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German Pages [256] Year 2017
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PHILOSOPHIE DER TIERFORSCHUNG
A
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Die Tierphilosophie ist eines der lebendigsten Felder der Gegenwartsphilosophie. In ihrem Mittelpunkt standen bislang Fragen nach dem Geist der Tiere, der Tier-Mensch-Unterschied oder Probleme der Tierethik. Die auf drei Bände angelegte »Philosophie der Tierforschung« wirft einen neuen Blick auf dieses Gebiet mit dem Ziel einer strukturierten Untersuchung der Tier-Mensch-Verhältnisse in den methodischen Zugängen der Tierforschung. Während der erste Band, dem Gedanken der Forschungsumwelten folgend, unter dem Schlüsselkonzept der methodologischen Signatur von Forschungsprogrammen die historische und systematische Aufarbeitung der Tierforschung zum Ziel hatte, widmet sich dieser zweite Band den »Maximen und Konsequenzen« der Tierforschung. Damit öffnet sich das zu untersuchende Feld in Richtung auf kulturelle und ethische Aspekte, auf gesellschaftliche und politische Horizonte der Forschung. Hatte der erste Band deutlich gemacht, dass Tiere in den betreffenden Forschungsumwelten nicht nur die Rolle passiver Objekte spielen, sondern auch subjektive und aktive Qualitäten erlangen, und sei es in Form der Widerständigkeit, so erweisen sich die Forschungsumwelten samt der in ihnen stattfindenden Interaktionen zwischen forschenden Menschen und erforschten Tieren damit unter ethischen und kulturellen Vorzeichen als Machtsysteme, deren Mechanismen der Anerkennung und Unterdrückung philosophisch zu thematisieren sind.
Die Herausgeber: Martin Böhnert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Theoretische Philosophie der Universität Kassel; Kristian Köchy ist Leiter dieses Fachgebiets; Matthias Wunsch führt dort angegliedert sein eigenes DFG-Projekt »Personale Lebensform und objektiver Geist« durch. Alle drei Herausgeber sind Mitglieder des vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten interdisziplinären LOEWE Schwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft« an der Universität Kassel.
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Kristian Köchy / Matthias Wunsch / Martin Böhnert (Hg.)
Philosophie der Tierforschung Band 2
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Der Band ist im Zusammenhang mit den Forschungen des LOEWESchwerpunkts »Tier – Mensch – Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung« an der Universität Kassel entstanden. Die Drucklegung wurde durch Mittel der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE) des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst sowie der Universität Kassel unterstützt.
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Kristian Köchy / Matthias Wunsch / Martin Böhnert (Hg.)
Philosophie der Tierforschung Band 2:
Maximen und Konsequenzen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Einbandgestaltung: Martin Böhnert Satz: Frank Hermenau, Kassel Herstellung: CPI books Gmbh, Leck Printed in Germany
ISBN: 978-3-495-48742-6 E-ISBN: 978-3-495-81132-0
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Inhalt
Kristian Köchy, Matthias Wunsch, Martin Böhnert Einleitung: Philosophie der Tierforschung. Kulturelle und ethische Dimensionen methodischer Tier-MenschInteraktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Herwig Grimm und Andreas Aigner Der moralische Individualismus in der Tierethik. Maxime, Konsequenzen und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Arianna Ferrari Zur Ethik der methodischen Untersuchung von Tieren . . . . . . . 65 Ute Knierim Methoden und Konzepte der angewandten Ethologie und Tierwohlforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Peter Kunzmann Die Rede von den Bedürfnissen von Tieren. Ihre tierethische Relevanz und ihre Bedeutung für den Tierschutz . . . . . . . . . . . . 103 Dirk Westerkamp Animalia symbolica? Sprachphilosophische, ethologische und kulturtheoretische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Markus Wild Philosophische Implikationen der Kognitiven Ethologie . . . . . . 163 Hans Werner Ingensiep Der kultivierte Affe als „Person“? Philosophische und wissenschaftshistorische Streifzüge zum Great Ape Projekt . . . 195
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Inhalt
Volker Sommer Menschenaffen als Personen? Das Great Ape Project im Für und Wider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
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Kristian Köchy, Matthias Wunsch, Martin Böhnert
Einleitung: Philosophie der Tierforschung Kulturelle und ethische Dimensionen methodischer Tier-Mensch-Interaktionen
In den letzten Jahren hat die philosophische Auseinandersetzung mit Tieren – das, was inzwischen unter dem Namen „Tierphilosophie“1 rangiert – wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Neben dem Problem des Tier-Mensch-Unterschiedes stehen dabei unter theoretischen Vorzeichen die Frage nach dem Geist der Tiere und unter praktischen Vorzeichen die Themenfelder der Tierethik im Fokus.2 Unter Beteiligung der Philosophie hat parallel dazu eine rege Diskussion in den Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt eingesetzt, die unter dem Titel „Human-Animal Studies“ ein interdisziplinäres Profil gewonnen hat. Das Forschungsinteresse richtet sich hier auf die historische, kulturelle und soziale Bedeutung von Tieren sowie auf die gesellschaftliche Dimension von MenschTier-Verhältnissen.3 Mit dem auf drei Bände angelegten Projekt 1 2
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M. Wild, Tierphilosophie zur Einführung, 3. korrigierte Aufl., Hamburg 2013. Einen Überblick über die Debatten bieten: D. Perler, M. Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, Frankfurt a. M. 2005; S. Hurley, M. Nudds (Hrsg.), Rational Animals?, Oxford 2006; H. W. Ingensiep, H. Baranzke, Das Tier, Stuttgart 2008; U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008; R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009; H. Grimm, C. Otterstedt (Hrsg.), Das Tier an sich. Diszipli nenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tier schutz, Göttingen 2012; K. P. Liessmann (Hrsg.), Tiere. Der Mensch und seine Natur, Wien 2013; K.-P. Rippe, U. Thurnherr (Hrsg.), Tierisch menschlich: Beiträge zur Tierphilosophie und Tierethik, Erlangen 2013; F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik. Grundlagentexte, Berlin 2014. Vgl. die Bibliographie auf (http://www.animalstudies.msu.edu/bibliography. php), zuletzt abgerufen am 08.01.2016; ebenso das Archiv auf (http://www. animalsandsociety.org/human-animal-studies/society-and-animals-journal/ society-animals-archive/), zuletzt abgerufen am 08.01.2016; vgl. auch J. A. Serpell, In the Company of Animals. A Study of Human-Animal Relationships (1986), New York 2008; C. P. Flynn (Hrsg.), Social Creatures. A Human and Animal Studies Reader, New York 2008; M. DeMello (Hrsg.), Teaching the Animal. Human-animal Studies across the Disciplines, New York 2010; Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hrsg.), Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld 2011;
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einer „Philosophie der Tierforschung“ werden die bislang geführten Diskurse durch eine stärkere Berücksichtigung des gesamten Kontextes der naturwissenschaftlichen Tierforschung ergänzt. Zu diesem Kontext gehören die Handlungslogiken, die Denkstile und die Sprachspiele der Forschungskollektive, ebenso die philosophischen bzw. ethischen Hintergrundannahmen und Implikationen, maßgeblich aber auch die jeweils ausgewählten Modelltiere. Im Einzelnen geht es in dem Projekt, dessen zweiter Band hier vorliegt, um Methoden und Theorieprogramme der Tierforschung (Bd. 1), um deren praktische Maximen und kulturelle Konsequenzen (Bd. 2) sowie um die Milieus der Tierforschung und die Rollen der Tiere und Forschenden in ihnen (Bd. 3). In diesem zweiten Band werden also einerseits ethische, gesellschaftliche und politische Horizonte und Implikationen der Tierforschung diskutiert und andererseits aktuelle Ansätze und Fragestellungen der Tierforschung philosophisch reflektiert und eingeordnet. Während der erste Band sich auf die historischen und systematischen Bedingungen der wissenschaftlichen Tierforschung konzentrierte und so die Tier-Mensch-Beziehung unter den speziellen Vorgaben des methodischen Zugriffs wissenschaftlicher Erforschung tierlicher Vermögen erfasste, wendet sich der zweite Band den praktischen Relationen und ethischen Fragen der Tierforschung zu. Diese Einleitung soll klären, welche konzeptionellen Überlegungen diesem Übergang zugrunde liegen. Im ersten Band wurde die Tierforschung, wie dort bereits in den einleitenden Überlegungen ausgeführt und im Konzept des Bandes umgesetzt, unter dem Leitgedanken der Umwelt oder des Milieus und mit dem Schlüsselkonzept der methodologischen Signatur von Forschungsprogrammen betrachtet. Die methodologische Signatur eines Ansatzes der Tierforschung umfasst eine Reihe von Kenngrößen, die ihn identifizieren und mit anderen Ansätzen vergleichbar machen. In diese Reihe gehören die bevorzugten Referenztiere, deren primär untersuchte Leistungen, kategoriale Vorentscheidungen, die verwendeten Forschungsmethoden, die gewählten ForC. Freeman, E. Leane, Y. Watt, Considering Animals. Contemporary Studies in Human-Animal Relations, Farnham 2011; L. Birke, J. Hockenhull (Hrsg.), Crossing Boundaries: Investigating Human-Animal Relationships, Boston, Lei den 2012; N. Taylor, Humans, Animals, and Society. An Introduction to HumanAnimal Studies, New York 2013; A. Ferrari, K. Petrus (Hrsg.), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen, Bielefeld 2015; R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kultur wissenschaftliches Handbuch, Stuttgart, Weimar 2015.
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schungsorte, das zugrunde liegende Wissenschaftsideal, die Positionierung zu anderen Forschungsansätzen und die philosophischen Hintergrundannahmen und Implikationen. In der Umsetzung dieser Idee wurde in den Beiträgen des ersten Bandes deutlich, dass Tiere selbst in diesem methodisch strengen Rahmen der Wissenschaft keinesfalls nur den Status von passiven Objekten (Forschungsgegenständen) haben. Immer wieder – und je ‚mentaler‘ die methodisch untersuchten Vermögen sind, desto gravierender – erweisen sich die Tiere selbst unter den restriktiven Bedingungen wissenschaftlicher Erforschung als aktive Glieder der Relation – eben als Lebewesen. Sie werden quasi zu Teilnehmern des Forschungsprozesses. Dieses bestätigt sich noch bei Berücksichtigung der rigiden Vorgaben der Laborforschung. Hier haben Tiere den Status von Modellorganismen.4 Fragt man jedoch danach, was die Existenz als Modellorganismus befördert, dann stößt man nicht nur auf Handlungsziele der Forschenden, sondern eben auch auf Merkmale, Fähigkeiten oder Ansprüche der untersuchten Tiere. Um als Modellorganismen für ein Leben im Labor tauglich zu sein, müssen Lebewesen zunächst Eigenschaften besitzen, die ihnen ein solches Leben überhaupt erst ermöglichen. Zu den generell förderlichen Eigenschaften, wie geringe Nahrungsansprüche, große ökologische Toleranz oder hohe Fortpflanzungsrate, kommen konkrete Erfordernisse hinzu, die sich aus bestimmten Forschungsfragen und dem Einsatz bestimmter Experimentalsysteme ergeben. Der Erfolg der Forschungshandlung ist abhängig davon, dass der Untersuchungsgegenstand ‚Tier‘ die betreffenden Eigenschaften mitbringt und aufrechterhält. Betrachtet man die Eigenschaften genauer, dann sind selbst Laborlebewesen keine passiven Glieder der Forschungsrelation. Vielmehr zeigen auch sie in Laborversuchen ihre Fähigkeiten, führen Aktionen aus, unterlassen oder verweigern andere. Bruno Latour fasst all das unter dem Begriff „Performanz“.5 Eine Dimension der aktiven Qualität solcher „Performanzen“ belegt Robert E. Kohlers 4 5
Vgl. dazu schon den Themenschwerpunkt „The Right Organism for the Job“, hrsg. von M. Lederman, R. M. Burian, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 233-368. B. Latour, Die Hoffnung der Pandora (1999), Frankfurt a. M. 2002, S. 144. Im Glossar des Buches wird ‚Aktionsname‘ (name of action) wie folgt bestimmt: „Ein Ausdruck, der verwendet wird, um jene merkwürdigen Situationen zu beschreiben – wie beispielsweise Experimente –, in denen ein Akteur aus Ver suchen hervorgeht. Der Akteur hat noch kein Wesen. Er definiert sich nur durch
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Studie zum Laborleben von Drosophila.6 Nach dessen Überlegungen bildet das Labor eine eigene Umwelt, in der die Interaktionen zwischen Beobachtenden (Menschen) und Beobachtungsobjekten (Tiere) den Charakter einer Symbiose annehmen können. „Sym biose“ meint hier, dass nicht nur die Lebewesen zu Forschungszwecken manipuliert und konstruiert werden, sondern umgekehrt die speziellen Erfordernisse von Labororganismen ein je spezifisches Arsenal an Methoden und Verfahren der beobachtenden Menschen erzeugen. Aus dem Wechsel des Labororganismus resultiert dann eine deutlich gewandelte Forschungsumwelt für die Forschenden. Konkreter und der eigentlichen Vorstellung von aktiven Qualitäten (Spontaneität) entsprechender werden diese Vorgaben, wenn im Rahmen bestimmter komplexer Forschungsfragen Tiere für die Durchführung von Experimenten eigens trainiert werden müssen, wenn der Versuchsaufbau den Tieren die Entscheidung über Teilnahme oder Nichtteilnahme am Experiment überlässt oder wenn die erfolgreiche Umsetzung des Versuches selbst von der Motivation der Tiere abhängt.7 Dass dieses im weiten Feld der kognitiven Ethologie umfassend der Fall ist, bringt bereits das satirisch gemeinte, früh formulierte Harvard Law of Animal Behaviour zum Ausdruck, wonach Versuchstiere unter genau kontrollierten Bedingungen („verdammt noch mal“) genau das tun, was sie wollen. Biologische Tierforschung erweist sich vor dem Hintergrund der Überlegungen zu den methodologischen Signaturen von Forschungsprogrammen – so zeigt es auch Band 1 – zudem als Praxis forschender Menschen. Als solche erfolgt sie stets in enger Wechselwirkung mit bestimmten Forschungsumwelten, zu denen als wesentliche Glieder die Tiere gehören. Die idealen Wissenschaftskonzepten zugrunde liegende Annahme von distanzierten, weltexternen und letztlich körperlosen Beobachtenden trifft also nicht zu und ist abzulösen durch das Konzept von involvierten, leiblichen „Mitspielern“ in Umwelten. Die Ersetzung der klassischen Zuschauertheorie der Erkenntnis durch eine Mitspielertheorie8 bedeutet im Fall der
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eine Liste von Wirkungen – bzw. Performanzen – in einem Laboratorium.“ (ebd., S. 372) R. E. Kohler, „Drosophila. A Life in the Laboratory“, in: Journal of the History of Biology, 26(2)/1993, S. 281-310, hier S. 287. Vgl. zu den hier notwendigen komplexen Versuchsaufbauten exemplarisch J. Fischer, „Metakognition bei Tieren“, in: J.-C. Heilinger (Hrsg.), Naturgeschichte der Freiheit, Berlin, New York 2007, S. 95-116. Vgl. etwa J. Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt a. M. 1995, S. 325 f.
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Tierforschung als einer spezifischen Tier-Mensch-Relation jedoch nicht nur eine neue Auszeichnung der beobachtenden Menschen. Sie betrifft auch die Tiere als beobachtete und erforschte Glieder der Relation. Im Kontext einer solchen Mitspielertheorie wird deshalb für die Philosophie der Tierforschung nicht nur die körperleibliche Konstitution der beobachtenden Menschen bedeutsam, sondern ebenso die Frage nach der möglichen körperleiblichen Konstitution der Tiere. Karin Knorr Cetina hat in ihren Studien zu molekularbiologischen Laboratorien hinsichtlich der beobachtenden Menschen auf die Bedeutung der Erfahrungsschemata des Leibes hingewiesen.9 Für die beobachteten Tiere jedoch muss philosophisch mehr investiert werden, weil hier die leiblichen Aspekte weniger selbstverständlich sind. Zudem werden diese Aspekte wohl nicht alle biologischen Phänomendimensionen und alle Lebewesen in gleichem Ausmaß betreffen. In bestimmten Hinsichten jedoch werden Überlegungen bedeutsam, die eine grundsätzliche Doppelaspektivität lebendiger Systeme berücksichtigen, wie sie schon Helmuth Plessner in seinen Stufen des Organischen herausgestellt hat.10 Vielfach jedoch gilt die Berücksichtigung genuin leiblicher Qualitäten durch die Naturwissenschaften – so zeigen es auch die in Band 1 untersuchten Forschungsprogramme der Tierforschung – als nicht umsetzbare Forderung.11 Dieses hat seinen sachlichen Grund in der Identifikation des Standpunkts naturwissenschaftlicher Beobachtung mit der Einnahme einer Außenperspektive. Die Beobachtenden können demnach nur die „äußeren“ Ereignisse in Raum und Zeit erfassen (das als Bewegung konzipierte Verhalten eines Lebewesens) nicht aber „innere“ Ereignisse (die Gefühlslagen oder Erlebnisse eines Lebewesens). Mit dem Aufkommen und der Etablierung einer sich explizit als kognitive Ethologie verstehenden Verhaltensforschung ist in jüngerer Zeit wieder Bewegung in diese Frage gekommen. Hinweise auf die Notwendigkeit genereller Modifikationen der Konzepte von Beobachtenden (Menschen) 9 K. Knorr-Cetina, Wissenskulturen. Eine Vergleich naturwissenschaftlicher Wis sensformen, Frankfurt a. M. 2002, S. 138 ff. 10 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), in: H. Plessner, Gesammelte Schriften, hrsg. von G. Dux et al., Bd. 4, Frankfurt a. M. 1980, S. 138 ff. 11 W. Kutschmann, Der Naturwissenschaftler und sein Körper, Frankfurt a. M. 1986. Zu diesem Problem mit Blick auf die Lebenswissenschaften siehe auch T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, 2. aktualisierte Aufl., Stuttgart 2009, S. 93 ff.
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und Beobachtetem (Tiere) liefert aber schon die über die gesamte Geschichte der Psychologie kontrovers diskutierte Rolle psychologischer Experimente. Bereits klassische psychologische Ansätze unterscheiden sich vom naturwissenschaftlichen Experiment in gewichtigen Punkten: In vielen Fällen wird die Selbstbeobachtung (Introspektion) zum Element des methodischen Ansatzes. Zudem wird ein je individuelles Phänomen (das individuelle Bewusstsein) zum Gegenstand der Untersuchung. Und schließlich entsteht zwischen Beobachtenden und Beobachtungsgegenstand eine neue Relation jenseits der Distanz: die Relation der Selbstbeziehung; das menschliche Bewusstsein untersucht sich mit den Mitteln experimenteller Forschung quasi selbst. In Beobachtungssituationen der Tierforschung liegen nach den Überlegungen von Band 1 mutatis mutandis analoge Bedingungen vor. So stehen zwar tierliches Verhalten und tierliches Bewusstsein als Bewusstsein und Verhalten anderer Art12 für die Seite der Differenz, die Untersuchung selbst erfolgt jedoch unter der Vorgabe grundsätzlicher Indifferenz wie es sowohl der Gedanke des evolutionären Kontinuums als auch die philosophische Position des Animalismus13 betonen – es geht also um das Tier als Selbst/Anderer.14 Betrachtet man diese Bedingungen genauer, dann zeigt sich die „Doppelaspektivität“ für die Seite des Beobachteten darin, dass im experimentellen Versuch und in der Beobachtung der Tierforschung nicht ein passiv allen Manipulationen ausgesetztes Untersuchungsobjekt vorliegt, sondern vielmehr im Sinne von Uexküll und Maturana ein aktives Subjekt. In vielen Forschungsvollzügen der Tierforschung erweisen sich die vermeintlichen Beobachtungsgegenstände als aktive (in manchen Fällen gar intentionale) Einheiten. In diesen Experimenten ist der Experimentator nicht der alleinige Akteur; ihm gegenüber nur passives Material. Diese Technik ist vielmehr – so hatte es Hans Jonas als Grundcharakteristikum
12 Vgl. C. Allen, M. Bekoff, Species of Mind. The Philosophy and Biolgy of Cog nitive Ethology, Cambridge (Mass.) 1997. 13 Vgl. M. Wild, „Der Mensch und die anderen Tiere. Für eine zoologische Wende in der philosophischen Anthropologie“, in: K. P. Liessmann (Hrsg.), Tiere. Der Mensch und seine Natur, Wien 2013, S. 48-67. 14 Die ethische Seite dieser Tatsache betont L. Gruen, „Sich Tieren zuwenden. Em pathischer Umgang mit der mehr als menschlichen Welt“, in: F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik, Berlin 2014, S. 390-404, hier S. 404; zum Hintergrund vgl. auch P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer (1990), München 2005.
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aller biologischen Technik behauptet15 – auf Kollaboration mit einem selbsttätigen, aktiven biologischen System, einem tierlichen Subjekt angewiesen. Schränkt man diese Eigenaktivität der Lebewesen aus Gründen der Quantifizierbarkeit oder Objektivierbarkeit im methodischen Vorgehen der Tierforschung ein, dann können Defizite und Artefakte entstehen, die wissenschaftlich unbrauchbare Resultate erzeugen. Bei komplexeren Verhaltensleistungen von Tieren wie Sprachhandlungen – etwa bei der Untersuchung der Kommunikation von Menschenaffen – werden zudem sukzessive die methodologischen Bedingungen der naturwissenschaftlichen Beobachtung durch diejenigen der kulturwissenschaftlichen Beobachtung abgelöst, wie John Duprés Rekonstruktion der Debatte um die Affensprache zeigt.16 Statt distanzierte, neutrale und affektionslose Beobachtende vorauszusetzen, erfordert die methodische Untersuchung des Phänomens „Kommunikation“ und das Verständnis der hier stattfindenden Interaktionen als Akte der Kommunikation eine bezugnehmende Haltung der Forschenden. Ohne deren emotionales Engagement werden nicht nur wirkliche Kommunikationsakte nicht verständlich, sondern selbst die Bedingungen der Möglichkeit zur Entwicklung von Kommunikation sind nicht gegeben. Das Verhalten der Tiere stellt in diesem Forschungskontext den Einsatz von kommunikativen Mitteln dar und bringt deren Intentionalität zum Ausdruck. Das entscheidende Glied des Erkenntnisprozesses der Forschenden ist damit der Rückschluss von Verhaltensäußerungen auf das in ihnen zum Ausdruck kommende intentionale Geschehen eines anderen Lebewesens. Bestimmt man die Relation ‚Tier-Mensch‘ in dieser Weise unter den Vorgaben der hermeneutischen Interpretation und der Perspektive der Teilnahme, dann hat man die Einsicht der Ethnologie zu berücksichtigen, dass das Zwitterwort „teilnehmende Beobachtung“ zweierlei impliziert: Einerseits qua Teilnahme das Engagement der Beobachtenden17 (was sie davor bewahrt, das Forschungsgegenüber zur Sache zu erniedrigen) und andererseits qua Beobachtung den 15 H. Jonas, „Laßt uns einen Menschen klonieren“ (1974), in: H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. 1985, S. 162-203, hier S. 165. 16 J. Dupré, „Gespräche mit Affen. Reflexionen über die wissenschaftliche Erfor schung der Sprache“, in: D. Perler, M. Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere, Frankfurt a. M. 2005, S. 295-322, hier S. 305. 17 Vgl. K.-P. Koepping, „Authentizität als Selbstfindung durch den anderen: Ethno logie zwischen Engagement und Reflexion, zwischen Leben und Wissenschaft“,
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bleibenden Anspruch auf wissenschaftliche Vergleichbarkeit und Neutralität, was die Beobachtenden vor speziesistischen Einseitigkeiten bewahrt. Ist jedoch die Tierforschung durch diese besondere Interaktionsform zwischen beobachtenden Menschen und beobachtetem Tier bestimmt, dann unterliegt sie einer komplexen Dialektik. Auch Forschende sind Lebewesen, die in einer für Lebewesen typischen Weise in der Welt (ihrer Umwelt) „anwesend“ sind. Zugleich ist diese „Anwesenheit“ im Kontext einer wissenschaftlichen Beschreibung und Interpretation der Welt stets kulturell vermittelt. In dieser Situation befinden sich die beobachtenden Menschen als Forschende „dem Lebendigen gegenüber“.18 Diese Spannung von Nähe und Distanz prägt den Beobachtungsvollzug der Tierforschung. Zugleich ist die Distanznahme zur Welt und den in ihr vorkommenden Lebewesen eine wesentliche Voraussetzung zur Etablierung des kognitiven Rahmens, in dem beobachtende Menschen die für ihr Handeln relevanten normativen Voreinstellungen vornehmen. Die Dialektik von Distanz und Nähe ist stets auch eine Dialektik von Anerkennung und Unterwerfung der Partner in der Beobachtungsrelation. Nach der Mitspielerkonzeption sind die Beobachtenden stets aktiv involviert. Ihre Beobachtung ist ein aktives Geschehen. Zugleich ist das beobachtete Tier kein passiver Gegenstand der Forschung. Es ist ebenfalls aktiver Partner eines Wechselvollzugs. Unabhängig davon, ob Nähe oder Distanz die Beobachtung bestimmen, ist diese Interaktion zwischen den Partnern der Beobachtung zu berücksichtigen. Für beide Fälle gilt eine Ambivalenz hinsichtlich Anerkennung oder Unterwerfung, die keinesfalls trivial ist: Ebenso wie die naturwissenschaftliche Distanz kann auch allzu große affektive Nähe zum Forschungssubjekt den Prozess der wissenschaftlichen Beobachtung stören oder gar verunmöglichen. Jenseits epistemischer Konsequenzen hat dieses immer auch ethische Implikationen. Die in allen Forschungshandlungen der Tierforschung präsente Widerständigkeit des ‚Untersuchungsmaterials‘ Tier besitzt nach Obigem eine Qualität, die die Zuschreibung von aktiver Gegenwirkung nahelegt. Sowohl die Wirkung des beobachtenden Menschen als auch die Gegenwirkung des beobachteten Tieres erzeugen ein in: H. P. Duerr (Hrsg.), Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt a. M. 1987, S. 7-37, hier S. 29. 18 C. Rehmann-Sutter, Leben beschreiben. Über Handlungszusammenhänge in der Biologie, Würzburg 1996, S. 363.
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Relationsgefüge von Anerkennung und Unterwerfung. Damit ergeben sich auch Verschiebungen im Netzwerk der Rahmenannahmen, die für die normativen Voreinstellungen zu uns selbst und zu anderen Lebewesen bedeutsam sind, unsere Menschen- und Tierbilder ändern sich. Wenn jede Form der Beobachtung – sei sie distanziert oder teilnehmend – ein Element der Unterwerfung beinhaltet, ja möglicherweise sogar die „Abtötung“ des ursprünglichen Phänomens bedeutet (wie es für die Ethnologie Devereux betonte19), dann ist dieses nicht nur methodologisch bedeutsam, sondern eben auch ethisch. Die Anwesenheit des beobachtenden Menschen kann einen verändernden Einfluss auf das Verhalten des beobachteten Tieres haben. Das kann in methodischer Hinsicht bedeuten, dass die wissenschaftliche Untersuchung nicht ein ‚natürliches‘ und ‚unbefangenes‘ Geschehen, sondern vielmehr ein künstliches experimentelles Erzeugnis erfasst. In ethischer Hinsicht ist diese Änderung vor allem dann bedeutsam, wenn sie so gravierend wird, dass der Eingriff tatsächlich zur Verletzung oder Tötung der beobachteten Tiere führt. Diese besonderen Bedingungen im Bereich des Lebendigen haben die Physiker Bohr und Elsasser20 unter methodischen Vorzeichen hervorgehoben, indem sie betonten, experimentelle Eingriffe bei Lebewesen hätten eine prinzipielle Grenze, wenn die Lebensfähigkeit erhalten bleiben soll. Diese methodologische Reflexion verweist aber auch auf die Vulnerabilität von Lebewesen und den prekären und wesentlich fragilen Status lebendigen Seins. Sie ist folglich nicht nur theoretisch oder instrumental-praktisch bedeutsam, sondern vor allem ethisch. Dieses ist der Hintergrund von Hans Jonas’ Feststellung, biologische Versuche seien stets wirkliche Taten am Original.21 Für Humanversuche hat Otfried Höffe auf die Spannung hingewiesen, die sich daraus ergibt, dass die Beobachtenden im Kontext der Wissenschaft die doppelte Rolle als Forschende und Mitmenschen einnehmen.22 Hans Jonas hat deutlich gemacht, dass bei einer auf Nutzung ausgerichteten technischen Perspektive immer die Gefahr besteht, alle Beobachtungsobjekte umzudeuten und nur noch
19 G. Devereux, Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a. M. 1978, S. 19. 20 W. M. Elsasser, Atom and Organism. A new approach to Theoretical Biology, Princeton 1966, S. 30. 21 H. Jonas, „Laßt uns einen Menschen klonieren“, S. 166. 22 O. Höffe, Politisch-sittliche Diskurse, Frankfurt a. M. 1981, S. 249.
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unter dem Nutzengesichtspunkt zu erfassen. Objekte des Wissens werden als unter-dem-Menschen-stehende Sachen interpretiert.23 Wenn ein Mensch zum Objekt der Forschung eines anderen Menschen wird, so Kruse,24 dann unterscheidet sich diese Beziehung wesentlich von allen zwischenmenschlichen Beziehungen des Alltags, die unter den Normen der Reziprozität stehen. Diese Regeln werden in der naturwissenschaftlichen Beobachtung methodisch unterlaufen. Deshalb sind unter ethischen Hinsichten modifizierte Regeln gefordert, die Humanexperimente begleiten und ethisch ‚abfedern‘. Für die Tierforschung ist der Aufmerksamkeitsbereich über die Sphäre zwischenmenschlicher Beziehungen hinaus auf Tier-Mensch-Relationen zu erweitern. Auch hier sind die Folgen zu berücksichtigen, die eine Auffassung von Tieren als Sachen und Objekten der Forschung und eine Verleugnung von deren Subjektivität haben kann.25 Vor allem unter ethischen Vorzeichen wird deshalb erkennbar, wie wichtig die Konzeption des „Mitspielers“ sowie die mit ihr verbundene Teilnahme, das Engagement und Sich-zurVerfügung-Stellen als Korrektur des Ideals einer neutralen und objektiven Beobachtung ist. Damit ist der Fokus der Philosophie der Tierforschung von theoretischen Fragen der methodischen Signatur von Forschungsprogrammen (Bd. 1) in das Feld praktisch-moralischer Fragen überführt (Bd. 2). Herwig Grimms und Andreas Aigners Beitrag ist für die Frage nach den Tier-Mensch-Relationen und die kontextuelle Ausrichtung von besonderer Bedeutung, weil er im Detail die Verschiebungen und Veränderungen rekonstruiert, die die aktuelle Kritik am moralischen Individualismus in der Tierethik zur Folge hat. Diese seit den Ansätzen von Peter Singer und Tom Regan prominente Strömung fordert die moralische Berücksichtigung von Tieren insbesondere in ihrer Qualität als je besondere Individuen und nicht als Mitglieder von Arten und begründet diese Forderung primär in Bezug auf moralisch relevante Eigenschaften der Tiere. Die mit Cora Diamond 23 H. Jonas, Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973, S. 274. 24 L. Kruse, „Nähe und Distanz. Ethische Probleme der Psychologie“, in: H. Lenk (Hrsg.), Humane Experimente? München, Paderborn 1985, S. 121-137. 25 Vgl. B. Luke, „Selbstzähmung oder Verwilderung? Für eine nicht-patriarchalische Metaethik der Tierbefreiung“, in: F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik, Berlin 2014, S. 407-444, hier S. 432 ff.
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und Mary Midgley einsetzende Kritik am moralischen Individualismus erweist sich in der Rekonstruktion der einzelnen Positionen durch Grimm und Aigner als eine Entwicklung in Richtung auf eine relationale und kontextualistische Tierethik. Nicht nur die Eigenschaften von Tieren, sondern auch die jeweiligen menschlichen Praktiken werden nun für tierethische Entscheidungen relevant; relationsbasierte Gründe sollen die eigenschaftsbasierten ergänzen. Es wird deutlich, dass sich die moralische Bedeutung von tierlichen Eigenschaften im Zuge menschlicher Praxen ergibt. Dieser Wandel markiert letztlich auch einen Übergang von sich als universalisierbar und objektiv verstehenden tierethischen Bestimmungen zu diversifizierten, kontextualisierten und multikriteriellen regionalen Urteilen. Tier-Mensch-Beziehungen und -Differenzen spielen in diesen Debatten auch wegen der gegenseitigen Vorwürfe speziesistischer und anthropomorpher Voreingenommenheit und Fehldeutung eine wichtige Rolle. Arianna Ferrari liefert einen Überblick über die ethischen Dimensionen experimenteller Tierforschung. Hierzu beleuchtet sie zunächst den Begriff „Tierversuch“ im juristisch definierten Sinne des Tierschutzgesetztes mit besonderem Blick auf die darin verankerte Formel der Zufügung von „Schmerzen, Leiden oder Schäden“. Anschließend analysiert Ferrari sowohl die institutionell gerechtfertigte Verteidigung der experimentellen Praxis als ethischen und epistemischen Wert, als auch die zunehmende Kritik an Tierversuchen vor dem Hintergrund eines vor allem politisch motivierten Paradigmenwechsels. Vor diesem Hintergrund fordert sie schließlich die kritische Auseinandersetzung mit der methodischen Untersuchung von Tieren auf den Gebieten jenseits der Biomedizin und problematisiert die gängige Anwendung anhand des praxisrelevanten Beispiels der gentechnischen Veränderung von Tieren: Von der Isolierung embryonaler Stammzellen bei Mäusen bis zu Kühen, die ‚menschliche Muttermilch‘ geben, und ‚Enviropigs‘, deren Kot weniger Schadstoffe aufweist, als dieses bei nicht-modifizierten Schweinen der Fall ist. Ute Knierim wendet sich der angewandten Ethologie und der Tierwohlforschung zu und gibt einen Überblick über deren Geschichte, Konzepte und Methoden. Die beiden Disziplinbegriffe überkreuzen sich: Die angewandte Ethologie untersucht Fragen des Verhaltens (insbesondere der proximaten Beeinflussung von Tieren) auch außerhalb des Bereichs der Tierwohlforschung, etwa im Wildtiermanagement, der Schädlingsbekämpfung und der Verhttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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haltenstherapie von Heim- und Begleittieren; und die Tierwohlforschung beruft sich nicht nur auf die Verhaltensforschung, sondern auch auf die Physiologie, Pathologie, klinische Tiermedizin, Epidemologie und Genetik. In der Tierwohlforschung geht es darum, wie das Wohlergehen von Tieren (animal welfare) eingeschätzt, beeinflusst und verbessert werden kann. Ein Grundproblem dabei ist, wie wir Wissen über die psychischen Zustände und näherhin das Wohlbefinden von Tieren gewinnen können. In der neueren Forschung hat sich hier neben dem Paradigma, dass Informationen über tierliche Befindlichkeiten aus Messgrößen körperlicher Vorgänge abgeleitet werden, ein Ansatz der qualitativen Verhaltensbeurteilung etabliert (Françoise Wemelsfelder), demzufolge das Verhalten des Tieres unmittelbar ausdrückt, wie es sich fühlt. Ein weiteres Grundproblem der Tierwohlforschung betrifft die Unterscheidung und Ordnung verschiedener Facetten und Dimensionen des tierlichen Wohlergehens. Knierim stellt verschiedene Ansätze der Kategorisierung vor. Zwischen diesen Ansätzen bestehe zwar kein grundsätzlicher Dissens, gleichwohl sieht sie in Bezug auf drei von ihr näher ausgeführte Punkte weiteren Diskussionsbedarf: das Problem der „Natürlichkeit“, die Tierwohlrelevanz physischer Aspekte und die Gewichtung der verschiedenen Tierwohldimensionen. Peter Kunzmann legt eine ethische Konzeption von Tieren als „experiencing subjects of a life“ (Tom Regan) vor, indem er sich am Begriff des Bedürfnisses orientiert. Dieser Begriff hat eine grundlegende Bedeutung im Deutschen Tierschutzgesetz (§ 2), wo festgelegt ist, dass ein Tier in menschlicher Obhut „seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend“ behandelt werden muss. Das hat weitreichende Implikationen. Denn wer Tieren Bedürfnisse zuspricht, spricht ihnen eine subjektive Innenwelt zu; und wer diese Bedürfnisse als eine Richtgröße für unseren Umgang mit ihnen anerkennt, räumt ein, dass Tiere um ihrer selbst willen Schutz vor bestimmten Behandlungen genießen sollten. Kunzmann arbeitet die philosophischen Grundlagen dieser Implikationen heraus, indem er sich dem Bedürfnisbegriff, dessen Anwendung auf Tiere und allgemein der Frage nach dem Fremdpsychischen zuwendet. In ethischer Hinsicht ist sein Hauptpunkt, dass unerfüllte Bedürfnisse die Lebensqualität mindern und daher in einem weiten Sinn „Leiden“ hervorrufen. Seine Argumentation arbeitet mit einer Analogie moralischer Art: Da das, was für mich von intrinsischem Wert ist, moralische Berücksichtigung verdient, ist es auch moralisch bedeutsam, was für ein anderes Tier einen solchen Wert besitzt. Es besteht daher eine https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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moralische Verpflichtung, die Bedürfnisse der Tiere zu erforschen, um deren Frustrierung vermeiden zu können; und das umso mehr, als Tiere in menschlicher Obhut in höchstem Maße von uns abhängig sind. Abschließend schärft Kunzmann seine Konzeption in der Auseinandersetzung mit den Fragen, ob alle Bedürfnisse der Tiere immer und überall befriedigt werden sollen und ob es legitim ist, die Bedürfnislage von Tieren durch Zucht und Aufzucht zu senken. Dirk Westerkamp untersucht eine Thematik, die an den Schnittflächen von Tierphilosophie, Ethologie, Sprachphilosophie und Sprach- sowie Kulturwissenschaft angesiedelt ist. Was bedeutet es für vergleichende Studien zu diesem Bereich, so seine Frage, dass zwar Sprechen für verschiedene biologische Arten kennzeichnend ist, neben menschlichen Normalsprachen aber keine Kommunikationsart bekannt ist, die sich zu etwas übersteigt, das mehr als Informationsaustausch ist? Westerkamps Gedankengang lässt sich in drei Schritte gliedern. Erstens wird der Begriff des Sprechens und der Sprache präzisiert. Dabei zeigt sich, dass sich menschliche Normalsprachen durch semiotische bzw. skripturale Differentialität, syntaktische Rekursivität, semantische Reflexivität und pragmatische Inferentialität kennzeichnen lassen. Zweitens unternimmt Westerkamp auf einer empirisch wie philosophisch reichhaltigen Grundlage und mit Blick auf eine Reihe verschiedener Spezies einen Durchgang durch die im weiten Sinne sprachbezogenen Debatten um Mensch und Tier. Drittens erläutert Westerkamp, inwiefern er die Frage nach dem oder den Unterschied(en) zwischen Mensch und Tier für falsch gestellt hält. Allerdings: Auch wenn es für einen (mit Scheler gesprochen) „natursystematischen“ Begriff des Menschen nicht die anthropologische Differenz geben könne, bleibe es, wo es um ein Selbstverständnis unserer Gattung und dessen Geschichte geht, sinnvoll, einen kultursystematischen Begriff des Menschen anzunehmen. Westerkamp skizziert diesen Begriff abschließend im Rückgriff auf eine Konzeption kultureller Tatsachen, die es erlaubt, zwischen den kulturellen Sozialformen des Menschen und anderen Formen lebendiger Sozialität zu unterscheiden. Im Ausgang von Fragestellungen und Befundlagen der kognitiven Ethologie erläutert Markus Wild in seinem Beitrag die sich aus dieser Forschung ergebenden philosophischen Fragen. Dazu versteht er unter „Tierphilosophie“ eine Disziplin, die sich mit der Natur nichtmenschlicher Tiere und deren Beziehung zu Menschen befasst. Jenseits klassischer Fragen nach Tier-Mensch-Unterschieden (anthropologische Differenz) widmet sich diese Disziplin insbesonhttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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dere geistigen Fähigkeiten von Tieren sowie ethischen Verpflichtungen ihnen gegenüber. Wild konzentriert sich auf die Dimension des Geistes der Tiere und unterscheidet hier ein methodologisches Interesse der Philosophie an begrifflichen und methodologischen Voraussetzungen der kognitiven Ethologie von einem materiellen Interesse an der Verwendung ethologischer Befunde für genuin philosophische Argumentationen. In methodologischer Hinsicht bedeutsam ist, dass empirische Untersuchungen zur Tierkognition stets im Rahmen von theoretischen Argumenten und Annahmen erfolgen. Man setzt etwa einen anspruchsvollen Begriff der Kognition ein, um das Verhalten von gewissen Tieren zu erklären, womit diese zugleich näher an den Menschen heranrücken. Wild rekonstruiert die wesentlichen Argumente, die für eine solche Begriffsverwendung sprechen und wendet sich dann zentralen methodologischen Problemen der kognitiven Ethologie zu. Zur Bestimmung des materiellen Interesses an empirischen Daten der Verhaltensforschung untersucht Wild schließlich sowohl klassische Positionen des Empirismus von Locke und Hume als auch die aktuellen Ansätze einer naturalisierten Erkenntnistheorie bei Quine und Kornblith. Hans Werner Ingensiep skizziert in seinem Beitrag vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Rechte für Menschenaffen, die Entwicklung der kulturhistorischen Betrachtung von Menschenaffen als „Wilden“ oder „Monstern“ hin zu „Brüdern“ und schließlich zu „Personen“. Das besondere Verhältnis zwischen Menschen und Menschenaffen wird anhand exemplarischer Stationen und Überlegungen aus wissenschafts- und philosophiehistorischer Sicht nachgezeichnet – von den ersten Entdeckungen und Beobachtungen im 17. Jahrhundert bis zur Entmythologisierung der „Monster“ im 20. Jahrhundert – und anschließend aus ethischer und praktischer Perspektive kritisch reflektiert. Insbesondere die Rolle von Beschreibungen, Illustrationen und Inszenierungen für die Konturierung des Affenbildes einer jeweiligen Epoche – und damit rückwirkend stets auch für unser eigenes Selbstverständnis in Annäherung und Abgrenzung zu unseren nächsten Verwandten – wirft hierbei immer wieder die Frage danach auf, was das eigene Menschliche und was das Fremde im Affen ist. Schließlich diskutiert Ingensiep vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmungsgeschichte der Menschenaffen, welche Gründe es für die Zuschreibung des Personenstatus von Menschenaffen geben kann und vor allem, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn wir sie vollumhttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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fänglich als „Personen“ im aktuellen, ethisch-rechtlichen Sinn unseres Grundgesetzes betrachten. Den Band abschließend behandelt Volker Sommer diese Frage nach „Menschenaffen als Personen?“ aus der Perspektive des 1993 von Paola Cavalieri und Peter Singer initiierten Great Ape Project. Den Kern des Projekts bildet die Forderung nach basalen Rechten für Große Menschenaffen, insbesondere das Recht auf Leben, auf individuelle Freiheit und auf körperliche Autonomie. Sommer verfolgt mit seinem Beitrag die Absicht, diese Forderungen argumentativ zu stärken. Seine Strategie besteht darin, die wichtigsten Einwände gegen die Ziele des Great Ape Project zu sammeln und der Reihe nach zurückzuweisen. Dabei unterscheidet er zwischen „konservativen“ und „progressiven“ Einwänden. Bei letzteren handelt es sich um Vorbehalte überzeugter Tierrechtler. Sie bestehen etwa darin, dass die mit dem Projekt angestrebte „Erweiterung der Gemeinschaft der Gleichen“ nicht weit genug reiche oder andere, grundlegendere politische Strategien eingeschlagen werden sollten als das Einfordern individueller Rechte. Wichtiger für Sommers Anliegen ist jedoch die Auseinandersetzung mit den konservativen Einwänden. Aus deren Sicht gehen die Forderungen des Great Ape Project zu weit. Sommer unterscheidet insgesamt elf solcher Einwände. In deren Zurückweisung geht er auf die Abgrenzung zum Tierschutz, die Differenz zwischen Grundrechten und „Menschen“-Rechten, die Konzeption des Personbegriffs, Probleme der Rechtsfähigkeit von Menschenaffen sowie der Justiziabilität ihres Verhaltens, Fragen der Prioritätensetzung im Kampf um Rechte, das Dammbruchargument und die Problematik von Großen Menschenaffen in Zoos ein. Auf diese Weise entsteht eine argumentative Übersicht über ethische und politische Maximen, Voraussetzungen und Konsequenzen des Great Ape Project.
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Herwig Grimm und Andreas Aigner
Der moralische Individualismus in der Tierethik Maxime, Konsequenzen und Kritik
1. Einleitung Der moralische Individualismus liefert seit den Anfängen der akademischen Tierethik die dominante Methode, anhand derer der moralische Status nicht-menschlicher Tiere1 argumentativ begründet wird. Die diesen Gedanken befördernden und für die Tierethik zentralen Namen, Peter Singer und Tom Regan, sind auch heute noch wichtige Referenzpunkte für viele Autoren. Doch die Begründungsfigur des moralischen Individualismus fand bereits früh Kritik durch Cora Diamond und Mary Midgley. Wenngleich auch heute der moralische Individualismus in seinen Weiterentwicklungen noch sehr präsent ist, so bleibt er nicht alternativlos, wie etwa die bleibende Aktualität früher, kritischer Texte zeigt. Ziel und Anspruch dieses Aufsatzes ist, den moralischen Individualismus zu rekonstruieren, unterschiedliche Facetten desselben strukturiert darzustellen und seine Probleme zu erörtern. Einwände gegen den moralischen Individualismus werden anhand verschiedener Gegenpositionen und Erweiterungen illustriert. Der Aufbau der Ausführungen ist dabei so gestaltet, dass zunächst wichtige Positionen innerhalb des moralischen Individualismus sowie daraus resultierende Implikationen erörtert werden (Abschnitt 2). Die im Anschluss diskutierten Alternativen zum moralischen Individualismus dienen als Basis kritischer Kommentare (Abschnitt 3). Daran anknüpfend erfolgt eine Systematisierung der dargestellten Positionen, um die verschiedenen Argumente noch einmal strukturiert zusammenzufassen und in Relation zu setzen (Abschnitt 4).
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Der Einfachheit und Lesbarkeit halber wird im Folgenden nur mehr die Rede von Tieren anstatt von nicht-menschlichen Tieren sein.
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2. Tierethik und moralischer Individualismus Am Anfang der akademischen Tierethik in den 1970er Jahren steht der Gedanke, dass Tiere keine bloßen Ressourcen für Menschen sind, sondern einen moralischen Status besitzen und somit um ihrer selbst willen geachtet werden sollen.2 Eine zentrale Idee ist, dass die moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Lebewesen nicht mit der schieren Spezieszugehörigkeit begründet werden kann, sondern durch das Vorliegen bestimmter Eigenschaften, die speziesübergreifende Gemeinsamkeiten bilden. Dies hat die Konsequenz, dass die Interessen von Tieren nicht kategorisch den Interessen von Menschen untergeordnet werden dürfen. Eine Reihe von Autoren in der Tierethik, davon am prominentesten Peter Singer3 und Tom Regan4, kritisieren etablierte Praktiken im Umgang mit Tieren, indem sie die moralische Relevanz bestimmter Eigenschaften von Tieren hervorheben. Weisen Tiere die gleichen bzw. relevante vergleichbare Eigenschaften auf, die den moralischen Status von Menschen begründen, sind diese in den Kreis der schutzwürdigen Wesen mitaufzunehmen. Die Begründung der moralischen Berücksichtigung von Tieren in der frühen Tierethik entspricht damit meist einem Extensionsmodell.5 Trotz der Unterschiede zwischen Singer, Regan und anderen Autoren, deren Argumente eigenschaftsbasiert sind, liegt allen Positionen der gleiche Gedanke zugrunde, der als 2
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Dieser Gedanke ist ein Erbe Jeremy Benthams, der bereits 1789 eine entschei dende Frage im Hinblick auf Tiere stellt: „[T]he question is not, Can they rea son? Nor, Can they talk? but, Can they suffer?“ (J. Bentham, „An Introduction to the Principles of Morals and Legislation“ (1789), in: J. H. Burns, F. Rosen, P. Schofield (Hrsg.), The Collected Works of Jeremy Bentham, Bd. 2, London 1996, S. 283). In den 1970er Jahren steht diese Frage paradigmatisch für eine tier ethische Auseinandersetzung, die im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen erfolgt und auch gesellschaftspolitische Veränderungen anstrebt. Die Tierethik muss damit in ihrem Zusammenspiel mit Wissenschaft, Politik, Medien und Wirtschaft betrachtet werden. Vgl. dazu H. Grimm, „Benthams Erben und ihre Probleme – Zur Selbstreflexion einer Ethik der Mensch-Tier-Beziehung“, in: H. Grimm, J. Ostheimer, M. Zichy (Hrsg.), Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage nach dem Gegenstand der Angewandten Ethik, Freiburg i. B., München 2012, S. 436-475. P. Singer, Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere (1975), Erlangen 2015. T. Regan, The Case for Animal Rights (1983), Berkeley, California 2004. P. McReynolds, „Overlapping Horizons of Meaning: A Deweyan Approach to the Moral Standing of Nonhuman Animals“, in: E. McKenna, A. Light (Hrsg.), Animal Pragmatism – Rethinking Human-Nonhuman Relationships, Bloom ington 2004, S. 63-85, hier S. 64.
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moralischer Individualismus bezeichnet wird und auch heute noch in der Tierethik wirkmächtig ist. James Rachels liefert die Defini tion des moralischen Individualismus, die der aktuellen Debatte als Referenzpunkt dient: „Moral individualism is a thesis about the justification of judgments concerning how individuals may be treated. The basic idea is that how an individual may be treated is to be determined, not by considering his group memberships, but by considering his own particular characteristics. If A is to be treated differently from B, the justification must be in terms of A’s individual characteristics and B’s individual characteristics.“6 Bereits Singers bekanntes Werk Animal Liberation aus dem Jahre 1975 baut auf diesem Prinzip auf. Singer zufolge liegt die moralisch relevante Eigenschaft eines Wesens darin, dass es empfindungs- oder leidensfähig ist bzw. das Interesse besitzt, nicht zu leiden. Singer zieht daraus die Konsequenz: „Ist ein Wesen nicht in der Lage zu leiden oder Freude bzw. Glück zu erfahren, dann gibt es auch nichts zu berücksichtigen. Die Grenze des Empfindungsvermögens [...] ist die einzige vertretbare Grenze, die wir hinsichtlich der Berücksichtigung der Interessen anderer ziehen können.“7 Die Leidensfähigkeit ist damit von intrinsischem Wert. Menschen gegenüber Tieren prinzipiell zu bevorzugen sei folglich unzulässig, weil es unserer Auffassung von Gerechtigkeit widerspräche, die darin liege, Gleiches gleich zu behandeln (und Ungleiches ungleich).8 Zentrales Prinzip hinter Singers Argumentation ist die gleiche Berücksichtigung der Interessen jedes Individuums. Dieser Egalitarismus ist allerdings nicht mit einer absoluten Gleichbehandlung zu verwechseln. Er merkt an: „Die Ausdehnung des Grundprinzips der Gleichheit über eine Gruppe hinaus auf eine weitere bedeutet nicht, dass wir beide Gruppen genau in der gleichen Weise behandeln oder beiden Gruppen genau die gleichen Rechte gewähren müssen. Ob wir das tun sollten, ist von der Beschaffenheit der Mitglieder dieser beiden 6
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J. Rachels, Created From Animals. The Moral Implications of Darwinism, Ox ford 1990, S. 173. Vgl. dazu auch Johann S. Ach, der eine knappere Definition des moralischen Individualismus gibt: „Jedes einzelne Wesen ist nach Maßgabe seiner Interessen gleich zu berücksichtigen“ (J. Ach, Warum man Lassie nicht quälen darf. Tierversuche und moralischer Individualismus, Erlangen 1999, S. 43). P. Singer, Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, S. 35. P. Singer, „Gleichheit für Tiere?“, in: P. Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1994, S. 82-114.
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Gruppen abhängig. Das Grundprinzip der Gleichheit fordert nämlich nicht die gleiche oder identische Behandlung, sondern die gleiche Berücksichtigung. Die gleiche Berücksichtigung unterschiedlicher Wesen kann aber auch zu unterschiedlicher Behandlung und zu unterschiedlichen Rechten führen.“9 Gemäß Singers präferenz-utilitaristischer Position ist die Tiernutzung nicht prinzipiell ausgeschlossen. Das von ihm hervorgehobene Prinzip, gleiche Interessen gleich zu berücksichtigen, bringt eine Abwägungsmöglichkeit mit sich. Im Prozess der Abwägung kann unter gewissen Umständen ein entsprechend großer Nutzen auf der Menschenseite z. B. Tierversuche legitimieren.10 Die gleiche Berücksichtigung von Interessen bei allen leidens- bzw. empfindungsfähigen Lebewesen relativiert sich bei Singer insofern, als er zwischen Personen und solchen Wesen unterscheidet, die bloß empfindungsfähig, aber nicht selbstbewusst, sind.11 Deshalb meint er, „dass die Tötung eines normalen erwachsenen Menschen, der über ein Bewusstsein seiner selbst verfügt, der in der Lage ist, für die Zukunft zu planen, und der sinnvolle Beziehungen zu anderen hat, schlimmer ist als die Tötung einer Maus, der wahrscheinlich nicht all diese Eigenschaften zukommen.“12 Obwohl Singers Argument auf einem Egalitarismus aufbaut, demzufolge die Interessen jedes Individuums gleich viel zählen, zeigt sich anhand dieses Beispiels, dass seinem Gedanken auch ein hierarchischer Pathozentrismus zugrunde liegt. Tom Regans deontologischer Ansatz betont im Unterschied zu Singer den inhärenten Wert von allen Individuen, die subjects-of-alife und somit Mitglied der moralischen Gemeinschaft sind.13 Während Regan ein „Subjekt eines Lebens“ zunächst als ein Wesen definiert, das z. B. über Bewusstsein, Zukunftsvorstellungen, Wünsche und Erinnerungsvermögen verfügt,14 spricht er jedoch später davon, dass bereits Empfindungsfähigkeit ein hinreichendes Kriterium dafür ist, um Mitglied der moralischen Gemeinschaft zu sein.15 Prägend für 9 10 11 12 13 14 15
P. Singer, Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, S. 28. P. Singer, Practical Ethics (1980), 3. Aufl., Cambridge 2011, S. 58. Ebd., S. 65 f., S. 74-77, S. 85 f., S. 94-122. P. Singer, Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, S. 46. T. Regan, The Case for Animal Rights. Ebd., S. 243-248. T. Regan, „Die Tierrechtsdebatte“, in: Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft Tier ethik Heidelberg (Hrsg.), Tierrechte. Eine interdisziplinäre Herausforderung, Er langen 2007, S. 71-88, hier S. 86-88.
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Regans Tierrechtsposition bleibt allerdings das ursprüngliche sub ject-of-a-life Konzept. Entscheidender Punkt für Regan ist, dass der moralische Wert verschiedener Individuen nicht nur die Interessen der Individuen betrifft, wie dies im Utilitarismus der Fall ist: „Was für den Utilitaristen Wert hat, ist die Befriedigung der Interessen eines Individuums, nicht das Individuum, um dessen Interessen es sich handelt.“16 Regan lehnt damit auch die utilitaristische Aufsummierung der Anzahl und des Ausmaßes der insgesamt erfüllten oder frustrierten Interessen ab. Jene Wesen, die moralisch relevante Eigenschaften aufweisen, dürfen per se nicht als Ressourcen betrachtet werden und eine Verrechnung von Interessen wird kategorisch ausgeschlossen. Regans Tierrechtsposition ist somit auch in dieser Hinsicht gegen Singers Utilitarismus gerichtet, da bei diesem das Wohl eines Einzelnen letztlich dem Wohl der Allgemeinheit geopfert werden könnte. Die Vernunft (und nicht etwa die Sympathie für Tiere) gebiete stattdessen, den gleichen inhärenten Wert aller Subjekte eines Lebens anzuerkennen.17 Für Regan gilt deshalb: Egal, ob gesunder erwachsener Mensch, behindertes Kind oder Maus, „alle haben inhärenten Wert, alle besitzen ihn gleichermaßen. Und alle haben das gleiche Recht, mit Respekt behandelt zu werden, auf eine Weise behandelt zu werden, die sie nicht auf den Status von Dingen, von Ressourcen für andere reduziert. Mein Wert als Individuum ist unabhängig von meiner Nützlichkeit für Sie. Ihr Wert ist unabhängig von meiner Nützlichkeit für mich. Für beide von uns gilt: Wenn wir den anderen auf eine Art behandeln, die keinen Respekt für den unabhängigen Wert des anderen zeigt, handeln wir unmoralisch, verletzen wir die Rechte eines Individuums.“18 Bernard E. Rollin begründet die moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren mit ihrer arteigenen Natur und dem Zweck an sich selbst, der jedes Individuum darstelle. In jedem Individuum verwirkliche sich ein biologischer Telos, der z. B. die Bedürfnisse, die Interessen oder das spezifische Schmerzverhalten des jeweiligen Tieres festlegt.19 Moralisch relevant sind dabei für Rollin die Interessen und Bedürfnisse des einzelnen Tieres, die sich aus dem Telos
16 T. Regan, „Wie man Rechte für Tiere begründet“, in: U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 33-39, hier S. 33. 17 Ebd., S. 39. 18 Ebd., S. 35. 19 B. E. Rollin, The Unheeded Cry. Animal Consciousness, Animal Pain, and Science (1989), Oxford 1998, S. 146, S. 203, S. 257, S. 269.
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ergeben, aber nicht das Telos an sich. Aus diesem Grund wäre z. B. die Veränderung des arteigenen Telos durch genetische Manipulation nicht zwingend ein moralisches Problem, sondern wiederum nur die Missachtung der daraus resultierenden tierlichen Interessen und Bedürfnisse.20 Rollin verknüpft diese Überlegungen mit der Forderung, die fundamentalen Rechte von Tieren anzuerkennen, gemäß ihrer Natur bzw. ihrem Telos leben zu können.21 Nach eigenem Bekennen legt Rollin seiner Grundargumentation aber keine spezielle Moraltheorie zugrunde, die sagt, welche Handlungen gegenüber Tieren richtig oder falsch seien. Stattdessen fokussiert er sich auf ein angeblich von jeder speziellen Moraltheorie unabhängiges Prinzip, das sich darin gründet, „dass es zwischen Menschen und Tieren keinen Unterschied gibt, der dafür relevant wäre, Tiere aus der ethischen Diskussion auszuschließen.“22 Daran anknüpfend konstatiert er, „dass man unabhängig von der Moraltheorie, die man vertritt, unabhängig von den eigenen Prinzipien des moralisch Richtigen und Falschen, logisch gezwungen ist, diese Theorien und Prinzipien auf Tiere anzuwenden.“23 Damit meint Rollin nachweisen zu können, „dass Tiere ein sehr grundlegendes Recht haben, ein Recht, das auf einer höheren Stufe steht als jedes besondere Recht, nämlich das Recht, von jeder Person, die moralische Prinzipien hat, als moralisches Objekt behandelt oder berücksichtigt zu werden, unabhängig davon, welche moralischen Prinzipien das möglicherweise sind! Mit einem philosophischen Fachausdruck können wir das als ‚Meta-Recht‘ bezeichnen. Das ist eine andere Art und Weise auszudrücken, dass Tiere Objekte moralischer Rücksicht sind und einen rechtmäßigen Anspruch auf solche Rücksicht haben.“24 Ein weiterer Vertreter des moralischen Individualismus ist James Rachels, auf dessen Definition des moralischen Individualismus bereits eingegangen wurde (s. o.). Nach Rachels muss jede Ungleichbehandlung von Menschen und tierlichen Individuen erstens auf 20 B. E. Rollin, „On Telos and Genetic Engineering“, in: A. Holland, A. Johnson (Hrsg.), Animal Biotechnology and Ethics, London 1998, S. 156-171. 21 B. E. Rollin, Animal Rights and Human Morality. Revised Edition, New York 1992. 22 B. E. Rollin, „Moraltheorie und Tiere“, in: U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 40-50, hier S. 47. 23 Ebd. Ob und inwiefern sich Rollin bezüglich der Abstraktion von spezifischen Moraltheorien im Hinblick auf seinen eigenen interessens- bzw. telosbasierten Ansatz selbst widerspricht, wird offen gelassen. 24 Ebd., S. 48.
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einer Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Eigenschaften und Interessen beruhen, und zweitens den situativen Kontext beachten.25 Berücksichtigt werden müsse, welche Eigenschaften in einer bestimmten Situation tatsächlich relevant sind, um Gleich- oder Ungleichbehandlung zu legitimieren. Rachels (und Singers) Ansicht, dass gleiche Interessen gleich stark berücksichtigt werden müssen, führt also nicht zu der Konsequenz, dass Menschen und Tiere in jeder Situation gleich behandelt werden müssen. Wenn moralisch relevante Interessen eines Tieres nicht verletzt werden, ist Ungleichbehandlung durchaus legitim. So erscheint es beispielsweise grundsätzlich plausibel, nur Menschen – und nicht Schimpansen – die Steuerung eines Kraftfahrzeuges zu überlassen. Demgegenüber wäre es im Sinne Rachels aber abzulehnen, empfindungs- oder leidensfähige Tiere z. B. für medizinische Zwecke schmerzhaften Tests zu unterziehen, während man dies nicht mit Menschen tun darf, weil sie Menschen sind. Im ersten Beispiel sind die kognitiven Fähigkeiten für die Frage der Gleichbehandlung relevant, im zweiten Beispiel ist es jedoch die Leidensfähigkeit. Trotz Gleichheitsprinzip hebt Rachels aber vor allem die Verletzbarkeit und moralische Berücksichtigungswürdigkeit jener Individuen hervor, die über ein besonders reichhaltiges geistiges Leben verfügen. Ein reichhaltiges „biographisches Leben“ zu haben sei demnach von größerer moralischer Relevanz als ein weniger reichhaltiges – bzw. relevanter als die Tatsache, bloß am Leben zu sein.26 In Anlehnung an Rachels spricht auch Jeff McMahan von der moralischen Relevanz bestimmter individueller Eigenschaften von Tieren.27 Sich in der moralischen Berücksichtigung eines Lebewesens auf dessen Spezies-Natur zu beziehen sei illegitim, da nur die aktual vorliegenden Interessen und Eigenschaften des Individuums relevant sind. Im Gegensatz zu Rachels geht McMahan allerdings davon aus, dass die individuellen (intrinsischen) Eigenschaften von Tieren nicht die einzigen Gründe für deren moralische Berücksichtigung liefern. Ihm zufolge können bestimmte konkrete Beziehun-
25 J. Rachels, Created From Animals. The Moral Implications of Darwinism, Oxford 1990, S. 175-181. 26 Ebd., S. 199. 27 J. McMahan, „Our fellow creatures“, in: The Journal of Ethics, 9(3)/2005, S. 353380.
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gen von Menschen zu Tieren („agent-relative reasons“) ergänzende Gründe liefern.28 Wie andere moralische Individualisten vertritt auch Gary Francione die Ansicht, dass die gleiche Berücksichtigung von Tieren keine absolute Gleichbehandlung bedeutet. Francione spricht sich zwar für Abolitionismus29 und Tierrechte aus, aber es geht ihm nicht darum, Tieren die gleichen Rechte wie Menschen zuzusprechen.30 Er tritt vielmehr für die Anerkennung des seiner Meinung nach fundamentalen Rechts empfindungsfähiger Wesen ein, nicht als das Eigentum von jemand anderem (bzw. als Sache) behandelt zu werden.31 Anders als Singer oder Rachels hebt er jedoch hervor, dass das Kriterium der Empfindungsfähigkeit eine hinreichende Bedingung für Rechtsansprüche (bzw. einen Personenstatus) ist. Aus diesem Grund lehnt er jede similar-minds-theory32 in der Tierethik ab, in der Tiere nur insofern als moralisch berücksichtigungswürdig gelten, als sie über menschenähnliche Fähigkeiten oder ein reichhaltiges geistiges Leben verfügen. Francione führt also gegen die Idee einer Geistesverwandtschaft an, dass diese einen vermeintlich typisch menschlichen Maßstab voraussetze und somit das eigentlich relevante Kriterium – Empfindungsfähigkeit – verkenne. Die Empfindungsfähigkeit und das damit verbundene Schmerzverhalten haben ihre Relevanz darin, dass sie auf ein Interesse am Weiterleben verweisen, das nach Francione die moralische Berücksichtigungswürdigkeit und einen Rechtsstatus begründet. Francione zieht das Fazit: „Ob nichtmenschliche Tiere kognitive Fähigkeiten haben, die den unsrigen ähneln oder nicht, mag wissenschaftlich interessant sein; moralisch gesehen ist das aber völlig irrelevant. Wenn wir tierliche Interessen ernst nehmen, bleibt uns nichts anderes als einzugestehen, dass einzig Empfindungsfähigkeit von Belang ist. [...] 28 Ebd., S. 354. 29 Der Abolitionismus bezeichnet eine tierrechtliche Position, nach der Tiere weder als Besitz betrachtet noch als Ressourcen verwendet werden dürfen. Da der Abolitionismus grundsätzlich gegen die Nutzung von Tieren für menschliche Zwecke gerichtet ist, geht dieser auch über Fragen des Tierschutzes hinaus. Als Befreiungsbewegung geht es dem Abolitionismus nicht nur darum, z. B. die Haltungsbedingungen von Tieren zu verbessern, sondern er lehnt die Haltung von Tieren zu menschlichen Zwecken grundsätzlich ab. 30 G. Francione, Animals as Persons. Essays on the Abolition of Animal Exploita tion, New York 2008, S. 62. 31 Ebd., S. 49 f., S. 145. 32 Ebd., S. 131.
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Wir sollten die Theorie der Geistesverwandtschaft vergessen. Sie stiftet lediglich Verwirrung in unserem Nachdenken über die Mensch-Tier-Beziehung und dient bloß dazu, unsere speziesistische Unterdrückung der Tiere aufrechtzuerhalten. Die Bemühungen derer, die sich für Tiere einsetzen, sollten dahingehen, den Veganismus zu fördern und den Eigentumsstatus der Tiere schrittweise abzubauen.“33 Der so an verschiedenen Beispielen demonstrierte moralische (bzw. normative oder ethische) Individualismus in der Tierethik entspricht unserem heutigen „moralischen Common Sense“34 und gilt vielen Autoren als einzig legitime Grundlage für unseren Umgang mit menschlichen und nicht-menschlichen Tieren.35 Vor allem zwei Aspekte stechen dabei hervor: Erstens, die von allen genannten Autoren geteilte Auffassung, die Anerkennung des moralischen Status eines Individuums liege nicht darin begründet, dass seine Spezies-Natur geschützt werden soll, sondern vielmehr die angenommenen Interessen des Individuums selbst. Zweitens, der von den Autoren geteilte Referenz- und Ankerpunkt für moralische Normen, Werte und Pflichten. Dieser ist kein Kollektiv (z. B. Staat oder Familie), sondern sind immer nur die Individuen, die Teil des Kollektivs sind.36 An diesem Punkt zeigt sich nach Meinung vieler Autoren der Zusammenhang von Moral und Ethik mit bestimmten politischen Theorien und wissenschaftlichen Paradigmen. Nach übereinstimmender Auffassung gründen sich die Annahmen des moralischen Individualismus in „unserem neuzeitlichen Gerechtigkeitsempfinden“37 bzw. stehen in einem Naheverhältnis 33 G. Francione, „Empfindungsfähigkeit, ernst genommen“, in: F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik. Grundlagentexte, Berlin 2014, S. 153-175, hier S. 173-175. 34 K.-P. Rippe, „Darwin und die zwei Gesichter des ethischen Individualismus“, in: H.-U. Reyer, P. Schmid-Hempel (Hrsg.), Darwins langer Arm – Evolutionstheorie heute, Zürich 2011, S. 189-200, hier S. 198. Die möglichen Gründe, warum sich der moralische Individualismus auf diese Weise durchgesetzt hat, können hier nicht diskutiert werden. 35 Vgl. z. B. K.-P. Rippe, „Darwin und die zwei Gesichter des ethischen Individua lismus“; J. Ach, Warum man Lassie nicht quälen darf. Tierversuche und mor alischer Individualismus; D. von der Pfordten, „Five Elements of Normative Ethics – A General Theory of Normative Individualism“, in: Ethical Theory and Moral Practice, 15 /2011, S. 449-471. 36 D. von der Pfordten, „Five Elements of Normative Ethics – A General Theory of Normative Individualism“, S. 454; K.-P. Rippe, „Darwin und die zwei Gesichter des ethischen Individualismus“, S. 190. 37 K.-P. Rippe, „Darwin und die zwei Gesichter des ethischen Individualismus“, S. 198.
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zum Liberalismus.38 Darüber hinaus verweisen moralische Individualisten nicht selten auf die Darwin’sche Evolutionstheorie, um ihre normativen Annahmen im Umgang mit Tieren zu plausibilisieren39 – was allerdings nicht zwangsläufig einen naturalistischen Fehlschluss in deren Argumenten impliziert. Die Nähe zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Tieren (Kontinuitätsthese) liefere auf Basis empirisch-naturwissenschaftlicher Fakten lediglich stützende Gründe für die ethische Argumentation.40 Das Vorliegen von Schmerzrezeptoren bei bestimmten Tieren rechtfertigt beispielsweise die Annahme eines ähnlichen morphologischen Aufbaues bei verschiedenen Typen von Lebewesen. Sofern damit auch ähnliche physiologische Funktionen vorliegen, ist es legitim, von ähnlichen physiologischen Schmerzreaktionen und ähnlichen Schmerzempfindungen auszugehen. Sofern sich nun etwa aus ähnlichen Schmerzempfindungen bei Tieren und Menschen eine ähnliche Interessenslage ableiten lässt, der zufolge auch Tiere das Interesse besitzen, von unerwünschten, schmerzhaften Zuständen befreit zu sein, kann auf eine moralische Relevanz dieses Interesses geschlossen werden. Die Berufung auf vorhandene Schmerzrezeptoren steht damit in diesem Fall am Anfang des ethischen Arguments, empfindungsfähige Tiere nicht verletzen zu dürfen. Aus diesem Grund wird innerhalb des moralischen Individualismus zuweilen Folgendes betont: Weil empirische Fakten nur stützende Gründe für moralische Berücksichtigung liefern, sei der moralische Individualismus auch nicht mit einem ethischen Naturalismus bzw. einem strengen Werte-Realismus gleichzusetzen.41 Der moralische Individualismus sei inkompatibel mit der Annahme von objektiven Werten, die völlig unabhängig von menschlichem Zutun sind.42 Ethische Argumente benötigen dieser Annahme nach deshalb nicht nur den Rückgriff auf empirische Fakten, die in sich
38 D. von der Pfordten, „Five Elements of Normative Ethics – A General Theory of Normative Individualism“, S. 453. 39 Vgl. z. B. J. Rachels, Created From Animals. The Moral Implications of Darwin ism; J. McMahan, „Our fellow creatures“, S. 371; G. Francione, Animals as Per sons. Essays on the Abolition of Animal Exploitation, S. 55; K.-P. Rippe, „Darwin und die zwei Gesichter des ethischen Individualismus“. 40 K.-P. Rippe, „Darwin und die zwei Gesichter des ethischen Individualismus“, S. 194 f. 41 Ebd. 42 D. von der Pfordten, „Five Elements of Normative Ethics – A General Theory of Normative Individualism“, S. 453.
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Werte darstellen und moralische Verpflichtungen schaffen würden, sondern auch das (Zu- oder An-)Erkennen von Werten durch Menschen. Sofern es im moralischen Individualismus (vermeintlich) universalisierbare Urteile über richtige und falsche Handlungen gibt, empirische biologische „Fakten“ für die Argumente benötigt werden und konkrete Kriterien für die Schutzwürdigkeit festlegt sind, ist fraglich, wie er sich tatsächlich vom Anspruch auf Objektivität und Neutralität lossagen kann oder will. Dies gilt v. a. für Objektivität im Sinne von Verbindlichkeit von Argumenten, die nicht bloß auf Neigungen und Vorlieben des Argumentierenden basieren, sowie für Neutralität verstanden als Unvoreingenommenheit bzw. Unparteilichkeit. Darunter fällt z. B. die angenommene Konsequenz, den Speziesismus zu überwinden.43 Singer beschreibt diesen als „ein Vorurteil oder eine Haltung der Voreingenommenheit zugunsten der Interessen der Mitglieder der eigenen Spezies und gegen die Interessen der Mitglieder anderer Spezies.“44 Singer und Katarzyna de Lazari-Radek bezeichnen den Objektivismus in der Ethik sogar dezidiert als richtig und angemessen. Objektivität bedeute u. a., normative Gründe für eine Handlung anzuerkennen, ohne für diese Handlung auch zwingend eine Neigung verspüren bzw. die Handlung selbst wollen zu müssen.45 Ethik sei Singer zufolge insofern universell, nicht weil jedes ethische Urteil auf alle Situationen anwendbar ist, sondern weil man als Ethiker den universalen Standpunkt des unparteiischen oder idealen Beobachters einnimmt.46 Allerdings räumt Singer ein, dass die Unparteilichkeit und Universalisierbarkeit (bzw. das Fällen eines universalisierbaren Urteils) darin besteht, von der eigenen Position zu abstrahieren, um sich in die Position all jener zu versetzen, die von den eigenen Handlungen betroffen sind.47 Normative Gründe für bestimmte Handlungen seien objektiv,48 auch wenn normative
43 Der Begriff Speziesismus wurde erstmals von Richard Ryder in Analogie zum Rassismus verwendet. Vgl. R. Ryder, „Experiments on animals“, in: S. Godlo vitch, R. Godlovitch, J. Harris (Hrsg.), Animals, Men and Morals, New York 1972, S. 41-82. 44 P. Singer, Animal Liberation, S. 33. 45 K. Lazari-Radek, P. Singer, The Point of View of the Universe, Oxford 2014. 46 P. Singer, Practical Ethics, S. 11. 47 P. Singer, „Reply to Narveson“, in: J. A. Schaler (Hrsg.), Peter Singer Under Fire. The Moral Iconoclast Faces His Critics, Peru, Illinois 2009, S. 488-497, hier S. 496. 48 K. Lazari-Radek, P. Singer, The Point of View of the Universe, S. x.
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Wahrheiten keine natürlichen Fakten über die Welt liefern.49 Die Ablehnung eines starken Werte-Realismus und der Anspruch auf Objektivität schließen sich demnach nicht aus. Singer und LazariRadek plädieren für das Einnehmen eines „Standpunkts des Universums“ in der Ethik, um ethisch rational argumentieren zu können.50 Dieser objektive und unvoreingenommene Standpunkt beinhalte die Erkenntnis, dass das Wohl eines Individuums nicht wichtiger ist als das Wohl eines anderen Individuums.51 Der Anspruch auf Objektivität oder Unvoreingenommenheit bildet in Kombination mit der Anerkennung der moralischen Relevanz empirisch-biologischer Fakten ein wichtiges Moment im moralischen Individualismus. Dies trifft vor allem auch auf den Anspruch einer rationalen Argumentation in der Ethik zu, wie er z. B. in Verweisen auf die menschliche Vernunft52 oder auf logisch zwingende Gründe53 hinter ethischen Prinzipien deutlich wird. Wir werden auf die Frage der Objektivität im moralischen Individualismus in Abschnitt 3 zurückkommen.
3. Gegenpositionen und Erweiterungen des moralischen Individualismus Der Grundgedanke des moralischen Individualismus, die moralische Berücksichtigung von Tieren an das Vorliegen von bestimmten Eigenschaften zu binden, findet auch Kritik innerhalb der Tierethik. Eine frühe Gegenstimme ist Cora Diamond, die der Frage nachgeht, inwiefern menschliche Praktiken, und nicht der Bezug auf bestimmte tierliche Eigenschaften, unseren Umgang mit Tieren bestim-
49 Ebd., S. xiii. 50 K. Lazari-Radek, P. Singer, The Point of View of the Universe; P. Singer, Animal Liberation, S. 31; P. Singer, Practical Ethics, S. 11. 51 Das entsprechende Zitat lautet: „[...] our enhanced reasoning abilities make it more likely that we will take the point of the universe, and begin to see that the good of any one individual is of no more importance than the good of any other“ (K. Lazari-Radek, P. Singer, The Point of View of the Universe, S. 379 f.). 52 Vgl. z. B. K. Lazari-Radek, P. Singer, The Point of View of the Universe, S. 378381; T. Regan, „Wie man Rechte für Tiere begründet“, S. 39. 53 B. E. Rollin, „Moraltheorie und Tiere“, in: U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 40-50, hier S. 47; G. Francione, Animals as Persons. Essays on the Abolition of Animal Exploitation, S. 17.
