradition of Boethius. A Study of his Importance in Medieval Culture, New York 1935; G. G. Majorov, Formirovanie srednevekovoi filosofii. Latinskaja patristika, Moskva 1979, S. 356—382. — In seinem Aufsatz „Naturmystik und spiritualistische Theologie bei Valentin Weigel" (in: Epochen der Naturmystik, a. a. O., S. 105—125) betont W. Zeller die Bedeutung Boethius' für V. Weigel m. E. stärker als in seinen vorherigen Arbeiten. Vgl. W. Zeller, Der ferne Weg des Geistes — Zur Würdigung Valentin Weigels, in : W. Zeller, Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, hg. von B. Jaspert, Marburg 1978, S. 8 9 - 1 0 2 . 113 W. I. Lenin, Staat und Revolution, in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin 1960, S. 397. 114 Man vgl. die Arbeiten von W. Nigg, M. Schmidt, Th. Nipperdey, K. Honemeyer, G. Baring und die bisher ausführlichste bürgerliche Müntzerbiographie v o n W. Elliger (Thomas Müntzer. Leben und Werk, Göttingen — Zürich 1976), in denen dies in unterschiedlichem Maße deutlich wird. — Berechtigte marxistische Kritik an Elligers Müntzerbiographie bei: M. Bensing, Von einem, der auszog, die Marxisten mit Thomas Müntzer zu schlagen, in: Reform — Reformation — Revolution, a. a. O., S. 218—223. Vgl. als Beleg für sachliche Bemühungen um ein wissenschaftliches Müntzerbild von theologischer Seite; Thomas Müntzer, Anfragen an Theologie

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Kern des Müntzerschen Erbes ist den progressiven Kräften stets seine revolutionäre Lehre von der Weiterführung der Reformation durch das Volk, vom Widerstandsrecht des Volkes gegen die gottlose und tyrannische Obrigkeit, von der notwendigen Translation des Reiches an das Volk, der Übernahme der Macht durch das Volk gewesen. Von hier aus wird verständlich, daß Müntzer zu einem Symbol des Freiheitsstrebens des Volkes werden konnte. Als revolutionärer Ideologe der Volksmassen im Bauernkrieg wies er, indem er letztlich die Abschaffung der grundlegenden sozialen Unterschiede und die Errichtung eines Reiches göttlicher Gerechtigkeit proklamierte, weit über das damals Mögliche hinaus. Müntzer war Theologe der Revolution. Sowohl seine Philosophie als auch sein sozialpolitisches Programm sind religiös geprägt. Alfred Ehrentreich zieht die Parallele zu Weigel: „Der Gedankenkreis Weigels wird durch einen Entwicklungsbogen gekennzeichnet, der von den Auffassungen der mittelalterlichen Mystiker immer stärker sich mit den Überzeugungen der . . . Zeitgenossen aus der Reformationszeit [Th. Müntzer, C. v. Schwenckfeld, H. Denck, S. Franck — S. W.] berührt und schließlich zu Paracelsus hinübergeschlagen wird, insbesondere zu seiner Unterscheidung zwischen dem .äußeren' und dem .inneren' Menschen." Weigel sei „nicht selten von volkstümlicher Anschauungskraft, darin an den jungen Luther oder Thomas Müntzer erinnernd". 115 Baring betont: „Mehrfach äußert er [Weigel — S. W.] sich auf Grund beider [Taulers und der „Theologia deutsch" — S. W.] über das .Lassen' eines rechten, Gott liebenden Christen. E s ist auffällig, wie stark Weigels Verständnis der Gelassenheit mit dem von Müntzer und Denck dazu Gesagten übereinstimmt . . . E s ist gut möglich, daß Müntzers Schrift .Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens 1524' Weigel bekannt war." 1 1 6 Gegen Zellers Meinung, Weigel habe in seinen späteren Schriften für geistliche Armut den Begriff „armgeistichkeit" geprägt, stellt Baring fest: „. . . dieses Wort .armgeistig' ist nicht von Weigel geprägt. Müntzer gebraucht es 1524: .drumb wirt er (d. h. der Heilige Geist) allein den armgeystigen (die jren vnglauben erkennen) gegeben'. Zuvor schon wird von Müntzer in der gleichen Schrift der Bekenner seines Unglaubens, der sich ,zu Gott keret', als ein ,armgeystiger' bezeichnet. Auffallend ist auch, daß Weigel die eigentliche Auslegung der ,Anleitung' [zur Theologia deutsch — S. W.] mit den Worten schließt: ,Die andern Capittel werden sich selber außlegen vnd erkleren einem fleissigen Leser', also mit einer Wendung, die an Müntzers Wort vom ,fleys-

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und Kirche, hg. von Chr. Demke, Berlin 1977, sowie Arbeiten von S. Bräuer, H. Kirchner, M. Müller, J. Rogge, W. Ulimann u. a.; vgl. die Bibliographie bei: G. Wehr, Thomas Müntzer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 145-156. A. Ehrentreich, Valentin Weigels religiöser „Dialogus" als literarische Schöpfung, in: Zeitschrift für Religions-und Geistesgeschichte, Köln 21 (1969) S. 44f.; vgl. ebenda, S. 50. — Auch C. Hinrichs (Luther und Müntzer. Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht, Berlin [West] 1952, S. 36) verweist auf den Zusammenhang von Müntzer und Weigel. G. Baring, Valentin Weigel und die „Deutsche „Theologie", a. a. O., S. 13. — Baring verweist auch auf Übereinstimmungen von Wendungen Müntzers und Dencks mit solchen Weigels. Vgl.: G. Baring, Hans Denck und Thomas Müntzer in Nürnberg 1524, in: Archiv für Reformationsgeschichte, Gütersloh 50 (1959) S. 156, Anm. 72.

THOMAS

MÜNTZER

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sigen' Leser der Schrift erinnert, wie D e n c k w i e d e r u m i m A n h a n g z u r T h e o logia D e u t s c h v o m .fleißigen Schüler Christi' s p r i c h t . A u c h die B e t o n u n g Christi als Vorbild, das heißt der imitatio, ist der T h e o l o g i a D e u t s c h , M ü n t z e r und Denck gemeinsam."117 W a s k a n n a n T h o m a s M ü n t z e r für den stillen, z u r ü c k g e z o g e n lebenden Weigel, der alles a n d e r e als ein A u f r ü h r e r oder R e v o l u t i o n ä r w a r , a n z i e h e n d gewesen sein? Müntzer w a r viel weniger scholastisch orientiert als L u t h e r ( W e r k e des M i t t e l a l t e r s werden v o n i h m k a u m e r w ä h n t , e i n m a l P e t r u s L o m b a r d u s 1 1 8 ) , d a f ü r sehr viel aufgeschlossener gegenüber d e m H u m a n i s m u s . 1 1 9 D a ß bei a l l e d e m die Bibel i m M i t t e l p u n k t s t a n d , ist selbstverständlich, a b e r a u c h hier ist der Gegensatz zu L u t h e r deutlich. L u t h e r s a h die B i b e l „ d u r c h die B r i l l e " des Paulus, wobei i h m b e k a n n t l i c h der R ö m e r b r i e f besonders w i c h t i g w u r d e ; Müntzer v e r s u c h t die B i b e l als Ganzes zu sehen. „ D a n n es h a b e n alle u r t e y l d a s h ö c h s t gegenteyl b e y in s e l b e r . " 1 2 0 E i n e besondere Rolle spielte für ihn d a s G. Baring, Valentin Weigel und die „Deutsche Theologie", a. a. O., S. 13—14. — Dagegen schreibt noch R . H. Grützmacher: „Osiander, Schwenckfeld, Münzer und andere will er [Weigel — S. W.] nicht kennen und lehnt darum auch jede Beziehung zu ihnen ab . . . " (Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 21, Leipzig 1908, S. 39). 118 Th. Müntzer, Schriften und Briefe. Krit. Gesamtausg. Unter Mitwirkung von P. Kirn hg. von G. Franz, Gütersloh 1968, S. 526. — Vgl. aber A. G. Dickens, Reformation and Society in sixteenth Century Europe, London 1966, S. 69—70, wo auf ein mögliches Studium der Naturphilosophie, genauer der „Theologia naturalis seu eiber creaturarum" des Raimund von Sabunde (gedruckt in Straßburg 1496), hingewiesen wird. In der übrigen Literatur finden sich zu Müntzers Literaturstudien wenig Hinweise; eine wissenschaftliche Behandlung der „Quellen" für Müntzers Lehre steht noch aus. Ebenso eine geschlossene Darstellung seiner ideengeschichtlichen Wirkung auf den „mystischen Pantheismus" des 16. und 17. J h . Vgl. einige Ansätze i n : Der deutsche Bauernkrieg und Thomas Müntzer, hg. von M. Steinmetz, a. a. O.; M. Steinmetz, Luther, Müntzer und die Bibel, Erwägungen zum Verhältnis der frühen Reformation zur Apokalyptik, in: Martin Luther. Leben, Werk, Wirkung, a. a. O., S. 147—167; M. Steinmetz, Thomas Müntzer und die Bücher. Neue Quellen zur Entwicklung seines Denkens, i n : ZfG, Berlin 32 (1984) S. 603—612. 119 Vgl. dazu M. Steinmetz, Das Erbe Thomas Müntzers, i n : ZfG, Berlin 17 (1969) S. 1124—1125. — Vgl.M. M. Smirin, Erazm Rotterdamskij i reformacionnoje dvizenije v Germanii, Moskva 1978, S. 111—143. Smirin betont den pantheistischen Aspekt in Müntzers Weltanschauung. Dabei beruft er sich auf Müntzerstellen (z. B . „Also muß die krafft Gottes erlangt werden in der umbschetigung Gottes. Man mag sich billich der rechten prediger frewen, das sie Gott zu unser zeyt auff die erden geben wil, auff daß das recht gezeügnus des glaubens an den tag kumme." [Th. Müntzer, Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens, i n : Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 309]) und betont die zentrale Rolle der E t h i k in Müntzers Lehre. Die letzte Zusammenfassung des Forschungsstandes zu Müntzer bei marxistischen und nichtmarxistischen Forschern gibt m. W. M. Steinmetz, Thomas Müntzer in der Forschung der Gegenwart, i n : ZfG, Berlin 23 (1975) S. 666—685. Seine kurze Darstellung der theoretischen Auffassungen Müntzers in ihrem Gegensatz zu Luther (ebenda, S. 675ff.) wird in meiner folgenden Darstellung berücksichtigt. Vgl. A. Kolesnyk, Probleme einer philosophiegeschichtlichen Einordnung der Lehre Thomas Müntzers, in: DZfPh, Berlin 23 (1975) S. 5 8 3 - 5 9 4 . 1 2 0 Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 268. - Vgl. M. Steinmetz, Luther und Müntzer. Vorbereitende Bemerkungen, i n : Wiss. Z. der Karl-Marx-Universität Leipzig, Ges. und Sprachwiss. Rhe., Leipzig 23 (1974) S. 439. 1)7

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X.

PANTHEISMUS UND M Y S T I K

1550-1650

Alte Testament, vor allem Deuterojesaja, aus dem er für sich die Bezeichnung eines „Gottesknechtes" übernahm, die sich durch sein ganzes Werk zieht. Für Luther war das mosaische Gesetz aufgehoben, lediglich der „Juden Sachsenspiegel"; für Müntzer galt es, wie das gesamte Alte Testament, in ganzer Strenge und war durch das Neue Testament keinesfalls überflüssig geworden. Auch die Apokalypse und Stellen wie: „Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebt die Niedrigen" (Luk. 1, 52), nahm Müntzer für persönliche Weisungen. So mußte sich seine Lehre anders entwickeln als die Luthers. Für Müntzer gab es keine zwei Reiche, eine Auffassung, die es Luther ermöglichte, sich mit der Welt voller Teufel abzufinden und sich ganz dem Glauben an Gott hinzugeben, der die Frommen aus allen Anfechtungen retten werde. Müntzer fühlte sich als Knecht Gottes berufen, die Welt im Auftrage Gottes zu erneuern. Diese „neue Erde", von der Deuterojesaja sprach (Jes. 66, 22), wollte er verwirklichen ; zunächst mit Hilfe der christlichen Obrigkeit und durch Erziehung der Menschen, die der Läuterung bedürfen. „Müntzer hat in Zwickau den .Buchstabenglauben' der Wittenberger überwunden und ebenso deren Auffassung vom .stummen Gott', der durch die Bibel nur einmal zu den Menschen gesprochen habe und dann nie wieder. Er begann Gottes Geist auch über die biblischen Schriften und Offenbarungen als zu allen Zeiten und Orten gegenwärtig zu begreifen, der stets und überall zu seinen Auserwählten spräche. Hier fand Müntzer — im scharfen Gegensatz zu Luther — Antwort auf die Frage nach der Rolle des Volkes bei der Umgestaltung des irdischen Lebens; der lebendige Geistglaube verzichtete auf gelehrte Tradition; das Volk konnte zum handelnden Subjekt werden."121 Müntzer reflektiert immer wieder die geschichtliche Bedingtheit des Zustandes der Welt und der Kirche seiner Zeit. Seit dem Prager Aufruf von 1521 führt er einen Beleg seiner Geschichtstheorie ständig an: nach dem Tode der Apostelschüler sei die jungfräuliche Kirche (jungfräulich — weil die Kirche 7 die Braut Christi ist) zur Hure geworden. Dazu beruft er sich auf Eusebios von Caesareas „Kirchengeschichte" (Buch IV, Kap. 22). 122 Luther hatte aus Rom. 13, 1—2 die Gehorsamspflicht gegen die Obrigkeit abgeleitet. Müntzer war auch von Römer 13, allerdings von Vers 3—4 ausgegangen. Wie schon im Brief an Kurfürst Friedrich vom 4. 10. 1523 entwickelt, gilt „der in Vers 1 und 2 proklamierte Gehorsam . . . nur, wenn die Obrigkeit die in Vers 3 und 4 statuierten Aufgaben des Schutzes der Frommen und der Rache an den Gottlosen erfüllt". 123 Fand Müntzer in Rom. 13, 3—4 die Grundlage für sein Widerstandsrecht, Illustrierte Geschichte der deutschen Frühbürgerlichen Revolution, Autorenkollektiv: A. Laube, M. Steinmetz, G. Vogler, 2. Aufl., Berlin 1980, S. 135 (hervorgeh. - S. W.). C. Hinrichs zitiert zustimmend L. v. R a n k e : „Die müntzerischen Inspirationen, die sozialistischen Versuche der Wiedertäufer und die paracelsischen Theorien entsprechen einander sehr gut; vereinigt hätten sie die Welt umgestaltet." (C. Hinrichs, Luther und Müntzer, a. a. O., S. 3.) 122 Ygi x h . Müntzer, Das Prager Manifest. Kürzere deutsche Fassung, in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 494. — Vgl. Th. Müntzer an den Buchführer Achatius Glov, 3. 1. 1520 und Achatius Glovan Müntzer nach dem 3. 1. 1520, in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 353—355. »23 Vgl. C. Hinrichs, Luther und Müntzer, a. a. O., S. 35, S. 40.

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so im Alten Testament bei Daniel, Kap. 2 und 7 seine Auffassung der Weltgeschichte als eines auf ein Endziel hin gerichteten gegliederten Ganzen. Das Buch Daniel bietet sich dazu an. Entstanden aus der Auseinandersetzung des Judentums mit dem Hellenismus in der ersten Hälfte des 2. J h . v. u. Z., verband es die Grundauffassung des altisraelitischen Prophetismus vom Abschluß der irdischen Geschichte durch ein neues, vollkommenes Weltzeitalter, das Gottesreich, mit der antiken, in Griechenland, Iran und Indien nachweisbaren Anschauung von vier, zumeist durch Metalle versinnbildlichten Weltaltern. Dadurch hat es sowohl die prophetischen wie die antiken Anschauungen grundlegend umgebildet: die antiken, indem es den immer wieder von neuem beginnenden Kreislauf von der goldenen zur eisernen Weltperiode zur geraden Linie umbog und in den zeitlos-vollkommenen Endzustand der Propheten einmünden ließ, also der sich ewig wiederholenden Geschichte eine einmalige Entwicklungsrichtung gab; die prophetischen, indem es das göttliche Zukunftsreich, auf das sich das Interesse der Propheten vornehmlich konzentriert hatte, in eine innere gesetzmäßige Verbindung brachte mit dem notwendigen vorherigen Ablauf der in aufeinanderfolgenden zusammenhängenden Perioden sich entfaltenden alten Ära, dieerst bestimmte Entwicklungsstadien durchlaufen haben muß, bevor der Umschlag erfolgt und Gott die Vollendung herbeiführen kann. Müntzer verbindet nun Rom. 13, 2—4 mit Dan. 2 bzw. 7 und bezieht die Stellen auf seine Zeit bzw. seine Situation. In der „Fürstenpredigt" findet dies eindeutig Ausdruck. Neben Daniel interessieren ihn besonders Jesaja, Jeremia, Hesekiel, weil sie Gottes Handeln an Israel richtig als Reaktion auf den Abfall Israels von Gott verstanden hatten. Müntzer kritisiert Mönche, Pfaffen, Gelehrte, Bischöfe und Papst als Hindernisse Gottes und des wahren Glaubens. Von den Wittenbergern grenzt er sich 1520—22 im wesentlichen mit folgenden Argumenten ab: Sie wehrten dem Heiligen Geist, wollten Gott in die Schrift sperren, leugneten sein lebendiges Wort, ihre Theologie bleibe konsequenzlos, Luther mache sich zum neuen Papst. Müntzer betrachtete schließlich Luther als Rückschritt zur „katholischen" Kirche, zum Gesetz und zur Häresie. E r will die evangelische Lehre Luthers in „ein besser weßen fuhren." 124 Müntzers Vorbild ist Jesus. E r ist gestorben, um den Auserwählten die Gleich werdung mit ihm zu erwerben. Vor allem aber ist Christus ein Beispiel, nicht nur durch seine Passion, sondern durch sein ganzes Leben. 125 Die Wittenberger „Schriftgelehrten" identifiziert Müntzer mit den damaligen Gegnern Christi. Wir werden aber das, was Christus von Natur ist, Gottes Sohn, aus Gottes Gnade. 126 Insofern bleibt eine Distanz zwischen Vorbild und Nachfolgern. Th. Müntzer, Protestation oder Erbietung . . . , in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 240. 125 Vgl x h . Müntzer, Ordnung und Berechnung des Deutschen Amtes zu Allstedt, in: ebenda, S. 215. 126 Vgl. Th. Müntzer an Jeori. Sine die et loco, in: ebenda, S. 4 2 5 ; Th. Müntzer an Luther, 9. 7. 1523, in: ebenda, S. 390. — Nach freundlicher, bislang nicht publizierter Mitteilung von M. Bensing (Leipzig) dürfte es sich bei „Jeori" um den Humanisten, Schulmeister, Prediger, Müntzeranhänger und späteren bekannten Täuferführer Melchior Ringk (Rynchius Hessus) handeln.

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„Müntzer hat offenbar gepredigt: Christus ist gestorben, damit er in uns stirbt; sein Sakrament ist unser Trost, sein Exempel gilt es nachzuahmen." 127 Christus ist das Vorbild der Auserwählten. Er ist Gottes Sohn und macht uns zu seinen Brüdern. 128 Die Abendmahlshandlung und die Abendmahlsworte „versteht Müntzer . . . als Explikation des an anderen Stellen deutlicher ausgesprochenen Willens Gottes, den zu tun Christus gekommen, und den zu tun die beste Speise ist" 129 . Der Grundbegriff bei Müntzer ist der „lebendige Geist", von dem er aller Welt künden will: „Ich, Thomas Müntzer. . .gedencke, dye lutbaren unde bewegliche trummeten [zu] erfüllen mit dem newen lobegesange des heiligen geystes." 130 Auch bei ihm steht der Geistbegriff 131 ohne Unterschied für die Bezeichnung des lebendigen, zu den Menschen sprechenden Gottes, des inneren Christus, für Gottes Wort, Christi Evangelium, die Bibel oder für das Gesetz.132 Der Geistbegriff ist vor allem deshalb dehnbar und vielgestaltig, weil mit diesen Bezeichnungen ihre Funktionen auf ihn übertragen werden können. Daraus ergeben sich für Müntzers Geistglauben verschiedene Konsequenzen, an deren Ausbau er in seinen folgenden Schriften weiter arbeitet. Ein Kernpunkt seines „Prager Manifestes" ist die Verkündigung, daß allein der Besitz des Heiligen Geistes volle Gewähr für das ewige Heil gibt. Die Menschen, die leugnen, daß Gott sich ihnen unmittelbar offenbaren kann, sind der verstockten, geistlosen Welt verhaftet, im Reich des Bösen: „Vom teuffei ist yhr anfangk, welcher yn yren hertzen grund unde bodem vorterbet hat, . . . dan sie seyn eytel ane besytzer den heiligen geist. Dorumbme syn sie geweihet von der weiher dem teuffei yhrem rechten vater, der mit yhn nicht hören will das rechte lebendige gotsworth." 133 Das Empfangen des Heiligen Geistes erlöst letztlich die Menschen von ihrer Erdgebundenheit, d. h. vom Zustand der Sünde, und schenkt das ewige Heil. Indem der Heilige Geist mit dem „lebendigen Christus" gleichgesetzt wird, ist es das Werk Christi, durch seinen Einzug in die Seele den Menschen aus dem Zustand der Gottesferne in sein Reich des Geistes zu erheben. Müntzer unterscheidet also zwischen dem inneren, geistigen und dem äußeren, historischen Christus. Der innere „lebendige Christus" allein hat heilswirkende Kraft für die Menschheit. Dem äußeren Christus verdanken die Menschen lediglich die Kunde über den Weg, auf dem der Geistempfang 127

R. Dismer, Geschichte — Glaube — Revolution. Zur Schriftauslegung Thomas Müntzers, Theol. Diss., Hamburg 1974, S. 35; vgl. Th. Müntzer an M. Luther, 13.7. 1520, in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 359. 128 Th. Müntzer, Protestation oder Erbietung . . . , a. a. O., S. 240. 129 R. Dismer, Geschichte - Glaube - Revolution, a. a. O., S. 42. - Vgl. Th. Müntzer, Von der Menschwerdung Christi, in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 520—522. Zum folgenden vgl. A. Lohmann, Zur geistigen Entwicklung Thomas Müntzers, Leipzig und Berlin 1931 (Reprint, Hildesheim 1972). 130 Th. Müntzer, Das Prager Manifest. Erweiterte deutsche Fassung, in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 495. 131 Vgl K . H o l l , Luther und die Schwärmer, in: K . H o l l , Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, 6. neu durchges. Aufl., Tübingen 1932, S. 420 bis 467. 132 Ygi u . a , Th. Müntzer, Das Prager Manifest. Erweiterte deutsche Fassung, a. a. O., S. 4 9 5 - 5 0 5 . «3 Ebenda, S. 497.