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men.54 Nur wenige Jahre nach dem Erscheinen von Peter Singers Animal Liberation kritisiert Diamond Singer dafür, dass er einen wichtigen Unterschied zwischen Menschen und Tieren außer Acht lässt.55 Ihr zufolge lernen wir im Kontext unseres menschlichen Lebens anhand bestimmter normativ geregelter Praktiken, warum wir z. B. Tiere essen dürfen, nicht aber Menschen. Diese Praktiken sind ihrerseits nicht über Zuschreibungen von vermeintlich moralisch relevanten Eigenschaften wie Empfindungsfähigkeit begründet. Diamond verweist erstens darauf, dass wir tote Menschen nicht essen, obwohl diese nicht mehr empfindungsfähig sind, und zweitens darauf, dass Vegetarier, die aus ethischen Gründen Fleischkonsum ablehnen, auch verunfallte Tiere nicht essen würden. In beiden Fällen kommt kein moralisch relevantes Kriterium im Sinne des moralischen Individualismus zum Tragen. Würde nur das Kriterium der Empfindungsfähigkeit gelten, gäbe es keinen moralischen Grund dagegen, tote Menschen oder verunfallte Tiere zu essen. Diamond zufolge lernen wir die Bedeutung dessen, was ein Mensch und ein Tier ist, z. B. anhand der Praxis, dass wir (Menschen) sie (Tiere) essen.56 Dabei gehe es nicht um biologische Bestimmungen und Fakten, sondern um ein menschliches Leben und Praktiken, die uns Orientierungen geben, bevor wir die Dinge bewusst reflektieren und deren Bedeutung theoretisch erfassen.57 Denn: „Wenn man das Menschsein als moralisch signifikant auffaßt, so beruht das nicht darauf, daß es eine Eigenschaft gebe, die allen Menschen zukomme und die als Grundlage des Interesses am Menschen diente.“58 Das gemeinsame Menschsein in der gelebten Praxis ist für Diamond moralisch relevant – jedoch nicht deshalb, weil uns Menschen bestimmte positiv fassbare Eigenschaften gemeinsam sind, die Tiere nicht haben.59 Wir leben demnach unser menschliches Leben nicht, indem wir zunächst über ein uns charakterisierendes Set an Eigenschaften räsonieren, das wir in Folge als Vergleichstableau verwenden, um tierliche Eigenschaften zu er54 C. Diamond, „Eating Meat and Eating People“, in: Philosophy, 53(206)/1978, S. 465-479. 55 Ebd., S. 468, S. 470 f. 56 Ebd., S. 470. 57 Wie man ergänzen sollte, gilt diese prä-reflexive Orientierung gleichermaßen für Menschen in fleischkonsumierenden wie in vegetarischen Gesellschaften. 58 C. Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe. Aufsätze zur Moralphilosophie, Ber lin 2012, S. 15. 59 Ebd., S. 14 f., S. 107-148.
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fassen. Unser menschliches Leben kann ferner nicht durch ein universalistisches Erklärungsmodell bestimmt werden, das definiert, worin genau dieses menschliche Leben besteht. Diamond spricht davon, dass wir immer wieder mit einer „Schwierigkeit der Wirklichkeit“ konfrontiert sind, die unsere Konzepte über uns und die Welt aushebelt.60 Gewisse Erlebnisse versetzen uns etwa in Entsetzen oder Staunen bzw. machen uns sprachlos und überwältigen uns. Insofern ist menschliches Leben stets mit Erfahrungen verbunden, denen gegenüber unsere Erklärungsversuche und unser Verstand scheitern. In dieser Hinsicht sind für Diamond auch Tiere keine Wesen, denen Menschen bloß anhand biologischer Konzepte begegnen. Tiere sind vielmehr nach Diamond einerseits unsere fellows in mortality; Wesen also, die Versehrbarkeit und Sterblichkeit mit uns gemeinsam haben (wobei dies keine biologisch-faktische Feststellung ist).61 Andererseits sind sie Präsenzen, die unser Denken aus der Bahn werfen können.62 Konzepte über tierliche Eigenschaften, gelernte Handlungsmuster oder ethische Verpflichtungen im Umgang mit ihnen können sich im Angesicht konkreter Umstände der Begegnung mit einem (etwa verwundeten) Tier als nichtig und unbrauchbar herausstellen. Nach Diamond können wir nicht vorab und verbindlich festlegen, welche Reaktion in bestimmten Situationen die richtige ist, weil es keinen im Vorhinein definierbaren Grund gibt, der uns auf universell gültige Weise sagen würde, was wir tun sollen. Diamond hält diesbezüglich fest: „Sobald wir die Vielfalt der Formen erkennen, die das moralische Denken annehmen kann, erhalten wir zugleich einen gewissen Einblick in die Vielfalt der Wege, auf denen wir versuchen können, unser Denken so einzustellen, daß es auf die Realität anspricht. Es gibt nicht die eine Möglichkeit, Hirngespinsten zu entgehen, nicht die eine Möglichkeit, klar zu sehen, was existiert und so beschaffen ist, daß das moralische Denken darauf ansprechen müßte.“63 An dieser Stelle zeigt sich deutlich Diamonds ablehnende Haltung gegenüber dem moralischen Individualismus, der ja gerade darum bemüht ist, übergreifende und verlässliche Kriterien festzu60 C. Diamond, „The Difficulty of Reality and the Difficulty of Philosophy“, in: S. Cavell, C. Diamond, J. McDowell, I. Hacking, C. Wolfe (Hrsg.), Philosophy & Animal Life, New York 2008, S. 43-89. 61 C. Diamond, „Eating Meat and Eating People“, S. 474. 62 C. Diamond, „The Difficulty of Reality and the Difficulty of Philosophy“, S. 74. 63 C. Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe. Aufsätze zur Moralphilosophie, S. 20.
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legen, um richtig und falsch zu identifizieren. Singers und LazariRadeks Rede von einem in der Ethik zu wählenden Standpunkt des Universums ist dafür paradigmatisch. Diamond kommentiert diesen Anspruch an die Ethik, von der eigenen Position zu abstrahieren, um einen universellen, unparteiischen Standpunkt anzunehmen, kritisch: „Die rationale moralische Reflexion setze voraus, daß man im Verhältnis zu solchen von der Erfahrung geprägten Formen des Bewußtseins eine gewisse Distanz wahrt; die Freiheit des moralischen Akteurs sei von der Fähigkeit zu dieser Distanz abhängig.“64 Der Anspruch nach einem universellen, unparteilichen Standpunkt und Objektivität unterliegt aber nach Diamond dem Irrtum, Ethik und Moral als ein Feld rein kognitiv-rationaler Urteile zu betrachten.65 Erstens jedoch gäbe es nicht nur eine einzige Weise des moralischen Denkens (z. B. im Sinne rationalen Argumentierens), und zweitens sei es nicht möglich, einen neutralen Standpunkt einzunehmen, der Objektivität und Universalität garantiert. Nach Diamonds Verständnis ist das Sein des Menschen, sein Charakter und alle Formen des Bewusstseins von moralischer Natur; unser Denken ist ständig „moralistisch“, wie Diamond unter Bezugnahme auf Iris Murdoch hervorhebt.66 Dies bedeutet, dass ethisches Denken nicht nur darin besteht, dass „wir über faktisches Sosein urteilen.“67 Die Werte, auf die wir uns beziehen und die unser praktisches Leben definieren, sind nicht einfach Gegenstände (unserer Reflexionen) neben anderen, da sie bereits in unseren Praktiken wirksam sind, bevor wir rational zu argumentieren beginnen.68 Vernunft und Unparteilichkeit von der Ethik zu verlangen, „kann für Diamond konsequenterweise nicht heißen, alle menschlich-kontingenten Reaktionsweisen zu suspendieren und nach Argumenten, die auch vernunftbegabte Marsmenschen überzeugen könnten, Ausschau zu halten.“69
64 Ebd., S. 217. 65 C. Diamond, „‚We are Perpetually Moralists‘: Iris Murdoch, Fact, and Value“, in: M. Antonaccio, W. Schweiker (Hrsg.), Iris Murdoch and the Search for Human Goodness, Chicago 1996, S. 79-109. 66 Ebd., S. 102 f. 67 C. Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe. Aufsätze zur Moralphilosophie, S. 310. 68 C. Diamond, „‚We are Perpetually Moralists‘: Iris Murdoch, Fact, and Value“, S. 108 f. 69 C. Ammann, A. Hunziker, „Ethik in einem realistischen Geist. Zu Cora Diamonds moralphilosophischen Arbeiten“, in: C. Diamond, Menschen, Tiere und Begriffe. Aufsätze zur Moralphilosophie, Berlin 2012, S. 313-329, hier S. 323.
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Einen ähnlichen Punkt macht Alice Crary in ihrem Essay Min ding What Already Matters: A Critique of Moral Individualism70 deutlich. Wie bereits der Titel suggeriert, sind ethische Argumente für Crary nicht nur das bloße Resultat rationaler Urteilskraft, sondern bestimmte Werte und Ideale prägen das Denken bereits vor theoretischen Reflexionen und konkreten Argumenten. In diesem Sinne argumentieren moralische Individualisten für etwas, das ihr Denken ohnehin bereits im Vorfeld strukturiert. Wie Crary meint, geht die ethische Orientierung gegenüber anderen Menschen (und Tieren) der Identifizierung ihrer Eigenschaften voraus.71 Gesellschaftliche Praktiken und Reaktionsweisen zählen für den Einzelnen schon bevor dieser die Gründe dafür theoretisch erfassen kann. So werde z. B. die Reaktion auf Ausdruck von körperlichem Schmerz erlernt, bevor ein Kind über biologische Fakten reflektiert. Nach Crary lernt ein Kind zunächst, wie andere Menschen auf (ihre) körperliche(n) Ausdrücke reagieren, und aus diesem Verhalten anderer wird sich erst nachträglich ein Verständnis von Schmerz bilden. Schmerz ist somit nicht nur ein biologisches Faktum, sondern er ist mit einer bestimmten Rolle in der Gesellschaft sowie bestimmten Reaktionsweisen und Erwartungen verbunden. Normative Wirksamkeiten sind somit nicht erst eine Frage bewussten Verstehens. Die Praxis in einer Gesellschaft sowie die performative Verwendungsweise von Begriffen bestimmt im Vorfeld, wie wir körperliche Ausdrücke und Schmerz bewerten. Anders gesagt, „Schmerz“ ist kein neutraler Begriff.72 Crary stimmt mit dem moralischen Individualismus darin überein, dass Tiere an sich einen Wert bzw. einen moralischen Status haben (sie bezeichnet dies als „ethical view of animals“). Was sie am moralischen Individualismus aber ablehnt, ist die Tatsache, dass hier der moralische Status von Tieren an deren Eigenschaften festgemacht wird. Ihr zufolge kann man Tiere als moralisch relevant ansehen, indem man sie als solche, unabhängig von bestimmten Eigenschaftszuschreibungen, respektiert.73 Die ethische Orientierung gegenüber Tieren ist demnach als 70 A. Crary, „Minding What Already Matters. A Critique of Moral Individualism“, in: Philosophical Topics, 38(1)/2010, S. 17-49. 71 Ebd., S. 24. 72 Ebd., S. 25 f. 73 Ein entsprechendes Zitat hierzu lautet: „The sorts of ethical orientations that I am discussing are orientations we are right to adopt, not toward individual animals insofar as they possess certain specific capacities, but toward animals understood as the kinds of creatures they are“ (ebd., S. 40 f.).
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die Voraussetzung, nicht nur als das Resultat ethischer Argumente zu sehen – da sie als gelebte Praxis zu verstehen ist. Mary Midgleys multikriterieller74 Ansatz wendet sich gegen die ihrer Meinung nach unzulässigen Vereinfachungen in ethischen Argumenten bzw. gegen Standardisierungen in unseren moralischen Beziehungen zu Tieren.75 Damit trifft sie ins Herz der Argumentation des moralischen Individualismus. Midgley zufolge gibt es in moralischen Fragen keine einfachen Antworten, wie sie etwa Utilitaristen (z. B. Peter Singer) geben.76 Wir müssten stattdessen komplexe lebensweltliche Kontexte bzw. verschiedene Arten moralischer Ansprüche und Prinzipen in Rechnung stellen, die sich zum Teil auch überlappen können. Solche Ansprüche, die unseren Umgang mit Tieren bestimmen, beruhen beispielsweise auf Nähe/ Verwandtschaft, Bewunderung, Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit, Mitgefühl oder Dankbarkeit.77 Hinsichtlich dieses Punktes merkt Midgely an: „Es gibt offensichtlich keine einfache Formel zur Bestimmung des Vorrangs unter diesen verschiedenen Ansprüchen, und Moralphilosophien wie der Utilitarismus, die versuchen, die Aufgabe einfach aussehen zu lassen, können uns nur hinters Licht führen. Jede Kultur und jedes Individuum muss einen Orientierungsplan, ein ziemlich komplexes Prinzipiensystem ausarbeiten, um diese Art von Ansprüchen untereinander in Beziehung zu setzen; dies tun sie auch.“78 Es existiert demnach kein argumentativer Ankerpunkt in Ethik und Moral, der den Umgang mit Tieren anhand eines einzelnen Kriteriums zu normieren im Stande ist. Midgley argumentiert damit auch gegen ein Denkmodell, das von einem zu erweiternden Kreis schutzwürdiger Wesen ausgeht. Diese weitverbreitete Idee der Gliederung moralisch relevanter Entitäten in einer Reihe von konzentrisch angeordneten Kreisen, in deren Mitte das Zentrum moralischer Berücksichtigungswürdigkeit steht, und die durch neue Kreise erweitert werden kann, vereinfache viel zu sehr.79 Als 74 Wir verwenden Ursula Wolfs Kategorisierung Midgleys als multikriteriellen An satz. Vgl. U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 19, S. 150. 75 M. Midgley, Animals and Why they Matter (1984), Athens 1998. 76 Ebd., S. 28-30. 77 Ebd., S. 30-32. 78 M. Midgley, „Die Begrenztheit der Konkurrenz und die Relevanz der Spezies zugehörigkeit“, in: U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, S. 150-163, hier S. 159. 79 M. Midgley, Animals and Why they Matter, S. 28-31.
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einfachstes Beispiel für diese Kritik verwendet sie eine Figur, die aus zwei konzentrisch angeordneten Kreisen besteht; der innere Kreis bezeichnet das Feld „Wir“; der äußere Kreis das Feld „Sie“.80 Überträgt man diese von Midgley kritisierte Figur beispielsweise auf Singers Begründung moralischer Berücksichtigungswürdigkeit, dann ergibt sich folgendes Bild: Ein äußerer Kreis beinhaltet alle Wesen, die leid- bzw. empfindungsfähig sind; ein innerer Kreis alle Wesen, die neben Leidensfähigkeit auch über Selbstbewusstsein verfügen. Diese Anordnung spiegelt damit die oben benannte Hierarchie innerhalb des pathozentrischen Kriteriums wider. Darüber hinaus übersieht dieses Modell Midgely zufolge, dass in anderen Kontexten statt der Empfindungsfähigkeit möglicherweise andere Merkmale und Kriterien für moralische Berücksichtigung relevant sein können. Da eine simple Erweiterung des Kreises dieses grundsätzliche Problem nicht lösen würde, sei das Modell zu verwerfen. Midgley weist ferner den Vorwurf zurück, dass eine speziesistische Voreingenommenheit stets als irrationales Diskriminieren von Tieren zu verstehen sei (ein Argument, das viele moralische Individualisten vorbringen). Nahestehende Wesen (andere Menschen etwa) moralisch zu bevorzugen, sei in vielen Fällen durchaus nachvollziehbar, auch wenn die Ansprüche von Menschen nicht durchgängig über die Ansprüche von Tieren gestellt werden dürften.81 Zusätzlich versucht Midgley klar zu machen, inwiefern die Analogie zwischen Rassismus und Speziesismus unzulänglich ist. Die Unterscheidungen, die im Rassismus getroffen werden, seien trivial, während dies auf die Unterscheidungen innerhalb des Speziesismus nicht zutreffe.82 Wichtig ist Midgley aber dennoch, (speziesistische) Vereinfachungen im Nachdenken über Tiere zu vermeiden. So wendet sie beispielsweise ein, dass evolutionstheoretisch gefärbte Reden von natürlicher Selektion und einem Wettbewerb verschiedener Spezies um limitierte Ressourcen ein künstliches Bild von Spezies-Barrieren schafften, die – wenn auf reduktionistische Weise betrachtet – so eigentlich nicht existierten. Auch das ähnlich strukturierte life-boat Modell, ein in der Tierethik gängiges Gedankenexperiment, demzufolge man sich entscheiden muss, welche Individuen in einer Gefahrensituation „ins Boot“ der moralisch zu berücksichtigenden Wesen dürfen, und welche nicht, ginge 80 Ebd., S. 29. 81 Ebd., S. 25 f., S. 98-111. 82 Ebd., S. 100.
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an der Realität vorbei.83 Sowohl das Rettungsboot-Modell als auch die Rede von evolutionärem Wettbewerb um Ressourcen diene lediglich dazu, eine Abgrenzung zwischen Menschen und Tieren zu schaffen, in der Tiere bei moralischen Entscheidungen automatisch den Kürzeren ziehen.84 Dagegen meint Midgley erstens, dass wir in Wirklichkeit fast nie in einer dilemmatischen Rettungsboot-Situation sind, in der nur eine Lösung vorhanden wäre, um das Problem zu lösen (etwa die Entscheidung einen Hund über Bord zu werfen, damit die Menschen überleben können). Zweitens sei der evolutionäre Wettbewerb zwischen verschiedenen (Individuen einer) Spezies nicht das einzige Prinzip, das existiere, weil es z. B. auch gegenseitige Abhängigkeiten gibt. Die Tugendethik von Rosalind Hursthouse knüpft an Midgleys Kritik gegen Vereinfachungen in ethischen Argumenten an. Um dies zu verdeutlichen, problematisiert Hursthouse den Begriff des moralischen Status, den sie für die Moralphilosophie als überflüssig erachtet.85 Der Begriff des moralischen Status nehme auf reduktionistische Weise eine Disjunktion zweier Klassen von Wesen vor: Jene, die einen solchen Status besitzen, und solche, die ihn nicht besitzen.86 Die Schutzwürdigkeit und der moralische Status von Tieren ist dabei nur insofern gewährleistet, als die Tiere bestimmte – als moralisch relevant ausgewiesene – Merkmale mit jenen Wesen teilen, die sich bereits im Kreis der Schutzwürdigen befinden. Ähnlich wie Midgley spricht sich Hursthouse damit gegen ein Exklusionsmodell in der Tierethik aus. Wie Hursthouse darlegt, wird der moralische Status anhand von bestimmten Merkmalen und Eigenschaften bestimmt – genannt sei etwa die Empfindungsfähigkeit. Da aber beispielsweise im Falle von Singer und Regan neben Empfindungsfähigkeit auch weitere Merkmale angeführt werden, um lifeboat Szenarien – etwa die moralische Entscheidung von Mensch versus Hund – zu lösen, bringe genau betrachtet erst die zusätzliche Unterscheidung von Personen und Nicht-Personen die Antwort (der Hund als Nicht-Person ‚geht über Bord‘, um die menschlichen Personen zu retten). Der Fokus auf einen geringeren moralischen 83 Ebd., S. 19-21, S. 24 f. 84 Ob die Verwendung des Rettungsboot-Modells in ethischen Argumenten tat sächlich in jedem Fall solch eine Problematik aufwirft, sei dahingestellt. 85 R. Hursthouse, „Virtue Ethics and the Treatment of Animals“, in: T. L. Beau champ, R. G. Frey (Hrsg.), The Oxford Handbook of Animal Ethics, Oxford, New York 2011, S. 119-143. 86 Ebd., S. 120 f.
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Status hat jedoch die Konsequenz, dass im Rettungsboot-Szenario ebenso Menschen mit geistigen Behinderungen oder Babys geopfert werden können, da sie die relevanten Kriterien für moralische Berücksichtigung nicht erfüllen (Personenstatus).87 Dagegen hält Hursthouse fest, dass im Rettungsboot-Szenario der Personenstatus durch ein weiteres Kriterium übertrumpft wird, das eben gerade Nicht-Personen wie Babys auszeichnet: der Anspruch auf Schutz und Fürsorge.88 Mit diesem Einwand will Hursthouse weder Empfindungsfähigkeit und Personenstatus als moralisch irrelevant aus der Entscheidung ausklammern, noch will sie einen möglichen Fürsorgeanspruch über andere Merkmale stellen. Ihr Punkt ist vielmehr gegen solche ethischen Ansätze gerichtet, die eine begrenzte und fixierte Menge von Prinzipien formulieren, in der die moralische Relevanz von Lebewesen an festgelegte Merkmale geknüpft ist. Wie Midgley bemüht sich Hursthouse um einen Zugang zur Tierethik, der pluralistisch und kontextoffen ist.89 Als Alternative zu utilitaristischen oder deontologischen Ansätzen, die im Sinne des moralischen Individualismus argumentieren, bietet Hursthouse einen tugendethischen Ansatz an, in dem der Umgang mit Tieren anhand von Tugenden und Lastern geregelt wird. Hier stehen also nicht moralisch relevante Eigenschaften von Tieren oder abstrakt-reduktionistische Prinzipien im Fokus der Tierethik, sondern die Handlung selbst, die eine (gute) Person ausmacht. Dies bedeutet, dass der Charakter des Handelnden, sein Lebenskontext, seine Beziehungen und Ziele maßgeblich sind, um dessen Umgang mit Tieren zu bewerten. Dennoch verzichtet die Tugendethik nicht auf handlungsanleitende Prinzipien, da sie sogenannten „Tugend-und-Laster-Regeln“ folgt. Als Beispiel nennt Hursthouse die Tugend des Mitgefühls und deren Gegenpol, das Laster der Grausamkeit: Man solle tun, was mitfühlend ist, und unterlassen, was grausam ist.90 Ein Mensch handelt richtig, wenn er so handelt, wie eine tugendhafte Person typischerweise handeln würde – und dies geschehe zudem aus den richtigen Gründen, nicht etwa aus emotionalen Impulsen heraus.91 Eine tugendhafte Handlung
87 Ebd., S. 122 f. 88 Ebd., S. 121. An dieser Stelle müsste der Frage nachgegangen werden, wo dieser Anspruch herkommt. 89 Ebd., S. 124. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 127.
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sei somit für einen tugendhaften Menschen um ihrer selbst willen, in sich, wertvoll.92 Hursthouse fasst eine tugendhaft handelnde Person als rational auf, allerdings nicht, weil diese Person Gefühle ausklammert, sondern weil Gefühle wie Mitleid durch Nachdenken und Vernunft geformt würden.93 Tugendhafte Handlungen seien beispielsweise solche, die mutig, gerecht oder rücksichtsvoll sind; lasterhafte Handlungen seien demgegenüber feige, ungerecht oder rücksichtslos (wobei die Tugend nicht nur die einzelne Handlung betrifft, sondern auch den überdauernden Charakter der Person).94 Die Tatsache, dass dabei unterbestimmt bleibt, in welchen spezifischen Situationen welchen Wesen wie viel moralische Berücksichtigung zuteilwerden soll, gilt in der Tugendethik als Vorteil. Da eine tugendhafte Person erstens nicht nur eine, sondern viele Tugenden aufweise, und zweitens der Lebenskontext der Person berücksichtigt werden müsse, gäbe es auch nicht die eine Antwort auf moralische Fragen. Auch wenn in den Alternativentwürfen zum moralischen Individualismus Verpflichtungen oder Handlungsregeln im Umgang mit Tieren nicht nur an das Vorliegen bestimmter Eigenschaften gekoppelt werden, so impliziert dies nicht, dass unbedingt auch das Grundprinzip des moralischen Individualismus selbst auf kategorische Ablehnung stößt. Im Ansatz von Clare Palmer etwa geht es nicht darum, Interessens- oder eigenschaftsbasierte Zugänge an sich zu kritisieren, sondern vielmehr darum, einen solchen Zugang zu erweitern.95 Die Rede vom moralischen Status sowie von moralischer Relevanz bestimmter Eigenschaften wird daher nicht rundweg abgelehnt, sondern um eine zusätzliche Begründungs- bzw. Spezifizierungsebene für die moralische Berücksichtigung von Tieren ergänzt. So spricht Palmer davon, dass in manchen Situationen nur die Eigenschaften eines Tieres dafür entscheidend sind, wie wir uns ihm gegenüber zu verhalten haben. In anderen Situationen und Kontexten hingegen seien Distanz- bzw. Abhängigkeitsbeziehungen eines Tieres zu Menschen bzw. zur menschlichen moralischen Gemeinschaft entscheidend. Um ihren Punkt deutlich zu machen: Palmer bezieht sich auf die Unterscheidung von Wildtieren und domestizierten Tieren, die jeweils spezifische Anforderungen an 92 93 94 95
Ebd. Ebd., S. 128. Ebd., S. 125. C. Palmer, Animal Ethics in Context, New York 2010.
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unsere ethischen Reflexionen stellten. Menschen hätten gegenüber empfindungsfähigen Tieren grundsätzlich negative Pflichten, die auf einem Nichtschadensprinzip basieren.96 Sowohl Wildtieren als auch domestizierten Tieren dürfe demnach kein Schaden zugefügt werden, wenn diese über die moralisch relevanten Eigenschaften verfügen. Bestünden jedoch spezielle Beziehungen zu einem Tier, wie dies bei domestizierten Tieren der Fall ist, dann kämen zu den negativen Pflichten noch positive Pflichten hinzu – Menschen müssten sich um die Belange dieser Tiere kümmern („duties to assist“). Dies liege hauptsächlich darin begründet, dass Menschen für die Existenz von domestizierten Tieren verantwortlich seien. Im Falle von Wildtieren verkompliziere sich der Sachverhalt. Da Menschen normalerweise nicht dafür verantwortlich sind, wie (und dass) Wildtiere leben, gebe es auch keine positiven Pflichten ihnen gegenüber; die Distanz zu den Tieren sei somit hinsichtlich unserer Pflichten ihnen gegenüber von moralischer Relevanz (so wie umgekehrt die Nähe zu domestizierten Tieren).97 Sobald jedoch Menschen in irgendeiner Form in das Leben von Wildtieren eingreifen, etwa, indem negative Pflichten verletzt werden oder den Tieren Zugang zu deren natürlichem Habitat verwehrt wird (etwa durch Bauwerke), entstünden auch hier positive Pflichten.98 Elisabeth Anderson setzt sich wie Palmer für einen erweiterten Blick auf unseren Umgang mit Tieren ein, indem sie nicht nur bestimmte individuelle Eigenschaften als Maßstab oder Kriterium für moralische Berücksichtigung nimmt.99 Auch Anderson lehnt somit den moralischen Individualismus nicht grundsätzlich ab, sondern kritisiert lediglich dessen Reduktionismus. Andersons Ausgangspunkt ist die Annahme einer Pluralität von Werten, die in Zusammenhang mit lebensweltlichen Bedingungen und anderen Hintergründen stehen.100 Neben den intrinsischen Eigenschaften eines tierlichen Individuums (etwa dessen Empfindungsfähigkeit) seien auch die Spezies-Natur (was ist „normal“ bei Individuen einer bestimmten Spezies), die Beziehungen der Tiere zu Menschen sowie die historischen Kontexte zu beachten.101 Dabei legt Anderson eine 96 97 98 99
Ebd., S. 88 f. Ebd., S. 86, S. 91-95. Ebd., S. 90. E. Anderson, „Animal Rights and the Values of Nonhuman Life“, in: C. R. Sunstein, M. C. Nussbaum (Hrsg.), Animal Rights, Oxford 2004, S. 277-298. 100 Ebd., S. 279. 101 Ebd., S. 290.
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besondere Emphase auf die Rationalität unserer (affektiven) Reaktionen auf Tiere, um diesen Werte-Pluralismus zu erklären. Die vielfältigen Werte von Tieren entsprächen den vielfältigen Weisen, in denen wir rational auf Tiere reagieren. Diese rationalen Reaktionen lassen sich nach Anderson in drei Gruppen einteilen, die wiederum jeweils Basis für drei unterschiedliche theoretische Positionen seien.102 Als erste rationale Reaktion nennt Anderson das Mitgefühl: Weil alle empfindungsfähigen Wesen leidensfähig seien, sei es rational, mit jedem empfindungsfähigen Wesen Mitgefühl zu haben, das Leid verspürt; die Position des Tierschutzes entspringe genau aus diesem Mitgefühl heraus. Die nächstgenannte Reaktion ist die des Respekts oder der Achtung gegenüber Tieren hinsichtlich ihrer (individuellen) Perspektiven und Ansprüche; Tierrechtspositionen fußen laut Anderson in diesem rational begründeten Respekt. Die dritte rationale Reaktion sei Staunen und Ehrfurcht gegenüber der Natur oder einzelnen tierlichen Individuen; dies sei die Basis von Naturschutzpositionen. Die Rationalität unserer Einstellungstypen bzw. positiven Reaktionen gegenüber Tieren (etwa Mitgefühl, Respekt und Ehrfurcht) erklärt Anderson damit, dass wir unsere Einstellungen und Reaktionen mit normativen Standards unterfüttern. Diese Standards, die uns sagen, wie wir (gegenüber Tieren) handeln sollen, seien stets auch Teil kritischer Reflexionen, und würden damit gleichsam auf ihre Rationalität und Legitimität hin geprüft werden.103 Für Menschen könne demnach nur wertvoll sein, was einer rationalen Evaluierung standhalte. Im Sinne von Andersons Werte-Pluralismus gilt somit, dass jede Position – Tierschutz, Tierrecht und Naturschutz – auf einem rationalen Evaluierungsprozess beruht und somit Plausibilität aufweist. Wenngleich diese drei Positionen unvereinbar seien und jede Position ihre Stärken und Schwächen habe, seien alle drei in unserem Umgang mit Tieren in Rechnung zu stellen. Defizite und Probleme des moralischen Individualismus Anhand der bisherigen Ausführungen lassen sich nun einige zentrale Kritikpunkte am moralischen Individualismus verdichtet darstellen. Wie in Abschnitt 2 erwähnt, gibt es innerhalb des mo102 Ebd., S. 291-293. 103 Ebd., S. 291.
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ralischen Individualismus mitunter eine Ablehnung eines starken Werte-Realismus.104 Das Zugeständnis, dass menschliche Erkenntnisleistungen und Urteilsvermögen für Moral und Ethik mitent scheidend sind, bleibt hier aber oftmals nur eine leere Geste. Dies zeigt beispielsweise Peter Singers Plädoyer für die Einnahme eines Standpunkts des Universums in der ethischen Argumentation. Mit Bezugnahme auf Steven Pinker meinen Singer und Lazari-Radek, dass die Einnahme dieses objektiven Standpunkts bedeutet, sich von einer unmittelbaren menschlichen Voreingenommenheit zu lösen, um abstrakte und universalisierbare Argumente zu finden. In diesem Zusammenhang weisen Singer und Lazari-Radek auf die Rolle des Gleichheitsgrundsatzes hin: Die Erkenntnis, dass das Wohl keines Individuums über dem Wohl eines anderen Individuums steht, sei Teil einer progressiven Verbesserung des menschlichen Urteilsvermögens im 20. Jahrhundert.105 Das prototypische rationale und vernünftige Subjekt ist demnach ein moralischer Individualist. Die Kriterien, anhand derer moralische Individualisten ihre Argumente stützen und legitimieren, finden sie dabei bevorzugt im Bereich biologischer Fakten. Wenn dem „Universum“ eine egalitäre Haltung gegenüber allen Individuen zu eigen ist, kommt dem (vermeintlich) objektiv argumentierenden Ethiker jedes wissenschaftliche Paradigma wie gerufen, das diesen Egalitarismus implizit zu bestätigen scheint. Genannt sei hier etwa die evolutionstheoretisch belegte Verwandtschaft von menschlichen und nicht-menschlichen Tieren. Der Verweis auf biologische Gegebenheiten in ethischen Argumenten (auch abseits von ethischem Naturalismus) erscheint als Teil einer Sichtweise, die das Biologische als neutrales Faktum begreift. Auch wenn das Biologische selbst nicht zwingend als in sich normativ aufgefasst wird, gilt es dabei als der neutrale Bereich, den der urteilsfähige Ethiker nur zu evaluieren braucht, um rationale Schlüsse ziehen zu können. Weil etwa das Vorliegen von Empfindungsfähigkeit sowohl bei menschlichen als auch bei nicht-menschlichen Tieren naturwissenschaftlich unbestreitbar ist, erscheint die Erweiterung der moralischen Gemeinschaft von Menschen auf alle empfindungsfähigen Wesen höchst plausibel. Die genuin ethische Aktivität wäre in diesem Prozess nicht das Erkennen biologischer 104 D. von der Pfordten, „Five Elements of Normative Ethics – A General Theory of Normative Individualism“, S. 453 f.; K.-P. Rippe, „Darwin und die zwei Gesichter des ethischen Individualismus“, S. 192-194. 105 K. Lazari-Radek, P. Singer, The Point of View of the Universe, S. 379 f.
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Fakten, sondern die argumentative Festlegung der moralischen Relevanz dieser Fakten (z. B. der Empfindungsfähigkeit). Wenn eine Eigenschaft beim Menschen moralisch relevant ist, so zählen auch all jene Tiere moralisch, die diese Eigenschaft ebenfalls besitzen. Selbst wenn unter Umständen eingeräumt wird, dass der Ethiker keine neutrale Position einnimmt, so scheint er hier dennoch von mutmaßlich biologisch-neutralem Boden aus zu argumentieren. Das ethische Argument erscheint in dieser Hinsicht rational und nicht von speziesistischen Vorurteilen oder Ideologien determiniert zu sein. Dass aber beispielsweise die Annahme, Empfindungsfähigkeit sei moralisch relevant, möglicherweise schon im Vorfeld von einem nicht-neutralen naturwissenschaftlichen Paradigma und einer bestimmten politischen Theorie durchdrungen ist, verliert man dabei leicht aus den Augen (oder man bezeichnet diese Ausgangspunkte als legitime Basis der Reflexion). Der Liberalismus etwa wird sowohl von moralischen Individualisten als auch von Kritikern derselben häufig als Grundlage oder naheliegendes Modell moralisch individualistischer Argumente genannt.106 Gary Steiner weist etwa darauf hin, dass Tierrechtsansätze wie jene von Regan oder Francione Erben einer liberalistischen Tradition sind.107 Das Gleichheitsprinzip dient hier als Beispiel: Die gleiche Berücksichtigung der Interessen und des Wohls von Menschen und Tieren ist eine Erweiterung der liberalistischen Idee von der Gleichheit aller Menschen. Wie Steiner darlegt, ist so z. B. die Klassifizierung von Tieren als Träger von Rechten eine Erweiterung des Personenbegriffs auf Tiere.108 Diese Erweiterung erweist sich vor allem in einem naturwissenschaftlich gestützten Zusammenhang als plausibel. Die Erweiterung ist vor allem dann plausibel, wenn ethische Argumentationen zusätzlich zur Idee der Gleichheit auch auf der Berücksichtigung bestimmter Fakten über die evolutionsbiologische Nähe von Menschen und Tieren, der Gradualität bestimmter Fähigkeiten, oder einer gemeinsam geteilten Eigenschaft (Empfindungsfähigkeit) beruht. Kann sich eine Argumentation für die moralische Relevanz der Empfindungsfähigkeit z. B. auf das Vor106 Vgl. z. B. D. von der Pfordten, „Five Elements of Normative Ethics – A General Theory of Normative Individualism“, S. 453; M. Midgley, „Die Begrenztheit der Konkurrenz und die Relevanz der Spezieszugehörigkeit“, S. 21; C. Diamond, „‚We are Perpetually Moralists‘: Iris Murdoch, Fact, and Value“, S. 85 f., S. 88; G. Steiner, Animals and the Moral Community, New York 2008, S. 99-104. 107 G. Steiner, Animals and the Moral Community. 108 Ebd., S. 102.
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handensein von Schmerzrezeptoren bei einem Tier stützen, scheint ein erweiterter Gleichheitsgrundsatz unbestreitbar. Ohne hier ins Detail zu gehen, ist der Punkt folgender: Die ethische Argumentation ist bereits von denjenigen Bereichen beeinflusst bzw. bestimmt, auf die sie sich bezieht – im Falle des moralischen Individualismus von naturwissenschaftlichem Denken und liberalistischen Ideen. Die Idee der Gleichheit von Menschen und Tieren hinsichtlich ihrer moralischen Berücksichtigungswürdigkeit ist keine voraussetzungslose Annahme. Ferner sind bereits die zugrunde gelegten biologischen Fakten selbst nicht Teil eines objektiven oder unparteiischen Wissens, wie moralische Individualisten (implizit) annehmen. Das Einräumen einer möglichen Voreingenommenheit der eigenen Position scheint für moralische Individualisten nicht die (angenommene) Objektivität und Universalisierbarkeit ihrer Argumente zu entkräften. Im Gegenteil, diese Voreingenommenheit wird anscheinend nicht als notwendigerweise prekärer Ausgangspunkt von ethischen Argumenten angesehen, sondern als eine kalkulier- und kontrollierbare Gefahr, die im besten Fall sogar nützlich ist. Das Kalkül lautet etwa: Je mehr die menschliche Perspektivität gleichsam durch Vernunft und Rationalität gekennzeichnet ist, desto wahrscheinlicher rücken objektive und universell gültige Argumente in greifbare Nähe. Doch unsere Voreingenommenheit wird nicht einfach von einer rationalen Argumentation „abgelöst“, wie Singer und Lazari-Radek oder Regan109 annehmen. Die rationale Argumentation ist vielmehr selbst Teil der Voreingenommenheit. Dies ist ein wichtiger Punkt, auf den auch Diamond hinweist: Moralisches Denken ist nicht nur Basis rationalen Argumentierens, sondern betrifft das menschliche Denken auf vielfältige Weise. Ein unparteiischer „Blick von Nirgendwo“ kann nicht als ideologiefreie Alternative zu speziesistischen Haltungen begriffen werden, da die Behauptung eines solchen Blickes selbst eine ideologische Voreingenommenheit ist. Diamonds Einwand soll freilich nicht all unseren Praktiken im Umgang mit Tieren einen Freibrief verschaffen, sondern zeigt in erster Linie nur auf, dass es nicht die eine Art moralischen Denkens oder ethischen Argumentierens gibt. Zumindest in diesem Punkt stimmen Diamond und Crary mit anderen Kritikerinnen des moralischen Individualismus überein, etwa mit Midgley, Hursthouse, Palmer und Anderson. Auch wenn diese Positionen hinsichtlich der Art und Intensität ihrer Kritik gegenüber dem mo109 T. Regan, „Wie man Rechte für Tiere begründet“, S. 39.
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ralischen Individualismus Unterschiede aufweisen, so weisen doch alle darauf hin, dass ein Reduktionismus in der Ethik zu vermeiden sei, weil es eben keine einfachen Antworten auf moralische Probleme gibt. Darüber hinaus finden sich sowohl bei Diamond und Crary als auch bei Midgley und Hursthouse klare Aussagen über die moralische Relevanz bzw. Nicht-Trivialität der Mensch-TierUnterscheidung. Gleichwohl diese Unterscheidung nicht mit einer automatischen Benachteiligung von Tieren einhergehe, könne man nicht, wie im moralischen Individualismus häufig behauptet, einfach von Speziesgrenzen abstrahieren.110 Darauf weisen etwa Diamond (Bedeutung des menschlichen Lebens) und Midgley (Plausibilität von Bevorzugungen der eigenen Spezies) hin. Ein weiteres Problem innerhalb des moralischen Individualismus ist demnach dessen Tendenz, menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften als Maßstab für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren zu verwenden. Bereits innerhalb des moralischen Individualismus wird genau an dieser Vorgehensweise Kritik geübt – Francione etwa wendet sich gegen „similar-mind“ Theorien à la Singer. Doch Francione sägt hier bildlich gesprochen den Ast ab, auf dem er selbst sitzt, da sich seine eigene Argumentationsweise strukturell nicht von der Singers, Regans oder Rachels’ unterscheidet. Die Struktur dieser Argumente ist dergestalt, dass ein als moralisch relevant ausgewiesenes Merkmal beim Menschen (egal ob kognitive Fähigkeiten oder Empfindungsfähigkeit) zur Basis der Ausweitung moralischer Rücksichtnahme auf andere Tiere wird. In dieser Hinsicht wird zwar ein Speziesismus überwunden, aber nicht eine menschliche Perspektive bzw. eine vom Menschen ausgehende (und auf ihn bezogene) Bewertung dessen, was moralisch relevant sei. Dahingehend kann von einem nicht-speziesistischen Anthropozentrismus gesprochen werden.111 In Franciones Fall wird die Grenze moralischer Berücksichtigungswürdigkeit einfach auf Empfindungsfähigkeit heruntergesetzt, ohne eine hierarchischpathozentrische Position im Stile Singers einzunehmen. Besonders deutlich zeigt sich die Anwendung eines an menschlichen Erfahrungen orientierten Maßstabs bei Rachels, der die moralische Relevanz 110 Dies gilt zumindest für den tierethischen Utilitarismus, in dem die Zugehörigkeit zu einer Spezies irrelevant ist. Vgl. T. Regan, „Die Tierrechtsdebatte“, S. 82. 111 Vgl. dazu H. Grimm, „Das Tier an sich. Auf der Suche nach dem Menschen in der Tierethik“, in: K.-P. Rippe, U. Thurnherr (Hrsg.), Tierisch menschlich. Beiträge zur Tierphilosophie und Tierethik, Erlangen 2013, S. 51-95.
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eines Individuums an die Reichhaltigkeit seines geistigen Lebens knüpft. Zu behaupten, die moralische Relevanz bestimmter Eigenschaften sei eine unvoreingenommene oder objektive Feststellung, die nicht aufgrund der Tatsache hervorgehoben wird, dass auch Menschen über diese Eigenschaft verfügen, verkennt dabei wiederum Diamonds Annahme, dass Werte immer schon Teil unserer nur vermeintlich unparteiischen Aufmerksamkeit sind. Defizite und Probleme der anderen Positionen Neben diesen Einwänden gegen den moralischen Individualismus ergibt sich freilich auch hinsichtlich seiner möglichen Gegenpositionen und Erweiterungen Diskussions- und Kritikpotential. Mögliche Einwände gehen sowohl von moralisch-individualistischen Ansätzen als auch von nicht-individualistischen Ansätzen aus. Auf einige Beispiele sei hier nur überblicksartig hingewiesen, da aus Platzgründen auf eine ausführliche Abhandlung verzichtet werden muss. Der zentrale Kritikpunkt moralischer Individualisten an Diamonds und Crarys Zugängen zur Tierethik dürfte sein, dass sie uns keine klaren normativen Richtlinien für unseren Umgang mit Tieren an die Hand geben. Was aus Diamonds Perspektive als Vorteil kontextsensitiver Flexibilität angesehen werden kann, gilt so für die „Gegenseite“ als Nachteil der Richtungslosigkeit oder als argumentative Unzulänglichkeit. Darüber hinaus wird Diamonds Hervorhebung der moralischen Relevanz des menschlichen Lebens zum Stein des Anstoßes, um aus der Sicht des moralischen Individualismus den Verdacht des Speziesismus zu erregen.112 Ein Verdacht, der ferner auch gegenüber Midgley geäußert werden kann, die jedoch den Speziesismus nicht nur als negativ konnotierten Term benützt. Hursthouse, die in Anlehnung an Midgley komplett auf den Begriff des moralischen Status verzichtet und den tugendhaften Menschen ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, mag den Anschein erwecken, als ziele ihre Argumentation nur auf eine Perfektionierung des Menschen ab, nicht aber auf eine Berücksichtigung der Tiere. Bei Palmer tritt unter anderem ein Problem auf, das sie auch selbst 112 Vgl. dazu T. May, „Moral Individualism, Moral Relationalism, and Obligations to Non-human Animals“, in: Journal of Applied Philosophy, 31(2)/2014, S. 155168, hier S. 164.
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als solches anspricht: Die von ihr veranschlagten Distanz- und Abhängigkeitsbeziehungen, die unsere negativen und positiven Pflichten gegenüber Tieren begründen, rufen im Falle von domestizierten Tieren die Frage nach einer „Gruppen-Verantwortung“ aller Menschen hervor. Da domestizierte Tiere in einer Abhängigkeitsbeziehung zu Menschen stehen, hätten wir ihnen gegenüber positive Pflichten. Doch sind in diese Verantwortlichkeit auch jene Menschen eingebunden, die gar nicht an der Domestikation, der Haltung oder dem Konsum von Tieren oder tierlichen Produkten teilhaben?113 Anderson und Hursthouse beschreiben unseren positiven Umgang mit Tieren als etwas, das in einer rationalen Reflexion gründet oder von einer solchen bestätigt wird (ähnlich wie im moralischen Individualismus). Dieses steht im Kontrast zu Diamonds und Crarys Idee einer prä-reflexiven moralischen Orientierung gegenüber Tieren, die bereits vorhanden ist, bevor mögliche Handlungsoptionen durch die Vernunft evaluiert oder als legitim eingestuft werden. Genau diese Annahme einer prä-reflexiven Aufmerksamkeit oder Orientierung kann jedoch wiederum Ziel einer Kritik sein, nach der Ethik genau darin bestehe, sich von einer derartigen Voreingenommenheit zu lösen.
4. Kategorisierung der Positionen Angesichts der Fülle und Heterogenität der bislang diskutierten Positionen erscheint eine systematische Darstellung hilfreich, um den strukturellen Zusammenhang oder die Unterschiede zwischen den Ansätzen aufzuzeigen. Todd May liefert hinsichtlich des Verhältnisses von moralischem Individualismus zu seinen Erweiterungen und Gegenpositionen eine dienliche Kategorisierung, in welcher der moralische Individualismus mit zwei verschiedenen Formen des moralischen Relationalismus kontrastiert wird: Assistance Relati onalismus und Wittgenstein Relationalismus.114 Der erste Begriff leitet sich von der von Palmer geäußerten Idee ab, gegenüber bestimmten, den Menschen nahen Tieren Verpflichtungen zu haben
113 C. Palmer, Animal Ethics in Context, New York 2010, S. 91, S. 95. 114 T. May, „Moral Individualism, Moral Relationalism, and Obligations to Nonhuman Animals“.
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(„duties to assist“, s. o.); der Wittgenstein Relationalismus verdankt seinen Namen dem Umstand, dass deren Vertreterinnen sich auf Ideen von Ludwig Wittgenstein beziehen. Zentral ist hierbei die Vorgängigkeit gelebter Praxis gegenüber jeglicher theoriegeleiteter Urteilsbildung. Unter die Kategorie des moralischen Indivi dualismus subsummiert May beispielhaft Peter Singer, Tom Regan, James Rachels und Jeff McMahan. Als Vertreterinnen des Assistance Relationalismus nennt May Clare Palmer und Elisabeth Anderson; dem Wittgenstein Relationalismus werden Cora Diamond und Alice Crary zugeordnet. Beiden Formen des Relationalismus ist im Gegensatz zum moralischen Individualismus gemein, dass die moralischen Verpflichtungen gegenüber Tieren durch bestimmte Beziehungen in oder zu einer moralischen Gemeinschaft begründet werden. Allerdings gibt es zwischen beiden Formen des Relationalismus auch wichtige Unterschiede: Im Assistance Relationalismus liefern parallel zu bestimmten Beziehungen – und davon unabhängig – auch Eigenschaften von Tieren Gründe für deren moralische Berücksichtigung. Der Wittgenstein Relationalismus zeichnet sich laut May dadurch aus, dass sich unsere moralischen Beziehungen zu Tieren aus den moralischen Beziehungen zwischen Menschen ableiten.115 Wie May meint, ist die strikte Opposition zwischen moralischem Individualismus und moralischem Relationalismus aber unzureichend und bedarf einer Ergänzung. Um das Verhältnis von beiden Positionen besser erfassen zu können, schlägt May vor, die Positionen nicht nur auf die verschiedenen Gründe hin zu untersuchen, die in den jeweiligen Argumenten als Basis moralischer Berücksichtigung dienen (Empfindungsfähigkeit, Subjekt eines Lebens, etc.). Anhand seiner Kategorien von capacity-based reasons (CBRs) und relation-based reasons (RBRs) will May stattdessen zeigen, dass es nur zwei Typen von Gründen für die moralische Berücksichtigung von Tieren gibt. Die Kategorie der CBRs beinhaltet alle Gründe in der ethischen Argumentation, die auf bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten eines Tieres abzielen. Moralische Individualisten stützen sich May zufolge hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, auf CBRs. Die Kategorie der RBRs beinhaltet hingegen alle Verpflichtungen, die sich aus der Beziehung zwischen Mitgliedern einer moralischen Gemeinschaft oder eines Tieres zu dieser moralischen Gemeinschaft ergeben. 115 Ebd., S. 156.
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Weil sich May zufolge aber moralische Individualisten und moralische Relationalisten in ihren Argumenten zuweilen sowohl auf CBRs als auch auf RBRs stützen, sei die Unterscheidung zwischen CBRs und RBRs wesentlich klarer als die Unterscheidung zwischen moralischem Individualismus und moralischem Relationalismus. Die Art der Verwendung von CBRs und RBRs entscheidet dabei darüber, wie nahe sich unterschiedliche Positionen in struktureller Hinsicht sind. Bei Palmers und Andersons Argumenten werden einerseits tierliche Eigenschaften als Basis für deren moralische Berücksichtigung angeben, aber andererseits auch relationale Kontexte hervorgehoben. Der Assistance Relationalismus ist dabei strukturell dem moralischen Individualismus ähnlicher als der Wittgenstein Relationalismus. Dies gilt nicht bloß aufgrund der Tatsache, dass er neben RBRs auch CBRs verwendet, sondern weil sich bei diesem Ansatz Verpflichtungen gegenüber Tieren in manchen Situationen einzig auf CBRs stützen.116 Das zeigt sich z. B. anhand der oben angeführten Begründung Palmers von negativen Pflichten gegenüber empfindungsfähigen Tieren, zu denen keine Beziehung besteht. Um sein Argument bezüglich der Näheverhältnisse bzw. strukturellen Verwandtschaftsverhältnisse unterschiedlicher Positionen klar zu machen, führt May zusätzlich das Beispiel eines Autoren an, der dem moralischen Individualismus diametral entgegengesetzt sei: Carl Cohen.117 Cohen gibt eine negative Antwort hinsichtlich des moralischen Status von Tieren; er ist der Auffassung, dass nur Menschen Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sind, und streitet ab, dass Tiere Träger von Rechten sein können.118 Für Cohen zählen moralisch nur die Beziehungen zwischen Menschen, und dabei ist es im Zweifelsfall irrelevant, welche andere Merkmale außer Spezieszugehörigkeit ein menschliches Individuum aufweist, um Mitglied der moralischen Gemeinschaft zu sein. In diesem Sinne wäre Cohens Standpunkt gänzlich durch RBRs gestützt, auch wenn 116 Ebd., S. 158 f. 117 Ebd., S. 155 f. 118 Dennoch räumt Cohen Tieren zumindest einen minimalen moralischen Status ein: „Aus der Tatsache, dass Tiere keine Rechte haben, folgt nicht, dass wir mit Tieren alles tun dürfen, was uns gefällt. Ganz gewiss nicht. Wir haben durchaus Pflichten gegenüber Tieren, gewichtige Pflichten – aber diese Pflich ten entstehen nicht aus Tierrechten, denn daraus können sie nicht entstehen“ (C. Cohen, „Warum Tiere keine Rechte haben“, in: U. Wolf (Hrsg.), Texte zur Tierethik, Stuttgart 2008, S. 51-55, hier S. 55).
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May ihn nicht als moralischen Relationalisten kategorisiert. May weist darauf hin, dass Cohens Standpunkt aus Sicht des moralischen Individualismus das Problem aufweise, menschliche „marginal cases“ (geistig Behinderte und Babys) in die moralische Gemeinschaft mitaufzunehmen, während er Tiere (die möglicherweise über hohe geistige Kapazitäten verfügen) ausschließe.119 Diese Haltung, nach der allein die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch die moralische Berücksichtigungswürdigkeit bestimmt, wird meist unter dem Begriff des Speziesismus verhandelt. Ob jedoch der Terminus Speziesismus tatsächlich angemessen ist, um Cohens Position zu problematisieren, sei dahingestellt. Denn der Vorwurf des Speziesismus setzt an dieser Stelle eine Definition des Begriffs voraus, die speziell aus der Sicht des moralischen Individualismus in Probleme und Widersprüchlichkeiten führt. Sofern man aber erstens den Speziesismus nicht nur negativ in Analogie zum Rassismus bestimmt (Midgley vermeidet dies etwa; s. o.), und zweitens Cohens Position nicht am Maßstab des moralischen Individualismus misst (im Sinne dessen eigenschaftsbezogener Kriterien für moralische Berücksichtigungswürdigkeit), bleibt dieser Punkt diskutabel. Während der Assistance Relationalismus Palmers und Andersons eine strukturelle Nähe zum moralischen Individualismus aufweise, liege laut May der Wittgenstein Relationalismus von Diamond und Crary näher an der Position von Cohen. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass im Wittgenstein Relationalismus zwar Tieren ein größerer moralischer Status als bei Cohen zukomme, sich dieser Status aber aus zwischenmenschlichen Beziehungen ableite.120 Bei der Anwendung auf Diamond und Crary stößt die Kategorisierung Mays auf der Basis von CBRs und RBRs allerdings auf Probleme. May erwähnt, dass der Wittgenstein Relationalismus möglicherweise sein Konzept der CBRs und RBRs aushebelt, weil diesem zufolge jede mögliche Antwort auf die Frage, wer oder was moralischen Status hat, aus einem zugrunde liegenden menschlichen Zusammenleben hervorgeht; demnach leiten wir den moralischen Status von Tieren weder aus den Eigenschaften von Tieren noch aus konkreten Beziehungen zu Tieren ab.121 Unserer Meinung nach bedeutet dies: Bevor wir uns auf RBRs oder CBRs in der Begründung 119 T. May, „Moral Individualism, Moral Relationalism, and Obligations to Nonhuman Animals“, S. 156. 120 Ebd. 121 Ebd., S. 161.
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eines moralischen Status von Tieren beziehen können, stehen wir je schon im Kontext eines bestimmten menschlichen Zusammenlebens, das durch Gewohnheiten, Praktiken und Werte vorreflexiv bestimmt ist. Mit anderen Worten, RBRs und CBRs sind kein übergeordnetes duales Kategorienpaar, sondern leiten sich beide aus einem kulturell geprägten menschlichen Lebenskontext ab. May meint jedoch, dass letztlich auch Diamonds und Crarys Zugang durch RBRs und CBRs geleitet werde.122 Angesichts von Diamonds Betonung der moralischen Relevanz des menschlichen Lebens erscheint es aber im Sinne Mays angemessen, hier von RBRs zu sprechen. Dennoch sei angemerkt, dass Mays Begriff von „relation“ (oder „relationship“) nicht völlig angemessen ist um die Konzeption Diamonds zu charakterisieren, da May damit eher faktische Beziehungen zwischen Menschen sowie zwischen Menschen und Tieren anvisiert. May geht davon aus, dass es Begegnungen mit anderen Menschen oder Tieren gibt, in denen jenseits des bloßen Zusammentreffens zunächst keine Beziehungen zu diesen bestehen; dabei dienten uns CBRs, nicht aber RBRs, dazu, das Gegenüber als schutzwürdig zu bestimmen bzw. unsere Pflichten ihm gegenüber wahrzunehmen.123 Dies betrifft nach May z. B. hypothetische Begegnungen mit Tieren in der Wildnis, die sich in Lebensgefahr befinden und denen wir aus der Misere helfen könnten. Als weiteres Beispiel führt er ein uns unbekanntes ertrinkendes Kind an, für dessen Rettung wir uns auf CBRs stützen würden, also auf Gründe, die mit dem bedrohten Leben und den Bedürfnissen des Kindes zusammenhängen – und nicht mit unserer Beziehung zu diesem Kind.124 Ein solches Verständnis einer (möglicherweise fehlenden) faktischen Beziehung, die als Grundlage unserer moralischen Überzeugungen und angenommenen Pflichten dienen kann, widerspricht nach unserem Dafürhalten Diamonds Verständnis vom moralischen Denken. Laut Diamond haben wir einen präreflexiven Bezug zu den Dingen bzw. weisen gegenüber der uns umgebenden Welt eine nicht-neutrale Orientierung auf, die durch bestimmte Werte determiniert ist. Diese Werte und unsere Moral – geprägt durch Erfahrung und praktisches Leben – sind dabei nicht nur Gegenstände unserer Reflexionen, sondern bestimmen schon im Vorfeld unsere Aufmerksamkeit für die Dinge (auch für Dinge, die potentiell Teil unserer Aufmerksamkeit 122 Ebd., S. 162. 123 Ebd., S. 165. 124 Ebd., S. 167.
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werden). Dieser je schon moralische (bzw. „moralistische“) Bezug zu den Dingen ist in jeder Situation wirksam – gleichgültig ob ich etwa ein mir unbekanntes Kind oder meinen Wellensittich vor dem Ertrinken zu retten gedenke. In dieser Hinsicht haben wir auch zu einem uns unbekannten Individuum eine moralische „Beziehung“, auch wenn wir nicht mit dem Individuum vertraut sind wie etwa mit unserem Haustier oder unserem Lebenspartner. Wie dem auch sei, da die ausführliche Erörterung der Angemessenheit von Mays Konzepten zu weit führen würde, muss dieser Punkt an dieser Stelle offen bleiben. Zusätzlich zu den von May in seinem Artikel erwähnten Autoren sind auch andere Autoren für die Debatte um den moralischen Individualismus relevant. Die tierethischen Ansätze von einigen von ihnen wurden oben erläutert. Die Überlegungen von Bernard E. Rollin oder Gary Francione repräsentieren beispielsweise zusätzliche wichtige Facetten des moralischen Individualismus. Beide verwenden trotz gewisser Unterschiede in der Argumentation den gleichen Typus von Gründen wie Singer, Regan, Rachels und McMahan, um moralische Verpflichtungen gegenüber Tieren zu begründen. Alle moralischen Individualisten bauen ihre Argumente auf CBRs auf. Sofern bestimmte Beziehungen der Menschen zu Tieren als moralisch relevant angegeben werden, wie dies bei McMahan der Fall ist, bleibt doch die Basisstruktur der Argumentation unverändert. Mary Midgley und Rosalind Hursthouse stellen neben Diamond und Crary bedeutende Gegenstimmen zum moralischen Individualismus dar, unterscheiden sich jedoch vom Wittgenstein Relationalismus. Midgleys Ausführungen bezüglich unseres Umgangs mit Tieren lassen sich gemäß Mays Kategorien sowohl im Hinblick auf RBRs als auch im Hinblick auf CBRs verstehen. Dies trifft bereits insofern zu, als Midgley sich gegen Vereinfachungen in ethischen Argumenten stellt und so keine Festlegung auf nur einen Typus von Gründen für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren akzeptiert. Angesichts der Tatsache, dass Midgley Beziehungen und Näheverhältnissen zwischen Menschen bzw. zwischen Menschen und Tieren einen wichtigen Stellenwert bei der moralischen Entscheidung einräumt, scheint ihre Priorität jedoch auf den RBRs zu liegen. Bei Hursthouse liegt die Sachlage ein klein wenig anders, da ihre Berufung auf menschliche Tugenden und Handlungen die konkreten Eigenschaften von Tieren aus dem Blick zu verlieren scheint. Allerdings ist die Vorstellung von dem, was tugendhaft und https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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richtig ist, stets auch auf andere Menschen und Tiere verwiesen, vor allem deshalb, weil diese von unseren tugend- oder lasterhaften Handlungen betroffen sind. Daher liefern im Sinne Mays zum einen die Beziehungen zu anderen Menschen und Tieren Gründe für deren moralische Berücksichtigung (RBRs), zum anderen deren Eigenschaften (CBRs). Um etwa zu wissen, welche Handlung gegenüber einem bestimmten Wesen mitfühlend oder grausam ist, benötigen wir zumindest ein gewisses Verständnis von den Eigenschaften des Wesens (etwa deren Leidensfähigkeit) – einem Stein gegenüber können wir nicht grausam sein. In der unten stehenden Tabelle 1 werden alle von May genannten Positionen sowie die in diesem Aufsatz besprochenen Autoren angeführt und nach verschiedenen Klassifikationsgesichtspunkten geordnet. Neben den Autoren und deren jeweiligen Kriterien für die moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren, werden auch die entsprechenden Typen von Gründen (CBRs und RBRs) nach May angeführt. Beigefügte Fragezeichen beziehen sich auf oben genannte kritische Einwände gegenüber Mays Kategorisierung. In der letzten Spalte sind mögliche Probleme der Positionen genannt, die bereits im Zuge der obigen Beschreibungen besprochen wurden. Diese Probleme sind beispielhaft und nicht erschöpfend. Die Tabelle beansprucht keine Vollständigkeit und ist daher nur als grobe Orientierungshilfe zu verstehen, um den moralischen Individualismus und seine Gegenpositionen und Erweiterungen überblicksartig zu erfassen. Wie bereits erwähnt, verwenden nach May sowohl moralische Individualisten als auch moralische Relationalisten zuweilen zwei Typen von Gründen – capacity-based reasons (CBRs) und relation-based reasons (RBRs) – für ihre Argumente. Dies geschieht allerdings mit jeweils unterschiedlichen Gewichtungen der Typen von Gründen, und teilweise nur implizit auf den jeweils zweiten Typus bezogen. In der Tabelle sind bei den unterschiedlichen Autoren der Einfachheit halber nur jene Typen von Gründen angegeben, welche die jeweiligen Autoren auch (mehr oder weniger) explizit in ihren Argumenten verwenden.
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Assistance Relationalismus (vgl. May 2014)
Moralischer Individualismus
Positionen
CBRs CBRs (RBRs) CBRs
CBRs RBRs CBRs RBRs
Intrinsische Eigenschaften; z. B. „biographical life“ Intrinsische Eigenschaften ähnlich Rachels, zus. „moral-agent-relative reasons“ Gegen „similar-minds-theory“, Empfindungsfähigkeit als alleiniges Kriterium Empfindungsfähigkeit (neg. Pflichten), Beziehungen zwischen Menschen und Tieren (pos. Pflichten) Werte-Pluralismus, Mitgefühl (Tierschutz), Respekt (Tierrecht), Ehrfurcht (Naturschutz)
James Rachels
Jeff McMahan
Gary Francione
Clare Palmer
Elisabeth Anderson
CBRs
Telos, Zweck in sich
CBRs
Bernard E. Rollin
Tier ist „subject-of-a-life“, bzw. besitzt Empfindungsfähigkeit (inhärenter Wert)
CBRs
Empfindungsfähigkeit bzw. Interesse nicht zu leiden (intrinsischer Wert)
Peter Singer
Tom Regan
Typen von Gründen nach May (2014)
Gründe für moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren
Autoren (Bsp.)
Rationalität (Anderson)
Distanz- und Abhängigkeitsbeziehungen (Palmer)
Mensch ist Maßstab der im Tier gesuchten Eigenschaften
Unterscheidung Mensch-Tier ethisch wenig relevant
Anspruch auf Unparteilichkeit oder Objektivität
Mögliche Beispiele für Probleme
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RBRs (?) RBRs (?) RBRs CBRs
Tiere als „fellow-creatures in mortality“, menschliches Leben und Praxis als Ausgangspunkt Menschliches Leben als Ausgangspunkt, allerdings eine „ethical view of animals“ Menschliche Tugenden („virtue and vice rules“), gegen Konzept des moralischen Status
Cora Diamond
RBRs
Mensch als Teil der moralischen Gemeinschaft, minimaler moralischer Status von Tieren, aber keine Tierrechte
Mary Midgley
Carl Cohen
Multikriterielle Ansätze (vgl. Wolf 2008)
Tierrechtegegner
Tabelle 1: Überblick moralischer Individualismus und Gegenpositionen
Tabelle 1: Überblick moralischer Individualismus und Gegenpositionen
RBRs CBRs
Verschiedene Arten moralischer Ansprüche
Rosalind Hursthouse
Alice Crary
Typen von Gründen nach May (2014)
Gründe für moralische Berücksichtigungswürdigkeit von Tieren
Autoren (Bsp.)
Tugendethik
Wittgenstein Relationalismus (vgl. May 2014)
Positionen
Speziesismus
„Präreflexive“ moralische Orientierung: Praxis vor Theorie Kein moral. Status: Perfektionismus auf Menschenseite? Unterscheidung MenschTier ethisch relevant
Unterscheidung MenschTier ethisch relevant
Mögliche Beispiele für Probleme
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Herwig Grimm und Andreas Aigner
5. Fazit Moralische Individualisten teilen trotz „interner“ Differenzen die Idee, dass die Eigenschaften und Merkmale bzw. Interessen tierlicher Individuen Basis ihrer moralischen Berücksichtigungswürdigkeit sind. Diese Herangehensweise an unseren Umgang mit Tieren besitzt große Plausibilität sowohl in der aktuellen Tierethik als auch im moralischen Allgemeinverständnis. Selbst Autorinnen wie Palmer und Anderson, die dem Reduktionismus des moralischen Individualismus ein kontextuelles Gegengewicht gegenüberstellen, verwehren sich nur bedingt der Logik jener Gründe für moralische Berücksichtigung, die May als „capacity-based“ kategorisiert. Und selbst wenn anscheinend statt Eigenschaften andere Gründe für moralische Berücksichtigung angeführt werden (Mays „relationbased reasons“), so scheint in der Tierethik zumindest häufig ein Verlangen nach verbindlichen normativen Richtlinien zu bestehen. Die geringe „Standardisierung“ von moralischen Pflichten in Midgleys Ansatz erzeugt diesbezüglich sicherlich eine für viele – vor allem am moralischen Individualismus orientierte – Autoren nur wenig attraktive Alternative. Die von Hursthouse vorgeschlagenen „virtue-and-vice rules“ mögen hier schon konkreter sein, muten aber eventuell zu sehr nach menschlichem Perfektionsdrang an. Aus Sicht moralischer Individualisten scheint es jedoch, als zahlte besonders Diamond mit ihrer „Weigerung“, über moralisch relevante Eigenschaften von Tieren oder unsere Verpflichtungen ihnen gegenüber zu theoretisieren, einen zu hohen Preis. Diamonds Ablehnung, klar erkennbare normative Richtlinien zur Verfügung zu stellen, sowie ihre Betonung eines moralisch relevanten Unterschieds zwischen Menschen und Tieren, evoziert so für manche das Bild eines verkappten Speziesismus. Doch Diamond zeigt gerade aus diesem Grund einen alternativen Zugang zur Tierethik auf, weil sie die Voraussetzungen unseres Umgangs mit Tieren beleuchtet, ohne gleichsam weiterführende ethische Theorien darüber aufzustellen. Der Vorwurf des Speziesismus ginge auch deshalb an der Sache vorbei, weil Diamonds Vorgehen nicht am Maßstab des moralischen Individualismus gemessen werden kann. Der individualistische Vorwurf einer Voreingenommenheit kann von Diamonds Warte zurückgespielt werden. Die Position, von der aus moralische Individualisten argumentieren, ist nämlich selbst nicht so unvoreingenommen, wie diese es vermuten. Für die aktuelle tierethische Debatte ist dies insofern relevant, als es uns besser erlaubt, die möghttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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liche Kontingenz unserer menschlichen Perspektive (mitsamt ihren Problemen) nicht als bloßes Übungsfeld rationaler Argumentation misszuverstehen. Als wichtige Protagonistin der Tierethik lässt sich Diamond schwer in eine bestimmte ethische Theorie einordnen und untergräbt so das Prinzip, „vernünftige Begründungen für normative oder evaluative Urteile“125 parat zu stellen. Die Angelegenheit der Tiere wäre in diesem Sinne nicht einer unvoreingenommenen Sicht des Universums zu überlassen, die ein vernunftgeschultes Individuum als Leitidee vor sich her trägt, sondern sie verlangt vielmehr konkrete eigenverantwortliche Entscheidungen, die das Risiko der Voreingenommenheit stets mit in Kauf nehmen. Acknowledgement Diese Arbeit wurde zum Teil finanziert durch den Austrian Science Fund (FWF): Projektnummer P 27428-B29.
125 C. Ammann, A. Hunziker, „Ethik in einem realistischen Geist. Zu Cora Diamonds moralphilosophischen Arbeiten“, S. 314.
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Arianna Ferrari
Zur Ethik der methodischen Untersuchung von Tieren
Tiere sind Objekte menschlicher Neugier und sie gelten in der Geschichte der westlichen Kultur als Bezugs- bzw. Vergleichswesen für die eigene Identität der Menschen. Heutzutage ist die experimentelle Forschung an Tieren extrem vielfältig, nicht nur was die Methoden, sondern auch was die Ziele und die normativen Hintergründe der jeweiligen Forschungsprogramme angeht. Experimentelle Forschung an Tieren, die Tötung und Leidenszufügung involviert, ist in vielen Bereichen eine gesetzlich vorgeschriebene Praxis. Dieser Beitrag möchte einen Überblick über die ethischen Aspekte experimenteller Untersuchungen von Tieren bieten, indem sowohl die ethischen und epistemischen Werte der Verteidigung von Tierversuchen als auch die Kritik an Tierversuchen analysiert werden. Am praxisrelevanten Beispiel der gentechnischen Veränderung von Tieren wird gezeigt, dass aufgrund der Entgrenzung der experimentellen Praxis in Gebiete jenseits der Biomedizin eine kritische Auseinandersetzung mit der methodischen Untersuchung von Tieren notwendig und wieder dringender geworden ist.
1. Exkurs über den Begriff ‚Tierversuch‘ Was kann man sich unter der ‚methodischen Untersuchung von Tieren‘ vorstellen? Der im Vergleich zu ‚Tierversuch‘ semantisch neutralere Begriff kann die experimentelle Forschung an nichtmenschlichen Tieren im Allgemeinen bezeichnen. Üblicherweise werden hier experimentelle Versuche in der Verhaltensforschung gemeint, die keine Tierversuche im juristischen Sinne sind. Die Verhaltensforschung befasst sich aus einer evolutionären und vergleichenden Perspektive mit dem Verhalten von Tieren. Insbesondere die kognitive Ethologie, die sich mit den sozio-kognitiven Fähigkeiten von Tieren auseinandersetzt, ist heutzutage eine wichtige Referenz https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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Arianna Ferrari
für die Human-Animal Studies des ‚animal turn‘ geworden.1 Ein wachsendes Feld der Verhaltensforschung betrifft auch die Untersuchung von Mensch-Tier-Beziehungen bezüglich bestimmter Tierarten, die eine wichtige Rolle für den Menschen spielen. Dazu zählen unter anderem die sogenannten ‚Heimtiere‘2 sowie die sogenannten ‚Nutztiere‘ (und deren Interaktionen mit Bauern und Bäuerinnen)3 oder Tiere, die in den sogenannten ‚tiergestützten Interventionen‘ verwendet werden.4 Der engere Begriff ‚Tierversuch‘ wird juristisch definiert und geregelt: Das deutsche Tierschutzgesetz definiert im § 7 Tierversuche als „Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken“, bei denen lebendigen Tieren „Schmerzen, Leiden oder Schäden“ zugefügt werden. Außerdem sind auch Eingriffe gemeint, „die dazu führen können, dass Tiere geboren werden oder schlüpfen, die Schmerzen, Leiden oder Schäden erleiden, oder am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können“. Des Weiteren Eingriffe oder Behandlungen „zur Herstellung, Gewinnung, Aufbewahrung oder Vermehrung von Stoffen, Produkten oder Organismen“ für wissenschaftliche Zwecke (für die Transplantation von Organen oder Geweben, zur Herstellung von Kulturen oder zur Untersuchung von Organen, Gewebe oder Zellen) bzw. „zu Aus-, Fort- oder Weiterbildungszwecken.“5 Typischerweise deutet die Nutzung der Formel „Schmerzen, Leiden oder Schäden“ darauf hin, dass es nicht nur um das physische, sondern auch das psychische Leiden von Tieren geht. Das Tierschutzgesetz unterscheidet sodann zwischen „anzeigepflichtigen“ und „genehmigungspflichtigen“ Tierversuchen, je nach Art des Eingriffs. Die Versuchstiere werden meist gezüchtet und nur in den seltensten Fällen gefangen. Das Gesetz lässt bereits erkennen, dass die 1 2 3 4 5
K. Weil, „A Report on the Animal Turn“, in: Differences, 21(2)/2010, S. 1-23. Insbesondere Hunde, siehe u. a. E. Payne et al., „Current perspectives on attach ment and bonding in the dog–human dyad“, in: Psychology Research and Be havior Management, 8/2015, S. 71-79. Siehe u. a. I. Zulkifli, „Review of human-animal interactions and their impact on animal productivity and welfare“, in: Journal of Animal Science & Biotechnology, 4(1)/2013, S. 25 (doi: 10.1186/2049-1891-4-25). Siehe u. a. C. Otterstedt, „Tiergestützte Interventionen“, in: A. Ferrari, K. Petrus (Hrsg.), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen, Bielefeld 2015, S. 343-346. „Tierschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I S. 1206, 1313), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 28. Juli 2014 (BGBl. I S. 1308) geändert worden ist.“ Vgl. (http://www.gesetze-iminternet.de/tierschg/BJNR012770972.html), zuletzt abgerufen am 31.07.2015.
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Haltung und die Zucht, d. h. die zielgerichtete Auswahl bestimmter Merkmale zur Verbesserung der Nutzung von Tieren (in diesem Fall geht es um wissenschaftliche Nutzung), ethisch relevant sind.6 Die Zuchtpraxis von Labortieren ist heutzutage für die experimentelle Forschung (außer für Teile der Verhaltensforschung) unverzichtbar, weil sie einen Weg zur Standardisierung und Sicherung der Wiederholbarkeit der Experimente bietet.7 Diese Praxis begann am Ende des 19. Jahrhunderts und führte im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die kontinuierliche Brüder-Schwester-Paarung von Nagetieren zur Erstellung von sogenannten ‚Inzuchtstämmen‘, die als besonders geeignet für Experimente gehalten wurden.8 Für die Zucht kommen viele Tiere zum Einsatz, deren Schicksale sehr häufig aber nicht in den Statistiken erfasst werden. Häufig wird auch zwischen ‚invasiven‘ und ‚nicht-invasiven‘ Tierversuchen bzw. Eingriffen unterschieden, wobei der Begriff ‚invasiv‘ juristisch nicht klar definiert ist. In der Regel sind mit invasiven Eingriffen solche gemeint, die die physische Unversehrtheit des Tieres beeinträchtigen. Darüber hinaus wird zwischen ‚minimalinvasiv‘ und ‚invasiv‘ unterschieden: Die DFG bezeichnet beispielsweise in ihrer Broschüre über „Tierversuche in der Forschung“9 die Endoskopie als „minimalinvasive Operationstechnik“ oder die Computertomographie (CT) als „nichtinvasive Diagnostik“. Wenn man aber bedenkt, dass Tierversuche nicht nur die physische, sondern auch die psychische Dimension betreffen, ist es meines Erachtens erforderlich, auch Formen psychischer Beeinträchtigung bei der Unterscheidung von invasiven und nichtinvasiven Eingriffen einzubeziehen. In der Tat gelten nur Versuche bei denen Schmerzen, Leiden oder Schäden ausgeschlossen werden können, nicht als 6
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Dabei wird im Gesetz auch geschrieben, dass „Tierversuche im Hinblick auf a) die den Tieren zuzufügenden Schmerzen, Leiden und Schäden, b) die Zahl der verwendeten Tiere, c) die artspezifische Fähigkeit der verwendeten Tiere, unter den Versuchseinwirkungen zu leiden, auf das unerlässliche Maß zu beschränken und die Tiere, die zur Verwendung in Tierversuchen bestimmt sind oder deren Gewebe oder Organe dazu bestimmt sind, zu wissenschaftlichen Zwecken ver wendet zu werden, so zu halten, zu züchten und zu pflegen, dass sie nur in dem Umfang belastet werden, der für die Verwendung zu wissenschaftlichen Zwe cken unerlässlich ist“ (TSchG Absatz 7, Satz 1). Vgl. u. a. A. Ferrari, Genmaus & Co. Gentechnisch veränderte Tiere in der Bio medizin, Erlangen 2008; sowie Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Tier versuche in der Forschung, Bonn 2004. Vgl. A. Ferrari, Genmaus & Co. DFG, Tierversuche in der Forschung.
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Tierversuche im Sinne des Tierschutzgesetzes. Auch in der Verhaltensforschung wurde festgestellt, dass unterschiedliche Eingriffe in das tierliche Leben in Feldstudien (wie zum Beispiel Markierungsmaßnahmen, Gefangennahme oder kontinuierliche Beobachtung) das Verhalten und somit die Überlebensfähigkeit der Tiere beeinflussen können.10 Somit fielen diese Methoden auch unter den Begriff des Tierversuchs. Die Erweiterung des Wortgebrauchs auf bestimmte Bereiche der experimentellen Untersuchung an Tieren – wie etwa bestimmte Verfahren in der Verhaltensforschung – erscheint allerdings in vielen Kreisen unüblich, weil man in der Regel davon ausgeht, dass den Tieren in solchen Versuchen keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden. Zu überprüfen wäre, ob die involvierten Tiere unter psychischer Belastung leiden, insbesondere wenn sie in Laboren bzw. speziellen Einrichtungen für wissenschaftliche Zwecke gehalten und (zum Teil) gezüchtet werden. Tierversuche werden vor allem von TierversuchsgegnerInnen als ‚Vivisektion‘ bezeichnet. Dieser Begriff bezog sich ursprünglich auf das Zerschneiden von lebendigen Körpern für wissenschaftliche Zwecke und hat eine lange Begriffsgeschichte: Während der Begriff in der Antike Versuche sowohl an Tieren als auch an Menschen bezeichnete, wurde er erst in der Moderne und zunehmend im 19. Jahrhundert als umgangssprachliche Bezeichnung für sämtliche Tierversuche verwendet, als die Kritik an Tierversuchen sich in einer politischen Bewegung organisierte.11 Heutzutage ist die Bezeichnung ‚Vivisektion‘ für Tierversuche sehr umstritten: Viele TierversuchsgegnerInnen verwenden den Begriff bewusst in Anlehnung an die geschichtliche Definitionsmacht, die den Tierschutzorganisationen im 19. Jahrhundert durch ihre Tierversuchskritik zukam.12 TierversuchsbefürworterInnen hingegen wehren sich ge-
10 Vgl. I. Cuthill, „Field experiments in animal behaviour: methods and ethics“, in: Animal Behaviour, 42(6)/1991, S. 1007-1014; sowie J. K. Kirkwood, A. W. Sainsbury, „Ethics of interventions for the welfare of free-living wild animals“, in: Animal Welfare, 5(3)/1996, S. 235-243. 11 A.-H. Maehle, „Vivisektion“, in: W. E. Gerabek et al. (Hrsg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin, New York 2005, S. 1451-1452. 12 Wie beispielsweise die internationale Bürgerinitiative „STOP VIVISECTION“, vgl. K.-P. Rippe, „Die Geburt der klinischen Forschung und der Zerfall der ärzt lichen Ethik“, in: A. Thurneysen (Hrsg.), Kontraste in der Medizin, Bern 2009, S. 21-50.