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gewährt werden kann, da Christus mit seinem Kreuzestod ein Beispiel gegeben hat, dem jeder einzelne Mensch durch eigenerlebtes Kreuz nachfolgen muß, ehe er von irdischem Wollen geläutert und der Offenbarung Gottes für würdig befunden ist. Müntzers Kreuzestheologie soll die Menschen auch auf die Veränderung der Welt vorbereiten. Aus der Gleichsetzung des Geistes mit dem lebendigen (d. h. gegenwärtig ergehenden) Wort Gottes ergibt sich: Der Geist eröffnet dem Menschen durch seinen Einzug in die Seele die ewige Weisheit Gottes und verleiht ihm die höhere Einsicht in seinen Willen. „. . . dye herczen der menschen seyn das papyr adder pergemen, do Got myt seynem finger seynen vnvorucklichn willn unde ewyge weysheyt . . . inscreybt . . . den menschen [wird] ore vornunft . . . eröffnet, da thut Got darumb von anbegyn in seynen auserweltn auff das sye mugen nit eyn ungewysz, sundern eyn unuberwintlich geczeugknis haben vom heyligen geysth." 134 Mit dieser Lösung des Heilsproblems und der letzten Zielrichtung des Glaubens auf die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit, bei der die Sünde Gottesferne oder das Haften des Menschen an der Kreatur und damit ein Nichtkennen der göttlichen Weisheit bedeutet, vertritt Müntzer Ideen der Mystik. War Müntzer u. a. durch N. Storch auf die Möglichkeit der unmittelbaren Offenbarung Gottes gewiesen worden, so scheint sich im „Prager Manifest", in welchem er um die Präzisierung seines Geistbegriffes ringt, der Einfluß J . Taulers bemerkbar zu machen, den er studiert hat. Tauler entwickelt z. B. in seiner Predigt „Repleti sunt omnes spiritu sancto et coeperunt loqui" die Lehre der sieben Gaben des Heiligen Geistes, auf die sich Müntzer bezieht, wenn er sagt: „. . . es muß ein ider mensche den heiligen geist zcu sieben maln haben, änderst magk er widder hören noch vorstehn den lebendigen Goth." 1 3 5 Die einzelnen Gaben des Geistes stellen bei Tauler jeweils Stufen dar, die der Mensch nacheinander ersteigen muß, bis er mit Gott vereinigt ist. Auf den beiden letzten Stufen erlangt der Mensch Einblick in die gottliche Wahrheit: „Hernoch so kumment denne die sehsten und die subenden goben, daz ist verstentnisse und smackende wisheit; dise zwo goben die fürent den menschen rechte alzümole in den grünt über menschliche wise in das gottliche abgrunde, do Got sich selber bekennet und verstat sich selber und smacket sin selbes wisheit und wesenlicheit." 136 Die Erreichung dieses letzten Ziels ist bei Müntzer an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Der Geist kann sich nur dann dem Menschen offenbaren, wenn die Voraussetzungen seitens Gottes und seitens des Menschen erfüllt sind. 134 135

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Th. Müntzer, Das Prager Manifest. Kürzere deutsche Fassung, in: Th. Müntzer, Schriften und Briefe, a. a. O., S. 492. Th. Müntzer, Das Prager Manifest, Erweiterte deutsche Fassung, a. a. O., S. 496. — J . Tauler, Predigten, hg. von F. Vetter, a. a. O., S. 105—106: „Nu merke, der heilige geist git suben goben unde wirket in den goben suben werg, so er in den menschen kummet. Der goben drige bereitent den menschen zü dem ersten zu hoher und zü worer vollekomenheit, mere die andern viere die vollebringent den menschen, und wurt der mensche mit den vollemaht, indewendig und ussewendig, zü dem höhsten, lutersten, verklaresten ende der woren vollekomenheit . . . " J. Tauler, Predigten, hg. von F. Vetter, a. a. O., S. 109. - Vgl. J. Tauler Predigten, hg. von G. Hofmann, a. a. O., S. 185.

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Das höchste Ziel ist der Geistempfang, der dem Menschen die göttliche Wahrheit offenbart, die, bei der Dehnbarkeit von Müntzers Geistbegriff, auch als die „heilige Schrift" bezeichnet werden kann. Seinem Christusbegriff entsprechend, unterscheidet Müntzer auch hier zwischen einer „inneren", „lebendigen" und einer „äußeren", historisch überlieferten Schrift. Entscheidend wirkt die „innere Schrift", da sie als Offenbarung des Heiligen Geistes die Quelle aller Erkenntnis göttlicher Wahrheit für die Menschheit ist. Sie wird zum Maßstab für die Wahrheit alles äußeren Schrifttums, vor allem für die historisch überlieferte Bibel: „Got . . . schreibt dye rechte heilige schrifft, dye dy eusserliche biblien recht bezceugt. Und es ist auch kein gewisser gezceugnisse, das die biblie warmacht, dan dye lebendige rede Gots, do der vater den szon anspricht im hertzen des menschen". 137 Der äußeren Schrift kann zwar die Wahrheit nicht abgesprochen werden, auch ihr Inhalt ist vom Geist einmal offenbart worden. Aber sie ist für den Menschen zum toten Buchstaben geworden und muß, um verstanden zu werden, immer wieder neu durch den Heiligen Geist bezeugt werden. Die äußere Schrift kann die selbst erfahrenen Erkenntnisse stützen und bekräftigen. Müntzer bemüht sich daher in seinen Schriften, seine Vorstellung sehr detailliert und sorgfältig mit Bibelstellen zu belegen. Man glaubt in dieser Zusammenfassung der Lehren Müntzers stellenweise (nicht generell) nur den Namen auswechseln zu müssen, um Weigel charakterisieren zu können. Nach Müntzer ist auch eine äußere, unwesentliche und eine innere, für das Heil wesentliche Taufe zu unterscheiden. Die Berechtigung der Kindtaufe ist aus der Bibel nicht zu beweisen, und der an Erwachsenen vollzogene Taufakt braucht keineswegs bindend zu sein, um zu Gott zu gelangen: „Ich bitte alle buchstabische gelarthen, das sie mir antzeygen, wue es in dem heyligen buchstaben steht, das ein eyniges unmündiges kindlein getawfft sey von Cristo und seinen bothen . . . zu beweysen, unser kinder also wie ytzund zu tewffen. J a , weil du ja so hoch drauff puchest, findestu nicht, das Maria, die mutter Gottis, oder die junger Christi mit wasser getaufft seint. Wenn do unser selikeit angelegen were, so wolten wir ein honigsussen Cristum annemen." 138 Die äußere Taufe ist also bei Müntzer nicht notwendig, um zur Gemeinschaft der Gläubigen zu gehören. Dem äußeren Taufakt steht die innere, wahre Taufe gegenüber. Müntzer sagt hinsichtlich dieser zum Seelenheil notwendigen inneren Taufe: „Wer nicht getaufft wirt ym wasser und heiligen geiste, wirt nicht kommen ins reich Gotes." Zugleich klagt er: „Die rechte tauffe ist nicht verstanden, darumb ist der eingang zur Christenheit zum vihischen affenspiel worden." Der Schlüssel zum richtigen Verständnis der Tauf e ist die Deutung des „Wassers". Müntzergibt die Erklärung: „Die wasser seint bewegung unsers in Gotisgeist." 139 Das „Wasser" ist also nur Symbol für den Vorgang der durch Gott veranlaßten Bewegung in der Seele. Nach Luther hat Müntzer gelehrt, ein Mann dürfe nur mit seiner Frau schlafen, wenn er durch göttliche Offenbarung versichert sei, einen Heiligen zu 137 Vgl. Th. Müntzer, Das Prager Manifest. Erweiterte deutsche Fassung, a. a. O., S. 498. 138 Th. Müntzer, Protestation oder Erbietung . . . , a. a. O., S. 228. ^ Ebenda.

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zeugen, sonst begingen beide Ehebruch. 1 4 0 Auch bei Weigel und vielen oppositionellen pantheistischen Denkern in der 2. Hälfte des 16. und ersten Hälfte des 17. J h . finden wir in unterschiedlicher Ausprägung „jenen Asketismus, den wir bei allen mittelalterlichen Aufständen mit religiöser Färbung und in der neueren Zeit im Anfang jeder proletarischen Bewegung antreffen. Diese asketische Sittenstrenge, diese Forderung der Lossagung von allen Lebensgenüssen und Vergnügungen stellt einerseits gegenüber den herrschenden Klassen das Prinzip der spartanischen Gleichheit auf und ist andrerseits eine notwendige Durchgangsstufe, ohne die die unterste Schicht der Gesellschaft sich nie in Bewegung setzen kann. Um ihre revolutionäre Energie zu entwickeln, um über ihre feindselige Stellung gegenüber allen andern Elementen der Gesellschaft sich selbst klarzuwerden, . . . muß sie damit anfangen, alles das von sich abzustreifen, was sie noch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung versöhnen könnte, muß sie den wenigen Genüssen entsagen, die ihr die unterdrückte Existenz noch momentan erträglich machen und die selbst der härteste Druck ihr nicht entreißen kann." 1 4 1 Wir haben auf diesen ethischen Rigorismus auch bei Weigel schon verwiesen. Die Polemik gegen die alte Kirche tritt bei Müntzer in wachsendem Maße (vornehmlich seit 1522) gegenüber der Kritik am Luthertum, d. h. an Luthers „unvollendeter Reformation", in den Hintergrund. Die Wittenberger sind Schriftgelehrte, Pharisäer, damit Feinde Jesu. 1 '- 2 Weltliche Bildung und Bibelkenntnis sind unnötig. 143 Nach Müntzerkennen die Schriftgelehrten eigentlich die Bibel gar nicht richtig, sie sind Heuchler und Schmeichler, die reden, was die Herren gern hören. Sie predigen, um sich zu bereichern — wie vormals die katholischen Priester. Die Schriftgelehrten haben „keinen andern glauben noch geist, dann den sie aus der schrifft gestolen haben. Aber sie heissen es nicht gestolen, sondern gegleubet." J4/i Dieser gestohlene Glaube, der nur auf einzelnen Teilen der Bibel beruht oder auf die Predigt ungetreuer Schriftgelehrter gebaut hat, ist „getichter" Glaube. Gegen ihn läßt Müntzer, der sich als prophetischer Verkünder des göttlichen Willens versteht, eine eigene Schrift erscheinen. Über Müntzers Verhältnis zur Mystik fehlen noch immer philosophische Spezialuntersuchungen. Jedenfalls ist die Mystik für Müntzer ein geistiges Ferment zur Klärung der eigenen Position. Nach Dismer ist der Einfluß der Mystik auf Müntzer in der Forschung überschätzt worden. E s gehöre zu der von Luther » H . Luther, W A T , B d . 1, Weimar 1912, S. 6 0 0 ( 3 - 6 ) ; W A , B d . 27, W e i m a r 1 9 0 3 , S. 77, 8 - 9 . 1 4 1 F . Engels, Der deutsche Bauernkrieg, a. a. O., S. 359—360. — Der andere Aspekt dieser Opposition ist ein schrankenloser Libertinismus, der den Häretikern z. B . jede sexuelle Ausschweifung erlaubt. Vgl. dazu: M. E r b s t ö s s e r / E . Werner, Ideologische Probleme des mittelalterlichen Plebejertums, a. a. O., S. 55—59. 1 4 2 Vgl. Th. Müntzer, Hochverursachte Schutzrede, i n : T h . Müntzer, Schriften und Briefe, a . a . O . , S. 325, 3 3 1 ; Th. Müntzer, Ausgedrückte Entblößung, i n : ebenda, S. 275, S. 269, S. 270, 2 7 9 ; Th. Müntzer, Auslegung des Unterschieds Daniels, i n : ebenda, S. 247 u. ä. - C. Hinrichs (Luther und Müntzer, a. a. O., S. 1 7 2 - 1 8 2 ) ist m. E . hinsichtlich seiner Schilderung von Müntzers Kirclienbegriff und seiner Auffassung von Gesetz und Gnade weitgehend zuzustimmen. 1 4 3 Deshalb soll der gemeine Mensch selbst gelehrt werden! Vgl. Th. Müntzer, Ausgedrückte Entblößung, a. a. O., S. 270. , 4 4 Th. Müntzer, Protestation oder Erbietung . . ., a. a. O., S. 2 3 5 ; vgl. ebenda, S. 306.

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geschaffenen Müntzerlegende, Müntzer sei von Eckhart und der Mystik abhängig. 145 Dabei sieht auch Dismer, daß Müntzer z. B. Eckhart wörtlich zitiert: „. . . Tauler und andere helfen Müntzer eine Seite seines Programms zu formulieren, als er sie schreiben muß" 14ü. Bürgerliche wie marxistische Forscher orientieren immer stärker auf das mystische Element in Müntzers Entwicklung. 147 Marxistische Forschung betont auch den revolutionären Charakter der Apokalyptik Müntzers und seinen Pantheismus. Beides haben wir hier lediglich implizit dargestellt. 148 Müntzers Zeitkritik behandelt die Mißachtung des Willens Gottes in der Welt, und sein eigenes Engagement versteht er als Vollzug des göttlichen Willens. In seiner Predigt fordert er, daß der Mensch „Schüler Gottes" werden soll und daß Gottes „allerliebster willen" getan werde.1''9 Alle Auserwählten sollen von Gott gelehrt werden, Gottes Schüler sein. Diese Forderung ist „hauptstück der Seligkeit"150. Für Müntzer verläßt sich der wahre Glaube nicht auf das ein für alle Mal ge145

R. Dismer, Geschichte — Glaube — Revolution, a. a. O., S. 146—153. Eine eingehende Beschäftigung Th. Müntzers mit J. Tauler während seines A u f e n t h a l t e s im Kloster Beuditz 1519/20 ist gesichertes Ergebnis der Müntzerforschung. Nach A. L o h m a n n h a t sich H . - J . Goertz (Innere und äußere O r d n u n g in der Theologie T h o m a s Müntzers, Leiden 1967; ders., T h o m a s Müntzer. Revolutionär aus d e m Geist der Mystik, i n : R a d i k a l e R e f o r m a t o r e n , a. a. O., S. 30—43) erneut a u s theologischer Sicht mit der Müntzerschen Mystik beschäftigt. Auf sein Aufzeigen apokalyptischer E l e m e n t e bei Müntzer bei stärkerer B e a c h t u n g des Einflusses der taboritischen E l e m e n t e (z. T. u n t e r d i r e k t e r B e r u f u n g auf M. M. Smirin) sei hier n u r verwiesen. — Vgl. J . Taubes, Studien zu Geschichte und System der abendländischen Eschatologie (Phil. Diss., Zürich) Bern 1947, S. 106ff.; H . Gerdes, Der Weg des Glaubens bei Müntzer u n d L u t h e r , i n : T h o m a s Müntzer, hg. von A. Friesen u n d H . - J . Goertz, D a r m s t a d t 1978, S. 16—30; F. Lau, Die prophetische Apokalyptik T h o m a s Müntzers u n d L u t h e r s Absage a n die Bauernrevolution, in: ebenda, S. 3—15; G. Maron, T h o m a s Müntzer als Theologe des Gerichts. Das „Urteil" — ein Schlüsselbegriff seines Denkens, i n : ebenda, S. 339—382. Noch i m m e r dominieren in der bürgerlichen M ü n t z e r l i t e r a t u r die Theologen. Vgl. die Übersicht f ü r den Bereich der B R D voii 1947 bis 1975 i n : M. Steinmetz, T h o m a s Müntzer in der Forschung der Gegenwart, a. a. O., S. 6 7 2 - 6 7 5 . 146 R. Dismer, Geschichte — Glaube — Revolution, a. a. O., S. 153. 8 An anderer Stelle bezeichnet Paracelsus die prima materia neben Gott, Himmel und Gemüt des Menschen als „ewig" und „unzergenglich". 159 Am Anfang ist für den Hohenheimer der Iiiaster, die erste Materie vor aller ,56

Paracelsus, Opus Paramirum, in: Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 9, a. a. O., S. 48. — Des Paracelsus Gedanken über den „Limbus" gehen auf 1. Mos. 2,7 zurück; sie werden aber von ihm wie auch von V. Weigel, bei dem sie eine große Rolle spielen, naturwissenschaftlich verstanden. 157 Vgl. Paracelsus, Liber Azoth, in: Theoprast Paracelsus von Hohenheim, Sämtliche Werke, Abt. 1. Bd. 14, a. a. O., S. 549. 158 Paracelsus, Labyrinthus medicorum errantium, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 11, a. a. O., S. 186-187. 159 Paracelsus, Liber de Imaginibus, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 13, a. a. O., S. 383. — W. Pagel (Das medizinische Weltbild des Paracelsus — seine Zusammenhänge mit Neuplatonismus und Gnosis, Wiesbaden 1962, S. 84) meint, daß die Lehre von der Ur-Materie mehr pantheistisch zu interpretieren sei: Wenn Pagel daraus einen Gegensatz zu seiner eigenen Grundauffassung konstruiert, wonach das Weltbild des Paracelsus weitgehend durch Neuplatonismus und Gnosis bestimmt sei (vor allem über Agrippa und M. Ficino tradiert), so sehe ich den Gegensatz nicht. Vgl. M. Pagel, Paracelsus. An Introduction to the Philosophical Medicine in the Era of the Renaissance, a. a. O., S. 50—125 (The Philosophy of Paracelsus).

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Schöpfung, der Urgrund alles Seienden, das aus ihm durch Scheidung hervorgeht. In pantheistischer Wendung versteht Paracelsus diesen Vorgang auch als Schöpfung und den Iiiaster als Gott. Vom Iiiaster trennt sich der Cagaster, der sich zum Iiiaster verhält wie das Katzensilber zum Silber, wie der falsche Prophet zum echten. Der Iiiaster scheidet sich in Firmament und Erde, in Astra und Stoff. Durch weitere Scheidung entstehen daraus Erde, Feuer, Luft und Wasser, die vier großen Bereiche der Natur, welche die Dinge der Möglichkeit nach in sich enthalten, ihre „Mütter". Allen Dingen ist Sal, Sulphur und Mercurius eigen, worunter alchemistisch nicht Salz, Schwefel, und Quecksilber zu verstehen sind, vielmehr „nun laß brinnen, so ist das do brint der sulphur, das da raucht der mercurius, das zu eschen wird sal". 1 6 0 Gemeint sind also allgemeine chemische Eigenschaften und Prozesse, die jedem Ding in besonderer Weise eigen sind,Qualitäten von Substanzklassen. Die Welt stellt sich der Hohenheimer, wie wir in seinem „Paragranum" lesen können, vor wie ein Vogelei, als Weltenei, in dessen Mitte sich die Erde befindet, umgeben von der Luft wie das Eidotter vom Klar und zu äußerst umfangen vom Firmament wie das Ei von der Schale. (Wir haben gezeigt, daß V. Weigel im „Ort der Welt" das gleiche Bild benutzt.) In dieser Welt sah Paracelsus alles in ständigem Werden und Vergehen. Jedes Ding hat darin seine Zeit, seinen Anfang und sein Ende, während die Natur immer wieder Neues hervorbringt: „keinerlei bleibet sten einen tag, wie es den anderen gewesen ist, sonder alle tag ein verenderte natur da, dardurch ein verenderung begegnet allen denen, so sie anrürent." 1 6 1 Das Dasein der Natur besteht im Aufstieg und Niedergang der Dinge, die ihrem Wesen nach tödlich, d. h. zeitlich endlich sind, es ist ein ständiges Gebären aus dem unerschöpflichen Schoß der mütterlichen Elemente, in denen die Samen der Dinge liegen, und die Rückkehr zu ihnen. „. . . von der erden alle jar neue frücht entspringen und die alten hingent, also all tag neu mineral, es sei von metallen, von margasit, von gesteinen, steinen, von salz und brunnen, und aber alles mit dem tot umbgeben, gleich als ein kint, das den tot mit dem leben bringet." 162 Dieses Werden und Vergehen ist Entstehen von immer wieder Neuem. Der Hohenheimer begreift die Natur bereits als produktive natura naturans. Das Verhältnis der Dinge zueinander ist ein Kampf der Gegensätze, in ihm ist „ie ein ding wider das ander, ein kraut wider das ander, ein würz wider die ander . . .". 1 6 3 Im Verständnis des natürlichen Werdens und Vergehens verband der Hohenheimer alchemistische Praxis mit Momenten antiker Philosophie. Den Kampf der Gegensätze faßte er als äußeren Widerstreit; was er als inneren Antrieb der Bewegung sah, erscheint gleichsam als eine Hybride von Alchemie und aristotelischer Form. Durch die in den Elementen wirkenden Archei und 160 Paracelsus, Opus Paramirum, a. a. O., S. 46. 161 Paracelsus, Von Blatern, Lähmi, Beulen Löchern und Zitrachten der Franzosen und irs Gleichen, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 6, a. a. O., S. 368. 162 Paracelsus, Das Buch De Mineralibus, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 3, a. a. O., S. 3 9 - 4 0 . Margasit ist bei Paracelsus eine Sammelbezeichnung für mineralische „Kiese", besonders Graueisenkies (Eisenbisulfid). 163 Paracelsus, Die 9 Bücher De natura rerum, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 11, a. a. O., S. 323.