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gen die Bezeichnung mit der Begründung, dass Tiere heutzutage in Tierversuchen nicht mehr lebendig aufgeschnitten werden.13 Man kann daraus schließen, dass das eigentliche Objekt der Untersuchung in diesem Artikel, und zwar die Erforschung von Tieren, kontrovers ist: Sind Schimpansen in einem Primatenforschungszentrum in einem ethischen Sinne Versuchstiere oder nicht, wenn man die Einschränkung ihrer Freiheit für eine Form von Beeinträchtigung hält? Was bedeutet es eigentlich, gegen Vivisektion zu sein? Die Grenzen zwischen der ‚methodischen Untersuchung an Tieren‘ und ‚Tierversuchen‘ sind fließend, je nachdem welche ethische Perspektive eingenommen wird. Während TierversuchsgegnerInnen mit ihrer politischen Verwendung des Begriffes ‚Vivisektion‘ auf die Grausamkeit des gesamten institutionellen Systems von Tierversuchen hinweisen wollen, lehnen die TierversuchsbefürworterInnen den Begriff mit dem Argument ab, dass keine Sektionen im etymologischen Sinn des Begriffes am Lebenden durchgeführt würden.14 Viele Formen der Kritik an Tierversuchen beinhalten in der Tat nicht nur eine Kritik an den tatsächlich zugefügten Schmerzen, Leiden oder Schäden an Tieren, sondern auch an der Tatsache, dass Tiere absichtlich als ‚Versuchstiere‘ geschaffen und in ihren biologischen Merkmalen verändert werden. Diese Tiere sind nicht frei und ihre Existenz ist an den Nutzen des Menschen gekoppelt. Aus einer tierrechtlichen bzw. antispeziesistischen Perspektive stellt allein schon die Praxis der Zucht von Tieren für die experimentelle Forschung eine grundsätzliche Verletzung der Interessen von Tieren dar. Im Laufe dieses Artikels werde ich mich überwiegend auf diejenigen Forschungsmethoden konzentrieren, die als Tierversuche im juristischen Sinne definiert werden können.
2. Tierversuche und ihre institutionelle Rechtfertigung Tierversuche sind weltweit für die Überprüfung der Sicherheit bestimmter Substanzen oder Verfahren gesetzlich vorgeschrieben, solange keine anderen anerkannten Methoden verfügbar sind. Da13 U. a. DFG, Tierversuche in der Forschung. 14 Siehe u. a. J. Weiss et al., Versuchstierkunde: Tierpflege in Forschung und Klinik, 4. Aufl., Stuttgart 2014.
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rüber hinaus sind sie zur Entwicklung medikamentöser Substanzen für Menschen und Tiere sowie für die Grundlagenforschung erlaubt. Die Pflicht der Durchführung von Tierversuchen, solange keine Alternativmethoden validiert worden sind, wird in der Helsinki-Deklaration zu den ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen (1964) ethisch begründet. Die Helsinki-Deklaration, die als Antwort auf die ungeheuerlichen Menschenversuche während des Nationalsozialismus formuliert wurde, begründet die ethische Verpflichtung zur Durchführung von Tierversuchen damit, dass die medizinische Forschung am Menschen den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechen müsse. Die Verpflichtung ist normativ, aber angekoppelt an einem wissenschaftstheoretischen Standard, und zwar dem Standard einer ‚guten Wissenschaft‘: Unterlägen Tierversuche keinen anerkannten wissenschaftlichen Grundsätzen mehr, wäre auch die ethische Verpflichtung hinfällig. Hier verbindet sich der epistemische Wert der Entsprechung wissenschaftlicher Grundsätze in der experimentellen Praxis mit einer allgemeinen ethischen Perspektive über Mensch-Tier-Beziehungen, deren Basis im Anthropozentrismus, oder laut der Akademie Leopoldina15 in einer „pathoinklusiven Ethik“ liegt. Einerseits müssen Tierversuche im deutschen Recht begründet werden, weil Tieren ihrer selbst wegen ein moralischer Wert zugeschrieben wird und sie daher zu schützen sind (das ist eben der Kern des ethischen Tierschutzes); andererseits wird bei Tierversuchen die Zufügung von Schmerzen, Leiden und Schäden, wenn sie nötig ist, akzeptiert. Die Interessen von Menschen werden qua menschliche Interessen jedoch grundsätzlich anders gewichtet als vergleichbare Interessen von Tieren, da die Güterabwägung im Falle von Tieren, nicht aber von Menschen akzeptiert wird: Diese Art der Begründung ist insofern anthropozentrisch und speziezistisch.16 Zur Erklärung einer „pathoinklusiven Ethik“ als Perspektive des ethischen Tierschutzes im deutschen Gesetz schreibt die Leopoldina: „Grundlage des deutschen Tierschutzgesetzes ist die ‚pathoinklusive‘ Auffassung, dass tierisches Leiden als Unwert gelten muss, der nur insoweit in Kauf genommen werden darf, als die Leidenszufügung einerseits geeignet ist, erwartbar höhere Güter bei 15 Leopoldina (Nationale Akademie der Wissenschaften, Union der deutschen Aka demien der Wissenschaften), Tierversuche in der Forschung. Empfehlungen zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2010/63/EU in deutsches Recht, Berlin 2012. 16 Vgl. P. Singer, Practical Ethics, Princeton 1979.
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Menschen und Tieren zu schützen, zu sichern oder zu verwirklichen, und andererseits dafür ‚unumgänglich‘ ist.“17 Das erklärt auch den Unterschied zwischen den Positionen des Tierschutzes und des Tierrechtes: Letztere fordern den Schutz fundamentaler Interessen von Tieren durch die Anerkennung von Rechten – welche Rechte genau, wird kontrovers diskutiert. Im deutschen Recht ist der ethische Tierschutz, für den das unnötige Beeinträchtigen des Wohls von Tieren moralisch unzulässig ist, als Staatsziel in der Verfassung anerkannt: Das bedeutet, dass die daraus entstehende Pflicht zur sorgfältigen Evaluierung des Einzelprojekts und zur Vornahme von Güterabwägungen eine Einschränkung für das verfassungsmäßige Recht auf Forschungsfreiheit darstellt.18 Genehmigungspflichtige Tierversuchsanträge müssen rechtliche sowie ethische Anforderungen erfüllen und unterliegen einer behördlichen Prüfung und Entscheidung. Zuständig für die Evaluierung der Angemessenheit der experimentellen Verwendung von Tieren (d. h. deren Notwendigkeit und Vertretbarkeit) sind Tierversuchskommissionen, die national sowie international agieren. Laut der neuen europäischen Richtlinie zu Tierversuchen 2010/63/EU, Abs. 39 und 40, ist die Bewertung der Nutzung von Tieren in Versuchen sowohl aus ethischen als auch aus wissenschaftlichen Gründen notwendig. Nachdem evaluiert worden ist, dass die Ziele der Versuche rechtlich angemessen sind und dass die angestrebten Erkenntnisse nicht über andere Wege erreicht werden können, werden die Belastungen der Tiere mit dem zu erwartenden Erkenntnisgewinn abgewogen.19 Die Prüfung der ethischen Vertretbarkeit dient zur Stärkung des ethischen Tierschutzes, indem sie Ausdruck der Idee ist, dass der wissenschaftliche Nutzen allein kein ausreichender Grund für die Genehmigung eines Tierversuches ist. In der Literatur sind unterschiedliche Abwägungssysteme formuliert worden, die jeweils versuchen, die Bewertung der Vertretbarkeit von Tierversuchen zu objektivieren. Dennoch besteht sowohl bei den Behörden als auch bei den FachwissenschaftlerInnen 17 Leopoldina, Tierversuche in der Forschung, S. 12. 18 Der Verzicht auf ein konsequentes Verbot von Tierversuchen gewährleistet hier das individuell einklagbare Grundrecht, in der wissenschaftlichen Ausübung frei zu sein sowie die Tatsache, dass Tierschutz nicht als Grundrecht anerkannt ist. Vgl. A. Ferrari, V. Gerritsen, „Güterabwägung“, in: A. Ferrari, K. Petrus (Hrsg.), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen, Bielefeld 2015, S. 139-143. 19 Vgl. H. Hirt, C. Maisack, J. Moritz, Tierschutzgesetz Kommentar, 2. Aufl., Mün chen 2007.
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sowie bei den ‚externen‘ Beobachtenden (bzw. bei Teilen der Öffentlichkeit und bei GeisteswissenschaftlerInnen, die sich der Frage nach der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen widmen) immer noch ein großer Bedarf daran, die Prüfung der ethischen Vertretbarkeit inhaltlich zu konkretisieren. Dieser Bedarf erklärt sich dadurch, dass die bis jetzt formulierten Schemata bzw. tabellarischen Abwägungssysteme20 an wichtige Grenzen stoßen, weil sie dazu tendieren, die Güterabwägung als einen quasi mathematischen Prozess zu interpretieren, worin das schwierigste Moment in der Zuschreibung eines (quantitativen) Wertes für die Elemente des Schemas besteht (z. B. Quantifizierbarkeit von Leid). Diese Tendenz, die – mehr oder weniger implizit – weit verbreitet ist, übersieht meines Erachtens sowohl die kulturelle und historische Dimension der Wissenschaft als auch die komplexen sozialen, ökonomischen und kulturellen Faktoren, die das Mensch-Tier-Verhältnis und somit das Tierbild in unserer Gesellschaft gestalten. Wenn einerseits der Bedarf von WissenschaftlerInnen und Behörden an brauchbaren Abschätzungssystemen für die Bewertung von Tierversuchsanträgen durchaus verständlich ist, sollte andererseits der multidimensionale Charakter der Frage nach dem Tierversuch im Bewusstsein bleiben, solange Tierversuche in unserer Gesellschaft toleriert, gesetzlich geregelt und gefördert sind. Diese Überlegungen würden dazu führen, dass man den Bewertungsprozess als kontinuierlich und deshalb als progressiv und veränderbar versteht, weil er das Ergebnis des Zusammenspiels zwischen Forschungserkenntnissen und ethischen und politischen Entscheidungen über den Wert von Tieren in der Gesellschaft ist, die keineswegs nur von wissenschaftlichen ExpertInnen getroffen werden. Dies bedeutet beispielsweise auch, dass ein solcher Prozess so transparent wie möglich gemacht werden sollte, weil Tierversuche eine öffentlich finanzierte und relevante Praxis sind und so auch einer Evaluierung durch die Öffentlichkeit unterworfen werden.
20 Siehe N. Alzmann, „Zur umfassenden Kriterienauswahl für die Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchsvorhaben“, in: L. Kovács, C. Brand (Hrsg.), Forschungspraxis Bioethik, Freiburg, München 2011, S. 183-197.
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3. Die Kritik an Tierversuchen als politischer Paradigmenwechsel Die Kritik an der tierexperimentellen Forschung bzw. Vivisektion hat eine lange Geschichte, die in der Antike Wurzeln hat, die aber dann stetig mit der Entwicklung der auf experimentellen Tierversuchen basierten Kultur des 19. Jahrhunderts21 gewachsen ist.22 Interessanterweise sind die Grundargumente des Streites um Tierversuche im 19. Jahrhundert im Großen und Ganzen die gleichen wie heute: Während Tierversuche für die Befürworter den Geist einer sich vom Dogmatismus emanzipierenden, experimentellen und modernen Medizin trugen, sahen die Tierversuchsgegner in dieser Praxis eine unnötige Qual.23 Wissenschaftstheoretische und ethische Argumente spielen immer noch die zentrale Rolle in der Debatte über Tierversuche: Man kann deshalb in der Debatte eine ethische und eine wissenschaftstheoretische Kritik an Tierversuchen argumentativ unterscheiden. Die wissenschaftstheoretische Kritik greift den Kern der Rechtfertigung von Tierversuchen durch eine Dekonstruktion der Kosten-Nutzen-Abwägung an: Ist kein Nutzen erkennbar, so sind die Kosten nicht nötig bzw. gerechtfertigt. Der italienische Philosoph Pietro Croce prägte den Begriff des „wissenschaftlichen Antivivisektionismus“ (antivivisezionismo scientifico),24 in dessen Mittelpunkt die Idee steht, dass die Übertragung von Ergebnissen von einer Art auf eine andere nicht durchführbar (unwissenschaftlich) ist. Nach dieser Argumentation sind Tierversuche nicht nur nutzlos, sondern sogar gefährlich, weil Daten produziert werden, die sich nicht so einfach auf den Menschen übertragen lassen, so dass letztendlich auf der Basis fragwürdiger Daten klinische Studien an Menschen durchgeführt werden müssen.25 Verschiedene Studien, die den klinischen Nutzen von Tierversuchen festzustellen versuch-
21 Insbesondere mit Claude Bernard in der Physiologie und Rudolf Virchow in der Pathologie. 22 A.-H. Maehle, Kritik und Verteidigung des Tierversuchs. Die Anfänge der Dis kussion im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1992. 23 Vgl. A.-H. Maehle, Vivisektion. 24 P. Croce, Vivisezione o scienza. La sperimentazione sull’uomo (1982), Bologna 2000. 25 Vgl. u. a. M. H. Pappworth, Menschen als Versuchskaninchen. Experiment und Gewissen, Zürich 1968; P. Croce, Vivisezione o scienza; sowie C. Gericke, A. Reinke, Was Sie schon immer über Tierversuche wissen wollten: Daten und Fakten, Göttingen 2011.
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ten, sind zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen: In vielen Fällen wurden die allgemein geringe methodologische Qualität, aber auch konkrete Probleme der Bewertung und Einschränkung von falschen Positiv- oder Negativergebnissen und der Auswahl der sogenannten ‚Tiermodelle‘26 beanstandet sowie die fehlende Übereinstimmung der Ergebnisse zwischen den sogenannten ‚Tiermodellen‘ und klinischen Studien als auch ein erheblicher Mangel an der Übertragbarkeit der Ergebnisse27 moniert. Beim heutigen Stand der Forschung sind allein die Alternativmethoden dem Prozess der Validierung unterworfen, so dass ein gleichberechtigter und stetiger Vergleich mit Tierversuchen in vielen Fällen fehlt. Bleibt man in der Logik der Güterabwägung, ist deshalb zu bemerken, dass einige Aspekte der tatsächlichen Effizienz dieser Forschung sowie die der Alternativen durch retrospektive Evaluierung (und ggf. Entvalidierung bestimmter Methoden) viel genauer bekannt sein müssten. Somit ist die Idee der Unentbehrlichkeit von Tierversuchen für die KritikerInnen eine Sache des Glaubens und ein Zeichen von schlechter Wissenschaft, weil sie einfach als ‚Gold-Standard‘ genommen und nie hinterfragt werden: Im Gegensatz zu den Alternativmethoden, die validiert werden müssen, durchlaufen Tierversuche immer noch keine retrospektive Bewertung.28 Die wissenschaftstheoretische Kritik an Tierversuchen hat meines Erachtens den Verdienst, das Problem der pauschal positiven Bewertung der Nützlichkeit dieser Experimente zu betonen. Dies kulminiert in der These, dass Tierversuche für die Forschung entbehrlich sind. Gerade weil diese Argumentation oft auf einer allgemeinen Ebene bleibt, laufen die KritikerInnen aber Gefahr, den gleichen Fehler wie die BefürworterInnen zu machen: Denn in der Tat lassen sich in manchen Fällen Erkenntnisse vom Tier auf den Menschen übertragen. Außerdem muss man immer bedenken, dass in der biomedizinischen Forschung der präklinischen Phase (durch Tierversuche) immer eine klinische Phase mit einer Übertragung auf den Menschen folgt, die wiederum aus vier Phasen besteht (drei Phasen vor der Zulassung eines Medikaments bzw. Verfahrens und 26 Siehe u. a. A. Knight, The Costs and Benefits of Animal Experiments, Singapore 2011 und T. Hartung, „Toxicology for the twenty-first century“, in: Nature, 460(7252)/2009, S. 208-212. 27 A. Knight, The Costs and Benefits of Animal Experiments. 28 Vgl. C. R. Greek, J. S. Greek, Sacred Cows and Golden Geese. The Human Cost of Animal Experiments, 2. Aufl., New York 2002; sowie H. LaFollette, N. Shanks, Brute Science. Dilemmas of Animal Experimentation, London, New York 1996.
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eine vierte nach der Zulassung). Es ist deshalb klar, dass viele der durch Tierversuche gewonnen Erkenntnisse im Laufe der 3. bzw. 4. Phase modifiziert, bestätigt, oder wiederlegt werden können. Die ethische Kritik an Tierversuchen entspringt der Reflexion über den moralischen Status von Tieren als empfindungsfähige Lebewesen: In Tierversuchen, die Leid und Tötung implizieren, werden tierliche Interessen systematisch verletzt, weswegen diese Praxis nicht gerechtfertigt ist, ganz unabhängig von ihrem möglichen ‚Nutzen‘.29 Die ethische Kritik greift den Kern des Modells der Kosten-Nutzen-Abwägung auf zwei unterschiedliche Arten und Weisen an: Erstens, weil die These von unantastbaren Tierrechten (Recht auf Leben und Verbot von Leidenszufügung) die Institutionalisierung eines Kosten-Nutzen-Kalküls per se ausschließt.30 Zweitens, weil zwei unvergleichbare Größen verglichen werden: Es handelt sich um die direkte, absichtliche, gegenwärtige Leidenszufügung und Tötung von Tieren, um antizipierte, künftige Erkenntnisse zu erreichen, die zum Schutz von Menschen oder der Umwelt dienen können. Außerdem wird im Tierversuch eine Konfliktsitua tion zwischen den Interessen der Tiere und denen von Menschen und Umwelt zuerst konstruiert: Auf der einen Seite gibt es kranke Menschen, die leiden (oder Risiken in der Umwelt, die zum Leiden führen können) und auf der anderen Seite gibt es Tiere, denen absichtlich Leid zugefügt wird. Es gibt aber nicht ‚den einen leidenden Menschen‘, der durch bestimmte Tierversuche gerettet wird. Solche Versuche sind Bestandteile einer langfristigen Strategie zur Weiterentwicklung wissenschaftlicher Ziele,31 durch die (vielleicht)
29 Kategorisch dazu Tom Regan: „There is only one serious moral defense of vivi section. That defense proceeds as follows. Human beings are better off because of vivisection. […] One thing should be immediately obvious. The benefits argu ment has absolutely no logical bearing on the debate over animal rights. Clearly, all that the benefits argument could possibly show is that vivisection on nonhu man animals benefits human beings. What this argument cannot show is that vivisecting animals for this purpose is morally justified. Whether animals have rights is not a question that can be answered by saying how much vivisection benefits human beings.“ (T. Regan, Empty Cages: Facing the Challenge of Ani mal Rights, New York 2004, S. 174) 30 Vgl. G. Francione, Animals as Persons: Essays on the Abolition of Animal Ex ploitation, New York 2008; und S. Donaldson, W. Kymlicka, Zoopolis: A Political Theory of Animal Rights, Oxford 2011. 31 U. Wolf, „Haben wir moralische Verpflichtungen gegen Tiere?“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 42(2)/1998, S. 222-246.
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irgendwann einmal ein leidender Mensch (oder ein leidendes Tier) gerettet werden kann. Diese ethische Kritik an Tierversuchen bietet meines Erachtens sicherlich stärkere Gründe als eine ‚rein‘ wissenschaftstheoretische, weil sie sich vom Modell der Kosten-Nutzen-Abwägung prinzipiell verabschiedet. Darüber hinaus zeigt sie gleichzeitig, dass die wissenschaftstheoretische Kritik an Tierversuchen eine ethische Basis hat: Sollte jedoch der wissenschaftliche Nutzen der Tierversuchspraxis in Frage gestellt werden, deren Gewaltausübung mit Verweis auf ihre ‚Nützlichkeit‘ gerechtfertigt wird, so ist in der Tat klar, dass auch ihre Legitimation und somit ihre ethische Basis zerstört würde. Aus der (fast trivialen) Erkenntnis, dass in der experimentellen Forschung Ergebnisse nicht mit Sicherheit antizipierbar sind (sonst würde man kein Experiment brauchen) und es deshalb keine linearen bzw. kausalen Korrelationen zwischen den experimentellen Versuchen und dem Nutzen ihrer Ergebnisse geben kann (sondern Plausibilität, wenn überhaupt), folgt, dass die Entscheidung über die vertretbare „Nützlichkeit“ von Tierversuchen mit der Entscheidung über die Vertretbarkeit von Leidenszufügung und Tötung von Tieren zusammenhängt. Häufig wird TierversuchsgegnerInnen vorgeworfen, dass die Kritik an Tierversuchen nicht explizit den Verzicht bestimmter Kenntnisse thematisiert, die in der Gesellschaft als unverzichtbar für die Erreichung nicht-trivialer Ziele wahrgenommen werden. Wissenschaftlich-technologische Entwicklungen sind keine Ergebnisse einer abstrakten Tätigkeit, die theoretische (nachvollziehbare) Ziele verfolgt, sondern eines menschlichen Unternehmens, das mit bestimmten Mitteln operiert, die konkrete, kritisch zu hinterfragende Ziele in einem besonderen sozio-ökonomischen Kontext festlegt. Selten liegen Probleme nur in den Methoden einer Forschung, sondern auch in den Herangehensweisen an bestimmte gesundheitliche Herausforderungen32 sowie an bestimmte Ziele.33 Deswegen bleibt die ethische Kritik an Tierversuchen meines Erachtens geschwächt, wenn sie sich nicht an einer systemischen Kritik heutiger experimenteller Forschung orientiert. Die Frage nach 32 Zum Beispiel die Vernachlässigung der Epidemiologie und die mangelnde Aus einandersetzung eines angemessen Chemikalienverbrauches als Vorstufe be stimmter Krebsbekämpfungsmaßnahmen. 33 Zur Entwicklung bestimmter kontroverser diagnostischer Maßnahmen wie PID (Präimplantationsdiagnostik) oder Anwendungen in Richtung Enhancement siehe u. a. A. Ferrari et al., Animal Enhancement: Neue technische Möglichkeiten und ethische Fragen, Bern 2010.
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dem ‚Nutzen‘ einer wissenschaftlich-technologischen Entwicklung sowie der ‚Entbehrlichkeit‘ einer Methode, die ethisch relevant ist, ist keine Frage eines objektiven Kalküls, sondern Ergebnis einer sozialen Ordnung. Auch die Frage nach Alternativmethoden hat einen klaren forschungspolitischen Charakter: Je mehr Geld in bestimmte Forschungsrichtungen, die auf Tierversuchen basieren, investiert wird, umso weniger finanzielle Ressourcen bleiben für andere Forschungszweige. Mit der Unterstützung von Tierversuchen findet durchweg (implizit) ein Verzicht auf bestimmte Erkenntnisgewinne statt, gerade weil bestimmte Methoden (und eben nicht andere) zur Erreichung bestimmter Ziele festgelegt werden. Wenn man experimentelle Forschung weiter betreiben möchte und praktisch keine andere Wahl als Tierversuche für die Durchführung dieser wichtigen Forschung hat, ist es sinnlos, sich Fragen über die Entbehrlichkeit dieser Experimente zu stellen. Die Frage nach den Alternativmethoden kann dadurch ermöglicht werden, indem eine tierversuchsfreie Forschung zum politischen Ziel gemacht wird. Die Europäische Union hat beispielsweise im März 2013 das Verbot für Tierversuche zum ausschließlichen Zweck der Überprüfung von Kosmetika erlassen, die etwa 0,3 % aller Tierversuche ausmachen.34 Trotz der geringen quantitativen Relevanz der Tierversuche, die von diesem Verbot tatsächlich betroffen sind, war die forschungspolitische Wirkung dieser Richtlinie groß: Im letzten Jahrzehnt wurde verstärkt in die Entwicklung tierversuchsfreier Testmethoden investiert, die zu wichtigen Ergebnissen geführt hat. Darüber hinaus hatte dieses Verbot auf europäischer Ebene interessante Folgen für globale Multikonzerne, die ihre Produkte in anderen Teilen der Welt produzieren, wo Tierversuche auch für Kosmetika gesetzlich vorgeschrieben sind, wie beispielsweise in China. Wenn Maßnahmen zur Ermöglichung und Unterstützung einer tierversuchsfreien Forschung ergriffen werden, wird die wissenschaftliche Kreativität stimuliert und damit werden Ergebnisse produziert. Das ist überhaupt die Voraussetzung dafür, das System der experimentellen Forschung verändern zu können. 34 Dieses Verbot gilt auch für die Rohstoffe, die nur für Kosmetika verwendet werden und circa 10 % aller Rohstoffe ausmachen, die dagegen für andere An wendungen als Chemikalien betrachtet werden und deswegen unter der Che mikalienrichtlinie REACH (Regulation concerning the Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) reguliert werden.
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Zusammen mit der Frage nach Alternativmethoden spielt auch das Thema der (Aus-)Bildung eine zentrale Rolle: Solange Tierversuche einen wesentlichen (und meist obligatorischen) Bestandteil der heutigen Ausbildung in den Lebenswissenschaften ausmachen, und solange eine solche Ausbildung keine kritische Auseinandersetzung mit methodisch-theoretischen Fragen fordert, ist eine Kritik an solchen Methoden erheblich erschwert. Forschende sind sich möglicherweise der Trennung zwischen dem, was sie in Laboren erforschen, und dem, was in der klinischen Forschung tatsächlich vollzogen wird, nicht bewusst. Darüber hinaus spezialisieren sich WissenschaftlerInnen in ihrer gesamten Karriere auf Tierversuche: Somit ist es klar, dass Experten für Tiermodelle sehr häufig keine Kenntnisse über Alternativmethoden haben; weder die notwendigen analytischen Instrumente, noch die zeitlichen Ressourcen, um Vergleiche ziehen zu können. In einigen Fällen kann der Drang zur Publikation auch als wirtschaftlicher Aspekt angesehen werden, dessen Ziel die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen ist.35
4. Die Entgrenzung von Tierversuchen jenseits biomedizinischer Anwendungen durch die gentechnische Forschung an Tieren Weltweit steigt die Zahl der Tierversuche36 und damit die Zahl der dafür verwendeten Tiere, die außerdem durch eine kontinuierliche Steigerung von gentechnisch veränderten Tieren gekennzeichnet ist. Wenn dieser Trend bestätigt wird – wovon stark auszugehen ist –, werden gentechnisch veränderte Tiere bald die prominenteste Rolle sowohl numerisch als auch qualitativ spielen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Geschichte der Gentechnik bei Tieren ein relativ neues Phänomen ist. Die ersten gentechnisch veränderten Tiere wurden 1974 hergestellt, als der Biologe Rudlof Jaenisch gemeinsam mit der Embryologin Beatrice Mintz die DNA des AffenSV40-Virus in Mäuseembryonen einschleuste37 und der Genetiker
35 Vgl. C. R. Greek, J. S. Greek, Sacred Cows and Golden Geese. 36 Vgl. A. Knight, The Costs and Benefits of Animal Experiments. 37 R. Jaenisch, B. Mintz, „Simian virus 50 DNA sequences in DNA of healthy adult mice derived from preimplantation blastocysts injected with viral DNA“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, 71(4)/1974, S. 1250-1254.
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Ralph Lawrence Brimster die erste chimärische38 Maus herstellte.39 Sechs Jahre später wurde die Methode der Mikroinjektion etabliert: Eine der heute bedeutendsten Methoden der Gentechnik bei Tieren. Sie ermöglicht die Herstellung homologer transgener Tiere, also Tiere, die ein bestimmtes Genkonstrukt in allen Zellen und stabil im Genom enthalten.40 Die Isolierung von embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) der Maus in den 90er-Jahren ermöglichte die natürlich vorkommende homologe Rekombination und eröffnete somit neue Möglichkeiten für die experimentelle Forschung. Die zentrale Bedeutung dieser Entdeckung wird durch die Tatsache belegt, dass der Nobelpreis in der Medizin im Jahre 2007 an Mario R. Capecchi, Martin J. Evans und Oliver Smithies, den Erfindern der Methode der Isolierung von embryonalen Stammzellen, vergeben wurde. Diese Isolierung führte zur Entwicklung der ES-Zell-Mikroinjektion, bei der im Gegensatz zur Mikroinjektion die Möglichkeit besteht, den Einbau der DNA zu steuern. Die ES-Zellen, die das Transgen enthalten, lassen sich vor der Injektion ins Mausgenom selektieren. Man kann dadurch genetisch veränderte Mäuse mit Mutationen in bestimmten Genen erzeugen sowie die sogenannten ‚Knock-In-Mäuse‘, in die Gene eingeführt oder verändert werden. Dadurch wurden große Forschungsprogramme zur Isolierung aller Gene gestartet, die Proteine im Mausgenom kodieren, wie beispielsweise das „International Knock-Out-Mouse Consortium (IKMC)“.41 Aber die ‚richtige‘ Revolution ist laut den ForscherInnen42 erst seit der Entwicklung neuer gentechnische Verfahren aus der Synthe38 Chimärische Tiere sind mischerbige Tiere, deren Körperzellen einerseits Zellen mit dem ursprünglichen Erbgut, andererseits solche mit dem Erbgut des einge setzten fremden Genkonstruktes enthalten. 39 R. L. Brinster, „The effect of cells transferred into the mouse blastocyst on subsequent development“, in: Journal of Experimental Medicine, 140(4)/1974, S. 1049-1056. 40 Bei dieser Methode wird zunächst fremde DNA in die Vorkerne von befruch teten Eizellen (Zygoten) injiziert. Den so behandelten Embryo bringt man anschließend in den Eileiter einer Ammenmaus. Ein Teil der Embryonen ent wickelt sich nach der Implantierung in der Gebärmutter bis zur Geburt weiter. (Vgl. A. Ferrari, Genmaus & Co.) 41 A. Ayadi, M. C. Birling, J. Bottomley et al. (October 2012), „Mouse largescale phenotyping initiatives: overview of the European Mouse Disease Clinic (EUMODIC) and of the Wellcome Trust Sanger Institute Mouse Genetics Pro ject“, in: Mammalian Genome, 23(9-10)/2012, S. 600-610. 42 Siehe bspw. H. Wang, H. Yang, C. S. Shivalila et al., „One-step generation of mice carrying mutations in multiple genes by CRISPR/Cas-mediated genome engineering“, in: Cell, 153(4)/2013, S. 910-918; sowie J. A. Doudna, E. Charpen
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tischen Biologie im Gange, wie die Zinkfinger-Nukleasen (ZFN)43, TALEN (Transcription Activator-Like Effector Nuclease)44 und die CRISPR/Cas-Technik (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats). Insbesondere die CRISPR/Cas-Technik liegt jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit: Im Vergleich zur Mikroinjektion und der Nutzung von embryonalen Stammzellen bietet sie eine bessere Präzision, d. h. eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der homologen Rekombination45 im Genom. Sie ist ein schnelles, billiges und einfaches Verfahren, das vielfältig angewendet wird. Durch das sogenannte ‚Genome Editing‘ kann das Erbgut direkt in der Zelle modifiziert werden – so entsteht keine Notwendigkeit von DNA-Übertragung. Laut ersten Prognosen verkürzt sich die Herstellungszeit von transgenen Tieren dadurch auf wenige Wochen.46 Außerdem kann durch diese Verfahren die Struktur von DNA auch synthetisch im Labor hergestellt werden (und muss nicht notwendigerweise aus Lebewesen isoliert werden).
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tier, „The new frontier of genome engineering with CRISPR-Cas9“, in: Science, 346(6213)/2014 (doi: 10.1126/science.1258096). Zinkfinger sind Proteine, die spezifisch an ein bestimmtes Basen-Triplett bin den. Durch die Vereinigung mehrerer Zinkfinger zu einer Zinkfinger-Domäne besteht die Möglichkeit, maßgeschneiderte Bindedomänen zu designen. Trotz der prinzipiellen Spezifität dieser Methode kann es immer noch zu Fehlern kom men, indem die DNA abseits vom Zielort zertrennt wird: Dies könnte bspw. bei therapeutischen Anwendungen toxische Auswirkungen haben. (Vgl. D. Frank, „Vom Handwerkszeug der Gentechnik und der Synthetischen Biologie“, in: T. Graßmann, S. Herresthal (Hrsg.), Leben konstruieren? Deutungsmuster Syn thetischer Biologie, München 2015, S. 8-28; online unter (http://www.ttninstitut.de/sites/www.ttn-institut.de/files/TTN%20edition%201%20-%20 2015.pdf), zuletzt abgerufen am 17.12.2015.) TAL-Effectors sind natürlich vorkommende Proteine aus dem pflanzenpathoge nen Bakterium Xanthomonas. Diese greifen in die Steuerung der Wirtspflanze ein und können die Art und Weise verändern, in der die jeweiligen Gene abge lesen und in Protein übersetzt werden. Diese Methode ist in der Lage, an einer beliebigen Stelle zu schneiden. Allerdings ist es immer noch sehr arbeitsauf wendig und kostspielig lange TALE-Ketten zu konstruieren, die für eine höhere Spezifität notwendig sind. (Vgl. ebd.) Die homologe Rekombination besteht in der Paarung homologer Sequenzen, die in Bakterien und Hefen häufig stattfindet, bzw. in dem Austausch zwischen homologen DNA-Sequenzen. In der Gentechnik wird dieser Vorgang verwendet, um Gene durch Kopien zu ersetzen, in die z.B. Mutationen eingebaut wurden. Vgl. H. Wang, H. Yang, C. S. Shivalila et al., „One-step generation of mice carrying mutations in multiple genes“; sowie P. Singh, J. C. Schimenti, E. Bol cun-Filas, „A Mouse Geneticist’s Practical Guide to CRISPR Aplications“, in: Genetics, 199(1)/2015, S. 1-15.
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Die gentechnische Veränderung von Tieren stellt eine besondere ethische Herausforderung in drei Hinsichten dar: Erstens, weil viele andere Tiere in diesem Prozess involviert sind (die in den meisten Fällen getötet werden), der zur Etablierung einer transgenen Linie führt;47 von Spendertieren und Ammentieren, Zwischengenerationen (unterschiedlich, je nach Herstellungsmethode) von Chimären und Mosaiktieren,48 als notwendige ‚Schritte‘ des Prozesses, bis zu den ‚falsch veränderten‘ Tieren, die das Transgen entweder nicht an dem gewünschten Ort oder gar nicht ausprägen.49 Im Jahre 2006 kalkulierte die Wissenschaftsjournalistin Jane Qiu, dass für die Herstellung einer transgenen Mauslinie insgesamt einige fünfzig bis hundert Tiere gebraucht werden.50 Eine genaue Kalkulation für die notwendige Zahl der Tiere bei der CRISPR/Cas-Technik liegt noch nicht vor. Da diese neuen Techniken die Herstellungszeit und die Kosten gentechnisch veränderter Tiere verkürzen, ist eine Zunahme der dafür verwendeten Tiere zu erwarten, wie die ForscherInnen selbst in ihren Publikationen erkennen.51 Die CRISPR/Cas-Technik wird inzwischen an vielen Tierarten angewendet, wie u. a. an Zebrafischen, Mäusen, Ratten, Kaninchen und Makaken.52 47 Die Herstellung eines transgenen Tieres genügt im experimentellen Bereich nicht, da die Ergebnisse wiederholbar und kontrollierbar sein müssen. 48 Mosaiktiere entstehen als Ergebnis von Mutationen während der Ontogenese aus einer Mischung von Zellen (Körper- und/oder Keimzellen) mit unterschied lichem Genotyp. Dagegen sind Chimären Individuen, deren Gewebe sich von zwei Genotypen herleiten lassen, d. h. in denen Zellpopulationen aus zwei (oder mehr) Zygoten koexistieren (bei der Methode der DNA-Übertragung in ESZellen). 49 Bei der Methode der Mikroinjektion sind bspw. drei Generationen notwendig: Mosaiktiere der Generation 0 (G0), die das Genkonstrukt enthalten, werden mit Wildtypen verpaart. Damit wird die Generation 1 (G1) gewonnen, in der einige Tiere (circa 25 Prozent) heterozygot transgen sind. 25 Prozent der Nachkommen der zweiten Generation (G2) werden homozygot transgen sein. Stabile transgene Linien ergeben sich aus der Verpaarung von homozygoten transgenen Tieren (A. Ferrari, Genmaus & Co., S. 75). 50 Vgl. J. Qiu, „Animal research: mighty mouse“, in: Nature, 444(7122)/2006, S. 814-816. 51 Vgl. etwa H. Wang, H. Yang, C. S. Shivalila et al., „One-step generation of mice carrying mutations in multiple genes“; und P. Singh, J. C. Schimenti, E. BolcunFilas, „A Mouse Geneticist’s Practical Guide to CRISPR Aplications“; und S. M. Riordan, D. P. Heruth, L. Q. Zhang et al., „Application of CRISPR/Cas9 for biomedical discoveries“, in: Cell & Bioscience, 5(33)/2015 (doi: 10.1186/s13578015-0027-9). 52 Vgl. u. a. S. H. Sternberg, J. A. Doudna, „Expanding the Biologist‘s Toolkit with CRISPR-Cas9“, in: Molecular Cell, 58(4)/2015, S. 568-574.
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Zweitens stellt die gentechnische Veränderung eine relativ unsichere Methode dar, was die phänotypischen Effekte auf die Tiere und somit die möglichen (zum Teil auch unerwünschten) Beeinträchtigungen betrifft. Bestimmte genotypische und damit auch bestimmte phänotypische Merkmale des einzelnen Tieres sind unvorhersehbar. Dies führt zu einer Erhöhung des Risikos für das individuelle Tier, gesundheitlichen Schaden zu nehmen, der nicht erwünscht bzw. für die spezifischen Forschungszwecke des Experiments unnötig ist. Auch bei der ortsspezifische Rekombination (site-specific recombination)53 kann keine absolute Sicherheit in Bezug auf die phänotypischen Merkmale gewährleistet werden.54 Diese Unsicherheiten wurden besonders deutlich bei der Anwendung der Mikroinjektion bei den sogenannten ‚Nutztieren‘, zum Teil in Kombination mit dem somatischen Zellkerntransfer, um das gewünschte gentechnisch veränderte Tier wieder zur Verfügung zu haben.55 Ab Mitte der 90er-Jahre versuchte man trotz der Ineffizienz dieser Methode, folgende Tiere herzustellen: Kühe mit erhöhten Kasein-Werten in der Milch,56 Kühe, deren Milch ein gesenktes Potential an Allergieanfälligkeit von Kindern enthält,57 Kühe, die ‚menschliche Muttermilch‘ produzieren, und zwar eine Milch, die dieselben Nährwerte aufweist wie menschliche Muttermilch58 so53 Darunter versteht man einen Rekombinationsprozess, der u. a. bei Bakterien beobachtet wird. Es handelt sich um die Rekombination eines spezifischen Se quenzabschnitts im Phagengenom (Bakteriophagen) mit einer spezifischen Ziel sequenz im Wirtsgenom. Es ist gelungen einen solchen Mechanismus in Säuger zellen zu übertragen, und somit ein System zur genetischen Modifikation auch für diese Zellen zu etablieren. 54 A. Ferrari, Genmaus & Co., S. 73. 55 Hier wurde häufig die Mikroinjektion mit dem kerntransferbasierten Klonen in Verbindung gebracht, eine Technik, die auch nicht immer und nicht immer dau erhaft erfolgreich gelingt: Viele der so erzeugten Embryonen bzw. Föten gehen zugrunde, nicht selten auch noch kurz vor oder kurz nach der Geburt. Doch auch die überlebenden Tiere sind noch häufig mit gravierenden Problemen behaftet, die ihrer Entwicklung im Wege stehen und ihre Gesundheit beeinträchtigen (ebd.). 56 B. K. Choi, G. T. Bleck, M. B. Wheeler et al., „Genetic Modification of Bovine β-Casein and its Expression in the Milk of Transgenic Mice“, in: Journal of Agricultural and Food Chemistry, 44(3)/1996, S. 935-960. 57 J. Wang, P. Yang, B. Tang et al., „Expression and Characterization of Bioactive Recombinant Human α-Lactalbumin in the Milk of Transgenic Cloned Cows“, in: Journal of Dairy Science, 91(12)/2008, S. 4466-4476. 58 B. Yang, J. Wang, B. Tang et al., „Characterization of Bioactive Recombinant Human Lysozyme Expressed in Milk of Cloned Transgenic Cattle“, in: PLOS One (Public Library of Science), 6(3)/2011 (doi: 10.1371/journal.pone.0017593).
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wie sogenannte ‚Enviropigs‘, patentierte Schweine, die aufgrund einer Veränderung im Verdauungssystem die in ihrer Nahrung vorkommende Phytinsäure besser verarbeiten können und dadurch weniger Phosphat in ihrem Kot produzieren als nicht-modifizierte Schweine.59 Drittens vermischen sich bei der gentechnischen Veränderung von Tieren die Grenzen zwischen medizinischen und anderen Nutzungen, weil immer wieder neue Möglichkeiten eröffnet werden: In der biomedizinischen Forschung werden Tiere als Quelle von Zellen, Geweben und Organen für die Xenotransplantations-Forschung60 verwendet und entsprechend gentechnisch modifiziert, damit ihre Körperflüssigkeiten medikamentöse Substanzen enthalten – dieser Bereich wird ‚Gene-Pharming‘ genannt.61 Die Entwicklung schnellerer und billigerer Verfahren zur gentechnischen Veränderung von Tieren wie die CRISPR/Cas-Technik macht die alten Träume einer gentechnischen Revolution bei den landwirtschaftlichen Nutztieren der 90er-Jahre wieder lebendig, wie die WissenschaftlerInnen selbst zugeben.62 ForscherInnen haben jetzt schon angefangen, die CRISPR/ Cas-Technik für die Herstellung von Minischweinen,63 Kaninchen,64 Rindern65 und Ziegen66 zu verwenden. Die neue „Gene-Drive“Technik,67 die auch innerhalb der Synthetischen Biologie entwickelt wurde, könnte die Möglichkeit bieten, die gentechnische Veränderung schnell in einer gesamten Tierpopulation im Freien durchzu59 Für viele andere Anwendungen siehe A. Ferrari et al., Animal Enhancement. 60 Unter Xenotransplantation versteht man die Nutzung von Organen, Geweben oder Zellen aus genetechnisch veränderten Tieren für die Transplantation beim Menschen. 61 Vgl. A. Ferrari, Genmaus & Co. 62 J. N. Qiao et al., „Efficient gene knockout in goats using CRISPR/Cas9 system“, in: PLOS One (Public Library of Science), 9(9)/2014 (doi: 10.1371/journal. pone.0106718). 63 D. F. Carlson et al., „Efficient TALEN-mediated gene knockout in livestock“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA, 109(43)/2012, S. 17382-17387. 64 Q. Yan, Q. Zhang, H. Yang et al., „Generation of multi-gene knockout rabbits using the Cas9/gRNA system“, in: Cell Regeneration, 3(1)/2014, S. 12 (doi: 10.1186/2045-9769-3-12). 65 Z. Wang, „Genome engineering in cattle: recent technological advancements“, in: Chromosome Research, 23(1)/2015, S. 17-29. 66 J. N. Qiao et al., „Efficient gene knockout“. 67 Es handelt sich um eine Technik, die als eine veränderte Vererbung bestimmter Gene zwecks der Veränderung einer Population definiert wird (vgl. K. A. Oye et al., „Regulating gene drives“, in: Science, 345(6197)/2014, S. 626-628).
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setzen. Deren Einsatz wird aktuell für die Vernichtung von Moskitos oder anderen Insekten diskutiert, die Krankheiten wie Malaria übertragen.68 Außerdem werden gentechnische Verfahren auch im Bereich des Umweltschutzes verwendet, um das Genom von aussterbenden Tierarten zu klonieren oder sogar durch die Rekon struktion des Genoms ausgestorbene Tierarten wieder lebendig zu machen.69 Die Vermischung der Grenzen zwischen biomedizinischen und landwirtschaftlichen Anwendungen bringt uns zu den anfänglichen Überlegungen über den Begriff ‚Tierversuch‘ zurück: Wenn sich die neuen Techniken als präzisere Verfahren darstellen und wenn somit die phänotypischen Effekte kontrolliert werden können, könnten gentechnisch veränderte Tiere hergestellt werden, denen gar keine „Schmerzen, Leiden oder Schäden“ im Sinne des Gesetzes mehr zugefügt werden können. Sie werden aber trotzdem gezüchtet, um von Menschen als Quelle von Substanzen verwendet zu werden. Die Herstellung dieser Tiere involviert viele andere Tiere, die in einem institutionalisierten System verkauft, genutzt und getötet werden. Wären solche Tiere dann keine ‚Versuchstiere‘ mehr?
Fazit Die tierexperimentelle Forschung kann aus folgenden Gründen als vorsätzliches System der Leidenszufügung bzw. als System der institutionalisierten Gewalt definiert werden.70 Erstens wird Gewalt auf der materiellen bzw. biologischen Ebene ausgeübt: Tiere werden in diesem Bereich als ‚Versuchstiere‘ definiert, nicht nur weil sie für Versuche verwendet werden, sondern auch weil sie absichtlich gezüchtet bzw. (biologisch) geschaffen werden. Außerdem werden viele Tiere nicht nur direkt in den Versuchen verwendet, sondern auch für die Zucht geschaffen und gehalten, um die Bereitstellung der sogenannten ‚Tiermodelle‘ zu gewährleisten (siehe insbesondere die gentechnischen Verfahren). Die heutige tierexperimentelle 68 N. Prywes, „Opinion: On the Irreversibility of Gene Drives“, in: The Scientist, 16.09.2014. 69 Vgl. A. Ferrari et al., Animal Enhancement. 70 Vgl. S. Buschka et al., „Gewalt an Tieren“, in: C. Gudehus, M. Christ (Hrsg.), Gewalt, Stuttgart 2013, S. 75-82.
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Forschung ist deshalb eine hochspezialisierte Industrie, in der Tiere in großen Laboren entwickelt und weltweit verkauft werden: Multikonzerne wie Jackson Laboratories oder Charles River Laboratories züchten ihre Tiere auf Vorrat; man kann sie aus Katalogen wählen und online bestellen.71 Zweitens wird Leidenszufügung auch in der Kosten-Nutzen-Abwägung im Großen und Ganzen dem Erkenntnisgewinn untergeordnet. Seit langer Zeit gibt es eine Diskussion über ‚Kriterienkataloge‘ als Methode zur praktischen Umsetzung der Güterabwägung (u. a. im Zusammenhang mit dem Verbot für besonders schwer belastbare Versuche), dennoch werden sie, wenn überhaupt, auf freiwilliger Basis verwendet.72 Drittens kennt die Gewalt an Tieren in der experimentellen Forschung keine systemischen Grenzen: Die Entwicklung neuer Forschungsbereiche und technologischer Verfahren bedeutet eine Vervielfältigung erkenntnistheoretischer Fragestellungen bzw. Hypothesen, die sich dann wiederum nur an sogenannten ‚Tiermodellen‘ testen lassen, wie bspw. die gentechnische Veränderung von Tieren in der Forschung zeigt.73 Sie führen auch zu einer neuen Nutzungen von Tieren und somit zu neuen Systemen der Gewalt. Heutzutage greift die Kritik an Tierversuchen den Kern ihrer Rechtfertigung an: Einerseits weil sie den epistemischen Wert von einigen Tierversuchen infrage stellt und die Erforschung von Alternativmethoden fördert; andererseits weil sie die ethische Perspektive der Mensch-Tier-Beziehung, die grundsätzlich menschliche Interessen in den Vordergrund stellt und somit die Instrumentalisierung von Tieren ermöglicht, für nicht mehr tragbar hält. Im Lichte der neuen Entwicklungen in der Molekularbiologie wird die gesamte experimentelle Forschung mehr und mehr von der Idee der Gestaltbarkeit von Tieren geprägt: Tiere werden für unterschiedliche menschliche Zwecke in ihrer biologischen Ausstattung verändert und die Grenzen zwischen biomedizinischen, landwirtschaftlichen oder anderen Anwendungen werden immer mehr verwischt. Die Entgrenzung der neuen Gestaltung von Tieren bringt ethische 71 Siehe z. B. die Webseite von Charles River Laboratories unter dem Abschnitt „Genetically Engineered Model Services“, (http://www.criver.com/productsservices/basic-research/transgenic-colony-services), zuletzt abgerufen am 31. 07.2015. 72 Vgl. N. Alzmann, Zur umfassenden Kriterienauswahl für die Ermittlung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchsvorhaben, S. 157. 73 A. Ferrari, „Genetically modified laboratory animals in the name of the 3Rs?“, in: ALTEX (Alternatives to Animal Experimentation), 23(4)/2006, S. 294-307.
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Konsequenzen mit sich, nicht nur weil Millionen von Tieren verwendet werden,74 sondern vor allem weil Tiere als für Fremdzwecke gestaltbare Wesen wahrgenommen werden. Die experimentelle Forschung zeigt sich deshalb in diesem Fall sehr deutlich als soziale Praxis, die Werte (mit sich) transportiert. Da die experimentelle Forschung an Tieren eine Basisfunktion für die Produktion von Wissen in unserer ‚Wissensgesellschaft‘ ist, in der die Wissensproduktion zentrale Quelle von Produktivität, Innovation und Wachstum geworden ist,75 kann die Kritik an Tierversuchen nicht anders als forschungspolitisch betrachtet werden, und zwar in Form einer Kritik am gesamten System des Experimentierens. Die pauschale Verteidigung von Tierversuchen im Namen einer anthropozentrischen Ethik, etwa als Schutz der menschlichen Gesundheit, verhindert eine grundsätzliche Debatte, die eigentlich politischer Natur ist: In welcher Gesellschaft möchten wir leben? Möchten wir Programme unterstützen, die Tiere zu gestaltbaren Wesen für unterschiedliche Bedürfnisse macht? Der Streit um Tierversuche ist kein Streit um Methoden, sondern um Werte wie Mitleid und Solidarität mit Tieren.
74 Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) wurden im Jahr 2013 insgesamt 2.997.152 Wirbeltiere für Versuche und andere wissenschaft liche Zwecke gemeldet. Vgl. (http://www.bmel.de/ SharedDocs/Downloads/ Tier/Tierschutz/2013-TierversuchszahlenGesamt.pdf?__blob=publicationFile), zuletzt abgerufen am 26.01.2016. Eine Senkung der Zahl von Tieren ist überhaupt nicht in Sicht, sondern eher das Gegenteil. 75 Vgl. G. Böhme, N. Stehr, The Knowledge Society. The Growing Impact of Scientific Knowledge on Social Relations, Dordrecht 1986.
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Ute Knierim
Methoden und Konzepte der angewandten Ethologie und Tierwohlforschung
Einleitung Verhaltensforschung kann als Grundlagen- oder angewandte Wissenschaft betrieben werden und sie kann sich mit Wild- oder domestizierten Tiere beschäftigen. Bei der klassischen Ethologie oder Verhaltensbiologie handelt es sich um eine Grundlagendisziplin, die entsprechend den von Tinbergen1 formulierten vier Hauptproblemen im Wesentlichen die Evolution von Verhalten bei Wildtieren (Phylogenese, „evolution“) untersucht, dessen Anpassungswert oder Beitrag zur Fitness („survival value“),2 dessen Entwicklung im Rahmen der Ontogenese („ontogeny“) sowie dessen unmittelbare Ursachen („causation“), also die Verhaltenssteuerung. Die kleine Schwester der klassischen Ethologie ist die angewandte Ethologie, wobei dieses Bild zwei Bedeutungen hat. Zum einen ist die Zahl der WissenschaftlerInnen in der angewandten Ethologie zahlenmäßig deutlich geringer als in der klassischen Ethologie, so hat beispielsweise die „International Society for Applied Ethology (ISAE)“ als weltweite einschlägige Fachorganisation 595 Mitglieder,3 die „Association for the Study of Animal Behaviour (ASAB)“ derzeit rund 10004 und ist dabei nicht die einzige internationale Fachorganisation der klassischen Ethologie. Die andere Bedeutung des verwendeten
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N. Tinbergen, „On aims and methods of ethology“, in: Zeitschrift für Tierpsy chologie, 20/1963, S. 410-433. Während Tinbergen noch lediglich auf das Überleben der Tiere Bezug genommen hat, wird heute im Sinne der Fitness der Verbreitungserfolg eines Merkmals in der Population betrachtet, also auch in welchem Ausmaß die Eigenschaften an Nachkommen weitergegeben werden. P. Motupalli, „Membership secretary“, in: ISAE Newsletter, 45/2014, S. 5, (http:// www.applied-ethology.org/hres/2015%20June%20ISAE%20Newsletter%2046. pdf), zuletzt abgerufen am 25.11.2015. Webseite der Association for the Study of Animal Behaviour, (http://asab. nottingham.ac.uk), zuletzt abgerufen am 25.11.2015.
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Bildes bezieht sich darauf, dass die angewandte Ethologie sowohl jünger als ihre klassische Schwester ist als auch auf deren Erkenntnissen aufbaut und sich explizit auf diese bezieht, wobei sie sich auch die Freiheit nimmt, auf andere Traditionen und Erkenntnisse, z. B. aus der Verhaltenspsychologie mit dem Schwerpunkt der Lernforschung, zurückzugreifen. Bezüglich der Behandlung der oben genannten vier Hauptprobleme der Verhaltensbiologie, die auch häufig als Fragen zitiert werden, gibt es in der angewandten Ethologie einen deutlichen Schwerpunkt auf den beiden letztgenannten Bereichen, Ontogenese und Verhaltenssteuerung, da es in der angewandten Ethologie hauptsächlich darum geht, wie Verhalten von Tieren proximat beeinflusst wird bzw. werden kann. Dabei kann es wiederum um verschiedenste Zielrichtungen der Forschung gehen. Sie liegen im Wesentlichen in den Bereichen Wildtiermanagement, Schädlingsbekämpfung, Verhaltenstherapie bei Heim- und Begleittieren sowie in der Tierwohlforschung. Der letzte Bereich umfasst sicherlich die größte Zahl aktiver WissenschaftlerInnen, auch wenn mir dazu keine Statistiken vorliegen. Trotz der häufig engen Verbindung zwischen angewandter Ethologie und Tierwohlforschung ist zu beachten, dass es sich nicht um Synonyme handelt. So wie oben dargelegt, können in der angewandten Ethologie auch gänzlich andere Fragestellungen, wie die Bekämpfung unliebsamer Tierpopulationen, eine Rolle spielen. Umgekehrt ist der Aspekt des Verhaltens in der Tierwohlforschung zwar äußerst wichtig, aber hinzu kommen die Physiologie, Pathologie und klinische Tiermedizin, die Epidemiologie, Immunologie oder auch die Genetik, um die wichtigsten weiteren Disziplinen zu nennen, die zur Tierwohlforschung beitragen können. Im Folgenden werde ich kurz die Geschichte der angewandten Ethologie mit Schwerpunkt Tierwohlforschung skizzieren sowie einen Überblick über einige terminologische und methodische Aspekte geben, die ich für wichtig halte. Ich werde diese kurz diskutieren, ohne den Anspruch zu erheben, damit erschöpfend Einblick in dieses Forschungsgebiet zu bieten. Zu vielen konkreteren Aspekten, die ich in diesem Rahmen vernachlässigen musste, wird beispielsweise ein guter Einstieg in dem Buch Animal Welfare5 geboten.
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M. C. Appleby, J. A. Mench, I. A. S. Olsson, B. O. Hughes (Hrsg.), Animal Welfare, 2. Aufl., Wallingford 2011.
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Entwicklung der angewandten Ethologie mit Schwerpunkt Tierwohlforschung Auch wenn Tierschutz schon ein Thema vor dem 20. Jahrhundert war,6 so beginnt doch eine systematische tierschutzfachliche Diskussion und Bearbeitung mit entsprechenden Publikationen erst in den 1960er Jahren. In Großbritannien war es Ruth Harrison, die mit ihrem 1964 erschienenen Buch Animal Machines7 eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Entwicklung der Nutztierhaltung aus Tierschutzsicht anregte. Diese nötigte das zuständige Ministerium, im selben Jahr eine Gruppe von neun Persönlichkeiten, überwiegend aus dem Bereich Biologie, Tiermedizin und Landwirtschaft, mit einer fachlichen Stellungnahme zu beauftragen. Das später nach seinem Vorsitzenden benannte „Brambell Committee“ legte 1965 einen bemerkenswerten und kritischen Bericht8 vor, der die fachliche und politische Diskussion zu Tierschutzfragen in der Nutztierhaltung grundlegend stimulierte. Das in der Folge eingesetzte ständige beratende Gremium, das „Farm Animal Welfare Advisory Committee“, später „Farm Animal Welfare Council“, entwickelte die Ansätze des „Brambell Reports“ 1979 zu den viel zitierten „Five Freedoms“9 fort, auf die im Folgenden noch eingegangen wird und die mehrmals leicht modifiziert wurden. Im Jahr 1966 wurde dann die „Society for Veterinary Ethology“ gegründet, die sich rasch von einer britischen zu einer internationalen und von einer tiermedizinischen zu einer interdisziplinären Gesellschaft entwickelte. Folgerichtig benannte sie sich 1991 in „International Society for Applied Ethology“ um. Die erste wissenschaftliche Zeitschrift, die sich ganz der angewandten Ethologie widmete, wurde 1974 gegründet und hieß „Applied Animal Ethology“. Sie wurde 1984 in „Applied Ani6
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L. J. Keeling, J. Rushen, I. J. H. Duncan, „Understanding animal welfare“, in: M. C. Appleby, J. A. Mench, I. A. S. Olsson, B. O. Hughes (Hrsg.), Animal Welfare, S. 13-26; U. Knierim, E. A. Pajor, W. T. Jackson, A. Steiger, „Incentives and en forcement“, in: M. C. Appleby, J. A. Mench, I. A. S. Olsson, B. O. Hughes (Hrsg.), Animal Welfare, S. 291-303. R. Harrison, Animal machines: The new factory industry, London 1964. F. W. Brambell (Hrsg.), Report of the Technical Committee to enquire into the welfare of animals kept under intensive livestock husbandry systems, Her Majesty’s Stationary Office, London 1965. Das Brambell Committee hatte zunächst nur folgende Freiheiten gefordert: „An animal should at least have sufficient freedom of movement to be able, without difficulty, to turn around, groom itself, get up, lie down and stretch its limbs.“ (ebd., S. 13)
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mal Behaviour Science“ umbenannt und ist seit vielen Jahren offiziell mit der ISAE assoziiert. Trotz dieser Entwicklungen gab es bis 1990 keine einschlägige Ausbildung; es konnte kein akademischer Abschluss im Bereich der angewandten Ethologie erworben werden. Dies änderte sich durch einen an der Universität Edinburgh von D. G. M. Wood-Gush initiierten Master-Studiengang in „Applied Animal Behaviour and Animal Welfare“. Inzwischen ist das Angebot an spezifischen Studiengängen weltweit deutlich gestiegen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland beförderte die gesellschaftliche Diskussion über Entwicklungen in der Nutztierhaltung, hier vor allem angeregt durch Fernsehbeiträge von Horst Stern und Bernhard Grzimek, das fachwissenschaftliche Interesse. Im Jahr 1968 richtete die Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft eine Fachgruppe Verhaltensforschung ein, die trotz einiger späterer Umbenennungen in „Angewandte Ethologie“, jetzt „Ethologie und Tierhaltung“, bis heute in inhaltlich gleicher Ausrichtung besteht, nämlich mit einem Schwerpunkt auf der Nutztierethologie; die Beschäftigung mit Versuchstieren, Heim- und Begleittieren sowie Zootieren nimmt einen deutlich geringeren Anteil ein. Im Rahmen dieser Fachgruppe initiierte Klaus Zeeb 1969 in Freiburg eine Internationale Tagung Angewandte Ethologie, die ein wichtiges Forum des fachwissenschaftlichen Austausches im vor allem deutschsprachigen Raum war und ist. Der sich in diesem Rahmen entwickelnde Forschungsbereich befand sich immer auch in Kommunikation mit den rechtsetzenden Instanzen und trug Untersuchungs- und Diskussionsergebnisse bei, so zum Beispiel zum 1972 abgeschlossenen Novellierungsprozess des Tierschutzgesetzes von 1933. Neben diesem starken Anwendungsbezug im Bereich des Tierschutzes fällt auf, dass sich die angewandte Ethologie ausgehend von der Tiermedizin durchweg stark multi- oder interdisziplinär entwickelte und dort WissenschaftlerInnen aus den Bereichen Biologie, Agrarwissenschaften (Tierwissenschaften, Agrartechnik), Psychologie, Architektur und auch Philosophie arbeiten. Fragt man nochmals nach der Differenzierung zwischen klassischer und angewandter Ethologie, so sind die Grenzen durchaus nicht immer klar gezogen. Einerseits wird in der klassischen Ethologie ganz überwiegend mit Wildtieren gearbeitet (auch wenn umgekehrt nicht jede Arbeit mit Wildtieren grundlagenorientiert ist). Das ist zwingend und verständlich, wenn evolutionsbiologische Fragen im Fokus stehen. Aber beispielsweise auch die Domestikationsforschung ist der klassischen Ethologie zuzuordnen, auch https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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wenn sie ganz erhebliche Bedeutung für die angewandte Ethologie hat. Andere grundlagenorientierte Forschungsrichtungen, z. B. zur Kognition oder Verhaltenssteuerung werden meist der angewandten Ethologie zugerechnet, wenn sie an domestizierten Tieren durchgeführt werden, und häufig wird als Motivation für diese Forschung nicht allein der Erkenntnisgewinn genannt, sondern auch, dass diese Grundlagen für angewandte Fragestellungen zur Beurteilung des Wohlbefindens oder zur Verbesserung von Haltungsbedingungen liefern kann.10
Terminologie, Konzepte und Methoden in der angewandten Ethologie mit Schwerpunkt Tierwohlforschung Zentrales Anliegen der Tierwohlforschung ist es, das Wohlergehen von Tieren einzuschätzen, Faktoren und Mechanismen seiner Beeinflussung zu ermitteln und Ansätze zu seiner Verbesserung zu erforschen. Voraussetzung dafür ist aber eine Einigung auf gemeinsame Begrifflichkeiten, Konzepte und Methoden. Die Diskussion hierum nimmt einen durchaus breiten Raum ein. Daher ist es auch an dieser Stelle notwendig, zunächst einige Begriffe zu definieren und Konzepte zu erläutern. Im Folgenden wird „Wohlbefinden“ entsprechend dem unmittelbaren Wortsinn allein auf Befindlichkeiten, also psychische Zustände bezogen, wohingegen unter „Wohlergehen“ der Zustand des Tieres sowohl im Hinblick auf psychische als auch auf körperliche Aspekte verstanden wird.11 Die in jüngster Zeit häufiger gebräuchliche Bezeichnung „Tierwohl“, eine direkte Übersetzung von „Animal Welfare“, schlage ich vor, synonym zum Begriff „Wohlergehen“ zu gebrauchen. Als weiterer Begriff wird im deutschsprachigen Raum die „Tiergerechtheit“ verwendet, mit der die Haltungsumwelt der Tiere charakterisiert wird. In Bezugnahme auf 10 Beispielsweise in C. Nawroth, E. von Borell, J. Langbein, „Exclusion performance in dwarf goats (Capra aegagrus hircus) and sheep (Ovis orientalis aries)“, in: PLoS ONE, 9(4)/2014, e93534. doi: 10.1371/journal.pone.0093534. 11 U. Knierim, „Ansätze aus dem EU-Projekt Welfare Quality® zur Beurteilung des Wohlergehens landwirtschaftlicher Nutztiere“, in: Vorträge und Kurzfas sungen: Aktuelle Probleme des Tierschutzes, 30. Fortbildungsveranstaltung der ATF-Fachgruppe Tierschutz des Institutes für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie, Tierärztliche Hochschule, Hannover 2010, S. 7-12.
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die Zielgrößen des deutschen Tierschutzgesetzes12 beschreibt sie, in welchem Maß die zu beurteilenden Umweltbedingungen es den Tieren erlauben, Schmerzen, Leiden und Schäden zu vermeiden sowie ein gutes Wohlbefinden zu sichern.13 Diese Definition soll deutlich machen, dass Tiergerechtheit nur entlang eines Kontinuums von sehr wenig bis sehr tiergerecht abgeschätzt werden kann, ebenso wie das Wohlergehen oder Tierwohl und das Wohlbefinden von sehr niedrig bis sehr hoch ausgeprägt sein können. Darüber hinaus wird nicht nur auf das Vermeiden negativer Zustände (Schmerzen, Leiden, Schäden) abgestellt, sondern die Bedeutung des Ausmaßes von Wohlbefinden wird betont, was eben nicht allein durch die Abwesenheit negativer Zustände konstituiert wird, sondern zusätzlich durch das Erleben positiver Emotionen. Letztere sind kurzfristige, angenehme Empfindungen, die aus derzeitiger wissenschaftlicher Sicht z. B. bei der Ausführung einer ganzen Reihe von arttypischen Verhaltensweisen wie Körperpflege oder Erkundungsverhalten auftreten. Es wird angenommen, dass eine der biologischen Funktionen positiver Emotionen darin besteht, die Ausführung von Verhalten, dass sich eher langfristig auf den Zustand des Tieres auswirkt (wie bei der Fell- oder Gefiederpflege), dadurch zu sichern, dass seine Ausführung selbstbelohnende Effekte hat. Weiterhin gibt es Hinweise darauf, dass die Erwartung angenehmer Ereignisse sowie die erfolgreiche Bewältigung von Herausforderungen Anlässe für positive Emotionen bei unseren Nutztieren sind.14 Insgesamt ist also zu erwarten, dass solche Haltungsbedingungen zum Erleben positiver Emotionen beitragen, die es den Tieren erlauben, aktiv und erfolgreich mit ihnen zu interagieren, die also z. B. dem Tier Wahlmöglichkeiten lassen, und die es ermöglichen, ein möglichst breites Spektrum des arteigenen Verhaltens auszuführen. Aus diesen Ausführungen wird bereits deutlich, dass nach allgemeiner naturwissenschaftlicher Auffassung Informationen über 12 Tierschutzgesetz in der Neufassung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I Nr. 25 vom 31.05.2006 S. 1206), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.07.2014 (BGBl. I S. 1308 vom 04.08.2014). 13 U. Knierim, „Grundsätzliche ethologische Überlegungen zur Beurteilung der Tiergerechtheit bei Nutztieren“, in: Deutsche Tierärztliche Wochenschrift, 109(6)/2002, S. 261-266. 14 A. Boissy, G. Manteuffel, M. B. Jensen, R. O. Moe, B. Spruijt, L. J. Keeling, C. Winckler, B. Forkman, I. Dimitrov, J. Langbein, M. Bakken, I. Veissier, A. Aubert, „Assessment of positive emotions in animals to improve their welfare“, in: Physiology and Behavior, 92(3)/2007, S. 375-397.
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Befindlichkeiten, also psychische Zustände, nicht unmittelbar gewonnen werden können, sondern nur über Indikatoren, das heißt über die mehr oder weniger sichere Ableitung aus Messgrößen des Verhaltens und physiologischer oder anderweitiger körperlicher Vorgänge. Im Gegensatz dazu vertritt Françoise Wemelsfelder15 die Auffassung, dass die Art und Weise, wie sich ein Tier verhält, unmittelbar ausdrückt, was das Tier fühlt. Die Methode der qualitativen Verhaltensbeurteilung baut darauf auf, dass Menschen in der Lage sind, eine große Vielfalt von Details hinsichtlich des Verhaltens und des Kontextes in eine Beschreibung des Köperausdrucks und damit der innewohnenden Gefühle zu integrieren. Eine aktuelle kritische Würdigung dieser Methode hat Christoph Winckler16 vorgenommen. Trotz der grundlegend unterschiedlichen Wissenschaftskonzepte sind die Messgrößen aus der qualitativen Verhaltensbeurteilung ohne weiteres komplementär mit anderen Messgrößen zu verwenden.17 Zum Abschluss der Begriffsdefinitionen sei noch der Begriff „Tierschutz“ erwähnt. Er bezieht sich darauf, was getan wird, um ein bestimmtes Tierwohlniveau zu sichern, z. B. vermittels rechtlicher Bestimmungen oder darüber hinausgehender Standards. Die beiden Begriffe „Tierschutz“ und „Tierwohl“ bezeichnen also kein unterschiedliches Niveau, sondern geben unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen wieder. Wie sich bereits andeutete, umfasst Wohlergehen unterschiedliche Facetten oder Dimensionen, die noch dazu unterschiedlich kategorisiert werden können. So nennt das Deutsche Tierschutzgesetz18 in seinen Zielvorgaben, dass das Leben und Wohlbefinden 15 F. Wemelsfelder, E. A. Hunter, M. T. Mendl, A. B. Lawrence, „Assessing the ‚whole animal‘: a Free-Choice-Profiling approach“, in: Animal Behaviour, 62(2)/2001, S. 209-220. 16 C. Winckler, „Qualitative Verhaltensbeurteilung in der Verhaltensforschung“, in: Aktuelle Arbeiten zur artgemäßen Tierhaltung, KTBL-Schrift 510, KTBL, Darmstadt 2015, S. 13-25. 17 F. Wemelsfelder, U. Knierim, G. De Rosa, F. Napolitano, S. Haslam, „The de velopment of qualitative behaviour assessment as an on-farm welfare inspection tool“, in: Proceedings 4th International Workshop on the Assessment of Animal Welfare at Farm or Group Level. Ghent, Belgium, 10.-13. September 2008, S. 52; Welfare Quality® consortium, Welfare Quality® assessment protocol for cattle, Lelystad, The Netherlands 2009. 18 Tierschutzgesetz in der Neufassung vom 18. Mai 2006 (BGBl. I Nr. 25 vom 31.5. 2006 S. 1206), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.07.2014 (BGBl. I S. 1308 vom 04.08.2014).
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von Tieren geschützt und ihnen ohne vernünftigen Grund keine Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden soll. Es werden also psychische Aspekte, untergliedert in das Ausmaß von Schmerzen, Leiden und Wohlbefinden, sowie körperliche Aspekte (Ausmaß von Schäden) genannt. In der englischsprachigen Diskussion wird häufig Bezug genommen auf den Vorschlag von Fraser et al.,19 nach denen die Diskussion um „Animal Welfare“ die Sorge („concerns“) um Gefühle („feelings“), körperlichen Zustand („physical condition“) und Natürlichkeit („naturalness“) umfasst. Andere Vorschläge der Kategorisierung stellen beispielsweise die bereits erwähnten „Five Freedoms“20 dar. Als Kriterien des Wohlergehens werden hier das Ausmaß der Freiheit (1) von Hunger und Durst, (2) von haltungsbedingten Beeinträchtigungen (z. B. bzgl. Liegekomfort oder Schutz), (3) von Schmerzen, Verletzungen oder Krankheiten, (4) Normalverhalten ausführen zu können sowie (5) von Furcht und Leiden versammelt. In einer neueren operationalen Liste, die im Rahmen eines größeren EU-Projektes unter Beteiligung von Sozial- und NutztierwissenschaftlerInnen entwickelt worden ist, werden beispielsweise vier „principles“, nämlich (1) gute Ernährung, (2) gute Haltung, (3) gute Gesundheit sowie (4) angemessenes Verhalten genannt, die sich nochmals in zwölf Kriterien untergliedern.21 Letztlich sind dies alles lediglich Versuche sicherzustellen, dass keine wichtigen Aspekte des vieldimensionalen Wohlergehens vernachlässigt werden. Mit der Multidimensionalität von Wohlergehen ist im Übrigen auch zu erklären, warum es unterschiedliche Definitionen zu den bisher genannten Begriffen gibt, die sich aber nicht notwendigerweise widersprechen, sondern das Definiendum eben aus unterschiedlichen Blickwinkeln angehen. Inhaltlich besteht somit kein grundsätzlicher Dissens zwischen den unterschiedlichen Kategorisierungsansätzen; sie ergeben allerdings etwas andere Akzentuierungen und Schwerpunktsetzungen. Drei Einschränkungen dieser Aussage sind jedoch zu nennen. Sie betreffen die Akzeptanz von Natürlichkeit als Aspekt des Wohl19 D. Fraser, D. M. Weary, E. A. Pajor, B. N. Milligan, „A scientific conception of ani mal welfare that reflects ethical concerns“, in: Animal Welfare, 6/1997, S. 187205. 20 FAWC, Farm animal welfare in Great Britain: past, present and future, 2009. (https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/ file/319292/Farm_Animal_Welfare_in_Great_Britain_-_Past_-_Present_and_ Future.pdf), zuletzt abgerufen am 29.11.2015. 21 Welfare Quality® consortium, Welfare Quality® assessment protocol for cattle.
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ergehens, die Bedeutung physischer Aspekte für das Tierwohl und die Gewichtung der unterschiedlichen Dimensionen des Tierwohls. Diesen drei Diskussionspunkten will ich im Folgenden etwas Raum geben. Während auf das Kriterienbündel „Natürlichkeit“ als Aspekt des Wohlergehens häufig in der öffentlichen Diskussion oder im philosophischen Diskurs im Sinne von „Telos“ Bezug genommen wird,22 stehen ihm viele angewandte EthologInnen eher kritisch gegenüber. Meist beziehen sie sich nur auf zwei Kategorien: Verhalten und Gesundheit.23 Dennoch spielt das Konzept der Natürlichkeit teils implizit, teils explizit eine Rolle, wenn die Qualität, das Ausmaß oder die raum-zeitliche Einordnung von Verhalten als Indikator für die Befindlichkeit von Tieren verwendet werden. Eine zentrale Bedeutung hat dabei das Konstrukt des so genannten Normalverhaltens oder natürlichen Verhaltens (siehe auch die „Five Freedoms“ oder das Brambell Committee24). Darunter kann das Verhalten verstanden werden, das von der Mehrzahl der im Fokus stehenden (in der Regel domestizierten) Tiere in einem Lebensraum und unter Bedingungen gezeigt wird, die dem Habitat und den Umweltbedingungen der Wildtiervorfahren möglichst ähnlich sind.25 Dieses Konstrukt ist allerdings problematisch, weil der ganz überwiegende Teil von Verhalten sehr flexibel ist, in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen, aber auch von individuellen Erfahrungen und Prädispositionen der Tiere.26 Tiere können sich innerhalb eines Lebens erfolgreich an geänderte Umweltbedingungen anpassen. Auch kann sich ein und dieselbe Wildtierart in verschiedenartigen Lebensräumen in bestimmten Aspekten ihres Normalverhaltens, wie der Nahrungswahl oder der sozialen Organisation sehr weitge22 M. Hauskeller, „Telos: The revival of an Aristotelian concept in present day ethics“, in: Inquiry, 48(1)/2005, S. 62-75. 23 Vgl. etwa M. S. Dawkins, „Using behaviour to assess animal welfare“, in: Animal Welfare, 13/2004, S. 3-7; KTBL, Nationaler Bewertungsrahmen Tier haltungsverfahren, KTBL-Schrift 446, Darmstadt 2006. 24 F. W. Brambell (Hrsg.), Report of the Technical Committee, S. 13: „In principle, we disapprove of a degree of confinement of an animal which necessarily frus trates most of the major activities which make up its natural behaviour.“ 25 Vgl. z. B. A. Stolba, D. G. M. Wood-Gush, „The behaviour of pigs in a seminatural environment“, in: Animal Production, 48/1989, S. 419-425; R. J. Kilgour, „In pursuit of ‚normal‘: A review of the behaviour of cattle at pasture“, in: Applied Animal Behaviour Science, 138(1-2)/2012, S. 1-11. 26 M. Spinka, „How important is natural behaviour in animal farming systems?“, in: Applied Animal Behaviour Science, 100(1-2)/2006, S. 117-128.
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hend unterscheiden, so z. B. bei Löwen in einem ressourcenreichen Lebensraum wie der Serengeti im Vergleich zu einem harschen Lebensraum wie der Kalahari.27 Bei domestizierten Tieren kommt die Problematik hinzu, dass zuchtbedingte körperliche Änderungen der Tiere Auswirkungen auf das Verhalten haben können, ohne dass offensichtlich ist, ob sich auch die Verhaltenssteuerung der Tiere entsprechend geändert hat. So sind Masthühner, die auf besonders schnelles Wachstum und eine breite Brust selektiert wurden, auch in einer naturnahen Umgebung sehr inaktiv.28 Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass das nicht allein an einer möglicherweise geringeren Motivation zur Bewegung liegt, sondern dass auch die körperliche Belastung durch das hohe Gewicht,29 die veränderte Körperform30 sowie möglicherweise Schmerzen31 dazu beitragen. Gründet also das „Normalverhalten“ von Masthühnern in naturnaher Umgebung auf genetisch veränderten Motivationslagen oder erleben die Tiere Konflikte zwischen Bedürfnissen und körperlichen Möglichkeiten oder gar Schmerzen? Ein weiterer kritischer Punkt bezieht sich auf einzelne Anteile des Normalverhaltens, bei deren Nicht-Ausführung keinerlei negative Effekte für die Tiere entstehen. So wird beispielsweise Fluchtverhalten vor Beutegreifern durch deren Erscheinen ausgelöst; es gibt aber keine überzeugenden Hinweise darauf, dass Tiere unabhängig von äußeren Reizen das Bedürfnis entwickeln, Fluchtverhalten auszuführen. Umgekehrt kann die Ausführung von natürlichem Fluchtverhalten unter ungeeigneten Umweltbedingungen sehr negative Auswirkungen haben, wie beispielweise hohe Todesraten bei Hühnern, die im Stall in Panik geraten und sich gegen27 M. Owens, D. Owens, Cry of the Kalahari, Glasgow 1984. 28 U. Knierim, „The behaviour of broiler chickens kept under free-range conditions with foster hens“, in: Proceedings 34th International Congress of the ISAE, 17.–20.10.2000, Florianópolis, Brasilien, S. 59. 29 M. Rutten, C. Leterrier, P. Constantin, K. Reiter, W. Bessei, „Bone development and activity in chickens in response to reduced weight-load on legs“, in: Animal Research, 51(4)/2002, S. 327-336. 30 G. Caplen, B. Hothersall, J. C. Murrell, C. J. Nicol, A. E. Waterman-Pearson, C. A. Weeks, G. R. Colborne, „Kinematic analysis quantifies gait abnormalities as sociated with lameness in broiler chickens and identifies evolutionary gait differ ences“, in: PLoS ONE 7(7)/2012, e40800. doi:10.1371/journal.pone.0040800. 31 G. Caplen, G. R. Colborne, B. Hothersall, C. J. Nicol, A. E. Waterman-Pearson, C. A. Weeks, J. C. Murrell, „Lame broiler chickens respond to non-steroidal antiinflammatory drugs with objective changes in gait function: A controlled clinical trial“, in: The Veterinary Journal, 196(3)/2013, S. 477-482.
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seitig erdrücken und ersticken können.32 Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass Wildtiere unter natürlichen Bedingungen immer ein hohes Wohlergehen aufweisen; im Gegenteil stirbt eine große Zahl von Wildtieren aufgrund von Hunger, Erkrankungen oder Verletzungen, erleidet also starke Beeinträchtigungen des Wohlergehens.33 Manche Verhaltensweisen sind zwar aufgrund ihrer positiven Fitnesseffekte Teil des natürlichen Verhaltensrepertoires, können aber gleichzeitig das Wohlergehen des ausführenden Tieres oder von Artgenossen erheblich beeinträchtigen. Das gilt beispielsweise für den bei manchen Tierarten vorkommenden Infantizid34 oder ausgeprägte Kämpfe um Fortpflanzungspartner.35 Trotz dieser berechtigten Einwände wird für eine Interpretation von Verhalten in Bezug auf das Wohlbefinden des ausführenden Tieres eine Referenz gebraucht, anhand derer das beobachtete Verhalten eingeordnet werden kann. Und trotz der genannten Einzelbeispiele besteht unter angewandten EthologInnen weitgehende Übereinstimmung darin, dass bei der Mehrheit des natürlichen Verhaltensrepertoires davon ausgegangen werden kann, dass die Unmöglichkeit oder Einschränkung der Verhaltensausführung das Risiko für kurz- oder langfristige psychische oder physische Beeinträchtigungen stark erhöht.36 Dies gilt vor allem für solche Verhaltensweisen, für die im Zusammenspiel zwischen internen und externen Faktoren ein starkes Bedürfnis entsteht. Auf der anderen Seite gibt es natürliche Verhaltensweisen wie insbesondere Spielverhalten, aber auch zum Teil Körperpflegeverhalten, die nur dann gezeigt werden, wenn alle anderen Bedürfnisse befriedigt sind. Deren Ausführung zeigt somit an, dass die wichtigsten anderen Bedürfnisse befriedigt sind; sie ruft aber außerdem, wie oben bereits ausgeführt, höchst wahrscheinlich positive Emotionen hervor. Die genannten kritischen Punkte zeigen beispielhaft, dass die Interpretation des Verhaltens keine simple Angelegenheit ist. Sie 32 L. J. Keeling, J. Rushen, I. J. H. Duncan, „Understanding animal welfare“, S. 1326. 33 Vgl. etwa D. Von Holst, „Social stress in wild mammals in their natural habitat“, in: D. M. Broom (Hrsg.), Coping with challenge: Welfare in Animals including Humans, Berlin 2001, S. 317-335. 34 M. Hiraiwa-Hasegawa, „Adaptive significance of infanticide in primates“, in: Trends in Ecology & Evolution, 3/1988, S. 102-105. 35 M. S. Dawkins, „Evolution and animal welfare“, in: The Quarterly Review of Biology, 73(3)/1998, S. 305-328. 36 M. Spinka, „How important is natural behaviour in animal farming systems?“
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unterstreichen vor allem, dass häufig nicht allein von einer Abweichung im Verhalten auf die Bedeutung für das Erleben des Tieres geschlossen werden kann. Es müssen weitere Informationen über die Verhaltenssteuerung hinzukommen, beispielsweise aus Motivationsexperimenten,37 sowie über kurz- und langfristige Folgen der Abweichung für das Tier oder seine Artgenossen auf körperlicher, physiologischer oder Verhaltensebene. Mit anderen Worten muss die Validität der Verhaltensmessgrößen in Bezug auf deren Tierwohlbedeutung im Einzelnen nachgewiesen werden. Dabei kann zwischen der Augenschein-, Kriteriums- und Konstruktvalidität unterschieden werden.38 Während bei der Augenscheinvalidität nur eine Übereinstimmung zwischen Fachexperten aufgrund logischer Ableitungen vonnöten ist, wird bei der Kriteriumsvalidität überprüft, ob ähnliche Messgrößen auch zu ähnlichen Aussagen über das Befinden der Tiere führen. In der „Königsklasse“, nämlich der Konstruktvalidierung, wird nachgewiesen, dass ein postulierter Zusammenhang sich tatsächlich mit dem in Frage stehenden Indikator in der postulierten Richtung nachweisen lässt. So kann beispielsweise in pharmakologischen Experimenten die Befindlichkeit des Tieres gezielt verändert und überprüft werden, ob sich diese Veränderung im untersuchten Verhaltensindikator widerspiegelt. So wurden bei Milchkühen und Masthühnern Abweichungen im Fortbewegungsverhalten daraufhin untersucht, ob Schmerzmittelgaben dieses Fortbewegungsverhalten verändern. Auf diese Weise wurde die Interpretation, dass dieses Verhalten schmerzanzeigend ist, untermauert.39 Andere Validierungsversuche bedienen sich beispielsweise angsthemmender (anxiolytischer) Medikamente.40 37 D. Fraser, C. J. Nicol, „Preference and motivation research“, in: M. C. Appleby, J. A. Mench, I. A. S. Olsson, B. O. Hughes (Hrsg.), Animal Welfare, S. 183-199. 38 E. M. Scott, A. M. Nolan, J. L. Fitzpatrick, „Conceptual and methodological issues related to welfare assessment: A framework for measurement“, in: Acta Agriculturae Scandinavica Section A Animal Science, Supplementum 30/2001, S. 5-10. 39 J. Rushen, E. Pombourcq, A. M. de Passillé, „Validation of two measures of lameness in dairy cows“, in: Applied Animal Behaviour Science, 106(1-3)/2007, S. 173-177; G. Caplen, G. R. Colborne, B. Hothersall, C. J. Nicol, A. E. WatermanPearson, C. A. Weeks, J. C. Murrell, „Lame broiler chickens respond to nonsteroidal anti-inflammatory drugs with objective changes in gait function“. 40 E. Murphy, R. E. Nordquist, F. J. van der Staaya, „A review of behavioural meth ods to study emotion and mood in pigs, Sus scrofa“, in: Applied Animal Behav iour Science, 159/2014, S. 9-28.
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Auf einen weiteren Aspekt der Validität, der aus Systematisierungsgründen meist unter dem Stichwort „Reliabilität“ separat behandelt wird, nämlich die Frage, ob die Verhaltensmessgrößen überhaupt zuverlässig erhoben werden können, soll im vorliegenden Rahmen nicht eingegangen werden. Detaillierte Überlegungen dazu wurden von der Autorin bereits andernorts vorgelegt.41 Aus den bisherigen Ausführungen zur notwendigen Validierung von Verhaltensmessgrößen und zur Multidimensionalität von Wohlergehen folgt, dass Wohlergehen nicht aufgrund eines Indikators allein eingeschätzt werden kann, sondern dass je nach Fragestellung stets eine Vielzahl von Messgrößen angewendet werden sollte.42 Während Übereinstimmung darin besteht, dass diese Messgrößen in der Regel aus den Bereichen „Verhalten“ und „Gesundheit“ stammen sollten, gibt es doch zwei unterschiedliche Strömungen in der Tierwohlforschung: Die eine Gruppe zieht physische Aspekte nur als Hilfsmittel heran, um auf psychische Vorgänge zu schließen, da die Anhänger dieses Ansatzes davon ausgehen, dass für das Tierwohl nur relevant ist, was das Tier tatsächlich fühlt.43 Die andere Gruppe hingegen hält auch den körperlichen Zustand für tierwohlrelevant, unabhängig vom Erleben des Tieres.44 Letztlich führen diese grundsätzlich unterschiedlichen theoretischen Konzepte zu nur wenig Differenzen in der praktischen Beurteilung des Tierwohls, da es nur wenige Beispiele gibt, in denen physische Einschränkungen nicht früher oder später auch mit Einschränkungen des Wohlbefindens einhergehen. Allerdings treten die Differenzen beispielsweise bei der Einschätzung der Tierwohlrelevanz des Todes zu Tage. Während bei alleiniger Berücksichtigung von Gefühlen ein plötzlicher Tod ohne Schmerzen und Leiden als nicht relevant für das Tierwohl betrachtet wird, wird im anderen Fall der 41 U. Knierim, „Qualitätssicherung bei ethologischen Untersuchungen – der As pekt der Reliabilität“, in: Aktuelle Arbeiten zur artgemäßen Tierhaltung, KTBLSchrift 503, KTBL, Darmstadt 2013, S. 97-105. 42 D. Fraser, „Science, values and animal welfare: exploring the ‚inextricable con nection‘“, in: Animal Welfare, 4(2)/1995, S. 103-117; U. Knierim, C. S. Carter, D. Fraser, K. Gärtner, S. K. Lutgendorf, S. Mineka, J. Panksepp, N. Sachser, N., „Good Welfare: Improving Quality of Life“, in: D. M. Broom (Hrsg.), Coping with Challenge: Welfare in Animals including Humans, Berlin 2001, S. 79-100. 43 Beispielsweise I. J. H. Duncan, „Animal welfare defined in terms of feelings“, in: Acta Agriculturae Scandinavica Section A Animal Science, 27/1996, S. 29-35. 44 Beispielsweise D. M. Broom, „Animal welfare defined in terms of attempts to cope with the environment“, in: Acta Agriculturae Scandinavica Section A Animal Science, 27/1996, S. 22-28.
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Tod als der größtmögliche Schaden für das Tier bewertet.45 Auch das Fehlen von Körperteilen (z. B. von Hörnern oder dem Schwanz) wird aus erstgenannter Sicht nur bei damit verbundenen Verhaltens einschränkungen, Schmerzen oder Leiden als relevant angesehen, während vom zweiten Standpunkt aus die Integrität46 des Tieres einen relevanten Aspekt darstellt. Wir befinden uns hier bereits am Übergang zum dritten Diskussionspunkt, nämlich der Frage, wie die unterschiedlichen Dimensionen oder Messgrößen des Tierwohls zu gewichten sind. Tatsächlich bestehen diesbezüglich die größten Differenzen in der Tierwohlforschung.47 Das liegt daran, dass für die Abwägung der Wichtigkeit der einzelnen Dimensionen oder Messgrößen für das Wohlergehen nur begrenzt wissenschaftliche Grundlagen vorliegen und auch nicht erwartet werden kann, dass diese Frage jemals naturwissenschaftlich abschließend beantwortet werden kann. Häufig wird empfohlen, in Abwesenheit einer solchen Grundlage den verschiedenen Dimensionen gleiches Gewicht zuzumessen.48 Eine andere Vorgehensweise besteht darin, auf der Grundlage der Befragung einer größeren Zahl von Experten, die mehrheitliche Expertenmeinung mathematisch abzubilden und zur Bewertung und Gewichtung der verschiedenen Messgrößen heranzuziehen.49 Auch die Entscheidung darüber, welches Niveau von Wohlergehen überhaupt angestrebt werden sollte, bzw. welche Beeinträchtigungen als nicht mehr akzeptabel eingestuft werden, kann auf naturwissenschaftlicher Basis allein nicht getroffen werden. Dies erfolgt in einem Abwägungsprozess unter Berücksichtigung der verschiedenen menschlichen Interessen, z. B. in den Bereichen Ökonomie, Gesundheits-, Arbeits- oder Umweltschutz, in einem gesellschaftlichen Diskussionsprozess, der zu rechtlichen Vorgaben, spezifischen Marktangeboten oder persönlichen Entscheidungen führt. 45 H. Hackbarth, A. Lückert, Tierschutzrecht, München 2000, S. 31. 46 Das Konzept der Integrität (vgl. z. B. P. Kunzmann, K. Schmidt, „Philosophische Tierethik“, in: H. Grimm, C. Otterstedt (Hrsg.), Das Tier an sich: Disziplinen übergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tier schutz, Göttingen 2012, S. 37-60) hat wiederum enge Berührungspunkte mit dem bereits erwähnten Konzept des „Telos“. 47 D. Fraser, „Assessing animal welfare at the farm and group level: the interplay of science and values“, in: Animal Welfare, 12(4)/2003, S. 433-443. 48 KTBL, Nationaler Bewertungsrahmen Tierhaltungsverfahren, KTBL-Schrift 446, Darmstadt 2006. 49 R. Botreau, I. Veissier, P. Perny, „Overall assessment of animal welfare: strategy adopted in Welfare Quality®“, in: Animal Welfare, 18(4)/2009, S. 363-370.
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Resümee Nach einer Verortung der angewandten Ethologie hinsichtlich ihres Verhältnisses zur klassischen Ethologie oder Verhaltensbiologie und hinsichtlich ihrer Forschungsfelder, gebe ich in diesem Beitrag einen kurzen historischen Abriss zur Entwicklung der angewandten Ethologie mit Schwerpunkt Tierwohlforschung seit den 1960er Jahren. Sie entwickelte sich in Übereinstimmung mit einem steigenden gesellschaftlichen Interesse an Tierschutzfragen vornehmlich aus der tiermedizinischen Profession heraus, wurde aber rasch multioder interdisziplinär. Schwerpunktmäßig widme ich mich sodann der Definition wichtiger Begriffe und der Diskussion zentraler Konzepte der Tierwohlforschung. Ich begründe die Fülle unterschiedlicher Herangehensweisen an die Erforschung und Beurteilung von Wohlergehen mit seiner Multidimensionalität. Ich erläutere einige Herausforderungen sowohl hinsichtlich der Interpretation von Verhalten in Bezug auf die Befindlichkeit der Tiere als auch hinsichtlich der möglichen Gewichtung unterschiedlicher Tierwohldimensionen oder -indikatoren in ihrer Bedeutung für das Wohlergehen. Berührt werden dabei Aspekte wie Normalverhalten, Bewertung von Natürlichkeit und Integrität oder Validierung von Messgrößen.
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Die Rede von den Bedürfnissen von Tieren Ihre tierethische Relevanz und ihre Bedeutung für den Tierschutz
„Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, 1. muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen“, so heißt es im deutschen Tierschutzgesetz (§ 2) an kardinaler Position. Dass wir im Kontext von Tierschutz über „Bedürfnisse“ sprechen, ist Zeichen und Ergebnis eines wichtigen Paradigmenwechsels: Wir erkennen damit an, dass wir Tieren eine subjektive Innenwelt zusprechen. (Genauer genommen müssten wir sagen: Dass wir bestimmten Tieren eine subjektive Innenwelt zusprechen; s. u.). Wir erkennen damit außerdem an, dass diese inneren Zustände für uns moralische Relevanz haben. Dass es gar nicht so leicht ist, sich von diesem „Fremdpsychischen“ ein adäquates Bild zu machen, ist für das ethische Anliegen erstaunlicherweise nicht ausschlaggebend. Wir müssen nämlich nicht wirklich mitvollziehen oder nachvollziehen, was oder wie ein Tier „fühlt“, wenn es hungert oder wenn es „Angst hat“. Wichtig ist, richtig einzuschätzen, was für das Tier „wichtig“ ist, was die entsprechenden Zustände für das Tier bedeuten. Darauf liegt ethisch der Akzent: Das Tier um seiner selbst willen vor „misslichen“ Zuständen zu bewahren. An dieser Stelle wird das Anliegen des Tierschutzes moralisch aufgeladen und begründet. Da Tiere in menschlicher Obhut in ihrer Bedürfnisbefriedigung ganz von uns abhängen, ist es von zentraler Bedeutung, ihre Bedürfnisse gut zu kennen und sie adäquat zu bedienen. Dabei waren große Schritte nötig, hier überhaupt von Bedürfnissen zu sprechen und ihnen diese kardinale Bedeutung im Tierschutz zuzuschreiben.
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1. Bedürfnisse? Von Tieren? Bevor wir uns um die ethische Relevanz der Bedürfnisse von Tieren kümmern, muss zunächst die Frage gestellt werden, ob Tiere überhaupt Bedürfnisse haben. Aber: Ist das nicht eine sonderbare Frage? Willa Bohnet stellt sie und fügt hinzu: „Zugegeben eine provokative Frage. Jeder Mensch, der selbst Haustiere hält oder sich mit diesen regelmäßig beschäftigt, wird die Frage mit einem klaren Ja beantworten.“1 Bemerkenswert daran ist die Selbstverständlichkeit, mit der Bohnet diese Frage bejaht, und sie damit, wie ich vermute, so beantwortet, wie sie wohl auch die weit überwiegende Mehrzahl unserer Zeitgenossen im mitteleuropäischen Raum beantworten würde. Dies gilt sogar, wenn im vollen Sinne von „Bedürfnissen“ die Rede ist. „Nach Bergius (1994) ist unter einem Bedürfnis einerseits der Zustand eines Mangels an Stoffen und Reizen, die ein Lebewesen nötig zu seiner Entfaltung und Erhaltung benötigt, zum anderen aber auch das Gefühl, das mit dem Erleben des Mangels und mit dem Streben nach der Beseitigung dieses Mangels (Bedürfnisbefriedigung) verbunden ist, zu verstehen“.2 Damit ist eingeschlossen, was das Bedürfnis über den Bedarf hinaus ausmacht, nämlich eine subjektive Innenseite, ein subjektives Korrelat eines körperlichen Zustands von Mangel. „Dies bedeutet“, nochmals mit Bohnet, „dass bei der Beurteilung der Bedürfnisse unserer Haustiere auch die Gefühle des individuellen Tieres berücksichtigt werden müssen.“3 Gerade hier endet die Selbstverständlichkeit, mit der wir bei Tieren von „Bedürfnissen“ sprechen können, denn es war dem christlichen Abendland und seiner philosophischen Tradition nicht in die Wiege gelegt, diese subjektive Innenseite bei anderen Wesen als bei Menschen wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Viele verschiedene Einflüsse wirken zusammen, dass sich dies geändert hat: Auf wissenschaftlicher Seite prominent ist natürlich die Wirkung von
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W. Bohnet, „Die Bedürfnisse der Tiere in der Mensch-Tier-Beziehung“, in: C. Otterstedt, M. Rosenberger (Hrsg.), Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 26-48, hier S. 27. Ebd. Ebd., S. 29.
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Kognitionsforschung4 und Evolutionstheorie bzw. das damit postulierte „Darwin’sche Kontinuum“ zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen.5 Gefühl, Erleben, Streben: Das alles sind Vokabeln, die der Beschreibung bzw. der Selbstbeschreibung von Menschen entstammen. Es ist nun gerade nicht selbstverständlich, dieses Vokabular, diese Begrifflichkeit auch zur Beschreibung des Zustandes von Tieren heranzuziehen. Zumindest gilt es zu berücksichtigen, dass solche Versuche bisher den Verdacht heraufbeschworen, anthropomorphe Fehldeutungen von Tieren durch Menschen zu sein. Eine mögliche Erklärung, warum dies heute leichter von der Hand bzw. der Feder geht, liegt in einer sozialen Veränderung: Lebensweltlich rücken Tiere mittlerweile regelmäßig in soziale Positionen, die für sie in unserer Geschichte untypisch waren, und die wesentlich durch die emotionale Zuwendung des Menschen bestimmt werden – nicht notwendig zum Wohl der Tiere, aber häufig getragen von der Vorstellung, das Tier sei zu einem ebensolchen emotionalen Erleben fähig wie Herrchen oder Frauchen. Der „wissenschaftliche Tierschutz“ notiert dagegen, wie oft und wie konsequent gerade Tiere in unmittelbarer häuslicher Nähe zum Menschen drastisch an ihrer Bedürfnis-Struktur vorbei gehalten werden. Dessen ungeachtet wird man mutmaßen dürfen, dass die erlebte Nähe der companion animals wichtige Impulse für die Änderung unserer Plausibilitätsstrukturen mit sich brachten: Die intime Nähe zu Tieren und ihre Rolle als Quasi-Familienmitglieder machen es für Menschen sehr viel plausibler, eine Gleichheit oder eine „Ähnlichkeit“ in der Konstellation von Bedürfnis, Bedürfnisbefriedigung und Freude bzw. Frustration und Leiden anzunehmen. Allerdings liegen Schatten von Cartesianismus über den Debatten: Während den Säugetieren wohl (auch wegen der einschlägigen fachwissenschaftlichen Befunde) heute kaum mehr die kognitiven Fähigkeiten abgesprochen werden, die die Voraussetzung von Bedürfnissen im oben genannten Sinne darstellen, verläuft die Bruchlinie in der aktuellen Diskussion bei den Fischen. „Fishes are neurologically equipped for unconscious nociception and emotional res4 5
Vgl. J. Benz-Schwarzburg, Verwandte im Geiste, Fremde im Recht, Erlangen 2012, bes. Kap. 14. Vgl. K. Kotrschal, „Argumente für einen wissens- und empathiegestützten Tier schutz: Biologie, Soziales und Kognition“, in: H. Grimm, C. Otterstedt (Hrsg.), Das Tier an sich, Göttingen 2012, S. 135-171.
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ponses, but not conscious pain and feelings“, heißt es bei Rose et al.6 und einer der Mitautoren, R. Arlinghaus, kommentiert die Studie im Netz: „These findings suggest that fish either have absolutely no awareness of pain in human terms or they react completely different to pain. By and large, it is absolutely not advisable to interpret the behaviour of fish from a human perspective.“7 Das Cartesianische an dieser Debatte um die Fähigkeiten von Fischen ist nicht das Absprechen von Emotionen, sondern die Vorstellung von „not conscious pain and feelings“, also einer Art unbewusster Empfindung. „Unconscious nociception“, also eine Verarbeitung von (negativen) Reizen wäre verständlich und würde auch gut in die oft kolportierte Automaten-Theorie des Tieres passen. Die Degradierung des Tieres zum empfindungslosen Materieklotz geht aber nicht nahtlos auf Descartes zurück, der zwar den Tieren ein „Denken“ abspricht, aber betont: „Doch ich will noch anmerken, dass ich hier vom Denken spreche, aber weder von Leben noch von Empfindung. Das Leben […] habe ich keinem Tier abgesprochen; und eine Empfindung bestreite ich den Tieren auch nicht.“8 Darf man es also „cartesianisch“ nennen, wenn man heute manchen Tieren (wie den Fischen) zwar Empfindung zuschreibt, aber eben kein Bewusstsein für diese Empfindung oder keine Bewusstheit dieser Empfindung? Was soll es denn heißen, Tieren „emotional responses“ zuzutrauen, aber eben „not conscious pain and feelings“? Was sind denn überhaupt „not conscious feelings“? Wie anders als bewusst kann ein Fisch denn Schmerzen oder Gefühle erleben? Oder soll „conscious“, wie das Descartes wohl gedacht hat, bedeuten, dass das Subjekt auch urteilsförmig weiß, dass es Schmerzen empfindet? Dann ist nicht ausgeschlossen, dass Fische in diesem Sinne nicht „bewusst“ Schmerzen erleben; aber es ist moralisch nicht relevant. Um den ethischen Gedanken herauszustreichen: Das Widerständige, Widerwärtige im negativen Erleben ist das moralisch Relevante, nicht eigentlich sein Grad an Bewusstheit. In dem Maße, in dem Tiere unter „negativen Zuständen“ leiden, ist dies moral-relevant,
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J. D. Rose, R. Arlinghaus, S. J. Cooke, B. K. Diggles, W. Sawynok, E. D. Stevens, C. D. L. Wynne, „Can fish really feel pain?“, in: Fish and Fisheries, 15(1)/2014, S. 97-133 (doi: 10.1111/faf.12010). R. Arlinghaus, „Do fish feel pain?“, (http://www.fv-berlin.de/news/do-fish-feelpain?set_language=en), zuletzt abgerufen am 02.01.2016. Zitiert nach H.-P. Schütt, Die Vernunft der Tiere, Frankfurt a. M. 1990, S. 108.
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sofern ihnen diese Zustände von Menschen auferlegt (oder pflichtwidrig nicht beseitigt) werden.
2. Die Frage nach dem Fremdpsychischen Dürfen wir umgekehrt unterstellen, was immer wieder gerne von K. Lorenz zitiert wird (z. B. bei Bohnet): „Ein Mensch, der ein höheres Säugetier […] wirklich genau kennt und nicht davon überzeugt wird, dass dieses Wesen Ähnliches erlebt wie er selbst, ist psychisch abnorm und gehört in die psychiatrische Klinik, da eine Schwäche der Du-Evidenz ihn zu einem gemeingefährlichen Monstrum macht.“9 Auch dem Autor dieser Zeilen wurde in einer Diskussion schon der Aufenthalt in der Psychiatrie nahegelegt, unter Berufung auf dieses Zitat. Wie viele andere von K. Lorenz flott und knackig und unbedacht in die Welt gesetzte Zitate führt es ein Eigenleben, unabhängig von jeder Skepsis an seinem Gehalt. Der Grund: Der Autor weigerte – und weigert sich noch – alle Bedenken gegen eine allzu rasche Unterstellung von Ähnlichkeit zwischen Menschen und Tieren über Bord zu werfen. Denn vielleicht gehörte K. Lorenz heute nicht in die Psychiatrie, aber in ein philosophisches Seminar, wo er lernen könnte, dass die Du-Evidenz nicht so evident ist, wie er meint. Philosophen, die Zweifel an dieser Evidenz hegen, sind keine gemeingefährlichen Psychopathen. Sie stellen nur fest: Ganz so einfach können wir uns wohl doch nicht in Andere einfühlen, denn schon zwischen Menschen ist das Psychische und Fremdpsychische ein echtes Problem, wie die opulente philosophische Literatur vor allem aus der analytischen Tradition nahelegt, prominent etwa Gilbert Ryles Werk The Concept of Mind.10 Wittgensteins Diktum aus den Philosophischen Untersuchungen: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“,11 zielt zunächst auf die Verhältnisse 9 Bohnet, „Bedürfnisse der Tiere“, S. 33. Das Zitat stammt aus K. Lorenz, „‚Tiere sind Gefühlsmenschen‘. Konrad Lorenz über Triebstau und moderne Massen tierhaltung“, in: Der Spiegel, 47/1980, S. 251-264, hier S. 254. 10 G. Ryle, The Concept of Mind, London 1949. 11 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), in: L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersu chungen (= Werkausgabe Bd. 1), Frankfurt a. M. 1984, Teil II, S. 568.
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unter Menschen ab. Aber es gilt a fortiori natürlich auch für unser Verständnis von Löwen: Wissen wir wirklich, wie es sich für einen Löwen anfühlt, zu hungern? Oder wie es sich für ihn anfühlt, in eine Antilope zu beißen? Und wie es sich für die Antilope anfühlt, vom Löwen gepackt zu werden? So absurd es Lorenz erschien, Ähnlichkeiten zu leugnen, so absurd erschien es Wittgenstein und vielen seiner Interpreten, einfach anzunehmen, „in“ einem anderen Bewusstsein müsste sich grosso modo das Gleiche abspielen wie „in“ meinem eigenen. Hier prallen die Theorien und die Tierbilder aufeinander, wobei es wiederum eine große Rolle spielt, welche Bedeutung für unser Bewusstsein man der Sprache beimisst, die uns mutmaßlich von den Tieren unterscheidet.12 Wenn wir also von Bedürfnissen im Vollsinne sprechen, müssen wir auch über Gefühle sprechen; das stellt uns vor große erkenntnistheoretische und sprachliche Probleme, die hier nicht zu diskutieren sind. Sie kehren aber wieder in den Diskussionen um die Relevanz von „Bedürfnissen“ im Kontext des Tierschutzes. Wenn wir Bedürfnisse und damit den subjektiven Status von Tieren ernst nehmen, müssen wir auch ausweisen, wie wir diesen denn überhaupt erfassen wollen. Der viel zitierte Analogieschluss ist aus philosophischer Sicht gerade nicht so direkt und verlässlich, wie wir ihn – gerade im Tierschutz – gerne hätten. Er „stützt sich auf die starke stammesgeschichtliche Verwandtschaft von Mensch und Wirbeltier […] in der Physiologie einschließlich dem zentralen Nervensystem. Negative Empfindungen der Tiere bei Schmerzen, Leiden, Angst oder Hunger, sind in ähnlicher Weise wie bei Menschen erkennbar. Der Analogieschluss besagt, dass es über die Artgrenze hinweg möglich ist, Empfindungen von Tieren zu erkennen“.13 Letzteres ist aus guten Gründen bestreitbar; zumindest hat der Analogieschluss seine Grenzen. Denn ob dieses vollmundige Bekenntnis für alle Tiere gilt, darf doch bezweifelt werden. Wenn Carruthers erklärt: „Ich gehe davon aus, dass die meisten Tiere einen Geist besitzen, der dem unseren stark ähnelt“,14 dann teile ich diese Annahme ausdrücklich und programmatisch nicht. Mein Geist ähnelt nicht dem eines Bärtierchens 12 Vgl. H.-J. Glock, „Mental Capacities and Animal Ethics“, in: K. Petrus, M. Wild (Hrsg.), Animal Minds & Animal Ethics, Bielefeld 2013, S. 113-146. 13 H.-G. Kluge (Hrsg.), Tierschutzgesetz. Kommentar, Stuttgart 2002, § 1 Rn. 33. 14 P. Carruthers, „Warum Tiere moralisch nicht zählen“, in: F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik, Berlin 2014, S. 219-242, hier S. 219.
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und einer Seeanemone. Insekten stellen mit Abstand die meisten Tierarten; die meisten tierlichen Individuen auf diesem Planten sind Insekten – also Lebewesen mit faszinierenden Eigenschaften und großartigen Fähigkeiten. Aber, ohne einen Beweis dafür antreten zu können, zu wollen und zu müssen: Mein Geist ähnelt dem ihren nicht sehr stark. Ich verwahre mich gegen die rasche Eingemeindung der Tiere, genauerhin: aller Tiere, wo die Kriterien für die Gleichsetzung im Kern von einigen wenigen Tierarten abgelesen und dann allzu flott auf „die Tiere“ schlechthin ausgeweitet werden. Judith Benz-Schwarzburgs Buch Verwandte im Geiste, Fremde im Recht drückt es im Titel aus: Es gibt Tiere, die uns im Geiste möglicherweise so nahe stehen, dass wir daraus auch normative Konsequenzen ziehen müssen. Aber es geht nicht an, aus dem kognitiven Niveau einiger weniger Tiere oder Spezies kontrafaktisch eine fundamentale Gleichheit aller zu insinuieren, schon gar nicht, wenn darauf der moralische Status „des Tieres an sich“ etabliert werden soll. Wenn sich darauf gar die „Rechte von Tieren“ gründen sollen, muss die Rückfrage erlaubt sein, ob diese dann wirklich für alle Spezies und alle Individuen in diesem Reich der Lebewesen gefordert werden. Für die ethische Diskussion selbst können wir für den Augenblick sogar davon absehen, wie ähnlich oder gleich uns die Tiere sind, zumindest die hier relevanten. Wie ich noch zeigen will, sind die vermuteten „Analogien“, die man hier besser „Ähnlichkeiten“ zwischen Mensch und Tier nennen sollte, gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass man den „Befindlichkeiten“ von Tieren moralische Relevanz beimisst. Hier lassen sich die „Bedürfnisse“ von Tieren sinnvoll einordnen, die zentral für eine Sorge um die Tiere werden. Das Bindeglied zwischen Tierschutz und Bedürfnissen besteht im Leiden, das aus unbefriedigten Bedürfnissen resultiert. Nicht alle tierschutzrelevanten Einflüsse von Menschen auf Tiere haben etwas mit der Bedürfnisstruktur zu tun, aber ein subjektiv „empfundener“ Mangel bedeutet Leiden, sogar unabhängig davon, ob dieser Mangel „objektiv“ mit einem echten Schaden für das Tier einhergeht. Höchstwahrscheinlich gibt es sogar einen erheblichen Unterschied in der Wahrnehmung von Schmerz und Leid zwischen Mensch und Tier.15 Ganz gleich, wo Leid stärker empfunden wird, wird es mutmaßlich sehr unterschiedlich empfunden. Einerseits entlastet die menschliche Fähigkeit zu sprachlich-rationaler Erfas15 Vgl. F. Kromka, Mensch und Tier, Bergisch Gladbach 2000, bes. S. 34 f.
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sung der Situation in zeitweisen Leiderfahrungen: Menschen wissen, dass der Zahnarzt nach wenigen Minuten aufhören wird zu bohren und können ihren Schmerz rationalisieren. Sie können die Grenzen solcher Erfahrungen und Erlebnisse einschätzen und sich – eine Linderung gedanklich vorwegnehmend – über diese hinwegtrösten. Umgekehrt weist eine lange Tradition (seit dem Hellenismus) darauf hin, dass erst durch die Rationalität in hohem Maße Leiden entsteht, wo sie für einen „natürlichen“, nicht-rationalen Zugang zur Wirklichkeit, wie ihn die Tiere mutmaßlich haben, nicht entstehen. Erst die „Vorstellung“ von Schmerz und Leid schaffe die eigentlichen Leiden. Moderner gesagt: Das reflexive Bewusstsein bildet den Resonanzboden, von dem Schmerz gesteigert widerhallt, ja erst „richtig“ bewusst wird.
3. Die Relevanz von Bedürfnissen Für Menschen können wir an dieser Stelle Bedürfnisse von Wünschen abgrenzen: Ein unerfüllter Wunsch muss unser Wohlergehen nicht beeinträchtigen. Ich kann den Wunsch hegen, jetzt lieber auf Mallorca zu sein oder den Wunsch, Klavier spielen zu können. Ich kann es nicht. Das verdirbt mir nicht den Tag. Ein Bedürfnis, das den Namen verdient, und das nicht befriedigt wird, ist dagegen immer misslich. Wenn ich wirklich das Bedürfnis habe, mit einem Vertrauten zu sprechen oder mich auszuruhen, und ich kann es nicht, dann liegt darin eine Minderung meines Wohlbefindens. Über die Intensität dieses „Leidens“, vom Unbehagen bis hin zur Qual, ist damit nichts gesagt. Wenn wir bei Tieren von „Bedürfnis“ sprechen, dürfen wir analog annehmen, dass unerfüllte „Bedürfnisse“ eine Minderung von Lebensqualität nach sich ziehen, also eine Form von „Leiden“ im allerweitesten Sinne. In der klassischen Form gründet Jeremy Bentham den moralischen Status von Tieren darauf, dass wir die Frage „Can they suffer?“ mit „Ja!“ beantworten.16 Sie können leiden, und das ist ein Grund, sie moralisch zu berücksichtigen. Wenn es nun richtig ist, dass frustrierte Bedürfnisse mit Leiden (in welcher Form und Intensität auch immer) einhergehen, gibt es eine unmittelbare Bedeutung von „Bedürfnissen“ in moralischer 16 J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, Reprint der Ausgabe London 1822, S. 236.
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Hinsicht. Die Bedürfnisse von Tieren in menschlicher Obhut zu befriedigen, wird damit zu einer unmittelbaren moralischen Verpflichtung. Es wird damit auch zu einer moralischen Verpflichtung, so viel über diese Bedürfnisse zu wissen, dass sie nicht einmal unabsichtlich frustriert werden. Gerade im Bereich der sogenannten Nutztiere hat hier im letzten Jahrzehnt viel Forschung stattgefunden,17 deren Ergebnisse in eine entsprechende Wachsamkeit gegenüber den Bedürfnissen von Tieren umzumünzen sind, auch und gerade, wenn sich diese nicht ohne Weiteres aus dem Extrapolieren von den unseren ergeben. Dies schließt auch weiterhin eine selbstkritische und ergebnisoffene Prüfung ein, was wir denn den Tieren vorenthalten. Die derzeit sattsam bekannte Diskussion um das Schwanzbeißen bei Schweinen böte ein Lehrstück, denn anders als aus mangelnder Bedürfnisbefriedung dürfte das Phänomen schwer zu erklären sein, wenn auch nicht eindeutig feststeht, welche Bedürfnisse realiter frustriert werden. Hier hat nun eine echte Analogie Platz: „Wenn wir einem Tier moralischen Status zuschrieben, dann ist das, was für ein Tier wertvoll ist, prima facie moralisch relevant. Wohlergehen, definiert im weitesten Sinne, als die Dinge, die für ein Tier von intrinsischem Wert sind, ist so zentral für jedes Lebewesen, dass es in jedem Fall berücksichtigt werden muss, sobald ein Tier Mitglied der moralischen Gemeinschaft ist.“18 Die Analogie besteht nun darin, dass ich weiß, was für mich wertvoll ist. Oder auch widerwärtig. Selbst wenn wir uns nur schwer in ein anderes Wesen einfühlen können, wenn wir nur eine ungefähre Idee davon haben, wie dem anderen zumute ist, können wir doch einschätzen, was sein Zustand für ihn bedeutet. Ich hatte noch nie die Zahnschmerzen eines anderen, nur meine eigenen. Ich habe, zum Glück, noch nie rheumatische Beschwerden erlebt, kann aber einordnen, was sie für den anderen bedeuten, für denjenigen, der sie hat. Auf unser Thema bezogen: Selbst wenn die Ähnlichkeit des Erlebens und des Erlebten zwischen Mensch und Tier schwächer ausfällt, als der „Analogieschluss“ es nahelegt, ist es moralisch bedeutsam, dass ein bestimmter Zustand eines anderen empfindenden Wesens für eben dieses Wesen relevant ist. Auch wenn ich die Bedürfnisse eines Löwen nicht wirklich nachvollzie17 Vgl. dazu den Beitrag von Knierim in diesem Band. 18 K. Schmidt, „Tierethik und Tierwohlforschung“, in: Tierethik, 1(6)/2013, S. 78107, hier S. 104; Hervorhebung P. K.
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hen kann (oder doch?): Ich weiß, dass er sie hat und dass ihm an ihrer Befriedigung liegt. Diese Analogie ist entscheidend, die Ähnlichkeit mit unserem eigenen Erleben ist demgegenüber sekundär. Tiere haben eine eigene subjektive Welt und diese ist maßgeblich für unser Handeln an ihnen. Tom Regans berühmte Formel von den Tieren als „experiencing subjects of a life, with inherent value of their own“, bringt es auf den Punkt.19
4. Menschliche Obhut Wir sollten dabei nicht vergessen, dass „in menschlicher Obhut“ de facto bedeutet: in totaler, ja brutaler Abhängigkeit vom Menschen. Gleichgültig, zu welchem Zweck und unter welchen Umständen wir Tiere halten und schließlich unabhängig von der Tierart, der sie angehören: Wenn wir Tiere halten, legen wir fest, wie, womit und in welchem Maße sie ihre „Bedürfnisse“ befriedigen können. Anders gesagt: Wenn wir uns Tiere als Wesen vorstellen, die für die Dynamik ihres Lebensvollzugs auf viele Ressourcen angewiesen sind, dann wird die ganze Verantwortung des Menschen erst richtig deutlich. Wir legen fest, was sie fressen, welche Luft sie atmen, wo und wie sie sich bewegen, wem sie begegnen, womit sie ihre Zeit verbringen können, ob und wie sie sich fortpflanzen – einfach schlechthin alles. Stellen wir uns Tiere vor als Wesen, die eine bestimmte Umwelt brauchen und deren Biologie festlegt, wie groß die Toleranzen sein dürfen, in denen sie sich wohl fühlen oder auch gesund bleiben. Wenn wir überhaupt Tiere halten dürfen, dann unter verantwortungsvoller Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse. Gehen wir darin in die Irre, sei es aus Unwissen, sei es aus Unwillen, sei es aus der Verbindung von beidem, dann verletzen wir eine moralische Pflicht. Wir unterschreiten die Verantwortung, die wir selbst dadurch geschaffen haben, dass wir Tiere abhängig machen von jenen Ressourcen, die wir, und nur wir, ihnen zur Verfügung stellen. Wesen, die Bedürfnisse haben, „leiden“, wenn diese nicht befriedigt werden. In der Haltung durch den Menschen sind Tiere davon abhängig, wie genau wir ihre Bedürfnisse kennen und wie trefflich wir sie bedienen. 19 T. Regan, „The Case for animal rights“ (1989), (http://www2.webster.edu/ ~corbetre/philosophy/animals/regan-text.html), zuletzt abgerufen am 03.01. 2016.
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5. Die „Anpassungsfähigkeit“ Müssen wir aus dem Gesagten die Konsequenz ziehen, alle Bedürfnisse der Tiere immer und überall befriedigen zu sollen? Im Vergleich zu Tieren haben Menschen andere Strategien, mit ihren Bedürfnissen umzugehen. Eine nahe liegende Antwort bestünde im Verweis darauf, dass wir ja auch unsere eigenen Bedürfnisse nicht ständig befriedigen können und müssen. Allerdings wird schnell klar, dass wesentliche Strategien, mit denen Menschen ihre Bedürfnisse „managen“, nicht auf Tiere übertragbar sind. Wir geraten nicht in Depression, Stress oder Panik, wenn wir im Laufe eines termingefüllten Tages einmal Hunger haben. Wir können ein Hungergefühl einordnen und es anderen Präferenzen unterordnen. Wir unterbrechen z. B. kein wichtiges Gespräch, nur weil wir gerade meinen, einen Bissen zu uns nehmen zu müssen. Die Bereitschaft, dieses Empfinden als nachrangig zu betrachten, hat allerdings Grenzen, wenn der Hunger übermächtig wird, wir unter Nahrungsentzug ernsthaft zu leiden beginnen und entsprechend an die Grenzen unserer eigenen Anpassungsfähigkeit kommen. Der menschliche Lebensvollzug besteht genau besehen aus unzähligen Situationen von Anpassung, die man als Triebverzicht und Triebaufschub kennzeichnen kann und die uns gar nicht schmerzhaft bewusst werden. Wir kontrollieren alle möglichen Bedürfnisse und Regungen, ohne darunter zu leiden. Eine zentrale Figur ist dabei die Fähigkeit, „Wünsche zweiter Ordnung“ auszubilden, also selbst zu wünschen oder nicht zu wünschen, was wir uns wünschen. Menschen können sich von ihren unmittelbaren Bedürfnissen distanzieren und dies ist eine wesentliche Funktion, mit Bedürfnissen zurechtzukommen. Zum Bedürfnis, jetzt ein Bier zu trinken, können Menschen Distanz aufbauen durch den Wunsch, ihren Führerschein zu behalten. Fundamental wird damit wieder auf das Zeitbewusstsein des Menschen verwiesen, der aktuelle Bedürfnisse, allgemein aktuelle Bewusstseinszustände transzendieren kann unter Rückgriff oder Vorgriff auf höhere Güter, denen er gegenwärtige Lust opfert oder für die er gegenwärtige Unlust in Kauf nimmt. Ob wir Tieren ein solches Management der eigenen Bedürfnisse zutrauen sollen, ist fraglich, obwohl einige von ihnen natürlich auch Appetenz-Aversion-Konflikte bewältigen, und ein gegenwärtiges Übel um eines größeren künftigen Gutes auf sich nehmen. Es ist problematisch, diese Kontroll- und Rationalisierungs-Fähigkeit in demselben Umfang auch Tieren zu unterstellen. Fest steht https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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aber, dass es beim Tier selbst bei elementaren Lebensvollzügen diese „Puffer“ gibt und dass es gerade nicht sofort „Leiden schafft“, wenn irgendein Impuls nicht unmittelbar Befriedigung findet. Nicht jeder ungedeckte Bedarf führt subjektiv zur Verstimmung. Nehmen wir dabei an, dass Tiere ihren Bedürfnissen unmittelbarer ausgesetzt sind, als zumindest erwachsene Menschen, denn auch Kindern fällt es erfahrungsgemäß schwer, ihre Bedürfnisse im genannten Sinn zu steuern. Wir können differenzieren, welches Gewicht welche Tiere dem Bedürfnis selbst geben. Hier bewährt sich das Prinzip, dass es im Wesentlichen nicht auf unsere Sicht der Dinge ankommt, sondern auf den „Werthorizont“ des Tieres. Wir sind nicht ahnungslos, wie stark ein Tier an der Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses interessiert ist. Wir können Tieren eine gewisse Frustrationstoleranz unterstellen. Hier haben wir den Punkt der Anpassungsfähigkeit erreicht, denn selbst wenn wir ein bestimmtes Bedürfnis aktuell unterstellen, muss die Befriedigung genau dieses Bedürfnisses nicht handlungsleitend sein. Und es muss sich nicht negativ auswirken, wenn sie ausbleibt. Ist dies der Sinn der Formel, die Stauffacher zugeschrieben wird,20 nach der eine Haltung dann tiergerecht sei, wenn sie die Anpassungsfähigkeit der Individuen nicht überfordere? Gibt es da überhaupt eine Grenze, die wir ziehen können? Oder haben wir nicht vielmehr Grade von „Anpassung“ und von „Tiergerechtheit“? Bedürfnisse kennen Grade und auch die Relevanz für das Tier kennt Grade. Vielleicht dürfte man unterstellen: Je wichtiger das Bedürfnis, je länger es frustriert wird, desto schlimmer für das Tier. „Wohlbefinden bzw. ‚welfare‘ kann daher auf einem Kontinuum von ‚sehr schlecht‘ bis ‚sehr gut‘ schwanken“.21 Maßstab dafür ist wiederum die Befindlichkeit des Tieres. „Das Wohlbefinden ist gut, wenn das Tier mögliche Herausforderungen der Umwelt leicht bewältigen kann oder zu einem bestimmten Zeitpunkt keine Pro bleme zu bewältigen hat, dagegen ist es umso mehr beeinträchtigt, je schwieriger es für das Tier ist, mit der Umwelt zurechtzukommen. […] Schwierigkeiten äußern sich in negativen Emotionen, 20 L. Schmid, Verhaltensbeobachtungen nach Enrichment der Haltungsbedingungen von Laborhunden, Dissertation München 2004. 21 S. Waiblinger, „Die Bedeutung der Veterinärmedizin für den Tierschutz“, in: H. Grimm, C. Otterstedt (Hrsg.), Das Tier an sich, Göttingen 2012, S. 172-197, hier S. 175.
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Verhaltensproblemen und der Beeinträchtigung der körperlichen Gesundheit.“22 Soweit taugt diese Bestimmung auch im Rahmen einer pathozentrischen Bewertung: Je leidvoller das Frustrieren eines Bedürfnisses, desto schwerer wiegt es moralisch und umso wahrscheinlicher sind die negativen Wirkungen. Diese sind wiederum rechtfertigungspflichtig für den Menschen, der sie verursacht. Eine zynische Interpretation jedoch liest die Formel ganz anders: Erlaubt sei, was „gerade noch geht“ – das Extrem. Tiere werden in eine menschengemachte Wirklichkeit gepresst, die sie bis an ihre Grenzen belastet. So verstanden könnte die Formel von der „Anpassungsfähigkeit“ natürlich keine „Tiergerechtheit“ mehr definieren. Können wir den Satz Stauffachers so deuten, dass es gerade genügt, Tiere so zu halten, das sie mit den Umständen irgendwie zurechtkommen? Preisen wir die Anpassungsfähigkeit sozusagen ein und kümmern uns um die Bedürfnisse der Tiere nur insofern, als wir massives Leiden vermeiden müssen? Oder schulden wir den Tieren mehr? Frans A. Brom zitiert dazu eine lehrreiche Diskussion um das niederländische Tierschutzgesetz AHWA: „Someone claimed that the goal of the AHWA could not be to give animals a permanent holiday.“23 Vielmehr gehöre zum Leben von Tieren „a certain level“ von Stress. Es gehe also darum, „to prevent suffering (pool welfare), not to promote happiness. From this point of view, the animal’s welfare is injured if it drops below a certain level. […] The choice between a point of departure in the life with happiness or in a life without suffering is important.“24
6. Positive und negative Erfahrungen Wenn es also um Bedürfnisse von Tieren geht, brauchen wir uns nur um die zu kümmern, deren Frustration leidvoll ist? Immerhin können wir bei Tieren wie bei Menschen sogar beeinflussen, welche Bedürfnisse sie überhaupt entwickeln, sofern diese über die elementaren, vitalen Funktionen hinausgehen. Wenn wir dafür sorgen, dass 22 Ebd. 23 F. W. A. Brom, „Animal Welfare, Public Policy and Ethics“, in: M. Dol et al. (Hrsg.), Animal Consciousness and Animal Ethics: Perspectives from the Neth erlands, Assen 1997, S. 208-222, hier S. 216. 24 Ebd.
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Tiere in einer bestimmten Umwelt bestimmte Bedürfnisse gar nicht erst entwickeln, haben wir kein Problem mit diesen Bedürfnissen. Paradigmatisch prägte diese Argumentation die lange Diskussion um die Käfighaltung der Legehennen. Wenn die Tiere es nicht anders kennten, seien sie auch mit einer Umwelt zufrieden, in der sie ihr Verhaltensrepertoire gar nicht erst voll entfalten können. Das störe sie aber nicht. Welchen Anlass haben wir also, uns mit jenen Bedürfnissen von Tieren zu befassen, die wir selbst wecken? Ist es dann legitim, die Entstehung von Bedürfnissen zu behindern oder zu verhindern? Könnten wir nicht sogar dazu übergehen, durch Zucht und Aufzucht das Bedürfnis-Repertoire zu minimieren? Das ist moralisch kontraintuitiv (bei Tieren wie bei Menschen). Tiere zu reduzieren, nur um ihnen Leiden zu ersparen, ist keine gute Idee. Allerdings braucht es komplizierte ethische Begründungs-Muster, um zu zeigen, dass dies keine gute Idee ist. Während Konzepte der Leidensvermeidung ethisch schlank zu begründen sind, bedarf es vieler Zusatzannahmen, um zu begründen, warum und in welchem Maße Tiere alles ausleben können sollen, was an Möglichkeiten in ihnen steckt. Albert Schweitzer hat diese Pflichten gegen das Leben positiv herausgestellt: „Als gut gilt ihm [dem denkenden Menschen]: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Stand bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten“.25 Hierbei wäre wohl eingeschlossen, Tiere so viele positive Erlebnisse machen zu lassen wie möglich. Eine moderne Variante des Gedankens liegt in M. Nussbaums „capabilities approach“. „Die Kernidee ihres Wohlergehenskonzeptes ist das tierliche Gedeihen (animal flourishing); die Möglichkeit zur autonomen Ausübung der artspezifischen Fähigkeiten. Essenziell für ein in diesem Sinne gelingendes Leben sind nach Nussbaum unter anderem Gesundheit und Integrität, positive emotionale Erfahrungen, […] und die freie Bewegung in einer Umwelt, welche die Sinne anregt“.26 Also doch a permanent holiday, in dem Tiere alle ihre capabilities ausleben dürfen? Hier Grenzen zu ziehen, wird reichlich schwer fallen. Der Charme rein pathozentrischer Argumentation besteht darin, dass wir damit ein Kriterium
25 A. Schweitzer, „Aus meinem Leben und Denken“, in: A. Schweitzer, Gesammelte Werke in fünf Bänden, München 1974, Bd. 1, S. 171. 26 K. Schmidt, „Tierethik und Tierwohlforschung“, S. 93.
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haben: Die Bedürfnisse von Tieren sind soweit zu befriedigen, dass sie nicht unter der Frustration leiden. Vielleicht hilft es, sich an der Leidensvermeidung zu orientieren, ohne die Sorge um Tiere auf das Vermeiden von Schäden oder Leiden reduzieren zu müssen. Gerade die Voraussetzung einer „bedürfnisorientierten“ Perspektive im Tierschutz bietet dafür eine Chance, nämlich Tiere als „experiencing subjects of a life“ zu behandeln. „Für das Erleben der Bewältigungsfähigkeit spielen Erwartungen des Tieres in Bezug auf die Umwelt und damit die Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Situation durch das Tier eine große Rolle – je nach Bewertung werden angenehme oder unangenehme emotionale Zustände ausgelöst“.27 Das begründet durchaus Forderungen nach einem positiven Ausleben des Verhaltensrepertoires und die Anreicherung des Lebens und der Lebenswelt von Tieren im Sinne eines „flourishing“. Denken wir uns Tiere als Wesen, die ihr eigenes Leben subjektiv mitvollziehen und gleichsam einen inneren Film kennen, der einen Zusammenhang hat. Dann spielt es durchaus eine Rolle, ob in diesem Film auch echte Highlights vorkommen. „Die kognitive und emotionale Bewertung der gleichen Situation wird verändert. Auch Schmerzreize derselben Intensität können je nach Grundstimmung stärker oder weniger stark empfunden werden.“28 Wenn Tiere empfindungsfähige Wesen sind, die nicht nur im Augenblick leben, sondern etwas wie „Grundstimmung“ kennen, dann ist es in hohem Maße sinnvoll, ihnen Ressourcen zu bieten, die diese Grundstimmung positiv heben. Natürlich soll dies sie nicht darauf vorbereiten, leidvolle Erfahrung besser zu überstehen; aber es hilft, Leiden zu mindern, wo es notwendigerweise auftritt. Es hat durchaus Sinn, auf Bedürfnisse einzugehen, deren Frustration nicht notwendigerweise und unmittelbar zu Leiden führt. Gerade mit Blick auf das Verhaltensrepertoire lohnt sich ein neuer Zugang. Damit schließt sich auch der Kreis der Betrachtung: Bedürfnisse ernst zu nehmen, heißt in erster Linie, Tiere als Subjekte ernst zu nehmen, die ein Interesse daran haben, ihr Wohlsein zu wahren. Gerade wenn Menschen alle Zugänge zu den Mitteln kontrollieren, mit denen Tiere ihre Bedürfnisse befriedigen, liegt eine besonders hohe Verantwortung darin, diese Bedürfnisse so gut zu kennen und auf sie einzugehen, dass sie so selten wie möglich frustriert werden. 27 S. Waiblinger, „Die Bedeutung der Veterinärmedizin für den Tierschutz“, S. 176. 28 Ebd.
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Animalia symbolica? Sprachphilosophische, ethologische und kulturtheoretische Argumente
1. Inkommensurabilität Der Mensch ist nicht das einzige Tier, das spricht. Sprechen scheint kein Privileg einer Gattung im biologischen Sinn.1 Sprechende Spezies sperren sich eindimensionaler Taxonormierung: Schimpansen sprechen, Orang-Utans kaum; Vögel sind Sprechkünstler, Katzen nicht. Innerhalb der nicht nur kommunizierenden, sondern auch sprechenden Spezies allerdings scheint die menschliche Sprache (in ihrem Ensemble von language, langue, parôle und idiôme) wiederum ein evolutionärer Sonderfall.2 Wir sprechen nicht nur, sondern haben eine Sprache; wir gebrauchen sie nicht nur, sondern verändern sie nach selbstgewählten Regeln. Keine andere Kommunikationsart scheint ähnlich differenzierte Formen symbolischer Repräsentation ausgebildet zu haben. Menschliche Normalsprachen sind semiotisch differentiell, syntaktisch rekursiv, semantisch reflexiv und pragmatisch inferentiell organisiert. Keine andere Kommunikationsart übersteigt sich selbst zu etwas, das mehr ist als Informationsaustausch. Was dieser Umstand für komparative Studien innerhalb der Schnittfläche von Ethologie, Sprach- und Kulturwissenschaft oder, enger gefasst, für den Diskurs zwischen Sprach-, Kultur- und Tierphilosophie bedeutet – und ob er die Frage nicht nur nach dem einen animal symbolicum, sondern möglicherweise auch nach weiteren animalia symbolica erlaubt –, sei im Folgenden diskutiert. Sinnvoll scheint, zunächst den Begriff des Sprechens und der Sprache genauer zu bestimmen (vgl. Abschnitte 2.-6.). Dies nicht
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A. Liberman, Speech: A Special Code, Cambridge (Mass.) 1996. T. Deacon, The Symbolic Species: The Co-Evolution of Language and the Brain, New York 1997, S. 31-34; M. D. Hauser, N. Chomsky, W. T. Fitch, „The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?“, in: Science, 298 (5598)/2002, S. 1569-1579, hier S. 1570; J. R. Hurford, The Origins of Meaning. Language in the Light of Evolution, Oxford 2007.
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in der Hoffnung, Sprache als entscheidende anthropologische Differenz zu erweisen, sondern in der kritischen Absicht, die Verwendungsweise des Begriffs „Sprache“ in der jeweiligen ethologischen Fachforschung zu präzisieren, die meist der anthropomorphistischen Verlockung nicht widerstehen kann, die jeweils untersuchte Tierkommunikationsform mit der spätevolutionären Sonderstellung menschlicher Sprache(n) zu vergleichen (vgl. Abschnitte 7.-14.). Differenz, zumal als „anthropologische“, kann es schon aus logischsemantischen Gründen nur dort geben, wo das Differente in Bezug auf eine ihnen gemeinsame Einheit überhaupt als Unterschiedenes fassbar wird. Wäre „Sprache“ dieser allgemeine Beziehungsgrund für höchst verschiedene Arten von Kommunikation, so gäbe es schlicht keine Comparanda, die miteinander verglichen und darin voneinander unterschieden werden könnten. In einem solchen Ranking bliebe die symbolische Reflexivität menschlicher Sprachen schlicht unter sich – inkommensurabel. Sprache als anthropologische Differenz scheint deshalb für einen natursystematischen Begriff des Menschen untauglich. Fruchtbar bleibt sie aber für einen kultursystematischen Begriff vom Menschen (vgl. Abschnitte 15.-16.). Denn dieser reflektiert nicht allein auf evolutionäre, morphologische oder genetische Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit anderen Spezies, sondern auf unser je kulturelles Selbstverständnis. Dieses gewinnen wir heute, skeptisch gegenüber vermeintlichen anthropologischen Invarianten, vor allem per negationem: indem wir sagen, was wir nicht sind oder nicht sein wollen.
2. Negativität Versteht man Sprechen nicht gleich als Sprechakt, sondern zunächst schlicht als ein Äußern, Vernehmen und Austauschen von Lautzeichen, so lassen sich systematische Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einem ersten Schritt auf organisch-physiologische Differenzen zurückführen. So gilt etwa die Stellung des Larynx, des die Luft- von der Speiseröhre trennenden Verschlussknorpels (Kehlkopf), als physiologische Hauptvoraussetzung variabler Lautproduktion.3 Der menschliche Larynx sitzt weit tiefer als etwa die 3
Vgl. P. Lieberman, Uniquely Human, Cambridge, London 1991. Auch B. G. Campbell, Entwicklung zum Menschen, Stuttgart, New York 1979, S. 384 ff.
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Laryngen der Schimpansen. Seine Absenkung datiert phylogenetisch auf die Frühentwicklung des Homo sapiens vor 300.000 Jahren; sie wiederholt sich ontogenetisch bei 18 Monate alten Kindern und schließt mit der Pubertät ab. Das lässt Schlüsse auf die evolutionäre Wechselwirkung von Larynxentwicklung und Sprachevolution zu, die allerdings nicht unumstritten, geschweige denn zwingend sind. Phonetisch jedenfalls erlaubt die Entwicklung eine beträchtliche Erweiterung des Lautspektrums und unterstützt die Kontrolle von Konsonanten wie k, p, t, d, die auf raschem Wechselspiel von labialer und dentaler Lautproduktion beruhen. Bei Vögeln etwa erhält der Larynx nur eine Funktion im Atemvorgang, während für die Stimmbildung der untere Kehlkopf, die Syrinx, verantwortlich ist. Mag umstritten sein, ob die Absenkung des Larynx nun spezifisch humanoid und damit verantwortlich für die Revolution lautsprachlicher Elemente war,4 so ging doch – so die anthropolinguistische Standarderzählung – die zunehmende Fülle differenzierter Laute, vor allem aber die „doppelte Artikulation“ (Ellgård) von Phonemen und Morphemen als Kombination komplexer Lautverbindungen aus einer recht begrenzten Menge einfacher Laute Hand in Hand mit der Entwicklung eines größeren Gehirns.5 Terrence Deacons Begriff der „Koevolution“6 von Sprache und Gehirn trägt dem Umstand Rechnung, dass sich Gehirn- und Sprachentwicklung wechselseitig bedingen, folglich nicht im Sinne eines chronologisch Ersten und Zweiten getrennt werden können. Offensichtlich beansprucht schon die Sprechkoordination erhebliche Ressourcen etwa des Motorcortex. Im Fall des primären motorischen Cortex des Menschen gelten ein Drittel seiner gesamten Aktivitäten der Koordination und Kontrolle von Mund, Zunge, Gesicht und Rachen; bei Primaten sind es ungefähr zehn Prozent.7 Viel spricht dafür, dass die Bildung von Syntagmen, d. h. von Lautsequenzen und Zeichenketten, die sich zeitlich und räumlich ausdehnen,8 kognitive Ressourcen mobilisierte, in deren Verausgabung die Sprache als „parasitäres“9 System solche Hirnfunktionen usurpieren muss-
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Dagegen: W. T. Fitch, D. Reby, „The Decended Larynx is not Uniquely Human“, in: Proceedings of the Royal Society London B, 268(1477)/2001, S. 1669-1675. Vgl. P. Gärdenfors, How Homo Became Sapiens, Oxford 2004, S. 169. T. Deacon, The Symbolic Species, S. 401 f. P. Gärdenfors, How Homo, S. 168. Vgl. R. Barthes, Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M. 1981, S. 41. Vgl. E. Bates, Language in Context, New York 1976.
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te, die zuvor allein der basalen motorischen Koordination galten.10 Spätestens seit klar scheint, dass auch Schimpansen über das verfügen, was in der linken menschlichen Großhirnrinde als die Sprachzentren des Broca- und des Wernicke-Areals identifizierbar sind,11 müssen Sprachverständnis und Sprachproduktion des Menschen als neurophysiologisch noch weit stärker vernetzt begriffen werden als bisher angenommen. Vieles wäre einer möglichen Liste physiologischer Differenzen hinzuzufügen, die die Sprechfunktionen unterschiedlicher Spezies auf ihre evolutionäre und physiologische Entwicklung beziehen – und wie alle empirischen Befunde oft auch anders interpretiert werden können. Sprach-, kultur- und tierphilosophisch relevanter scheint jedoch eine andere, nichtphysiologische, weil systematische Differenz: das willkürliche Nichtsprechen. So wie alle Formen der Negation und des Neinsagens (das nicht schon identisch ist mit dem Zurückweisen, Ablehnen oder Verweigern von etwas) bereits auf einer entwickelten, symbolisch-reflexiven Normalsprache beruhen, so ist auch das bewusste Verharren in der Grenze der Sprache nur auf deren eigenem Boden möglich. Diese Grenze des Sprechens liegt im Schweigen. Wir wissen bislang von keiner anderen Spezies, die nicht nur unwillkürlich verstummt, sondern auch bewusst schweigt. Sich dem Sprechen intentional zu verweigern, um etwas Unsagbares zu zeigen, impliziert einen Akt der Negation. Verneinung aber ist unhintergehbar sprachabhängig.12 Der Hund mag ahnen, dass sein Herrchen vor der Tür steht; aber ist er auch des „Gedankens“ fähig, dass sein Herrchen nicht vor der Tür steht, sondern der Bankdirektor?13 Negation indiziert eine Weite des gedanklichen Horizonts, die mit der Fähigkeit und Freiheit zusammenhängt, Anderes: Kontrafaktisches, Negativ-Existentiales, Unmögliches, Widersprüchliches zu denken. 10 Vgl. M. C. Corballis, From Hand to Mouth: The Origins of Language, Princeton 2002; vgl. M. C. Corballis, „The Gestural Origins of Language“, in: The American Scientist, 87(2)/1999, S. 139-145, hier S. 144 f. 11 Vgl. C. Cantalupo, W. D. Hopkins, „Asymmetric Broca’s Area in Great Apes“, in: Nature, 414(6863)/2001, S. 505; P. Gannon, R. L. Holloway, D. C. Broadfield, A. R. Braun, „Asymmetry of Chimpanzee Planum Temporale: Humanlike Pattern of Wernicke’s Brain Language Area Homolog“, in: Science, 279(5348)/1998, S. 220-222. 12 Vgl. N. Malcolm, „Thoughtless Brutes“, in: Proceedings and Adresses of the American Philosophical Society, 46(1)/1972/73, S. 5-20. 13 Vgl. H.-J. Glock, „Animals, Thoughts, and Concepts“, in: Synthese, 123(1)/2000, S. 35-64, hier S. 40.
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Der Mensch ist das einzige Tier, das nicht spricht. Bewusst nicht zu sprechen, impliziert die Reflexion über die Gründe des Schweigens; es impliziert die intentionale Negation des Sprechens. Negation ist entscheidendes Moment sowohl des Wahr-Nehmens als auch des Vorausschauens und Planens. Zwischen dem Wahrnehmungsgehalt von „ein Tier kauert dort“ und „es ist ein Tier, aber kein Busch, das da drüben steht“ liegt die Differenz einer Negation, die den Unterschied der genaueren Einsicht macht.14 Auch Planungsszenarien, die – anders etwa als die Vorratshaltung von Eichhörnchen – nicht biologisch programmiert sind oder die – wie bei Schimpansen15 – über ein rudimentäres „anticipatory planning“16 nicht hinausgehen (weil sie vielleicht noch den nächsten, nicht aber auch noch den übernächsten Schritt antizipieren), erfordern beträchtliche imaginative Fähigkeiten des Durchspielens faktischer und kontrafaktischer Bedingungen. Beide verlangen nach Imagination und Kooperation im Angesicht „situationsunabhängiger Zielsetzungen“ (detached goals).17
3. Differentialität Symbolische Kommunikation, auch als phonetische, beruht auf einem selbst nicht hörbaren, sondern skripturalen Prinzip: der Diakritizität. Kein uns bislang bekanntes nichtmenschliches Sprechen hat in seiner Evolution eigene, mit dem Gesprochenen vermittelte und doch von ihm zugleich unabhängige, diakritische Schriftformen entwickelt. Dabei darf Schrift nicht bloß als Repräsentation gesprochener Sprachen, sie muss vielmehr als deren Reflexion, Präzision und Produktion verstanden werden. Das Prinzip skripturaler Sinnerzeugung heißt: Differenz. Es ist mit dem der Negativität verknüpft. Diakritizität herrscht dort, wo Zeichen sich im System unterscheiden; wo eines nur deshalb mit sich identisch ist, weil es ein 14 Vgl. H. Jonas, Organismus und Freiheit, in: Kritische Gesamtausgabe I/I, hrsg. von D. Böhler, W. C. Zimmerli, Darmstadt 2009, S. 308-312. 15 Vgl. S. Boysen, G. Bernston, „Responses to Quantity: Perceptual versus cognitive Mechanisms in Chimpanzees (Pan troglodytes)“, in: Journal of Experimental Psychology and Animal Behaviour Processes, 21(1)/1995, S. 82-86. 16 A. Gulz, The Planning of Action as Cognitive and Biological Phenomenon, Lund 1991. 17 Vgl. P. Gärdenfors, How Homo, S. 177 f.
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anderes nicht ist. Indes müssen sich Zeichen nicht nur unterscheiden; vielmehr verlangt auch alles Gleichlautende (Homophone), aber Bedeutungsunterschiedene nach einer anderen Schreibweise (Allographie), um diesen Bedeutungsunterschied sehen zu lassen.18 Tonzeichen (Akusteme) sind Sprachen vieler Spezies eigen, Schriftzeichen (Grapheme) offenbar nur der menschlichen. Spuren „entziffern“ können alle Spezies (zuweilen viel genauer als die menschliche), lesen indes nicht. Schriftzeichen sind deshalb, pace Derrida, keine Spuren. Denn sie werden produziert, nicht hinterlassen;19 sie werden auch nicht wahrgenommen, sondern begriffen. Schrift ist kein Ensemble substantieller Bedeutungen, sondern ein Aggregat relationaler Differenzen. Ihre Systeme beruhen auf dem Prinzip der Relation arbiträrer, konventioneller Zeichen, die seit Peirce symbolische heißen. Im Unterschied zu indexikalischen Zeichen, die im Verhältnis der Kausalität zum Bezeichneten stehen, sowie zu ikonischen Zeichen, die ein Verhältnis der Ähnlichkeit zum Bezeichneten unterhalten, beruhen symbolische Zeichen auf rein willkürlichen, historisch und kausal kontingenten Relationen von Ausdruck und Bedeutung: Sie bedeuten schlicht das, wofür es Gebrauchsregeln gibt, wie sie zu verstehen seien.20 Dass nichtmenschliche Sprachen mit indexikalischen und ikonischen Zeichen operieren, ist unumstritten. Fraglich dürfte sein, ob (i) in nichtmenschlicher Signalkommunikation symbolische Zeichen überhaupt vorkommen können und (ii) ob innerhalb menschlicher Normalsprachen deren Symbolizität nicht einen Unterschied ums Ganze macht und damit auch die indexikalischen und ikonischen Zeichen ihres Repertoires derart verwandelt und rekontextualisiert, dass sie mit den indexikalischen und ikonischen Zeichen nichtmenschlicher Sprachen gar nicht mehr vergleichbar sind. Als Symptome sind Zeichen Ausdruck der Innerlichkeit Sprechender (Ausdrucksfunktion), als Signale richten sie sich an Empfänger (Appellfunktion), als Symbole vergegenwärtigen sie Sachverhalte (Darstellungsfunktion).21 Auch hier scheint evident, dass Symptome und Signale in nichtmenschlicher Kommunikation ge18 Vgl. J. Derrida, Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 3-29. 19 Vgl. W. Kogge, G. Grube, „Der Begriff der Schrift und die Frage nach der For schung in der Philosophie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 55(1)/2007, S. 81-96. 20 Vgl. C. S. Peirce, Schriften, hrsg. von K.-O. Apel, Frankfurt a. M. 1967, Bd. 2, S. 279. 21 Vgl. K. Bühler, Sprachtheorie (1934), Stuttgart 1982, S. 34.
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braucht und entschlüsselt (also „verstanden“) werden; ob sich in ihnen allerdings auch propositionale Gehalte artikulieren lassen, ist fraglich. Akustemischen Phonemen und Graphemen ist gemeinsam, dass sie nicht Bedeutung tragen, sondern Bedeutung unterscheiden. Ihr Unterschied allerdings besteht darin, dass Grapheme diese bedeutungsunterscheidende Funktion selbst dort noch sichtbar machen, wo sie unhörbar bleiben. Für Sprachen ist entscheidend, nicht nur über bedeutungstragende (Morpheme, Sememe, Lexeme), sondern vor allem über bedeutungsunterscheidende Zeichen zu verfügen. Denn bedeutungsunterscheidende Segmente konstituieren allererst bedeutungstragende; Bedeutungsunterscheidung ist semiotische Differentialität. Eine zweite Differenz waltet in dem Unterschied zwischen den phonologischen, phonographischen und grammatologischen Prinzipien von Sprache. Denn symbolisch-reflexive Normalsprachen stehen zu ihrer alphabetschriftlichen „Repräsentation“ in keinem systematisch-phonographischem Verhältnis. Die Phonologie der gesprochenen Sprache ist keine Phonographie, sie baut nicht auf einem streng phonologischen Prinzip. Weder kann man das Atemholen der gesprochenen Sprache in ihrer Verschriftung sehen – noch kann man den Raum zwischen den Worten oder die Interpunktion der geschriebenen Sprache hören. Die Zuordnung Graphem/Schriftzeichen und Laut/Phonem ist zuinnerst variabel. Problemlos kann ein Zeichen für mehrere Laute verwendet werden; möglich aber auch, dass sich mehrere Zeichen auf denselben Laut beziehen. Und dass ein Zeichen für ganze Lautverbindungen, etwa ein Graphem für zwei Phoneme stehen kann, schließt keinesfalls aus, dass umgekehrt auch ganze Zeichenverbindungen nur einen Einzellaut repräsentieren. Dieses komplexe Wechselverhältnis von signifikativen Einheiten und distinktiven Einheiten, die an der Form mitwirken, selbst aber unmittelbar keine Bedeutung tragen, stiftet eine einzigartige Ökonomie der alphabetschriftlich organisierten Standardsprachen, in denen durch ca. 20 distinktive Einheiten ca. 100.000 signifikative Einheiten darstellbar werden.22
22 C. Stetter, „Alphabetschrift und Sprache“, in: Deutsche Zeitschrift für Philoso phie, 55(1)/2007, S. 97-110.
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4. Rekursivität Die bislang bekannten nichtmenschlichen „Sprachen“ zeigen durchgehend holophrastische Sequenzen. Die meisten von ihnen, vermuten Ethologen, kennen deshalb nur den Modus des Imperativs.23 Nach allem, was diese Studien nahelegen, beschränkt sich die Grammatikalität der Tierkommunikation auf das Beginnen und Enden von Lauten.24 Möglicherweise flankierte der Übergang von Protosprachen zu Zwei- und Mehrwortsätzen, d. h. zu rudimentären syntaktischen Strukturen, den Übergang vom homo erectus zum homo sapiens.25 In diesem Zusammenhang haben Hauser, Chomsky und Fitch zwischen einem Sprachvermögen im weiteren und einer Sprachkompetenz im engeren Sinn unterschieden. In einem weiten Sinn (faculty of language – broad sense = FLB) meint Sprache ein grammatisches System, das sich mit verschiedenen senso-motorischen und begriffsintentionalen Systemen zusammenschließt; im eingeschränkten Sinn (faculty of language – narrow sense = FLN) meint es nur solche Sprachsysteme, die auf dem Prinzip der Rekursivität beruhen. Formen von FLN sind für Hauser, Chomsky und Fitch das eindeutige Privileg menschlicher Sprachen. Sie gelten ihnen als „computational system (narrow syntax) that generates internal representations and maps them into the sensory-motor interface by the phonological system, and into the contentiual-intentional interface by the (formal) semantic system“.26 Rekursivität kennzeichnet jedes endliche Set diskreter, wahrnehmbarer und bedeutungstragender Elemente, aus dem sich virtuell unendlich viele Kombinationen gewinnen lassen – parallel zur arithmetischen Unendlichkeit von Zahlzeichen. Rekursiv heißt diese Struktur genau dann, wenn es in dem Sprachsystem i) keinen längsten Satz geben kann und ii) die Diskretion (Teilung) der Elemente distinkt ist. i) ist dann der Fall, wenn ein noch so langer Satz X (bestehend z. B. aus 200 Wörtern) stets wieder in einen anderen Teilsatz, etwa:
23 E. von Glasersfeld, „Linguistic Communication: Theory and Definition“, in: D. M. Rumbaugh (Hrsg.), Language Learning by a Chimpanzee: The LANA pro ject, New York 1977, S. 55-71, hier S. 65. 24 T. Deacon, The Symbolic Species, S. 32. 25 D. Bickerton, Language and Species, Chicago 1990, S. 183. 26 M. D. Hauser, N. Chomsky, W. T. Fitch, „The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?“, S. 1571.
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(1) Mary glaubt, dass X (2) X ist wahr
oder
eingebettet und damit prinzipiell erweitert werden kann. ii) ist dort der Fall, wo es nur 6-Wort- und 7-Wort-, aber keine 6,5-Wort-Sätze geben kann. Beide Aspekte der Rekursivität als „discrete infinity“27 haben nach Hauser, Chomsky und Fitch keine Parallele „in animal communication and possibly other domains as well“. Doch muntern die Autoren zu einem „comparative evolutionary approach to language“ auf, der ihre Hypothese der Rekursivität prüfend herausfordert.28 Rekursivität zeigt sich noch an weiteren, von den Autoren nicht eigens untersuchten Funktionen, die weit über protosprachliche und grammatisch primitive Formen hinausgehen und damit originäre und exklusive Elemente menschlicher Normalsprachen zu sein scheinen. Neben den anaphorischen, d. h. rückverweisenden und kataphorischen, d. h. vorausweisenden Funktionen von Pronomina sind es die grammatischen Modi der Zeiterfahrung. Mögen lineare Formen des Vorhers und Nachhers, des Jetzt und des Später kognitiv basal sein und so auch zahlreichen anderen Spezies offen stehen, so erlauben doch erst symbolisch-reflexive Sprachen die Differenzierung zeitlicher Binnenmodi. Dass sich etwas in der Vergangenheit ereignet, aber noch präsentische Folgen hat; dass etwas in der Zukunft abgeschlossen sein wird, aber sich jetzt noch nicht einmal ankündigt; dass etwas im Präsenz ausgedrückt wird, aber futurisch gemeint ist – all dies scheint einzig auf dem Boden ausgebildeter grammatischer Formen und ihren durativen, ingressiven, iterativen, konativen und effektiven Zeitaspekten möglich. Solche kognitiven Differenzierungen stehen sprachlosen, protosprachlichen oder signalsprachlichen Zeichenbenutzern nicht offen. Wenngleich ein Hund zeigen kann, dass er ärgerlich ist, so kann er nicht zeigen, dass er gestern ärgerlich war.29 Noch weniger kann er zeigen, dass er gestern nicht ärgerlich war. Zeitbezüge der Negation lassen sich nicht zeigen oder andeuten, sondern nur sagen. So bleibt der gesamte Bereich von Bedeutungen, der mimisch, gestisch oder lautmalerisch nicht darzustellen ist, vorsymbolischen Kommunikationsformen ebenso verschlossen wie den symbolischen menschli27 Ebd., S. 1573. 28 Ebd., S. 1571. 29 Vgl. S. Sjölander, „Some Cognitive Breakthroughs in the Evolution of Cognition and Consciousness“, in: Evolution and Cognition, 3(1)/1993, S. 1-10.
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chen Sprachen die Feinkörnigkeit und Scharfsinnigkeit der 1 : 1-Referenzzuordnungen animalischer Signalkommunikation.