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Vulcani werden die dort liegenden Samen zum Wachsen erweckt, ihre Entwicklung vollzieht sich als von den Archei und Vulcani betriebener chemischer Prozeß. Jedes Element hat sein eigenes Gewächs, das in ihm wurzelt und in ein anderes Element hineinwächst, dort Früchte trägt „als nemlich die erden ist in irem corpus dreifach, feur, sal und balsamus, und was aus ir wachst, das ist auch in drei species dergleichen; als ein bäum, des corpus ist ignis, sal, balsamus, also der kreuter auch, also ist das wasser, ist auch ignis, sal, balsamus, und was vom wasser wachst, ist dergleichen nichts als ignis, sal, balsamus. als dan seind alle stein und metallen, deren muter das wasser ist, das ist das element. also der himel auch ist feur, sal und balsamus. was nun seine früchte seind, seind auch also, das ist, die sonne ist feur, sal, balsamus, der sehne, regen, dergleichen in den dreien corporibus under eim corpus begriffen . . . nun sollent ir wissen, das dise drei ersten, feur, sal und baisam wol mögen mit andern namen auch genennet werden, wie ich in der philosophia melde: als feur suphur, als sal baisam, als liquor mercurius. das wer, sulphur, balsamus und mercurius seind die drei, die da geheißen werden prima materia rerum."10'* Auch Weigel vertritt — gegen Aristoteles — die paracelsische Auffassung vom Firmament als Element, so im „Güldenen Griff" (Kap. 1). In den vier Elementen sind auch die poetischen Gestalten der Volksmythologie zu Hause — im Wasser wohnen die Nymphen oder Undinen, in der Luft die Sylphen oder Waldleute, in der Erde die Pygmäen, die Gnomen und Kobolde der Bergleute und im Feuer die Feuergeister, die Salamander. Vor Gott sind diese Wesen den Tieren gleich und nicht den Menschen, ohne Aussicht auf Auferstehung und Jüngstes Gericht. Weigel hat diese „Geisterlehre" des Paracelsus besonders geschätzt. Der Mensch ist die kleine Welt, in der alles ist, was i n der großen Welt ist, Mikrokosmos im Makrokosmos. Die Gebärmutter der Frau ist noch einmal kleine Welt in der großen, die der Mensch als Mann und Frau darstellt. Jede Kreatur ist für Paracelsus zweifach, die eine aus dem Samen, die andere aus der Nahrung.165 So ist der Mensch Mikrokosmos und in doppelter Hinsicht aus dem Makrokosmos gemacht: einmal aus dem Limbus, dem Auszug der vier Elemente, den Gott „realiter" als Masse in der Hand gehabt hat, um daraus den Menschen — die Quintessenz — zu formen.1Uii Zum anderen erneuert sich der Mensch ständig aus der Nahrung: „also essen wir uns selbst." 1(i7 Mikro- und Makrokosmos sind eins, nicht nur der Substanz nach, sondern — was für Paracelsus wichtiger ist — ihrem Lauf nach: „und ein ding ist, das eußer und das inner, ein constellation, ein influenz, ein concordanz, ein zeit, einerz, ein tereniabin, ein frucht." 168 Welt und Mensch unterliegen den gleichen Gesetzen: „dan die astra im leib nemmen ir eigenschaft, art, wesen, natur, lauf, stand, teil gleich den eußern."1K9 Paracelsus, De Meteoris, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 13, S. 137. Paracelsus, Opus Paramirum, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 9., a. a. O., S. 75. iß0 Paracelsus, Astronomia Magna oder die ganze Philosophia sagax der großen und kleinen Welt, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 12, a. a. O., S. 34. 16? Paracelsus, Opus Paramirum, a. a. O., S. 71. 1 6 8 Paracelsus, Das Buch Paragranum, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 8, a. a. O., S. 180 (tereniabin = Pflanzendroge). 1 0 9 Ebenda, S. 160. — Vgl. Paracelsus, Das Buch Paragranum, Vorrede und erste zwei 1(i4 165

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Mit den Begriffen Mikro- und Makrokosmos sowie ihrer Einheit baut Paracelsus seine pantheistische Grundhaltung aus. Es entsteht ein einheitliches Weltbild, das die Welt als Organismus faßt und keinen außerhalb der Welt stehenden Gott als Beweger und Gesetzesmacher benötigt. Als besonders bedeutsam erscheint die neue Stellung des Menschen in der Welt, der nicht mehr im Gegensatz zu Gott steht, sondern an Stelle Gottes bzw. vergottet wirkt und handelt. Durch fünf Entia ist für Paracelsus das menschliche Leben in Gesundheit und Krankheit bestimmt: durch das Ens astrale, das Ens veneni, das Ens naturale, das Ens spirituale und das Ens Dei. Mit den ersten beiden Entia sucht er die Natur als widersprüchliche Einheit von notwendigen Existenzbedingungen und pathogenen Faktoren zu erfassen. Mit dem Ens astrale soll erklärt werden, wodurch Himmelskörper unsichtbare materielle Einwirkungen auf die Erde ausüben, die je nach der Beschaffenheit der Sterne lebensnotwendig sind oder sich auf den Menschen als Gift auswirken und ihm durch die Luft vermittelt werden. Die Lehre vom Ens veneni legt dar, wie durch die Nahrung Krankheiten entstehen können: Nahrung besteht aus für den Menschen Gutem und Giftigem. Der Magen gleicht dem Laboratorium eines Archeus, der als „innerer Alchemist" den Stoffwechsel, betreibt, Gutes vom Giftigen trennt, das Gute in Fleisch und Blut transformiert und das Giftige ausscheidet. Enthält die Nahrung des Giftigen zu viel, wird der Archeus seiner nicht mehr Herr, der Stoffwechsel wird gestört, und die Krankheit entwickelt sich als Kampf zwischen Archeus und Gift. Das Ens naturale umfaßt die menschliche Zeitlichkeit, den natürlichen Lebensablauf von der Embryonalentwicklung bis zum Tode, in dem verschiedene Entwicklungsstörungen auftreten können. Mit der Lehre vom Ens spirituale meint Paracelsus, daß aus feindlichen Beziehungen zwischen den Menschen Krankheiten entstehen können, und zwar auf magischem Wege durch den Willen — ein Versuch, dem kirchlichen Hexen- und Teufelsglauben mit weißer Magie entgegenzutreten. Dafür gab Paracelsus auch eine natürliche Therapie an. 170 Das Ens Dei bedeutet, daß Krankheiten wie die ganze Welt letztlich von Gott kommen, der aber auch den Arzt zu seinem Stellvertreter einsetzte, damit er dem Kranken durch Erkenntnis der Natur Heilhilfe gebe. In diese Beziehungen eingebettet sah der Hohenheimer den gesunden und den kranken Menschen, der Gesunde lebt in Harmonie mit ihnen und ist zugleich durch sie gefährdet, da aus ihnen auch die Krankheiten kommen. Paracelsus bezeichnet die untätigen Menschen als zeitlos und kunstlos, als die, die nicht geblüht haben und Frucht tragen wollend 71 Dies trifft sowohl die Ärzte, die nicht ständig von der Natur lernen und die Lehren der mittelalterlichen Autoritäten wiederkäuen, als auch die „passiven" Mystiker, die sich ebenfalls von der Welt zurückgezogen haben. Paracelsus versteht die Zeit

170

,71

Bücher, in: ebenda, S. 96—97. Zur Grundbedeutung der Entsprechung von Mikround Makrokosmos bei Paracelsus vgl. \V. Pagel, Paracelsus als „Naturmystiker", in: Epochen der Naturmystik, a. a. O., S. 55—57. Vgl. K. Goldammer, Die Astrologie im ärztlichen Denken des Paracelsus, in: Hessisches Ärzteblatt, Frankfurt/M. 23 (1962) S. 4 4 2 - 4 5 8 . Paracelsus, Das Buch Paragranum, a. a. O., S. 213.

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nicht als Kontinuum. Zeit entsteht durch die Scheidung des Einen; jedes Teil hat seine Zeit. 172 Zeit gibt den Dingen „den lauf", und der Lauf der Dinge gibt die Zeit. Nach dem Lauf faulen die Dinge, vergehen, entstehen aber dann wieder aufs Neue.1™ Paracelsus gewinnt diese Einsichten aus der Beobachtung der lebenden Natur, nutzt sie bei der Bereitung und Anwendung der Arznei und macht sie zum Bestandteil seiner Philosophie. Ob sich hieraus, wie Pagel es generell will, eine Beziehung zum gnostischen Zeitbegriff ergibt, halte ich für fraglich. Wir finden auch bei Paracelsus die dichotomische Unterscheidung von Leib und Seele bzw. Leib und Geist neben der trichotomischen, wonach der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht. Bei Paracelsus überwiegt die Dichotomie. Die Trichotomie haben wir auch bei Piaton, im Neuplatonismus, in der Gnosis und der hermetischen Literatur, unter Paracelsus' Zeitgenossen u. a. bei Agrippa von Nettesheim. Leib und Seele werden von Paracelsus als Einheit betrachtet, dabei wird die Seele höher gewertet. Auch bei Paracelsus findet sich die Unterscheidung von irdischem und ewigem Leib, irdischem und himmlischem Fleisch. Beide werden an der Jungfrau Maria und an Jesus deutlich. „Offenbar verfolgt Paracelsus mit diesen Theorien nicht nur ein bestimmtes anthropologisches Konzept, sondern sucht darin zugleich seine Überzeugung von der zumindest partiellen Gegenwart des Reiches Gottes auf Erden auszudrücken." 174 Im Abendmahl wird nach Paracelsus Christus inwendig empfangen und „gegessen", so daß Gott oder sein Sohn Jesus im Menschen ist. Durch die Wiedergeburt wird der Mensch Gott gleich, wie schon Johannes Damascenus meint. 175 Vielleicht hat dieser Gedanke direkt von Paracelsus her auf Weigel gewirkt. Demnach versteht Paracelsus neben dem leiblichen auch den geistigen Bereich mit den ihm eigenen Funktionen leiblich, als irdischen Leib; er spricht vom elementischen und siderischen Leib. Beide Leiber, also auch der irdische, dem Gemüt, Weisheit, Sinn, Gedanken und Kunst angehören, sind vergänglich. Der elementische Leib kehrt im Tod zu den Elementen, der siderische zu den Gestirnen zurück. Zu diesen vergänglichen Bestandteilen gesellt sich seine Gottesebenbildlichkeit als unumgänglich. „Ein Vergleich mit paracelsischen Gedanken führt dazu, in der gnostischen Psyche-Konzeption Parallelen zum siderischen Leib des Paracelsus zu sehen, ebenso wie in dem stoischen Pneuma-Begriff bzw. der hermetischen und neuplatonischen Nus-Vorstellung. Immer handelt es sich dort um etwas Stofflich-Geistiges, das doch ganz zum vergänglichen Menschen gehört, dessen Trichotomie durch Hinzunahme eines Unvergänglich-Ewigen erfüllt wird." 176 Aber, und das ist das Neue bei Paracelsus, das Ewige ist nicht reiner Geist, sondern Leib. Bei aller dicho172 Vgl, ebenda, S. 193; Paracelsus, Opus Paramirum, a. a. O., S. 98 u. ö. «3 Ebenda, S. 187, S. 173. - Vgl. Paracelsus, Elf T r a k t a t von Ursprung, Ursachen, Zeichen und Kur einzelner Krankheiten, in: ebenda, Abt. 1, Bd. 1, a. a. O., S. 59. 1 7 4 E . \V. Kämmerer, Das Leib-Seele-Geist-Problem bei Paracelsus und einigen Autoren des 17. Jahrhunderts, Wiesbaden 1971, S. 18. 175 Vgl J . - P . Migne, Patrologiae Cursus completus, Series Graecaeprior, Tom. 94, Paris 1864, Sp. 1152 A. 1 7 6 E . W . Kämmerer, Das Leib-Seele-Geist-Problem bei Paracelsus, a. a. O., S. 3 9

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und trichotomischen Gliederung des Menschen bleibt der Leib auch für ihn ein Ganzes. Der Begriff der astra spielt bei Paracelsus eine zentrale Rolle. Astronomie gehört neben Philosophie, Alchemie und Proprietas zu den Säulen der Heilkunde. Astra — das ist der Lauf der Gestirne. An anderer Stelle wird der Begriff mit dem Ablauf der Jahreszeiten erklärt. Der Lauf des Himmels entspricht zugleich den zyklischen Veränderungen der Dinge: „Ein ieglich ding, das in der zeit stet, das stehet im himel." 177 Der Himmel ist somit ein „Porträt" der Dinge, ebenso aber ein „Präludium". Der Kundige erkennt aus diesem Vorspiel die gesetzmäßigen Veränderungen aller Dinge und kann Voraussagen treffen. Das Gestirn ist nicht fixiert, „sonder frei wie ein federn im luft". 1 7 8 Bei dieser Feststellung steht Paracelsus im Gegensatz zu der bei den Vertretern des Ptolomäischen Weltmodells weit verbreiteten Auffassung, nach der die Sterne an Kristallsphären befestigt sind. Auch in dieser Hinsicht folgt Weigel Paracelsus (vgl. Weigels „Vom Ort der Welt"). Selbst die einzelnen Teile im Menschen sind nach Paracelsus in freier Bewegung.17U Weiterhin verwirft er den Begriff des Hegemonikon — die Alten bezeichneten damit ein Organ, das sich ebenso wie der Herrscher im Staate alle anderen Untertan gemacht hatte. Aus der Gleichberechtigung und relativen Selbständigkeit der Organe ergibt sich, daß der Begriff der astra auch die Verknüpfung der spezifischen Funktionen meint. Es wäre verfehlt, den Himmel des Paracelsus mit einem „allwissenden" Gott gleichzusetzen: Nur der Narr sagt, die Krankheit „muß ein plag sein von got". E r „weißt der natur concordanz nit". 1 8 0 Eine Krankheit ist nach Paracelsus ein Prozeß, der erst mit dem Auftreten der Symptome, d. h. im Lauf der Zeit sichtbar und damit erkennbar wird. Aber „der himel . . . zeiget an aller krankheiten ursprung, materia . . . So weißt doch nit, was das ist, das also in die form treibet, du weißt aber wol, wie sie wird." Da die KrankParacelsus, Das Buch Paragranum, a . a . O . , S. 173. — Vgl. die Nutzung Paracelsus' entsprechender Auffassungen bei: V. Weigel, Gnothi Seauton I, in: V. Weigel, Ausgewählte Werke, a. a. O., S. 1 7 3 - 1 7 5 (Kap. 3). 178 Ebenda, S. 161. 179 Paracelsus, Bruchstücke des Buches von den fünf Entien, genannt Volumen medicinae Paramirum de medica industria, in: Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 1, a. a. O., S. 210. — Rheticus ist Copernicaner und Paracelsist. Ihm erschien Copernicus als der Reformator der Astronomie und — von gleicher Bedeutung — Paracelsus als Reformator der Medizin, vor allem durch seine Begründung der Iatrochemie. Auch Tycho Brahe geht auf Paracelsus zurück, wieweit, bliebe zu untersuchen. Brahe kennt ausgezeichnet die Klassiker der Alchemie wie Hermes Trismegistos, Geber, Arnald von Villanova, R. Lullus, R. Bacon, Albertus Magnus, die „Turba Philosophorum", die „Tabula Smaragdina" usw. E r schätzt und benutzt sie (vgl. K. Figala, Tycho Brahes Elexier, in: Veröffentlichungen des Forschungsinstitutes des Deutschen Museums für die Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, Reihe C: Quellentexte und Übersetzungen, München 13 [1972] S. 1 3 4 - 1 7 6 ) . W. Pagel, Paracelsus. An Introduction to the Philosophical Medicine in the E r a of Renaissance, a. a. O., S. 203—333 (The Sources of Paracelsus). Vgl. zum Alchemisten Paracelsus: H. Schipperges, Strukturen und Prozesse alchimistischer Überlieferungen, in: E . E . Ploss/H. Roosen-Runge/ H. Schipperges/H. Buntz, Alchimia. Ideologie und Technologie, a. a. O., S. 107—112. 180 Paracelsus, Das Buch Paragranum, a. a. O., S. 171.

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heit „im Lauf" geheilt wird, ist auch die notwendige Arznei „den astris underworfen". 181 Als Teil der Natur, als Mikro- und Makrokosmos, vermag der Mensch die Natur zu erkennen, soll er das „Buch der Natur" studieren. E s i s t f ü r P a r a c e l s u s nicht wie für Galilei in Zahlen geschrieben, 182 sondern muß in seiner qualitativen Mannigfaltigkeit und Dynamik erfahren werden, damit die Geheimnisse der Natur offenbar werden, das Unsichtbare sich im Sichtbaren zeigt: „Wer kan glauben, das im somen euphragiae, ein solche färben, form etc. sei, kraut und bletter? niemants als ders sieht, das doraus wird, die werk machens glauben, dan sie eröfnen, das in im ist. also sol der arzt wissen, das die unsichtigen ding bei im in wissen seiend, wie die sichtigen, der aber die sichtigen nicht weißt, dem ist nicht glaublich das unsichtig, die werk müssen die ding geben und die erfarung; bei den unerfarnen ist kein glauben, in den erfarnen ist der glaub, darumb sol der arzt erfaren sein, auf das er wisse, das er kan glauben, dan glauben in der arznei ist nicht änderst, dan wissen der unsichtigen dingen, werk, gang, natur, art, eigenschaft, zu gleicherweis, wie in den sichtigen." 183 Der Mensch verfügt über das „Licht der Natur". Was er durch die Sinne über die Natur erfährt, soll er mit dem Licht seiner Vernunft erleuchten, um so die Geheimnisse der Natur hinter dem Sichtbaren zu erkennen. Erkenntnis ist dem Hohenheimer Selbstoffenbarung der Natur im Menschen, der sich in ihrem Licht hält. Die darauf gegründete Medizin war ihm der Gipfel menschlichen Erkenntnisstrebens. Mit der von ihm ausgebauten Signaturenlehre, wonach die Dinge anzeigen, wozu sie dem Menschen tauglich sind, schlug er allerdings einen Irrweg ein wie viele seiner vorgeblichen oder wirklichen Adepten, wie dann auch J . Böhme. Paracelsus kam es nicht darauf an, Wissen um des Wissens willen anzuhäufen. „dan warzu ist es, das der astronomus weiß den regen, den schnee und weißt nit, worzu sie gut seind." 184 Der Mensch soll aus der Natur lernen u n d sich dieses Wissen nutzbar machen. Das spricht gegen jene Interpretationen, die global die Wissenschaft der Renaissance als eine Wissenschaft um der Wissenschaft willen, als esoterisch einschätzen. Paracelsus bestätigt die Schlußfolgerungen etwa von M. Boas, E. Zilsel und Henryk Grossmann, der sich gegen Borkenaus Deutung der Renaissancewissenschaft ausspricht (vgl. Kap. II). Immer wieder polemisiert Paracelsus gegen „speculiren", gegen Aristoteles, Avicenna, Thomas von Aquino, Albertus Magnus und den byzantinischen Arzt und Kompilator Joannes Aktuarios (Johannes Zachariae), die nichts von der Natur verstanden hätten. Auch aus dem „Heiligen Geist" soll der Arzt als Arzt nicht lernen, denn „alle arznei des leibs stet sichtbar on allen glauben". 185 Weisheit ist für Paracelsus Erfahrenheit und Geschicklichkeit. 186 Anwenden von Wissen ist somit gleich Eingriff in die Natur. 181 Ebenda, S. 175, S. 177, S. 182. 182 Vgl G. Galilei, Le Opere, Lettera a Madama Cristina di Lorena, Granduchessa di Toscana (1615), Ediz. naz., Vol. V., Firenze 1895, p. 316; ders., II Saggiatore, in: Vol. VI, Firenze 1896, p. 232. 183 Paracelsus, Elf Traktat von Ursprung, Ursachen, Zeichen und Kur einzelner Krankheiten . . . , a. a. O., S. 57—58. Euphragia = Euphragia spec. L. (Augentrost). 184 Paracelsus, Das Buch Paragranum, a. a. O., S. 147. 185 Paracelsus, Opus Paramirum, a. a. O., S. 44.

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PANTHEISMUS UND MYSTIK

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Ist der Mensch auch Mikrokosmos und tragen die Dinge Signaturen, so ist die Welt doch nicht zweckmäßig für den Menschen eingerichtet: „were er [der Ochse — S.W.] alein beschaffen von wegen des menschen und nit sein selbs auch, so bedürft er der hörner nit, noch der bein, noch der klauen, wan darin ist kein narung; das daraus wird ist nicht ein noturft." 1 8 7 Darum hat der Mensch die Aufgabe, die Natur gemäß seinen Erkenntnissen durch die Arbeit für sich zu vollenden. Wie die Naturvorgänge dem Hohenheimer wesentlich chemische Prozesse sind, so beruht auch die Veränderung der Naturdinge durch den Menschen insgesamt auf Alchemie. Alchemisten sind der Bäcker, der das Brot bäckt, der Winzer, der den Wein macht, der Weber, der das Tuch herstellt, die Bauleute, die die Häuser bauen, denn „die natur ist so subtil und so scharpf in iren dingen, das sie on große kunst nicht wil gebrauchet werden; dan sie gibt nichts an tag, das auf sein stat vollendet sei, sonder der mensch muß es vollenden. diese Vollendung heißet alchimia." 188 Übrigens finden sich im Anhang zu Weigels „Dialogus de Christianismo" Auszüge aus einem Werk des Alchemisten und Paracelsianers Alexander von Suchten. Die Naturauffassung und das Menschenbild des Hohenheimers schließen Äußerungen gegen die Ideologie der Kirchen und den Aberglauben seiner Zeit ein. Über den Zusammenhang zwischen Gestirnen und irdischem Geschehen entwickelte er in der Lehre vom Ens astrale eigene Vorstellungen. In seinem Sinne war Astronomie Grundlagenwissenschaft der Medizin. Die theologische Mystifikation psychischer Krankheiten verwarf der Hohenheimer zugunsten natürlicher Ursachen: In den Exorzismen sah er natürlich verstehbare Heilverfahren für Geisteskranke, an denen die Priester mehr Geld verdienen, wenn sie vorgeben, den Teufel auszutreiben. An weißer Magie und Zauberei hielt Paracelsus ziemlich viel von dem für möglich, was zu seiner Zeit allgemein geglaubt wurde, aber er bestritt, daß dabei übernatürliche Mächte im Spiel seien. „Dan zu gleicher weis, als wir ein feur aus dem calcedonier schlahen und zünden das holz damit an; wer wil das ein Zauberei heißen, so es doch natürlich in unser hent geben ist? . . . feur anzünden, was ists als magica? also ist auch das ander, die ding wissen ist bilich, dan got sol erkant werden in seinen werken, nichts sol aber zu argem gebraucht werden, weders ist erger, oder ist es nit ein ding ein haus anzünden, dorf, stat und verbrennen, oder ein hagel machen und das korn erschlagen? so doch sie beide ein philosophia und potentia ist. oder was ist das, das du gift gibest zu trinken und tötest den menschen ? das auch magia ist . . . Das sol dorumb fürgenomen werden, das nit Zauberei do sei, sunder natürlichs do ist." 189 Ähnlich verteidigt Kepler die rechte vor der falsch verstandenen Astrologie. Für Paracelsus begegnet dem Menschen in der Natur nichts Übernatürliches. Naturerkenntnis war ihm die edelste Aufgabe des Menschen, Ziel der Erkenntnis aber ihre Anwendung zum Wohl des Menschen. Mannigfaltig sind des Hohenheimers Verdienste um Medizin und Alchemie: 186 Vgl. z. B. ebenda, S. 44, S. 43. 187 Paracelsus, Bruchstücke des Buches Von den fünf Entien . . ., a. a. O., S. 200. 188 Paracelsus, Das Buch Paragranum. a. a. O., S. 181. !89 Paracelsus, Elf Traktat v o n Ursprung, Ursachen, Zeichen und Kur einzelner Krankheiten, a. a. O., S. 137-138.

SOZIALKRITIK BEI

PARACELSUS

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Er führte chemische Arzneien ein, untersuchte chemisch Mineralwässer und Urin, entwickelte eine Art zusammenhängende Darstellung und Theorie der Chemie. Paracelsus beschäftigte sich mit den Reaktionsprodukten von Alkohol und Schwefel und stellte ein Präparat mit narkotischer Wirkung her. Mit der Geschichte vieler wichtiger Arzneimittel ist sein Name verbunden. Er leistete einen Beitrag zur Beschreibung der Syphilis und zu deren Therapie, schlug neue Wege in der Wundbehandlung ein. Paracelsus kannte die diuretische Wirkung des Quecksilbers und seinen Nutzen in der Wassersucht, die Verbindung von Kropf mit Mineralien und Trinkwasser, gab eine Beschreibung der Bergsucht als einer Berufskrankheit und ihre korrekte ätiologische Deutung. Neu ist die schon erwähnte Chemiatrie nebst Erkenntnis der sedativen Wirkung ätherähnlicher Produkte. Vor allem aber wies er die antike Säftelehre entschieden zurück und entwickelte eine neue Krankheitslehre, in der exogenen Schädlichkeiten eine bedeutend größere Rolle als zuvor zukommt. Des Hohenheimers Verdienste um die Wissenschaft — wir haben hier nur einige angeführt — sichern ihm in ihrer Entwicklung einen Ehrenplatz. Mit dem Menschen als dem die Natur nach Maßgabe seines Wissens verändernden und vollendenden Alchemisten ist die Basis der paracelsischen Gesellschaftsauffassung erreicht. In ihr vertritt der Hohenheimer als oberstes Prinzip mit großer Leidenschaft die soziale und politische Gleichheit der Menschen aller Stände. Herkunft und Ende ist bei allen gleich: „Wasbistu, edelman? was bistu, burger? was bistu, kaufman? stinkt dein dreck nit so übel als des pauren dreck? . . . was machstu dann aus dir selber, so du doch gleich des geblüets, gebeins und fleisch bist als der paur, und gleich so wol den würmen und zu staub und aschen und wieder zur erden werden mußt?" 1 9 0 Gleiche Auffassungen äußert S. Franck: „Alle Menschen — ein Mensch . . . Da findet sich in allen Adamskindern ein gleiches Herz und ein gleicher Wille zu leben, zu haben, zu herrschen, zur Wollust, Üppigkeit und eitelem Wesen von Natur, und ob sich gleich mit den Ländern die Kleidung und Sprache verkehrt, so verkehrt sich doch nicht das Herz, der Mut und der Wille." 191 Überhaupt lassen sich viele Gedanken des Hohenheimers bei Franck nachweisen und umgekehrt. Auch bei Weigel schimmern die Liebe zum „gemeinen Mann" und eine Verurteilung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse durch, wenn er sich etwa im „Dialogus de Christianismo" (Kap. 4) gegen die grausamen Strafen wegen Wildfrevels wendet. Paracelsus bekennt sich zu den sozial Unterdrückten, nimmt vor allem Partei für die leibeigenen Bauern. Für die Armen verlangt er brüderliche Hilfe unter Verzicht auf Eigennutz und Eigentum aus Einsicht in die menschliche Gleichheit und die noch höher stehende Pflicht christlicher Barmherzigkeit. Zum Ritter gewandt, sagt Paracelsus: „. . . also auch, so du reitest, so reit dermaßen, daß dein nechster auch reit, dann bösser ist es, daß, der do hinkt, krumb, lam ist, reit, dann du . . ." 192 Nach Paracelsus verzeiht Gott alle Sünden, nur die Hoffart nicht, das Streben, mehr als andere sein zu wollen. Folglich sollten Arme und Fürsten gleich190

Paracelsus, Von Fasten und Casteien, in: ebenda, Abt. 2, Bd. 2, a.a.O., S. 426. « i S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 161 (Par. 93). 192 Paracelsus, Liberde felici liberalitate, in: Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd. 2, a. a. O., S. 16.

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Wollgast

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PANTHEISMUS UND MYSTIK

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gestellt, die Ständeordnung und die politischen Institutionen seiner Zeit, insbesondere die fürstlichen und städtischen Kurien und Magistrate, aufgehoben werden. Paracelsus verwirft auch die kirchlich organisierte Wohltätigkeit des Mittelalters, ihm sind die kirchlichen „guten Werke" Diebstahl, da sie nicht uneigennützig erfolgen. Die Armen sollen nicht Almosen erbetteln, sondern ihr Recht einfordern. Paracelsus verlangt außerdem ein neues System der Arbeitsordnung. Alle Menschen sollen arbeiten: „dann schweiß zalt schweiß, arbeit die arbeit, und müßig gon zalt niemants. on schweiß erneren muß sich diebisch erneren, dann mußig gon ist wider das werken, und nit werken gibt kein nahrung . . . erner dich mit deiner hand durch den schweiß, den du von Adam ererbt hast, und gang nit mußig . . ."193 Arbeit dient dem wirklichen Bedarf, der „Notdurft", nicht dem Kapitalerwerb. Von den Kaufleuten und Händlern hält der Hohenheimer gleich Franck und Weigel nicht viel, sie scheinen ihm nur wucherische und betrügerische Geschäfte zu betreiben. Ebenso verwirft er es, sich vom Zins zu erhalten. Ein Ideologe des Frühbürgertums hätte das anders gesehen. Würden alle arbeiten und würde mit den Arbeitsergebnissen verfahren, wie es sich Paracelsus vorstellt, wären nur noch vier Arbeitstage wöchentlich notwendig. Gegen den Einwand, am Feiertag müsse gearbeitet werden, da es zu wenig Arbeiter gäbe, empfahl der Hohenheimer: „so heiß die müeßiggehnde münch, pfaffen, nonnen, edelleut, burger, doctores, Schreiber auch hinaus gehn. so wir alle gleiche arbeit tragen und nit auf einen schütten, so wechset uns ein gleiche narung . . ."194 Dabei ist ihm die Tätigkeit des Arztes, des Wissenschaftlers, des Geistlichen ebenfalls Arbeit. Auch die Frauen werden nur blühen wie ein Weinstock, sagt er (in Anlehnung an Ps. 128, 3a), wenn sie arbeiten, nicht aber, wenn sie müßiggehen. Paracelsus greift auf das in der Apostelgeschichte geschilderte Leben der christlichen Urgemeinde zurück, das im sozialkritischen Denken im 16. und 17. Jh. überhaupt eine große Rolle gespielt hat. Davon ausgehend befürwortet der Hohenheimer, das Privateigentum stark einzuschränken. Das Vererben des Reichtums der Eltern an die Kinder „zum müßiggang" lehnt er ab. Gott ist der wahre Herr aller Güter, der Mensch nur sein Haushalter. Das Eigentum an Grund und Boden soll der Gemeinschaft zugesprochen werden. In den Elenden und am Leben Gescheiterten wird für Paracelsus die Schuld der Reichen deutlich. Die Armut der Armen ist nicht ihr Verschulden und nicht naturbedingt, sondern vielmehr Ergebnis der sozialen Verhältnisse. Immer wieder analysiert und schildert der Hohenheimer die Not der Armen und ihre soziale Lage. So berichtet er, der „Stand" des Feldbauern zerfalle in zwei Teile: in die, die das Feld besitzen, und die, die es bebauen, die nichts davon haben und Knechte sind. Andererseits vermögen die Herren nicht das Land zu bebauen; „aber die knecht sollen nit", fügt er fordernd hinzu, „auf viehische weis gehalten werden als wie die schaf und gäns".195 193 194 195

Paracelsus, Liber de honestis utrisque divitiis, in: ebenda, S. 37. Paracelsus, Auslegung über die zehen gebott gottes, in: ebenda, Abt. 2, Bd. 7, a. a. O., S. 143. Paracelsus, De ordine doni, in: ebenda, Abt. 2, Bd. 2, a. a. O., S. 53. — Einen faktenreichen Uberblick über das sozial-politische Werk Paracelsi gibt: M. Bunners Die Abendmahlsschriften und das medizinisch-naturphilosophische Werk des Para-

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PARACELSUS

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Paracelsus folgert, der Besitzer habe keinen größeren Gewinnanspruch als der Arbeiter, weil er auch nicht mehr arbeiten könne oder weil er, wenn er selbst arbeite, keinen größeren Ertrag erreichen könne. E r entwirft das utopische Bild einer viergliedrigen Stände- und Gesellschaftsordnung, in der es keine Herren und Knechte mehr gibt und in dem Feldbau, Handwerk, freie Künste (Wissenschaften) und Obrigkeit in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen. Der Hohenheimer malt detailliert aus, wie die Arbeitserträge verteilt werden sollen. So soll der Wein nach den Gesamtkosten für den Anbau im ganzen Lande geschätzt und verkauft werden. Alle Winzer sollen den gleichen Gewinnanteil erhalten, auch die, deren Ernte schlechter ausfiel. Mit dem die Lebenskosten übersteigenden Betrag soll der Anbau aufs neue gemeinschaftlich betrieben werden. Der Preis des Weines soll für die Gesamternte gleich bleiben und durch die aufgewendete Arbeit und die dabei entstandenen Kosten bestimmt werden. Ebenso sollen beim Handwerk Lebenskosten und Aufwand aller Handwerker addiert und danach die Preise gebildet werden. Vielfach kauften die Grundeigentümer und Kapitalkräftigen die handwerklichen Produkte zu niedrigen Preisen ein (und zwar mit den von den Untertanen erst erpreßten Steuern und Abgaben) und veräußerten sie wieder mit hohem Gewinn. Dies sei doppeltes Unrecht. Derartige Stellungnahmen bei Paracelsus bezeugen einen vom Gedankengut der neutestamentlichen Bergpredigt und vom Humanismus ausgehenden christlich-utopischen Gleichheitskommunismus, in dem nicht alle gleichermaßen reich, sondern gleichermaßen arm sind. Die Auffassung des Paracelsus, die Vögel, die wilden Tiere und die Fische seien allen zur Nahrung bestimmt, richtet sich gegen ein fürstliches Privileg seiner Zeit. Sie ist auch unter den Programmpunkten der revolutionären Bauern und selbst noch bei V. Weigel zu finden. Mit Franck, vielen Täufern und „mystischen Pantheisten" auch des 17. J h . meint Paracelsus, die bestehende Obrigkeit „ist nit oberkeit, so von got gesetzt ist. dann got hat nie kein munch gemacht, nie kein pfaffen, nie kein edelman, nie kein grafen etc., hat auch nit heißen sich mit zinsen, gulten, renten, steuren, umbgelt etc., erhalten." 1 9 6 Besondere Bedeutung komme allerdings dem Kaiser zu. Nur von ihm geht fürstliche Macht aus. Dem Adel und den Fürsten wird bestenfalls als Gehilfen bei der Staatsführung eine Daseinsberechtigung zugestanden. Paracelsus wendet sich gegen erbliche Fürstenherrschaft und erklärt, Adel gelte nur für die Zeit des unmittelbaren Dienstes beim Kaiser. Gemeindeämter sollen ehrenamtlich versehen werden. E s ist im Geiste der „Reformatio Sigismundi" (vollendet 1539) und des Buches des sog. oberrheinischen Revolutionärs (abgefaßt 1498—1510), wenn Paracelsus gerade den Kaiser für eine durchzuführende Boden- und Besitzreform verantwortlich macht. Aber schon zu seinen Lebzeiten war die reale Entwicklung über diese Vorstellungen hinweggegangen.

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celsus, Theol. Diss. der Humboldt-Universität zu Beilin 1962. Vgl. zu Paracelsus' Weltanschauung die in mancher Hinsicht bedenkenswerten Überlegungen von H. Barth (Philosophie der Erscheinung. Eine Problemgeschichte, T. 2: Neuzeit, Basel - Stuttgart 1959, S. 4 9 - 9 3 ) . Siehe auch unten Anm. 203. Paracelsus, Auslegung des Psalters Davids, T. 1, in: Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Sämtliche Werke, Abt. 2, Bd. 4, a. a. O., S. 123.

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X.

P A N T H E I S M U S UND M Y S T I K

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Auch Paracelsus vertritt den Gedanken der Geistkirche. Die wahre Kirche besteht in der Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen. Die Kirche seiner Zeit mit ihren Gesetzen, Ordnungen und ihrem hierarchisch gegliederten Klerus wird auch von ihm als „Mauerkirche" gekennzeichnet. Ganz im Sinne Francks, Weigels, Böhmes u. a. „mystischer Pantheisten" des 16. und 17. Jh. schreibt Paracelsus: „Die Kirch heißt auf Latein Catholica, und ist der Geist aller gerechten Gläubigen und ihr Wohnung. Und ihr Zusammenkommung ist im Heiligen Geist, also daß sie alle im Glauben sind. Das ist fides catholica, und besitzt kein Statt [keine Stätte — S. W.]. Aber Ecclesia ist ein Maur. Und zu gleicher Weis wie im Heiligen Geist die Kirche der Heiligen ist mit ihrem Geist, also ist der Falschen [Kirche] in dem Gemäur unterworfen dem Teufel. Denn da hat der Heilig Geist kein Wohnung." 197 Diese Kirche wird durchgängig abgelehnt, ebenso das katholische Zeremonienwesen. Die kirchlichen Feste, Wallfahrten, Fastenzeiten sind „ein tanntz, pauckheten, undthurnir dess teuffels". 198 Die Forderung Jesu aus Matth. 10, 10 gegenüber seinen Jüngern 199 setzte Paracelsus in Gegensatz zu den Krummstäben der Bischöfe und den kostbaren priesterliehen Gewändern. Der Papst ist für ihn der Antichrist. Er haßt die satten Pfründer, die „voller bauchfühl, vohl lussts vnnd vohlles mauls yn essenn und yn trinckhen, mit fluchen, vppigkheit, unnd aller vnrheinigkeit vohl". 200 Für die katholische Kirche insgesamt galt das von Paracelsus mehrfach zitierte Sprichwort: „ye nehner Rom, ye bößer christ." 201 Wenn auch Paracelsus zunächst Luther hoch schätzt, die Reformation begrüßt, so stößt ihn das sich bald ausbildende protestantische Landeskirchentum ebenso ab wie die katholische Kirche. In der Diktion des Hohenheimers besteht zwischen Papisten, Lutherischen, Täufern und Zwinglianern wenig Unterschied: „Papistisch, ,Lutherisch etc., . . . Zwinglischen, Täufer, Hussiten, Picarden, . .. ,sie sind aber nit in der ewigen Kirchen, nur in der zergänglichen Kirchen. — Der Luther vertreibt den Papst nit, der Zwingle auch nit. Es ist alles ein Ding. Der Papst wird den Luther auch nit vertreiben, noch den Zwingli, noch die Täufer. Der Zwingle die andern auch nit. Die Täufer auch nit. Darum vertreibt ein'Teufel den andern nit." 2 0 2 Die wahren Apostel und Verkünder des Evangeliums sind die Armen. Insgesamt kommt Paracelsus zu dem Schluß, der Einzelne müsse sich das Evangelium selbst predigen. Die äußere Kirche gilt nichts. Zu den Täufern hat Paracelsus Verbindung gehabt. Offenbar ist er im Appenzell mit ihnen zusammengekommen, und in Straßburg und Nürnberg 197 198 199

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Zit. nach : Paracelsus, Vom Licht der Natur und des Geistes. Eine Auswahl, hg. von K. Goldammer, Stuttgart 1960, S. 170. Zit. nach: K. Sudhoff, Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracelsischen Schriften, T. 2, Berlin 1899, S. 339. „nehmt keinen Ranzen (oder: keine Reisetasche) mit auf den Weg, auch nicht zwei Röcke (oder: Unterkleider), keine Schuhe und keinen Stock, denn der Arbeiter ist seines Unterhalts ( = dar Ernährung) wert" (Übersetzung nach H. Menge). Zit. nach: K. Sudhoff, Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracelsischen Schriften, T. 2, a. a. O., S. 337. Zit. nach: ebenda, S. 340. Zit. nach: Paracelsus, Vom Licht der Natur und des Geistes, hg. von K. Goldammer, a. a. O., S. 170.

SOZIALKRITIK B E I P A R A C E L S U S

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konnte er sowohl ihre Spuren als auch bekannte Vertreter dieser Bewegung finden, wie M. Hofmann u. a. Aber auch von ihnen wandte er sich ab, wie die Paracelsischen Schriften aus den 30er Jahren bezeugen. Mit seiner Ablehnung von Kirche, Priestern und Sakramenten sowie mit seinen Toleranzund Friedensgedanken, in denen Erasmischer Humanismus durchschimmert, war Paracelsus seiner Zeit weit voraus. Mit der Mehrheit der Täufer, überhaupt mit den „Linken" der Reformation teilte er eine duldend-passive Haltung — eine Folge der Niederschlagung des Großen Deutschen Bauernkrieges von 1524-26. Paracelsus' sozialkritische Schriften mahnen zum Erdulden der bestehenden Verhältnisse, sie zu verändern fehle die Macht, und vor allem seien sie aus Gottes Willen hervorgegangen. Der Hohenheimer fordert, den Fürsten gehorsam zu sein, auch den ungerechten. Gute und schlechte Obrigkeit erfülle analoge Funktionen wie bekömmliche Speise und giftige Medikamente im Körper. Unentschuldbar aber sei, wenn man sich als Werkzeug zum Vollstrecken des bösen Willens der Obrigkeit mißbrauchen lasse. Gelegentlich bricht revolutionärer Kampfgeist durch, dann fordert Paracelsus auch noch in den 30er Jahren aktiven Ungehorsam, sogar gewaltsame Beseitigung der gegebenen Verhältnisse. In seinem „Psalmenkommentar" (um 1530—1531) verlangt er, daß man ungerechte Obrigkeit, die den Geboten Gottes als Werkzeug des Teufels entgegentritt, beseitigen müsse. Er rechtfertigt in diesem Fall auch den Tyrannenmord. 203 Die Eschatologie des Paracelsus zielt auch auf das Eintreten eines vollkommeneren Zustandes auf Erden, in dem sich des Hohenheimers gesellschaftliche Forderungen nach einem Reich der Gerechtigkeit verwirklichen. In dieser „güldenen Welt" finden die Ausgebeuteten und Unterdrückten, die Armen und Rechtlosen ihre Heimat. Eine neue Ständeordnung mit gerechter Verteilung der Güter wird erstehen. Adel, Fürsten, König und das Römische Reich werden vergehen. Die Habgierigen, Eigensüchtigen und Wucherer werden verschwinden. Seit der Himmelfahrt Christi habe dieser seine Königsmacht auf Erden nicht ausüben können, statt dessen habe sich der Teufel eingenistet und geherrscht. Im neuen Reich werden die Menschen unter der Herrschaft Gottes auf Erden wohnen. Die ganze Welt wird ein Staat sein und der Mensch keine Feinde haben. König, Dieb, Wucherer, Papst ,Mönch, gelehrte Repräsentanten der bestehenden Ordnung, insbesondere Juristen, wird es nicht mehr geben. Des Hohenheimers eschatologisches Reflektieren ist primär auf die Verwirklichung seiner sozialen wie religiösen Hauptanliegen schon auf Erden gerichtet. Vor Verwirklichung dieser neuen Ordnung müssen die Verteidiger des Alten, die Mächte des Antichrist, niedergerungen werden. Die aus dem Erfassen der gesellschaftlichen Realität von den Positionen der antifeudalen plebejischbäuerlichen Opposition geborene Sozialutopie gerät ins Esch'atologische, das Ziel bleibt im Diesseits angesiedelt. 203 Vgl.: Paracelsus, Sozialethische und sozialpolitische Schriften. Aus dem theologischreligionsphilosophischen Werk ausgewählt, eingel. und mit erklär. Anm. hg. von K. Goldammer, Tübingen 1952, S. 53. — Vgl. Paracelsus, Der Krieg als Sünde, insbesondere der weltanschauliche Krieg, in: Zur Friedensidee in der Reformationszeit, Texte von Erasmus, Paracelsus, Franck, a. a. O., S. 55—62.