5. Reflexivität Innerhalb rekursiv-syntaktischer Strukturen verändert sich auch die Referenzbeziehung von Zeichen, Wörtern und Sätzen ums Ganze. Syntax ist eine Form der Kompression von Semantik. Erst syntaktische Strukturen verleihen der Sprache Situationsunabhängigkeit. Sie erlauben den Ausdruck von Komplexität. Im Kontext normalsprachlicher Symbolsysteme referieren Wörter deshalb auch nicht auf Gegenstände, sondern auf Bedeutungen. Ihre Referenz stiftet, außer bei Eigennamen (und auch hier nur in einem speziellen Sinn), Bedeutung durch einen Bezug auf Referenten, die entweder gar keine sind – oder abwesend und opak bleiben. Sprachliche Referenz ohne Referenten30 kennen nur menschliche Normalsprachen. Sätze wiederum beziehen sich in der Regel nicht auf Ereignisse, sondern auf Sachverhalte. Die Relation (3) „Deine Gewinnchance verhält sich zu deinen Verlustchancen wie eins zu tausend“31 kann ohne Sprache nicht aufgefasst, repräsentiert oder gedacht werden. Der Satz hat kein konkretes Referenzobjekt, sondern ein abstraktes Sachverhältnis zum Gegenstand. Nichts an ihm ließe sich durch Zeigen auf Gegenstände oder Personen verständlich machen. Die Aussage (4) Gestern war der Himmel traumhaft blau, wenngleich auf einen konkreten, außersprachlichen „Gegenstand“ verweisend, bezieht sich dann auf einen abwesenden oder leeren Referenten, wenn der Himmel aktuell grau ist. Gleichwohl würde diese Leerheit oder gar Falschheit der Aussage problemlos von kompetenten Sprecher(inn)en verstanden.32 Nominalisierungen wie (5) der gegenwärtige König von Frankreich 30 Vgl. R. M. Sainsbury, Reference without Referents, Oxford 2005. 31 S. K. Langer, Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt a. M. 1965, S. 81. 32 J. Derrida, „signature événement contexte“, in: Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 379.
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erhalten ihre Bedeutung durch einen Pseudoreferenten, während negative Existentialien wie (6) Es gibt keinen Kontinent Atlantis auf nicht existente Referenzobjekte Bezug nehmen. Überdies zitieren indexikalische Ausdrücke wie „hier“ oder „dort“ meist opake Referenten,33 weil sie entweder einen höchst unbestimmten oder gar keinen Ort meinen, wie etwa in dem Satz (7) Was haben wir denn hier? Symbolisch-reflexive Normalsprachen haben den Vorzug, ein Verständnis von Bedeutungen (im Sinne Freges) auch ohne bestimmte Referenten stiften zu können. Bedeutende Ausdrücke sind folglich weniger abhängig von konkreten Referenten selbst als vielmehr von den Referenzbedingungen: „Reference is an absolute relation, and is not world-relative.“34 Auch ein Satz wie (8) In diesem Raum schwirrt eine Mücke kann sich auf einen so ausgedrückten Sachverhalt selbst dann sinnvoll beziehen, wenn zwei oder viele Mücken im Raum sein sollten.35 Sätze mit opaker Referenz sind deshalb nicht etwa der Ausnahme-, sondern der Regelfall normalsprachlich-rekursiver Aussagen. Die systematische Unbestimmtheit menschlicher Sprachen beeinträchtigt keineswegs deren Funktionalität, sondern bringt sie allererst hervor. Überdies sind menschliche Normalsprachen durch eine innere Mehrsprachigkeit charakterisiert, die mühelos zwischen Objektund Metaebenen zu wechseln erlaubt. Hier spiegelt sich das Prinzip syntaktischer Rekursivität in der Reflexivität von Äußerungsebenen, wie etwa im folgenden Beispiel: (9) Können wir auf das, was Du eben gesagt hast, noch einmal zurückkommen? Dass es dabei zu vollkommen verschiedenen Interpretationen der Wörter eines Satzes und damit des Satzes selbst kommen kann, hat
33 G. Evans, The Varieties of Reference, Oxford, New York 1982, S. 151-191, hier S. 164. 34 R. M. Sainsbury, Reference Without Referents, S. 46. 35 D. Davidson, Essays on Actions and Events, Cambridge 1980, S. 167.
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Quine die „Unbestimmtheit der Referenz“36 genannt. Unbestimmte Referenz ist kein Mangel, sondern das semantische Wahrzeichen symbolischer Normalsprachen. Denn im Unterschied zu Symptomen oder Signalen rufen Symbole „kein der Anwesenheit [ihres] Gegenstandes angemessenes Verhalten“37 hervor. Sie sind „nicht Stellvertretung ihrer Gegenstände, sondern Vehikel für die Vorstellung von Gegenständen“.38 Symbole ermöglichen die Präsenz von Objekten, ohne dass diese Objekte anwesend wären. Whitehead bereits hatte diese Form der Referentialität „symbolische Referenz“39 genannt. Weder legt Referenz eine eindeutige Zuordnung von Symbol und Symbolisiertem fest, noch ist die Referenz solcher – per se kultureller – Symbole „so clear as to be imperative“.40 Unterscheiden lässt sich vor diesem Hintergrund zwischen situationsgebundenen und situationsunabhängigen Repräsentationen. Situationsgebundene Zeichen (cued representations) repräsentieren etwas, das in einer gegebenen Situation tatsächlich anwesend ist oder durch etwas in dieser unmittelbaren Situation ausgelöst (triggered) wird.41 Dann legt die Situation auch die Art der Reaktion fest, die stets eine andere wäre, würde das wahrgenommene Objekt etwa als Fress- oder aber als Paarungsobjekt kategorisiert. Demgegenüber stehen situationsunabhängige Repräsentationen (detached representations) für Gegenstände oder Ereignisse, die weder anwesend noch durch eine unmittelbare Situation ausgelöst sind. So wie menschliche Kommunikation eine Vielzahl von non-, prä- oder para symbolischen Anzeichen einschließt, so verfügen durchaus auch Primaten (etwa im Suchverhalten) über ausgeklügelte Formen situationsunabhängiger Repräsentationen, kognitiv-sensomotorischer Schemata oder „spatial maps“.42 Es empfiehlt sich daher, Grade der Situationsunabhängigkeit zu unterscheiden – von einfachen Antizipationen bis hin zu jenen instinktunabhängigen Innenwelten, die sich ab einem bestimmten 36 W. V. O. Quine, Pursuit of Truth, Cambridge (Mass.), London 1992, S. 50-52; vgl. auch D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford 2001, S. 227. 37 S. K. Langer, Philosophie auf neuem Wege, S. 68. 38 Ebd., S. 69. 39 A. N. Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect (1927), New York 1955, S. 7. 40 Ebd., S. 66. 41 P. Gärdenfors, „The Detachment of Thought“, in: P. Gärdenfors, The Dynamics of Thought, Dordrecht 2005, S. 227-228. 42 A. M. Leslie, „Pretense and Representation: The Origins of ‚Theory of Mind‘“, in: Psychological Review, 94(4)/1987, S. 412-426.
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Komplexionsgrad nur noch mit symbolischen Normalsprachen bewältigen und ausdrücken lassen. Wenn Reaktionen nicht mehr von der Situation regiert werden, sondern von Rückblicken, reflektierten Erfahrungen oder Antizipationen, bedarf es nicht einfach weiterer Zeichen (Quantität), sondern anderer (Qualität).
6. Inferentialität Normale Sprachen sind nicht primär referentiell organisiert, sondern inferentiell. Wörter referieren nicht auf Gegenstände, sondern auf Bedeutungen, die sich begrifflich berühren, überlappen, ineinanderblenden. Normale Sprachen repräsentieren nicht Bedeutungen, sondern drücken sie aus.43 Die inferentielle Struktur normaler Sprachen zeigt sich vor allem in dem praktischen Vermögen des Verstehens. Begriffliche Klassifikation ereignet sich im Kontext einer Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen, d. h. in Verwendung der „inferentiellen Rollen“,44 die Begriffe in unserem Sprechen annehmen können: „Understanding can be understood […] as practical mastery of a certain kind of inferentially articulated doing.“45 Im Sprechen bedienen wir uns dieses praktisch unendlichen und dicht verwobenen Netzes inferentiell organisierter Bedeutungen: Wer sagt, dass seine Schwiegermutter verstorben sei, sagt implizit auch, dass er verheiratet ist; wer sagt, dass Jacks Kinder allesamt kahl sind, setzt implizit voraus, dass Jack mindestens zwei Kinder hat;46 wer sagt, dass diese Münze aus Kupfer ist, sagt implizit auch, dass sie bei 1084° Celsius schmilzt. Verstehen ereignet sich in dem impliziten Gebrauch solcher „materialen Inferenzen“47 – ein Gebrauchswissen, das sich auf Nachfrage oder Rechtfertigungsdruck explizit machen lässt. Diese Praxis beruht zwar auf der Praxis formaler Inferenz, also des logischen Schließens der Implikation, des modus ponens, des hypothetischen Syllogismus etc.; aber die Form der Implikation oder des Konditionals bleibt in normalen Sprachen Vgl. R. B. Brandom, Making It Explicit, Cambridge, London 1994, S. 70. Ebd., S. 89. Ebd., S. 120. Vgl. J. L. Austin, How To Do Things With Words, Cambridge, London 1960, S. 47-52. 47 W. Sellars, Pure Pragmatics and Possible Worlds. The Early Essays of Wilfrid Sellars, hrsg. von J. Sicha, Reseda (Cal.) 1980, S. 265. 43 44 45 46
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an die materiale Inferenz der Bedeutungen gebunden, die da in Beziehung gesetzt werden und stets Antezedens eines Konsequens sein können, welches seinerseits zum Antezedens eines anderen Konditionals oder einer anderen Implikation werden kann. Dieser semantische Inferentialismus hat, wie Brandom zeigt, „holistische Konsequenzen: Begriffe werden zum Teil über ihre wechselseitigen inferentiellen Beziehungen definiert (so daß es keinen Sinn ergibt, über jemanden zu sagen, er oder sie verfüge nur über einen einzigen Begriff).“48 Wir beherrschen nie nur ein konzeptuelles Schema, sondern mit dem einen immer auch schon andere.49 Den Begriff „Junggeselle“ kann nur sinnvoll anwenden, wer auch den Begriff „verheiratet“ meistert; und diesen meistert nur, wer weiß, dass man in unseren Breiten nicht absichtlich seine Schwester heiraten kann. Benötigt wird dafür ein bestimmtes, in der Regel geteiltes Hintergrund- und Gebrauchswissen von Begriffen wie „Ehemann“/„Ehefrau“, die Kenntnis der jeweiligen kulturellen Heiratspraktiken usw. Wie unsinnstolerant unsere üblichen pragmatischen Sinnkontexte sind, zeigen zahlreiche Beispiele formal misslungener, dennoch praktisch gelingender Kommunikation. Man verwechselt Namen, und dennoch weiß der Gesprächspartner, wer gemeint ist; wir verwenden die falschen Begriffe, ohne dass das Verständnis des Gegenübers maßgeblich darunter leidet; unsere Aussprache ist undeutlich oder verzerrt, wird vom Gegenüber aber automatisch ergänzt. Auch hier greifen Praktiken eines Sich-immer-schon-verständigt-Habens durch nichtdiskursive Elemente der Kommunikation; sie stellen kraft ergebnisgleicher Inferenzen (also dysfunktionaler Antezedenzen, aber gleichwohl funktionaler Konsequenzen) Evidenzen her, die dem tatsächlichen Wortlaut nicht zu entnehmen wären. Dass wir in der Regel selbst Satzfetzen immer schon als vollständige Sinneinheiten verstehen, lässt sich mit Brandoms inferentieller Semantik oder auch mit Merleau-Pontys Sprachphänomenologie der Ausdrucksfunktion beschreiben, die dafür den Ausdruck des sousentendue und der sprachlichen „Sedimentation“ geprägt hat.50 Dieses inferentielle Netz reißt auch in Fällen von Un- oder Missverständnissen nicht; im Gegenteil: Es verknüpft und stärkt sich 48 R. B. Brandom, „Hegelianischer Pragmatismus“, in: Zeitschrift für Kulturphilo sophie, 2(2)/2008, S. 310. 49 D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, S. 183-198. 50 M. Merleau-Ponty, Signes, Paris 1960, S. 145.
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an ihnen. Denn wir können Begriffe offenbar nicht streng nichtinferentiell gebrauchen. Sinneinheiten werden unter der Hand auch dort hergestellt, wo wir keine vermuten; Satzellipsen werden auto matisch rekontextualisiert und ergänzt durch jenes eigentümlich normale sous-entendue der Sprache, dessen Prinzip Merleau-Ponty auch das einer „kohärenten Deformation“51 nennt. Daraus beziehen Redensarten, Phraseologismen und Metaphern ihre nichtverstehenskompensatorische Funktion, die auf einem – zwar individuell verschiedenen, aber im Ganzen erstaunlich gleichförmigen – Vorverständnis beruht, das sich material-semantischer Inferenzen verdankt. Pragmatisch missverständnisanfällige Formen semantischer Unbestimmtheit wie (10) „so oft wie möglich“ sind problemlos verständlich, obwohl höchst Verschiedenes, ja Gegensätzliches darunter verstanden werden kann: von „einmal im Jahr“ bis „jede Woche“. Solche Formulierungen stiften Sachverhalte, die es nur als sprachliche gibt. Es steht zu vermuten, dass es in den Kommunikationswelten anderer Spezies keine rein sprachlichen Fakta gibt.
7. Simplizität Ein hinreichend bestimmter, gehaltvoller Begriff von Sprache, der dann überhaupt erst als differentia specifica einer „anthropologischen Differenz“52 in Anspruch genommen werden könnte, müsste die Aspekte von Differentialität, Rekursivität, Reflexivität und Inferentialität vereinen. Nicht erst die moderne Sprachphilosophie, nicht erst Donald Davidson, der mit Descartes zum speziesistischen „bad boy“ der gegenwärtigen animal philosophy wurde, sondern schon Aristoteles hatte die spezifische Differenz der rationalitas, die dann innerhalb der arbor porphyriana die letzte Weggabelung der anima sensitiva motivierte, an die Sprach- und damit Denkfähigkeit gekoppelt: Der Mensch sei das einzige Tier, das Sprache
51 Ebd., S. 149. 52 M. Wild, Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume, Berlin, New York 2006.
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hat (zōon logon echōn).53 Wer so argumentiert, muss vor dem Hintergrund des hier rekonstruierten Sprachbegriffs zweierlei unterstellen: (i) Zum einen, dass man voll entwickelte, am vorläufigen Ende der Evolution stehende menschliche Normalsprachen mit den Kommunikations- und Lebensformen anderer Spezies überhaupt ahistorisch vergleichen könne; (ii) zum anderen, dass tatsächlich alle menschlichen Normalsprachen die genannten Charakteristika symbolischer Reflexivität aufweisen. Schon die Sprachursprungstheoretiker der Aufklärung blicken fasziniert auf die so gar nicht primitiven Sprachen so genannter „primitiver“ Naturvölker. Lange vor den Studien Chomskys hatte Johann Peter Süßmilch aus den komplexen Strukturen ihm bekannter Naturvolkssprachen auf bestimmte grammatische Universalien geschlossen.54 Wie sonst ließe sich, fragt er, die „höchstmerkwürdige Übereinstimmung so verschiedener Sprachen und entfernter Völker“55 erklären – insbesondere die Universalität der Existenz von Wortarten und Satzteilen? Der phonetischen, semantischen und skripturalen Varianz natürlicher Sprachen innerhalb ihrer universalen Grammatikalität stellt er die Gleichförmigkeit der Tierkommunikation gegenüber: Der Hund in China belle geradeso wie der in Deutschland.56 Ähnlich gehen heute Deacon, Fauconnier und Turner, Bickerton und andere davon aus, dass es keine primitiven menschlichen Sprachen gibt. Im erklärten Gegensatz zu Chomsky rekurrieren ihre Arbeiten allerdings nicht auf die Universalität vorgeblich eingeborener grammatischer Funktionen, sondern auf die Eigenart spezifisch menschlicher Begriffsintegration (double-scope conceptual integration)57 bzw. auf die höchst praktische – nämlich symbolische – Opazität des Bezugs sprachlicher Repraesentantia auf ihre nicht-sprachlichen Repraesentanda. Vor diesem Hintergrund erscheint die opak-referentielle, symbolische Sprache als Anomalie der Evolution; sie kann deshalb aber kaum zum Vergleichsmaßstab gemacht werden. Es gäbe, folgert Deacon, in einem derart verzerr53 Vgl. Aristoteles, Pol. 1253a9. 54 J. P. Süßmilch, Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, Berlin 1766, § 31. 55 Ebd., § 33. 56 Ebd., § 3. 57 Vgl. G. Fauconnier, M. Turner, The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2003, insbes. S. 171-194.
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ten Wettbewerb schlicht keine Konkurrenten. Um mit symbolischreferentiellen Normalsprachen vergleichbar zu sein, müssten tiersprachliche oder extraterrestrische Vergleichsobjekte • eine Formenkombinatorik aufweisen, die unterscheidbare Elemente in höchst verschiedene Konstellationen bringen kann; • einen hohen Produktivitätsoutput bei gleichzeitig niedriger Redundanzrate erreichen; • eine Zeichenkombinatorik an den Tag legen, die Variantenreichtum erlaubt, gleichwohl aber die Mehrzahl der kombinatorischen Möglichkeiten ausschließt; • ein Zeichensystem bereitstellen, das jedes „simple one-to-one mapping“ zwischen Zeichen und Bezeichnetem verhindert; • einen Zeichengebrauch erlauben, der den Zeichen maximale Anpassungsfähigkeit an jeweils neue Situationen einräumt.58 Deacon führt dieser Kriterienkatalog auf zwei Fragen bzw. „Mysterien“: Warum gibt es keine primitiven menschlichen Sprachen? Warum war symbolische Referenz so schwer zu entwickeln (mit entsprechendem Selektions- und Adaptationsdruck)59 und ist für Menschen doch so mühelos zu beherrschen? Allerdings ist schon die Suggestivität der ersten Frage nicht mehr selbstverständlich. Seit Daniel L. Everetts Studien zur indigenen Sprache der brasilianischen Pirahã sind die Untersuchungsakten der Frage nach Existenz einfacher, nicht-symbolischer und nicht-rekursiver Normalsprachen wieder offen. Everetts Analyse zufolge zeigt sich die Exzeptionalität von Pirahã in der Absenz hypotaktischer Strukturen; es gebe keine Möglichkeit syntaktischer Einbettung von Sätzen.60 Parallel dazu steht die Absenz von Numeri: Pirahã verfügt einzig über Worte relativer Mengenbezeichnungen („kleine Anzahl“/„größere Anzahl“) und kennt keine Unterscheidung von Singular und Plural. Auch nach intensiven Lernübungen gelinge es monolingualen Pirahã-Sprecher(inn)en nicht, bis Zehn zu zählen oder Zahlen zu addieren.61 Auffällig sind auch 58 T. Deacon, The Symbolic Species, S. 32-43. 59 Vgl. ebd., S. 45: „The incessant demands of efficiently reconstructing a symbolic system in each generation would have created selection pressures to reshape our lineage’s ape brains to fit this new function.“ 60 D. L. Everett, „Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã“, in: Current Anthropology, 46(4)/2005, S. 621-634, hier S. 628-631. 61 Vgl. D. L. Everett, „Pirahã Culture and Grammar: A Response to some Criticism“, in: Language, 85(2)/2009, S. 405-442.
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die Abwesenheit von Zeitwörtern und -formen für den Modus der Vergangenheit, die Absenz eigener Farbwörter und das – je nach (umstrittener) Zählung – auf 10 bzw. 7 Phoneme reduzierte Lautsystem. Die ursprüngliche Abwesenheit eines Pronominalsystems (von dem Everett vermutet, das ein solches erst spät aus einer Tupi-GuaraniSprache importiert wurde)62 dürfte folglich eine ana- oder kataphorische Referenzbeziehung ebenso wenig erlauben wie die Unkenntnis eines Perfekts den Bezug auf Vergangenes erschweren. Auch werden Verwandtschaftsverhältnisse nur in wenigen Worten ausgedrückt, zwischen Vater und Mutter morphologisch nicht unterschieden. Die Deutung dieser Befunde wird bis dato kontrovers geführt.63 Fraglich ist zum einen, ob die Materialien die Hypothese fehlender primitiver Sprachen widerlegen; fraglich zum anderen, ob sie die Exklusivität bzw. Inkommensurabilität menschlicher Normalsprachen tatsächlich entkräften. Insbesondere kann man die Befunde, pace Everett, auch so deuten, dass die Erfahrungsunmittelbarkeit der Pirahã-Kultur keineswegs die Strenge eines „nur ein Ereignis pro Äußerung“-Schemas (one event per utterance64 – Deacons „one-to-one mapping“) und so auch keineswegs deren strenge NichtRekursivität erzwinge. Weniger umstritten scheint unter Linguisten das auch an der Pirahã-Sprache sich zeigende Verhältnis von Sprachform und Sprachgebrauch. Nicht weil „grammatische Marker“65 fehlten, um über zeitlich oder örtlich weit entfernte Sachverhalte zu sprechen, bleiben solche Sachverhalte unthematisiert. Sondern weil diese bislang isolierte Gemeinschaft offensichtlich nicht über zeitlich oder örtlich weit Entferntes spricht oder zu sprechen nötig fand (Everett ermittelte nur zwei Pirahã-Sprecherinnen, die sich an Urgroßeltern erinnern konnten; wenige nur erinnerten die Namen ihrer Großeltern), gibt es auch keine Begriffe oder grammatischen Formen für derart situationsunabhängige Repräsentationen (detached representations). Freilich beweist die Abwesenheit von Wörtern nicht auch schon die Nichtexistenz einer bestimmten Bedeutung; nicht jeder Begriff erhält ein eigenes Wort.
62 Vgl. D. L. Everett, „Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã“, S. 628. 63 Vgl. A. Nevins, D. Pesetsky, C. Rodrigues, „Pirahã-Exeptionality: A Reassess ment“, in: Language, 85(2)/2009, S. 355-402. 64 Ebd., S. 363. 65 M. Tomasello, „Comment“, in: Current Anthropology, 46(4)/2005, S. 640.
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8. Intentionalität Weder ist Intentionalität ein artspezifisches Charakteristikum, noch bedürfen ihre Formen des „Über-etwas-Seins“ (aboutness) oder des „Bewusstseins von Etwas“ notwendig symbolisch-reflexiver Sprachen. In dem trivialen Sinn, dass Systeme dann intentional heißen, wenn sie ein intentionales Objekt „haben“, also irgendeine Repräsentation von Etwas gewinnen, wäre auch dem von Uexküll beschriebenen Holzbock (Ixodes ricinus) Intentionalität zuzusprechen. Das intentionale Wahrnehmungsobjekt dieser Zecke wäre dann z. B. die Buttersäure, die dem Schweiß des Säugetiers entstammt, auf das sie sich aus genau diesem Grund fallen lässt.66 In einem philosophisch anspruchsvolleren Sinn lassen intentionale Systeme (pseudo-)propositionale Einstellungen erkennen: x nimmt an, dass p. y wünscht, dass q. z grübelt, ob r. Intentionalität meint dann das Verhältnis dreier Relata: des Systems (x, y, z), der Einstellung oder Aktivität (annehmen, wünschen, grübeln) und dem Inhalt oder Gegenstand dieser Einstellung (p, q, r).67 Daniel Dennett unterscheidet ferner zwischen intentionalen Systemen, die aus Gründen handeln, die ihnen selbst nicht durchsichtig sind und solchen, deren Gründe transparente Motive, Ursachen und Absichten auch für diese „Systeme“ selbst sind: „reasons for us“68 – eine Formulierung, die an Kants Bestimmung der Erscheinungen erinnert, die nur kraft ihrer kategorialen Formierung durch den Verstand auch Gegenstände „für uns“69 sein können. Gründe, die „für uns“ sind, haben eine reflexiv-intentionale Struktur. Sie „sind“ über etwas Zweifaches – nämlich nicht nur über ihren unmittelbaren Gegenstand, sondern mittelbar auch über uns selbst. Sie beziehen sich auf uns, indem wir uns mit ihnen auf uns selbst beziehen können. Solche Gründe sagen deshalb nicht nur etwas über dieses
66 J. von Uexküll, G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Men schen, Frankfurt a. M. 1970, S. 6-14. 67 Vgl. D. Dennett, Kinds of Minds. Toward an Understanding of Consciousness, New York 1996, S. 45. 68 Ebd., S. 48. 69 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 90.
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oder jenes Motiv, sondern mit ihnen auch etwas über uns im Allgemeinen: dass wir reflexiv-intentionale, Gründe gebende Wesen sind. Von reflexiver Intentionalität abhängig, aber noch einmal eigens von ihr zu unterscheiden ist jene tertiäre Intentionalität, die nach Auffassung von Sprachphilosophen (wie Grice und Searle) und Anthropologen (wie Deacon und Tomasello) das Spezifikum menschlichen Bewusstseins ausmacht. Mit ihr erst wird das Feld nicht nur subjektiv, sondern auch intersubjektiv selbsttransparenter Bewusstseinsakte erreicht. Grice zufolge passen wir unsere propositionalen Einstellungen nicht nur stets einem Gegenüber an, sondern wir unterstellen auch, dass dieser weiß, dass ich meine Einstellungen im Wissen um die seinen diesen immer schon angepasst habe, um von ihr/ihm verstanden zu werden.70 So entsteht eine – uns in der Regel gar nicht bewusste – rekursive Intentionalitätsstruktur, die durch ihren impliziten „Ich weiß, dass Du weißt, dass ich weiß …“-Erwartungsabgleich zur Voraussetzung geteilter Intentionalität, gemeinsamen Planens oder koordinierten Handelns wird. Manche Analysen schreiben deshalb bereits so alltäglichen Aussagen wie (11) Kann ich bitte das Salz haben? die Struktur einer fünffachen Intentionalität zu: Person A möchte nicht einfach nur einen Gegenstand, sondern A möchte Person B zu verstehen geben, dass sie möchte, dass B versteht, dass sie das Salz haben möchte.71 Es wird dann davon ausgegangen, dass für die Kommunikation anderer Lebewesen, etwa von Primaten, eine derart verwickelte Intentionalitätsstruktur weder nötig noch möglich sei.72 Terrence Deacon sucht zu zeigen, dass sich symbolische Sprachen erst auf dem Boden tertiär-intentionaler Bewusstseinsstrukturen ausbilden, diese Strukturen zugleich aber auch nur vermöge symbolischer Formen hervorgebracht werden können. Gómez und Gärdenfors setzen voraus, dass die menschliche Fähigkeit „to share visions“ unhintergehbar an die sprachlichen Formen von higher order intentions gebunden ist: „The inner worlds of other animals are not sufficiently rich to manage the complexity of detached re-
70 H. P. Grice, „Utterer’s Meaning and Intentions“, in: The Philosophical Review, 78(2)/1969, S. 147-177. 71 P. Gärdenfors, How Homo, S. 147. 72 J. C. Gómez, „Mutual Awareness in Primate Communication: A Gricean Approach“, in: S. T. Parker, R. W. Mitchell, M. L. Boccia (Hrsg.), Self-Awareness in Animals and Humans, Cambridge 1994, S. 61-80.
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presentations that language refers to.“73 Auch die umgekehrte Auffassung wird vertreten: Primaten verfügen sehr wohl über inneren Gedankenreichtum, protopropositionale Auffassungen und abstrakte Gedanken, können sie aber nicht sprachlich äußern74 – ein problematischer mentalistischer Schluss. Unkontrovers dürfte sein, dass die geistige Innenwelt der menschlichen Spezies über fast beliebig verschachtelbare Vorstellungen (nesting of inner worlds)75 und ipsoflexive Gedanken verfügt. Wir können eine – von diesen selbst unabhängige – Vorstellung unserer inneren Vorstellungen bilden, z. B. kontrafaktische Wünsche. Denn ein situationsunabhängiger, „freier“ Wille ist nicht schon dort, wo die Voraussetzungen des Libet-Experiments ihn vermuten: in der (neuronalen bzw. subkortikalen) Ermöglichung instruierter Gedanken-, Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit (= schwacher Freiheitsbegriff).76 In einem philosophisch wie alltagspragmatisch anspruchsvollen Sinn ist der Wille erst dort frei, wo wir ihn auch anders wollen, uns willentlich in eine Distanz zu ihm setzen können (= starker Freiheitsbegriff). Der Wille muss, mit Hegel gesprochen, seine eigene Negativität enthalten.77 Nicht schon Wahlfreiheit, sondern die Möglichkeit zu Wünschen zweiter Ordnung ist, nach Harry Frankfurts berühmter Analyse, zuverlässiges Zeichen freier Willensäußerungen. Wer rauchen will (Wunsch erster Ordnung), zugleich aber den Wunsch hat, nicht mehr rauchen zu wollen (Wunsch zweiter Ordnung), zeigt, dass er in der Lage ist, frei seinen eigenen Willen zu wählen, indem er eine Differenz im Wünschen selbst herstellt.78 Von Intentionalisten wird nun bezweifelt, dass solche Intentionen und Wünsche höherer Ordnung anderen Spezies als dem animal symbolicum zur Verfügung stehen: „Only humans […] can ponder on their wishes and want them to be different.“79
P. Gärdenfors, How Homo, S. 143. Vgl. X. Hurford, The Origins of Meaning, Oxford 2007. P. Gärdenfors, How Homo, S. 148. Vgl. D. Linke, Die Freiheit und das Gehirn. Eine neurophilosophische Ethik, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 14. 77 Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Gesammelte Werke 14/1, hrsg. von K. Grotsch, E. Weisser-Lohmann, Hamburg 2009, S. 45. Hegel spricht dort vom „freye[n] Wille[n], der den freyen Willen will“. 78 Vgl. H. G. Frankfurt, „Freedom of the Will and the Concept of a Person“, in: Journal of Philosophy, 68(1)/1971, S. 5-20. 79 P. Gärdenfors, „The Detachment of Thought“, S. 236. 73 74 75 76
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Die zwischen Primatologen lebhaft geführte Diskussion um die Formen geteilter Intentionalität als entscheidender anthropologischer Differenz haben vielleicht weniger Erkenntnisse über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren als über die des Menschen erbracht. Zweifellos vollführen Primaten Gruppenaktivitäten. Doch nach Michael Tomasellos Deutung haben die kollaborativen Tätigkeiten schon 18 bis 24 Monate alter Kinder diese Tätigkeiten selbst zum Gegenstand, kein übergeordnetes Ziel. Diese Kooperation um des Kooperierens willen verdankt sich dem schon früh aufkommenden Motiv, Interesse und Aufmerksamkeit zu teilen. Diese gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) als ein „two people experiencing the same thing at the same time and knowing together that they are doing this“80 führt zu Formen von Gruppenaktivitäten, die sich von denen der Primaten darin unterscheiden, dass sie auch dann ausgeführt werden, wenn keinerlei „benefit for themselves“ zu erwarten steht. Nicht erst Sprache an sich oder Bewusstsein von Etwas, sondern deren noch vorsprachliche Präadaptation, nämlich die symbolische Beziehung einer shared intentionality, markiert für Tomasello die mögliche Gattungsdifferenz: „Shared intentionality is a small psychological difference that made a huge difference in human evolution in the way that humans conduct their lives.“81 Eine solche gruppenpsychologische Wir-Intentionalität wäre also nicht erst durch ein explizites Bewusstsein von dem so entstandenen „Wir“ erzeugt (im Unterschied zur gruppensoziologischen Wir-Intentionalität),82 sondern durch eine Tätigkeit, innerhalb derer „the collaborative activity itself seemed to be more rewarding than the instrumental goal.“83 Das hat Auswirkungen auf Blickfolge und Gestik. Beide Verhaltensformen äußern sich artspezifisch verschieden und wurzeln in der Eigenart der jeweiligen kollaborativen Tätigkeiten. Weil Primaten weder perlokutionäre kommunikative Intentionen verstünden noch zu Rollenwechseln in nicht-zweckgerichteten kollaborativen Tätigkeiten fähig seien, beherrschten sie auch die symbolisch hochprägnante Geste des Fingerzeigs nicht.84 Dagegen führen Primato80 M. Tomasello, M. Carpenter, „Shared Intentionality“, in: Developmental Science, 10(1)/2007, S. 121-125, hier S. 121. 81 Ebd., S. 124. 82 Vgl. M. Gilbert, On Social Facts, Princeton 1989. 83 M. Tomasello, M. Carpenter, „Shared Intentionality“, S. 123. 84 M. Tomasello, „Why Don’t Apes Point?“, in: N. J. Enfield, S. C. Levinson (Hrsg.), Roots of Human Sociality: Culture, Cognition and Interaction, Oxford, New York 2006, S. 506-524, hier S. 516.
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logen wie Volker Sommer empirische Befunde an, die belegen sollen, dass etwa auch bei Schimpansen explizit unzweckmäßige Tätigkeiten und „irrationale Traditionen“ (wie die des Augeneindrückens oder Kieselklackerns) der „emotionalen Synchronisation“ und so dem „Gefühl eines kollektiven ‚Wir‘“85 dienten.
9. Mentalese Mag umstritten sein, ob nun die Geste des Fingerzeigs artspezifisch menschlich ist und in ihrem Gebrauch bereits das Vermögen geteilter Intentionalität anzeigt, oder ob das Begreifen der kollaborativen Intentionalitätsstruktur imitativ erlernter Interaktionen den – taxonomisch gesehen – „anderen“ Hominoidae nicht offen steht, so scheint doch unbestritten, dass auch diese im Spielverhalten, im Suchen und Planen über situationsunabhängige Repräsentationen verfügen. Daher scheint die derzeit kontrovers geführte Debatte, ob Tiere denkfähig seien oder gar eine „theory of mind“ besäßen, auf einer Reihe von Missverständnissen, mindestens aber begrifflichen Unschärfen zu beruhen. Nicht nur gehen transzendentale und empirische Argumente durcheinander, sondern es konkurrieren auch höchst verschiedene Begriffe davon, was in der abstrakten, schon von problematischen Voraussetzungen ausgehenden Frage „What Do Animals Think?“ eigentlich „think“ und was „animals“ heißen mag. Aus empirischer ebenso gut wie aus philosophischer Perspektive ist bereits der Kollektivsingular animal (das Tier), selbst der Plural „animals“ (die Tiere) unhaltbar. Derrida hat eindrücklich auf die Absurdität einer Opposition von homo und animal oder animals hingewiesen, die dem Taxon „animal(s)“ schlicht alle sensitiven nicht-menschlichen Lebewesen subsumiert. Um eine solche Unterscheidung zu vermeiden, die – nach Kants Terminologie – auf einem fragwürdigen „unendlichen Urteil“ beruht, hat Derrida das Kunstwort animot vorgeschlagen: Ein Wort, das homophon zum Plural animaux steht, allographisch aber mit dem Wort „mot“ kenntlich
85 V. Sommer, „Kulturnatur – Naturkultur“, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, 5(1)/2011, S. 9-39.
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macht, dass sich die Unterscheidung nomenklaturischer Willkür verdankt.86 Unbestimmt bleibt bei Verfechtern der Theorie, dass „Tiere“ – von Fischen über Bienen bis zu Schimpansen –87 „denken“ können, allerdings auch, was genau dies heißen mag. Donald Davidsons Bestimmung, an dem die Kritik der animal minds-Theoretiker sich entzündet, hatte immerhin den Vorteil begrifflicher Klarheit. Davidson band das „Habenkönnen“ von Gedanken radikal an (man darf hinzufügen: Umgangs-) Sprache, weil nur in ihr propositionale Einstellungen allgemein vernehmbar werden (Responsivität), diese Einstellungen sich auch als (überraschend) falsch herausstellen können (Negativität) und überhaupt wahre und falsche Einstellungen mit anderen wahren oder falschen Einstellungen semantisch vernetzt sind (Inferentialität).88 Denken würde dann sehr wohl an Sprache gebunden, nicht aber schon und einzig an mentale Repräsentationen bzw. Bewusstseins tätigkeiten. Im Anschluss an Davidson hat Richard Rorty darauf aufmerksam gemacht, dass es notwendig ist, bestimmte Auffassungen an die Voraussetzung ihrer sprachlichen Artikulation zu binden. Denn sonst könnten wir, abgekoppelt von sprachlichen Äußerungen, Hunden oder Amöben auch keine Auffassungen über Kosmologie oder Transsubstantiation sinnvoll absprechen.89 Dann nämlich müsste von einer signifikantenfrei möglichen Gedanken„sprache“ reiner Signifikate ausgegangen werden. Offenbar scheinen generative Grammatiker, Assoziationspsychologen und Kognitionswissenschaftler durchaus gewillt, der Hypothese einer solchen sprachlosen Sprache des Bewusstseins zu folgen: „Mentalese“. Eine Sprache zu beherrschen, wäre dann das Vermögen, Übersetzungen aus dieser innativen Sprache in Laut- oder Wortreihen zu meistern.90 Solche Ansätze kranken freilich an der bereits von Rousseau aufgedeckten Sprachentstehungsaporie:91 Man muss einen Geist voraussetzen, dessen sprachlose Operationen Sprache hervorbringen, in welcher 86 Vgl. J. Derrida, L’animal que donc je suis, Paris 2006, S. 65. 87 So die grobe Eingrenzung in R. W. Lurz, „Introduction“, in: R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009, S. 1-14, hier S. 9. 88 D. Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, S. 193-197. 89 Vgl. R. Rorty, Philosophy and Social Hope, London 1999, S. 45 f. 90 Vgl. S. Pinker, The Language Instinct. How the Mind Creates Language, New York 1994, S. 82. 91 Vgl. J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, hrsg. von H. Meier, Paderborn, München, Wien, Zürich 2001, S. 116-122.
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all jene propositionalen Gehalte expressiv werden, die auch ohne sie möglich sein sollen. Wozu dann aber Sprache? Mag unproblematisch sein, dass andere Lebewesen (welche, wäre jeweils genau zu klären) zu subsprachlichen Repräsentationen, zu intentionalen Auffassungen oder sogar zu propositionalen Einstellungen fähig sind, so ist doch höchst umstritten, ob hier nicht nur von Repräsentationen erster Ordnung (first order represententional approach: FOR), sondern auch von Repräsentationen höherer Ordnung (higher order represententional approach: HOR) gesprochen werden kann.92 HOR-Theoretiker müssen folglich plausibel machen, dass die de dicto-Auffassungen nichtmenschlicher Lebewesen auch de re-Auffassungen sind. Dale Jamieson weist auf einen logisch-semantischen Aspekt dieses Problems hin.93 Die Auffassung (i), dass Tiere denken, scheint mit der zunächst plausibel wirkenden Auffassung (ii), dass wir (aufgrund mangelnder expliziter Responsivität) indes nicht wissen können, was genau sie in besonderen Situationen denken, nicht vereinbar. Denn wenn „denken“ stets heißt: „etwas Bestimmtes denken“, und „wissen“ stets heißt, dass die Wahrheit dieses Wissens irgendwie fest steht oder überprüfbar ist, dann wäre Auffassung (i) nur unter der Bedingung der Negation von Auffassung (ii) möglich. Einfacher gesagt: Dass Tiere denken, würde nur behaupten können, wer auch wissen kann, was sie konkret denken. Jamiesons argumentative Scholastik beruht allerdings schon auf einem unterbzw. überbestimmten Begriff von Denken, der alle Formen sensitiver, emotionaler und rationaler Repräsentationen einzuschließen scheint. Würden wir nichtmenschlichen Organismen schlicht Bewusstseinstätigkeiten zuschreiben und a) alle Formen des impliziten und expliziten Metabewusstseins – des sich Gründe-Gebens und Rechenschaft-Ablegens über diese und jene Bewusstseinsinhalte – und der geteilten Intentionalität „Repräsentationen höherer Ordnung“ nennen und b) deren unhintergehbare Sprachabhängigkeit durchsichtig machen, dann blieben wenigstens die basalen, wenigstens belastbaren begrifflichen Unterscheidungen gewahrt.
92 R. W. Lurz, „Introduction“, S. 8 f. 93 D. Jamieson, „What Do Animals Think?“, in: R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009, S. 15-34.
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10. Metabewusstsein Damit ließe sich auch eine zweite, schlicht begrifflicher Sorglosigkeit entspringende Frage von HOR-Theoretikern angemessener stellen: „Haben Schimpansen eine Theorie des Geistes/Bewusstseins?“ Denn gemeint ist keine „Theorie“, sondern eine Form des Metabewusstseins eigener Bewusstseinsinhalte: „Ich denke, dass ich weiß, dass …“. Aus den Befunden, die der Debatte zwischen Premack und Woodruff einerseits und Tomasello und Call andererseits zugrunde liegen, scheint hervorzugehen, dass Schimpansen in der Lage sind, nicht nur die Handlungsziele von Artgenossen und Experimentatoren zu „verstehen“, sondern auch zu antizipieren. Aus Experimentalanordnungen, in denen Probanden ihr Handlungsziel nicht erreichten (etwa in Futtersuchexperimenten), die Schimpansen aber gleichwohl reagierten, als ob es erreicht wurde, lässt sich schließen, dass die Tiere auf „mögliche Absichten“ reagieren und diese mental vorwegnehmen: Sie folgen einem „imitation paradigm in which the chimpanzee subject actually acts out in her own behaviour what she understands the other to be attempting to do.“94 Damit scheint die Möglichkeit einer Art Rollentausch eröffnet, in der das Versuchstier die Handlungen des Aktors übernimmt. Zugleich zeigen solche Versuche die Grenzen des Antizipationsvermögens auf. Call und Tomasello vermuten, dass Schimpansen nicht unterscheiden zwischen Bedingungen der Nichtinformation (etwa über den Ort eines bestimmten Objekts) und solchen der Fehlinformation. Anders gesagt: „chimpanzees understand knowledge-ignorance, but not false-belief“.95 Entsprechend scheint sich Davidsons begriffliches Argument, dass Auffassungen zu haben notwendig auch die Überraschung über die Falschheit der eigenen Auffassungen implizieren müsse, auf empirischen Wege nicht so einfach zu widerlegen. In diesem Zusammenhang hat Hans-Johann Glock ein Vermittlungsargument für die Kontroverse zwischen Lingualisten (Denken ist nicht ohne Sprache möglich) und ethologischen Mentalisten (Denken ist auch in subsprachlichen Formen bestimmter Tierarten möglich) zur Diskussion gestellt. Begriffsgebrauch lasse sich, so eine der – moderat mentalistischen – Prämissen seines Arguments, auch an nicht-linguistischem Verhalten 94 J. Call, M. Tomasello, „Does the Cimpanzee Have a Theory of Mind? 30 Years Later“, in: Trends in Cognitive Sciences, 12(5)/2008, S. 187-192, hier S. 189. 95 Ebd., S. 191.
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feststellen. Auch Tiere gewinnen, so Glocks Argumentation, holodoxastische Auffassungen, die gleichwohl nicht „holophrastisch“96 (ein unglücklicher Begriff, weil er in der Linguistik protosprachliche Ein-Wort-Sätze meint, bei Glock aber Davidsons inferentialistischen Holismus bezeichnen soll) sein müssen. Dass eine Honigbiene über grobe kognitive Schemata der Pflanzenobjekte verfügt, die sie auf ihrer Pollensuche ansteuert, scheint ebenso evident wie der Umstand, dass Hunde unterschiedliche Schemata für „Katze“ und „Hamster“ besitzen. Der springende Punkt scheint der zu sein, dass holodoxastische, aber subsprachliche „Begriffe“ im Unterschied zu den sprachabhängigen („holophrastischen“) nicht inferentiell verfasst sein können – und auch nicht müssen. Begriffliches Vermögen muss dann auch nicht über ein dichtes Netzwerk verwandter Auffassungen oder über Metaauffassungen verfügen.97 Weder muss der Hund, der einer Katze nachjagt, „wissen“, dass es eine Eiche ist, auf die sie sich flüchtet,98 noch muss er „wissen“, dass Eichen – wie andere Bäume auch – brennen können.99 Dies zeige zum einen, so Glock, dass das empirische Wissen von Tieren nicht auch schon ein konzeptuelles ist und zum anderen, dass die „Begriffe“, über die Tiere verfügen, schlicht nicht die gleiche semantische Extension und inferentielle Konsequenz haben müssen, wie die Begriffe, über die wir verfügen. Ein solcher negativer Beweis, dass die Argumente eines holistischinferentialistischen Lingualismus nicht die Annahme von animal minds widerlegen, soll indes nicht Differenzen verschleifen, sondern deren Demarkationslinien transparenter machen. Sie wäre dann dort aufzusuchen, wo wir nichtmenschlichem Bewusstsein zwar die Anwendung von (nicht nur perzeptiv gewonnenen, sondern auch erlernten) Begriffen zuschreiben – nicht aber auch das Vermögen, diese Begriffe erläutern zu können.100
96 97 98 99 100
H.-J. Glock, „Animals, Thoughts and Concepts“, S. 42. Ebd., S. 49. N. Malcolm, „Thoughtless Brutes“, S. 13. H.-J. Glock, „Animals, Thoughts and Concepts“, S. 53. Ebd., S. 61.
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11. Signalkommunikation Je eindimensionaler und weltärmer ein Organismus an seine Umwelt gebunden ist, desto situationsabhängiger dürften dessen mentale Repräsentationen sein. Wenn diese Prämisse zutrifft, dann lässt sich der Begriff der situations(un)abhängigen Repräsentationen (cued vs. detached representations) zum einen mit Uexkülls biosemiotischem Konzept organismusspezifisch bedeutungsvoller Umwelten verbinden.101 Zum anderen ließe er sich mit der Unterscheidung von holodoxastischen und inferentiell-holistischen Begriffen noch wesentlich genauer differenzieren. Wie sehr Umweltbindung und Spezialisierung die Situationsabhängigkeit von Reaktionen auf diese Umwelt prägt, zeigt die Signalkommunikation von Insekten. Hier scheint einer quantitativ hochspezifischen Signalcodierung durch das Communicans die qualitativ wenig variationsreiche Breite des übermittelten Communicatum zu entsprechen. In der Verbindung von chemischen, akustischen, taktilen und optischen Signalen erweitert sich zwar das Kommunikationsspektrum beträchtlich, kaum aber das Informationsspektrum. Überdies dürfte es den wenigen Informationen an Opazität mangeln, sie haben exakt zu sein. Seidenspinnerweibchen (Bombicidae) verströmen aus Duftdrüsen die Locksubstanz Bombykol, die die Seidenspinnermännchen selbst über kilometerlange Distanzen mit ihren an den Antennen sitzenden Chemorezeptoren auch in kleinster Verdünnung zu dekodieren in der Lage sind.102 Die Passgenauigkeit der Informationen etwa im Paarungsverhalten ruft eine Eindeutigkeit und Eindimensionalität dieses Verhaltens hervor, das keine Wahl mehr erlaubt. Passen Locksubstanzsender und Locksubstanzempfänger, so eröffnet sich ihnen keine Möglichkeit, sich anders zu verhalten. Zur chemischen Lockstoffkommunikation kann die akustische Signalkodierung hinzutreten. Borkenkäfer (Scolytide) zirpen mit Hinterleib und Flügeldecken – ohne die Luftschwingungen indes „hören“ zu können. Vielmehr vermitteln die Schwingungsrezeptoren ihres Körpers die sich auf dem Holz übertragenden Vibrationen zu „Informationen“. Vibrationssignale können artspezifisch 101 Vgl. B. Buchanan, Onto-Ethologies: The Animal Environments of Uexküll, Heidegger, Merleau-Ponty, and Deleuze, New York 2008, S. 7-38. 102 Vgl. T. Bauer, „Die Sprache der Insekten“, in: Christiana Albertina, 58/2004, S. 6-17, hier S. 7.
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hochdifferenzierte Rhythmen erzeugen, wie etwa beim Paarungsverhalten der Klopfkäfer (Anobidiae). Die relativ geringe Reichweite von Vibrationssignalen, die auch als Warnsysteme eingesetzt werden, wird deshalb von den im engeren Sinne akustischen Signalen übertroffen. Auch diese sind art- und umweltspezifisch so exakt und angepasst, dass Irrtümer oder Fehldeutungen tendenziell ausgeschlossen werden. Um die Fluggeräusche (von ca. 200 Hz) einer Wespe eindeutig dekodieren und sich vom Blatt fallen lassen zu können (= cued representations), darf es für die Schmetterlingsraupe evidenterweise keine Konflikte mit Frequenzen geben, die andere Informationen übermitteln. Warn- und Paarungssignale müssen notwendig differieren. Auch sind Interferenzen von fremdund selbsterzeugten Signalen auszuschließen, wie das Beispiel des Paarungsverhaltens von Mücken zeigt: „Die Resonanzfrequenz der Fühlergeißel der Männchen von Culex pipiens liegt […] bei 350 Hz, und das entspricht dem Flügelton der Weibchen. Nur diesen ‚hört‘ das Männchen und nicht viel mehr, z. B. auch seinen eigenen nicht, der bei > 500 Hz liegt.“103 Situationsgerechtes Verhalten durch situationsabhängige Kommunikation folgt funktional den evolutionären Notwendigkeiten bzw. Selektionsanpassungen. Die Eindeutigkeit der Signalkommunikation von Insekten gehorcht einzig der Effektivität von Fortpflanzung, Nahrungsbeschaffung und Feindabwehr. Eindeutigkeit heißt dabei keineswegs Einfachheit oder Einzügigkeit. Die verschiedenen Ameisenarten verfügen durchschnittlich über 20 verschiedene, sei es chemische, akustische oder taktile Signalformen.104 Allgemein gelten die Kommunikationsformen der Honigbienen (Apidae) zu den am höchsten entwickelten und variantenreichsten innerhalb das Taxons „Insekten“. Die verschiedenen „Tanz“formen und die Übergänge dieser Figuren, etwa des „Rundtanzes“ in den „Schwänzeltanz“, kodieren und dekodieren indes nicht weniger eindeutig überlebenswichtige „Informationen“. In der Koordination von Laufrichtung, Stellung zur Sonne, Tanzgeschwindigkeit und -intensität geben die „Tänzerinnen“ äußert genaue Informationen zur Entfernung und Richtung der von ihnen entdeckten Futterquellen.105
103 Ebd., S. 10 f. 104 Vgl. B. Hölldobler, E. O. Wilson, The Ants, Cambridge (Mass.) 1990. 105 Vgl. zu der Orientierung von Bienen auch den Beitrag von Menzel in Band 1.
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Ungeachtet ihrer Varianz sind diese Informationen so eindeutig kodiert, dass sie auch von elektromotorisch bewegten Kunstbienen übermittelt werden können.106 Der an einem Metallgestänge über den Waben sich bewegenden, programmiert schwänzelnden Vortänzerin folgten ihre Nachtänzerinnen „umgehend an [jene] künstliche Futterquellen, deren Lage man in der Tanzfigur der Kunstbiene kodiert“107 hatte. Diese „Manipulation“ scheint problemlos möglich, ohne dass die Tänzerinnen ihre falsche Artgenossin erkennen mussten. Kollektiv ist folglich nicht nur das Nahrungssuch- und Abwehrverhalten, sondern auch das Getäuschtwerden – was die Frage aufwirft, ob sich ein Bienenstaat von der beständig täuschenden Motorbiene beliebig oft an Futterquellen locken ließe, die keine sind; ob also kollektives Lernverhalten im Sinne einer Täuschungsresistenz möglich wäre.
12. Sprechmimesis In natürlichen Lebensräumen dient Kommunikation dem nackten Überleben. Deshalb kann sie auch nicht schrittweise eingeübt werden, sondern muss reibungslos erfolgen. Nur wenige Lebensformen durchlaufen im Erlernen des Sprechens eine Phase des Lallens. Beim Menschen wird der frühkindliche Instinkt des Brabbelns, der Einübung des Vokalisierens und Artikulierens, in der Regel über positiven Widerhall durch die Eltern gefördert. Jeder noch so klägliche Versuch der Artikulation von Sprache findet ein begeistertes Echo und wirkt so auf die Sprechkompetenz zurück. Schon das babbling dient, von noch unkoordinierten Handbewegungen unterstützt, der Einübung abstrakter linguistischer Strukturen.108 Während die Formen der Signalkommunikation Insekten angeboren sind und das Grummeln und Quietschen der Schimpansen kaum Entwicklungs-
106 Vgl. A. Michelsen et al., „How Honeybees Perceive Communication Dances, Studied by Means of a Mechanical Model“, in: Behavioral Ecology and Socio biology, 30(3)/1992, S. 143-150. 107 T. Bauer, „Die Sprache der Insekten“, S. 15. 108 Vgl. L. A. Petitto, P. F. Marentette, „Babbling in the Manual Mode: Evidence for the Ontogeny of Language“, in: Science, 251(5000)/1991, S. 1493-1496.
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stadien durchläuft,109 scheint unter Wirbeltieren der Sprecherwerb von Singvögeln die größten Parallelen zum menschlichen aufzuweisen. Neueste komparative Studien an 48 Vogelarten gehen von 55 gemeinsamen Genen in den bei Vögeln und Menschen für die Sprechverarbeitung im Gehirn beteiligten Regionen aus.110 Sie scheinen ältere Studien zu bestätigen, die „intriguing parallels“111 im Sprechen von Singvögeln und Menschen vermuteten.112 Während Neurowissenschaftler primär die offenbar erstaunlichen Parallelen zwischen den „neuralen Substraten“113 interessieren, lassen schon die phänomenalen Parallelen und Differenzen relevante sprachtheoretische Schlüsse zu. Sie betreffen in erster Linie das bereits von Aristoteles als spezifisch menschlich bestimmte, natürlich mitgegebene (sýmphỹtos) Vermögen zur Mimesis.114 Die ornithologische Fachterminologie unterscheidet zwischen „birdsongs“ und „calls“. Bei Singvögeln sind „songs“, gegen die umgangssprachliche Gewohnheit, keine „calls“. Denn die rhythmisch und modulatorisch hochkomplexen songs scheinen mit holophrastischen Warn- oder Balzrufen kaum vergleichbar. Die überwiegende Zahl der Vogelarten muss die anspruchsvollen songs mühsam und mimetisch einstudieren. Sie lernen in Phasen – „from baby talk to complex vocalizations“.115 Dabei durchlaufen junge Singvögel nicht nur eine „frühkindliche“ Periode des Brabbelns oder Lallens, sondern erleben auch später noch kritische Phasen, in denen offensichtlich noch-nicht-gelingende, d. h. „falsch“ vorgetragene songs erst mühevoll eingeübt und laufend verbessert werden – vergleichbar 109 R. M. Seyfarth, D. L. Cheney, „Primate Vocal Development“, in: M. D. Hauser, M. Konishi (Hrsg.), The Design of Animal Communication, Cambridge (Mass.) 1999, S. 63-110. 110 O. Whitney et al., „Core and Region-enriched Networks of Behaviorally Re gulated Genes and the Singing Genome“, in: Science, 346(6215)/2014, S. 13341345. 111 M. D. Hauser, N. Chomsky, W. T. Fitch, „The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?“, S. 1572. 112 Vgl. A. Doupe, P. Kuhl, „Birdsong and Human Speech: Common Themes and Mechanisms“, in: Annual Revue of Neuroscience, 22/1999, S. 567-631, hier S. 567. 113 M. Konishi, „Birdsong: From Behavior to Neuron“, in: Annual Revue of Neuro science, 8/1985, S. 125-170, hier S. 125. 114 Vgl. Aristoteles, Poet. 4, 1448b6. 115 M. Fessenden, „Massive Genetic Effort Confirms Bird Songs Related to Hu man Speech“, in: The Scientific American, 15.12.2014, (http://www.scientific american.com/article/massive-genetic-effort-confirms-bird-songs-related-tohuman-speech), zuletzt abgerufen am 17.11.2015.
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mit dem Erlernen von Fremdsprachen beim Menschen, wie Ethologen spekulieren.116 Junge Singvögel imitieren die älteren, um zunächst nur recht amorph vokalisierte Varianten der song-Vorbilder erwachsener Vögel herauszubringen, auch subsongs genannt. Bekannt ist auch die Fähigkeit, die songs eines Artgenossen exakt zu kopieren, ins eigene Repertoire aufzunehmen und „zurückzuspielen“: das type-matching.117 Dies könnte Schlüsse erlauben auch auf andere Tierarten, die das Sprechen einlernen: Delphine, Seelöwen, Fledermäuse, Elefanten und Menschen. Ist Spracherwerb, zumal in Anbetracht entsprechender Parallelen in den neuronalen Mustern und Transmittern, ein Zeichen für das Vermögen zu higher order representations? Solche Fragen drohen empirische und analytische Unterscheidungen zu vermengen, deuten aber in die Richtung derzeit populärer Kompromisse wie etwa des von Glock vorgeschlagenen Kompromisses zwischen linguistischen und mentalistischen Positionen in Bezug auf holodoxastischen Begriffsgebrauch. Auch berühren sie die Frage nach der – von Hauser, Chomsky und Fitch unterstrichenen – Exklusivität der Rekursivität menschlicher Sprachen. Birdsongs wären dann noch genauer auf ihre grammatikanalogen Strukturen zu untersuchen. Ähnliche Fragen ergeben sich für das Kriterium der Reflexivität. Denn reflexiv, so ließe sich argumentieren, wird das Vermögen der Mimesis spätestens dort, wo es sich etwa zu einem Vermögen der Nachahmung zwecks Täuschung erweitert. Im Planen, Ablenken und Täuschen erblicken Ethologen Vorformen reflexiver Intentionalität. Das macht Experimente mit Sprechkünstlern wie Papageien interessant, bei denen sich, wie neuere Studien andeuten, das Vermögen zur Nachahmung menschlichen Sprechens mit dem zur intentionalen Verhaltensmanipulation anderer paart. Auch Primaten können bis zu einem bestimmten Grad die Intentionen anderer antizipieren und deren Verhalten intentional beeinflussen.118 Dies mit durchaus unterschiedlichem Geschick: Schimpansen (Pan troglodytes) scheint dies auch in nicht-kompetitiven Situationen zu ge116 M. D. Hauser, N. Chomsky, W. T. Fitch, „The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?“, S. 1572. 117 W. A. Searcy, M. D. Beecher, „Song as an Agressive Signal in Songbirds“, in: Animal Behavior, 78(6)/2009, S. 1281-1292. 118 Vgl. J. C. Gómez, „The Emergence of Intentional Communication as a Prob lem-solving Strategy in the Gorilla“, in: S. T. Parker, K. R. Gibson (Hrsg.), ‚Language‘ and Intelligence in Monkeys and Apes: Comparative Developmen tal Perspectives, New York 1990, S. 333-355.
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lingen, Haubenkapuzineraffen (Cebus apella) hingegen überhaupt nicht.119 Während Grüne Meerkatzen (Chlorocebus pygerythrus) falsche Warnrufe offenbar einzig in Gefahr-, Aggressions- oder Konkurrenzsituationen zur Täuschung ihrer Feinde oder Konkurrenten abgeben, lassen sich an Graupapageien (Psittacus erithacus) Sprechversuche einer ungezwungenen Verhaltensmanipulation ihrer menschlichen Trainer beobachten. Dabei machen sprachmimetisch besonders „gebildete“ Graupapageien offenbar keine Anstalten, durch körperliche Bewegungen an eine Nuss zu gelangen, sondern suchen mit holophrastischen „Sätzen“ wie „Want nut“ ihre Trainer dazu zu bewegen, sie ihnen zu geben. Auch auf die Forderung der Trainer „Go pick up nut“ antworteten diese Graupapageien mit wiederholten „Want nut“-Ausrufen, während sich mittelfristig ihre körperlichen Fähigkeiten in der Beschaffung von Nüssen (etwa durch das Ziehen an einer Kette) im Vergleich zu ihren sprachlich weniger kompetenten Artgenossen konstant verschlechterten. Verbesserte Sprechkompetenz führt zur Verminderung der stringpulling-Performance. Ganz offensichtlich tendiert ihr Verhalten im Kontext solcher Psittacus-Homo-Interaktionen aufgrund der Imitation der Äquipotentialität120 menschlicher Sprache: dass sie in fast jeder Situation zur Problemlösung eingesetzt werden kann, zu einer gewissen Bequemlichkeit. Aus der vorübergehenden Vertauschung der Rollen von Versuchstier und Experimentator schließen Pepperberg und ihre Mitarbeiter(innen): „They were not treating humans as a physical object to be used […], but were engaging in deliberate communication as a problem-solving strategy, which is a fairly advanced stage of development, even for human infants.“121 Die Intentionalität eines solchen, nicht mehr rein-mimetischen Verhaltens wird umstandslos als Beleg für die HOR-Theorie von animal minds gewertet: „A bird that responds in such a manner might be considered to have demonstrated an alternative higher-order intelligence, in that it knows how to manipulate another individual to access its wants.“ 119 E. Visalberghi, „Success and Understanding in Cognitive Tasks: A Comparison Between Cebus apella and Pan troglodytes“, in: International Journal of Primatology, 18(5)/1997, S. 811-830. 120 Vgl. G. Fauconnier, M. Turner, The Way We Think, S. 179. 121 I. M. Pepperberg, „‚Insightful‘ String-pulling in Grey parrots (Psittacus erithacus) is Affected by Vocal Competence“, in: Animal Cognition, 7(4)/2004, S. 263-266.
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13. Funktionsreferenz Zu den wohl besterforschten Tiersprachen gehört die Kommunikation der Präriehunde (Cynomys). Die der Gattung Erdhörnchen subsumierte Art verfügt offenbar nicht nur über „Dialekt“varietäten, sondern auch über einen erstaunlich breiten, informationsspezifischen „Wortschatz“ etwa für Figuren, Farben und Fluchtwege. Untersuchungen legen nahe, dass die dialektalen Varietäten nicht einfach phänotypische Charakteristika sind, denen genetische Differenzen entsprechen. Vielmehr scheinen sich die Alarmrufe der Präriehunde relativ kurzfristigen geographischen Veränderungen anzupassen. Auch darf man eine Tradierung von Mustern erlernten Verhaltens „between generations independently of heritable traits“122 vermuten.123 Auf diese Weise können sie sich auch mit den Jagdgepflogenheiten neuer natürlicher Feinde vertraut machen und ihre Alarmrufe entsprechend „reformulieren“. Erstaunlich ist allerdings nicht nur, dass die nach Silbenlänge, Silbenzahl und Ruflänge klassifizierbaren Pfeifflaute geographisch variieren; erstaunlicher noch ist die Fähigkeit, die Rufe nicht allein nach der Art der Bedrohung, etwa durch eine menschliche Person, sondern auch gemäß den spezifischen Charakteristika dieser Person (Geschlecht, Größe, Kleidungsfarbe) zu modifizieren. Präriehunde können blaue von grünen und gelben T-Shirts unterscheiden und beziehen diese Informationen in Warnrufe ein, die oft Anregungen für Fluchtmöglichkeiten enthalten.124 Alarmrufe unterscheiden sich in der Tierwelt nicht zuletzt danach, ob die Gattung nur eine Antwortstrategie auf Feinde kennt (z. B. Flucht) oder mehrere. Dass Warnrufe relativ genaue Informationen über Art und Gestalt der Gefahr sowie auf die Dringlichkeit einer ihr gemäßen Reaktion enthalten und entsprechend variiert werden können, ist sprachtheore-
122 C. N. Slobodchikoff, S. H. Ackers, M. van Ert, „Geographic Variation in Alarm Calls of Gunnison’s Prairie Dogs“, in: Journal of Mammalogy, 79(4)/1998, S. 1265-1272, hier S. 1270. 123 D. E. Thompson, „Different Spatial Scales of Adaptation in the Climbing Be havior of Peromiscus maniculatus: Geographic Variation, Natural Selection and Gene Flow“, in: Evolution, 44(4)/1990, S. 952-965. 124 C. N. Slobodchikoff, A. Paseka, J. Verdolin, „Prairie Dog Alarm Calls Encode Labels about Predator Colors“, in: Animal Cognition, 12(3)/2009, S. 435-439.
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tisch insofern relevant, als es sich um einen besonders komplexen Fall „funktionaler Referenz“125 handelt. Funktional referierende Zeichen werden von ihren Produzenten optimal an das äußere Objekt oder an die Situation angepasst, auf die sie sich beziehen. Umgekehrt müssen ihre Rezipienten die entscheidenden Informationen der Zeichen wahrnehmen und „interpretieren“126 können.127 Im Fall der Präriehunde ist weniger der umfangreiche „Wortschatz“ an spezifischen Alarmrufen für Menschen, Leoparden, Koyoten, Schlangen, Raubvögeln etc. rätselhaft, sondern warum innerhalb dieser Kategorien erhebliche Binnendifferenzierungen vorgenommen werden. Warum sollte es für die Erdhörnchen wichtig sein, die herannahende Person noch einmal nach der Farbe ihres T-Shirts zu unterscheiden? Zumal den Studien zufolge die akustische Signatur der Rufe bei sich nähernden Menschen keine spezifischen Informationen über mögliche Fluchtstrategien enthält, sondern einzig über die Gestalt der Herannahenden. Die empirischen Befunde der Studie plausibilisieren möglicherweise eine selbst nicht mehr empirische, weil sprachanalytische Unterscheidung: Formen der Signalkommunikation und funktionaler Referentialität sind gewiss notwendige Bedingungen für soziale Systeme oder „animal societies“128; sie sind aber noch keine hinreichenden Bedingungen für kulturelle Organisation. Funktionale Referenz gewährt zwar eine erstaunliche Varianz und Breite informationsspezifischer Äußerungen. Doch die Frage ist, ob funktionale Referenz auch eine angemessene Bedeutungstiefe sprachlicher Äußerungen erlaubt. Diese wird paradoxerweise erst durch die notwendige Unbestimmtheit opaker Referenz, d. h. durch eine selbst wiederum kulturell funktionale Ungenauigkeit, Ungebundenheit und Indirektheit von Bedeutung möglich. Die funktionale Referenz etwa von Alarmrufen wäre auch dort noch keine Form symbolischer Referenz, wo sie besonders variantenreich ist – sie bleibt eine Form des direkten Bezugs auf eine große Varianz möglicher Situa125 C. S. Evans, L. Evans, P. Marler, „On the Meaning of Alarm Calls: Functional Reference in an Avian Vocal System“, in: Animal Behaviour, 46(1)/1993, S. 2338. 126 C. N. Slobodchikoff, A. Paseka, J. Verdolin, „Prairie Dog Alarm Calls“, S. 437. 127 Vgl. C. S. Evans, „Referential Signals“, in: Perspectives in Ethology, 12/1997, S. 99-143. 128 C. N. Slobodchikoff, B. Perla, J. L. Verdolin, Prairie Dogs: Communication and Community in an Animal Society, Cambridge (Mass.) 2009.
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tionen und Gefahrenarten. 14. Eigennamen Ein entscheidender Schritt im Fortgang von der Kommunikation zur Sprache ist die abstrakte Bezeichnung abwesender Objekte. Nur wenige Tierarten lernen ihre Stimm- und Sprechproduktion; noch weniger Arten verwenden arbiträre Signale, um anwesende Objekte zu kennzeichnen. Bislang jedoch hat man einzig an Papageien129 und Delphinen130 die Fähigkeit beobachten können, Gegenständen und Artgenossen „Namen“ zu geben (labelling), die auch in deren Abwesenheit gebraucht werden können. Diese „Namen“ oder Signaturlaute (signature whistles) in der Familie des Großen Tümmler („bottlenose dolphin“, Tursiops truncatus) scheinen tatsächlich keine „natürlichen“ (nach der älteren Terminologie), sondern arbiträre Zeichen zu sein – ohne damit freilich schon als symbolische Zeichen gelten zu können. Denn nicht die Individualität der Stimme selbst kennzeichnet den individuellen Namen eines solchen Delphins, sondern eine artifizielle, einzigartige Frequenzmodulation wird als Signaturlaut (signature whistle) verwendet, der auch von Artgenossen „gerufen“ werden kann.131 Unklar bleibt, ob dieser Eigenname von anderen „getauft“ und dann vom jeweiligen Individuum erlernt oder ob der Name selbst verliehen wird; das Lautmuster ist jedenfalls früh entwickelt und kennzeichnet fortdauernd genau dieses Individuum. Während bei Gruppen, die in Gefangenschaft leben, fast hundert Prozent des Wortschatzes aus Signaturlauten besteht, verfügen wild lebende Delphinpopulationen noch über dreißig Prozent anderer Lautsignale, die einen gemeinsamen Signalschatz bilden. Delphine sind jedenfalls in der Lage, bestimmte Artgenossen zu adressieren. Noch unklar ist den Forschern, ob die zuvor aufgezeichneten, dann ausgesendeten Lautsignale von den tatsächlichen Namensinhabern oder möglicherweise von ihren Artgenossen beantwortet wurden. Dies ist insofern von Interesse, als kollektive Antworten eindeutig belegbar sind und auf basale Kommunikationsformen abgestimm129 Vgl. I. M. Pepperberg, „Functional Vocalisations by an African Grey Parrott (Psittacus erithacus)“, in: Zeitschrift für Tierpsychologie, 55(2)/1981, S. 139-160. 130 Vgl. V. M. Janik, „Cognitive Skills in Bottlenose Dolphin Communication“, in: Trends in Cognitive Sciences, 17(4)/2013, S. 157-159. 131 V. M. Janik, L. S. Sayigh, R. S. Wells, „Signature Whistle Shape Conveys Identity Information to Bottlenose Dolphins“, in: Proceedings of the National Academy of Science USA, 103(21)/2006, S. 8293-8297.
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ten Verhaltens und damit auf Formen geteilter Intentionalität bei Delphinen deuten könnten: „If two or more animals converge in their calls, these calls can only be used for adressing the group col lectively rather than individuals. […] In bottlenose dolphins, the selective use of a signature whistle by one animal allows for the occasional copying of that whistle by another animal to be an effective way of adressing an individual.“132 Nur wer Einzelne als Einzelne identifiziert, kann sich überhaupt als Kollektiv namentlich distinkter Individuen begreifen. Ob ein kollektives Bewusstsein als Gruppe vorliegt – nach Margret Gilbert eine der notwendigen Bedingungen von shared intentionality – können freilich auch diese Studien nicht belegen. Daher kommt alles darauf an, was deren Autoren in ihrer Schlusshypothese unter „representational use“ verstehen wollen: „Such a representational use of learned identity labels represents an interesting parallel to humans and the apparent necessity for these vocal labels in maintaining group cohesion may lie at the root of the evolution of complex communication and cognition systems.“133 Ebenso wichtig, wie auf die „Parallelen“ zu achten, ist indes, die Differenzen in den Parallelen nicht zu übergehen. Weder sind die Namen der signature whistles mit den (symbolisch referierenden) Namen menschlicher Normalsprachen vergleichbar; noch beweist die Kommunikationsform schon mit Notwendigkeit die behauptete Fähigkeit „to use arbitrary signals to report the presence or absence of objects“.134 Zum einen sind signature whistles Konkreta, die es in menschlichen Normalsprachen gar nicht geben kann. Diese Sprachen erlauben, mit wenigen Ausnahmen, keine Individualbezeichnungen für ein und genau nur ein Referenzobjekt. Selbst Eigennamen sind stets schon Abstrakta (z. B. Berufsbezeichnungen) und mehrfach verwendbar. Der gleiche Name kann zwei oder mehr Individuen meinen. Daher sind Taufakt, Kausalverkettung von Name und Individuum bzw. Satznominalisierungen und Kennzeichnungen („der Lehrer Platons“) notwendig, um Individuen als Individuen zu kennzeichnen.135 Zum anderen erschöpft sich Referenz auf abwesende Objekte nicht schon in Rufen nach abwesenden
132 S. L. King, V. M. Janik, „Bottlenose Dolphins Can Use Learned Vocal Labels to Adress Each Other“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 110(32)/2013, S. 13216-13221. 133 Ebd., S. 13219. 134 Ebd., S. 13216. 135 Vgl. S. Kripke, Naming and Necessity, Oxford 2000.
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Individuen. Das freilich soll nicht die (künftig gewiss noch genauer verstehbaren) Sozialformen einer hochentwickelten Delphinkommunikation geringschätzen, mit der erstaunliche Kooperationsphänomene möglich scheinen. Bekannt sind Fälle des „reziproken Altruismus“ der Nahrungsteilung oder Fälle der Freigiebigkeit (gift giving), die sich nicht nur zwischen Delphinfamilien oder -schulen, sondern mithin artübergreifend ereignen.136 Bekannt sind auch artübergreifende Kooperationen, in denen Delphinschulen ortsansässige Fischer auf Fanggründe aufmerksam machen, um „gemeinsam“ zu jagen. In beiden Fallen scheint sich zu zeigen, dass die zu extraspezifischer Kooperation neigenden Individuen einer Delphingruppe auch inner-spezifisch stärker vernetzt und auf einem höheren Stand sozialen Lernens stehen: „the closer association among dolphins that engage in cooperative foraging with humans is likely to facilitate social-learning processes related to the development and maintenance of this cooperation.“137
15. Begriffsintegration Eine ethologisch informierte Sprachphilosophie ist keine komparative Sprachforschung. Sonst würde sie gezwungen, wie stets bei Fragen nach anthropologischen Differenzen, Ungleiches zu vergleichen: Bonobos mit westlichen Mittelstandskleinkindern, „Angeborenes“ mit „Vererbtem“, „Instinkthaftes“ mit „Erlerntem“, „Arten“ mit „Unterarten“ oder „Gattungen“ etc. Schon die meisten Vergleichskategorien sind heute entweder umstritten, überholt oder aufgelöst.138 „Die“ anthropologische Differenz verflüchtigt sich entweder zu einem Phantom – oder gerät zum Fetisch. Nach und nach wurden deshalb die Demarkationslinien älterer Unterscheidungen zwischen animalitas und humanitas verwischt. Weder scheint der
136 B. J. Holmes, D. T. Neil, „‚Gift Giving‘ by Wild Bottlenose Dolphins (Tursiops sp.) to Humans at a Wild Dolphin Provisioning Programm, Tangalooma, Australia“, in: Anthrozoös, 25(4)/2012, S. 397-413. 137 F. G. Daura-Jorge et al., „The Structure of a Bottlenose Dolphin Society Is Coupled to a Unique Foraging Cooperation with Artisanal Fishermen“, in: Biology Letters, 8(5)/2012, S. 702-705, hier S. 704. 138 Vgl. V. Sommer, „Kulturnatur – Naturkultur“, S. 16-19.
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Werkzeuggebrauch spezifisch menschlich;139 noch ist antizipatorisches und planendes Verhalten ein reines Humanum.140 Weder scheint das evolutionär zwecklose Spielverhalten („boredom play“) menschliches Privileg,141 noch ist intentional abgestimmte soziale Kooperation singulär menschlich.142 Offenbar ist schon die dieser Suche zugrunde liegende Frage falsch gestellt. Doch so müßig es scheint, nach der oder den anthropologischen Differenz(en) zu fahnden, so unsinnig wäre es freilich, Differenzen zu leugnen, zu verwischen, zu verdrängen. Es hat für uns allemal einen guten pragmatischen Sinn, zu einem Selbstverständnis unserer Gattung und seiner Geschichte zu gelangen – auch wenn sich diese Selbstdifferenzierung nicht auf den entscheidenden anthropologischen Unterschied wird zurückführen lassen. Natursystematisch (um eine Unterscheidung Max Schelers aufzugreifen)143 lässt er sich angesichts der quantitativ geringen genetischen Differenzen zu anderen Arten ohnehin nicht rechtfertigen – der Verzicht auf einen (wie immer auch vage bestimmten und jeweils synchronen) kultursystematischen Begriff des Menschen indes ebenso wenig. Die Debatte zwischen Primatologen/Anthropologen wie Volker Sommer und Michael Tomasello zeigt deshalb vor allem die Hase und Igel-Strategie dieser Diskussion: Es wird nach neuen begrifflichen oder empirischen Differenzen gesucht, die durch empirische Befunde von der Gegenseite „widerlegt“ werden, um dann mit einer revidierten Differenzierung das Feld des Humanen neu abzugrenzen. Für die Kommunikationsform der menschlichen Sprache kann dies nur heißen, dass sie nicht die anthropologische Differenz ist (dies zu sagen, wäre schlicht tautologisch) – wiewohl sie als Differenz überhaupt nur durch Sprache gezogen werden kann –, wohl aber Hinweise auf für uns sinnvolle Unterschiede gibt. Spra-
139 Vgl. W. C. McGrew, Chimpanzee Material Culture. Implications for Human Evolution, Cambridge 1992. 140 M. Osvath, „Spontaneous Planning for Future Stone Throwing by a Male Chimpanzee“, in: Current Biology, 19(5)/2009, S. 190-191. 141 Vgl. R. Fagen, Animal Play Behaviour, Oxford, New York 1981; S. L. Hall, „Object Play in Adult Animals“, in: M. Bekoff, J. Byers (Hrsg.), Animal Play: Evolutionary, Comparative, and Ecological Perspectives, Cambridge 1998, S. 45-60. 142 Vgl. V. Sommer, „Kulturnatur – Naturkultur“, S. 26 f. 143 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von M. S. Frings, Bern 1967, S. 7-71, hier S. 12.