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Ein auch philologisch befriedigender Vergleich der Arbeiten von Franck, Weigel u. a. „mystischer Pantheisten" einerseits und Paracelsus andererseits würde viele Gemeinsamkeiten zutage fördern. Auf inhaltliche Gemeinsamkeiten, vor allem zwischen Weigel und Franck, haben wir mehrfach verwiesen. Ansätze für formale Übereinstimmungen hat bereits W.-E. Peuckert geliefert. 204 204 Vgl. W . - E . Peuckert, Sebastian F r a n c k , ein deutscher Sucher, München 1943, S1 9 8 - 2 0 1 , 209 ff. - In einem B a n d der Sächs. Landesbibliothek (Sign. 3 A 7691) finden sich folgende T r a k t a t e zusammengebunden: 1. Theologia Weigelii. Das i s t : Öffentliche Glaubens Bekändtniiß deß Weyland Ehrwürdigen / durch die dritte Miwtalische oder Intellectualische Pfingstschule Erleuchteten Mannes / M. Valentini Weigelii . . . schrifftlichen verfasset und hinterlassen. Gedruckt zu der Newstatt / B e y J o h a n K n u b e r /'Anno 1618. — 2. V. Weigel, Studium universale. Das ist Alles das jenige / so von Anfang der Welt biß an das E n d e je gelebet / geschrieben / gelesen / oder gelernet und noch geschrieben oder gestudieret werden möchte / W a s das rechte studirn und lernen sey / W a s alle Menschen in dieser Zeit studiren sollen / Wie gantz leicht / wie gantz schwer die Theologia unnd alles zu lernen sey / daß wir einig unnd allein durchs Gebet alle Ding ohne Verdruß und Arbeit erlangen und lernen / Deßgleichen vom Schulgange oder studieren aller Menschen, . . . Gedruckt zu der Newenstadt bey J o h a n Knuber / I m J a h r 1618. — Beide Schriften sind apokryph. E c h t dagegen ist 3 . : V. Weigel, Soli Deo Gloria. Drey Theil einer gründlichen / und wol Probirten Anweisung und Anleitung der Anfahenden / einfeltigen Christen zu der R e c h t e n Schulen G O T T E S / darinne alle Natürliche unnd ubernatürliche Weißheit und E r k e n t n u ß gesehen / gelehrnet und gefunden wird, . . . Gedruckt zu der Newenstadt bey J o h a n Knuber / I m J a h r 1618. — Besonders wichtig ist 4 . : Philosophia Mystica, Darinn begriffen Eilff unterschidene Theologico-Philosophische / doch teutsche Tractätlein / zum theil auß Theophrasti Paracelsi, zum theil auch M. Valentini Weigelii, gewesenen Pfarrherrn zu Iscopaw / bißhero verborgenen manuscriptis der Theosophischen Warheit liebhabern. Anjtzo in zweyen Theilen zum Christlichen Vorschub / beyde Liechter / der Gnaden und der Natur /'in uns zuerwecken / in offenen Truck gegeben . . . Getruckt zur Newstadt / und zu finden bey Lucas J e n e s / Buchhändler. Anno M D C X V I I I . Der erste Teil dieser Sammelschrift enthält 1. De Poenitentiis, Theophrasti; 2. Astronomia Olympionovi, Theophrasti; 3. Theologia Cabalistica de perfecto homine in Christo Jesu, & contra, Theophrasti; 4. Commentarius in Danielem Prophetam, Theophrasti; 5. Das Leben und Lehrpuncten deß Einsiedlers Bruder Nicolai im Schweitzerlandt. Der zweite Teil dieser Schriften enthält V . Weigels „Kurtzer Bericht und Anleitung zur Teutschen Theologey", die pseudoweigelische Schrift „Scholasterium Christianum", Weigels „Vom himmlischen J e r u s a l e m " ; „Betrachtung vom Leben Christi"; „Daß Gott allein gut sey" und die anonyme Schrift „Introductio hominis, Oder Kurtze Anleitung zu einem Christlichen Gottseligen L e b e n " . Allein durch den Zusammendruck dieser Schriften erweist sich hier a) die schon damals empfundene enge Verbindung von Paracelsus und Weigel; b) die enge Verbindung zwischen Weigel und S. F r a n c k , der sich in den „ P a r a d o x a " und der „Chronik" auch auf „Bruder Niclas in der Schweiz" bezieht (S. F r a n c k , Paradoxa, a. a. O., S. 2 4 7 ; S. F r a n c k , Chronica, Zeytbuch und Geschycht bibel, Straßburg 1531, Einleitung); c) sind die Paracelsus-Fragmente des Teils I von unschätzbarem W e r t , wie K . Goldammer nachweist i n : Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Sämtl. Werke, Abt. 2, Supplementbd., a. a. O., S. X X X V I I . — E s folgt im Sammelbd.: Philosophia de limbo, aeterno perpetuoq. homine novo secundae creationis ex J e s u Christo D E I filio. Des Edlen / Hochthewren Philosophi ter maximi unnd beyder Liechter Naturae & Gratiae getrewen Doctoris Aurelij Philippi Theophrasti Paracelsi a b Hohenhaim / utriusq; Medicinae facile Principis Allen Studiosis Luminum Gratiae & Naturae zu nutz und gutem publicirt Durch Joannem Staricium, Lips. Misn. Notar. Publ. et P o e t a m Coronatum, Anno Christi M D C X V I I I Magdeburg bey J o h a n F r a n c k e n . Beigedruckt ist die für die Erforschung der Paracelsischen Handschriften ebenfalls wichtige „Auszlegung des V a t e r unsers. Ad coenam Domini

PARACELSUS, W E I G E L ,

BÖHME

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Goldammer konstatiert Einflüsse paradoxen Denkens auf Franck vor dessen „Paradoxa" durch Paracelsus' „Buch der Erkenntnis", in dem „schon zu Anfang des Buches geradezu thematisch Züge eines Paradoxismus vorkommen: Das Gute wird im Laster und Bösen gesehen bzw. durch das Böse hervorgeholt . . .; oder Christus als Weg zum Leben, Tür zur Seligkeit und Licht der Welt ist kein Scheunentor, Feldweg oder Unschlittkerze . . . , sondern im Sinne eines metaphorischen Allegorismus und Symbolismus zu verstehen. Das sind Formulierungen, wie sie in verwandter Art Sebastian Franck in seinen .Paradoxa' (zu Nr. 29—31, Nr. 32, Nr. 1 0 9 - 1 1 4 und in der Vorrede) gegen das buchstäbliche Verständnis der Hl. Schrift verwendet, der dort z. B . auch ähnlich wie hier Paracelsus erleuchtete und in ihren Werken untadelige Prediger (Nr. 171—174) fordert. Daraus ist zu schließen, daß Paracelsus von Franck in der Anwendung des von ihm im übrigen öfter verwendeten Paradoxon hier nicht abhängig ist . . . , da Francks Paradoxa erst 1534 im Druck erschienen sind." 2 0 5 Paracelsus' philosophisches Denken ist das eines Vertreters des bäuerlichplebejischen Lagers, wenngleich auch hier die Konturen verschwimmen. Eine einigermaßen umfassende marxistische Analyse des umfänglichen theoretisch-philosophischen Schaffens Paracelsus' steht noch aus. Wie eng Paracelsus, V. Weigel und J . Böhme in ihrem Denken zusammengehören, erweist z. B . die Wirkgeschichte der Paracelsischen Originalmanuskripte. Sie sind bis 1594 in der kurpfälzischen' Bibliothek zu Neuburg an der Donau nachweisbar. Dort entlieh der Paracelsus-Editor Johannes Huser damals zahlreiche religionsphilosophische Originalmanuskripte. Seit 1595 bzw. 1607 bzw. 1688 sind diese Manuskripte nicht mehr nachweisbar. 2 0 0 Nun gibt es von den Paracelsischen religionsphilosophischen Traktaten Kurzfassungen. Schon Karl Sudhoff hatte mit J . Huser u. a. den Glogauer Arzt und Paracelsisten Johannes Scultetus Montanus, den Lehrer Husers, als ihren möglichen Verfasser bzw. Besitzer und Entleiher vermutet. 2 0 7 Der bedeutende ParacelsusForscher und -Kenner Kurt Goldammer verfolgt diese Spur weiter. E r entwickelt zwei Hypothesen für die Existenz der Kurzfassung von Paracelsischen Werken: Sie sind „die Arbeit von Interessenten an den Schriften des Paracelsus, von Verehrern und Nachfolgern, die spätestens nach dem Tode des HohenDoctoris Theophrasti Paracelsi". Diese Schrift erweist wiederum die enge Verbindung von Staricius zu Paracelsus. Die Aufschlüsselung der Druckorte ist von hier aus wohl leichter. 203 Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Das Buch der Erkanntnus. Aus der Handschrift mit einer Einl. hg. von K. Goldammer, Berlin (West) 1964, S. 12—13. — Vgl. S. Franck, Paradoxa, a. a. O., S. 7 0 - 8 2 , S. 1 8 0 - 1 9 2 , S. 3 - 1 6 , S. 2 8 5 - 2 9 2 . Goldammer versucht auch, ausgehend von einer religiösen Lichtsymbolik, Gemeinsamkeiten bei Cusanus, Paracelsus, S. Franck, V. Weigel u. a. zu fassen. F ü r unser Thema ist dieser Versuch nicht von Bedeutung (vgl. K. Goldammer, Lichtsymbolik in philosophischer Weltanschauung, Mystik und Theosophie vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, in: Studium Generale, Berlin [West] - Göttingen - Heidelberg 13 [1960] S. 6 7 0 - 6 8 2 ) . 206 Vgl. K.-H. Weimann, Einleitendes zur Text- und Überlieferungsgeschichte, in: Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Sämtliche Werke, Abt. 2, Supplementbd., a. a. O., S. X X I V f. 207 Ygi K .Sudhoff, Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracelsischen Schriften, a. a. O., T. 2, S. 7, 10, 16, 39, 83, 434, 469 u. ö. - Siehe auch T. 1, Bibliographia Paracelsica, Berlin 1894, S. 373.

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heimers entstanden sind, wobei es aber nicht einmal ganz ausgeschlossen ist, daß solche gekürzten Abschriften oder Exzerpte bereits zu Lebzeiten des Paracelsus angefertigt worden sind". Oder „die Kurzfassungen könnten präparierte vereinfachte Druckmanuskripte sein, die dann zwar nicht ganz originalgetreu sind, aber einen bestimmten Leserkreis praktisch im Auge haben." Jedenfalls wird „das Gedankengut, vor allem das religiöse, politische, soziale und philosophische, des . . . Paracelsus . . . bereits spätestens um die Mitte oder zu Beginn der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts

in verschiedenen

Redaktio-

nen abschriftlich .bearbeitet' und in einer gekürzten .Bearbeitung' verbreitet" 208 . Goldammer verweist weiter darauf, daß einige solcher Kurzfassungen unter den Auspizien des schlesischen Arztes Balthasar Floeter aus Sagan im Jahre 1567 erschienen. Der erste Textzeuge genannter Kurzfassungen von „theologischen" Schriften ist bezeichnenderweise ein Manuskript von 260 Seiten, das 1564 in Görlitz geschrieben wurde.209 Untersuchungen haben ergeben, „daß wir hier das älteste bekannte Exemplar einer halbwegs homogenen Überlieferung finden, die irgendwie einen Standardcharakter in den Paracelsistenkreisen besessen zu haben scheint." 210 Es wurde bereits erwähnt, daß in den Kurzfassungen manch radikaler Gedanke des Paracelsus abgeschwächt worden ist. Die Kurzfassungen wurden dadurch noch keineswegs orthodox, sowenig es Weigels Schriften durch abschwächende Einfügungen wurden. Neben der Görlitzer Handschrift von 1564 gibt es eine zweite Görlitzer Paracelsushandschrift von 1567, die wohl von einem Monogrammisten M. B. stammt, hinter dem Sudhoff Magister Bartholomäus Scultetus vermutete. Goldammer stimmt dem letztlich zu. Scultetus ist aber nicht als Autor mit dieser Handschrift in Beziehung zu bringen,211 doch hat er eine in Basel verlegte Pestschrift des Paracelsus herausgegeben. Er war bekanntlich Schwager des A. Behem, an den sich Weigel brieflich um paracelsistische Auskünfte gewandt hatte. Scultetus wiederum stand in Verbindung zu Montanus. Eine weitere Spur der Vermittlungsgeschichte Paracelsischer Kurzfassungen führt zu A. Osiander d. Ä. Goldammer erweist zwei Pseudo-Paracelsus-Handschriften, datiert von 1569 und 1570, deren Schreiber ein „Lambert Wacker" sein will, mit ziemlicher Sicherheit als von Osiander bzw. einem seiner Schüler oder Anhänger stamK. Goldammer, Aus der Werkstatt der Paracelsisten des 16. und 17. Jahrhunderts. Bemerkungen zu den Kurzfassungen der theologischen Schriften des Paracelsus, in: Theophrast Paracelsus von Hohenheim, Sämtliche Werke, Abt. 2, Supplementbd., a. a. O., S. X X X I I I f . 209 Vgl Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaften bei den Städtischen Kunstsammlungen, Görlitz, Signatur Th. VI, 146. 210 K. Goldammer, Aus der Werkstatt der Paracelsisten des 16. und 17. Jahrhunderts, a. a. O., S. X X X V I . 211 Laut brieflicher Mitteilung von Prof. Dr. phil. habil. E.-H. Lemper, Görlitz, handelt es sich nicht um Scultetus' Handschrift, was an vielen Proben nachweisbar ist. Sudhoff nennt (Versuch einer Kritik der Echtheit der Paracelsischen Schriften. T. 2, a. a. O., Nr. 84, S. 271 und Nr. 162, S. 743-744) Marx Bernhard, der zum ostdeutschen Paracelsistentum gehörte. „Es dürfte sich wohl um eine in dessen Besitz befindliche Handschrift handeln, da dieses ,MB'als Marginale angewandt ist. . . Auch die Lesart .Magister Bartholomäus' wäre für diese Zeit ganz ungebräuchlich." (E.—H. Lemper.) 208

A N D R E A S O S I A N D E R D. Ä .

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mend. 212 Zwischen Schlesien und Sachsen bestanden im 17. J h . enge Verbindungen. Paracelsus selbst sagt 1528, aus Sachsen seien ihm wenig Schüler zugewachsen. Rudolf Zaunick hat mit Georg Forberger einen höchst kundigen Paracelsuskenner, den prominentesten Paracelsuseditor und -Übersetzer vor Huser, ermittelt. Forberger kannte Montanus und lebte zeitweilig in Basel, aber 1574—1577 in Sachsen. Sollte Weigel Forbergers Arbeiten gekannt haben ? 2 1 3 Der mehrfache Hinweis des Concionators in Weigels „Dialogus" darauf, die Lehre seines Zuhörers — also Weigels — sei „hosiandrisch", rechtfertigt einen kurzen Blick auf die Ideen Andreas Osianders d. Ä. 2 M Der mit Hieronymus Cardano befreundete Osiander ging nach dem Studium in Ingolstadt 1520 nach Nürnberg, wo er Hebräisch lehrte und die Priesterweihe erlangte. Schon in dieser Zeit suchte er in seinen Auffassungen auf den Grundtext der Bibel zurückzugehen. 1522 wurde er Prediger zu St. Lorenz zu Nürnberg. E r gehörte zu den ersten Predigern, die sich in dieser Stadt zur lutherischen Reformation bekannten. Schon seine Schrift „Ein gutt Unterricht unnd / getreuer ratschlag usz heiliger / gottlicher schrift, wes man sich / in disen zwitrachten / unnsern / heiligen Glauben un christliche / leer betreffend / halten soll . . ." (1524) zeigt einen starken mystischen Einschlag. 1524 wandte sich Osiander in Gutachten gegen die Auffassungen von Hans Denck und Heinrich Pfeiffer. Von den „Schwärmern" unterscheidet er sich — bei aller Billigung ihrer mystischen Tendenzen — durch entschiedenes Festhalten an der Trinität (gegen Denck) und eine hohe positive Wertung auch des äußeren (geschriebenen und gepredigten) Wortes, wenngleich er es gegenüber dem inneren geringer schätzte. Den Bauernkrieg lehnte er ab. Im Abendmahlstreit zwischen Zwingli und Luther stellte sich Osiander auf die Seite Luthers. Insgesamt hatte er nach 1525 großen Anteil an der Durchsetzung der lutherischen Reformation in Nürnberg und erwarb sich dort wie bei den Wittenbergern (Luther und Melanchthon kannte er persönlich) hohes Ansehen. Gleichzeitig wurde er mit Paul Lautensack und 1532 in Nürnberg mit dem englischen Bischof und Reformator Thomas Cranmer bekannt. Auch Calvin kannte er persönlich. 2 ' 3 Ebenfalls in seine Nürnberger Zeit fällt die Bevorwortung des in Nürnberg gedruckten Werkes von N. Copernicus' „De revolutionibus", die unbegründet ein schlechtes Licht auf Osiander geworfen hat. Osiander war übrigens mit der Astronomie (und Astrologie) seiner Zeit gut vertraut. Cardano widmete ihm von Pavia aus seine ebenfalls in Nürnberg gedruckte „Ars magna". 216 Osiander K. Goldammer, Aus der Werkstatt der Paracelsisten des 16. und 17. Jahrhunderts, a. a. O., S. LUIff. 2 , 3 R. Zaunick, Der sächsische Paracelsist Georg Forberger . . ., aus dem Nachlaß hg. von H.-H. Eulner und K. Goldammer, Wiesbaden 1977. 214 Vgl Andreas Osiander d. Ä., Gesamtausgabe, hg. von G. Müller, bisher Bd. 1—6, Gütersloh 1977-1985. 215 Vgl. W. Möller, Andreas Osiander. Leben und ausgewählte Schriften, a. a. O., S. 153—155, S. 239—240. — Auf den theologischen Streit, in den Osiander während seines Aufenthalts in Nürnberg verwickelt war, gehe ich wegen der Unergiebigkeit für unser Thema nicht ein, wenngleich er für die Ausformung der lutherischen Lehre nicht ohne Bedeutung war. Vgl. G. Vogler, Nürnberg 1524/25, a. a. O. 2 , 6 H. Cardano, Artis Magnae sive de regulis algebraicis, liber unus . . ., Nürnberg 212

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nutzt seine astrologischen Kenntnisse für apokalyptische Weissagungen und Schriften. Das nach dem Schmalkaldischen Kriege ergangene Augsburger Interim (1548) vermochte er nicht zu billigen. Der Reichstagsbeschluß führte in Oberdeutschland zum Sieg des Luthertums über die bürgerlich-radikale Richtung der Reformation, ein Teil der oberdeutschen Städte wurde rekatholisiert. Osiander legte sein Nürnberger Predigtamt nieder, verließ November 1548 die Stadt und wirkte ab Januar 1549 als Professor in Königsberg. Schon 1546 hatte sich Osianders allmähliche theoretische Abkehr von Luther angedeutet. In Königsberg begann er eine eigene Theologie zu entwickeln. Er verkündete: Hätte Adam nicht gesündigt, so wäre Christus dennoch Mensch, wenn auch nicht gekreuzigt worden. Es habe von vornherein in Gottes Plan gelegen, daß die Engel- und Menschenwelt im Gottmenschen ein Haupt und einen König erhalten solle. Damit geht Osiander auf Pico della Mirandola zurück.217 Die Menschwerdung Christi ist also kein Ergebnis des Sündenfalls. Adam im Urzustand ist ein Vorgeschmack von Christus. E s ist der Makrokosmos in menschlicher Gestalt, was nach Hirsch auf talmudistischen Einflüssen beruht. Diese sind wieder dem Neuplatonismus verwandt. Gleich dem kabbalistischen „Sohar", Pico della Mirandola, Paracelsus u. a. teilt Osiander den Menschen in Leib, Seele und Geist und setzt seine Auffassungen bewußt gegen die Melanchthons. 1551 erschien in Königsberg Osianders Bekenntnisschrift „Von dem Einigen Mittler Jhesu Christo und Rechtfertigung des Glaubens. Bekantnus". 218 Dies ist seine wohl bekannteste Schrift, sie erschien im gleichen Jahr lateinisch („De unico Mediatore Jesu Christo et Justificatione Fidei"). Die Grundgedanken sind kurz folgende: Das Wirken Jesu ist die Voraussetzung für den Umgang Gottes mit der Menschheit. Das bezeichnet Osiander als Erlösung. Davon ist die Rechtfertigung zu unterscheiden. Sie erfolgt nicht durch das Gesetz, durch Jesu Leben oder Sündenvergebung. Rechtfertigen heißt vielmehr: aus einem Gottlosen einen Gerechten machen. Unter der Herrschaft der Sünde ist die Seele tot, wenn Christus durch den Glauben darin wohnt, so lebt sie. Glauben ist eine Bewegung des Geistes, die Gott durch die Predigt seines Wortes und seinen Heiligen Geist in unseren Herzen erweckt. Der Glaube ist das Wesen der Dinge, die man erhofft, und eine Bezeugung der Dinge, die man nicht sieht. Jesus Christus ist der Gegenwurf (obiectum) des Glaubens. Ein Glaube, der Christus nicht ergreift, ist kein christlicher Glaube. Im wirklichen Glauben werden wir mit Gott versöhnt und mit Christus vereint, in ihm wiedergeboren, „daß er in uns und wir in ihm seien und durch ihn leben, und von desselbigen Gerechtigkeit wegen, der in uns wohnt, gerecht 1545, fol. I b . — Über die Freundschaft von Osiander und Cardano vgl. E . Hirsch, Die Theologie des Andreas Osiander und ihre geschichtlichen Voraussetzungen, Göttingen 1919, S. 1 2 0 - 1 2 2 . 217 Vgl. E. Hirsch, Die Theologie des Andreas Osiander . . ., a. a. O., S. 152—157. 218 Vgl. zum ff. E . W. Möller, Andreas Osiander, a. a. O., S. 382ff. Zum Verhältnis von Osiander und Paracelsus vgl.: K. Goldammer, Osiander and the Theological Paracelsism in the Middle of the 16th Century, in: Science, Medicine and Society in the Renaissance. Essays to honor Walter Pagel, ed. by A. G. Debus, vol. 1, London 1972, S. 105—120. Der Artikel behandelt „Some remarks concerning a Paracelsian pseudographon on the ten Commandments". Osiander wird mit Paracelsischen Schriften in Verbindung gebracht.