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che ist selbst Teil menschlicher Naturbeherrschung. Dies aber wird überhaupt nur in der Sprache als Herrschaft durchsichtig. Menschliche Normalsprachen, so viel scheint sicher, haben in ihrem Ensemble von skripturaler Differentialität, syntaktischer Rekursivität, semantischer Reflexivität und pragmatischer Inferentialität kein Vergleichsobjekt. Sie kann deshalb in keinem Ranking auftauchen. Denn mit den Comparanda fehlte zuletzt auch das entscheidende tertium comparationis. So kommt es zu experimentell wohl fundierten, aber a priori windschiefen Vergleichen, aus denen Anthropologen und Primatologen gegenwärtig so eifrig Schlüsse ziehen – sei es für, sei es gegen anthropologische Differenzen. Aus solchen Experimenten ist bekannt, dass Bonobos bis zu 150 menschliche Lautzeichen zu gebrauchen und Zwei-Wort-Sätze zu formulieren in der Lage sind. Doch schon bei abstrakteren Funktionswörtern wie „Müll“ stellen sich Verständnisprobleme ein. Auch vernehmen Primaten Teile der menschlichen Sprache, können sie aber nicht reproduzieren. Am auffälligsten indes ist der Unterschied zwischen dem Erlernen und dem Kombinieren von Zeichen. Hier erreichen Bonobos im besten Falle das Niveau zweijähriger Kinder – in einer freilich unfairen Konkurrenz, weil die Lernrichtung von Bonobo- zu Menschensprache nicht auch umgekehrt wird. Deshalb können dies keine Befunde für oder gegen die Intelligenz von Primaten sein, sondern einzig klären helfen, worin eigent lich die Eigenart sprachlicher Kognition besteht. Ethologische Erforschung der Tierkommunikation kann sprachphilosophisch dort relevant sein, wo sie den Begriff menschlicher Normalsprachen präzisiert. Umgekehrt sind sprachanalytische Unterscheidungen notwendig, um den in der Regel undifferenzierten Sprachbegriff der Ethologen zu präzisieren. Zentrum der menschlichen Sprachen ist eine symbolische Einbildungskraft, die im Spracherwerb schon früh auftritt.144 Sie besteht nach Fauconnier/Turner in dem Vermögen begrifflicher Synthesis (double-scope blending). Diese Art der Begriffsintegration ist hochkomplex und steht doch schon Kindern intuitiv offen. Fast mühelos werden aus verschiedenen Bedeutungsfeldern mithilfe syntaktischer Strukturen einheitliche Kombinati144 P. Gärdenfors, How Homo, S. 157: „Surprisingly quickly they [human children] can themselves create combinations of words that nobody has uttered, standing for ideas that nobody has previously thought. Kanzi and some of the other language-trained apes can, to be sure, produce new combinations of the signs they have learnt, but they are far from human children’s creativity.“
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onen gebildet, die mehr sind als die Addition ihrer ursprünglichen Grundbedeutungen.145 Phraseologismen wie (12) Er hat diesen Tiefschlag nie verdaut werden problemlos verstanden, auch wenn es in den jeweiligen Redekontexten weder um das Sinnfeld der Nahrungsdigestion („verdauen“) noch um das Sinnfeld des Boxens („Tiefschlag“) geht. Semantisch konfligierende Bedeutungsfelder werden mühelos zu kühnen Konstruktionen verbunden, deren Synthesis etwas Neues zeigt, das sich nicht restlos auf die semantischen Herkunftsfelder reduzieren lässt. Auf dieser Begriffsintegration beruht auch die Fähigkeit des Perspektivenwechsels, die zur irreduziblen Voraussetzung geteilter Intentionalität gehört. Die Begriffssynthese (13) Wenn ich Du wäre, dann … verdankt sich einem Irrealis, dessen Prämisse in der kontrafaktischen Annahme besteht, eine andere Person zu sein.146 Eine darüber hinausgehende Synthesisleistung erbrächte das Antezedens des Schlusses (14) Wenn Du an meiner Stelle wärst, dann …, weil sich hier nicht nur ein Ich als ein anderes Du imaginiert, sondern weil es, als Ich, immer schon und zuerst von einem Du ausgehend, die eigenen Möglichkeiten aus der Perspektive eines Anderen reflektiert. Metaphorische Begriffssynthese steht am vorläufigen evolutionären Scheitelpunkt der produktiv-symbolischen Einbildungskraft des Menschen. Sie ist mit anderen Mitteln als denen einer äquipotentialen, auf Zeitunterscheidungen und Modi beruhenden Sprache nicht zu gewinnen.
16. Sagazität Zu den jüngsten Strategien, den Begriff der anthropologischen Differenz(en) ad absurdum zu führen, gehört die Berufung auf die Kulturfähigkeit von Tieren. Auch der Begriff der Kultur markie-
145 Vgl. G. Fauconnier, M. Turner, The Way We Think, S. 113-137. 146 Ebd., S. 255.
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re keinen „Rubicon“147 zwischen menschlichen Formen der Sozia lität und denen anderer Primaten. Entsprechend ist von „animal cultures“,148 sogar von „animal culture wars“149 die Rede. Es fragt sich allerdings, ob diese letzte begriffliche Assimilation den nicht zuletzt tierethischen Absichten engagierter Primatologen einen Bärendienst erweist – von den philosophisch-begrifflichen Problemen noch gar nicht zu reden. Aus den Aporien einer total gewordenen menschlichen Naturbeherrschung führen keine begrifflichen Assimilationen, sondern – wenn überhaupt – nur Distinktionen. Nur in dem Unterschied zwischen den kulturellen Sozialformen des Menschen und anderen Formen lebendiger Sozialität kann auch der ethische Abgrund ausgemessen werden, in den wohl niemand seit Schopenhauer so tief geblickt hat wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung: Dass die Behavioristen „auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie, entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, daß er, und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert, wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht.“150 Auf einer Differenz zwischen Kulturalität und Sozialität zu beharren, will also keiner ontologischen Herabsetzung des Tiers das Wort reden (der die faktische Erniedrigung zum Material oder epistemischen Artefakt schon so lange und fast unwidersprochen entspricht), sondern jenes Unterschieds inne werden, aus dem überhaupt nur, vielleicht irgendwann einmal, die unreduzierte Achtung für das Andere entspringen kann. Besteht die Dialektik der Natur-
147 Vgl. V. Sommer, „Kulturnatur – Naturkultur“, S. 21. 148 V. Sommer, A. Parish, „Living Differences. The Paradigm of Animal Cultures“, in: U. Frey et al. (Hrsg.), Homo novus – A Human Without Illusions, Heidelberg 2010, S. 17-31. 149 W. C. McGrew, „New Theatres of Conflict in the Animal Culture Wars. Recent Findings from Chimpanzees“, in: E. Lonsdorf, St. R. Ross, T. Matsuzawa (Hrsg.), The Mind of the Chimpanzee. Ecological and Experimental Perspectives, Chicago 2010, S. 168-177. 150 M. Horkheimer, T. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947), in: M. Hork heimer, Gesammelte Werke, Bd. 5, hrsg. von G. Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, S. 277 f.
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beherrschung auch darin, alles miteinander zu identifizieren oder zu verrechnen, so gehört Differenzierung zu den wenigen Möglichkeiten ihres Korrektivs. Allerdings ist die Differenz zwischen Sozialität und Kulturalität nicht einfach mit theoriesprachlicher Willkür herzustellen. Schon umgangssprachlich überschneiden sich die Bedeutungsverwendungen bis zur Untrennbarkeit. Der folgende Vorschlag beruht auf einem analytisch gewonnenen Begriff der kulturellen Tatsache. Er bildet deshalb „nicht einfach Sachverhalte ab, die ohnedies klar vor Augen liegen“,151 sondern unterscheidet allererst die Form von Sachverhalten selbst. Während Erfahrungsgegenstände schlicht sind, entstehen Sachverhalte allererst in und durch die Form der Sprache. Was immer ihnen an Realem zugrunde liegen mag, vorliegen können sie einzig in der Form von Sätzen.152 Bestehende Sachverhalte nennen wir Tatsachen. Innerhalb dieser Differenzierung empfiehlt sich, noch einmal eigens zwischen natürlichen, sozialen und kulturellen Tatsachen zu unterscheiden. Während natürliche Tatsachen vorfallen (z. B. das Hervorgehen und Verenden von Lebewesen) und soziale Tatsachen gemacht werden (z. B. Gruppenkonflikte zwischen Schimpansen oder solche zwischen Menschen), können wir von kulturellen Tatsachen sagen, dass sie gelten. Sie verdanken sich sprachlich-symbolischen Statusfunktionen:153 Dass dieser Steinhaufen als ein Mahnmahl gelten soll oder dieses Urinal als ein Readymade, kann nur durch symbolische Legitimationsprozesse festgelegt oder eingerichtet werden. Aus ihnen muss dann die allgemeine Anerkennung dieses Etwas als Etwas entspringen. Geltungsstiftende Prozesse schließen dabei die Bestreitung oder Nichtanerkennung der Geltung von Etwas als Etwas immer schon ein. Soziale Tatsachen werden also dort zu kulturellen Tatsachen, wo sie sozialen Handlungen überindividuelle, d. h. institutionelle Geltung verschaffen; wo sie an und durch sich hindurch auf das Selbstverständnis einer Gruppe, einer Gesellschaft oder der Gattung als Ganzer selbst reflektieren. Claude Lévi-Strauss hat dies an der „totalen sozialen Tatsache“ des potlatch verdeutlicht. Der von ihm beobachtete Artefakttausch indigener Gruppen scheint keinem rationalen Ziel zu gehorchen. In dem „Spiel des Tauschs“ lassen sich Gegenstände, soziale Wer151 R. Konersmann, Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M. 2006, S. 7. 152 Vgl. G. Patzig, „Satz und Tatsache“, in: G. Patzig, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Göttingen 1996, S. 9-42. 153 Vgl. J. R. Searle, The Construction of Social Reality, London 1995, S. 31-57.
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te oder Ehefrauen zweckfrei wechseln. Lévi-Strauss folgert daraus, dass sich die Gruppe in dem Spiel allererst als Gemeinschaft bestätige und so von der „Natur zur Kultur“154 übergehe. Sie reflektiert im Spiel des Tauschs auf ihr eigenes Selbstverständnis als Gruppe. Entsprechend können auch natürliche oder soziale Tatsachen problemlos zu kulturellen Tatsachen (oder als solche interpretiert) werden. Kulturelle Tatsachen lassen sich aber umgekehrt nicht schon auf soziale oder natürliche Vorfälle reduzieren. Nur ist das, was sie von diesen unterscheidet, keine eigens zu bestimmende Super-Eigen schaft, sondern eine Art Nichteigenschaft, die den Unterschied macht: die Fähigkeit, ohne ein natürliches Substrat Etwas als Etwas oder sogar: Etwas als Etwas nicht gelten zu lassen. Der Mensch wurde zu dem Wesen, dem das eigene Selbstverständnis und dessen Geschichte etwas gilt. Er nimmt zugleich ein reges Interesse an Wesen und Geschichte anderer Gattungen. Kant hat diesen Spürsinn, im Anschluss an Mendelssohn, „Sagacität“ genannt. Diese Fähigkeit zu entdecken, „was in uns selbst oder anderwärts verborgen liegt“,155 setzt, als „Naturgabe“, für Mendelssohn und Kant eine immer schon mit symbolischen Zeichen operierende „Einbildungskraft“156 voraus. Sagazität bedarf folglich nicht bloß der Kommunikation zwischen Sendern und Empfängern; sie verlangt nach selbstbewussten, kulturell verbundenen Sprecherinnen und Sprechern einer äquipotentialen Sprache, aus deren Ensemble von semiotischer Differentialität, syntaktischer Rekursivität, semantischer Reflexivität und pragmatischer Inferentialität kein Element verzichtbar wäre. Doch auch für uns ist die unverzichtbare Äquipotentialität der Sprache, ihre Kraft sich an Stelle des Instinkts, der körperlichen Bewegungen, und inzwischen medial auch an die Stelle persönlicher Begegnungen setzen zu können, nicht nur Glück. Der namenlose Schmerz, den unser Schweigen ebenso wie unsere Sprechhandlungen verursachen oder überhaupt erst bemerkbar machen, ist für das animal symbolicum, das der Mensch nun einmal ist, Segen und Fluch zugleich. Wenigstens das Leiden an Unbestimmtheit, das symbolisch-rekursive Normalsprachen uns aufzwingen, bleibt dem Sprechen anderer Lebewesen erspart. 154 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1981, S. 121. 155 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), I, § 53, B 158. 156 M. Mendelssohn, „Über die Sprache (ca. 1756)“, in: Jubiläumsausgabe (JubA), VI/2, Berlin 1981, S. 7.
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Philosophische Implikationen der Kognitiven Ethologie
1. Grüne Meerkatzen, kognitive Ethologie und Philosophie Meerkatzen sind eine Affengattung, die in Afrika südlich der Sahara verbreitet ist. Diese Tiere sind Bodenbewohner und leben in großen, gemischten Gruppen im halb-offenen Gelände. Obwohl sie aufgrund ihrer Lebensweise allerlei Raubfeinden zu Lande und aus der Luft ausgesetzt sind, zeigen sie sich dem Menschen gegenüber als wenig scheu. Die putzigen, grauen Tiere mit dem schwarzen Gesicht und dem stets etwas misstrauisch wirkenden, braunen Blick mögen unscheinbar sein, doch gehören sie zu den Stars der modernen Verhaltensforschung, der kognitiven Ethologie. Im Jahr 1980 erschienen zwei wegweisende wissenschaftliche Arbeiten über Alarmrufe bei Grünen Meerkatzen (Cercopithecus aethiops).1 Im Rückgriff auf Beobachtungen und Arbeiten von Tom Strusaker2 argumentierten Richard Seyfarth, Dorothy Cheney und Peter Marler, dass Grüne Meerkatzen über drei akustisch deutlich unterschiedene Alarmrufe verfügen, die sich auf bestimmte Raubfeinde – nämlich auf Leoparden, Adler und Schlangen – beziehen. Die alarmierten Artgenossen reagieren auf diese drei Rufe mit adäquatem Verhalten. Vereinfacht gesagt, klettern die Affen nach ‚Leopardenalarmen‘ in die Bäume, verstecken sich nach ‚Adleralarmen‘ im Gebüsch und stellen sich bei ‚Schlangenalarmen‘ umherschauend auf die Hinterbeine.3 Rück1
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R. M. Seyfarth, D. L. Cheney, P. Marler, „Monkey responses to three different alarm calls: Evidence of predator classification and semantic communication“, in: Science, 210/1980, S. 801-803; R. M. Seyfarth, D. L. Cheney, P. Marler, „Vervet monkey alarm calls: Semantic communication in a free-ranging primate“, in: Animal Behavior, 28/1980, S. 1070-1094. T. T. Struhsaker, „Auditory communication among vervet monkeys (Cerco pithecus aethiops)“, in: S. Altmann (Hrsg.), Social communication among pri mates, Chicago 1967, S. 281-324. Dass Rufe, Raubfeinde und Reaktionen nicht einer so sauberen Zuordnung fähig und die Verhältnisse komplexer sind, zeigen zwei neuere Studien zu Grünen
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blickend darf man diese Beobachtung durchaus als den Beginn einer „Revolution auf dem Gebiet der Tierkommunikation“ bezeichnen.4 Das Autorentrio widersprach nämlich dezidiert einer älteren Auffassung, der zufolge tierliche Laute im Allgemeinen nichts weiter sind als Ausdruck eines inneren Erregungszustandes und sich weder auf äußere Umstände beziehen, noch Artgenossen etwas mitteilen wollen. Es machte demgegenüber 1980 ganz den Anschein, als sei mit den Grünen Meerkatzen das Modell einer Tierart gefunden worden, die – wie die Titel der beiden Paper hervorheben – „semantisch kommuniziert“, d. h. die bestimmte Zeichen systematisch verwendet, um sich auf äußere Objekte (Leopard, Adler, Schlange) zu beziehen, als handle es sich um Proto-Worte. Dieses Phänomen wurde später als „funktionale Referenz“ bezeichnet.5 Der Grundgedanke lautet, dass Meerkatzen zuverlässig mit spezifischen Alarmrufen auf bestimmte Raubfeinde reagieren (Kontextspezifität), so Information übermitteln, die von Artgenossen dekodiert werden kann (Informationsübertragung), was zu angemessenen Reaktionen führt, unabhängig davon, ob der relevante Raubfeind tatsächlich aufgetaucht ist oder nicht (Stimulusunabhängigkeit).6 Dieser
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Meerkatzen – oder wie sie heute heißen: Äthiopische Grünmeerkatzen – (Chlo rocebus aethiops) bzw. zu den nahen verwandten Westlichen Grünmeerkatzen (Chlorocebus sabaeus), vgl. T. Price, J. Fischer, „Meaning attribution in the West African green monkey: influence of call type and context“, in: Animal Cognition, 17/2014, S. 277-286; T. Price et al., „Limited geographic variation in the acoustic structure of and responses to adult male alarm barks of African green monkeys“, in: Behavioral Ecology and Sociobiology, 68/2014, S. 815-825; N. Ducheminsky et al., „Responses of vervet monkeys in large troops to terrestrial and aerial predator alarm calls“, in: Behavioral Ecology, 25(6)/2014, S. 1474-1484. B. C. Wheeler, J. Fischer, „Functionally Referential Signals: A Promising Para digm Whose Time Has Passed“, in: Evolutionary Anthropology, 21/2012, S. 195-205, hier S. 196: „Discovery of the vervet alarm call system began a revo lution in the field of animal communication because the observations seemed to provide clear evidence against what was then the predominant view in animal communication.“ P. Marler, C. S. Evans, M. D. Hauser, „Animal signals: motivational, referential, or both?“, in: H. Papousek et al. (Hrsg.), Nonverbal vocal communication: com parative and developmental approaches, Cambridge 1992, S. 66-86. Sowohl der Begriff der Information als auch der Begriff der funktionalen Refe renz sind Gegenstand der Kritik geworden, vgl. D. Rendall et al., „What do ani mal signals mean?“, in: Animal Behaviour, 78/2009, S. 233-240; R. M. Seyfarth et al., „The central importance of information in studies of animal communica tion“, in: Animal Behaviour, 80/2010, S. 3-8; A. Scarantino, „Animal communi cation between information and influence“, in: Animal Behaviour, 79(6)/2010, S. e1-e10; bzw. B. C. Wheeler, J. Fischer, „Functionally Referential Signals: A
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letzte Aspekt, die Stimulusunabhängigkeit, wurde vom Autorentrio durch Playbackexperimente mit Aufnahmen von Alarmrufen evaluiert. Die Arbeiten zur Kommunikation und zum Sozialleben der Meerkatzen sind von Seyfarth und Cheney in How Monkeys See the World zusammengestellt worden. Dieses Buch ist heute ein Klassiker der kognitiven Ethologie.7 Die klassische Ethologie – die Erforschung des Verhaltens von Tieren in ihrer natürlichen Umwelt – ist durch die Arbeiten von Konrad Lorenz und Niko Tinbergen bekannt geworden.8 Seit rund 35 Jahren spricht man nun im Unterschied zur klassischen von der kognitiven Ethologie.9 Im Gegensatz zur klassischen akzeptiert die kognitive Ethologie kognitive Zustände und kognitive Fähigkeiten zur Beschreibung und zur Erklärung von Tierverhalten. Was versteht man unter Kognition? Es gibt einen einfachen und einen anspruchsvollen Begriff der Kognition. Der einfache Begriff meint so viel wie Informationsbearbeitung. Sarah Shettleworth definiert ihn auf folgende Weise: „Kognition bezeichnet Mechanismen, durch welche Tiere Informationen aus ihrer Umwelt aufnehmen, verarbeiten, speichern, aber auch tätig werden. Diese Mechanismen schließen Wahrnehmung, Lernen, Erinnerung und Entscheidungsfindung ein.“10 Tiere nehmen wahr, lernen, erinnern sich und entscheiden sich für ein bestimmtes Verhalten. Was ein Tier wahrnimmt, lernt und im Gedächtnis hat, kann sein Verhalten erklären. Der anspruchsvolle Gebrauch des Begriffs hingegen meint so etwas wie „Denken“. Marc Bekoff definiert die kognitive Ethologie mithilfe dieses zweiten Begriffs wie folgt: „Die kognitive Ethologie ist
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Promising Paradigm Whose Time Has Passed“ und A. Scarantino, „Rethinking Functional Reference“, in: Philosophy of Science, 80/2013, S. 1006-1018. D. L. Cheney, R. N. Seyfarth, How Monkeys See the World: Inside the Mind of Another Species, Chicago 1990. N. Tinbergen, „On aims and methods of ethology“, in: Zeitschrift für Tierpsy chologie, 20/1963, S. 410-433. Vgl. dem gegenüber M. Bekoff, D. Jamieson, „On aims and methods of cognitive ethology“, in: Philosophy of Science Association, 2/1993, S. 110-124. Der Begriff wurde eingeführt durch Donald Griffin, vgl. in D. Griffin, „Prospects for a Cognitive Ethology“, in: Behavioral and Brain Sciences, 4/1978, S. 527-538; vgl. auch C. A. Ristau (Hrsg.), Cognitive Ethology. The Minds of Other Animals. Essays in Honour of Donald Griffin, Hillsdale 1991; M. Bekoff, D. Jamieson (Hrsg.), Readings in Animal Psychology, Cambridge (Mass.) 1996; M. Bekoff et al. (Hrsg.), The Cognitive Animal. Empirical and Theoretical Perspectives on Animal Cognition, Cambridge (Mass.) 2002; S. Hurley, M. Nudds (Hrsg.), Rational Animals?, Oxford 2006. S. J. Shettleworth, Cognition, Evolution, and Behavior, New York 1998, S. 5.
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die vergleichende, evolutionäre und ökologische Erforschung des Geistes von nicht-menschlichen Tieren – Denkprozesse, Absichten, Meinungen, Vernunft, Informationsverarbeitung und Bewusstsein mit eingeschlossen.“11 Der zweite Begriff der Kognition ist deswegen anspruchsvoller, weil er einerseits Bewusstsein und andererseits sogenannte höhere kognitive Fähigkeiten (Denkprozesse, Absichten, Meinungen und sogar Vernunft) einschließt. Im Hinblick auf das eingangs diskutierte Beispiel der Grünen Meerkatzen muss man bemängeln, dass in Bekoffs Definition sowohl die Kommunikation als auch die soziale Intelligenz fehlen. Wir sollten diese beiden wichtigen Aspekte der Erforschung der Tierkognition ebenfalls in den anspruchsvolleren Begriff einbeziehen. Insgesamt kann man sagen, dass der anspruchsvolle Begriff der Kognition einige Tierarten näher an die kognitiven Fähigkeiten des Menschen heranrückt. Wenn die Ethologie also diesen Begriff der Kognition einsetzt, um das Verhalten von gewissen Tieren zu erklären, dann sind diese Tiere und der Mensch sozusagen kognitive Verwandte. Es liegt deshalb auf der Hand, dass die kognitive Ethologie für die Philosophie von Interesse ist. Generell kann man sagen: Das Verhältnis von Mensch und Tier gehört seit Anbeginn der philosophischen Reflexion zu ihrem Grundbestand.12 Überwiegend wurde und wird dieses Verhältnis in der Philosophie als „anthropologische Differenz“ verhandelt.13 Mit „anthropologischer Differenz“ ist eine grundlegende Mensch-Tier-Unterscheidung gemeint. Sie identifiziert ein bestimmtes (kognitives, soziales, moralisches, religiöses) Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet, und dieses Merkmal ist grundlegend für alle weiteren Unterschiede zwischen Mensch und Tier, indem es diese hervorbringt, bedingt oder erklärt. Die anthropologische Differenz ist somit jener Unterschied, der definiert, was der Mensch im Unterschied zum Tier ist und zu
11 M. Bekoff, „Cognitive Ethology“, in: W. Bechtel, G. Graham (Hrsg.), A Com panion to Cognitive Science, Oxford 1998, S. 371. 12 R. Sorabji, Animal Minds and Human Morals, Ithaca (NY) 1993; G. Steiner, An thropocentrism and Its Discontents. The Moral Status of Animals in the History of Western Philosophy, Pittsburgh 2005. 13 M. Wild, Die anthropologische Differenz, Berlin 2006; H.-J. Glock, „The An thropological Difference: What Can Philosophers Do To Identify the Differences Between Human and Non-human Animals?“, in: Royal Institute of Philosophy, Supplement 70, 2012, S. 105-131; M. Wild, „Anthropologische Differenz“, in: R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, S. 47-59.
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sein hat. Man darf sagen, dass die anthropologische Differenz eine der Grundunterscheidungen der Philosophie und allgemeiner der Kultur darstellt. Das Ausfüllen der anthropologischen Formel „Der Mensch ist ein Tier plus X“ ist deshalb seit dem Beginn der Philosophie eines ihrer Hauptgeschäfte. Das Tier hingegen wird verstanden als etwas, dem dieses X fehlt. So ist der Mensch das vernünftige, sprechende, moralische, bewusste Tier, das Tier hingegen steht für das Unvernünftige, Sprachlose, Unmoralische, Unbewusste. In diesen Bestimmungen bleibt der Mensch jedoch stets auf das Tier verwiesen. Wenn man so will, hilft das Tier, den Menschen zu dem zu machen, wofür er sich nimmt. Die anthropologische Differenz ist jedoch nur ein Aspekt dessen, was man als „Tierphilosophie“ bezeichnen kann.14 Die Tierphilosophie ist eine Disziplin, die sich mit der Natur nicht-menschlicher Tiere und der Beziehung zwischen Mensch und Tier befasst. In der Tierphilosophie lassen sich drei Themen unterscheiden: Da ist zuerst die eben eingeführte anthropologische Differenz. Da ist zweitens die Frage nach dem Geist der Tiere: Kann man nichtmenschlichen Tieren zu Recht geistige Fähigkeiten wie z. B. Bewusstsein, Absichten, Denken oder Selbstbewusstsein zuschreiben? Und schließlich gibt es das wichtige und drängende Feld der Tierethik: Hat der Mensch nicht-menschlichen Tieren gegenüber direkte oder indirekte moralische Pflichten?15 In diesem Beitrag sollen allein Fragen aus dem zweiten Feld der Tierphilosophie interessieren, Fragen zum Geist der Tiere. Einerseits wirft die kognitive Ethologie grundlegende begriffliche und methodologische Fragen auf, andererseits sind die Resultate der kognitiven Ethologie für die philosophische Reflexion einschlägig. Beim ersten Interesse richtet die Philosophie ihr Augenmerk auf die kognitive Ethologie als eine Wissenschaft. Man kann daher vom methodologischen Interesse der Philosophie an der kognitiven Ethologie sprechen. Beim zweiten Interesse hingegen bietet die 14 M. Wild, Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008; R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009; M. Wild, „Tierphilosophie“, in: Erwägen Wissen Erkennen, 23(1)/2012, S. 21-33, S. 108-131; M. Wild, „Tier philosophie: Heidegger, Derrida, Agamben“, in: Themenschwerpunkt Tiere, Jour nal für Phänomenologie, 40/2014, S. 23-35. 15 Eine neuere Entwicklung betrifft die Frage, ob es auch eine Moral bei Tieren gibt, sei es als Vorläuferin der menschlichen Moral oder als eigene moralische Beziehung zwischen Tieren, vgl. M. Bekoff, Animal Passions and Beastly Virtues, Philadelphia 2006; M. Rowlands, Can Animals be Moral?, Oxford 2012.
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kognitive Ethologie der Philosophie Material für genuine philosophische Argumentationen. Hier kann man von einem materiellen Interesse der Philosophie an der kognitiven Ethologie sprechen. Die Abschnitte 2 und 3 sind diesen beiden Interessen gewidmet.16
2. Das methodologische Interesse der Philosophie an der kognitiven Ethologie Die Erforschung der Tierkognition ist natürlich eine empirische Angelegenheit, allerdings liegen den empirischen Untersuchungen theoretische Argumente und Annahmen zugrunde, insbesondere im Hinblick auf die Natur des Bewusstseins, des Denkens, der Kommunikation und der Rationalität. Philosophinnen und Philosophen können die Erforschung der Tierkognition auch unterstützen, indem sie der empirischen Forschung nützliche Theorierahmen, operationalisierbare Begriffe oder experimentelle Paradigmen vorschlagen. Die philosophischen Grundsatzfragen im Hinblick auf die kognitive Ethologie können in zwei Gruppen unterteilt werden: Erstens stellen sich Fragen bezüglich der Grundannahmen der kognitiven ethologischen Forschung und zweitens erheben sich Fragen im Hinblick auf die Methodologie, die in dieser Forschung eingesetzt wird.17 Der Einfachheit halber werden wir bei den bereits ein-
16 Die Frage, ob die Resultate der kognitiven Ethologie ethisch relevant sein kön nen, wird hier ebenso ausgeblendet wie die Frage, welchen Einfluss die kognitive Ethologie auf die anthropologische Differenz haben kann. Vgl. aber zu diesen beiden Fragestellungen M. Wild, „Ethologie und Tierethik. Zur ethischen Rele vanz der ethologischen Forschung“, in: Ch. Ammann et al. (Hrsg.), Würde der Kreatur. Ethische und rechtliche Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, Zü rich 2015, S. 327-352, bzw. M. Wild, „Der Mensch und andere Tiere. Überle gungen zu einer umstrittenen Redeweise“, in: P. K. Liessman (Hrsg.), Tiere. Der Mensch und seine Natur, Wien 2013, S. 48-67. 17 Es wäre drittens zu betonen, dass Philosophie und Ethologie immer häufiger zusammenarbeiten, um bestimmte Probleme innerhalb bestimmter Forschungs paradigmen der kognitiven Ethologie anzupacken. Dies betrifft beispielsweise die Frage nach einer Theorie des Geistes bei nicht-menschlichen Tieren, vgl. da zu R. W. Lurz, Mindreading Animals. The Debate over What Animals Know about other Minds, Cambridge (Mass.) 2011; K. Andrews, Do Apes Read Minds? Toward a New Folk Psychology, Cambridge (Mass.) 2012. Vgl. allgemein zum methodologischen Interesse der Philosophie an der kognitiven Ethologie K. An drews, „Animal Cognition“, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall
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geführten und lehrreichen kleinen Stars der Disziplin bleiben, den Grünen Meerkatzen. 2.1 Grundannahmen der kognitiven Ethologie Das Abstract des Artikels von Seyfarth, Cheney und Marler, das 1980 in Nature erschienen ist, liest sich wie folgt: „Vervet monkeys give different alarm calls to different predators. Recordings of the alarms played back when predators were absent caused the monkeys to run into trees for leopard alarms, look up for eagle alarms, and look down for snake alarms. Adults call primarily to leopards, martial eagles, and pythons, but infants give leopard alarms to various mammals, eagle alarms to many birds, and snake alarms to various snakelike objects. Predator classification improves with age and experience.“18 Vergleichen wir diesen Klassiker nun mit einem Abstract aus dem Jahr 2012 zum selben Thema (nämlich zur funktionalen Referenz von Alarmrufen bei Affen): „There is relatively good evidence that non-human primates can communicate about objects and events in their environment in ways that allow recipients to draw inferences about the nature of the event experienced by the signaler. In some species, there is also evidence that the basic semantic units are not individual calls, but call sequences and the combinations generated by them. These two findings are relevant to theories pertaining to the origins of human language because of the resemblances of these phenomena with linguistic reference and syntactic organization.“19 Sofort fallen zwei Dinge auf: (1) Während das Abstract von 1980 in gleichsam behavioristischer Manier beinahe ausschließlich verhaltensbezogene Verben benutzt (give alarm calls, run into trees, look up, look down), finden wir im Abstract von 2012 kognitionsbezogene Verben, die sich auf Kommunikation (communicate about …), Denken (draw inferences about …) und Bewusstsein (ex 2014 Edition), hrsg. von E. N. Zalta, (http://plato.stanford.edu/archives/fall2014/ entries/cognition-animal/), zuletzt abgerufen am 15.12.2015. 18 R. M. Seyfarth, D. L. Cheney, P. Marler, „Monkey responses to three different alarm calls: Evidence of predator classification and semantic communication“, S. 801. 19 C. Cäsar, K. Zuberbühler, „Referential alarm calling behaviour in New World primates“, in: Current Zoology, 58(5)/2012, S. 680.
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perienced by the signaler) beziehen und somit den anspruchsvollen Begriff der Kognition einsetzen. (2) Während im ersten Abs tract vorsichtig von einer Klassifikation der Raubfeinde gesprochen wird (predator classification improves with age and experience), zieht das zweite Abstract starke Analogien zwischen den Alarmrufen der Affen und der menschlichen Sprache (resemblances of these phenomena with linguistic reference and syntactic organiza tion). Wir sehen hier unmittelbar, was eingangs abstrakt behauptet worden ist: Die kognitive Ethologie setzt einen anspruchsvollen Begriff der Kognition ein, um das Verhalten von gewissen Tieren zu erklären. Und: Der anspruchsvolle Begriff der Kognition rückt einige Tierarten näher an die kognitiven Fähigkeiten des Menschen heran. Warum aber sollten wir davon ausgehen, dass das Verhalten einiger Tiere nach einer kognitiven Erklärung verlangt? Im Folgenden möchte ich die Argumente für diese Ansicht skizzieren. Ich werde nicht auf die Argumente eingehen, die gegen die These vorgebracht werden, dass nicht-menschliche Tiere über kognitive Zustände verfügen, denn ich denke, es ist fair zu sagen, dass heute eine Position, die Tieren kognitive Zustände oder mentale Repräsentationen vorenthält, Kognition im anspruchsvollen Sinne konstitutiv an Sprache bindet oder sich aus methodischem Mimosentum weigert, mentales Vokabular auf Tiere anzuwenden, die Beweislast trägt. Meines Erachtens sind generelle Argumente gegen die Annahme, dass Tiere über bestimmte Arten kognitiver Zustände verfügen, erfolgreich zurückgewiesen worden.20 Beachten wir zuerst, dass im zweiten Abstract offensichtlich von intentionalen Zuständen die Rede ist: Es gibt gute Belege dafür, dass Affen über Objekte und Ereignisse in ihrer Umwelt kommunizieren und dass sie Schlüsse über diese Ereignisse ziehen. Die Kommunikation und die Schlüsse der Affen handeln also von etwas in der Welt, und zwar von etwas Bestimmtem, geht es doch um Alarmrufe. 20 C. Allen, „Mental Content“, in: British Journal for the Philosophy of Science, 43/1992, S. 537-553; A. MacIntyre, Die Anerkennung der Abhängigkeit, Ham burg 2001; H.-J. Glock, „Animals, Thoughts and Concepts“, in: Synthese, 123/ 2000, S. 35-64; R. Lurz, „In Defense of Wordless Thoughts About Thoughts“, in: Mind and Language, 22/2007, S. 270-296; M. Nida-Rümelin, „Thinking without Language. A Phenomenological Argument for its Possibility and Existence“, in: Grazer Philosophische Studien, 81(1)/2010, S. 55-75; J. Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010; R. Lurz, „Belief attribution in animals“, in: Review of Philosophy and Psychology, 2/2011, S. 19-59.
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Wir können also sagen, dass die Kommunikation und die Schlüsse der Affen von bestimmten Raubfeinden (Adler, Leopard, Schlange) handeln. Wenn kognitive Zustände oder kommunikative Signale über etwas (Objekte) als etwas (Raubfeind) handeln, haben sie die Eigenschaft der Intentionalität.21 Franz Brentanos berühmte und umstrittene These lautet, dass die Intentionalität, die „Ausrichtung des Geistes auf seine Objekte“, kennzeichnend für alle kognitiven Zustände sei. Genauer lautet Brentanos These, dass der Begriff der Intentionalität den Gegenstandsbereich der Psychologie, was dem anspruchsvollen Begriff der Kognition entspricht, abgrenze, denn die Intentionalität sei „den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches.“22 Was aber spricht dafür, dass Tiere intentionale, kognitive Zustände haben? In der (philosophischen) Literatur finden sich sechs Argumente für die Zuschreibung von intentionalen, kognitiven Zuständen an Tiere.23 Sie laufen alle darauf hinaus, dass wir Tieren nicht nur in einem analogen oder uneigentlichen Sinn solche Zustände zuschreiben, sondern wir schreiben sie ihnen berechtigter Weise zu. Die ersten drei Argumente kann man als „Indirekte Argumente für Tierkognition“ bezeichnen, denn sie teilen die Annahme, dass kognitive Zustände aufgrund des Verhaltens von Tieren 21 Es ist wichtig zu betonen, dass der technische Ausdruck „Intentionalität“, wie er in der Philosophie seit Brentano gebräuchlich ist, eine Eigenschaft bezeichnet, die allen kognitiven Zuständen und kommunikativen Signalen eigen ist, die auf etwas als etwas beziehen oder über etwas als etwas handeln. Dabei kann es sich um Meinungen, Wünsche, Erinnerungen, Emotionen, Wahrnehmungen oder Absichten handeln. Das zu betonen ist wichtig, weil der technische Gebrauch von „Intentionalität“ häufig mit dem nicht-technischen Gebrauch im Sinne von „Intention“ oder „Absicht“ verwechselt wird. Meine Intention oder Ab sicht, Hans vor einem Auto zu warnen, bezieht sich auf das Auto als eine Gefahr für Hans. Die Intention hat somit die Eigenschaft der Intentionalität, denn sie handelt von etwas (Auto) als etwas (Gefahr für Hans). Intentionen (Absichten) stellen mithin nur einen Unterfall von Intentionalität dar. Zweitens ist wichtig zu betonen, dass die bloße Zielgerichtetheit für Intentionalität nicht ausreicht. Blumen richten sich nach dem Stand der Sonne aus, Mähroboter wenden beim Einreichen des Rasenrandes. Darin kann man Zielgerichtetheit im kyberneti schen Sinne erkennen. Das bedeutet freilich nicht, dass die Bewegung der Blume von der Sonne als einer Nahrungsquelle handelt bzw. die Wendung des Mähro boters vom Rasenrand als Ende seines Arbeitsgebietes. 22 F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Hamburg 1973, Bd. I, S. 125. Vgl. dazu T. Crane, Intentionalität. Sechs Essays zur Philosophie des Geistes, Frankfurt a. M. 2007. 23 Vgl. M. Wild, „Tierphilosophie“, in: Erwägen Wissen Erkennen, S. 21-33; K. Andrews, The Animal Mind, London, New York 2015, Kap. 1.
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erschlossen werden müssen. Die Kognition (oder das Mentale) ist also im Gegensatz zum Verhalten ein nicht direkt, sondern ein nur indirekt zugänglicher, gleichsam innerer Bereich. Die letzten drei Argumente hingegen weisen das Bild der Kognition (des Mentalen) als einem inneren Bereich zurück, Kognition zeige sich vielmehr im Verhalten selbst. Sie können als „Direkte Argumente für Tierkognition“ bezeichnet werden. Die Unterscheidung zwischen den beiden Typen von Argumenten ist nicht immer scharf. Man kann jedoch sagen, dass das „Argument vom Schluss auf die beste Erklärung“ (Nr. 3) das indirekte Argument am deutlichsten repräsentiert, die Argumente Nr. 1 und Nr. 2 sind schwächere Versionen davon. Demgegenüber verkörpert das „Argument der direkten Wahrnehmung“ (Nr. 6) das direkte Argument am sinnfälligsten und die Argumente Nr. 4 und Nr. 5 sind schwächere Versionen. 2.1.1 Das Analogieargument Das Analogieargument ist relativ alt. Wir finden es bereits in den Essais des frz. Philosophen Michel de Montaigne (1533–1592), insbesondere im Essay „Apologie für Raimundus Sebundus“, die wohl weitest gehende Verteidigung der kognitiven, sozialen und moralischen Fähigkeiten nicht-menschlicher Tiere in der Neuzeit.24 Grob gesagt lautet das Analogieargument wie folgt: (1) Menschen mit kognitiven Fähigkeiten verfügen über die Eigenschaft E. (2) Die Mitglieder der Tierart A verfügen ebenfalls über E. (3) Also haben die Mitglieder von A ebenfalls kognitive Zustände. Im Falle der Affen lautet der Analogieschluss: Wir benutzen Worte (das entspricht E), um uns auf bestimmte Klassen von Dingen zu beziehen (kognitive Fähigkeit). Affen geben Alarmrufe im Hinblick auf bestimmte Klassen von Raubfeinden (E), also beziehen sie sich mit diesen Rufen auf bestimmte Klassen von Dingen (kognitive Fähigkeit). Natürlich kann es sich bei E auch um andere Eigenschaften handeln, etwa das Lösen von Problemen, das Bauen von Werkzeugen, soziales Verhalten oder auch eine bestimmte Art Hirnaktivität. 24 Vgl. M. Wild, Die anthropologische Differenz, S. 110 ff., S. 278 ff.; M. Wild, „Montaigne’s Attempt at Rapprochement Between Man and Animal“, in: S. Laqué, A. Höfele (Hrsg.), Humankinds. The Renaissance and its Anthropologies, Berlin 2011, S. 199-216.
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2.1.2 Das Kontinuitätsargument Das Kontinuitätsargument ist weniger alt als das vorhergehende Argument, weil es erst vor dem Hintergrund der Durchsetzung von Darwins Theorie der Evolution denkbar wurde.25 Man kann es aber mit dem Analogieargument verbinden. Grundsätzlich geht das Argument davon aus, dass Menschen und höhere Tiere (insbesondere Affen) evolutionär eng miteinander verwandt sind. Schreiben wir Menschen intentionale kognitive Zustände oder intentionale Signale zu, so besteht Grund zur Annahme, dass auch höhere Tiere über solche Zustände verfügen und solche Signale benutzen. Dieses Argument wird oft als Sparsamkeitsargument diskutiert: Wenn Menschen mit kognitiven Zuständen über die Eigenschaft E verfügen und eine Tierart A über die Eigenschaft E verfügt, dann können wir annehmen, dass A über kognitive Zustände verfügt, wenn wir mit A einen rezenten gemeinsamen Vorfahren teilen und wenn wir für die Entstehung von E die sparsamste Erklärung finden möchten. Sparsam ist eine Erklärung in diesem Kontext dann, wenn sie im phylogenetischen Baum, der uns mit A verbindet, weniger Änderungen unterstellt als eine alternative Erklärung. Wir benutzen Worte (E), um uns auf bestimmte Klassen von Dingen zu beziehen (kognitive Fähigkeit). Affen geben Alarmrufe im Hinblick auf bestimmte Klassen von Raubfeinden (E). Sparsam ist eine Erklärung, die annimmt, dass die kognitive Fähigkeit, sich mit Rufen auf bestimmte Klassen von Dingen zu beziehen, bereits vorhanden war.26 2.1.3 Das Argument vom Schluss auf die beste Erklärung Das Argument vom Schluss auf die beste Erklärung ist die wohl verbreitetste Art und Weise, wie die kognitive Ethologie bestimmte Arten von Tierverhalten erklärt: (1) Mitglieder der Tierart A zeigen Verhalten V. (2) Die beste wissenschaftliche Erklärung für V besteht darin zu sagen, dass Mitglieder von A über bestimmte intentionale, kognitive Zustände verfügen. (3) Also haben Mitglieder von A intentionale, kognitive Zustände.
25 Vgl. den Beitrag von Engels in Band 1 dieser Reihe. 26 Vgl. E. Sober, „Anthropomorphism, Parsimony, and Common Ancestry“, in: Mind & Language, 27(3)/2012, S. 229-238.
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Generell kann man sagen, dass man explanatorisch auf kognitive Zustände zurückgreifen muss, wenn sich ein bestimmtes Verhalten nicht über angeborene Mechanismen oder Assoziationslernen erklären lässt. 27 In der Regel greift man dann auf sogenannte mentale Repräsentationen zur Erklärung bestimmter Verhaltensweisen zurück.28 Dies geschieht unter der Annahme, dass mentale Repräsentationen als explanatorische Entitäten durch die Kognitionswissenschaft umfassend und erfolgreich etabliert sind.29 Das Haben intentionaler, kognitiver Zustände bei Tieren besteht also darin, dass sie Repräsentationen ihrer Umwelt ausbilden, die ihr Verhalten lenken. Vielleicht ist diese Repräsentation als bestimmter Hirnzustand realisiert, der diese kausale Rolle aufgrund seiner Struktur spielt; vielleicht ist sie auch als globaler Hirnzustand oder als spiritueller Seelenzustand ausgeprägt, der diese Rolle spielt. Wie auch immer: Der Zustand, der diese Rolle spielt, entsteht aufgrund gewisser Inputs (Wahrnehmungen) und veranlasst bestimmte Outputs (Verhalten). Bei einem Tier, das lernfähig, aufmerksam, neugierig und flexibel ist, das ohne Assoziationslernen adäquat auf eine Situation reagieren oder Situationen unterscheiden kann, die in ihren Wahrnehmungsreizen ununterscheidbar sind, kann man mentale Repräsentationen als explanatorische Größen ansetzen. Mentale Repräsentationen erklären, wenn man ihre verhaltenslenkende Rolle als kausale Rolle versteht.
27 Vgl. C. Allen, M. Bekoff, Species of Mind. The Philosophy and Biology of Cog nitive Ethology, Cambridge (Mass.) 1997; J.-L. Bermúdez, Thinking Without Words, Oxford 2003. 28 Zur Einführung vgl. K. Sterelny, The Representational Theory of Mind, Oxford 1990; T. Crane, The Mechanical Mind, London 1995; A. Bartels, Strukturale Repräsentation, Paderborn 2005. Klassiker: J. Fodor, The Language of Thought, Cambridge (Mass.) 1975; H. Field, „Mental Representation“, in: Erkenntnis, 13/1978, S. 9-61; D. Marr, Vision, New York 1982; J. Fodor, Psychosemantics, Cambridge (Mass.) 1987; F. Dretske, Explaining Behavior: Reasons in a World of Causes, Cambridge (Mass.) 1988; B. von Eckardt, What Is Cognitive Science?, Cambridge (Mass.) 1993. Vgl. auch die Bde. H. Clapin (Hrsg.), Philosophy of Men tal Representation, Oxford 2002; H. Clapin (Hrsg.), Representation in Mind. New Approaches to Mental Representation, Amsterdam 2004. 29 Dieser Auffassung ist in jüngster Zeit durch die Philosophie der Verkörperung heftig widersprochen worden. Vgl. Ph. Robbins, M. Aydede (Hrsg.), Cambridge Handbook of Situated Cognition, Cambridge (Mass.) 2008; A. Chemero, Ra dical Embodied Cognitive Science, Cambridge (Mass.) 2009; L. Shapiro, Em bodied Cognition, London 2011; J. Fingerhut, R. Hufendiek, M. Wild (Hrsg.), Philosophie der Verkörperung, Berlin 2014.
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Wenn die Verhaltenswissenschaften gute empirische Gründe dafür anführen, das Verhalten von Tieren mithilfe mentaler Repräsentationen zu erklären, so sollten wir diese Gründe akzeptieren. Es wäre epistemologisch verfehlt, diese Gründe nicht zu akzeptieren, weil naturwissenschaftliche Gründe zu den epistemisch besten Gründen gehören, die wir zur Verfügung haben. Nun haben sich im Gefolge der kognitiven Ethologie die Evidenzen verdichtet, dass gute Gründe für die Zuschreibung mentaler Repräsentationen Tieren gegenüber bestehen.30 Somit ist es gerechtfertigt, Tieren mentale Repräsentationen und infolgedessen intentionale, kognitive Zustände zuzuschreiben. 2.1.4 Das Interpretationsargument Das Interpretationsargument oder das Argument intentionaler Systeme stammt vom Philosophen Daniel Dennett.31 Dem Ansatz intentionaler Systeme zufolge sind Begriffe für intentionale, kognitive Zustände theoretische Begriffe zur Interpretation von stabilen 30 Zu den explanatorisch relevanten kognitiven Zuständen gehören etwa Wissen (z. B. R. Hampton et al., „Rhesus monkeys (Macaca mulatta) discriminate be tween knowing and not knowing and collect information as needed before act ing“, in: Animal Cognition, 7/2004, S. 239-246), Schließen (z. B. A. B. Bond et al., „Social complexity and transitive inference in corvids“, in: Animal Behaviour, 65/2003, S. 479-487), Einsicht (z. B. B. Heinrich, T. Bugnyar, „Testing problem solving in ravens. String-pulling to reach food“, in: Ethology, 111/2005, S. 962976), Regelextraktion (z. B. R. A. Murphy et al., „Rule learning by rats“, in: Sci ence, 319/2008, S. 1849-1851), Kooperation (z. B. S. Hirata, K. Fuwa, „Chimpan zees (Pan troglodytes) learn to act with other individuals in a cooperative task“, in: Primates, 48/2007, S. 13-21; C. Drea, A. N. Carter, „Cooperative problem solving in a social carnivore“, in: Animal Behaviour, 78/2009, S. 967-977; J. M. Plotnik et al., „Elephants know when they need a helping trunk in a cooperative task“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 108/2011, S. 51165121), Selbsterkennen (z. B. J. M. Plotnik et al., „Self-recognition in an Asian Elephant“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 103/2006, S. 17053-17057), Selbstbeurteilungen (z. B. J. Smith et al., „The comparative psychology of uncertainty monitoring and meta-cognition“, in: Behavioral and Brain Sciences, 26/2003, S. 317-373; J. Call, „Do apes know that they could be wrong?“, in: Animal Cognition, 13/2010, S. 689-700) oder Wahrnehmungszu schreibungen an Artgenossen (z. B. B. Hare et al., „Chimpanzees know what conspecifics do and do not see“, in: Animal Behavior, 59/2000, S. 771-785; J. I. Flombaum, L. R. Santos, „Rhesus monkeys attribute perceptions to others“, in: Current Biology, 15/2005, S. 447-452). 31 D. Dennett, „Intentional Systems“, in: The Journal of Philosophy, 68/1971, S. 87-106; D. Dennett, The Intentional Stance, Cambridge (Mass.) 1987.
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Verhaltensmustern, deren Anwendung allgemeinen Prinzipien der Alltagspsychologie folgt. Zu diesen Prinzipien gehören etwa das Streben nach Bedürfnis- und Wunschbefriedigung, die instrumentelle Rolle von Wahrnehmungen und Überzeugungen für diese Befriedigung oder die inferenzielle Rolle von Überzeugungen. Vor dem Hintergrund einer generellen Rationalitätsunterstellung besteht die Aufgabe dieser Prinzipien darin, Systemen Zustände zuzuschreiben, die ihr Verhalten in zahlreichen Kontexten zuverlässig erklären oder vorhersagen. Insofern das Verhalten von Tieren sich mithilfe solcher Prinzipien und der Rationalitätsunterstellung erklären oder vorhersagen lässt, handelt es sich bei Tieren um intentionale Systeme, d. h. um Wesen mit intentionalen, kognitiven Zuständen. Intentional sind somit genau jene Systeme, deren Verhalten wir (nur) so erklären und vorhersagen können, d. h. denen gegenüber wir die intentionale Einstellung (intentional stance) einnehmen müssen. Das Haben intentionaler Zustände besteht in der Interpretierbarkeit (d. h. Erklärbarkeit und Voraussagbarkeit) eines Systems aus der Perspektive der intentionalen Einstellung. Manche Systeme lassen sich allein aufgrund ihrer Zielgerichtetheit und ihrer internen Konstruktion verstehen. Das „Verhalten“ eines Getränkeautomaten können wir vorhersagen, wenn wir dessen Konstruktionsprinzip grob verstehen, ebenso können wir den Heliotropismus von Pflanzen verstehen, wenn wir ihren Aufbau verstanden haben. Hierzu reicht die Design-Einstellung (design stance) vollkommen aus, wir müssen keine intentionale Einstellung einnehmen, um das entsprechende Verhalten erklären oder vorhersagen zu können. Dennetts Theorie intentionaler Systeme verdient in unserem Zusammenhang besondere Hervorhebung, denn sie stellt den ersten Versuch dar, der kognitiven Ethologie einen begrifflich-theoretischen Rahmen zu geben. Dennett reiste zu Beginn der 1980er Jahre nach Kenia, um mit Seyfarth und Cheney zusammenzuarbeiten. Das Resultat war ein wegweisender Text für die kognitive Ethologie, in dem Dennett die Anwendung seiner Theorie vorschlägt und konkretisiert.32 Wenn Seyfarth, Cheney und Marler die Alarmrufe der
32 D. Dennett, „Intentional Systems in Cognitive Ethology“, in: Behavioral and Brain Sciences, 6/1983, S. 343-355 (dt. „Intentionale Systeme in der kognitiven Verhaltensforschung“, in: D. Münch (Hrsg.), Kognitionswissenschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 343-386). Vgl. D. Dennett, „Out of the Armchair and Into the Field“, in: D. Dennett, Brainchildren. Essays on Designing Minds, Cambridge (Mass.) 1998, S. 189-207; R. M. Seyfarth, D. L. Cheney, „Dennett’s Contribution
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Grünen Meerkatzen als referentielle Signale verstehen, die sich auf bestimmte Klassen von Raubfeinden beziehen, so beschreiben sie das Kommunikationsverhalten dieser Affen aus der intentionalen Einstellung. Die Einnahme dieser Einstellung sieht sich zwei Herausforderungen ausgesetzt. Erstens kann eingewendet werden, dass die Design-Einstellung die angemessene Perspektive ist. Um dies zu prüfen, muss herausgefunden werden, ob sich die intentionale Einstellung im Hinblick auf Grüne Meerkatzen auch in anderen Fällen bewährt, d. h. ob sie es erlaubt, das Verhalten dieser Tiere besser zu erklären und vorauszusagen. Eben dies versuchten Seyfarth und Cheney in dem bereits erwähnten How Monkeys See the World.33 Dieses Buch untersucht die kognitiven Fähigkeiten, die dem Sozialleben und der Kommunikation der Meerkatzen zugrunde liegen. Diese Tiere beobachten soziale Interaktionen, erkennen die sozialen Beziehungen zwischen Individuen, klassifizieren die Art dieser Beziehung und registrieren Veränderungen. Ebenso benutzen sie unterschiedliche Rufe, um Merkmale ihrer Umwelt mitzuteilen, wobei die Empfänger durchaus in der Lage sind, zwischen unterschiedlichen Rufen und ihren Bedeutungen zu unterscheiden. Im Abstract zu ihrem Buch heißt es: „Monkeys may use abstract concepts and have motives, beliefs, and desires, however, their mental states are apparently not accessible: They do not know what they know. In addition, monkeys seem unable to attribute mental states to others: They lack a ‚theory of mind’.“34 Cheney und Seyfarth sind also zur Überzeugung gelangt, dass die intentionale Einstellung die richtige Perspektive ist. Wenn wir diesen Tieren, so das Argument, intentionale kognitive Zustände wie Motive, Überzeugungen und Wünsche zuschreiben, dann können wir das soziale und kommunikative Verhalten der Meerkatzen erklären und vorhersagen. Allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass den Meerkatzen ihre eigenen kognitiven Zustände und jene ihrer Artgenossen anscheinend nicht zugänglich sind. Dennett hatte nämlich vorgeschlagen, zwischen intentionalen Systemen erster und zweiter (und höherer) Ordnung zu unterscheiden. Systeme to Research on the Animal Mind“, in: D. A. Ross, A. Brook (Hrsg.), Perspectives on the Philosophy of Daniel C. Dennett, Cambridge 2001, S. 117-139. 33 D. L. Cheney, R. N. Seyfarth, How Monkeys See the World. 34 D. L. Cheney, R. N. Seyfarth, „Précis of How Monkeys See the World“, in: Behavioral and Brain Sciences, 15(1)/1992, S. 135.
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erster Ordnung verfügen über intentionale Zustände oder Signale, die von etwas in der nicht-mentalen Umwelt des Wesens handeln. So beziehen sich Grüne Meerkatzen mit ihren Alarmrufen Cheney und Seyfarth zufolge auf Leoparden, Adler oder Schlangen. Systeme zweiter Ordnung können zusätzlich auch die eigenen kognitiven Zustände oder diejenigen anderer Wesen repräsentieren, ihre kognitiven Zustände handeln also von anderen kognitiven Zuständen. Hier, so Cheney und Seyfarth, stoßen die Meerkatzen an ihre kognitive Grenze. Meerkatzen sind also intentionale Systeme erster, aber nicht intentionale Systeme zweiter Ordnung. 2.1.5 Das Praxisargument Wir schreiben Tieren Gedanken, Wünsche, Absichten, Gründe und andere intentionale, kognitive Zustände zu, wenn wir ihr Verhalten und ihre Wahrnehmungen beschreiben und verstehen. Eine sorgfältige Analyse der dabei verwendeten Begriffe zeigt, dass das Verhalten der Tiere die Anwendungsbedingungen für diese Begriffe erfüllt. Also haben Tiere intentionale kognitive Zustände. Dieser Ansatz wird auf systematische Weise in den Arbeiten von HansJohann Glock verfolgt.35 2.1.6 Das Argument der direkten Wahrnehmung Sowohl Autoren, die in der analytischen Tradition stehen, als auch solche in der phänomenologischen Tradition haben darauf hingewiesen, dass die indirekten Argumente für Tierkognition ihre Wurzel in einem gleichsam cartesianischen Dualismus von Körper und Geist haben, sind sie doch alle darauf angelegt, aus dem beobachtbaren, körperlichen Verhalten nicht beobachtbare, geistige Zustände abzuleiten. Das Innenleben eines anderen Wesens ist, so behaupten die Vertreter dieses Arguments, unmittelbar präsent, wir sehen es ausgedrückt, es ist verkörpert. Das mag insbesondere auf Zustände mit einer klaren Verhaltenssignatur zutreffen, wie etwa Emotionen, Absichten oder Wahrnehmungen, im Hinblick auf höhere
35 H.-J. Glock, „Begriffliche Probleme und das Problem des Begrifflichen“, in: D. Perler, M. Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere, Frankfurt a. M. 2005, S. 153-189; H.-J. Glock, „Can Animals Judge?“, in: Dialectica, 64/2010, S. 11-33; H.-J. Glock, „Can Animals Act for Reasons?“, in: Inquiry, 52/2009, S. 232-255.
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kognitive Fähigkeiten (Wissen, Schließen, Erinnern) scheint dieser Ansatz schwieriger vertretbar zu sein.36 Ich habe die sechs Argumente in unterschiedlicher Ausführlichkeit dargestellt. Diese entspricht der Bedeutung der Argumente für die kognitive Ethologie, wie sie heute betrieben wird. Das Argument vom Schluss auf die beste Erklärung und das Interpretationsargument sind zur Zeit die beiden rivalisierenden Ansätze für die Zuschreibung intentionaler, kognitiver Zustände gegenüber Tieren. 2.2 Methodologie der kognitiven Ethologie In diesem Abschnitt möchte ich auf zwei wichtige methodologische Probleme der kognitiven Ethologie eingehen, nämlich die Akzeptanz von Morgans Kanon37 einerseits und das Problem des tierlichen Bewusstseins andererseits. 2.2.1 Morgans Kanon Der Psychologe Conwy Lloyd Morgan meinte: „In no case may we interpret an action as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty, if it can be interpreted as the outcome of the exercise of one which stands lower in the psychological scale.“38 Das ist die klassische Formulierung von Morgans Kanon, die in der kognitiven Ethologie als fundamentales methodologisches Fallbeil betrachtet wird. Allein, der Wert des Kanons ist zweifelhaft, ja, es ist nicht einmal klar, was er genau besagt. Meistens wird Morgans Kanon als Anforderung der Einfachheit, der Parsimonie oder als Anwendung von Ockhams Rasiermesser verstanden, dabei sagt Morgan selbst mit Recht, dass die Einfachheit einer Erklärung kein Kriterium für ihre Wahrheit sei.39 Nun, wenn Einfachheit kein Kriterium für Wahrheit ist, erhöht sie viel36 Vgl. J. R. Searle, „Der Geist der Tiere“, in: D. Perler, M. Wild (Hrsg.), Der Geist der Tiere, Frankfurt a. M. 2005, S. 132-152; D. Jamieson, „What Do Animals Think?“, in: R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009, S. 15-34. Eine generelle Diskussion neuerer phänomenologischer Ansätze (allerdings nicht auf Tiere fokussiert) findet sich bei J. Krueger, „Seeing Mind in Action“, in: Phenomenology and Cognitive Science, 11/2012, S. 149-173. 37 Vgl. dazu den Beitrag von Böhnert und Hilbert in Band 1 dieser Reihe. 38 Vgl. C. L. Morgan, Introduction to Comparative Psychology, London 1894, S. 53. 39 Ebd., S. 54.
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leicht die Chance darauf, dass eine Theorie wahr sein könnte? Aber aus welchem Grund erhöht Einfachheit die Chance auf Wahrheit? Newton beispielsweise vertrat die Auffassung, dass das Universum nach wenigen Prinzipien funktionieren muss und dass mechanische Prozesse dazu neigen, nach einfachen Prinzipien zu verlaufen. Die Natur tut nichts umsonst; und mehr zu tun, wo weniger ausreicht, ist umsonst. Der Ursprung dieser Idee ist theologisch: Gott wählte bei der Schaffung des Welt-Uhrwerks die eleganteste Lösung, um mittels eines Minimums an Prinzipien und Naturgesetzten ein Maximum an Vielfalt zu erzielen – ein Gedanke, der sich in Leibniz’ Monadologie besonders schön ausgeprägt findet. Doch warum sollte das aus einer theologisch inspirierten Physik entnommene Prinzip der Einfachheit in der Biologie überhaupt Geltung haben? Warum sollte die Evolution grundsätzlich einfache Lösungen favorisieren? Das bleibt unklar.40 Betrachten wir als Beispiel für ein weiteres Problem mit Morgans Kanon die Kontroverse darum, ob Schimpansen über eine Theorie des Geistes verfügen; insbesondere geht es um die Frage der visuellen Perspektivenübernahme. Einer berühmten Studie von Brian Hare, Michael Tomasello und Josep Call zufolge wissen Schimpansen, was Artgenossen sehen und nicht sehen.41 Sie haben also einen Begriff der visuellen Aufmerksamkeit (visual awareness) und wenden ihn auf Artgenossen an. Die Alternative zu dieser partiellen Theorie des Geistes (sie betrifft ja nur die visuelle Aufmerksamkeit und damit verbundene kognitive Zustände) besteht darin anzunehmen, dass Schimpansen nur in der Lage sind, das Verhalten von Artgenossen zu verstehen. In Dennetts Vokabular: Schimpansen wären lediglich intentionale Systeme erster, aber nicht zweiter Ordnung. Ist das Verstehen von Verhalten nun einfacher als das Verstehen eines kognitiven Zustandes? Man kann argumentieren, dass die Erklärung durch das Verstehen kognitiver Zustände einfacher ist, weil das Erklärungsprinzip einheitlicher ist als jenes des Verhaltensverstehens, denn es bietet eine einheitliche Erklärung für das Verhalten von Schimpansen und von Menschen. Man kann argumentieren, dass ähnliche Verhaltensweisen in dem Menschen nahe verwandten Arten durch dieselben kognitiven Fähigkeiten erklärt werden sollen, das wäre eine Einfachheit im Sinne des oben 40 Vgl. H. Kummer et al., „Exploring primate social cognition. Some critical re marks“, in: Behaviour, 112/1990, S. 84-98. 41 B. Hare et al., „Chimpanzees know what conspecifics do and do not see“.
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skizzierten Arguments der evolutionären Kontinuität. Andererseits kann man argumentieren, die Erklärung durch Verhaltensverstehen ohne Bezugnahme auf kognitive Zustände sei einfacher, weil zur Beobachtung des Verhaltens von Artgenossen nicht noch die Repräsentation ihrer visuellen Aufmerksamkeit hinzukommen muss oder weil Verhaltensverstehen ein weniger anspruchsvolles kognitives Vermögen ist als das Erfassen der kognitiven Zustände von Artgenossen. Diese Liste ließe sich leicht ergänzen. Das generelle Problem besteht darin, dass viele Arten von Verhaltenserklärungen eine Unterscheidung in „einfach“ und „komplex“ zulassen. Aber welche Art der Einfachheit ist die relevante? Hat eine Art der Einfachheit Vorrang gegenüber anderen? Oder sollen alle Arten der Einfachheit gewichtet werden, um so etwas wie eine globale Einfachheit zu erzielen? Morgans Kanon besagt, dass Verhaltensweisen nicht aus Ausdruck einer „höheren“ psychischen (kognitiven) Fähigkeit erklärt werden sollen, wenn sie mittels einer „niedrigeren“ (assoziationistischen) Fähigkeit erklärt werden können. Doch was spricht für diese Entscheidung? Vielleicht gibt es einen Grund, niedere Vermögen als einfacher zu betrachten als höhere? Man könnte vielleicht sagen, dass zur Ausübung niederer Vermögen weniger neuronale Mechanismen aktiv sein müssen als zur Ausübung höherer Vermögen. Nehmen wir die Beispiel die Navigation von Honigbienen.42 Bilden Bienen kognitive Karten (d. h. komplexe Repräsentationen) aus oder folgen sie gleichsam isolierten Schnappschüssen, die nach assoziationistischen Regeln verknüpft sind? Letzteres wäre wohl ein niedrigeres Vermögen, aber aus neurologischer Perspektive möglicherweise komplizierter. Oder sollen wir generell sagen, dass kleine Hirne (wie das Bienenhirn) einfache Lösungen bevorzugen? Nur, warum sollte das so sein? Was unterscheidet denn ein höheres von einem niederen Vermögen? Vielleicht die Komplexität der kognitiven Architektur? Nehmen wir dieses Maß, so wären z. B. assoziationistische gegenüber kognitivistischen Erklärungen stets zu bevorzugen, weil assoziationistische Erklärungen im Hinblick auf die kognitive Architektur einfacher sind. Aber es ist nicht klar, warum solche Erklärungen Vorrang haben sollten.43 Aus Überlegungen 42 Vgl. dazu den Beitrag von Menzel in Band 1 dieser Reihe. 43 C. Buckner, „Two approaches to the distinction between cognition and mere association“, in: International Journal of Comparative Psychology, 24/2011, S. 314-348.
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dieser Art ergibt sich, dass Morgans Kanon den besonderen Stellenwert als Einfachheits- oder Sparsamkeitsprinzip nicht verdient, der ihm gemeinhin zugeschrieben wird.44 2.2.2 Tierbewusstsein Ich komme zum zweiten methodischen Problem, der Zuschreibung von Bewusstsein. Erinnern wir uns an die Definition der kognitiven Ethologie, die Mark Bekoff vorgeschlagen hat. Neben höheren kognitiven Fähigkeiten erwähnt sie auch das Bewusstsein. Was ist damit gemeint? Unter „Bewusstsein“ soll hier nicht Selbstbewusstsein verstanden werden, also weder das Bewusstsein seiner selbst über die Zeit hinweg, noch das Bewusstsein seiner eigenen psychischen Zustände oder Fähigkeiten. Unter „Bewusstsein“ soll vielmehr die Fähigkeit verstanden werden, z. B. Schmerzen zu fühlen, Hunger zu verspüren, Freude zu empfinden, einen Klang zu hören, einen Geruch zu riechen oder sich zu langweilen. Mit Bewusstsein sind also Empfindungen, Erlebnisse und Erfahrungen gemeint. Diese sind bewusst. Man nennt dies das „phänomenale Bewusstsein“.45 Es macht nun nicht den Anschein, als ob es sich um besonders anspruchsvolle Fähigkeiten handeln würde. Man braucht nicht besonders intelligent zu sein, um Schmerzen zu fühlen oder um zu hören. Warum wird Bewusstsein eigens aufgeführt? Nun, viele Ethologinnen und Ethologen ziehen es vor, lieber nicht von Bewusstsein bei Tieren zu sprechen, weil sie sich sonst in ungewisse Gefilde bewegen. Sie trennen die Frage nach der Tierkognition häufig vom tierlichen Bewusstsein. Prinzipiell kann man drei Haltungen gegenüber dem tierlichen Bewusstsein einnehmen:
44 Vgl. S. Allen-Hermanson, „Morgan’s canon revisited“, in: Philosophy of Science, 72/2005, S. 608-631; M. Montminy, „What Use is Morgan’s Canon?“, in: Philo sophical Psychology, 18(4)/2005, S. 399-414; S. Fitzpatrick, „Doing away with Morgan’s canon“, in: Mind & Language, 23/2008, S. 224-246; S. Fitzpatrick, „The Primate Mindreading Controversy. A Case Study in Simplicity and Meth odology“, in: R. W. Lurz (Hrsg.), The Philosophy of Animal Minds, Cambridge 2009, S. 224-246. 45 Zur Vielfältigkeit des Bewusstseins-Begriffs vgl. M. Wild, Fische. Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische Perspektive (Beiträge zur Ethik und Biotechnologie 10), Bern 2012, S. 80 ff.
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1. Skeptizismus: Kein Tier verfügt in einem interessanten Sinn über Bewusstsein. 2. Agnostizismus: Vielleicht haben einige Tiere Bewusstsein, doch weil „Bewusstsein“ sich auf subjektive Zustände bezieht, kann Tierbewusstsein kein Gegenstand der Forschung werden. 3. Optimismus: Einige Tiere verfügen prima facie offensichtlich über Bewusstsein, und die Forschung sollte sich um ein besseres Verständnis dieses Phänomens bemühen. Die meisten Ethologinnen und Ethologen scheinen einen Agnostizismus zu akzeptieren. Laien mag diese Trennung seltsam vorkommen. Sollen wir wirklich glauben, dass Tiere wahrnehmen, lernen, sich erinnern und entscheiden, aber all das ohne Bewusstsein? Im Prinzip lautet die Antwort: Ja. Dafür werden – in der Regel implizit – die folgenden Argumente angeführt. 1. Zombieargument: Wir können uns vorstellen, dass Tiere tun, was sie tun, und kognitive Zustände haben, ohne dass dies von bewussten Erlebnissen begleitet wäre. Tiere sind eine Art Zombies, nicht lebendige Tote, sondern aktive Bewusstlose. Im Geist der Tiere ist sozusagen niemals das Licht an. Aber natürlich könnten wir dasselbe auch über Menschen sagen. 2. Epiphänomenalismus: In der Ethologie geht es prinzipiell um Verhaltenserklärungen. Wenn kognitive Zustände das ganze Tierverhalten erklären können, brauchen wir das Bewusstsein nicht. Vielleicht sind diese Zustände bewusst, aber sie verursachen kein Verhalten, das macht die Kognition sozusagen ganz allein. Mit anderen Worten: Bewusstsein ist ein Epiphänomen. Bewusstsein ist wie der Dampf, der aus der Lokomotive entströmt: er existiert, trägt aber kausal nichts zum Funktionieren der Lokomotive bei. Ebenso das Bewusstsein: es existiert, trägt aber kausal nichts zum Verhalten der Tiere bei. 3. Subjektivitätsargument: Wie alle Wissenschaften ist die Ethologie eine objektive Wissenschaft, die ihre Gegenstände von außen, aus der Perspektive der Dritten Person behandelt. Über die subjektive Perspektive der Ersten Person, über das Innenleben eines Subjekts, kann sie nichts sagen. Nehmen wir an, diese Argumente wären überzeugend (was sie m. E. nicht sind). Selbst dann zeigen sie nur, dass der Grund für die Trennung zwischen Kognition und Bewusstsein nicht in der Sache selbst – den Tieren – liegt, sondern vielmehr in der wissenschafthttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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lichen Perspektive auf das Tier. Die wissenschaftliche Erforschung der Tierkognition folgt bestimmten Methoden und sucht nach bestimmten Erklärungen. Es sind diese Methoden und Erklärungen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwingen, im Hinblick auf das phänomenale Bewusstsein bei Tieren agnostisch oder gar skeptisch zu sein. Wir können sagen, dass in der naturwissenschaftlichen Erforschung des tierlichen Geistes ein methodologi scher Dualismus angelegt ist. Die kognitiven Leistungen der Tiere werden auf kognitive Mechanismen zurückgeführt, bei denen es sich letztlich natürlich um neuronale Mechanismen handelt. Dagegen muss im Hinblick auf das Bewusstsein methodologisch Zurückhaltung geübt werden. Wichtig ist aber, dass dies nicht bedeutet, dass wir Skeptiker sein müssen. Aus dem methodologischen Agnostizismus folgt nämlich keineswegs, dass Tiere nicht im relevanten Sinne über phänomenales Bewusstsein verfügen. Vielleicht wird eine Ethologie der Zukunft Methoden und Verfahren entwickeln, das phänomenale Bewusstsein der Tiere zu erforschen, im Moment tut sie dies jedoch kaum.
3. Das materielle Interesse der Philosophie für die kognitive Ethologie Neben der Tatsache, dass die kognitive Ethologie grundlegende begriffliche und methodologische Fragen aufwirft, sind auch die Resultate der kognitiven Ethologie für die philosophische Reflexion einschlägig. Neben dem methodologischen Interesse der Philosophie an der kognitiven Ethologie finden wir also auch ein materielles Interesse. Allerdings kann das materielle Interesse der Philosophie an den kognitiven Fähigkeiten der Tiere nicht auf die Zeitspanne seit dem Aufkommen der kognitiven Ethologie in den letzten Jahrzehnten beschränkt werden. Wie wir bereits gesehen haben, gehört die Frage nach der anthropologischen Differenz – nach dem einen entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier – zum Grundbestand der Philosophie seit der Antike. Auch darf man im Hinblick auf die zoologischen Arbeiten des Aristoteles, die berüchtigte Bêtesmachine-These von Descartes oder die teleologische Auffassung des Organismus bei Kant sagen, dass die Frage, was ein Tier ist und was ein Tier leisten kann, den Klassikern der Philosophie keineswegs fremd war, im Gegenteil. Der verstärkte methodische Einsatz von Tierbeispielen in der Philosophie ist jedoch neueren Datums. Neben https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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der skeptischen Philosophie von Michel de Montaigne – auf die im Zusammenhang mit dem Analogieargument verwiesen worden ist – gebührt insbesondere dem britischen Empirismus das Verdienst, den Tieren in der Philosophie vermehrte Aufmerksamkeit und vor allem einen methodologisch wichtigen Platz verschafft zu haben. Das ist wenig überraschend. Wenn die Empiristen argumentieren, dass all unser Wissen aus den Sinnen stammt, dann unterstreichen sie damit die Nähe unserer kognitiven Vermögen zu denjenigen nicht-menschlicher Tiere. In diesem Abschnitt möchte ich zuerst zeigen, welche methodische Rolle Tiere bei den Empiristen John Locke und David Hume spielen. Im Anschluss daran soll ein exemplarisches Beispiel für den Einfluss der kognitiven Ethologie auf ein Diskussionsfeld der Gegenwartsphilosophie – nämlich die Erkenntnistheorie – angeführt werden. 3.1 Lockes Assimilationismus John Locke fragt im An Essay Concerning Human Understanding (1690) nach Ursprung, Gewissheit und Reichweite der menschlichen Erkenntnis. Zu diesem Zweck untersucht er den menschlichen Verstand. Nun spricht Locke den nicht-menschlichen Tieren den Verstand nicht ab, sondern gesteht ihnen ein gewisses Maß an Verstandestätigkeit zu, ausgehend von der Tatsache, dass Tiere wie wir mit Sinnesorganen ausgestattet sind und daher Sinneswahrnehmungen haben. Nachdem Locke im Buch II seinen Begriff der einfachen Idee erläutert hat, untersucht er in den Kapiteln 2, 9-11 verschiedene Verstandesoperationen. Der Reihe nach werden Wahrnehmung (Perception) und Erinnerung (Retention), Unterscheidung (Discerning), Vergleichung (Comparing), Zusammensetzung (Composition), Erweiterung (Enlarging) von Ideen und schließlich die Abstraktion (Abstraction) erläutert. Bei jeder dieser Erläuterungen folgt Locke einem methodischen Schema: Er stellt sich die Frage nach einer vergleichbaren Operation in der Verstandestätigkeit bei Tieren. Locke macht deutlich, dass er Tieren Folgendes zuspricht: Tiere haben Sinneswahrnehmung, die sie passiv aufnehmen. Folglich haben Tiere zumindest einfache Ideen. Tiere speichern einfache Ideen in ihrem Gedächtnis. Einige Tiere können einfache Ideen, wenn auch nicht über sinnlich präsente Objekte hinaus, zusammensetzen. Einige Tiere können einfache Ideen, wenn auch nicht klar und deutlich, unterscheiden und vergleichen. Folglich können einihttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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ge Tiere einfache Schlüsse ziehen: „It seems as evident to me, that they do, some of them, in certain Instances, reason, as that they have sense; but it is only in particular Ideas, just as they receiv’d them from their Senses.“46 Freilich ist Locke der festen Überzeugung, dass Tiere nicht über das Vermögen der Abstraktion verfügen: „[…] this, I think, I may be positive in, That the Power of Abstracting is not at all in them; and that the having of general Ideas, is that which puts a perfect distinction between Man and Brutes; and is an Excellency which the Faculties of Brutes do by no means attain to.“47 Tiere können im Unterschied zu Menschen nicht von Ideen abstrahieren und damit keine allgemeinen Ideen bilden. Wie entstehen abstrakte Ideen? Vereinfacht gesagt, der Verstand lässt bei partikularen Ideen die zufälligen Umstände weg und behält nur die allgemeinsten Merkmale übrig, die auf alle ähnlichen Objekte zutreffen. Das ist der Abstraktionsprozess. Die abstrahierte Idee vermag mehrere Einzelgegenstände zu repräsentieren und als von einer Art zu klassifizieren. Schließlich wird die abstrakte Idee mit einem arbiträren Laut verknüpft, der dadurch zu einem allgemeinen, sprachlichen Zeichen wird. Da Tiere keine abstrakten Ideen bilden können, ist es für Locke nur folgerichtig, dass sie weder Worte noch sonstige allgemeine Zeichen verwenden. Obwohl Locke das Fehlen einer Wortsprache offensichtlich nicht als Maß des Denkens bei Tieren veranschlagt, lässt sich aus dem Fehlen einer Wortsprache bei den Tieren doch die anthropologische Differenz erschließen. Lockes methodisches Vorgehen kann man als „assimilatorisch“ beschreiben. Er beginnt mit der These, dass alle unsere Ideen – wie man sagen könnte: alle unsere mentalen Repräsentationen – aus der Erfahrung stammen. Da wir diesen Ursprung unserer Ideen mit Tieren, die ja offenkundig ebenfalls über Sinnesorgane verfügen, teilen, macht Locke sich auf die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen tierlichen und menschlichen kognitiven Fähigkeiten, um zuletzt die für den menschlichen Verstand entscheidende kognitive Fähigkeit ausfindig zu machen, nämlich das Abstraktionsvermögen als Voraussetzung für die Bildung allgemeiner Ideen – oder wie man sagen könnte, von Begriffen. Dieses assimilationistische Verfahren erscheint uns heute im Rahmen der kognitiven Ethologie und der 46 J. Locke, An Essay concerning Human Understanding, hrsg. von P. H. Nidditch, Oxford 1975 [1689], 2, 11, 11, S. 160. 47 Ebd., 2, 11, 10 f., S. 159.