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geschätzt werden" , 219 Doch würden wir nie ein Geist mit Christus, wenn wir nicht zuvor mit ihm ein Fleisch wären. Wohnt Christus durch den Glauben in uns, dann auch Gottvater und Heiliger Geist, denn in Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit. Wir müssen Christi Blut trinken und sein Fleisch essen. Beides heißt in diesem Leben glauben, daß er unsere Sünden an seinem Leib geopfert und sein Blut zur Vergebung der Sünden vergossen hat, aber auch, daß wir durch diesen Glauben mit ihm ein Fleisch werden und mit seinem Blut von Sünden gereinigt werden. „Denn es ist unmöglich, daß der sollt glauben, daß der wahre Leib Christi im Brot und sein wahres Blut im Kelch sei, der nicht glaubet, daß Jesus Christus wahrhaftiglich in den christlichen Menschen wohne." 2 2 0 So sind nicht Brot und Wein das wahre Sakrament, sie allein geben keine Rechtfertigung. Von der Orthodoxie angefeindet, starb Osiander verbittert 1552. Nach Emmanuel Hirsch hat Ritsehl in Oslanders Spätwerk zwei Grundgedanken gesehen: „Einmal ist . . . für Osiander charakteristisch, daß er den Menschen vor dem Fall als ein Nachbild der ewigen Idee des Gottmenschen versteht. Dementsprechend ist die Wiederherstellung des Urstandes bedingt durch die Einwohnung Christi nach seiner göttlichen Natur. Sodann aber baut sich Oslanders Lehre auf die scharfe Trennung von Erlösung und Rechtfertigung. Niemand kann gerechtfertigt werden, ehe denn er lebt: so kann die Erlösung, die vor mehr als 1500 Jahren geschah, nicht unsre Rechtfertigung sein." 2 2 1 Dazu kommt bei Osiander die bereits erwähnte große Hochschätzung und Abhängigkeit vom geschriebenen Wort, von der Bibel. Osiander war humanistisch gebildet und dachte wie ein Humanist. E r gehört zu jenen Vertretern der humanistischen Bewegung, die sich der Reformation anschließen, dann von ihr und ihren Ergebnissen enttäuscht sind und in den Ausläufern des „linken Flügels" der Reformation enden. Neben Cardano ist er von Reuchlin und Pico della Mirandola stark beeinflußt. Nach 1520 wirken natürlich auch Ideen Luthers auf die Ausformung seiner endgültigen Weltanschauung. E s soll nicht ausführlich auf Schwenckfeld eingegangen werden. Sicherlich wird er in der Kontroversliteratur immer wieder zitiert. Auch die „Rosenkreuzer" oder Weigel werden als Schwenckfeldianer bezeichnet. Manchmal steht „Schwenckfeider" lediglich als Gattungsname für die von der Orthodoxie verurteilten Lehren. Anders ist Schwenckfeld kaum in die von uns betrachtete Linie einzuordnen. Kaspar Schwenckfeld von Ossig hat gemeindebildend gewirkt, sein geistiges Erbe hat im Pietismus Resonanz gefunden. 222 Schon seit 1523 schlössen sich 21» Zit. ebenda, S. 384. 220 Zit. ebenda, S. 385 (nach Disputation 1551). — Zum Königsberger Streit um Osiander vgl.: Chr. Hartknoch, Preussische Kirchen-Historie . . ., a. a. O., S. 309—356; vgl. H. E . Weber, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, T. 1: Von der Reformation zur Orthodoxie, Hbd. 1, Gütersloh 1937, S. 2 5 7 - 2 8 1 . 221 E. Hirsch, Die Theologie des Andreas Osiander . . ., a. a. O., S. 2. Hirsch versucht um jeden Preis, Osiander in das lutherische System zu reintegrieren, z. B. eine Synthese zwischen den streitenden Parteien zu finden (vgl. ebenda, S. 254—272). 222 „Schwenckfeld ist ein Vorläufer des deutschen Pietismus. Es ist geradezu überraschend, wie sehr er im großen und im kleinen pietistische Gedanken und Wendungen vorweggenommen hat: die persönliche Erfahrung, die Wiedergeburtstheologie, d. h. ein-

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1550—1650

seine Anhänger in Schlesien zu Gemeinden zusammen. Ihr Zentrum war zunächst das Fürstentum Liegnitz, dann die Grafschaft Glatz und schließlich die Gegend des Bober-Katzbach-Gebirges. Anhänger der schwenckfeldischen Lehre waren in der ersten Generation Adelige, Theologen und Ärzte, in der zweiten sehr oft Bauern, Grundbesitzer, selbständige Handwerker und Kleinunternehmer, schließlich — in ihrer Niedergangsphase — vorwiegend Häusler und Gärtner, wie Weigelt darstellt. Die schlesischen Schwenckfeldianer wichen 1725 vor dem Druck der Gegenreformation in die Oberlausitz, 1734 wanderten sie dann nach Pennsylvanien und Maryland (USA) aus, wo ihre Gemeinden noch heute bestehen. Schwenckfeld bleibt stets Luther verhaftet. Nicht nur dem jungen Luther, auch dem späteren fühlte er sich gerade in seiner Christologie verwandt und übersendet ihm noch 1543 — trotz der Ende der 20er Jahre vorausgegangenen entschiedenen Kontroversen — christologische Schriften. Luther weist Schwenckfeld schroff zurück. Für Schwenckfeld ist Luthers Forderung „zurück zur Schrift" durchaus verbindlich. Mit Nachdruck betont er: „so Glaube ich auch die Heiligen Evangelia und allen Worten des Herren Jesu Christi / darnach die H. Schrifft Alltes vnd Newes Testaments / vnd was die H. Propheten vnd Aposteln Christi geleert vnd geschriben . . ." 22:1 Schwenckfeld meint, daß man der „Theologia teutsch" gar nicht bedürfe, Tauler kennt er, lehnt ihn aber ab. 2 2 4 Von einem Urteil über beide ausgehend, wendet sich Schwenckfeld explizit gegen Müntzer, Karlstadt und S. Francks Lehre vom inneren Wort. „Spiritualistische" Gedankengänge Francks hat Schwenckfeld als Irrlehren bekämpft. 225 Ecke sucht Schwenckfeld um jeden Preis orthodox zu rechtfertigen: „In Wahrheit sind Schwenckfelds Ausführungen nur eine allmalige Büß- und Gnadenerfahrung, Selbstbeurteilung auf Grund der Bekehrung, Abkehr von der Welt als Probe auf den Ernst der Bekehrung, weiter die Empfindsamkeit, das besondere Verhältnis zum himmlischen Könige, die Adam-ChristusLehre, das .rosafarbene' Blut Jesu Christi als heiligende Kraft, die Geringschätzung bloßer Rechtgläubigkeit ohne erweckliche Kraft, die Forderung bekehrter Geistlicher, die alleinige Anerkennung kleiner erweckter Kreise als der wahren Kirche, der pietistische Begriff vom Heiden." (E. Hirsch, Zum Verständnis Schwenckfelds, in: Festgabe . . . Karl Müller zum siebzigsten Geburtstag dargebracht, Tübingen 1922, S. 169.) — Maron sieht Schwenckfelds Quellen in der Mystik. Vgl.: G. Maron, Individualismus und Gemeinschaft bei Caspar von Schwenckfeld. Seine Theologie dargestellt mit besonderer Ausrichtung auf seinen Kirchenbegriff, Stuttgart 1961. Maron gibt eine Wertung der Literatur zu Schwenckfeld aus dieser Sicht (S. 10—32) und einen guten Überblick über die Schwenckfeldliteratur (S. 175—179). Schwenckfeld hat bisher keine ausführliche marxistische Würdigung erfahren. Vgl. lediglich: G. Brendler, in: Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte. Von den Anfängen bis 1945, 2. erw. Aufl., Berlin 1970, S. 647. 2 2 3 C. Schwenckfeld, Der erste Theil der Christlichen Orthodoxischen bücher und schrifften . . ., [o. O.] 1564, S. 6, vgl. S. 75. 224 Vgl. K. Ecke, Schwenckfeld, Luther und der Gedanke einer apostolischen Reformation, Berlin 1911, S. 45 u. ö. 225 Vgl. C. Schwenckfeld von Ossig, Letters and treatises 1534 — January 1538, ed. Ch. D. Hartranft, Leipzig 1916, S. 522—523; ders., Letters and treatises 1538— 1539, ed. E. E. Schultz-Johnson, Leipzig 1922, S. 45; ders., Letters and treatises 1540—1541, ed. E . E . Schultz-Johnson, Leipzig 1926, S. 152 ( = Corpus Schwenckfeldianorum, vol. 5—7). — Zum Gegensatz von Franck und Schwenckfeld vgl. auch A. Hegler, Geist und Schrift bei Sebastian Franck, Freiburg i. Br. 1892, S. 2 7 6 - 2 8 0 .

KASPAR

SCHWENCKFELD

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seitige, originell gefärbte Beleuchtung der Anschauung Luthers . . ." 2 2 C Aber in die hier von mir gezeichnete Linie gehören Schwenckfelds Auffassungen nicht. Betont werden muß allerdings, 227 daß die Schwenckfeider Gewissensfreiheit forderten, Eid und Waffendienst entschieden ablehnten und das antifeudale Prinzip der Trennung von Staat und Kirche verfochten. Gerade wegen der letztgenannten gesellschaftspolitischen Folgerungen ihrer Lehre wurden sie von den orthodoxen Landeskirchen und von der Staatsmacht verfolgt. Den Schwenckfeldern gilt die geistige Wiedergeburt des Christen als letztes Kriterium des Christseins. Das Schwenckfeldertum bildete sich eigenständig während der jahrelangen Sakramentsstreitigkeiten mit den Lutheranern und später den Vertretern der gemäßigt-radikalen Reformation in Oberdeutschland sowie mit den Anhängern Zwingiis heraus. Aufgrund ihres „Spiritualismus" lehnten die Schwenckfelder sowohl jede wirkliche Gegenwart Christi im Abendmahl als auch — nach vorübergehendem Schwanken — jede signifikatorische Deutung des Abendmahls ab. Gestützt auf die johanneische Auffassung vom Lebensbrot und auf eine philologisch-grammatikalische Exegese der Deutworte, lehrten sie eine manducatio spiritualis (ein geistiges Genießen), die sie jedoch nicht mit der fides identifizierten. Bei der Ausbildung ihrer Sakramentsmystik sind sie außer von der altkirchlichen Tradition von Karlstadt und Zwingli beeinflußt worden. Der gelehrte Stiftsherr und Trilinguist Valentin Krautwald hat diese Abendmahlsauffassung entwickelt und auch später alle charakteristischen Elemente der schwenckfeldischen Theologie inauguriert und geformt. Schwenckfeld ist mehr oder weniger nur ihr wirksamer Propagandist gewesen, theologisch wesentlich weniger eigenständig, als man gemeinhin in der Forschung angenommen hat. In ständiger Auseinandersetzung mit der lutherischen Lehre von den Gnadenmitteln und dem täuferischen Biblizismus entwickelten die Schwenckfelder unter Berufung auf die Bibel, die Kirchenväter und den philosophischen Grundsatz des similia similibus ihre Vorstellung vom inneren Wort. E s sei niemals im Menschen a priori vorhanden, sondern müsse erst durch den Geist von außen eingegeben werden. Diese Betonung des „extra nos" — nach Luther das uns geschenkte, nicht von uns selbst abhängige Heil in Christus — trennt die schwenckfeldische Bewegung von der spätmittelalterlichen Tradition und verbindet sie mit der Reformation. Die letzten Konsequenzen ihres „Spiritualismus" zogen die Schwenckfelder schließlich in der Christologie, wozu wiederum Krautwald wesentlich beigetragen hat. Nach verschiedenen Entwicklungsphasen vertraten sie seit 1538 die Auffassung, das Menschsein des irdischen 226

227

K. Ecke, Schwenckfeld, Luther und der Gedanke einer apostolischen Reformation, a. a. O., S. 150. — Vgl. H. Weigelt, Caspar von Schwenckfeld. Verkünder des „mittleren" Weges, in: Radikale Reformatoren, a. a. O., S. 190—200. Vgl. aus der Sicht der Schwenckfeldianer: S. G. Schultz, Caspar Schwenckfeld von Ossig (1489-1561), 3. Aufl., Norristown/Penn. 1946 (Reprint, Stuttgart 1962). Die folgende Zusammenfassung nach: H. Weigelt, Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien, a. a. O., S. 277—278. — M. E. bestätigt Weigelt meine bereits früher gegebene globale Einschätzung des Schwenckfeldertums (S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 25£-254).

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Christus, das sich wegen seiner Kreaturlosigkeit von Anfang an von dem der übrigen Menschen qualitativ unterschieden habe, sei allmählich vergottet worden. Mit dieser Christologie, die letztlich keine Menschwerdung des Logos in Jesus (Joh. 1, 14) kennt und deshalb von den schweizer und oberdeutschen Reformatoren, aber auch von den Wittenbergern schärfstens bekämpft wurde, hat die Schwenckfeldische Lehre vom Erlösungswerk die abschließende Gestalt gefunden. Die „Bekenner der Glorie Christi", wie sie sich nun selbst nannten, meinten dadurch einsichtig gemacht zu haben, warum der Mensch durch den spirituellen Genuß des vergöttlichten Leibes Christi (gemäß 2. Petr. 1, 4) selbst vergottet werde; allerdings wiesen sie jede Vergottung von hervorragenden Menschen entschieden zurück. Melanchthon schrieb an den Landgrafen Philipp von Hessen über Schwenckfeld am 7. März 1559: „. . . wir befinden, daß Schwenckfeld einen Unwillen wider die Prediger hat, welches uns aufs höchste von ihm mißfället. Daneben müssen wir aber auch die Wahrheit sagen, daß Schwenckfeld in etlichen Fällen oder Artikeln von der Herrlichkeit Christi fast wohl schreibet, das auch zum Theil mit den alten Lehrern den ersten Lehrern zustimmet. E r . . . regt auch wohl an, daß etliche unverständige Prediger das äußerliche Wort gar zu hoch heben, und ihm solche Kraft geben, daß solches viel Ding vermögen sollt, ohne den Geist Gottes, und Gottes innerliche Treibung und Wirkung . . . welches doch der gottselige Mann Lutherus nicht gelehret . . . Dawider ist auch Schwenckfeld, daß ein gottloser Mensch nicht die Gaben Gottes, sonderlich den Geist Gottes geben könne; darin denn Cyprianus und andere alte Lehrer dem auch nicht ungleich reden." Melanchthon setzt fort: „Unsre Gedanken sind also: so man thät, wie in primitiva Ecclesia geschehen ist, auch lange Zeit hernach, ließ Schwenckfeld und die andern, so seiner Meinung sind, im Synodo vorkommen, hörte ihre Antwort: sie sollten sich wohl weisen lassen." 228 Das schließt nicht aus, daß Melanchthon gegen Schwenckfeld in vielen Briefen, Gutachten usw. polemisiert. Aber er betrachtet ihn eher als einen verirrten Bruder denn als einen Gegner. Die vielgebrauchte Verballhornung von Schwenckfeld in „Stenkfeld" besagt dabei gar nichts. Das 16. J h . war in der Wortwahl nicht zimperlich. Es ging hart zu — im Geben und Nehmen von Invektiven. Unsere Darstellung soll der Verdeutlichung des progressiv-mystisch-pantheistischen Ideengutes vom 15. bis 17. J h . in Deutschland dienen. Dabei konnte eine Reihe von Problemen hier nicht behandelt werden, die ebenfalls bis weit ins 17. J h . weiterwirkten. Das gilt z. B . für die Friedenssehnsucht und den Humanismus, weitgehend auch für das Toleranzproblem. 229 Das gilt auch für die Verbindung von italienischer Naturphilosophie mit den von uns behandelten Denkern, die wir nur zu streifen vermochten. Ph. Melanchthon, Opera quae super sunt omnia, hg. von C. G. Bretschneider vol. 9, a. a. O., Sp. 7 5 5 - 7 5 6 (Hervorhebung - S. W.). 229 Vgl, : s. Wollgast, Erasmus von Rotterdam und Sebastian Franck — Vertreter zweier Linien des Friedensgedankens im 16. Jh., a. a. O., S. 497—516; K. Goldammer, Paracelsus, Humanisten und Humanismus. Ein Beitrag zur kultur- und geistesgeschichtlichen Stellung Hohenheims, Wien 1964; H. R. Guggisberg, Wandel der Argumente für religiöse Toleranz und Glaubensfreiheit im 16. und 17. Jahrhundert, in: Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, hg. von H. Lutz, Darmstadt 1977, S. 455— 481; vgl. die Auswahlbibliographie zum Toleranzproblem, in: ebenda, S. 483—490. 228

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Werfen wir abschließend einen kurzen Blick auf die Darstellung Weigels in der Geistesgeschichte von der Mitte des 19. J h . bis zur Gegenwart. Sie ist weitgehend auch eine Darstellung der von uns gezeichneten Linie. Ferdinand Christian Baur begründete, von Hegel beeinflußt, die (jüngere oder kritische) Tübinger Schule der Bibelkritik. Die von ihm und seiner Schule (Eduard Zeller, Albert Schwegler, Albrecht Ritsehl u. a. gingen aus ihr hervor) gepflegte historische Betrachtung der Bibel hatte zur Folge, daß die Lehre von der Verbalinspiration aufgegeben werden mußte. F. Engels hat die Leistungen der Tübinger Schule in der Bibelkritik hoch gewürdigt. 230 Es ist nicht uninteressant, wie Baur eine Reihe der in unserem Abriß dargestellten Personen bzw. Strömungen behandelt. In dem kurzen Abschnitt „Die protestantische Mystik" (11 Seiten) werden Franck, Paracelsus, Weigel, Böhme, Andreae und die Rosenkreuzer, J . Arndt und J . Gerhard fälschlich unter dieser irreführenden Überschrift zusammengefaßt. Zu Weigel heißt es: „Der erste, welcher die protestantische Mystik zu einer bestimmteren Gestalt ausbildete, war Val. Weigel. . ," 2 3 1 Böhme wird von Baur am höchsten geschätzt: „In Weigels und Böhme's Schriften entwickelte sich diese mystischtheosophische Richtung der Zeit zu ihrer schönsten Blüthe, aber auch schon bei diesen hatte sie einen starken Zusatz von paracelsischer Alchymie und ihrer verworrenen Verbindung des Geistigen und Materiellen." 232 Die Rosenkreuzerschriften hält auch Baur für ein Produkt Andreaes, den er „den christlichen Lucian" nennt. 233 Bezeichnenderweise betont Baur nur die Mystik; diese Vertreter des deutschen Geisteslebens im 16. und 17. J h . werden nur als Mystiker dargestellt. • Bei W. Dilthey, der sich ausführlich mit dem 16. J h . befaßte, finden wir eine Unterschätzung Weigels. E r zählt ihn gleich Denck, Franck, Coornhert, Bodin, Böhme, Kant, Goethe, Schleiermacher, Carlyle und Hegel zur „transzendentalen Theologie". Damit könne man „alle die Schulen bezeichnen, welche hinter die gegebenen Formeln, Historien und Dogmen zurückzugehen streben auf ein immer und überall wirkendes menschlich Göttliches in der Seele, das alle diese Gestalten des religiösen Lebens hervorbringt". 234 Die Fragwürdigkeit dieser Eingruppierung zeigt sich schon an den von Dilthey genannten Repräsentanten. Der bereits erwähnte progressive Historiker Moriz Carriere stellt von Weigel fest: „Einerseits an die Deutsche Theologie anknüpfend hat er andererseits die subjective Richtung Sebastians Franck's weiter ausgebildet." 2 3 5 230 Vgl. f . Engels, Zur Geschichte des Urchristentums, in: MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 455. 2 3 1 F. Chr. Baur, Geschichte der christlichen Kirche, Bd. 4 : Kirchengeschichte der neueren Zeit von der Reformation bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Tübingen 1863 (Reprint, Leipzig 1969), S. 347. 232 Ebenda, S. 350. 233 Ebenda, S. 355. 234 \v. Dilthey, Das natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 2, a. a. O., S. 109. 235 M. Carriere, Die philosophische Weltanschauung der Reformationszeit in ihren Beziehungen zur Gegenwart, T. 1, a. a. O., S. 300. — M. Carriere hat auch publizistisch für V. Weigel Stellung genommen. Vgl. seinen Artikel „Valentin Weigel. An seinem dreihundertsten Todestage", in: Allgemeine Zeitung, Beilage, Mün-

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Carriere verweist — neben einigen Pseudoweigeliana—auf den „Güldenen Griff", „Vom Ort der Welt", „Gnothi seauton", „Kirchen Oder Hauspostill", die ihn zu dieser Schlußfolgerung bringen. Die Schilderung der Lehren Weigels bèi Carriere ist kurz, faßt dabei aber das Wesentliche sachlich zusammen. Die Verdienste J . O. Opels und A. Israels um die Weigel-Forschung haben wir schon mehrfach betont. Israel hat einen wahren Kampf gegen Windmühlen 2 3 6 für die Anerkennung Valentin Weigels geführt. Aber bei allen Verdiensten um Details darf nicht vergessen werden, daß Israel aus Weigel einen rechtgläubigen Lutheraner zu machen sucht, das „Ketzerische" an ihm sei den ihm unterschobenen pseudoweigelianischen Schriften geschuldet. Israels Grundauffassung ist: „Spener, Francke und Zinzendorf haben . . . nur der einen Reihe der Weigelschen Ideen in der Kirche zum Siege verholfen, während seine philosophischen Grundgedanken erst von Fichte und Hegel wieder aufgenommen wurden." 237 Allerdings fehlen zum letzteren bei Israel viele Zwischenstufen; so formuliert ist hier wieder lineare „Vorläuferschaft" dargeboten. Erst Will-Erich Peuckert kommt auf die schon um 1850 konstatierte Verbindung von Weigel mit dem Pantheismus wieder zurück: „Die Schriften [Weigels — S. W.] bildeten sozusagen einen Extrakt aus paracelsischen und schwenckfeldischen Lehren. Und ihr Verfasser war Pantheist." 2 3 8 Eine Verbindung zu Schwenckfeld erscheint mir allerdings, wie bereits angedeutet, sehr spekulativ. Besonderen Wert legt Peuckert auf den Nachweis, daß eine direkte Linie von Paracelsus über Weigel zu Böhme führt: „Man hat annehmen wollen, daß Böhme die Paracelsuslehren nur über Weigel kennen gelernt, und in der Tat steht er der Umformung, die sie durch Weigel erfuhren, oft näher als paracelsischen Texten, und in den Lehren vom Guten und Bösen ist das wohl sicher der Fall gewesen." 239 Im 20. J h . werden Berufungen auf Weigel unter bürgerlichen Ideologen und Philosophen immer häufiger. Auch der „Theosoph" bzw. „Anthroposoph" Rudolf Steiner bezieht sich auf Valentin Weigel. E r wird bei ihm in sein orthodoxes Mystikverständnis eingebettet. 240 Nach Steiner läßt sich von Weigels chen (1888) Nr. 190 v. 10. 7., S. 1. E r schließt diesen Aufsatz mit den W o r t e n : „So dringt Weigel überall auf die Lebensgemeinschaft mit Gott im Denken und Wollen; wir sollen, ihm ergeben, ihn in uns walten lassen und seinen Willen thun, das ist das Wesen des Christenthums, dann sind wir mit Jesus eins, erlöst und frei. Ob wir dieß heute wiederholen dürfen, ohne von dem Ultramontanismus und der protestantischen Orthodoxie als unchristlich verworfen zu werden?" 236 Vgl. A. Israel, Zum Gedächtnisse M. Valentin Weigels bei der 300. Wiederkehr seines Todestages den 10. Juli 1888, in: A. Israel, Zerstreute Blätter. F ü r seine Schüler gesammelt, Zschopau 1894, S. 78. Der Artikel (S. 78—86) erschien erstmals im „Zschopauer Wochenblatt" 1888, Nr. 67. ?37 Ebenda, S. 82. — Weigels Bedeutung für die geistliche Dichtung gehört in eine Literaturgeschichte, sie wird hier nicht eingeschätzt. Vgl. dazu E . E . Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs der christlichen, insbesondere der deutschen evangelischen Kirche, Haupttheil 1, Bd. 2, 3. umgearb. Aufl., Stuttgart 1867. Weigels geistliches Liedschaffen wird hier S. 428—431 behandelt. 238 w . - E . Peuckert, Das Leben J a c o b Böhmes, J e n a 1924, S. 7 3 ; vgl. S. 7 5 - 7 6 . 239 W . - E . Peuckert, Das Leben Jakob Böhmes, 2. verb. Aufl., in: B S S , Bd. 10, a. a. O., S. 77. 2 4 0 R . Steiner, Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, 2. Aufl., Stuttgart 1924, S. 97.

WEIGEL-INTERPRETATION

IM 2 0 .

JAHRHUNDERT

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erkenntnistheoretischen Auffassungen sagen: Wenn alle Erkenntnis aus dem Menschen in den Gegenstand fließt, so erkenne man nicht, was im Gegenstand, sondern nur, was im Menschen selbst ist. Diesen Gedankengang habe I. Kant ausführlich durchgebildet. Steiner meint, „daß Valentin Weigel mit seiner einfachen, urwüchsigen Vorstellungsart viel höher steht als Kant" 2 4 1 . Den Beweis bleibt er schuldig. Ich habe schon zu zeigen versucht, daß man Weigel einseitig interpretiert, einige seiner Äußerungen — gewollt oder ungewollt — übersieht, wenn man ihn zum unmittelbaren Vorgänger Kants macht. Steiner schließt weiter aus Weigels Erkenntnistheorie: E s könne keine äußere Offenbarung, sondern nur eine innere Erweckung geben. Weigels „Licht der Gnade" sei nichts anderes als die Selbsterkenntnis des Geistes im Menschen oder die Wiedergeburt des Wissens auf der höheren Stufe des Schauens. Da aber Weigel das „Schauen" nicht weiter ausbaue, sei zu konstatieren: „Er führt sich auf den rechten Weg und verliert diesen in dem Augenblick wieder, in dem er ihn betritt. Wer den Weg gehen will, den Weigel weist, der kann diesen selbst nur bis zum Ausgangspunkte als Führer betrachten." 2 '' 2 Diese unhaltbare Auffassung zitieren wir zunächst der Kuriosität halber; doch nicht allein deshalb! Viele ernsthafte Wissenschaftler lernen Böhme, Paracelsus, Weigel, Andreae und andere „mystische Pantheisten" des 16. und 17. J h . vornehmlich als Kronzeugen für wissenschaftliche Scharlatanerie kennen, und sie schließen von der Scharlatanerie auf die Quellen. Auch dieser Unsachlichkeit soll hier durch eine breitere Darlegung der Quellen der pantheistisch-mystischen Entwicklungslinie vom 16. bis zum 17. J h . entgegengetreten werden. Der prominente Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm sucht Weigel und Böhme in die Vorgeschichte des Pietismus zu integrieren, stellt sie in gewisser Hinsicht in den Schatten von J . Arndt. Aber, und das bezeichnet eine Wende, er betont zugleich, daß es sich gerade bei Valentin Weigel um einen philosophischen Denker handelt: „An Weigel sind im wesentlichen zwei Dinge wichtig: 1. E r hat den erkenntnistheoretischen Idealismus in sensualistischer Form vorweggenommen: Aus der Verschiedenheit und Unzuverlässigkeit der Sinneswahrnehmungen schließt er, daß die Erkenntnis im Auge, im Ich liege und nicht aus dem Gegenstand gewonnen werden könne. — 2. Seine Stellung in der Geschichte der Metaphysik. Daß diese Stellung richtig bestimmt wird, ist ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der ganzen Geschichte der protestantischen Mystik." Bornkamm formuliert weiter einen grundlegenden Unterschied zwischen Weigel und Böhme: „Weigels System ist eine ziemlich reine Form neuplatonischer Metaphysik, wie sie den Hintergrund der ganzen deutschen Mystik des Mittelalters gebildet hat. Seinem wesentlich substantiellen Gottesbegriff und seiner neuplatonisch gedachten negativen Fassung des Bösen steht bei Böhme ein strenger Dualismus gegenüber, der das Böse als positive, kosmische Macht ansieht und einen Gottesgedanken von höchster Fülle und Lebendigkeit hat. Davon ist natürlich ganz unberührt, daß trotzdem eine Menge der mystischen Ideen und Begriffe, namentlich aus Paracelsus, durch seine Vermittlung auf Böhme gekommen sind." 243 241 243

43

242 Ebenda, S. 100. Ebenda, S. 99. H. Bornkamm, Mystik, Spiritualismus und die Anfänge des Pietismus im Luthertum, a. a. O., S. 1 3 - 1 4 .

Wollgast

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X . PANTHEISMUS UND MYSTIK

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Eine sehr solide und für einen Theologen schon fast „zu weit links" stehende Charakterisierung Weigels nimmt der schon erwähnte H. Maier vor. W. Zeller und andere Theologen lehnen seine Schlußfolgerungen zumeist ab. Aber auch der Theologe Maier bleibt hinsichtlich der Anerkennung des Weigelschen Pantheismus inkonsequent, konstruiert einen Gegensatz von Mystik und Pantheismus und einen Weigelschen Dualismus: „Ist Weigel Pantheist? Logischerweise scheint er einen konsequenten Pantheismus zu entfalten. Das restlose Untergehen Gottes im Universum wäre die logische Konsequenz aus . . . [seinen] Prämissen. Aber der Pantheist Weigel macht vor dem Mystiker Weigel halt. Durch die Zweisetzung im Subjekt wird der konsequente Pantheismus an der Spitze abgebrochen und durch den Dualismus im Menschen eine Differenzierung zwischen Gott und dem Subjekt herbeigeführt. Zwischen Gott und den Menschen liegt ein klaffender Riß."244 Für Längin, dessen Aufsatz ich Ipei der Darstellung der philosophischen Auffassungen Weigels öfter benutzt habe, ist Weigel Pantheist: „Weigel hat . . . die Grundtatsachen der Erkenntnis erforscht und seinen spiritualistischen Standpunkt erkenntnistheoretisch begründet. Hätte er sich mit der Tatsache seiner wunderbaren Erleuchtung begnügt, so wäre er für uns ein Mystiker wie andere auch . . . Weil er aber eine wissenschaftliche Haltung einnimmt und Gesetze von allgemeiner Geltung aufzeigen will, ist er auch Philosoph und hat ein Anrecht darauf, von seinesgleichen gehört zu werden."245 Eine Zurücknahme des philosophischen Eingruppierens des Zschopauer Denkers bedeuten dann wieder die Worte, mit denen der Schoeps-Schüler Gerhard Krodel seine Dissertation beschließt: „Weigels theologisch-philosophische Anschauungen formen sich . . . zu einem in sich geschlossenen Ganzen. Das Ziel seines Strebens war für ihn die Rückführung des Menschen auf Verinnerlichung, ein Protest gegen die einseitig forensische Auffassung der melanchthonschen Rechtfertigungslehre, welche Rechtfertigung und Heiligung nicht wie Luther zusammenfaßt, sondern letztere als Anhängsel betrachtet." 246 . Dennoch hat sich Weigel auch in der Philosophiegeschichte durchgesetzt. Betont wird seine Abhängigkeit von der Mystik und vom Neuplatonismus, seine Makro-Mikrokosmos-Lehre, seine originelle Erkenntnistheorie, seine Dialektik.247 244

H. Maier, Der mystische Spiritualismus Valentin Weigels, a. a. O., S. 42. H. Längin, Grundlinien der Erkenntnislehre Valentin Weigels, a. a. O., S. 440. — Nach Th. C. van Stockum (Valentin Weigel, Doper en paracelsist, in: Mededelingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, Afd. Letterkunde, Nieuwe Reeks, Deel 11, No 4, Amsterdam 1948) ist die Grundlage für das Verständnis von Weigels eigenartiger Schlüsselposition, daß er in der Gnoseologie, Kosmologie und Anthropologie auf Paracelsus basiert. Mit Weigel dringe Paracelsus in die deutsche Mystik ein, und daher lasse sich deren spätere Entwicklung nicht ohne Kenntnis Weigels verstehen. 246 G. Krodel, Die Anthropologie Valentin Weigels, a. a. O., S. 134. 247 Vgl, z . B. K. Schilling, Geschichte der Philosophie, V I : Von der Renaissance bis Kant, Berlin (West) 1954, S. 80f.; K. Vorländer, Philosophie der Renaissance. Beginn der Naturwissenschaft, a . a . O . , S. 71; F. Ueberweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, T. 3: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 12. Aufl., a. a. O., S. 141—144. — Copleston meint zusammenfassend zu Weigel: „It is clear, then, that Weigel attempted a fusion 245

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JAHRHUNDERT

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Steven E. Ozment charakterisiert Weigel als „Dissent in disquiet". 248 Ozment fußt stark auf W. Zeller, Opel und Israel sowie H. Maier und anderen Weigelforschern. In Weigels ganzem Werk gingen der mittelalterliche Mystizismus und die Paracelsische Naturphilosophie eine Verbindung ein. Gerade in seiner letzten Schaffensperiode habe Weigel den subjektiven Charakter des Wissens betont. Die geistige Verwandtschaft Müntzers und Weigels wird mehrfach hervorgehoben. Die Hauptwerke Weigels werden in wichtigen Passagen referiert und kommentiert. Grundlegend Neues findet sich m. E. nicht. Allerdings betont Ozment stärker als etwa W. Zeller den sozialen Aspekt bei Weigel. Auch der Einfluß S. Francks auf Weigel wird betont. Die philosophische Auslegung V. Weigels tritt in der Forschung noch immer gegenüber der theologischen zurück. Nach G. Wehr ist Weigel „dazu ausersehen, ein Wegbereiter zu werden, weil er schicksalhaft in eine Zeit hineingeboren wurde, die ihm die großen Zeitaltererfahrungen zugänglich gemacht hat: die religiöse Krise und den kopernikanischen Schock, aber auch die Innenerfahrungen des Mystikers und die naturphilosophische Ganzheitsschau eines Theophrastus Paracelsus, und das alles aus der Perspektive eines lutherischen Theologen. Aus dieser zeitlichen und kulturell-geistigen Konstellation heraus ist Weigel dazu prädestiniert, einem Jakob Böhme und einer neuzeitlichen spirituellen Wirklichkeitserfassung einen Weg zu bahnen, der zu einer universellen Synthese von mystischer Erfahrung, naturwissenschaftlicher Erkenntnis und reformatorischer Gesinnung führen möchte: als Pansoph und als esoterischer Christ."2/'9 Diesem Ansatz vermag ich zum Teil zu folgen, fraglich erscheinen mir hingegen Wehrs folgende Feststellungen, mit denen er diesen Ansatz wieder einschränkt und in sein spezifisches Weltverständnis einbettet: „Nichts anderes als das heiße Bemühen um unmittelbare Gotteserfahrung ist es, das den Zschopauer Theologen bekümmert." 250 Wehr spricht von einer „Erleuchtung." Weigels um die Mitte seines Lebens; sie bezeichne ein Umkehrerlebnis. Gerade das 24. Kapitel des „Güldenen Griffs" verdeutliche, „daß Weigel weder allein aus der Situation seiner Zeit noch aus der Zusammenschau seiner ausgedehnten Studienergebnisse etwa als Mystiker un$,

of Nicholas of Cusa's metaphysic and Paracelsus' philosophy of Nature with a religious mysticism which owed something to the tradition represented b y Meister Eckhart [gemeint ist vor allem der Gedanke des „Seelenfünkleins" — S. W.] but which was strongly coloured by an individualistic and anti-ecclesiastical type of Protestant piety and which also tended in a pantheistic direction. In some respects his philosophy puts one in mind of themes of later German speculative idealism, though in the case of the latter the markedly religious and pietistic element of Weigel's thought was comparatively absent." (F. Ch. Copleston SJ, A History of Philosophy. Vol. 3, a. a. O., S. 207.) 248 St. E. Ozment, Mysticism and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the Sixteenth Century, New Haven — London 1973, S. 203. — Die materialreiche Arbeit von J. B. Neveux, Vie spirituelle et vie sociale entre Rhin et Baltique au XVII e -siecle de J. Arndt ä J. P. Spener (Paris 1967) wurde mir zu spät bekannt, als daß ich auf ihre Wertungen hätte eingehen oder sie benutzen können. 249 Gerhard Wehr, Valentin Weigel — Der Pansoph und esoterische Christ, a. a. O., S. 10. 2 so Ebenda, S. 19. 43»

676

PANTHEISMUS UND M Y S T I K

1550—1650

als paracelsisch zu erklären ist". 2 5 1 Weigel stelle die Christosophie „stets als Pansophie, als Allweisheit" dar. 252 Unter Pansophie faßt Wehr die MikroMakrokosmoslehre, die Auffassungen vom Licht der Natur und der Gnade, von der zweiten Geburt u.a. Meditation sei zum Studium der YVeigelschen Werke, besonders des „Gnothi seauton" erforderlich. Aber auch Wehr hält es für kaum zweifelhaft, daß Böhme Weigelsche Gedanken bzw. Texte zugänglich waren. 2M Eine gewisse Unsicherheit der Interpretation, ja, Widersprüchlichkeit scheint mir in Wehrs Weigelinterpretation unverkennbar vorzuliegen. Ich glaube damit der wesentlichen Forscher Erwähnung getan zu haben, die sich mit Weigel näher beschäftigten. W. Zeller hat in der bisherigen Darstellung bereits die ihm gebührende Beachtung gefunden. In den Kapiteln I X und X dieser Arbeit habe ich bereits eine Reihe von noch offenen Fragen der Forschung zur Person und Leistung V. Weigels sowie zu der von ihm ausgehenden Linie genannt. Für diese Forschung gilt, wie meist in den historischen Wissenschaften, die Devise „ad fontes!" Dessen war ich mir bei der Erarbeitung meiner Position durchaus bewußt, doch konnte ich den Akzent vorerst nur auf die wertende Darstellung der bisherigen Forschungsergebnisse legen. Zu den Quellen, z. B . auch zu Archivmaterialien, muß u. a. bei der Erhellung der Verbindungen zwischen den Rosenkreuzern und der Weigelschen Linie zurückgegangen werden. Diese Verbindung erschöpft sich nicht in der oben geschilderten „Wild-Affaire". Daß das lange Weigel zugeschriebene, aber von B . Biedermann stammende „Studium universale" den Rosenkreuzern bekannt war, weiß man. Gründliche Untersuchungen dazu stehen aber noch aus. Andreae selbst erwähnt in der „Mythologiae christianae" neben S. Franck, J . Sperber, H. Kunrath u. a. auch Valentin Weigel. An welchen anderen Stellen seines umfängliches Werkes und in welcher Weise wäre systematisch zu untersuchen. Christoph Besold, der im Zusammenhang mit der Herausbildung der „Rosenkreuzer-Gesellschaft" hier auch noch größere Beachtung verdient hätte, hat noch in seinem „Opus Politicum" (1623—24) Valentin Weigel ausführlich zitiert. Damit sind nur einige Stellen genannt, an denen man den postulierten Verbindungen nachgehen sollte. Ähnliches gilt in der Tendenz auch für die Beziehung von Johann Arndt zu Weigel. 254 Insgesamt sehe ich Valentin Weigel und die ihm repräsentierte Linie als ein wichtiges Mittelglied zu Böhme, der nur aus dieser Linie heraus voll verständlich wird. Meines Erachtens ist V. Weigel an manchen Stellen origineller, systematischer und konsequenter als Jakob Böhme. 251 Ebenda, S. 22. 2M Ebenda, S. 37 253 Ebenda, S. 9 3 - 9 7 . 254 Vgl. r . Edighoffer, Johann Valentin Andreae: Vom Rosenkreuz zur Pantopie, in: Daphnis, Amsterdam 10 (1981) S. 2 1 0 - 2 3 9 ; R. Edighoffer, Les Rose-Croix, Paris 1982. — In verdienstlicher Weise wird hier auf das geistige Umfeld verwiesen, in dem die Idee der Rosenkreuzer entstand. V. Weigel wird dabei jedoch unterbewertet.

ELFTES KAPITEL

Jakob Böhme - Werk und Wirkung

Jakob Böhme 1 wurde 1575 als Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie in Alt-Seidenberg, Kreis Lauban, in der Nähe von Görlitz geboren. Der Geburtstag ist nicht bekannt. Er besuchte die Alt-Seidenberger Dorf-und die Seidenberger Stadtschule. Handschrift und Sprachschatz verraten eine für die damalige Zeit gediegene Schulbildung. Latein hat Böhme allerdings nicht gelernt; später benutzte lateinische Vokabeln hat er wohl aus dem Studium paracelsischer und alchemistischer Schriften sowie aus seinem privaten Verkehr und Briefwechsel mit Ärzten und Mystikern aufgegriffen und eigenwillig angewendet und gedeutet. Der gesundheitlich nicht sehr widerstandsfähige Knabe begann eine Lehre als Schuhmacher, er hatte wahrscheinlich mit 14 Jahren die Schule verlassen und 1592 ausgelernt. Nach Lemper dürfte ihn seine Wanderschaft in die angrenzenden nordböhmischen, lausitzischen und niederschlesischen Gebiete geführt haben. Hier bestanden damals verschiedene oppositionelle kirchliche Gruppierungen. Vermutlich 1594 ist Böhme nach Görlitz gekommen, das Bürgerrecht hat er 1599 erworben. Damals war er schon Meister und heiratete im gleichen Jahr die Tochter eines wohlhabenden Fleischermeisters. 1612 hatte Böhme seine Erstlingsschrift „Aurora" niedergeschrieben, 1613 verkaufte er sein sehr einträgliches Geschäft. Er wollte offenbar von zünftischen Bindungen unabhängig sein und Freiraum für seine philosophische Arbeit gewinnen. Hatte er schon während seiner Tätigkeit als Schuhmacher Handel getrieben, so war er jetzt ganz im Garnhandel tätig. In diese Zeit fallen die ersten Auseinandersetzungen mit dem Görlitzer Oberpfarrer Gregor Richter. Als diesem 1613 ein Exemplar der in Abschriften kursierenden „Aurora" bekannt wurde, bedrängte er als oberster Geistlicher der Stadt den Görlitzer Magistrat, den Häretiker Böhme gebührend zu bestrafen. Der Magistrat beschlagnahmte die „Aurora", Gregor Richter nahm am 30. Juni 1613 Böhme das Versprechen ab, nicht mehr über religiöse Dinge zu schreiben. Böhme hielt sich bis 1618 an das Publikationsverbot. Dann beginnt seine große schriftstellerische Schaffensperiode, die zum Bruch mit der von Gregor Richter repräsentierten lutherischen Orthodoxie führt. Im Sommer 1621 konnte 1

Ernst-Heinz Lemper (vgl. Jakob Böhme — Leben und Werk, a. a. O., S. 21—116) hat alles vorhandene und gesicherte Material übersichtlich und beweiskräftig zusammengestellt. Vgl. zur Biographie weiter: Jakob Böhme. Gedenkgabe der Stadt Görlitz zu seinem 300jährigen Todestage, hg. von R. Jecht, Görlitz 1924. — Unser kurzer Abriß der Lebensgeschichte Böhmes folgt E.-H. Lemper.