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komparativen Psychologie als vertraut und geradezu alternativlos. Dies war freilich nicht immer der Fall. Wir finden in Locke den entscheidenden Vorläufer dieses Vorgehens. 3.2 Humes Tiertest Anders als Locke setzt Hume Tiere nicht nur ein, um die anthropologische Differenz im Bereich der kognitiven Fähigkeiten zu eruieren. In Humes Philosophie werden Bezugnahmen auf Tiere sowohl zur Bestätigung der eigenen Thesen verwendet als auch zur Zurückweisung von Gegenpositionen. Tiere seien „a kind of touchstone, by which we may try every system in this species of philosophy“.48 Das ist ein wichtiges methodisches Prinzip in Humes Denken. Durch den Bezug auf die Tiere meint Hume sowohl im Treati se on Human Nature (1739/40) wie auch im Enquiry Concerning Human Understanding (1748) seine berühmte Analyse des kausalen Schließens bestätigen zu können. Beide Werke enthalten deshalb je ein Kapitel über die Vernunft der Tiere. Hume führt den Unterschied zwischen Jungtieren und erwachsenen Tieren einer Art an, ihr Vermögen zu lernen, um diese Fähigkeiten zu beglaubigen. Hume zufolge nehmen Tiere wahr, lernen aus ihrer Erfahrung, erwarten bestimmte Wirkungen und setzen Kausalregeln instrumentell ein. Nun beruht diese tierliche Lernfähigkeit aber offenkundig ausschließlich auf Erfahrung, Gewohnheit und Instinkt, kausale Schlüsse erfolgen bei Tieren allein aufgrund einer erfahrungsgenerierten Gewohnheit. Warum sollte dies bei Menschen anders sein? Jedes philosophische System, das besondere menschliche kognitive Fähigkeiten annimmt, um kausale Schlüsse zu ermöglichen, schießt deshalb über das Ziel hinaus, denn tierliche kognitive Fähigkeiten reichen aus. Hume meint also, seine Thesen seien so ein fach, dass sie auf Tiere und Menschen gleichermaßen zutreffen, und dies sei ein überzeugender Beweis für die Wahrheit seiner Thesen. Deshalb behauptet Hume, sein Tiertest sei ein Einwand gegen jede andere philosophische Theorie: „When any hypothesis, therefore, is advanc’d to explain a mental operation, which is common to men and beasts, we must apply the same hypothesis to both; and as every true hypothesis will abide 48 D. Hume, A Treatise of Human Nature, hrsg. von D. F. Norton u. M. J. Norton, Oxford, New York 2000, 1, 3, 16, S. 118 (Ed. Selby-Nidditch S. 176).
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this trial, so I may venture to affirm, that no false one will ever be able to endure it. The common defect of those systems, which philosophers have employ’d to account for the actions of the mind, is, that they suppose such a subtility and refinement of thought, as not only exceeds the capacity of mere animals, but even of children and the common people in our own species.“49 Jedes philosophische System, so Hume, das den kognitiven Fähigkeiten der Tiere nicht gerecht werden kann, ist mit der Hypothek belastet, dass es diese Fähigkeiten wegerklären und gute Gründe dafür anführen muss. Die Beweislast – so die Stoßrichtung von Humes Tiertest – liegt bei den Rationalisten, die eine starke anthropologische Differenz ansetzen oder die den kognitiven Fähigkeiten der Tiere nicht gerecht zu werden vermögen. Humes Tiertest fungiert also einerseits bestätigend für die interne Theoriearbeit und andererseits einschränkend für den externen Theoriestreit. 3.3 Humes Tiertest im Einsatz Humes Einsicht, dass tierliche Verhaltensweisen als kognitive Leistungen zu betrachten sind, und dass diese Tatsache einen Einfluss auf die philosophische Theoriebildung haben sollte, ist eine Einsicht, die sich in jüngster Zeit vor dem Hintergrund der kognitiven Ethologie wieder Raum verschafft hat. Methodisch ist der Einsatz von Tieren in der Erkenntnistheorie oder in der Philosophie des Geistes nicht von Humes Ansatz unterschieden. Doch die Akzeptanz von Darwins Evolutionstheorie und der Reichtum an Belegen aus der kognitiven Ethologie hat den explanatorischen Druck auf philosophische Thesen verstärkt, die gezwungen sind, die kognitiven Fähigkeiten von Tieren zu minimieren oder sogar zu bestreiten. Dies soll abschließend am Beispiel des Wissens illustriert werden. Ein gutes Beispiel für den Einsatz des Wissens aus der kognitiven Ethologie im Rahmen einer philosophischen Argumentation findet sich in der naturalisierten Erkenntnistheorie wieder. Die von Willard Van Orman Quine angestoßene Diskussion um die Naturalisierung der Erkenntnistheorie versteht Erkenntnis erstens als eine Fähigkeit, die wir nicht mit begrifflich-philosophischen, sondern mit naturwissenschaftlich-empirischen Mitteln untersuchen sollten und
49 Ebd., 1, 3, 16, S. 118 (Ed. Selby-Nidditch S. 177).
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zweitens versteht sie Wissen als ein natürliches Phänomen, das wir mit Tieren teilen.50 In einem kleinen Aufsatz schreibt Quine: „Naturalized Epistemology is not calculated to yield a proof of the validity of scientific method, on pain of circularity, but it is calculated to improve our understanding and control of the scientific edifice. It can tell us why, up to now, our predictions have been so much better than random. The answer, at the level of natural science itself, is that evolution by natural selection has rendered us attentive to certain features of our perceptions that tend to mesh with the regularities of nature. Basing our expectations on concomitances of those features, we predict relatively well; and this conduces survival. Is this philosophy, or is it animal ethology? Who cares, if the fence is down? Certainly the curiosity that prompted the question is philosophical. Between philosophy and science, or the rest of science, there remain difference of emphasis.“51 Philosophie oder Ethologie? Insofern Wissen ein natürliches Phänomen ist, das wir mit Tieren teilen und insofern Erkenntnis eine naturwissenschaftlich beschreib- und erklärbare Fähigkeit ist, spielt diese Unterscheidung keine grundlegende Rolle mehr. Im Gefolge von Quine hat Hilary Kornblith eine Erkenntnistheorie entwickelt, die explizit auf die Arbeit der kognitiven Ethologie Bezug nimmt.52 Kornblith geht von der Beobachtung aus, dass eine empirische Wissenschaft wie die kognitive Ethologie Tieren Zustände des Wissens zuschreibt. Kornbliths Beispiel ist das Verhalten des Regenpfeifers (Charadrius melodus).53 Brütende Regenpfeifer reagieren auf Nesträuber, wie etwa Füchse, mit der Imitation einer Flügelverletzung. Sie rennen, den scheinbar lahmen Flügel hinter sich herziehend, weg von ihrem Nest. Dabei versuchen sie, den Räuber 50 W. V. O. Quine, „Epistemology Naturalized“, in: W. V. O. Quine, Ontological Relativity and Other Essays, New York 1969, S. 69-90. 51 W. V. O. Quine, „Words Are All We Have to Go On“, in: D. Follesdal (Hrsg.), Quine in Dialogue, Harvard 2008, S. 334-339, hier S. 337. 52 Vgl. H. Kornblith, Knowledge and its Place in Nature, Oxford 2004; H. Korn blith, „Wissen beim Menschen und anderen Tieren“, in: T. Grundmann (Hrsg.), Erkenntnistheorie. Positionen zwischen Tradition und Gegenwart, Paderborn 2001, S. 303-327; H. Kornblith, „Wissen: Ein natürliches Phänomen“, in: T. Su kopp, G. Vollmer (Hrsg.), Naturalismus: Positionen, Perspektiven, Probleme, Tübingen 2007, S. 83-97. 53 C. A. Ristau, „Aspects of the Cognitive Ethology of an Injury-Feigning Bird, the Piping Plover“, in: M. Bekoff, D. Jamieson (Hrsg.), Readings in Animal Cognition, Cambridge (Mass.) 1996, S. 79-89.
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so weit wie möglich vom Nest weg zu locken. Sie achten auf die Bewegungen des Räubers und passen die ihrigen an. So rennen sie beispielsweise zurück, wenn der Räuber ihnen nicht folgt, sondern sich dem Nest nähert. Nähern sich aber beispielsweise Kühe dem Nest, so imitiert der Regenpfeifer keine Verletzung, sondern bleibt sitzen und flattert dem Wiederkäuer ins Gesicht, bevor er in das Nest tritt. Um Räuber mittels einer Imitation einer Flügelverletzung von seinem Nest abzulenken, muss der Vogel wissen, dass er ein potentiell nesträuberisches Wesen vor sich hat (einen Fuchs, keine Kuh), er muss wissen, wo sein Nest liegt, und er muss wissen, wohin sich der Räuber bewegt. Ethologinnen und Ethologen beschreiben die kognitiven Zustände von Tieren häufig mit dem Ausdruck „Wissen“.54 Ist das gerechtfertigt? Das Verhalten des Regenpfeifers lässt sich sowohl unter der Einnahme von Dennetts intentionaler Einstellung (vgl. das Interpretationsargument) als auch vor dem Hintergrund der repräsentationalistischen Theorie des Geistes (vgl. das Argument vom Schluss auf die beste Erklärung) als etwas verstehen, das durch intentionale, kognitive Zustände gelenkt wird, nämlich Meinungen darüber, dass sich ein Raubfeind nähert, wo sich dieser Raubfeind befindet, wohin er sich bewegt und wo das Nest liegt. Nehmen wir an, der Regenpfeifer liegt mit diesen Meinungen richtig. Er verfügt also über das, was Erkenntnistheoretiker „wahre Meinung“ nennen. Nach allgemeiner Auffassung reichen wahre Meinungen für Wissen nicht aus, denn es könnte ja ein purer Zufall sein, dass jemand mit einer Meinung richtig liegt. In der Regel wird ein drittes Element verlangt, ein Element, das den Wissenden mit einem Sachverhalt zuverlässig verbindet. Die klassische Definition des Wissens ergänzt wie folgt: Wissen ist wahre, gerechtfertigte Meinung. Die Rechtfertigung soll also das Wissenssubjekt mit einem Sachverhalt verbinden. Diese Auffassung ist in der neueren erkenntnistheoretischen Diskussion unter Beschuss geraten. Vereinfacht gesagt, stehen sich internalistische und externalistische Konzeptionen des Wissens gegenüber. Der Externalismus bestreitet, dass diese zuverlässige Verbindung
54 Hier einige Beispiele von bereits zitierten Arbeiten: J. M. Plotnik et al., „Ele phants know when they need a helping trunk in a cooperative task“; J. Call, „Do apes know that they could be wrong?“; R. Hampton et al., „Rhesus monkeys (Macaca mulatta) discriminate between knowing and not knowing and collect information as needed before acting“; B. Hare et al., „Chimpanzees know what conspecifics do and do not see“.
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dem Subjekt zugänglich sein muss. Der Internalismus geht davon aus, dass die zuverlässige Verbindung zwischen Wissenssubjekt und Sachverhalt dem Subjekt zugänglich sein muss, z. B. in Form einer Rechtfertigung. Laurence BonJour, ein bekannter Vertreter des Internalismus, schreibt: „The most generally accepted account is that a theory of justification is internalist if and only if it requires that all of the factors needed for a belief to be epistemically justified for a given person be cognitively accessible to that person, internal to his cognitive perspective.“55 Warum sollten das Verb „wissen“, das Substantiv „Wissen“ und damit verwandte Ausdrücke nur auf Personen anwendbar sein? Es geht doch um ein Verständnis von Wissen und davon, was Wissen von einer nur zufällig wahren Meinung unterscheidet. In diesem Zusammenhang scheint es voreilig, „wissen“ nur Personen zuschreiben zu wollen. Katzen sehen und hören Mäuse. Deshalb wartet die Katze vor dem Loch, in dem die Maus verschwunden ist. Die Katze erinnert sich, wo die Maus verschwunden ist. Wenn ein Subjekt S sich erinnert, wo X ist (z. B. gesehen hat, dass X in das Loch in der Wand verschwunden ist), dann weiß S auch, wo die Maus verschwunden ist (aber nicht, ob die Maus noch hinter der Wand sitzt). Ein Hund sieht seine Futterschüssel, er sieht also die Schüssel dort vor ihm stehen, er weiß, wo die Schüssel steht. Denn wenn ein Subjekt S sieht, wo X ist (z. B. sieht, dass X auf dem Boden neben der Wand steht), dann weiß S auch, wo X ist. Aber weder Titus noch Milou wissen, dass sie auf die angemessene Weise mit einem bestimmten Sachverhalt verbunden sind, sie können ihre Meinungen nicht rechtfertigen oder begründen, sie können weder die Qualität ihrer kognitiven Vermögen noch der aufgenommenen Information beurteilen. Alle diese Dinge sind ihrer subjektiven Perspektive (so vermute ich) unzugänglich. Das hindert uns aber nicht daran zu sagen, dass Katzen oder Hunde etwas wissen. Es macht deshalb den Anschein, dass die vom Internalismus geforderte Zugänglichkeit für das Subjekt unerheblich für Wissen ist. Tiere sind ebenso Subjekte von Wissenszuschreibungen wie Personen. Nun scheinen aber Tiere die den Internalismus motivierende Intuition der Zugänglichkeit von Rechtfertigungsgründen nicht unterstützen zu können. Der 55 L. BonJour, „Externalism/Internalism“, in: J. Dany, E. Sosa (Hrsg.), A Companion to Epistemology, Oxford 1992, S. 132.
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Internalismus beruht also auf einer uneingestandenen Verengung der Wissenssubjekte. Mehr noch, wenn Tiere Wissenssubjekte sind, bleibt unklar, warum der Faktor, der den Unterschied zwischen einer zufällig wahren Meinung und Wissen ausmacht, intern statt extern sein sollte? Der Umstand, dass wir Tieren Wissen zuschreiben und dass ihnen die Rechtfertigungsgründe für Wissen nicht subjektiv zugänglich sind, sprechen vielmehr für den Externalismus.56 Wir können sagen: Der Internalismus besteht Humes Tiertest nicht. Kehren wir zurück zum Regenpfeifer. Woher kommt die dritte Komponente, die eine wahre Meinung zu Wissen macht? Kornblith nennt diese Komponente „Zuverlässigkeit“. Ein Tier hat ein Wissen über einen bestimmten Gegenstandsbereich, wenn es ein Vermö gen besitzt, das zuverlässig wahre Meinungen hinsichtlich dieses Bereichs hervorbringt. Die Umwelt stellt Ansprüche an Tiere, so dass sie im Laufe der Evolution Vermögen entwickeln, welche die Funktion haben, mit diesen Ansprüchen umzugehen. Für Kornblith bedeutet dies, dass diese Vermögen zwar nicht immer, aber doch oft genug und mithin zuverlässig wahre Meinungen über die Umwelt von Tieren hervorbringen. Ein Beispiel für ein solches Vermögen ist das visuelle System, das wahre Meinungen über die aktuelle visuelle Umwelt hervorbringt. Wenn der Regenpfeifer einen Fuchs erspäht, hat er Anlass zu glauben, dass ein Fuchs in der Nähe ist, auch wenn er ihn gerade aus den Augen verloren hat. Ein zweites Beispiel ist die Erinnerung, ein Vermögen, das wahre Meinungen über Sachverhalte erzeugt, die nicht mehr präsent sind. So muss sich der Regenpfeifer natürlich erinnern, wo sein Nest liegt. Solange diese beiden Vermögen richtig funktionieren, erzeugen sie zuverlässig wahre Meinungen. Es ist nun naheliegend, evolutionstheoretische Überlegungen miteinzubeziehen: Die fraglichen Vermögen erwerben ihre Funktion durch die natürliche Selektion. An dieser Stelle können wir die normative Komponente der Epistemologie berücksichtigen. Wenn das Vermögen V die Funktion hat, F zu tun, dann sagen wir, V sollte F tun. Wenn V nicht richtig oder gar nicht funktioniert, dann be-
56 Vgl. W. Alston, Epistemic Justification. Essays in the Theory of Knowledge, Itha ca 1989, Kap. 8-9; A. Goldman, „Internalism Exposed“, in: The Journal of Phi losophy, 96/1999, S. 271-229; H. Kornblith, Knowledge and its Place in Nature, Kap. 1; M. Wild, „Wer den Pavian versteht … Eine naturalistische Perspektive auf Wissen bei Mensch und Tier“, in: Die anthropologische Wende, Studia Phi losophica, Bern 2014, S. 105-130.
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deutet dies, dass es seine Aufgabe F nicht erfüllen kann, obwohl es eigentlich dazu da ist. Nun können wir sagen: Die Evolution hat Tiere mit Vermögen ausgestattet, die die Funktion haben, zuverlässig wahre Meinungen hervorzubringen. Wenn diese Annahme korrekt ist, dann sind die Prozesse, durch die diese Vermögen de facto Meinungen hervorbringen, zugleich die Prozesse, durch die Meinungen gebildet werden sollen. Die Hintergrundannahme lautet, dass wir Meinungen mithilfe von Prozessen bilden sollten, welche die zuverlässige Tendenz haben, wahre Meinungen hervorzubringen. Wenn wir wahre Meinungen wollen, dann sollten wir auf diese Prozesse vertrauen. Die epistemologische Pointe dieser Überlegungen besteht darin, sich auf kognitive Vermögen zu stützen, die Tier und Mensch gemeinsam sind. Schon als Tier hat der Mensch Wissen und sammelt Erkenntnisse. Dieses Wissen lässt sich laut Kornblith wie folgt charakterisieren: Es handelt sich um wahre, auf zuverlässige Weise hervorgebrachte Meinungen, die Verhaltensweisen dienen, die erfolgreich biologische Bedürfnisse befriedigen und deswegen einer Darwinschen Erklärung für die selektive Erhaltung von Merkmalen zugänglich sind. Könnte man nun nicht eine Unterscheidung zwischen tierlichem und reflektiertem Wissen einführen? Tierliches Wissen können Lebewesen über die aktuelle Umgebung oder über die Vergangenheit haben. Reflektiertes Wissen ist nicht nur das Resultat äußerer Einflüsse auf Wahrnehmungs- und Erinnerungsvermögen, es ist vielmehr ein Wissen über das Wissen. Es umfasst Wissen über die Herkunft und die Entstehung wahrer Meinungen und vollzieht die Integration von wahren Meinungen in eine ganze Gedankenwelt. Kornblith ist zu Recht der Ansicht, dass es sich hier nicht um zwei Arten des Wissens handelt. Menschen und Tiere haben tierliches Wissen. Menschen mögen die zusätzliche Fähigkeit haben, über dieses Wissen reflektieren zu können. Diese Fähigkeit ist aber kein anderes Wissen, sondern Ausdruck eines neuen Vermögens, das zuverlässig wahre Meinungen über unsere Meinungen hervorbringt; dieses Vermögen ist die Introspektion oder Metakognition. Es gibt nach dieser Überlegung nicht zwei Arten von Wissen, menschliches und tierliches, sondern nur eine Art. Der Grundgedanke der naturalisierten Erkenntnistheorie lautet also: Es soll nicht der Begriff des Wissens studiert werden, sondern das Phänomen Wissen selbst muss unser Interesse auf sich ziehen. In der kognitiven Ethologie werden Tieren verschiedene kognitive Zustände zugeschrieben, u. a. auch Zustände des Wissens. Die https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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Zuschreibung solcher Wissenszustände hat einen explanatorischen Sinn, die Zustände sollen erklären, warum sich Tiere auf bestimmte Weise verhalten. Nun ist es die Aufgabe der Philosophie, den Begriff des Wissens, der hier benutzt wird, zu analysieren und innerhalb der erkenntnistheoretischen Diskussion fruchtbar zu machen. Dabei zeigt sich nicht nur, dass die materielle Bezugnahme auf die Arbeiten der kognitiven Ethologie philosophisch fruchtbar ist, sondern ebenso, dass die Bezugnahme auf tierliche Fähigkeiten im Sinne von Hume einen Test für philosophische Theorien darstellt. Wie ich am Beispiel der Erkenntnistheorie veranschaulicht habe, stellt die kognitive Ethologie der Philosophie Erkenntnisse zur Verfügung, die durchaus das Potenzial haben, traditionelle Vorstellung der Philosophie in Frage zu stellen. Dies betrifft nicht nur die Erkenntnistheorie, sondern insbesondere auch die Philosophie des Geistes, die Sprachphilosophie und die Ethik. Philosophen und Philosophinnen sollten sich der Herausforderung stellen, die Humes Tiertest darstellt, oder klar angeben, warum sie der Ansicht sind, dass sie differenzialistische Thesen über humane Fähigkeiten vertreten können, die durch die kognitive Ethologie erschüttert worden sind.57
57 C. Buckner, „Morgan’s Canon Meets Hume’s Dictum: Avoiding Anthropofabu lation in Cross-species Comparisons“, in: Biology & Philosophy, 28(5)/2013, S. 853-871.
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Der kultivierte Affe als „Person“? Philosophische und wissenschaftshistorische Streifzüge zum Great Ape Projekt
Einführung Wenn traditionell alle Tiere, darunter auch Menschenaffen, im abendländischen Denken als „Sachen“ angesehen wurden und bestimmte Menschen als „Personen“, die diese „Sachen“ besitzen und mit diesen „Sachen“ machen konnten, was sie wollten (so auch mit Sklaven), so ist dies aus rechtsphilosophischer Perspektive ein kulturhistorisches Faktum. Es war nicht nur schon im römischen Recht, sondern ist auch heute noch im lebensweltlichen Umgang mit Tieren relevant. Man kann es aus systematischer Perspektive als eine dualistische rechtsphilosophische Falle ansehen, zwischen „Sachen“ und „Personen“ entscheiden zu müssen. Insbesondere, wenn es um konkrete Handlungskontexte geht, in welche Tiere involviert sind, wird diese Sicht im Verlaufe der Neuzeit epistemologisch durch den cartesischen Dualismus von „res cogitans“ und „res extensa“ theoretisch und ontologisch-metaphysisch untermauert. Denkende Personen sind Wesen mit Geist, Tiere werden zu Maschinen. Dieser Dualismus wirkt letztlich noch im empiristischen, psychologischen Personenkonzept nach, wenn eine „Person“ von John Locke bis Peter Singer als ethische Schlüsselkategorie in unterschiedlichen Handlungskontexten verstanden wird: als Entität, die sich durch die psychische Fähigkeit zu Selbstbewusstsein auszeichnet. „Personen“ sind Subjekte mit besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten: Sie besitzen Ich-Bewusstsein und äußern zukunftsfähige Wünsche. Nach dieser Auffassung sind zwar viele Menschen Personen, aber eben nicht alle – wie Embryonen oder bestimmte Wachkomapatienten. Einige Tiere wie beispielsweise Große Menschenaffen oder Wale würden dann ebenso als „Personen“ gelten. Kurz: „Person“ und „Sache“, die man besitzen kann, sind die relevanten praktischen Kategorien und zugleich – historisch und systematisch betrachtet – wirkmächtige dualistische Spaltungsbegriffe, in die man alle möglichen „Lebewesen“ hineinzuzwängen https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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versucht. Vor diesem dualistischen, in unserer Kultur gewachsenen Hintergrund, werden in der Ethik des pathozentrischen Utilitarismus von Peter Singer Menschenaffen wie die berühmte amerikanische Gorilladame „Koko“ zu konkreten „Personen“. Im Wachkoma lebende Menschen wie einst die Amerikanerin Terri Schiavo werden zu nicht-fühlenden Nichtpersonen, zu Lebewesen unter Tierniveau, die wie Pflanzen „dahinvegetieren“, weshalb ihre Leben zur Disposition stehen. Personen aber können besondere Rechte beanspruchen, Sachen dagegen haben keine – ähnlich wie Menschen ohne jede emotionale und kognitive Kompetenzen, die nun als „Sache“ vielleicht für eine Organtransplantation taugen. Auch das durch Cavalieri und Singer im Jahr 1993 angestoßene „Great-Ape-Projekt“1 folgt in seiner Grundintention mit der Forderung nach „Menschenrechten“ oder „Grundrechten“ für Große Menschenaffen letztlich dieser traditionellen dualistischen Logik. In der modernen Tierethik dient das Projekt als Türöffner für einen durch höhere Tiere erweiterten ethischen Club. Diverse Fragen ergeben sich, z. B. ob es sich in diesen Zugängen überhaupt um adäquate theoretische und praktische Kategorien zur Einordung von Tieren handelt? Wie wurden bestimmte Tiere in unserer Kultur, insbesondere Menschenaffen, zu „Personen“? Fallen wir in derartigen Zuschreibungen in einen epistemisch unaufgeklärten bzw. anthropomorphen und anthropozentrischen Dualismus zurück – zumindest in der Beurteilung von Lebewesen in der Lebenswelt? Andererseits: Kann es jenseits von „Sache“ und „Person“ überhaupt Kategorien geben, die bislang mehr unter dem Oberbegriff „Lebewesen“ verhandelt wurden, und die nicht nur als theoretische, biophilosophische, sondern auch als praktische, normative Handlungskategorien bei der Beurteilung relevant sind? Fragen dieser Art führen in die komplexe Geschichte des „kultivierten Affen“.2 In exemplarischen Stationen der Geschichte der Integration von Menschenaffen in die europäische Kultur und Geistesgeschichte lässt sich konkret verfolgen, wie aus einem besonderen Tier, einem „Satyr“ oder „Monster“, eine „Person“ wurde. Der besondere Status von Menschenaffen – d. h. zunächst von Schimpansen und Orangs – wurde bald nach ihrer europäischen Entdeckung im 17. Jahrhundert, 1 2
P. Cavalieri, P. Singer (Hrsg.), Menschenrechte für die Großen Menschenaffen. „Das Great Ape Projekt“, München 1994. H. W. Ingensiep, Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2013.
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insbesondere aber in der Aufklärungsepoche des 18. Jahrhunderts, naturphilosophisch intensiv reflektiert. Schon Rousseau erhob sie zu recht friedlichen und intelligenten „guten Wilden“. Gorillas dagegen wurden nach ihrer späten Wiederentdeckung kurz vor Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst als aggressive „Monster“ wahrgenommen. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts wurden insbesondere die Schimpansen als deutlich aggressivere Wesen erkannt, die andere Affen töten und sogar „Kriege“ führen können. Ausnahmen machen die Bonobos als „kooperative Hippies“. Die aggressiven Gorillas werden – trotz der King-Kong Mythologie – nach und nach durch Beobachtungen in Zoos, in Forschungslaboren und im Freiland, zu „sanften Vegetariern“ entmythologisiert. Aus diesen einstigen Satyren, Pygmäen oder Monstern, – Schimpansen, Orangs und Gorillas – werden aktuell „Personen“, die nun auch Zutritt zum ethischen Club der Inhaber von Menschenrechten verlangen – zumindest, wenn man dem Anliegen des Great Ape Projekts folgt. Bonobos und andere Primaten stehen ihnen zur Seite, die „Kleinen“ Menschenaffen dagegen – Gibbons – werden meist vergessen. So hat sich eine komplexe Gemengelage ergeben. Der Streifzug durch die Geschichte der Wahrnehmung von Menschenaffen in der westlichen Kultur erlaubt vorsichtige und differenzierte Urteile, wenn es um ethische Grundfragen und um das Verhältnis von Mensch zu Tier geht. Exemplarische Stationen und Überlegungen zu diesem besonderen Verhältnis von Menschen zu Menschenaffen aus wissenschafts- und philosophiehistorischer Sicht liefern nachfolgend Einblicke in die Geschichte der Kultivierung von Menschenaffen (1.), die dann aus ethischer und praktischer Perspektive kritisch reflektiert werden (2.).
1. Zur frühen Kultivierung von Großen Menschenaffen als „Personen“ Die zentrale philosophie- bzw. kulturhistorische Frage lautet: Wie wurden Menschenaffen zu „Personen“? Der nachfolgende Streifzug durch die westliche Geschichte der Kultivierung von Menschenaffen seit ihrer Entdeckung durch Europäer skizziert Facetten ihrer Personalisierung und führt über wichtige philosophische Stationen wie die Aufklärungsphilosophie in die Zeiten nach Darwin bis zu Forschungen im 20. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund findet die https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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besondere Form der Inkulturierung von Menschenaffen als „Personen“ in die europäische Geisteskultur statt. 1.1 Die ersten Entdeckungen und Beobachtungen im 17. Jahrhundert Mit der imperialen Ausbreitung der europäischen Nationen gelangen erste Reiseberichte aus Afrika und Asien über „Monster“ oder „Waldmenschen“ nach Europa. Die mehrfach aufgelegten Reiseberichte des Kompilators Samuel Purchas (1625) enthalten einige Schilderungen des Engländers Andrew Battell, eines Soldaten, den es auf Umwegen nach Afrika verschlagen hatte. Battell berichtet erstmals über zwei unterschiedliche Affenarten mit den Namen „Pongo“ und „Engeco“ – vielleicht waren es Schimpansen und/oder Gorillas:3 Ihr Aussehen und Verhalten sei ähnlich wie bei Menschen. Diese „Monster“ unterschieden sich anatomisch von Menschen nur durch den Mangel an Waden. Haltung und Gang seien aufrecht, sie würden kein Fleisch essen. Nach Ansicht von Eingeborenen würden sie nicht sprechen, um nicht arbeiten zu müssen. Diese Wesen setzten sich an von Menschen verlassene Feuerstellen, seien aber nicht klug genug, Holz nachzulegen. Sie würden Eingeborene und sogar Elefanten mit Stöcken angreifen. Ihre Toten würden sie mit Zweigen und Blättern bedecken – solche Haufen seien oft zu beobachten.4 Bereits diese ersten Verhaltensbeschreibungen vermischen unterschiedliche Komponenten und Verhaltensformen von Tier und Mensch und nähren die Vorstellung, es handele sich um eine Art von menschlichen Personen. Exemplarisch dafür ist die schon bei Battell zu findende Behauptung, dass es eine Art von Totenbestattung und Trauerritus bei Menschenaffen gebe.5 3
4 5
S. Purchas, The strange adventures of Andrew Battell of Leigh, in Angola and the adjoining regions. Reprinted from „Purchas his Pilgrimes“, hrsg. von E. G. Ravenstein, London 1901. [Hakluytus Posthumus or Purchas His Pilgrimes By Samuel Purchas, B.D. Vol. VI, The Second Part, London 1625, S. 366-406, Reprint New York 1965.]. Ebd., S. 398 f. Diese merkwürdigen Beobachtungen persönlicher Aktivitäten Tod und Ster ben betreffend wurden also zwar überliefert, später aber meist ignoriert und werden von Primatologen bis in die Gegenwart hinein meist als Anekdote bzw. empirisch unbegründeter Anthropomorphismus angesehen oder zumindest mit
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Weitere Berichte über den Orang Utan liefert ein holländischer Arzt namens Bontius aus dem fernen Borneo. Ein lebender Menschenaffe gelangt bald nach Holland, vermutlich ein Schimpanse, der seit 1641 in mehreren Auflagen eines Werkes des Amsterdamer Arztes Tulpius als „indischer Satyr“ oder „Orang-Outang“ beschrieben wird. Die einzige Abbildung stellt ein recht kultiviert sitzendes Affenweib mit geneigtem Haupt vor – mit ihren Händen bedeckt sie ihr Geschlechtsteil. Dieses weibliche Tier verhalte sich beim Essen und Schlafen kultiviert und in Anwesenheit von Männern schamhaft, berichtet Tulpius.6 Wissenschaftlich bedeutsam war die erste sorgfältiger durchgeführte Vergleichsstudie des englischen Mediziners Edward Tyson (1651–1708). Dessen anatomische Analyse aus dem Jahr 1699 hält detailreich Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zum Menschen fest, die weit über die Arbeiten des bedeutenden französischen Naturforschers Georges-Louis Leclerc de Buffon ins 18. Jahrhundert hinein wirken. Tyson diskutiert seine Befunde vor dem Hintergrund antiker Berichte zu „Pygmies“7 und kommt zu der Ansicht, dass Menschenaffen zum aufrechten Gang und vielleicht sogar zur Sprache befähigt sind. Diese ersten Berichte und Analysen von Battell, Tulpius und Tyson legen den Grundstein für die bald einsetzende philosophische Diskussion.
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großer Vorsicht betrachtet. – Der Freilandprimatenforscher Christophe Boesch schildert allerdings in seinen aktuellen Freilandbeobachtungen erregt einen Fall, in welchem etliche Schimpansen nach dem Tod eines an Ebola verstorbenen Gruppenmitgliedes eine Art „Trauer“ zeigen. Am nächsten Morgen fand man den Leichnam der Schimpansin „Ondine“ mit „belaubten Zweigen bedeckt“, was Boesch zu der Überlegung bringt, der Schimpansenmann „Brutus“ könnte die von ihm langjährig unterstützte „Ondine“ damit bedeckt haben: „Und was möchte ein Tier zu solch einem Akt bewegt haben?“ (M. Robbins, C. Boesch, (Hrsg.), Menschenaffen. Begegnungen mit unseren nächsten Verwandten, Stutt gart 2013, S. 37.) Vgl. etwa N. Tulpius, Observationes Medicae, Amsterdam 1641. Der englische Mediziner Edward Tyson (1651–1708) verfasste das Werk OrangOutang, sive Homo sylvestris or anatomy of a pygmy (London 1699), das in der 2. Auflage unter dem Titel The anatomy of a pygmy, compared with that of a monkey, an ape and a man nochmals ein halbes Jahrhundert später erschien (London 1751).
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1.2 Aufklärung über Menschenaffen in der Wissenschaft des 18. Jahrhunderts Weitere Reiseberichte und Analysen inspirieren die Geistesskultur der Aufklärung.8 Tysons aufrecht stehender „Pygmy“ von 1699 war bereits weithin bekannt, als ein durch den englischen Kapitän Hower im August 1738 von Angola nach London gebrachter lebender Schimpanse neue Denkanstöße lieferte. In Affendarstellungen der Aufklärungszeit verdrängt der aufrecht gehende „Wandergesell mit Stab“ allmählich das schamhaft sitzende Affenweib des Tulpius und steht den Aufklärern in bekannten Reisekollektionen, z. B. von Prevost, vor Augen – so auch Rousseau.9 Als recht großes, aufrecht gehendes und menschenähnliches Wesen regt es die „Philosophen“ und Naturkundigen zu Fragen an: Sind es wirklich Affen oder doch wilde Menschen? Können sie vielleicht wie Menschen erzogen werden? Können sie sprechen? Stammt der Mensch vielleicht von ihnen ab? Der führende Kulturphilosoph Rousseau interpretiert sie als wilde Menschen und sieht in ihnen den „guten Wilden“ verkörpert, in einem noch recht unverdorbenen Naturzustand. Der französische Materialist La Mettrie glaubte, sie seien durch Lernen zu kultivierten Bürgern erziehbar und man könne ihnen vielleicht auch die Gebärdensprache der Taubstummen beibringen. Inspiriert durch Rousseau spekuliert der Schotte Monboddo, der sprechende Mensch stamme vom sprachlosen Orang ab. Der Systematiker Linné betont ebenfalls die anatomische Nähe zum Menschen, doch Buffon spricht sich für eine große innere quasi-cartesische Differenz zum Menschen aus. Seit Linné gelangen Menschenaffen mit dem Menschen als „Anthropomorpha“, später als „Primates“ (1758), als „Herrentiere“ an die Spitze des Tierreichs. Der Einmarsch der großen Affen, einschließlich der Gibbons, in die Aufklärung erfolgt ab Mitte des 18. Jahrhunderts und sie sind seitdem nicht mehr aus Naturgeschichten, Enzyklopädien und Reiseberichten wegzudenken. In attraktiven Illustrationen und Erzählungen besticht ihre Menschenähnlichkeit und beim aufgeklärten
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Vgl. H. W. Ingensiep: „Der aufgeklärte Affe“, in: J. Garber, H. Thoma (Hrsg.), Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahr hundert, Tübingen 2004, S. 31-57. A. Prevost, Histoire generale des Voyages, Paris 1748. Tafeln mit Menschenaffen im 14. Bd. zwischen S. 94 und S. 96 bezeichnet als Sup. T. IV. N. III. und Sup. T. IV. N. V.
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Leser – ob Kind oder Erwachsener – regen sie permanent Fragen nach ihrer Art und ihrem Ort in der Natur an. Der Naturforscher und Naturphilosoph Charles Bonnet stellt sie in der hierarchischen Stufenleiter der Wesen – scala naturae – gleich unterhalb des Menschen und damit für viele Zeitgenossen nicht weit unterhalb der „Hottentotten“ als vermeintlich niederster Menschenform. Während führende Philosophen wie La Mettrie und Rousseau Menschenaffen in die Nähe des Menschen rücken, gehen diverse „Experten“ wie der Anthropologe Johann Reinhold Forster oder der Anatom Peter Camper auf Distanz und sind bemüht, den Konstruktionen mehr Empirie entgegenzusetzen – dazu konkrete Einblicke. Monboddo, für den unumstößlich erwiesen sei, „dass die OrangUtangs zu unserer Menschenart (Species) gehören“ – so Forster10 –, wird als ein Wortführer von affenfreundlichen „Sonderlingen“ kritisiert. Der berühmte Forschungsreisende und Vater von Georg Forster kritisiert in seinen Beobachtungen auf der Cookschen Weltumseglung (1772–1775) bzw. in seinen „Bemerkungen“ zur Reise um die Welt (Berlin 1783) diese Form der „Aufklärung“. Manche Menschen würden gar als „Affenbarstarte [sic!]“ angesehen oder der Orang „zum Range eines Menschen“ erhoben.11 Affen würden dann nur noch zu „Abarten“ des Menschen gemacht.12 Heftig wendet sich Forster gegen Vergleiche einer Menschenfrau mit einer „häßlichen, eckelhaften Aeffin“.13 Mithilfe von Erfahrungswissen wird dagegen die geistige und körperliche Sonderstellung des Menschen verteidigt, dessen Fähigkeiten zu Vernunft, Sprache oder Moralität. Auch die anatomische Bestimmung zum aufrechten Gang wird unter Berufung auf die Studien des Anatomen Camper betont. Der aufrechte Gang komme bei Affen nur „zufälligerweise“ vor, während bei ihnen der Lauf auf allen Vieren natürlich sei.14 Vielmehr zeige die Erfahrung der Vielfalt der Menschen, dass diese vermeintlich „so sehr abstechenden Spielarten des Menschengeschlechts alle von einer Gattung sind“ und nur graduell verschieden seien.15 Die oft angeführten Unterschiede zwischen „Neger“, „Ta10 J. R. Forster, J. R. Forsters Bemerkungen über Gegenstände der phys. Erdbe schreibung etc. auf seiner Reise um die Welt gesammelt, aus dem englischen durch G. Forster, Berlin 1783, S. 227. 11 Ebd., S. 227. 12 Ebd., S. 229. 13 Ebd., S. 230. 14 Ebd., S. 229. 15 Ebd., S. 232.
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heitier“ und „Mallikollesen“ vom „nordischen Europäer“ würden durch Unterschiede in der Luft, Sonne und besondere Lebensart verständlich.16 – Die Autorität der beiden Forsters wirkte nachhaltig in der Diskussion über die Differenz innerhalb des Menschengeschlechts und zu Menschenaffen und verursachte auch manchen Streit.17 Naturforschung und Philosophie, bald aber auch die Kunst, das Theater und die Literatur, tragen zur Personalisierung von Menschenaffen bei. Der holländische Naturforscher und Menageriedirektor Arnout Vosmaer konnte im Jahr 1777 erneut einen lebenden, jungen Orang in Den Haag intensiv beobachten, der noch im gleichen Jahr von dem holländischen Künstler Haag porträtiert wurde. Der erwähnte holländische Anatom Camper gibt 1778 eine Studie heraus, die zeigen sollte, dass der Orang schon in anatomischer Hinsicht weder zum aufrechten Gang noch zur Sprache befähigt war. Aus derartigen Gründen trennt der Anthropologe Friedrich Blumenbach gegen Ende des 18. Jahrhunderts diese Menschenaffen in seiner Klassifikation als „Quadrumana“, also „Vierhänder“, wieder deutlich vom einzigen „Zweihänder“, dem Menschen, ab. Der deutsche Sprach-, Natur- und Geschichtsphilosoph Johann Gottfried Herder erkannte anfangs zwar die große äußere Nähe der Menschenaffen zum Menschen an, warnt aber später in seinen berühmten Ideen: „Du aber, Mensch, ehre dich selbst. Weder der Pongo, noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht bestehlen: denn er ist ein Mensch, wie du bist: mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehen“.18 Der „Pongo“, ein Schimpanse oder Orang, und der „Longimanus“, der Gibbon, – also die in der Aufklärung bekannten Menschenaffen – können die exklusive Stellung des Menschen nicht gefährden. Wirkliche Bruderschaft kann mit ihnen nicht bestehen oder gar eine moralische Gleichstellung erfolgen. Dennoch zeigen gerade diese Reflexionen, wie nahe die Menschenaffen in der Aufklärung den menschlichen Personen gekommen waren. 16 Ebd. 17 Vgl. H. W. Ingensiep, „Der Mensch im Affenspiegel. Anthropomorpha im 18. Jahrhundert“, in J. Garber, T. van Hoorn (Hrsg.), Natur – Mensch – Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit, Hannover-Laatzen 2006, S. 79102. 18 J. G. v. Herder, Ideen zur Geschichte der Menschheit, hrsg. von J. von Müller, Zweiter Theil 1785, Tübingen 1806, S. 73 (7. Buch I).
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Der führende Philosoph der Zeit, Kant, verzeichnet nur marginal die Eigenschaften von Menschenaffen in seiner oft gehaltenen Vorlesung zur Physischen Geographie; er spekuliert aber auch über dessen historische Rolle in der Kultivierung des Menschen. So trägt Kant Gedankenspiele zu „extremsten Formen des Entwicklungsgedankens“ vor, „die im ganzen Rahmen seines biologischen Weltbildes eigentlich eher fremdartig anmuten müssen“.19 Der Kantkenner Roretz zielt hier auf eine beiläufige Anmerkung Kants in der Anthropologie.20 Dabei geht es Kant um die anthropologische Sicht des Geschreis eines Kindes und um die vermeintliche Absicht der Natur bei dieser existentiellen, lauten Ankündigung eines Wesens. Sie diene, so Kant, der Arterhaltung des Menschen, aber doch erst in einer späteren Epoche, als „beide Ältern schon in derjenigen Cultur, die zum häuslichen Leben nothwendig ist, gelangt waren“.21 Kant spekuliert: „Diese Bemerkung führt weit, z. B. auf den Gedanken: ob nicht auf dieselbe zweite Epoche bei großen Naturrevolutionen noch eine dritte folgen dürfte; da ein Orang-Utang oder ein Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildeten, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Cultur sich allmählig entwickelte.“22 – Selbst der Rationalist Kant, der klar die Vernunftdistanz des Menschen zum Tier betont, lässt sich also manchmal auf konkrete quasi-evolutionäre Spekulationen zur Kulturfähigkeit des Orang ein und nähert ihn so dem Menschen an. 1.3 Mensch und Menschenaffen vor und nach Darwin Die große Zeit der Naturgeschichten um 1800 ist angebrochen, worin natürlich Menschenaffen vor Augen geführt werden – ein Beispiel: Gottlieb Tobias Wilhelm, Pfarrer bei den Barfüßern und 19 K. Roretz, Zur Analyse von Kants Philosophie des Organischen, Wien 1922, S. 146. 20 I. Kant, Der Streit der Fakultäten, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kants Werke Akademie Ausgabe, Band VII, Berlin 1968, S. 327 f., Anmerkung. 21 Ebd., S. 328, Anmerkung. 22 Ebd.; vgl. ferner Hinweise in R. Brandt, Kritischer Kommentar zu Kants An thropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Hamburg 1999, S. 493 ff., ferner zu Kant ebd., S. 327 und speziell S. 495 zu Menschenaffen und S. 496 sowie S. 498 zum Orang und zu Camper.
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Hans Werner Ingensiep Abb. 1: Ein aufrechter „Menschenaffe“ präsentiert die Schädel eines Menschen und eines Orang Utan (aus Wilhelm: Unterhaltungen über den Menschen 1804.)
Mitglied der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin, verfasste eine Buchreihe unter dem Titel Unterhaltungen aus der Naturgeschichte,23 worin sich auch drei Bände zu Unterhaltungen über den Menschen24 finden. Ein auffälliger Kupferstich aus diesem Werk (Abb. 1) erlaubt eine weitere philosophisch existentielle Reflexion zur Rolle von Menschenaffen. Was wird dem Rezipienten geboten? Wir erkennen oben den Schädel eines Orang, darunter den Schädel eines Menschen. Ein schneller direkter optischer Vergleich der Größe und des anatomischen Aufbaus wird so ermöglicht. Die Schädel werden auf einem Blatt präsentiert, das in einem Fensterbogen befestigt ist. Links unten, aber doch recht unauffällig inszeniert, sieht man den seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Aufklärungs23 G. T. Wilhelm, Unterhaltungen aus der Naturgeschichte, 27 Bde., Augsburg, Wien 1794-1828. 24 G. T. Wilhelm, Unterhaltungen über den Menschen, 3 Bde., Augsburg, Wien 1804 ff.
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zeit präsenten, aufrechten Menschenaffen – hier dargestellt nach einer Illustration aus Buffons Naturgeschichte der Tiere. Dieser Menschenaffe präsentiert dem neugierigen Betrachter in freundlicher Haltung die Schädel von Mensch und Affe und animiert ihn so zum Vergleich und zur Reflexion. Zwei Momente stechen hervor: Erstens zeigt der unmittelbare Schädelvergleich deutlich die große naturgeschichtliche Nähe beider Arten an. Intensives Nachdenken über diese besondere materielle Naturbeziehung ist nun gefordert. Zweitens aber handelt es sich eben um Schädel – also klassische Ikonen des memento mori. Nachdenken über die geistige Lebensbestimmung des Menschen sowie über das Verhältnis des Menschen zur Natur und vor allem zum Tod wird herausgefordert. Eine mögliche doppelte Botschaft bietet sich an: Nicht die Natur, aber der Geist des Menschen macht die Differenz zum Menschenaffen aus – z. B. manifestiert in einer christlichen Seele, was letztlich eine spirituelle Botschaft stützt. Der Naturhistoriker und Pfarrer Wilhelm wird beides im Auge gehabt haben. Doch die Kenntnisse der Naturgeschichte waren so weit fortgeschritten, dass die große Nähe von Mensch und Menschenaffe nicht mehr zu verleugnen war. Kein Tier stellt die Exklusivität des Menschen weit vor Darwin so in Frage wie der Menschenaffe. Philosophen des Deutschen Idealismus widmeten Menschenaffen wenig Aufmerksamkeit, wohl aber der geistigen Differenz des Menschen. Doch sind Menschenaffen in den Naturkunden, Reiseberichten, Schulbüchern und auch in der allgemeinen Bildungsliteratur zunehmend gegenwärtig. Ferner manifestieren sich genauere Vorstellungen von ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise. Während im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Menschenaffen in Illustrationen meist noch aufrecht stehen oder in Gruppen vereint gehen (Orang, Schimpanse, Gibbon), erobern manche bald auch die Bäume und finden ihren besonderen tropischen Lebensraum. Im Meisterwerk des Naturhistorikers Charles D’Orbigny (1802–1857) Dictionnaire universel d’Histoire naturelle (Paris 1837) schwingt sich behende ein Schimpanse (Pan troglodytes) ins Auge des Betrachters, der mit seiner linken Hand lässig am Ast hangelt. Solche dynamischen Inszenierungen eines hängenden, schwingenden Schimpansen verdeutlichen, welchen weiten Weg Menschenaffen seit den ersten naturgeschichtlichen Darstellungen im 17. Jahrhundert zurückgelegt haben. Nun erobern sie ihren arborealen Lebensraum – wodurch sie sich partiell wieder vom Menschen entfernen. https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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1.4 Ein Idealist begegnet einem Menschenaffen Nur einer der führenden Idealisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Arthur Schopenhauer, denkt intensiver über Menschenaffen nach und erkennt diverse Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Mensch und Menschenaffe an, wobei er den Intellekt in den Dienst seiner Willensmetaphysik stellt. Sein publiziertes Wissen stammt zunächst aus Fach- und Lehrbüchern, doch gegen Ende seines Lebens begegnet der Philosoph leibhaftig einem Individuum in Frankfurt am Main und ist stark beindruckt.25 Auf der Herbstmesse im Jahre 1854 wurde wahrscheinlich ein junger Orang Utan gezeigt, den Schopenhauer als „muthmaßlichen Stammvater unseres Geschlechts“ ansah. Neugierig besucht er ihn täglich und fordert auch seine Bekannten dazu auf. Der Blick des Tieres, „das keinen Zug äffischer Bosheit habe“, fällt Schopenhauer besonders auf, aber auch dessen Kopf, der besser gebildet sei als bei „niedrigsten menschlichen Rassen“. Der Biograph Gwinner interpretiert Schopenhauers Interesse so: „Er fand in diesem von Jugend auf melancholischen Thiere die Sehnsucht des naturbildenden Willens nach der Erkenntnis personificirt, wie wenn er seinen Blick mit dem des Propheten in das gelobte Land hätte vergleichen wollen.“26 Weitere Einblicke bietet die Episode nach dem Besuch eines „Gießener Studenten“ und Verehrers des großen Meisters.27 Zu seinem Erstaunen begegnet dieser Student dem Frauenverächter und Misanthropen zum dritten Mal an einem Tage, der gerade den Orang zu dessen täglicher Fütterungszeit besuchte. Der Philosoph Noack vermerkt dazu leicht spöttisch, dass Schopenhauer den Anblick des „fünf Fuß hohen rotbraunen Waldmenschen“ wohl aufsuche, um für „sein eigenes melancholisches Gemüth ein wirksames alimentum misanthropiae zu finden“.28 – Jedenfalls hatte der von Schopenhauer propagierte „Wille in der Natur“ sowie dessen Melancholie und Misanthropie wenige Jahre vor Darwin im „Stammvater unseres Geschlechts“ eine dankbare Projektionsfläche für naturphilosophische und existentielle Reflexionen gefunden. Andere Philosophen wie Nietzsche oder Engels werden bald weitere Dimensionen eröffnen. 25 A. Schopenhauer, Gespräche, hrsg. von A. Hübscher 1971, S. 390, Nr. 475; und H. W. Ingensiep, Der kultivierte Affe, S. 141-143. 26 A. Schopenhauer, Gespräche, S. 390. 27 Ebd., S. 314, Nr. 408. 28 Zit. n. ebd., S. 316.
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1.5 Im Zeichen Darwins Bis Mitte des 19. Jahrhunderts zeichneten sich die bis dahin dominierenden Menschenaffen – Orangs und Schimpansen – in Text und Bild durch ein friedfertiges und familiäres Individual- und Gruppenverhalten aus. Nach Darwin (1859) erregten Menschenaffen erneut das Interesse der Öffentlichkeit: Als konkrete Vorläufer oder nahe Verwandte des Menschen. Sie geraten nun in den bekannten Weltanschauungskampf, den Wissenschaftler, Philosophen und Gelehrte austragen. Der Gorilla wurde im Jahr 1847 gerade rechtzeitig wiederentdeckt und beflügelt auch die Vorstellungswelten im Zeichen Darwins. Der „gute Wilde“ des 18. Jahrhunderts wurde nun von neuen aggressiven „Monstern“ abgelöst, die als Ikonen des „Kampfes ums Dasein“ im Zeitgeist des Darwinismus dienten. Selbst der friedliche und melancholische Orang Utan wurde von Wallace, dem naturkundigen Mitstreiter Darwins, als aggressiv geschildert und in kämpferischen Posen illustriert. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gelangen zunehmend lebende Menschenaffen nach Europa und Amerika. Sie werden zu öffentlichen Attraktionen und beflügeln die öffentliche Diskussion über die Abstammungslehre und nahe Verwandtschaft mit dem Menschen. Bald schon tragen aber auch Portraits und neue Verhaltensbeobachtungen zur Aufklärung über Menschenaffen im Allgemeinen und insbesondere über junge Zoogorillas bei. Die Verfriedlichung und Humanisierung von Gorillavorstellungen wird – zumindest bei aufmerksamen Kennern und Lesern – schon in frühen Ausgaben von Brehms Thierleben befördert.29 Der Gorillaforscher Robert Hartmann druckt in seiner Studie von 1880 das eindrucksvolle Portrait eines jungen Gorillas namens „M’Pungu“ ab (Abb. 2). Der gelangte durch deutsche Afrikaforscher und unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit über England – mit Glückwünschen Darwins – im Jahr 1876 bis ins Berliner Aquarium und konnte dort ein gutes Jahr lang intensiv beobachtet und untersucht werden.30 Dessen friedliches und majestätisches Wesen wurde gerühmt und eroberte das Herz der Berliner, die nun Zuschauer des Verhaltens 29 Vgl. H. W. Ingensiep, „Kultur- und Zoogeschichte des Gorillas“, in: L. Dittrich, D. v. Engelhardt, A. Rieke-Müller (Hrsg.), Die Kulturgeschichte des Zoos, Berlin 2001, S. 151-170. M. Haikal, Master Pongo, Berlin 2013. 30 R. Hartmann, Der Gorilla. Zoologisch-anatomische Untersuchungen, Leipzig 1880, Tafel II.
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Abb. 2: Gorilla „M’Pungu“ (aus Hartmann 1880).
einer kleinen Persönlichkeit wurden – ähnlich wie im Fall des Berliner Gorillas „Bobby“ Ende der 1920er Jahre, dessen Leibrelikte als Dermoplastik heute noch im Berliner Naturkundemuseum zu bewundern sind. Trotz solcher Tendenzen bleibt das Gorilla-Monster-Klischee noch lange bestehen und wird durch die berühmten King-Kong Filme seit 1933 verstärkt, wie auch durch beliebte Alltagslektüre der Jugend über die Gorillajagd. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts verändert sich langsam das Gorillabild in der Öffentlichkeit und wendet sich hin zum sanften, friedlichen Vegetarier – durch neue Forschungen in der Wildbahn (Schaller), durch Beobachtungen im Zoo (Lang), aber auch durch TV-Naturfilme (Grzimek) bis hin zu den spektakulären Freilandbeobachtungen und Filmen der Gorillaforscherin Dian Fossey. https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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Abb. 3: Kreative Schimpansen mit Lehrer im Zoo (nach Specht 1894).
1.6 Auf dem Weg zu Intelligenz, Kreativität und Kommunikation Gegen Ende des 19. Jahrhunderts – im Jahr 1894 – hält ein naturhistorischer Kenner und Tierillustrator, der Künstler Friedrich Specht, in einer Zeichnung eine besondere Situation fest. Diese Schimpansenszene im Zoo (Abb. 3) erlaubt einen Rückblick und kursorischen Ausblick auf Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Im kleinen Bildausschnitt oben links erkennen wir zwei wie Menschen speisende und trinkende Schimpansen – eine Szene, die im Rückblick den bis dahin bekannten Stand des „kultivierbaren“ Menschenaffen erinnert. Solche „zivilisierten“ Fähigkeiten von Menschenaffen – von Orangs und Schimpansen – wurden oft in der Aufklärungszeit beobachtet und beschrieben, z. B. vom oben erwähnten Naturforscher Vosmaer. Das Hauptthema dieser Darstellung aber hält eine spannende Szene fest, die quasi visionär auf neue Entwicklungen im 20. Jahrhundert verweist: Schimpansen werden in der Schreibkunst unterwiesen und kritzeln auf weißen Papierblättern wilde Striche. Es sind vor allem Schimpansen,
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die im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu Vorreitern bei der Erforschung der Intelligenz, Kreativität und Kommunikation von Menschenaffen werden. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts prägten Wolfgang Köhlers systematische Intelligenzprüfungen und seine Untersuchungen zum Werkzeuggebrauch bei Schimpansen, z. B. mit „Sultan“, die Forschungslandschaft.31 Im zweiten Drittel wird Schimpanse „Congo“ zum Vorreiter kreativ tätiger Menschenaffen, die kritzeln oder malen. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts schließlich zeigen Schimpansen ihre Fähigkeiten zur Kommunikation mittels Gebärdensprachen, z. B. der berühmte Schimpanse „Washoe“. Geplanter Werkzeuggebrauch, künstlerische Kreativität und „Sprache“ bzw. Kommunikation werden seitdem als Privilegien des Menschen in Frage gestellt. Spiegelversuche indizieren zudem personales „Selbstbewusstsein“ und auch andere Fähigkeiten im Sozial- und Moralverhalten bei Schimpansen ähneln dem Verhalten von Menschen. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts werden auch Gorillas wie „Koko“ oder Bonobos wie „Kanzi“ den Schimpansen solche besonderen kognitiven, kreativen und sozialen Fähigkeiten streitig machen – selbst die vermeintlich langsamen Orangs holen auf. Die nachfolgende Abbildung 4 dokumentiert ein 2012 entstandenes Produkt des Orang Utan „Barito“ aus dem Zoo Krefeld und verdeutlicht zugleich vielfältige Interpretationsprobleme: Betrachtet man diese „Farbkomposition“ oder „Gestalt“ lange und aufmerksam, kann man einen wild fuchtelnden Orang hineinprojizieren. Wir hätten „Barito“ zu einer kreativen Person erhoben. Doch vielleicht handelt es sich nur um konzeptionslos dahingeworfene, zufällige Farbstriche, die „Barito“ in seiner Schaffensperiode hervorbrachte. Eine komplexe Analyse ist gefordert, um vorschnelle anthropomorphe Projektionen und konzeptionelle Erwartungen von Menschen ausschalten zu können. Und dennoch bleibt die Frage offen, ob hier eine „persönliche“ Ausdruckform vorliegt.32
31 Zu Köhler vgl. den Beitrag von Hartung und Wunsch in Band 1. 32 H. W. Ingensiep, „Menschenaffen als Künstler? – Über Kreativität von Mensch und Affe in unserer Kultur“, in: H. W. Ingensiep (Hrsg.), Das Tier in unserer Kultur, Essen 2015, S. 141-155.
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Abb. 4: Produkt von Orang Utan „Barito“ im Zoo Krefeld (2012).
1.7 Endlich im ethischen Club der Personen Die Leitfrage im Hintergrund der Wahrnehmungsgeschichte der Menschenaffen in unserer Kultur lautet bis heute: Wer ist so wie wir? Identität und Differenz stehen zur Debatte. Bis heute müssen sich daher empirische Forscher und Philosophen unter reger Beteiligung der Öffentlichkeit vor dem in dieser Frage vorprogrammierten Anthropomorphismus hüten. Außer vor einer vorschnellen Vermenschlichung und Identifizierung mit Menschenaffen ist noch vor einem überheblichen Anthropozentrismus zu warnen, der leichtfertig Differenzen verkündet, die den Menschen zur exklusiven Mitte der Schöpfung machen. Klar ist, unser Menschenaffenbild orientiert sich auch heute an vielfältigen Interessen. Bürger oder Forscher haben dabei verschiedene Interessen und erst Recht die Medien. Dieser skizzierte Rückblick auf den Wandel der Vorstellungen zu Menschenaffen in Wort und Bild inspiriert weitere allgemeine Fragen: Was ist das eigene Menschliche, was ist das Fremde im Affen? An überzeugenden und tragfähigen Antworten arbeiten sowohl moderne Primatologen und Philosophen in Forschungsinhttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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stitutionen als auch Zoos, in denen ein jeder Bürger die Möglichkeit hat, im alltäglichen Kontext Menschenaffen von Auge zu Auge begegnen. Gerade dies wirft weitere spezielle Fragen auf: Welche Rolle kommt den Zoos in der zukünftigen Haltung, Zucht und in der öffentlichen Aufklärung über das Verhältnis von Menschen zu Menschenaffen zu? Wie bestimmen und verändern die Medien heute unsere Rezeption von Menschenaffen? – Man wird darüber diskutieren, wenn wieder einmal ein Hollywoodfilm neue „Aufklärung“ über Menschenaffen oder einen Aufstand auf dem „Planeten der Affen“ verspricht. Gorillas spielen eine Sonderrolle, denn anderthalb Jahrhunderte nach ihrer Entdeckung vor 1850 führte ihr Weg in und durch unsere Kultur von „Monstern“ zu „Gentle Giants“.33 Von diversen Tendenzen zur Humanisierung war oben bereits paradigmatisch bei „M’Pungu“ die Rede. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts trugen frühere Versuche zur Entmythologisierung der „Monster“ bei, etwa durch Afrikareisende wie Carl Akeley oder durch Beobachtungen in Zoos wie im Fall von „M’Pungu“, „Bobby“ oder „Goma“. Weniger bekannt ist der erste Afrika-Dokumentarfilm „Congorilla“ des Ehepaars Johnson aus dem Jahr 1932, dessen aufklärende Wirkung durch die King-Kong Filme seit 1933 völlig überlagert wurde. Ihr Weg zur Personalisierung von Gorillas im Freiland wurde insbesondere durch die eindringlichen Beschreibungen der Primatologin Dian Fossey und später durch die Untersuchungen der Gorilladame „Koko“ und ihrer Genossen durch die Forscherin Francine Patterson befördert. Mit alten Gorilla-Mythen wurde endgültig aufgeräumt. Dem „sanften Vegetarier“ droht nun allerdings ein medial inszenierter Gorillakultus. Durch den Film berühmt wurde der „freie“ Gorilla „Digit“, der mit Dian Fossey „befreundet“ war und von Eingeborenen grausam ermordet wurde – genauso wie die Forscherin später selbst, wohl wegen ihres engagierten und rabiaten Einsatzes für freilebende Gorillas. Eine Internetberühmtheit ist heute die Gorilladame „Koko“,34 die quasi als „Hausgorilla“ nun schon Jahrzehnte mit der Forscherin Patterson zusammenlebt und immer für neue Kompetenzen und Überraschungen sorgt: Kenntnis der amerikanischen Gebärdensprache, Verständnis von gesprochenem Englisch, sogar von Witzen; „Koko“ malt, lügt oder fotografiert sich 33 G. F. Bourne, M. Cohen, The Gentle Giants. The Gorilla Story, New York 1975. 34 Vgl. (www.koko.org), zuletzt abgerufen am 07.12.2015.
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selbst. Schnell ist man geneigt, diesen und anderen Menschenaffen „Selbstbewusstsein“ zuzuschreiben, womit eine wichtige Voraussetzung gegeben ist, sie in den Club der „Personen“ aufnehmen zu können. Vor dem Hintergrund dieser kulturellen Entwicklung und neuen Forschungslandschaft fordern im Great Ape Projekt moderne Tierethiker, Primatologen und andere Wissenschaftler „Menschenrechte für Menschenaffen“. Der einstige „gute Wilde“ des 18. Jahrhunderts ist also auf seinem langen Marsch durch die Kultur der Neuzeit vom einstigen „Monster“ nun endlich zum „Bruder“ des Menschen bzw. zur „Person“ geworden – in einem szientistischen Zeitalter, dass sowohl dem Naturalismus als auch dem Kulturalismus anhängt.35
2. Menschenaffen als „Personen“ – wozu? Ein zentrales philosophisches Problem in dieser Debatte über die Rolle und Wahrnehmung von Menschenaffen ist: Wir beurteilen Menschenaffen möglicherweise aus theoretisch nachvollziehbaren, empirischen Gründen als „Personen“ – wenngleich nicht nur, aber auch durch subjektkonstituierte, anthropomorphe Analogieschlüsse. Aber haben wir damit die Basis für einen besonderen „moralischen Status“ identifiziert oder sie zugleich in normativ-ethischer Hinsicht als „Personen“ identifiziert? Wir haben sie dann als solche „Personen“ anerkannt und damit eine besondere Kategorie der praktischen Urteilskraft formuliert, um sie nun aus ethischer Perspektive unter diese Kategorie zu subsummieren. Wir wollen sie so betrachten, aber haben wir dazu gute, vernünftige, hinreichende und notwendige Gründe? Aus bloß theoretischen bzw. faktischempirisch festgestellten Seinszuständen einer normalen „Person“ lässt sich offenbar direkt und unmittelbar kein normativer Sollensanspruch für die Handlungspraxis mit Bezug auf diese Person ableiten. Der Sein-Sollens-Fehlschluss, den man als Philosoph hinlänglich zu kennen beteuert, lauert und damit der Verdacht, einem unaufgeklärten Taschenspielertrick zum Opfer gefallen zu sein. Es bedarf guter Gründe, dieser „Person“ in ethischer Hinsicht einen besonderen „moralischen Status“ einzuräumen. 35 Zu weiteren philosophischen Hintergründen und zur Gegenwart vgl. H. W. In gensiep, Der kultivierte Affe.
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Natürlich wäre es schön, wenn man aus allen möglichen empirischen Eigenschaften und Befunden oder auch aus theoretischen Klassifikationsbegriffen vom Menschen (als homo sapiens sapiens) als einer besonderen Art von Menschenaffen oder auch von Menschenaffen als Personen, direkt ein normatives Diktum ableiten könnte. Aber – wie wir es auch wenden – es bedarf immer noch „guter Gründe“ zur Legitimation. Worin bestehen diese Gründe im Fall der Erklärung von Menschenaffen zu „Personen“ eines exklusiven ethischen Clubs? Menschenrechte sind in der westlichen und europäischen politischen Kultur im Verlaufe der Neuzeit im Zeichen der französischen Revolution gewachsen. Speziell in Deutschland sind sie vor dem Hintergrund besonderer historisch-verpflichtender Erfahrungen im Nationalsozialismus durch vorpositive Begriffe wie „Menschenwürde“ ethisch-rechtlich und staatsphilosophisch fundiert worden. So sollten elementare Grundrechte wie Leben und Freiheit oder auch konkrete politische Partizipationsrechte staatlich verbürgt werden. Der Staat ist für diese Personen da – als Garant von Grundrechten – und verbürgt das Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt). Nicht aber sind die Personen um des Staates willen da, um beispielsweise für eine Ideologie instrumentalisiert werden zu können. Ein „Mensch“ ist vor diesem Hintergrund, gemäß einer Interpretation, die von Kants Ethik getragen wird, als „Person“ zu achten, d. h. als Selbstzweck. Normativ gesehen bedeutet das, einen konkreten Menschen nicht als bloßes Mittel zum Zweck anzusehen – ob nun des Staates oder anderer Personen. Diese Auffassung wurde in Deutschland ein halbes Jahrhundert lang im Instrumentalisierungsverbot mit der sogenannten „Objektformel“ zum Ausdruck gebracht. Die „Menschenwürde“ und die Objektformel werden heute als Prinzipien aus unterschiedlichen Gründen hinterfragt. Nicht zuletzt die Abtreibungsdebatte, der feministische Vorwurf des Androzentrismus, der generelle Vorwurf des Anthropozentrismus von Kulturtheoretikern oder der Speziesismusvorwurf von Tier- oder Umweltethikern wie auch die mögliche biotechnische Erzeugung neuartiger Entitäten, die weder rein „Mensch“ noch „Tier“ sind – wie „Chimären“ oder „Hybride“ u. a. – stellen diese klassischen Prinzipien einer normativ-ethischen Beurteilung zunehmend in Frage. Unklar wird zunehmend, was Menschen in biologischer Klassifikation sind, was entwicklungsbiologisch oder biotechnisch in den frühesten Stadien „Embryos“ sind, generell, was ein „Mensch“ ist. Unklar ist auch, welche allgemeinen ethihttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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schen Prinzipien die Beurteilung dieser Phänomene ermöglichen sollen. Können daher diese Prinzipien auf den historischen Müll geworfen oder ad acta gelegt werden? Können wir auf einen normativen Personenbegriff verzichten? Zumindest nicht, wenn es um den erstpersonalen Akteur geht, der Verantwortung zu tragen hat. Denn gibt es diese autonome „ethische Person“ als Verantwortungsträger nicht, dann gibt es auch keine Ethik. Vielleicht sollten wir daher nur für diesen autonomen Personenbegriff den ethischen Terminus technicus „Person“ reservieren. Die nächste Frage wäre, ob wir alle Adressaten dieser personalen Verantwortung allein durch die dualistischen, iuridischen Kategorien „Person“ und „Sache“ einteilen müssen? Offenbar nicht, wie bereits das moderne Tierschutzgesetz zeigt, das anscheinend „höhere Tiere“ zwar im Sachenrecht verhandelt, Tiere als solche aber durchaus nicht mehr bloß als „Sachen“ ansehen will. Zumindest im Bereich der Adressaten eröffnet der expandierende Humanismus die Möglichkeit zu einer „dritten Kategorie“ – nennen wir sie „höhere Lebewesen“ –, die wiederum ermöglicht, darunter eine Vielzahl von Wesen aus praktischer (anthropozentrischer) Per spektive hierarchisch zu subsumieren und zu sortieren. Offenbar schätzen wir Menschen Menschenaffen aufgrund der Ähnlichkeit zu uns Menschen „höher“ ein als z. B. Mäuse, Schweine oder die „niederen“ Zecken. Die Evolutionstheorie – dies betonen gerne radikale Soziobiologen wie Richard Dawkins – lässt biotheoretisch betrachtet keine Rede von „höheren“ und „niederen“ Tieren zu – und dies geschieht theoretisch aus darwinistischer Perspektive betrachtet völlig zu Recht. Von großer theoretischer „Ähnlichkeit“ wird allerdings häufig schnell auf praktische „Gleichheit“ geschlossen. Dann aber handelt es sich in dieser Art der Rede über hierarchische Einteilungen um eine praktische Kategorie der ethischen Urteilskraft, die nun die Dinge und Lebewesen in der Natur nach menschlichem Ermessen und Interesse zuordnet. Zumindest dies sollten wir als „ethische Personen“ und Verantwortungsträger zugeben, wenn dabei von einer anthropozentrischen „Hierarchie“ im Organischen die Rede ist. „Lebewesen“ ist der klassische Oberbegriff und die Behauptungen von „Abstufungen“, „Graden“ oder „Ähnlichkeiten“ – wie immer wir es nennen wollen – erfolgen immer aus der Perspektive einer anthropozentrischen Selbstwerteinschätzung des Menschen als dem „höchsten Lebewesen“. Diese Perspektive bestimmt reale Handlungskontexte in der Lebenswelt des Menschen. In diesen Handlungskontexten fallen auch ethische Urteile über https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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„höhere“ Tiere wie Menschenaffen in Zoos oder in Forschungsinstitutionen. Aber nicht, weil sie als solche „Personen sind“ (das wäre schlechte Metaphysik), sondern, weil wir sie in Analogie zum von uns akzeptierten normativen Personenbegriff lebensweltlich „wie Personen“ beurteilen, entsteht das ethische Dilemma. Da wir verurteilen, wenn Menschen als ‚Personen‘ ohne Einwilligung für Versuche vorgesehen werden, schließen wir analog, auch Menschenaffen nicht in Zoos halten oder mit Menschenaffen keine Tierversuche durchführen zu dürfen – völlig jenseits ihrer Einwilligungsfähigkeit und einem Status als erstpersonaler Verantwortungsträger. Wir schließen oft unklar von empirischer „Ähnlichkeit“ (z. B. 99 % quantitativ genetischer Ähnlichkeit bzw. genetischer Verwandtschaft) auf ethisch-rechtliche „Gleichheit“ als „Personen“ – und transformieren damit quantitative in qualitative Begriffe, reflektieren uns damit in begriffliche Amphibolien und neue Problemfelder hinein, die hier nicht zu entfalten sind. „Ähnlichkeit“ bedeutet immer noch die Antizipation einer Differenz (z. B. zu Menschenaffen), „Gleichheit“ hebt jede Differenz auf und führt ethisch und rechtlich in den Egalitarismus. Gerade „Ähnlichkeit“ fordert fortwährendes Nachdenken über Differenzen, die es ja auch in praktischer Hinsicht zu erforschen und zu berücksichtigen gilt, z. B. in der Behandlung von Menschenaffen durch Verhaltensforscher in Institutionen, im Freiland oder im Zoo. Relevant sind dafür sowohl quantitative Ähnlichkeiten als auch qualitative Unterschiede zwischen Mensch und Menschenaffen. Weder dogmatisch fundierte Hierarchie-Konzepte zwischen Mensch und Tier noch ein naiver ethischer Egalitarismus, der Mensch und Tier „gleiche Rechte“ zuschreibt, klärt wirklich auf und er löst zudem nicht die praktischen Probleme, die mit Menschenaffen – in Zoos, im Labor oder auch in der freien Wildbahn – bestehen. Selbst „eingefleischte“ Zoo- und Laborversuchsgegner wissen, dass schon die wissenschaftliche Beobachtung von Menschenaffen in „freier Wildbahn“ in Zentralafrika oder Borneo eine Habituierung, eine Gewöhnung an den Menschen bewirkt, was diverse Folgegefahren nach sich zieht, die ethisch zu reflektieren wären, z. B. Infektionsrisiken oder Wilderei. Viele Kritiker der Gefangenhaltung von Menschenaffen in Zoos stimmen dem Ökotourismus in ihren Lebensräumen vor Ort – wie bei Gorillas in Afrika – zu: Sei es, um des Gorillaschutzes willen, oder um die einheimische Bevölkerung finanziell und existentiell zu unterstützen und sie so von der Wilderei abzuhalten. Letztlich handelt es sich in solchen Problemhttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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feldern um eine Güterabwägung zwischen den Bedürfnissen von Menschenaffen und Menschen, doch Grenzen werden erkennbar. Waren es in den 1990er Jahren noch etwa 3.000, so sind es heute schon um 15.000 Gorillatouristen im Bwindi-Nationalpark jährlich, die nach Afrika pilgern.36 Statt diesen kostspieligen Gorillatourismus für Hochprivilegierte zu eröffnen, sollte man vielleicht die Menschenaffenhaltung in Zoos vor Ort drastisch verbessern, um ihnen den Anblick von Ferntouristen zu ersparen. Statt Menschenaffen in ihren letzten Lebensräumen zu besuchen und insgesamt zu gefährden, wäre vielleicht die unmittelbare Ich-Du-Begegnung im Zoo doch lehrreicher – gerade mit all den problematischen Ambivalenzen in der Zoohaltung und ohne exklusiven exotischen Tourismuskitzel. Zumindest könnten wenige Individuen im Zoo nicht nur Kindern ein unmittelbares kritisches Nachdenken über die konkrete Begegnung und die Haltungsbedingungen ermöglichen – bis hin zu kulturanthropologischen Reflexionen über die Frage: Was ist der Mensch?37 Wenn Menschenaffen aber „Personen“ im aktuellen, ethischrechtlichen Sinn unseres Grundgesetzes sind, dann dürfen wir sie in der Tat weder in europäischen Zoos halten noch in afrikanischen Naturparks exklusiv reisenden Ökotouristen vorführen. Es sei denn, sie würden dazu selbst ihre freiwillige Einwilligung geben – was aus verschiedenen Gründen nicht zu erwarten ist. Wir können diejenigen, die in der Lage sind, uns Zeichen zu geben, ja einmal fragen. Wie auch immer ihre Antwort ausfällt: Menschenaffen werden dadurch in theoretischer Hinsicht nicht dualistisch einfach zu „Sachen“ oder „Personen“ an sich (ontologisch), sondern bestenfalls in ethisch-iuridischer, also praktischer Hinsicht „für mich“ aus einer besonderen hierarchischen Perspektive. Als vernünftiger, verantwortlicher Akteur, der möglicherweise Macht über sie hat, habe ich daher zuvor kritisch zu prüfen, ob diese Rede eine in unserer Kultur gewachsene, anthropomorphe Projektion in Verbindung mit diversen ideologischen Handlungs- und Besitzinteressen zum Ausdruck bringt.
36 Konkret zur Habituierung und zum Ökotourismus vgl. P. Kabano, J. Arinaitwe, M. Robbins, „Habituierung in Bwindi“, in: gorilla journal, 20(48)/2014, S. 7. 37 Konkret zu Zoohaltungsbedingungen von Menschenaffen und Hintergründen in Deutschland aus der Perspektive eines führenden Vertreters des Great Ape Projekts vgl. C. Goldner, Lebenslänglich hinter Gittern. Die Wahrheit über Go rillas, Orang Utans & Co in deutschen Zoos, Aschaffenburg 2014.
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„Menschenrechte“ auf Große Menschenaffen auf der Basis ihrer Personalität zu übertragen, erscheint daher aus vielerlei Gründen problematisch – aus historischen, philosophischen oder politischen Gründen. Selbst ihre Verteidiger, wie z. B. Colin Goldner,38 meinen oft nicht eigentliche „Menschenrechte“, sondern benutzen die Rede über elementare Grundrechte für Menschenaffen nur als Türöffner für eine darüber hinausgehende Diskussion und Einforderung radikaler Tierrechte. Was wäre langfristig auch gewonnen, wenn die in anthropozentrischem Kontext entstandene disjunktive Zwei-Klassen-Terminologie von „Person“ oder „Sache“ mit Bezug auf Tiere aufrechterhalten würde? Man hätte nur den exklusiven Kreis der „Personen“ um einige Tiere wie Affen, Wale, Delphine, Papageien, Raben oder Schweine ein wenig vergrößert. Ferner, Menschen und Menschenaffen biologisch zu klassifizieren, sei es nun Menschen neben eigentlichen Schimpansen und Bonobos zu „Dritten Schimpansen“ oder alle zu „afrikanischen Menschenaffen“ zu erklären, um dann alle in einen „netten biologischen Club“ aufzunehmen, erscheint ebenfalls problematisch. Jeder Methode biologischer Klassifikation von „Arten“ liegt eine operationale und pragmatische Intention zugrunde – ein essentialistischer Begriff von „Art“ steht ohnehin unter Metaphysik- und Ideologieverdacht. Wenn, dann wären meines Erachtens besondere „Menschenaffenrechte“ einzufordern, nicht irreführende „Menschenrechte“. Da es bereits im Tierschutzgesetz iuridisch differenzierende Konstruktionen für Sondergruppen wie „höhere“ Wirbeltiere gibt, denen nur aus „vernünftigen Gründen“ Leid, Schmerz und Schaden zugefügt werden darf – warum dann nicht auch besondere positive Rechte für Menschenaffen, die ihnen ein weitgehendes Recht auf Leben und Unversehrtheit einräumen? Das aber bedeutet auch, dass die Erforschung ihrer besonderen Bedürfnisse und Fähigkeiten möglich sein muss, um diesen Menschenaffen in unserer Behandlung überhaupt gerecht werden zu können. All das bedeutet für die Praxis einerseits, dass menschliche Begriffe wie „Würde“, „Autonomie“, „Freiheit“ oder „Folter“ – wie im Great Ape Projekt – nicht notwendigerweise auf Menschenaffen übertragen werden müssen, und andererseits, dass Menschenaffen in medizinischen Versuchen mit pathologischen oder letalen Folgen nicht eingesetzt werden dürfen – eben weil wir vermuten können, 38 C. Goldner, Lebenslänglich hinter Gittern – Die Wahrheit über Gorilla, Orang Utan & Co in deutschen Zoos.