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X I . JAKOB BÖHME

J. Böhme feststellen, man lese seine Schriften in ganz Schlesien, vielerorts in der Mark, in Meißen und Sachsen. Zu Anhängern reiste er nach Glogau, Troppau, Breslau und Striegau. Mit dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges — die Prager Ereignisse hatten unmittelbare politische und ökonomische Auswirkungen auf die Oberlausitz — stellte Böhme seine Händlertätigkeit ein. Ab jetzt lebte er von Unterstützungen reicher Anhänger. Böhme war, wie die Quellen belegen, keineswegs ein zurückgezogen lebender Mystiker. Er erwies sich vielmehr im bürgerlichen Leben als geschäftstüchtig und gewitzt; auch nach Aufgabe seines Berufes ist sein Leben von Aktivität gekennzeichnet. Waren die Werke Böhmes bislang nur abschriftlich verbreitet, so erschien anonym 1623 in Görlitz sein „Weg zu Christo". Böhme wurde bald als Verfasser ermittelt. Auf Betreiben G. Richters wurde er im März 1623 durch den Rat der Stadt aus Görlitz ausgewiesen, das Urteil wurde dann in eine Verwarnung abgemildert. Richter setzte seine Angriffe auf Böhme von der Kanzel und durch Publikationen fort. Böhme antwortete (1624) mit einer „Schutzrede". Im Mai 1624 wurde Böhme an den sächsischen Hof nach Dresden geladen. Man wollte dort offenbar prüfen, ob er mit seinem Anhang den Landfrieden in der Oberlausitz störe. Der schlesische Adel wiederum hoffte, daß Böhme, indem er für seine eigenen Auffassungen eintrete, die kursächsische Regierung zugleich zu einer großzügigeren Handhabung der Religionsfreiheit veranlaßte. Hoffnungen, die Böhme an diesen Besuch geknüpft hatte, erfüllten sich nicht. Er starb am 16. November 1624 in Görlitz. Die Geistlichkeit gewährte ihm nur auf entschiedenes Geheiß des Rates der Stadt ein christliches Begräbnis. Böhme gehört zu den fruchtbarsten Autoren seiner schreibfreudigen Zeit, vor allem, wenn man sein Gesamtwerk auf die wenigen Jahre seines schriftstellerischen Schaffens berechnet. Nach der Ausgabe seiner Werke von 1682 macht es 3931 Seiten in Oktav aus! Dabei war er zu keiner Zeit das „arme Schuhmachermeisterlein", zu dem ihn fromme Legenden gemacht haben. Insbesondere Jecht und nach ihm Lemper haben dieses verfälschte Bild zurechtgerückt. Schon Karl Holl und Heinrich Bornkamm hatten versucht, Böhme und Luther anzunähern. 2 Dieser Versuch wird in der Gegenwart verstärkt wiederholt. Böhme als der vom Oberpfarrer Richter in Görlitz Mißverstandene, Böhme als der orthodoxe Mystiker, Böhme als Vorläufer des Pietismus, Böhme als Bewahrer der echten lutherischen Gedanken, Böhme der wahrhaft fromme Geist — so und ähnlich wird von Theologen verschiedenster Provenienz Böhme dargestellt. 3 Wir werden darauf noch an Bei2

3

Vgl. K. Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1, a. a. O., S. 531; H. Bornkamm, Luther und Böhme, Bonn 1925; H. Bornkamm, Jakob Böhme — Leben und Wirkung. Der Denker, in: H. Bornkamm, Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, 2., verm. Aufl., Göttingen 1966, S. 315—345. Vgl. aus der Vielzahl von populären theologischen oder idealistisch frömmelnden Darstellungen z. B. H.-J. Schwager, Die deutsche Mystik und ihre Auswirkungen, (von Meister Eckhart bis Schelling), Gladbeck/Westfalen 1965; J. Hoffmeister, Der ketzerische Schuster. Leben und Denken des Görlitzer Meisters Jakob Böhme, Berlin 1975; Sh. Cheney, Men who have walked with God, New York 1945 (deutsch: Sh. Cheney, Vom mystischen Leben. Geschichte der Mystik in den verschiedenen Zeitaltern, Wiesbaden 1949); N. Berdjaev, Jakob Böhmes Lehre von Ungrund

DIALEKTISCHE U N D PARACELSISCHE E I N F L Ü S S E

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spielen näher eingehen. Was macht aber die Bedeutung Böhmes wirklich aus? Welchen Platz nimmt er in der Philosophie und Geistesgeschichte ein? Bei Böhme fließen paracelsische, mystische, pantheistische, eschatologische, später kabbalistische Vorstellungen nahezu in eins zusammen. Der gemeinsame Nenner der materialistischen Ansätze und der überwuchernden Phantastik ist die Kritik an der scholastischen und der lutherischen Gottesvorstellung, an der Ideologie der bestehenden Gesellschaft überhaupt. Wachsende Phantastik ist die unumgängliche Ausdrucksform dieser Sozialkritik. Wesentlich an Böhme ist zunächst seine Dialektik. Schon in der Vorrede zu seiner „Aurora" stellt er „eine leibliche, himmlische und heilige und eine grimmige, höllische und durstige" Qualität gegenüber'1 und verschmilzt die entgegengesetzten Kategorien zu einer Einheit. 5 „Es ist in allen Kreaturen in dieser Welt ein guter und böser Wille und Quell, in Menschen, Thieren, Vögeln, Fischen, sowohl auch in allem dem, was da ist, in Gold, in Silber, Zinn, Kupfer, Eisen, Stahl, Holz, Kraut, Laub und Gras, sowohl in der Erde, in Steinen, im Wasser und in Allem, was man erforschen kann."1» Der Mensch fügt sich in den großen Wirklichkeitszusammenhang der Natur ein, der den Vorrang vor dem Nur-Menschlichen hat, so daß Böhme ausdrücklich sagen kann, Gott habe dem Menschen eine noch „höhere und größere Erkenntnis" des eigenen Wesens, der eigenen Bestimmung des Verhältnisses zu Gott gegeben, nämlich: „daß er kann allen Dingen in's Herz sehen, was für Essenz, Kraft und Eigenschaft sie haben, es sei gleich in Kreaturen, in Erden, Steinen, Bäumen, Kräutern, in allen bewegenden und unbewegenden Dingen, sowohl auch in Sternen und Elementen, daß er weiß, weß Wesens und Kraft sie sind und wie in derselben Kraft alle natürliche Sinnlichkeit Wachsen, Mehren und lebend Wesen stehet." 7 Böhmes Dialektik wird und Freiheit, in: Blätter für deutsche Philosophie, Berlin 6 (1932/33) S. 3 1 5 - 3 3 6 . A. Kielholz (Jakob Böhme. Ein pathographischer Beitrag zur Psychologie der Mystik, Leipzig und Wien 1919) wertet J. Böhme in einer von S. Freud herausgegebenen Reihe (Schriften zur angewandten Seelenkunde, 17. Heft) psychoanalytisch. Dabei wird sein Werk „auf hauptsächlich vier Elemente" zurückgeführt, u. a. „auf eine Rückkehr zum himmlischen Denken und Phantasieren, eine Wiedererweckung infantiler Wünsche, ein Herbeisehnen der glücklichen Jugendzeit" und „auf eine Ablehnung und Verdrängung des bewußten Trieblebens mit gleichzeitiger sexueller Symbolik für alles Geschehen" (S. 88). Für Gerhard Wehr (Jakob Böhme — geistige Schau und Christuserkenntnis, Schaffhausen 1976) ist Böhme ein „frommer Lutheraner" (S. 29), der gleichsam als Vorläufer C. G. Jungs erscheint. Der Name Böhmes bezeichne „die Richtung eines Erkenntniswegs, der zwischen Skylla und Charybdis eines mystisch verschwommenen erdflüchtigen Spiritualismus und eines die Realität des Spirituellen verleugnenden Materialismus verläuft" (S. 30 bis 31). Vgl. G. Wehr, Jakob Böhme in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 134, S. 58, S. 61, S. 111, S. 134 u. ö. 4 J. Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, in: BSW, Bd. 2, Leipzig 1832, Reprint Leipzig 1922, S. 2. (— Aus technischen Gründen wird im folgenden oft die Schiebler-Ausgabe [Leipzig 1831—1847, Reprint 1922] benutzt, obwohl ich mir ihrer Mängel bewußt bin.) 5 Vgl. ebenda, Vorr. 9, 15, 19, 43; 4, 11; 21, 23. Vgl. J. Böhme, Die drei Principien göttlichen Wesens, in: BSW, Bd. 3, S. 98 (11, 16). 6 J. Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, a. a. O., S. 26 (Kap. 9). 7 J. Böhme, Die drei Principien göttlichen Wesens, in: BSW, Bd. 3, S. 1—2 (Vorr. 2).

680

XI.

JAKOB

BÖHME

besonders in seiner Oualitätenlehre deutlich, die Veränderungen unterliegt. Böhmes „System" hat folgende Aussage zur Voraussetzung: Ohne „Widerwärtigkeit und den Streit . . . wäre keine Natur, sondern eine ewige Stille, und kein Wille, denn der Widerwille macht die Beweglichkeit". Für „Widerwille" findet sich bei Böhme auch „Gegen-Willen". Der Wille wird durch den Gegen-Willen „gekränkt", er erregt beim Willen Abscheu, Pein und Qual. Gäbe es keinen „Gegen-Willen", so würde in der Natur ewiger Frieden herrschen. Aber auf diese Weise „würde die Natur nicht offenbar, im Streit wird sie offenbar". 8 Jedes Ding kann also sein Ziel nur im „Streit" erreichen. Der Mensch vermag alles (dialektisch) zu erkennen. Diese Hinwendung zur Natur verweist bereits auf die Ahnherrschaft des Paracelsus. Sie wird noch im 17. Jh. u. a. von E. D. Colberg im „Platonisch-Hermetischen Christentum" konstatiert. Paracelsisches Denken und Paracelsische Begriffe sind tief in Böhmes Gesamtsystem eingewoben. Kennzeichnend dafür ist auch der Untertitel von Böhmes „Aurora" (1612): „Die Wurtzel oder Mutter der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae aus rechtem Grunde / oder Beschreibung der Natur". Die Verbindung von Paracelsus und eigenen Gedanken nimmt bei Böhme nicht wunder. Lebte er doch in einem Zentrum des Paracelsismus und nahm an Konventikeln teil, die der 1606 gestorbene Stadtpfarrer Martin Moller veranstaltete. Dieser war zumindest mit Gedankengängen des Paracelsus vertraut bzw. stand ihnen wohlwollend gegenüber — der gleiche Moller, den Zeller fälschlich zum Urbild protestantischer Frömmigkeit des 17. Jh. zu erheben sucht. 0 Moller wurde des Cryptocalvinismus beschuldigt, ein damals gravierender Vorwurf. Er sei es im wesentlichen gewesen, der Görlitz sogar zum Hort des Cryptocalvinismus gemacht habe. Der Einfluß des Paracelsus auf Böhme ist eng mit dem alchemistischen verbunden. Eines der ersten größeren Werke in deutscher Sprache und gleichzeitig wohl das eigenartigste, das die Alchemisten des späten Mittelalters hervorgebracht haben, ist das „Buch der heiligen Dreifaltigkeit", entstanden 1412—1416. Spätere Alchemisten haben ein Exemplar dieses Buches (das häresieverdächtig war und nie gedruckt wurde) besessen, so etwa L. Thurneisser. Mit Ganzenmüller konstatiert Buntz von hier aus auch einen Einfluß auf Jakob Böhme. 9a Schon in der „Aurora" verzichtete Böhme auf Autoritäten: „Ich brauche ihrer Art und Weise und ihrer Formeln nicht, weil ich es von ihnen nicht gelernt habe, ich habe einen andern Lehrmeister, und der ist die ganze Natur. Von dieser ganzen Natur und ihrer instehenden Geburt habe ich meine Philosophie, Astrologie und Theologie studirt und gelernt, und nicht von oder 8 J . Böhme, De Signatura r e r u m , i n : B S W , Bd. 4, S. 277 (Kap. 2, l f f . ) . 9 Vgl. \V. Zeller, Protestantische F r ö m m i g k e i t im 17. J a h r h u n d e r t , a. a. O.. — Zu M. Moller vgl.: F. Voigt, D a s Böhme-Bild der Gegenwart, in: Neues Lausitzisches Magazin, Görlitz 102 (1926) S. 2 5 2 - 3 1 2 ; C. G. Th. N e u m a n n , Geschichte v o n Görlitz, Görlitz 1850. 9a H. B u n t z , Die europäische Alchemie v o m 13. bis zum 16. J a h r h u n d e r t , i n : E. E. Ploss/H. R o o s e n - R u n g e / H . Schipperges/ H. B u n t z , Alchimia. Ideologie u n d Technologie, a. a. O., S. 164—165. — Vgl. W. Ganzenmüllc-r, Beiträge zur Geschichte der Technologie u n d der Alchemie, a. a. O., S. 271.

DIALEKTISCHE

NATURAUFFASSUNG

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durch Menschen." 10 Wie schon das geringste Kraut ohne des Menschen Rat wachse, so hätten alle Mysterien der Natur eine „eigene Schule" und bedürften nicht der menschlichen Kunst. 11 Zu Recht stellt dazu Metzke fest: „Ganz paracelsisch ist dies Ausspielen der Natur gegen menschliche Lehre und menschliche Kunst." 1 2 Auch Bornkamm betont den Einfluß des paracelsisch en Denkens auf Jakob Böhme, was heute wieder Gemeingut der ernsthaften Böhmeforschung ist. Die Interpretation fällt natürlich entsprechend der weltanschaulichen Grundposition des jeweiligen Autors unterschiedlich aus. Gott braucht die „ganze Natur", um lebendiger Gott zu sein. Sonst wäre er nur eine „Stille ohne Wesen". 13 Böhme vertritt den Gedanken einer „Natur in Gott", was ich als Ausdruck des idealistischen Pantheismus fasse. Dabei steht die Natur „in großem Sehnen und Aengsten, immer willens zu gebären die göttliche Kraft . . ." J/ * Sie ist „der Leib Gottes und hat alle Kraft wie die ganze Gebärung". 15 Böhme verweist den Menschen, der da wähnt, „daß das allein der rechte Himmel sei, der sich mit einem runden Kreis ganz lichtblau hoch über den Sternen schließt", nicht nur auf das eigene Herz, sondern auch auf die sichtbare Naturwelt. 16 Schon im Eingang zu Böhmes Erstlingswerk heißt es: „so man aber will von Gott reden, was Gott sei: so muß man fleißig erwägen die Kräfte in der Natur . . . " 1 1 Auch das Verhältnis zu Christus wird an das Verhältnis zur Natur gebunden, denn: „so man nun will Gott den Sohn sehen, so muß man abermal natürliche Dinge anschauen; sonst kann ich nicht von ihm schreiben." 18 E s 10 11

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J . Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, a. a. O., S. 255 (Kap. 22). J . Böhme, Psychologia vera, oder Vierzig Fragen von der S e e l e . . . , i n : B S W , B d . 6, S. 82 (17, 16). — „Daß Böhme zur Zeit der Morgenröte den Paracelsus k a n n t e , ist möglich. D a ß er ihn 1619 kannte, das ist gewiß. Gründlich hat er ihn sicher erst in den J a h r e n zwischen 1613 und 1618 lesen gelernt." ( W . - E . Peuckert, Das L e b e n J a k o b Böhmes, 2., verb. Aufl., i n : B S S , B d . 10, 2, a . a . O . , S. 7 0 - 7 1 ) . P e u c k e r t betont zugleich, daß Böhme nicht bloßer Paracelsist, sondern in vielem eigenständig gewesen sei. E . Metzke, Von Steinen und Erde und vom Grimm der Natur in der Philosophie J a c o b Böhmes, i n : E . Metzke, Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte, hg. von K . Gründer, W i t t e n 1961, S. 132. J . Böhme, De triplici v i t a hominis oder . . . vom dreifachen Leben des Menschen, i n : B S W , B d . 4, S. 249 (16, 37). - Nach Peuckert wurde B ö h m e nach der „Morgenröte" mit Auffassungen Schwenckfelds b e k a n n t , besonders die Schrift „Vom dreifachen L e b e n " zeige eine Hinneigung zu Schwenckfelds Lehre. E s sei aber doch eher eine Ähnlichkeit der Lebenshaltung, abgesehen von der Wiedergeburtslehre. Auch widersprächen sich Schwenckfeld und B ö h m e in ihren Voraussetzungen. So lehnte Schwenckfeld Tauler ab. Böhme aber lernte Tauler über V. Weigel kennen und schätzen (W.-E. Peuckert, Das Leben J a k o b Böhmes, 2. verb. Aufl., a. a. O., S. 1 0 1 - 1 0 5 , S. 2 3 0 - 2 3 1 ) . J . Böhme, Die drei Principien göttlichen Wesens, i n : B S W , B d . 3, S. 58 (7, 31). J . Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, i n : B S W , B d . 2, S. 2 7 4 (23, 49). Ebenda, S. 212 (19, 58ff.). Ebenda, S. 21 (Kap. 1). — Der Mensch darf „sein Gemüthe nicht außer dieser W e l t schwingen, er findet alles in dieser Welt, darzu in sich selber, j a in allem dem, was lebet, und webet" ( J . B ö h m e , Die drei Principien göttlichen Wesens, i n : B S W , B d . 3, S. 60 (8, 1)). J . Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, i n : BSW T , B d . 2, S. 34—35 (3, 13)

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X I . JAKOB BÖHME

geht Böhme dabei um die uns umgebende objektive Natur. Kein Buch könne der Mensch finden, darin er der göttlichen Weisheit mehr begegne, als wenn er auf eine blühende und grüne Wiese gehe, da werde er „die wunderliche Kraft Gottes sehen, riechen und schmecken".19 Immer wieder fragt Böhme, woraus denn Gras, Kraut, Bäume und vor allem Erde und Steine hervorgegangen sind. Er fragt nach der Entstehung der Welt. 20 Nach den herkömmlichen christlichen teleologischen Vorstellungen hat alles in der Schöpfung seinen Sinn und Zweck. So stellt Böhme zum Beispiel die Frage, warum große Felsen und Steine geschaffen sind, „welche ein Theil zu nichts mögen gebraucht werden, und dem Gebrauche der Kreaturen dieser Welt nur hinderlich sind"21. Zunächst sucht Böhme einen Ausweg in mythischen Vorstellungen, führt solcherlei Naturbildungen auf Luzifer zurück, dessen Erhebung die „Grimmigkeit im Salliter Gottes erwecket" habe,22 oder er führt sie unmittelbar auf Gottes Zorn zurück.23 Aber Böhme gibt sich mit diesen propädeutischen Lösungsversuchen nicht zufrieden, sondern sieht — gleich Paracelsus — die Natur in ihrem Eigensein. Das steht im Gegensatz zur aristotelisch-scholastischen Tradition, für die die Materie das Passive, Bestimmungslose, Nichtseiende ist, das keine eigene Existenz hat. Böhme gebraucht zur Lösung dieser Widersprüchlichkeit seine Dialektik. Den unüberwindlichen Gegensatz zwischen Gott als reinem Geist, einem mit höchster Vollkommenheit ausgestatteten, außerhalb und über der Natur existierenden aparten Wesen und der niederen stofflich-erdhaften Wirklichkeit kennt Böhme nicht. Eine bemerkenswerte und tiefe Charakteristik gerade dieser Seite der Philosophie Böhmes gibt Ludwig Feuerbach: „ J . Böhm[e] ist ein tief inniges, tiefsinniges religiöses Gemüt; die Religion ist das Zentrum seines Lebens und Denkens. Aber zugleich hat sich die Bedeutung, welche die Natur in neuerer Zeit erhielt — im Studium der Naturwissenschaften, im Spinozismus, Materialismus, Empirismus —, seines religiösen Gemütes bemächtigt. Er hat seine Sinne der Natur geöffnet, einen Blick in ihr geheimnisvolles Wesen geworfen, aber sie erschreckt ihn; und er kann diesen Schrecken der Natur nicht zusammenreimen mit seinen religiösen Vorstellungen . . . Aber so schrecklich sein Gemüt das finstre, nicht mit den religiösen Vorstellungen eines himmlischen Schöpfers zusammenstimmende Wesen der Natur ergreift,, so entzükkend affiziert ihn andrerseits die Glanzseite der Natur. J . Böhm[e] hat Sinn für die Natur. Er ahndet, ja empfindet die Freuden des Mineralogen, die Freuden des Botanikers, des Chymikers, kurz, die Freuden der .gottlosen Naturwissenschaft' . . . J . Böhm[e] konnte nicht ein despotischer Machtspruch als ErkläJ. Böhme, Die drei Principien göttlichen Wesens, in: BSW, Bd. 3, S. 62 (8, 12). Vgl. J. Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, a. a. O., S. 211ff. (Kap. 19); ebenda, S. 238ff. (Kap. 21 und 22). 21 J. Böhme, Mysterium Magnum oder Erklärung über das erste Buch Mosis, in: BSW, Bd. 5, S. 44 (10, 1). 22 J . Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, in: BSS, 15, 26; vgl. 9, 42; 6ff. Vorr. Kap. 14—18; J. Böhme, Die drei Principien göttlichen Wesens, a. a. O., S. 41 (5, 7) u. ö.; J . B ö h m e , De incarnatione verbi oder: Von der Menschwerdung Christi, in: BSW, Bd. 6, S. 164 (3, 11); ebenda, S. 172 (4, 11). - Vgl. auch die Abwandlung des Gedankens in Bezug auf die Metalle: ebenda, S. 171 (4, 9). 23 J. Böhme, Aurora oder Morgenröte im Aufgang, a. a. O., S. 280 (Kap. 23).

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DIALEKTISCHE

NATÜRAUFFASSUNG

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rungsgrund der Natur genügen; die Natur lag ihm zu sehr im Sinne und auf dem Herzen; er versuchte daher eine natürliche Erklärung der Natur; aber er fand natürlicher- und notwendigerweise keine andern Erklärungsgründe als eben die Qualitäten der Natur, die den tiefsten Eindruck auf sein Gemüt machten. J. Böhm[e] — dies ist seine wesentliche Bedeutung — ist ein mystischer Naturphilosoph, ein theosophischer Vulkanist und Neptunist, denn im ,Feuer und Wasser urständen nach ihm alle Dinge'." 24 Bei Böhme werden Tendenzen des materialistischen Pantheismus besonders in seiner ersten Schrift, der „Aurora", sichtbar. An manchen Stellen erklärt er, Gott sei die beseelende Kraft der Natur 25 , an anderen behauptet er eine direkte Identität von Gottheit und Natur. Keinesfalls kann die „Wurtzel der Dinge" außerweltlich sein, vielmehr gingen alle Dinge aus materiellen Kräften hervor: „Was, meinest du aber, sei vor den Zeiten der Welt gewesen, daraus Erde und Steine sind worden, sowohl die Sterne und Elemente? Da ist gewesen die Wurzel desselben, daraus es geworden ist . . . Schaue an, was findest du in diesen Dingen? Anders nichts als Feuer, Bitter, Herbe; und das sind doch nur Ein Ding und aus diesem werden geboren alle Dinge." 26 Hier verficht Böhme die Ewigkeit der Natur. Die Annahme einer Schöpfung aus Nichts lehnt er entschieden ab: „Wo nun nichts ist, da wird auch nichts; jedes Ding muß eine Wurzel haben, sonst wächst nichts . . ," 27 Böhme faßt die Welt auch als einen Selbstoffenbarungsvorgang Gottes, als seine ewige Gebärung. Ein Durchgangsstadium der mystischen „Einwendung", eine Art Wendepunkt des mystischen Prozesses, ist Böhme vor allem in seiner zweiten, im „Mysterium magnum" kulminierenden Schaffensperiode der „Ungrund". Er hat nirgends einen Grund, gründet sich auf nichts und in nichts. Dabei erscheint der „Ungrund" als „Nichts" gegenüber den bestimmten, endlichen Dingen der Natur. Gott als Ungrund ist „weder Licht noch Finsterniß, 24

L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, in: L. Feuerbach, Gesammelte Werke hg. von W. Schuffenhauer, Bd. 5, 2., durchges. Aufl., Berlin 1984, S. 180-182. - Die Darstellung Böhmes in: Geschichte der Dialektik. 14. bis 18. Jahrhundert, a. a. O., S. 72—83, fußt stark auf Einschätzungen Feuerbachs. Vgl. zum folgenden: W. Förster, Von der Philosophie zur Religion. Hauptlinien in der philosophischen Entwicklung Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, Phil. Diss., Humboldt-Univ. zu Berlin 1967, S. 135 - 145. 25 „. . . ich vergleiche die ganze Philosophie, Astrologie und Theologie samt ihrer Mutter einem köstlichen Baume, der in einem schönen Lustgarten wächst . . . Nun merke, was ich mit diesem Gleichniß angedeutet habe. Der Garten