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dass sie auf uns „ähnliche“ Weise leiden. Inwieweit Menschenaffen dann noch in Zoos gehalten werden dürfen und sollen, hängt auch davon ab, ob eine Gesellschaft sich permanent dieser ganz besonderen Ich-Du-Beziehung aussetzen und damit eine besondere Form von Beziehungswissen erwerben will – mit all den problematischen Folgen. Wenn ja, dann wohl nur unter Akzeptanz ihres Lebensrechtes und Anspruches auf Unversehrtheit. Zoos wären dann allerdings auch die Orte, in denen jeder Bürger nicht nur über biologische – ethologische oder ökologische, sondern auch über kulturhistorische und philosophische Hintergründe offen und ehrlich aufgeklärt werden sollte. Diese umfassende gesellschaftliche Aufklärung könnte für Millionen von Kindern und Erwachsenen fruchtbar sein. Sie beginnt bei der individuellen und nicht beschönigenden Biografie eines jeden dort gehaltenen Menschenaffen, z. B. mit Informationen darüber, ob die Eltern Wildfänge von getöteten Großeltern waren oder, ob unter den beengten Haltungsbedingungen bestimmte Individuen in Zoogruppen zu Depressionen oder Aggressionen neigen, ob zu deren Verhinderung Medikamente eingesetzt werden, welche Gründe für eine individuelle Isolation von der Gruppe vorliegen, usw. Diese Art der Aufklärung führt zu Diskussionen über die mögliche Personalität von Menschenaffen oder zu Reflexionen über Sinn und Zweck von Zoos, aber auch über die Besonderheit menschlicher Existenz und über die Exklusivität ethischer Träger von Verantwortung. Dann wären Zoos echte kulturanthropologische und philosophisch-ethische Lernorte – nicht nur einfach Transmitter für biologisches oder ökologisches Wissen über Tiere, sondern Orte für elementares Beziehungswissen, das paradigmatisch über die Beziehung zwischen Mensch und Menschenaffen aufklärt. Doch gegenwärtig scheinen Zoos mehrheitlich Orte naiven Entertainments oder der Wissenschaftsgläubigkeit zu sein. Medial legitimieren sich Zoos zwar durch ihre ökologische Funktion als „Arche Noah“ oder als Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Aber wenn Aufklärung in einem umfassenden Sinn „humanistischer Bildung“ erfolgen soll, dann gehört auch elementares Beziehungswissen dazu. Dieses kann auch durch eine offene, kritische, geistige Auseinandersetzung mit Menschenaffen und unseren gewachsenen Vorstellungen von Menschenaffen als „Personen“ gewonnen werden. Das Great Ape Projekt und unsere europäische Beziehungsgeschichte sind dafür hoch interessante Lehrstücke in unserer Kultur.
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Menschenaffen als Personen? Das Great Ape Project im Für und Wider
Planet der Affen Im Londoner ‚Soho Hotel‘ war ich Mitte 2014 als Podiumsgast zu einer ‚Roadshow‘ von 20th-Century-Fox geladen, als das Filmstudio den nächsten Blockbuster aus der Reihe Planet-der-Affen bewarb: Rise of the Planet of the Apes (2014). Das bescherte mir das Vergnügen, neben Andy Serkis zu sitzen – weltberühmt durch computergestützte Verkörperungen von ‚Gollum‘ in Herr der Ringe und King Kong in der Neuverfilmung. Und Serkis inkarniert eben auch ‚Caesar‘, den schimpansoiden Anführer der Menschenaffen.1 In Pierre Boulles Roman Planet of the Apes, vor einem halben Jahrhundert veröffentlicht, haben diese Tiere die Vorherrschaft der Menschen gebrochen – um sie dann niederzuknallen, mit Netzen einzufangen, in Käfigen zu züchten, sie zu verhökern, in Laborexperimenten zu quälen und für das Museum auszustopfen.2 Die perspektivische Umkehrung der Hierarchie hat eine frappierende Wirkung. Denn das Science-Fiction-Narrativ dürfte bei den meisten seiner Konsumenten eine unmittelbare ethische Reflektion auslösen. Nämlich die Botschaft: „Was Du nicht willst, das man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“ Doch wie gerne wir uns dieser Agenda anschließen wollen: Wie lässt sich die Ungerechtigkeit ändern, dass Menschenaffen traditionell und weiterhin genau jenen Misshandlungen unterworfen werden,3 die Novelle und Film grafisch ausmalen?
1 2 3
Vgl. (http://www.serkis.com), zuletzt abgerufen am 04.12.2015. P. Boulle, La planète des singes, Paris 1963; deutsch: Der Planet der Affen, München 1965. P. Gagneux, J. Moore, A. Varki, „The ethics of research on great apes“, in: Nature, 437/2005, S. 27-29; A. Knight, „The poor contribution of chimpanzee experiments to biomedical progress“, in: Journal of Applied Animal Welfare Science, 10/2007, S. 281-308.
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Als jemand, der seit Jahrzehnten das Verhalten wilder Primaten erforscht,4 belehrte ich die Kino-Afficionados, dass es jenseits von Science-Fiction durchaus ernstgemeinte Überlegungen gibt, Menschenaffen als gleichwertige Zeitgenossen anzusehen. Vielleicht wurde zu viel Sekt ausgeschenkt. Jedenfalls – Andy Serkis reagierte enthusiastisch auf meinen Aufruf, auch in seiner nicht-digitalisierten Inkarnation zum Revolutionär in Sachen Menschenaffen zu werden. Ich übergab dem neu gewonnenen Jünger eine Broschüre mit dem leicht sülzigen Titel „Bruder Schimpanse, Schwester Bonobo“. Darin werbe ich dafür, den Status unserer allernächsten Verwandten zu ändern – und als Personen aufzunehmen in die Gemeinschaft der Gleichen.5
Das Great Ape Project Die Idee einer ‚Erweiterung der Gemeinschaft der Gleichen‘ geht auf zwei Philosophen zurück – die Italienerin Paola Cavalieri und den Australier Peter Singer. Im Jahre 1993 initiierten sie ihr Great Ape Project, abgekürzt GAP. Das fordert für Orang-Utans, Gorillas, Bonobos und Schimpansen einige jener Privilegien ein, die bislang allein für Menschen gelten: ein Recht auf Leben, auf Freiheit und körperliche Autonomie.6 Weil es um juristische Konsequenzen geht, klingen die Forderungen entsprechend hölzern. Punkt 1 – Recht auf Leben: Außer in Notwehrsituationen soll das Leben der Großen Menschenaffen geschützt sein. Punkt 2 – Schutz der individuellen Freiheit: Die Inhaftierung derjenigen, die nicht durch ein Gericht verurteilt wurden, eines Verbrechens überführt wurden und die nicht strafmündig sind, ist nur erlaubt, wenn es zu ihrem eigenen Wohl geschieht oder notwendig ist, um andere zu schützen. Punkt 3 – Recht auf körper4 5
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V. Sommer, Heilige Egoisten. Die Soziobiologie indischer Tempelaffen, München 1996; V. Sommer, Schimpansenland. Wildes Leben in Afrika, München 2008. V. Sommer, M. Schmidt-Salomon, Bruder Schimpanse, Schwester Bonobo. Grundrechte für Menschenaffen, Mastershausen 2011; englisch: Brother Chimp, Sister Bonobo. Rights for Great Apes. (http://www.giordano-bruno-stiftung.de/ sites/default/files/download/greatapes2.pdf), zuletzt abgerufen 04.12.2015. P. Cavalieri, P. Singer (Hrsg.), The Great Ape Project. Equality Beyond Humanity, New York 1993; deutsch: Menschenrechte für die Großen Menschenaffen, Mün chen 1994.
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liche Unversehrtheit: Die absichtliche Zufügung von Schmerzen, Leiden oder Schäden ist unrecht. In gut Deutsch: Es soll verboten werden, die natürlichen Heimaten der Menschenaffen zu zerstören, sie ohne guten Grund einzusperren oder sie medizinischen Experimenten zu unterwerfen. Als Primatologe bin ich mit vielen Kollegen einig, dass Menschenaffen mit Bewusstsein und Intelligenz begabt sind, dass sie sich mental in andere hineinversetzen und in die Zukunft planen können.7 Deshalb, so das GAP, sollen sie nicht mehr als ‚Besitz‘ gelten dürfen, der ausgebeutet, verkauft und vernichtet werden kann. In dem Sinne macht sich die GAP Initiative also dafür stark, die community of equals zu erweitern – die Gemeinschaft jener, die vor dem Recht gleich sind. Die Forderung nach elementarer Gleichstellung der Menschenaffen ist keine singuläre, aus der Zeit gefallene Vision. Vielmehr setzt das Projekt vormalige Erörterungen fort – beispielsweise, ob Untertanen die Religion ihres Fürsten ausüben müssen, ob dunkelhäutige Afrikaner oder australische Ureinwohner Menschen sind, ob Frauen wählen oder ob Homosexuelle heiraten dürfen.8 Speziell seit der Aufklärung wurden derlei Diskriminierungen sukzessive in Frage gestellt – zunächst religiöser Fundamentalismus, dann Rassismus und Nationalismus, anschließend Sexismus und seit kurzem auch Heterosexismus und die Benachteiligung von Behinderten.9 Vielerorts wurde die Gemeinschaft der Gleichen nach leidenschaftlichen Auseinandersetzungen entsprechend erweitert.10 7 A. Russon, K. Bard, S. T. Parker (Hrsg.), Reaching into Thought: The Minds of the Great Apes, Cambridge 1996; B. Beck, T. S. Stoinski, M. Hutchins, T. L. Maple, B. Norton, A. Rowan, E. F. Stevens, A. Arluke, Great Apes and Humans. The ethics of coexistence, Washington 2001; J. Hof (Fotos), V. Sommer (Text), Menschenaffen wie wir. Portraits einer Verwandtschaft / Apes Like Us. Portraits of a Kinship, Mannheim 2010; E. V. Lonsdorf, S. R. Ross, T. Matsuzawa (Hrsg.), The Mind of the Chimpanzee: Ecological and Experimental Perspectives, Chicago 2010; J. Mitani, J. Call, P. Kappeler, R. Palombit, J. Silk (Hrsg.), The Evolution of Primate Societies, Chicago 2012. 8 Vgl. die Beiträge in P. Cavalieri (Hrsg.), Special Issue „The Great Ape Project“, in: Etica & Animali, 8/1996; sowie die Internet-Seiten Wikipedia. The Free Encyclo pedia, Lemma „Animal rights“, (http://en.wikipedia.org/wiki/Animal_rights), zuletzt abgerufen am 12.01.2015, und Wikipedia. Die freie Enzyklopädie, Lem ma „Tierrechte“, (http://de.wikipedia.org/wiki/Tierrechte), zuletzt abgerufen am 13.01.2015. 9 M. Nussbaum, Frontiers of Justice: Disability, Nationality, and Species Member ship, Cambridge 2006. 10 W. Heidelmeyer, Die Menschenrechte, Paderborn 1997.
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Zunehmend halten Philosophen und Primatologen den historischen Moment für gekommen, erneut inklusiver zu werden.11 Aufzuheben wäre jene Schranke, die Ungleichbehandlung lediglich aufgrund von Artzugehörigkeit rechtfertigt. Wie wir Rassismus und Sexismus ablehnen, so die Fortentwicklung der Forderungen, sollen wir jene Denkfigur zurückweisen, die die Herrschaft der Menschen über Tiere als natürlich und damit richtig ansieht. Abzulehnen wäre mithin der Speziesismus – ein Begriff, der um 1970 von dem britischen Tierrechtler Richard Ryder gekürt wurde.12 Die ethische Basis des Great Ape Projects ist damit das Prinzip der gleichen Berücksichtigung von Interessen: Alle empfindungsfähigen Wesen haben Bedürfnisse und Absichten, und wir sollten ihren ähnlich gelagerten Interessen dasselbe Gewicht beimessen – unabhängig von Kriterien wie Religion, Rasse, Geschlecht oder eben Spezies. Ausschlaggebend für unsere ethisch-moralische Position gegenüber anderen Wesen – menschlichen wie nicht-menschlichen – wären demnach nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten.13 Den Start des GAP unterstützten Vordenker wie Jane Goodall, Richard Dawkins, Robin Dunbar, Birute Galdikas, Roger Fouts, Jared Diamond oder Douglas Adams. Obwohl diese A-Listler der Verhaltens- und Evolutionsbiologie kaum als äffchenknuddelnde Narren abzutun sind, gewann die Initiative kaum an Dynamik. Das Thema war zu exotisch und abgedreht. Als beispielsweise in Spanien ein sozialistischer Politiker das GAP unterstützte, ätzte das konservative Blatt El Mundo: „Logisch, dass die Sozialisten die Menschenaffen für superschlau halten, denn sie scheinen denen an intellektuellen Fähigkeiten nicht sehr weit überlegen zu sein.“14
11 G. Miller, „The rise of animal law“, in: Science, 332/2011, S. 28 f. 12 R. Ryder, Speciesism, Painism and Happiness, Exeter 2011; Siehe auch S. WittStahl, „Der Speziesismus und seine Verflochtenheit mit herrschenden Ideolo gien“, in: Tierrechts Aktion Nord (Hrsg.), Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit: Reflexionen zum Mensch-Tier-Verhältnis, Hamburg 1999 (http://www.rageandreason.de/speziesismus.html), zuletzt abgerufen am 04.12.2015. 13 T. Regan, The Case for Animal Rights, Los Angeles 1983. 14 M. Dahms, „Freiheit für die Affen im Zoo?“, in: Badische Zeitung vom 12. 05.2006, (https://web.archive.org/web/20080610183958/http://www.badischezeitung.de/nachrichten/welt/54,51-9542745.html), zuletzt abgerufen am 16.11. 2015.
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GAP Neustart in Deutschland Nichtsdestotrotz: Für billigen Spott sollte es schwerer werden – zumindest im deutschsprachigen Raum. Denn hier revitalisierte die dem evolutionären Humanismus verpflichtete Giordano-BrunoStiftung die Debatte.15 Um der Initiative Gewicht zu geben, verlieh die Denkfabrik ihren Ethik-Preis 2011 an die Initiatoren des GAP, Cavalieri und Singer. Unterstützt wurde die Kampagne von namhaften Evolutionsbiologen und Philosophen, die dem Beirat der Stiftung angehören – etwa Franz Wuketits, Eckart Voland, Michael Schmidt-Salomon, Gerhard Vollmer, Bernulf Kanitscheider, Thomas Metzinger, Hans Albert – und auch meiner Wenigkeit. Listen von in ihren Professionen respektierten Unterstützern mögen nicht frei von Eitelkeit sein, können aber bewirken, dass Medien beginnen, eine an sich obskure Sache wahrzunehmen. Das GAP-Thema ist jedenfalls seither in der medialen und öffentlichen Diskussion omnipräsent – speziell als es bei National Geographic im Juli 2012 Titelstory wurde, die 574 Online-Kommentare provozierte, mehr als je zuvor ein anderer Artikel.16 Selbst einflussreiche Politiker diskutieren die Initiative seither. Berührungsängste scheinen verringert, und Protagonisten wie ich werden regelmäßig eingeladen, in Funk, Fernsehen und Blätterwald laut darüber nachzudenken.17 Und sogar ein naturgemäß skeptischer Zusammenschluss von Wissenschaftlern wie die ‚Gesellschaft für Primatologie‘ hat das Thema mittlerweile auf die Tagesordnung gesetzt.18 Wer das Freischwimmerabzeichen für zeitgenössischen Mainstream nicht aberkannt bekommen will, kann die Problematik jedenfalls kaum mehr schadlos ignorieren. Vielmehr ist angesagt, die Argumente hinsichtlich Rechten für Menschenaffen pro und contra abzuwägen. Denn bereits vor dem ersten Bier fallen uns allerlei Einwände ein: dass die Betroffenen selbst gar keine Rechte verlangen; dass nicht einmal alle Menschen ihre Rechte genießen; dass Privilegien mit Pflichten einhergehen; dass bald auch Fifi und Mieze Personen werden wollen. Und Tierrechtler selbst haben Vorbehalte – 15 Vgl. (http://www.giordano-bruno-stiftung.de), zuletzt abgerufen am 04.12.2015. 16 J. Nakott, „Wie du und ich. Wieviel Mensch steckt im Affen?“, in: National Geographic (deutsch), 07/2012, S. 38-69. 17 Pressespiegel unter (http://www.greatapeproject.de), zuletzt abgerufen am 04. 12.2015. 18 V. Sommer, „Das Great Ape Project (GAP): Grundrechte für Menschenaffen?“, in: Rundbrief der Gesellschaft für Primatologie, 48/2014, S. 11-14.
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dass eine erneute speziesistische Grenze gezogen wird zwischen Menschenaffen und dem Rest der Tiere; oder dass ‚Rechte‘ eine Kapitulation vor kapitalistischen Verhältnissen repräsentieren. Lassen wir die Palette solcher Einsprüche einmal Revue passieren. Wobei ich zugebe, Erwiderungen so formuliert zu haben, dass sie generell meine eigene Position stützen – nämlich Menschenaffen Grundrechte zuzubilligen.
Konservative Widerworte: Rechte für Menschenaffen sind Unsinn Im Camp der Traditionalisten finden sich einerseits rational argumentierende Skeptiker, andererseits aber auch Reflex-Moralisten, die unter ihrem Online-Alias ‚Herr Mensch‘ Statements absondern wie „Die Affen sind Tiere und damit basta!“19 Manche Einwände sind leicht zu entkräften, speziell, wenn sie die Logik von ‚Rechten‘ nicht verstanden haben. Andere Argumente stellen speziell für jene ernste Hürden dar, die sich dem Tierrechts-Gedanken erst allmählich öffnen. 1. Stichwort Schutz. – Einwand: Die Forderungen des GAP sind durch Tier- und Naturschutz-Gesetze abgedeckt! – Erwiderung: Schutzbemühungen ändern nichts am Status von Tieren als Sachen, über die Eigentümer nach Gutdünken verfügen können. Das GAP verdeutlicht, wie sich Tierschutz und Tierrecht unterscheiden.20 Schutz will das Überleben von Arten sichern oder einzelne Lebewesen vor unnötigem Leid bewahren. Den meisten von uns scheint das erstrebenswert – auch wenn biomedizinische Labors, Fleischfabriken und unsere eigene Trägheit es immer wieder schaffen, Tierleid für notwendig zu erklären. Dessen ungeachtet meint der Rechtsphilosoph Norbert Brieskorn, da ethisch reflektierende Menschen gegenüber Tieren ohnehin Schutzverpflichtungen hätten, sei Zuerkennung von Rechten kein Plus.21 Doch ‚Schutzansprü19 Kommentar zu F. Voegeli, „Menschenrechte für Menschenaffen?“ (http:// www.20min.ch/wissen/news/story/Menschenrechte-fuer-Menschenaffen-30215304), zuletzt abgerufen am 12.02.2015. 20 T. Regan, The Case for Animal Rights; F. Schmitz (Hrsg.), Tierethik: Grund lagentexte, Berlin 2014. 21 N. Brieskorn, Menschenrechte: eine historisch-philosophische Grundlegung, Stuttgart, Berlin, Köln 1997.
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che‘ sind von Natur aus schwammig. Eben deshalb ist Paragraph 1 des deutschen Tierschutzgesetzes lediglich eine Farce: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schaden zufügen“. Um konkretes Leid zu mindern, wären Tier-Rechte allerdings erheblich effektivere Hebel, als die oft laschen Schutz-Richtlinien. So schaffte es der Zoo Wuppertal trotz permanenter Proteste, den Schimpansen Epulu 35 Jahre lang in einem Betonbunker zur Schau zu stellen. Besäße Epulu einen Rechtsstatus, hätten Gerichte den Zoo viel früher gezwungen, wenigstens ein minimales Außengehege zu gewähren.22 Ähnlich sieht es mit bislang fruchtlosen Beschwerden aus, die ich gemeinsam mit anderen Primatologen und Tierschützern führe, um die alberne Ausbeutung von ‚Show‘-Schimpansen des Schwabenparks zu verhindern.23 Und auch beim Abholzen könnte Recht wirksam werden: Wer Personen aus angestammten Wäldern vertreiben will, wird es schwerer haben, als jemand, der den Dschungel samt Einwohnern einfach aufkaufen kann. Im Unterschied zum paternalistischen Schutzanspruch ist das Zuerkennen von Rechten emanzipatorisch. Tierrecht setzt sich somit für die Würde jedes einzelnen Wesens ein – und nicht für die abstrakte Einheit ‚Art‘. Solange aber Tiere als Sachen und Eigentum gelten, haben jene wenig zu fürchten, die ihnen Schaden zufügen.24 2. Stichwort Menschenrechte. – Einwand: Menschenaffen können keine Menschenrechte haben. – Erwiderung: Manche Menschenaffen verfügen bereits über solche Rechte – denn Menschen sind Menschenaffen. Zur zoologischen Gruppe der Menschenaffen (Hominoidea) zählen die als ‚Kleine Menschenaffen‘ bezeichneten Gibbons sowie Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen und Bonobos als ‚Große Menschenaffen‘. Zu den letzteren zählen auch wir Menschen, da Schimpansen und Bonobos unsere nächsten Verwandten sind.25 Anders ausgedrückt: Entgegen dem Augenschein sind diese behaarten Knö22 „35 Jahre im Betonbunker“ (Peter, veganblog.de/2014/07/24/nach-35-jahrenim-betonbunker-wuppertaler-schimpanse-durfte-zum-ersten-mal-raus/#. VATvFSj_RG5), zuletzt abgerufen am 24.06.2014. 23 Gesellschaft für Primatologie (GfP), „The use of non-human primates as per formers, photo props, and actors“, Positionspapier, 10.01.2012. 24 G. Francione, Animals, Property, and the Law, Philadelphia 1995. 25 W. Enard, S. Pääbo, „Comparative primate genomics“, in: Annual Review of Genomics and Human Genetics, 5/2004, S. 351-378; P. Gagneux, „A pan-oramic
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chelgänger näher mit uns verwandt als mit den ähnlicher aussehenden Gorillas. Menschenaffen ohne Mensch wären deshalb eine paraphyletische Gruppe, deren Mitglieder zwar einen gemeinsamen Vorfahren teilen, jedoch nicht sämtliche Nachkommen dieses Ahnen umschließt. Die zoologische Systematik erkennt aber nur monophyletische Gruppen an, die alle Nachfahren einer gemeinsamen Urform umfassen. Der Einfachheit halber benutze ich ebenfalls das Umgangssprachliche ‚Menschenaffen‘ – statt des korrekten Ausdrucks ‚nicht-menschliche Große Menschenaffen‘. Zudem habe ich den Einwand gegen Menschenrechte für Menschenaffen lediglich aus didaktischen Gründen missverstanden – denn er war selbstredend anders intendiert. 3. Stichwort Menschenstatus – Einwand: Menschenaffen können keine Menschenrechte haben, denn sie gehören nicht zur Gattung Homo! – Erwiderung: Obwohl das die Medien gern falsch darstellen, werden für unsere nächsten Verwandten keine ‚Menschen‘-Rechte gefordert. Vielmehr geht es um ‚Grundrechte‘, die nicht an Artzugehörigkeit gebunden sind. (Dieser falsche Eindruck ist in Deutschland wohl auch durch den Titel der Übersetzung von Cavalieris und Singers The Great Ape Project entstanden: Menschenrechte für die Großen Menschenaffen.) Gut vorbereitete Redakteure des renommierten Magazins GEO interviewten mich über einen ganzen Tag hinweg für das Sonderheft „Wie Tiere denken“. Nichtsdestotrotz hat wohl einem cleveren Schlussredakteur kurz vor Drucklegung die Aufmacherzeile nicht gefallen. Und so ist das ausführliche Interview überschrieben mit: „Weshalb sollten Affen Menschenrechte besitzen, Herr Professor Sommer?“ Zwar kommt im Interview nur der Begriff Grundrechte vor – von mir gezielt gewählt, da er Unabhängigkeit von einer bestimmten Art signalisieren soll.26 Dennoch ist bezeichnend, dass auch ein reputables Print-Magazin Fünfe gerade sein lässt. So nimmt es nicht Wunder, wenn Online-Kommentare kräftig höhnen – denn des Professors Anliegen ist offenbar unausgegoren. Der Einwand, Menschenrechte seien auf die Gattung Homo beschränkt, könnte allerdings noch aus anderem Grund hinfällig werview: insights into hominoid evolution through the chimpanzee genome“, in: Trends in Ecology and Evolution, 19/2006, S. 571-576. 26 V. Sommer, Interview, „Weshalb sollten Affen Menschenrechte besitzen?“, in: GEO-kompakt, „Wie Tiere denken“, 33/2012, S. 138-145.
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den. So teilen Schimpansen 99,4 Prozent bestimmter genetischer Marker mit uns. Würde aber das Erbgut von Käfern so minimal abweichen, würden sie gewiss nicht verschiedenen Gattungen zugeschlagen. Wie ich mit Genetikern und anderen Primatologen meine, sollte deshalb die separate Gattung Pan für Schimpansen und Bonobos aufgelöst werden – durch Umbenennung in Homo troglodytes und Homo paniscus.27 Damit wäre jene Nomenklatur wieder hergestellt, die der ‚Erfinder‘ des gebräuchlichen taxonomischen Systems, Linné, ursprünglich intendiert hatte – bevor nachfolgende Naturforscher aus Berührungsängsten heraus die Gattung Homo zum Alleinstellungsmerkmal der Art Homo sapiens erhoben. 4. Stichwort Personenstatus. – Einwand: Menschenaffen können nicht über Rechte verfügen, weil sie keine Personen sind! – Erwiderung: Wer oder was Personen sind, hängt von sich ständig wandelnden Definitionen ab. Das Konzept der Person28 wurde maßgeblich entwickelt, um das Trinitäts-Problem zu lösen, wonach Gott Vater, Sohn (Jesus Christus) und Heiliger Geist zwar eine Wesenseinheit bilden, aber dennoch verschieden sind. So wurde auf die Metapher ‚persona‘ für jene Maske zurückgegriffen, welche Schauspieler der Antike je nach Rolle vor das Gesicht hielten. Anderthalb Jahrtausende später definierte Immanuel Kant dann Personen als „vernünftige Wesen, die moralisch verantwortlich sind“ – und reservierte den Status für Menschen. Nicht-rationale Wesen hingegen – sprich: Tiere – besitzen nur als Mittel zum Zweck einen Wert und sind deshalb als ‚Dinge‘ zu bezeichnen.29 Auch einem zeitgenössischen katholischen Philosophen wie Robert Spaemann gilt biologische Zugehörigkeit zur Gattung Mensch 27 D. E. Wildman, M. Uddin, G. Liu, L. I. Grossman, M. Goodman, „Implications of natural selection in shaping 99.4 % nonsynonymous DNA identity between hu mans and chimpanzees: Enlarging genus Homo“, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 100/2003, S. 7181-7188; V. Sommer, „Schimpanse und Bonobo gehören in die Gattung Homo“, in: P. Cavalieri, C. Goldner, P. Singer, M. Schmidt-Salomon, V. Sommer, Grundrechte für Menschenaffen, Schriftenreihe der Giordano-Bruno-Stiftung, Bd. 4, Aschaffenburg 2011, S. 15-23. 28 M. Carrithers, S. Collins, S. Lukes (Hrsg.), The Category of the Person: Anthro pology, Philosophy, History, Cambridge 1987. 29 I. Kant, zitiert in L. Gruen, Lemma „The moral status of animals“, in: E. N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2010 Edition (http:// plato.stanford.edu/archives/fall2010/entries/moral-animal/), zuletzt abgerufen am 04.12.2015.
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als für Personalität notwendig,30 mithin eine ontologische Definition. Dieses Kriterium erscheint zunächst sauber und trennscharf, weil es lediglich gegenwärtig lebende Menschen einschließt. Bei näherer Betrachtung werden jedoch Schwächen offenbar. Warum etwa soll Artzugehörigkeit ein moralisch relevantes Kriterium sein, während ‚Rasse‘ (ein im Englischen oft benutzter Begriff), Geschlecht oder Nationalität es nicht sind? Überdies ist eine diskontinuierliche Unterscheidung von Menschen und anderen Lebewesen gegenwärtig nur möglich, weil etliche verbindende Formen nicht mehr auf Erden wandeln. Hätten Ontologen auch in Mitgliedern ausgestorbener Formen wie Homo erectus, Homo floresiensis oder Homo neanderthalensis keine Personen gesehen? Und würde Spaemann sein Kriterium wohl aufrechterhalten, falls Schimpansen und Bonobos der Gattung Homo eingegliedert werden? Sei es wie es sei, in seinem Buch Practical Ethics zieht der Philosoph Peter Singer die Grenze wiederum anders.31 Er unterscheidet zwischen bloß schmerzempfindlichen Wesen – etwa vielen Wirbellosen – und jenen, die zusätzlich über Selbstbewusstsein und Sinn für die Zukunft verfügen. Solche ‚Subjekte-eines-Lebens‘ (subjectsof-a-life),32 die Überzeugungen, Bedürfnisse, Erinnerungen und eine Vorstellung hinsichtlich der eigenen Zukunft besitzen und damit eine eigene Lebensgestaltung verfolgen, wären ‚Personen‘ – ganz unabhängig von Artzugehörigkeit. Im Unterschied zu ontologischen wären dies empirisch-funktionale Kriterien. Die meisten Primatologen dürften wenig Zweifel haben, dass Menschenaffen derlei Voraussetzungen erfüllen – obwohl sich darüber trefflich streiten lässt.33 Es sei überdies eingeräumt, dass eine Liste von Kriterien ihre eigenen Probleme hat, weil Individuen über bestimmte Kapazitäten graduell verfügen, also mehr oder weniger, und weil einzelne Individuen nur über gewisse Kapazitäten verfügen mögen, nicht jedoch über andere. Diese kurze Retrospektive macht jedenfalls deutlich, dass das Konzept der ‚Person‘ nicht seit jeher vorgegeben und monolithisch im Raum steht, sondern eine ausdeutende Entwicklung erfahren 30 R. Spaemann, R. Löw, P. Koslowski (Hrsg.), Evolutionismus und Christentum, Weinheim 1985. 31 P. Singer, Practical Ethics, Cambridge 1979. 32 T. Regan, The Case for Animal Rights. 33 M. Tomasello, M. Carpenter, J. Call, T. Behne, H. Moll, „Understanding and sharing intentions: the origins of cultural cognition“, in: Behavioral and Brain Sciences, 28/2005, S. 675-735.
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hat. Je nach Interpretation mögen zudem nicht nur uns bekannte Lebewesen, sondern auch künstliche Intelligenzen oder außerirdische Organismen als Personen begriffen werden, sowie juristische Einheiten (Konzerne, Staaten) – während ein Personenstatus menschlichen Föten mancherorts bis zu einem bestimmten Alter nicht zuerkannt wird. Will sagen: Wer oder was eine Person darstellt, war und ist umstritten. Insofern erscheint die Möglichkeit einer Erweiterung hin auf nicht-menschliche Tiere durchaus legitim.34 Es geht lediglich darum, die entsprechende Debatte zugunsten der eigenen Überzeugung auszufechten. 5. Stichwort Rechtsspektrum. – Einwand: Nicht nur Leben und Freiheit wird durch Rechte geschützt, sondern etwa auch Meinungsfreiheit! – Erwiderung: Juristische Privilegien können differentiell zugesprochen werden. Obwohl ihnen körperliche Unversehrtheit zusteht, dürfen zahlreiche Menschen nicht wählen, etwa Kinder oder mancherorts Sträflinge. Deshalb ist es nicht inkonsequent, wenn das GAP weder ein Bildungsrecht für Bonobos fordert, noch ein Recht auf Freizeit für Gorillas noch Datenschutz für Schimpansen oder ein Mindestalter für Sex bei Orang-Utans.35 Insofern ist es Unsinn, wenn ‚Alex‘ in einem Online-Forum polemisiert: „Als nächstes müssen wir den Zooaffen noch Abstimmunterlagen schicken. Und gewählt werden können sie natürlich auch“.36 Nein – es geht um Grundrechte; nicht weniger, aber auch nicht mehr. 6. Stichwort Verantwortung. – Einwand: Tiere können keine Rechte wahrnehmen, weil ihnen Verantwortung abgeht! – Erwiderung: Rechte werden nicht erworben, sondern zugesprochen. Der britische Philosoph Roger Scruton hält die Diskussion um Tierrechte für vorwissenschaftlichen Anthropomorphismus. Für Scruton sind Tierrechtler Eskapisten, deren Tierbild dem von Kinderbüchern entspricht, während ihr Menschenbild die Korruption
34 G. Francione, Animals as Persons, New York 2008; K. Brensing, Persönlich keitsrechte für Tiere: Die nächste Stufe der moralischen Evolution, Freiburg im Breisgau 2013. 35 Vgl. C. Sunstein, M. Nussbaum (Hrsg.), Animal Rights: Current Debates and New Directions, Oxford 2004. 36 Kommentar zu J. Nakott, „Wie du und ich“.
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durch das Böse befürchtet. Doch da allein Menschen Pflichten auferlegt werden können, und da Tiere einem solchem sozialen Kontrakt nicht beitreten können, könnten sie auch keine Rechte besitzen.37 In der Vertragstheorie spielt Verantwortung eine Rolle. Obwohl Scruton das vermutlich bestreiten würde, können manche Handlungen von nicht-menschlichen Tieren durchaus als ‚verantwortungsbewusst‘ interpretiert werden. So zeigte etwa die von Menschen aufgezogene Schimpansin Lucy nicht nur Anzeichen von Stress, als ihre Ziehmutter krank wurde – sondern brachte ihr Essen und behandelte sie zärtlich.38 Weltweit Aufsehen erregte auch die im US-amerikanischen Brookfield Zoo gehaltene Gorillafrau Binti Jua, die sich 1996 um einen 3-jährigen Menschenjungen kümmerte, der über die Absperrung gefallen war und bewusstlos auf dem Gehegeboden lag. Binti beschützte ihn vor aufgeregten Artgenossen und trug ihn vorsichtig an die Rückseite des Geheges, wo Wärter das hilflose Kind in Empfang nehmen konnten.39 Das Interessante an beiden Fällen ist nicht nur die Dimension von ‚verantwortlichem Mitgefühl‘, sondern auch, dass es Artgrenzen transzendiert – genau wie bei Tierrechtlern. Die Vertragstheorie – also das Bezahlen von Privilegien durch Pflichten – hat allerdings viel grundsätzlichere Schwierigkeiten mit dem Personenstatus. Denn es gibt zahlreiche Menschen, die in der Literatur als ‚marginal cases‘ bezeichnet werden. Obwohl diese ‚Grenzfälle‘ weder ‚moralisch kompetent‘ handeln können, noch das Konzept von Pflichten verstehen, verfügen auch Neugeborene, kognitiv Eingeschränkte, Alzheimer- oder Komapatienten über Rechte, deren Spektrum teilweise sogar erweitert ist. So erkennt die Deklaration der Vereinten Nationen über Kinderechte deren altersspezifische Bedürfnisse und Möglichkeiten an. Eine Deklaration zu den Rechten Großer Menschenaffen könnte ähnlich konstruiert werden.40 Insofern ist auch folgender Online-Kommentar irregeleitet: „Wenn der Affe gleich wie der Mensch behandelt werden soll, soll er seine 8 Stunden am Tag arbeiten, Steuern zahlen, Kleider tragen, 37 R. Scruton, Animal Rights and Wrongs, London 1998. 38 M. K. Temerlin, Lucy. Growing up Human: A Chimpanzee Daughter in a Psy chotherapist’s Family, Palo Alto (CA) 1975. 39 Wikipedia. The Free Encyclopedia, Lemma „Binti Jua“, (http://en.wikipedia.org/ wiki/Binti_Jua), zuletzt abgerufen am 23.05.2015. 40 J. Benz-Schwarzburg, A. Knight, „Cognitive relatives yet moral strangers?“, in: Journal of Animal Ethics, 1/2011, S. 9-36.
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sich anständig benehmen usw. Und auch ins Gefängnis falls er jemanden umbringt“.41 Zumindest indirekt spielt diese grobe Überlegung bereits auf eine weitere Frage an – ob es nämlich zuweilen nötig ist, tierliches Verhalten gerichtlich zu bewerten. 7. Stichwort Justiziabilität. – Einwand: Wenn Menschenaffen Rechte besitzen, haben für sie zumindest basale Regeln zu gelten – etwa bezüglich Anstand oder Gewaltlosigkeit. – Erwiderung: Menschenaffen muss arttypisches Verhalten erlaubt sein, auch wenn das abweicht von Normen in Gesellschaften von Menschen. Besucher des Fringe Kulturfestivals 2014 in Edinburgh wurden von dem Primatologen Lewis Dean eingeladen, als Jurymitglied über den Schimpansen Jack Gericht zu sitzen, dessen Bande einen Artgenossen umgebracht hatte. Die Jury sollte mithin entscheiden, ob ein Nicht-Mensch sich moralisch falsch verhalten kann.42 In dem Gedankenexperiment wird im Grunde problematisiert, wieviel Kulturrelativismus43 akzeptabel ist. Mein Sohn durfte in Deutschland öffentlich Bier trinken, als er 16 war – in den USA erst mit 21. Derlei nationale Bräuche entscheiden nicht über Leib und Leben. Doch wie ist es mit Volksgruppen, die sich auf uralte Sitten berufen und Steinigung von Ehebrecherinnen vorsehen, genitale Verstümmelung von Knaben oder der Kinderheirat? Laut Vereinten Nationen sollte das als strafbar unterbunden werden. Gleichwohl – bezüglich wilder Menschenaffen muss ein gewisser Doppelstandard greifen, etwa wenn Männchen Kopulationen erzwingen, Konkurrenten einander blutig verletzen, oder Heranwachsende sexuell mit Erwachsenen verkehren.44 Es wäre absurd, solches Verhalten ahnden zu wollen, selbst wenn es unter Menschen strafrechtlich relevant wäre. Realiter wären Gerichtsverhandlungen sowieso verfehlt, weil Tiere nicht als tatverantwortlich gelten (so, wie auch für Menschen aus kognitiven, kulturellen oder situationalen Gründen Ausnahmen gemacht werden).
41 Kommentar zu J. Nakott, „Wie du und ich“. 42 L. Dean, „The trial of chimpanzee Jack“ (http://culturedprimate.wordpress.com/ chimp-on-trial), zuletzt abgerufen am 15.08.2014. 43 A. Kroeber, C. Kluckhohn, „Culture: a critical review of concepts and definitions“, in: Papers of the Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology, 47/1952, S. 41-72. 44 Für graphische Beispiele siehe J. Goodall, The Chimpanzees of Gombe. Patterns of Behavior, Cambridge (MA) 1986.
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Was aber ist mit Tötungen – sind die ebenfalls hinzunehmen, weil seitens der Tiere keine Tatverantwortung besteht? So mag ein Gorillamann einen Rivalen vertreiben und dessen Baby töten, um eine erneute Fruchtbarkeit der Mutter beschleunigt herbeizuführen. Im Freiland lässt sich Infantizid kaum verhindern, selbst wenn Primatologen – mich eingeschlossen – versucht haben, gefährdete Babys zu schützen.45 Werden Menschenaffen hingegen in Gefangenschaft gehalten, sollte es zur Sorgfaltspflicht der Wärter gehören, Artgenossentötung durch Abtrennung zu unterbinden. Das Lebensrecht eines Primatenkindes würde mehr gelten als das Fortpflanzungsinteresse des Männchens. In dem Zusammenhang ist eine Auseinandersetzung interessant, die ich mit dem Management des Londoner Zoos führte.46 Nachdem der vormalige Silberrücken verstorben war, wurde der Rumpfgruppe von drei Weibchen ein neuer Gorillamann hinzugefügt. Eines der Weibchen säugte ein vom Vorgänger gezeugtes Baby. Der neue Mann tötete das Kind – ein Infantizid, der komplett vorhersagbar war. Ich kritisierte die Zooleitung in der BBC als inkompetent. Denn man hätte Mutter und Säugling eine sichere Rückzugsmöglichkeit im Gehege einräumen können. Die Zooleitung verteidigte sich mit dem Hinweis, Infantizid sei ein natürliches Verhalten, dass man nicht unterdrücken dürfe – ein durch und durch unsinniges Argument. Denn erstens ist nichts an der Zoosituation natürlich, und zweitens haben Weibchen in der Wildnis durchaus die Möglichkeit, weiterhin bei einem im Kampf unterlegenen Silberrücken zu bleiben, um die Tötung von dessen Nachwuchs zu vermeiden. Das Beispiel verdeutlicht, dass es geboten sein kann, die vermutlichen Interessen nicht-menschlicher Personen abzuwägen, statt angeblich unveränderlicher ‚Natur‘ ihren Lauf zu lassen. Eigentlich ist der Einwand hinsichtlich Verhaltensregeln jedoch lediglich ein Taschenspielertrick reaktionärer Kräfte, die Grundrechts-Kampagne ad absurdum führen zu wollen. Doch selbst wenn eine Initiative nicht auf jede denkbare Situation eine Standardantwort parat hat, ist nicht automatisch die gesamte Konzeption hinfällig – nämlich die Vision des ethischen Meliorismus. Diese Weltanschauung
45 V. Sommer, Heilige Egoisten. 46 BBC News, „London Zoo criticised over death of baby gorilla Tiny“ (http:// www.bbc.co.uk/news/uk-13401877), zuletzt abgerufen am 14.05.2011.
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meint, dass Menschen durchaus in ‚natürliche‘ Prozesse eingreifen und die Welt dadurch zum Besseren verändern können.47 8. Stichwort Rechtsfähigkeit. – Einwand: Tiere können ihre Rechte gar nicht wahrnehmen, denn sie können sie weder formulieren noch einklagen! – Erwiderung: Wie für Menschen, die aufgrund von Alter oder geistiger Verfassung als ‚unmündig‘ gelten, können rechtliche Belange von Menschenaffen durch Fürsprecher vertreten werden. Der Tierrechtler Tom Regan unterscheidet zwischen ‚moral agents‘ – moralisch Handelnden – und ‚moral patients‘ – moralisch Behandelten.48 Demnach würden auch Individuen, die Moral weder begreifen noch gestalten können, dennoch als ‚moral patients‘ elementaren Schutz genießen. Ihre Rechtsbelange würden durch Bevollmächtigte wahrgenommen. Genau das wurde bei einem Prozess in Österreich angestrengt, den ich als Gutachter unterstützte.49 Zunächst wurde im Februar 2007 am Sachwalterschaftsgericht in Mödling für Herrn Matthias Pan, Spitzname Hiasl, die Bestellung eines Sachwalters beantragt. Die Eingabe war von DDr. Martin Balluch unterzeichnet und wies darauf hin, dass Matthias Pan „nicht in der Lage ist, Rechtsgeschäfte des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe zu meistern“. Insbesondere könne der 28-jährige Herr Pan ohne gerichtlich bestellten Fürsprecher eine ihm gewidmete Schenkung nicht nutzen. Das lateinische „Pan“ ließ die Richterin bereits aufhorchen. Im Gerichtsverfahren wurde die Lebensgeschichte von Matthias Pan evident: Kurz nachdem er 1981 in Westafrika geboren wurde, massakrierten Händler seine Mutter und verschacherten ihn an die in Österreich operierende Firma Immuno. Ihm war das Schicksal bestimmt, neben Dutzenden anderer Biomedizin-Sklaven mit Hepatitis und HIV infiziert zu werden und in einem fensterlosen Kellerverlies in einem Einzelkäfig mit einer Grundfläche von einem bis maximal 5 Quadratmetern über Jahrzehnte hinweg eingesperrt zu werden. Weil Immuno bei der Entführung von Matthias Pan österreichische Gesetze verletzt hatte, landete er schließlich in einem Tierschutzheim, das jedoch pleiteging. Die Schenkung, so das Argument der Eingabe, würde Hiasls weitere Pflege garantieren und ihn davor be47 J. C. Wolf, Neue Perspektiven für Menschen und Tiere, Freiburg (CH) 1992. 48 T. Regan, The Case for Animal Rights. 49 M. Balluch, E. Theuer, „Trial on personhood for chimp Hiasl“, in: Altex, 24/2006, S. 335-342.
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wahren, abermals verkauft zu werden. Das Bezirksgericht verlangte Geburtsurkunde sowie Meldeschein und lehnte den Antrag ab. Der Betroffene sei nicht geistig behindert oder psychisch krank und ihm drohe keine unmittelbare Gefahr. Ob er eine Person im rechtlichen Sinne sei, sei eine Frage ‚akademischer Natur‘. In Österreich galten Schimpansen stillschweigend bis dato als ‚Sache‘. ‚Sachwalter‘ aber können (trotz des in dem Zusammenhang leicht absurden Wortes) nur für Personen bestellt werden. Revisionen des Entscheids wurden angestrengt, über das Landesgericht Wiener Neustadt und den Obersten Gerichtshof OGH bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR. Der lehnte in letzter Instanz ab, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Denn Hiasl könne sich weder ausweisen noch äußern, und DDr. Balluch wurde nicht als Fürsprecher anerkannt. Die Gerichte wiesen die Klagen mithin ab, weil der Antragsteller zu einem derartigen Antrag nicht befugt sei. Er hätte keine Parteienstellung. Mit anderen Worten: Es ginge ihn nichts an, was nur Sache des Schimpansen wäre. Dass Menschenaffen aber als ‚Sachen‘ gelten, statt dass sie jemand juristisch vertreten kann – in den jeweiligen rechtlichen Konstruktionen von Stellvertreter, Sachwalter, Fürsprecher, Vormund, Bevollmächtigter, ‚guardian‘ etc. –, genau das will die GrundrechtsInitiative ändern. 9. Stichwort Prioritäten. – Einwand: Es ist geradezu zynisch, Affen Rechte zuzusprechen, wenn nicht einmal alle Menschen Rechte genießen. – Erwiderung: Es wird den Armen und Unterdrückten bei ihrem gerechten Kampf nicht helfen, bestimmten anderen Spezies Grundrechte zu verweigern. In Spanien formulierte die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) gemeinsam mit den Grünen im Jahre 2006 einen Gesetzesentwurf, der Menschenaffen Grundrechte zusprechen wollte. Der Entwurf scheiterte an erheblichem Widerstand.50 Der Erzbischof von Pamplona, Fernando Sebastián Aguilar, etwa bediente sich des oben zitierten Prioritäten-Einwandes: „Zu viel Fortschrittlichkeit führt zur Lächerlichkeit“. Und der Geistliche mahnte weiter: „Die Regierung will den Affen Rechte einräumen, die sie ungeborenen Kindern versagt.“ Der Erzbischof fand in der Chefin der spanischen Sektion von ‚Amnesty International‘ eine unwahrscheinliche Bündnispart50 Für die folgenden Zitate siehe „Grundrechte für Menschenaffen“, in: Teneriffa Nachrichten vom 10.06.2006.
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nerin, denn auch Delia Padrón beklagte: „Es ist erstaunlich, daß Affen Menschenrechte zugesprochen werden sollen, obwohl die nicht einmal alle Menschen besitzen.“ Online wird ähnlich kommentiert, beispielsweise unter der Überschrift: „Was ist mit uns Menschen?!“ – um fortzufahren: „Bevor man von Menschenrechten für Tiere sprechen kann, sollte man vielleicht sicherstellen, dass alle Menschen durch diese Rechte geschützt werden […].“51 Dass Menschenaffen erst Rechte erhalten sollen, wenn sie für alle diskriminierten Menschen realisiert sind, ist allerdings zweifach unschlüssig. Einerseits hätte es beispielsweise den Suffragetten in England nicht angestanden, ab 1903 organisiert Frauenwahlrecht zu fordern, weil damals noch nicht einmal die Hälfte aller Männer das – an Grundbesitz gebundene – Wahlrecht besaß. Andererseits ist es schlicht unfair, jemanden zu benachteiligen, bloß weil andere noch unfrei sind. Ganz im Gegenteil: Je inklusiver eine Forderung angelegt ist, desto wahrscheinlicher wird sie durchgesetzt – wovon verschiedenste Gruppen profitieren. Deshalb überrascht es nicht, dass beispielsweise in England die Erfolge von Frauenrechtlern eng mit der Tierrechtsbewegung verknüpft sind.52 10. Stichwort Dammbruch. – Einwand: Wenn Menschenaffen Rechte zugestanden werden, wollen bald auch Hunde- und Katzenhalter, dass ihre Lieblinge Personen werden! – Erwiderung: Konservative benutzen gerne die rhetorische Technik des ‚Dammbruch-Arguments‘. Im englischen Parlament des 19. Jahrhunderts gingen Gesetzesinitiativen mehrfach in Gelächter unter. So wurde ein Vorschlag, Grausamkeit an Pferden zu verbieten, mit dem Argument lächerlich gemacht, dass dann als nächstes wohl Esel, Hunde oder Katzen unter Schutz gestellt würden. Und als vorgeschlagen wurde, Männern mit schwarzer Hautfarbe Wahlrecht zu gewähren, wurde dagegen gehalten, als nächstes würden dann wohl Tiere oder Frauen derlei Ansprüche anmelden.
51 Kommentar zu F. Voegeli, „Menschenrechte für Menschenaffen?“ 52 D. Legge, S. Brooman, Law Relating to Animals, London 1997; H. Kean, Animal Rights. Political and Social Change in Britain since 1800, London 1998; vgl. auch Wikipedia. The Free Encyclopedia, Lemma „Animal rights“, (http:// en.wikipedia.org/wiki/Animal_rights), zuletzt abgerufen am 12.01.2015.
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Solche Reaktionen, die das Argument des Dammbruchs oder der „schiefen Ebene“ benutzen,53 sind selbstredend nicht als rationale Beiträge zu Debatten gedacht, sondern wollen Ängste schüren. Die sind allerdings in der Tat oft berechtigt. Denn bevor das 19. Jahrhundert zu Ende ging, wurde die grausame Behandlung von Nutzund Haustieren nicht nur in England, sondern auch in mehreren anderen Ländern verboten.54 Dass Frauen Wahlrecht erhielten, sollte länger dauern. Wenn Gesetze geändert werden, hat das vielfältige Gründe. Der erste Schritt ist allerdings, dass sich eine Lobby für eine diskriminierte Gruppe engagiert – ob es sich nun um Frauen, Katzen oder Kühe handelt. Dass sich zahlreiche Katzenhalter für Miezes Personenstatus einsetzen werden, ist momentan eher unwahrscheinlich. Im hinduistisch geprägten Indien wurde und wird hingegen ernsthaft diskutiert, ob Kühen ein spezieller Status in der Verfassung gebührt. Dass Mahatma Gandhi – an sich überzeugter Hindu – dies ablehnte, um die erhebliche muslimische Minderheit des neuen Indien nicht zu provozieren, war übrigens einer der Gründe für die Ermordung des Mahatma.55 Moderne Gesellschaften sollten sich jedenfalls dadurch auszeichnen, Diskussionen zuzulassen, wenn Interessenvertreter sich entsprechend formieren – solange deren Visionen nicht dem Gesamtkonzept der jeweiligen Verfassung widersprechen. Konflikte sind gleichwohl vorprogrammiert. Denn Meinungen über das, was vereinbar ist und was nicht, gehen gewöhnlich auseinander. Das ist hinsichtlich der Tierrechts-Frage nicht anders. Indes ist zu hoffen, dass es in fortschrittlichen Staaten zunehmend weniger akzeptabel wird, sich auf ‚moralische‘ Werte zu berufen – die gern als gottgegeben, unwandelbar, ewig oder selbstevident ausgegeben werden. Stattdessen sollten durch Abwägung und Debatte ‚ethische‘ Werte entwickelt werden – die von ihrem Charakter her stets vorläufig bleiben und alsbald einem zeitgemäßeren Konsens Platz machen.
53 F. Salinger, „The dam burst and slippery slope argument in medical law and medical ethics“, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 9/2007, S. 341-352. 54 D. Legge, S. Brooman, Law Relating to Animals; H. Kean, Animal Rights. 55 E. H. Erikson, Gandhis Wahrheit. Über die Ursprünge der militanten Gewalt losigkeit, Frankfurt a. M. 1971; Erstausgabe: Gandhi’s Truth, New York 1969.
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11. Stichwort Tierbefreiung. – Einwand: Haben Menschenaffen ein Recht auf Freiheit, müssen Zoos ihre Gehege öffnen! – Erwiderung: Viele Tierrechtler verurteilen Gefangenschaftshaltung. Indes wird sie weiter existieren, weil Freisetzung selten machbar ist. Der Tierrechtler Colin Goldner recherchierte für sein Buch Lebenslänglich hinter Gittern, dass 38 deutsche Zoos und zooähnliche Institutionen Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen und Bonobos zur Schau stellen – insgesamt 450 Menschenaffen.56 Für einige Zoos, wie die in Köln, Leipzig, Frankfurt oder München, wurden die Haltungsbedingungen relativ positiv bewertet, während 60 Prozent der Einrichtungen nicht einmal brave bundesministerielle Leitlinien erfüllen. Deren im Jahre 2014 verabschiedete Neufassung wurde vom Verband der Zoodirektoren ziemlich systematisch ausgehöhlt, trotz deutlicher Proteste etwa der ‚Gesellschaft für Primatologie‘, in der die mit Affen arbeitenden Wissenschaftler organisiert sind. Ohne Zweifel wird bei zahlreichen Verantwortlichen erheblicher Sinneswandel nötig sein, um die oft katastrophalen Haltungsbedingungen entscheidend zu verbessern. Zoos mit Menschenaffen müssen ihre Haltungspraxis jedenfalls zunehmend rechtfertigen. Denn schließlich werden hier hochintelligente und sensible Kreaturen hinter Schloss und Riegel gehalten – damit wir uns an ihnen ergötzen können. Alle anderen Argumente wurden nachgeschoben, als sich die öffentliche Wahrnehmung zu wandeln begann – speziell jene, dass Zoos sich für den Erhalt von Populationen in der Wildnis engagieren. Die hierfür bereitgestellten Mittel machen jedoch bestenfalls einen kleinen Bruchteil des Gesamtetats aus. Zweifellos können solche Mittel da und dort Gutes bewirken. So ist es dem Frankfurter Zoo hoch anzurechnen, dass dessen damaliger Direktor Bernhard Grzimek die Schaffung von Nationalparks in Ostafrika entscheidend vorantrieb – Stichwort ‚Serengeti darf nicht sterben‘.57 Auch meine eigene wissenschaftliche Freilandforschung und der damit verknüpfte Habitatschutz wären ohne finanzielle Unterstützung von Zoos nicht möglich.58
56 C. Goldner, „Überwindung der Trennlinie zwischen Mensch und Tier“, in: P. Cavalieri, C. Goldner, P. Singer, M. Schmidt-Salomon, V. Sommer, Grundrechte für Menschenaffen, Schriftenreihe der Giordano-Bruno-Stiftung, Bd. 4, Aschaf fenburg 2011, S. 25-36. 57 B. Grzimek, M. Grzimek, Serengeti darf nicht sterben. 367.000 Tiere suchen einen Staat, Frankfurt a. M. 1959. 58 Vgl. (http://www.ucl.ac.uk/gashaka), zuletzt abgerufen am 04.12.2015.
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Ich meine überdies, dass ein Leben in Gefangenschaft durchaus erträglich sein kann – wenn nicht sogar ein Lebensstil, den Menschenaffen zuweilen freiwillig wählen würden. Zumindest in sogenannten ‚gut geführten‘ Zoos. Denn hier fallen viele Gefahren weg – etwa Raubkatzen, marodierende Artgenossen, Hunger, Krankheit und Todesstürze aus den Baumkronen. Überdies dürften Menschenaffen, die in einem Haushalt oder in engem Kontakt mit Menschen aufwachsen, deren Gesellschaft der von Artgenossen vermutlich vorziehen. Interessant ist der Fall von Lucy, einer Schimpansin, die in den USA in einer Menschenfamilie aufwuchs, wo ihr eine Zeichensprache beigebracht wurde. Ihre Zieheltern brachten sie als junge Erwachsene nach Afrika zurück, damit sie ein Leben in der Wildnis erlernen könne – wie ein ‚richtiger‘ Schimpanse. Lucy fühlte sich dort jedoch, nahe ihren ‚barbarischen‘ Artgenossen, allein und verloren. „Go home“, signalisierte sie mit ihren Händen: „Ich will nach Hause“.59 Zudem dürfte bald die traurige Situation eintreten, dass mehr Menschenaffen in Gefangenschaft leben als in der Wildnis. In Herkunftsländern bevölkern bereits Hunderte von Gorillas und Bonobos und Abertausende Schimpansen und Orang-Utans meist provisorische Auffangstationen.60 Diese Menschenaffen kamen entweder auf Umwegen als Babys in die Stationen, nachdem ihre Gruppen und Mütter von Buschfleisch-Jägern massakriert wurden. Oder sie sind Strandgut, das bei der Zerstörung ihrer Habitate anfällt. Denn diese schrumpfen unter jener strukturellen Gewalt, die von Bewohnern der Nordhalbkugel ausgeht: Weil ich mit Flugzeugen fliege, deren Treibstoff im Nigerdelta erpumpt wurde – wofür Schimpansen weichen mussten; weil ich dies mit einem Computer schreibe, der ohne Coltan nicht funktionieren würde – ein Erz, für das Tausende von Gorillas abgeschlachtet werden, um Minenarbeiter im Ostkongo mit Fleisch zu versorgen; weil ich mich mit Seife wasche,
59 Vgl. R. Fouts, S. T. Mills, Next Of Kin: What My Conversations With Chim panzees Have Taught Me About Intelligence, Compassion And Being Human, London 1997; deutsch: Unsere nächsten Verwandten. Von Schimpansen lernen, was es heißt, ein Mensch zu sein, München 1998. 60 N. Hughes, N. Rosen, N. Gretsky, V. Sommer, „Will the Nigeria-Cameroon chimpanzee go extinct? Models derived from intake rates of ape sanctuaries“, in: V. Sommer, C. Ross (Hrsg.), Primates of Gashaka. Socioecology and Con servation in Nigeria’s Biodiversity Hotspot, New York 2011, S. 493-523.
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die Palmöl enthält – das aus riesigen Plantagen stammt, für die Heimatwälder der Orang-Utans gerodet wurden.61 Was soll geschehen mit diesen Entwurzelten und Waisen – und was mit jenen, denen ein glücklicherer Zufall ein Leben hinter Gittern in einem modernen Zoo beschert hat? Euthanasie sollte sich von selbst verbieten. In die ursprüngliche Freiheit der Tropen wird höchstens ein Bruchteil überführt werden können – weil Freigelassene für Menschen gefährlich wären und die meisten Habitate zerstört sind.62 Ein Vorschlag ist, sie in möglichst vielköpfigen Kolonien zusammenzuführen, etwa auf klimatisch geeigneten Inseln oder weiträumigen ‚Frei‘-Gehegen. Solche Maßnahmen werden enorme Geldmittel und politischen Willen erfordern. Viele der heute in Zoos und Stationen Untergebrachten werden 50, 60, ja 70 Jahre lang leben – und weitere Gefangene in die Welt setzen. Eine Alternative wäre, Geburtenkontrolle einzuführen, bis die letzten verstorben sind. Das fordert etwa Christophe Boesch, Freilandforscher und Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. In einem Interview mit dem National Geographic äußert er sich so: „Es gibt gute und es gibt schlechte Gefängnisse, sie bleiben Gefängnisse. Frankfurt und Leipzig sind Luxuszoos, aber Gefangenschaft für Menschenaffen bleibt erniedrigend. Deshalb ist es falsch, dass man das Problem ungelöst lässt, indem man die Reproduktion erlaubt. Empfängnisverhütung ist hier das einzig Richtige“.63 Das würde allerdings das Gruppenleben erheblich einschränken – denn es gäbe keine Babys, Kleinkinder oder Heranwachsenden mehr. Ein solches Gefangenschaftsleben 61 S. A. Wich, J. Garcia-Ulloa, S. Hjalmar T. H. Kühl, J. S. H. Lee, L. P. Koh, „Will oil palm’s homecoming spell doom for Africa’s great apes?“, in: Current Biology, 24/2014, S. 1659-1663. 62 J. Caldecott, V. Miles (Hrsg.), World Atlas of Great Apes and their Conservation, Los Angeles 2005; S. Tranquilli, M. Abedi-Lartey, K. Abernethy, F. Amsini, L. Arranz, A. Asamoah, C. Balangtaa, N. Barakabuye, S. Blake, E. Bouanga, T. Breuer, T. Brncic, G. Campbell, R. Chancellor, C. A. Chapman, T. Davenport, A. Dunn, J. Dupain, A. Ekobo, G. Etoga, T. Furuichi, S. Gatti, A. Ghiurghi, C. Hashimoto, J. Hart, T. Hart, J. Head, M. Hega, I. Herbinger, T. C. Hicks, L. H. Holbech, B. Huijbregts, H. S. Kühl, I. Imong, S. Le-Duc Yeno, J. Linder, P. Marshall, J. Mba Ayetebe, P. Minasoma, D. Morgan, L. Mubalama, P. N’Goran, A. Nicholas, S. Nixon, E. Nku Manasseh, E. Normand, L. Nziguyimpa, Z. Nzooh-Dongmo, R. Ofori-Amanfo, B. G. Ogunjemite, C. Petre, H. Rainey, S. Regnaut, O. Robinson, A. Rundus, C. Sanz, D. Tiku Okon, A. Todd, Y. Warren, V. Sommer, „Protected areas in tropical Africa: Assessing threats and the impact of conservation ac tivities“, in: PLoS ONE, 9(12)/2014, S. 1-21. 63 Zitiert in J. Nakott, „Wie du und ich“.
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wäre noch trister, als es oft ohnehin schon ist. Doch vielleicht wäre das, was als ‚managing the population to extinction‘ bezeichnet wird, schlussendlich wünschenswerter, als um missverstandenen Artenschutzes willen und zu unserer Ergötzung hochsensible Kreaturen auf immer und ewig einzusperren. Denn mehr als traurige Karikaturen ihrer wildlebenden Vorfahren werden sie dabei kaum darstellen können. Diese Dilemmata könnten und sollten gerade von jenen Tierpflegern und Zoomanagern wahrgenommen werden, von denen sich nicht wenige durch das GAP ‚bedroht‘ fühlen. Denn es wären ja speziell diese Berufsklassen, deren Expertise für die zukünftige Lösung oder zumindest Verbesserung der Gefangenschaftssituation gefragt wäre. Die geschilderten Sachzwänge sorgen jedenfalls dafür, dass es auch in Zukunft eine große – oder sogar zunehmend größere – Population gefangener Menschenaffen geben wird. Der Berufsstand der Tiergärtner ist deshalb keineswegs eine bedrohte Art. Auf dem Hintergrund würde es diesen Profis gut anstehen, sich auch mit der grundsätzlichen Frage auseinanderzusetzen, ob das Einsperren von Menschenaffen weiterhin zeitgemäß ist – und ob ihnen ein Status als Personen zukommt.
Progressive Widerworte: Alle fühlenden Wesen sind gleich zu behandeln Wenden wir uns nun jenen Vorbehalten zu, die aus dem Camp der Tierrechtler selbst kommen – speziell jener Frage, wieso gerade Menschenaffen Sonderrechte zustehen sollen. 1. Stichwort Anthropozentrismus. – Einwand: Das Great Ape Project ersetzt ‚Anthropozentrismus‘ durch ‚Hominidismus‘. Denn wieso sollen Grundrechte nicht auch für andere Tierformen gelten? – Erwiderung: Das GAP ist bewusst pragmatisch – versteht sich aber als Türöffner für weitergehende Forderungen. Der Einwand ist durchaus ernst zu nehmen. Die traditionelle Grenzlinie wurde zwischen Menschen und allen anderen Tieren gezogen, während das GAP Rechte für lediglich die Mitglieder der Familie Hominidae fordert. Das Einbeziehen von Menschenaffen in die Rechtsgemeinschaft verschiebt damit lediglich den Zaun – und trennt menschliche und nicht-menschliche Hominiden auf der einen https://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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Seite von allen übrigen Tieren auf der anderen. Wie kann das mit dem Prinzip der gleichen Berücksichtigung von Interessen kompatibel sein? Orthodoxe Tierrechtler werfen dem Great Ape Project jedenfalls vor, auf das Moralgefühl der ‚Masse‘ zu reagieren. Speziesismus käme sogleich durch die Hintertür wieder herein, solange Themen wie unser Fleischessen und industrielles Massentöten von Tieren ausgeklammert bleiben.64 Diese Vorbehalte verdeutlichen den ideologischen Graben zwischen Protektionismus (demzufolge auch kleinschrittige Reformen in unserem Verhältnis zu Tieren zu begrüßen wären) und Abolitionismus (demzufolge Tierschützer ein öffentliches Wohlfühlen erzeugen, das zum Ausblenden von Grundsatzfragen und damit einer Perpetuierung des Massenleidens führt). Allerdings muss die praktische Frage erlaubt sein, ob Speziesismus sich tatsächlich nur nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip überwinden lässt. Die Vergangenheit lehrt jedenfalls, dass Fort-Schritt genau so erfolgte: Schritt um Schritt. Die Tierrechtlerin Franziska Brunn räumt angesichts dessen frustriert ein: „Mag sein, dass es auch diesmal so eintreten wird. Deshalb wird es nicht richtiger“.65 Vielleicht hat Brunn recht, vielleicht nicht. Zumindest für mich steht intuitiv außer Frage, dass alle Großen Menschenaffen Personen sind. Obwohl ich auch jahrelang mit Gibbons, den Kleinen Menschenaffen, im Urwald unterwegs war und ebenso mit Affenarten wie Pavianen und Languren, lösen diese Primaten bei mir nicht das gleiche Engagement aus. Und weil ich mit dem GAP genug zu tun habe, klammere ich weitergehende Fragen zunächst aus – auch wenn das inkonsequent ist. Der genannte österreichische Tierrechtsaktivist Martin Balluch hält Pragmatismus ebenfalls für angebracht – und ihm ist Inkonsequenz kaum vorzuwerfen. Der Veganer und Obmann des Vereins gegen Tierfabriken wurde 2008 im Zuge der sogenannten ‚Tierschutzcausa‘ wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Organisation monatelang in Untersuchungshaft eingesperrt und anschließend jahrelang gerichtlich verfolgt – bis 2011 ein Freispruch erfolgte. Balluch plädiert dafür, zwischen Fachdiskursen innerhalb der Tierrechtsbewegung und Stellungnahmen nach außen zu unterscheiden. Denn ethische Argumente weit abseits vom gesellschaftlichen Konsens (beispielsweise hinsichtlich veganer Ernäh64 S. Walden, „Privilegien für Menschenaffen?“, in: Tierbefreiung, 56/2007, S. 6-9. 65 F. Brunn, „Wer wie wir ist, bekommt Rechte?! Eine kritische Betrachtung des Great Ape Projects“, in: Tierbefreiung, 56/2007, S. 10-14.
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rung) würden in der breiten Bevölkerung lediglich zu Befremdung und Voreingenommenheit führen. Deshalb seien auch TierschutzDiskussionen abseits tierethischer Maximalforderungen geeignet, das öffentliche Problembewusstsein zu schärfen und weiter zu entwickeln.66 Insofern ist zu hoffen, dass die Debatte um Rechte für Menschenaffen tatsächlich die zitierte Funktion als ‚Türöffner‘ haben wird und damit letztlich allen Tieren – menschlichen wie nichtmenschlichen – zugutekommt. Überdies gilt: Wer sich stark machen will für Rechte von Haustieren, Nutztieren, Rhesusaffen oder Papageien, kann und soll das tun. Parallel zur GAP-Philosophie hat sich eine entsprechende Lobby beispielsweise bereits für Wale und Delfine formiert – unter Beteiligung von Paola Cavalieri –, ebenso wie für Elefanten – unter Beteiligung des britischen Tierschützers Ian Redmond.67 Zudem ist es nicht ganz korrekt, dass der spezielle Einsatz für Menschenaffen nur durch Pragmatismus genährt wird. Denn diese Primaten, so der Tierrechtler und Koordinator des GAP in Deutschland, Colin Goldner, stellen „den Dreh- und Angelpunkt des Verhältnisses Mensch-Natur dar, sie definieren wie nichts und niemand sonst die sakrosankte Grenzlinie zwischen Mensch und Tier“. Blieben aber unsere nächsten Verwandten „auf der anderen Seite“ festgeschrieben, wären das mit ihnen alle übrigen Tiere.68 Genau hier offenbart sich der wesentliche Unterschied zwischen traditionellem Humanismus, der Menschen in unauflösbarer Dichotomie zu Tieren sieht, und evolutionärem Humanismus.69 Denn der revolutionäre Gedanke der Evolutionstheorie war ja gerade die Erkenntnis, dass wir mit allen anderen Lebewesen verwandt sind durch einen nie unterbrochenen Strom von Generationen. 2. Stichwort Kognitivismus. – Einwand: Speziesismus sollte nicht mit Kognitivismus bekämpft werden – mithin keine Wesen bevorzugen, bloß weil sie ähnlich wie Menschen denken. – Erwiderung: 66 M. Balluch, Widerstand in der Demokratie, Wien 2009. 67 Helsinki Collegium for Advanced Studies, „Cetacean Rights: Fostering Moral and Legal Change“, University of Helsinki (http://www.cetaceanrights.org/con ference.php), zuletzt abgerufen am 01.01.2010. 68 C. Goldner, Lebenslänglich hinter Gittern. Die Wahrheit über Gorilla, Orang Utan & Co in deutschen Zoos. 69 M. Schmidt-Salomon, Manifest des Evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 2006.
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Die Pionier-Initiative GAP hindert niemanden, für diese Einsicht zu werben. Die Tierrechtlerin Franziska Brunn klagt, es ginge beim GAP „nicht um die Tiere in den Menschenaffen, es geht um das große Stück Menschlichkeit in ihrem Aussehen und in ihrem Verhalten“.70 Insofern würden es andere Tierformen stets schwerer haben, entsprechend wahrgenommen zu werden. Denn wie klug Delfine, Wale oder Wölfe sein mögen, sie lösen nicht wie Primaten eine Emotion der Verbundenheit aus. (Anmerkung: Frappierende äußerliche Ähnlichkeit kann allerdings auch zu impulsiver Zurückweisung führen, wenn nicht-menschliche Primaten als ‚karikierte Menschen‘ wahrgenommen werden.) Frans de Waal gehört zwar zu jenen Primatologen, die eine eher gradualistische Position einnehmen, also mehr die fließenden Übergänge statt harter Grenzen zwischen Menschen und anderen Arten betont. Gleichwohl hält er Nabelschau für logisch inkonsistent: „Wenn Rechte proportional mit der Anzahl menschenähnlicher Eigenschaften einer Spezies zunehmen, kann man sich nur schwer der Schlussfolgerung entziehen, die Menschen selber könnten am meisten Rechte für sich beanspruchen“.71 In der Tat sind bestimmte Rechte auf spezifische Interessen von Menschen zugeschnitten, vom Wahl- bis zum Bildungsrecht. Zudem werden im Sinne positiver Diskriminierung manchen Menschengruppen Privilegien eingeräumt, etwa durch Frauenquoten oder wenn in Indien der Zugang zur Universität für Mitglieder benachteiligter Kasten (‚scheduled casts‘) vereinfacht ist. Insofern existieren auch innerhalb der Kategorie ‚Mensch‘ Individuen, die über mehr Rechte als andere verfügen. Sensibilität für spezifische Situationen oder Bedürfnisse verunmöglicht allerdings keineswegs, generelle Grundrechte wie die auf Leben und Freiheit universell zu konzipieren. Dennoch: Wer Menschenaffen priorisiert, und als nächstes Elefanten und Walen um ihrer Intelligenz willen die Türe in eine privilegierte Welt öffnet, propagiert Kognitivismus – weil jene Tiere bevorzugt werden, deren Denken dem unseren ähnelt. Der englische Philosoph Jeremy Bentham wies das bereits 1789 vehement zurück. Leicht paraphrasiert lautet Benthams berühmter Satz: „Die 70 F. Brunn, „Wer wie wir ist, bekommt Rechte?!“ 71 F. de Waal, Der gute Affe, München 2000; Erstausgabe: Good Natured. The Origins of Right and Wrong in Humans and Other Animals, Cambridge (MA), London 1996.
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Frage ist nicht: ‚Kann das Tier denken?‘ Sondern: ‚Kann das Tier leiden?‘“.72 Benthams pathozentrische Ethik (griechisch ‚pathein‘, leiden) fordert, allen empfindungsfähigen Lebewesen ein Verfügungsrecht am eigenen Leib und Selbstbestimmung zuzusprechen. Dieser Sentientismus – auch als ‚Sentiozentrismus‘ oder unter Bezug auf Schmerzempfindlichkeit als ‚painism‘ bezeichnet73 – ist sicherlich ein tragfähigeres Fundament für eine moderne TierrechtsPhilosophie, als der Kognitivismus. Gewiss, wer sich für das Teilziel GAP engagiert, mag träge werden und das milliardenfache Leid ausblenden, das mit Massenproduktion von Nutztieren und Qualzucht von Haustieren einhergeht. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass jene, die Grundrechte für Menschenaffen fordern und dabei deren menschenähnliche Denklandschaften als Argument anführen, abstumpfen werden hinsichtlich umfassenderer Probleme. Eher ist das Gegenteil zu vermuten. 3. Stichwort Ökonomisierung. – Einwand: Individuelle ‚Rechte‘ zementieren kapitalistische Wirtschaftsprozesse und propagieren Eigennutz statt Systemänderung. – Erwiderung: Auch ein ‚falscher‘ Weg kann zu einem ‚richtigen‘ Ergebnis führen. Laut Karl Marx dient das Konzept von ‚Rechten‘ den Besitzenden – die sich so Eigentum gegenüber Besitzlosen sichern. Folgen wir dieser Logik, dann wären Rechte für Menschenaffen rückschrittlich, weil der Dualismus Mensch-versus-Tier ersetzt wird durch Gleich-versus-Ungleich. Um den Kreis der neu Berechteten werden frische Zäune errichtet. Die Zuschreibung von Rechten an Einzelne spiegelt also eine Privatisierung wider. Dadurch wird selbst das Miteinander schlussendlich ökonomisiert und kommerzialisiert. Es kommt zur Kommodifikation, bei der alles zur Ware und wirtschaftlich verwertbar wird.74 Im Diskurs um sexuelle Selbstbestimmung wird oft argumentiert, dass Homosexualität oder Bisexualität manifeste sexuelle Orientierungen sind, und dass Angehörige solcher Kategorien anzuerkennende Minderheiten seien. Damit gehen bestimmte Rechte und ökonomische Vorteile einher. Wer sie wahrnehmen will, muss sich 72 Zitiert in L. Gruen, „The moral status of animals“. 73 R. Ryder, Speciesism, Painism and Happiness, Exeter 2011. 74 U. Schimank, U. Volkmann (Hrsg.), The Marketization of Society: Economizing the Non-Economic (Forschungsverbund „Welfare Societies“, Universität Bre men) Bremen 2012; vgl. auch F. Brunn, „Wer wie wir ist, bekommt Rechte?!“
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mithin automatisch dem dominierenden politischen und legalen Rahmen von Heteronormativität bzw. sexueller Diversität unterordnen. Keinen legalen Schutz finden sexuelle Präferenzen – etwa Polyamory –, die fluide sind, sich mithin einer Essentialisierung verweigern und damit schlecht in kategoriale Schubladen passen. Viele Menschen bezeichnen sich also als schwul oder lesbisch, weil dieses Identitäts-Narrativ erlaubt, über das Werkzeug des strategischen Essentialismus weniger Diskriminierung zu erfahren und an den für anerkannte Minoritäten reservierten Privilegien zu partizipieren.75 Ganz ähnlich orientiert sich die Forderung nach Rechten für Menschenaffen am dominanten Diskurs der Menschenrechte. Sollten aber moralische Überlegungen nicht besser politische Machtstrukturen hinterfragen und sich an sozialen Dimensionen orientieren? Entsprechend meint der ökologische Feminismus, die Logik der Herrschaft, wie sie sich im traditionellen Mann-Frau-Verhältnis manifestiert, würde auch die Separierung von Mensch und Tier untermauern. Der Kategorie ‚Mensch‘ einige andere Kreaturen zuzuschlagen, verschiebt die Grenze lediglich ein wenig. Weil aber niemand frei ist, wenn nicht alle frei sind, müsse Emanzipation angestrebt werden auf einer ökosystemischen Ebene.76 Derlei ‚romantische‘ Gedanken berühren mich durchaus. Wenn ich Zeit in Regenwäldern der Tropen verbringe – was über Jahre hinweg und durch Jahrzehnte hindurch zu meinem Leben gehört –, empfinde ich dieses wundervolle Universum von Biodiversität intuitiv in holistischer Dimension.77 Wird ein Mahagoni herausgesägt, wird ein Gorilla herausgefangen, wird ein Bienennest herausgehackt, dann verletzt das die Autonomie des Ganzen. Somit haftet der Idee von ‚Rechten‘ für eine winzige Minderheit von Organismen gleichfalls etwas Separierendes und Zerstückelndes an. Der intellektuelle Horizont des vorliegenden Essays beschränkt sich damit klar auf ‚westliche‘ Denke und Weltanschauung. Die Kategorie der Person ist implizit und explizit ein Mittel der Unterscheidung – zwischen dem Selbst und dem Anderen. Die Strukturdynamik von ‚othering‘ oder ‚alterity‘ (um sozialanthropologischen Jargon zu benutzen) mag in anderen Kulturkreisen nicht oder sehr 75 C. Klesse, „Polyamory: Intimate practice, identity or sexual orientation?“, in: Sexualities, 17/2013, S. 81-99. 76 G. Gaard (Hrsg.), Ecofeminism: Woman, Animals, Nature, Philadelphia 1993. 77 V. Sommer, Das grüne All. Ein Poem aus dem Regenwald, Stuttgart 2002.
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anders existieren. Hingewiesen sei auf indigene Ethnien in Südamerika, denen die in uns tief verankerten Dualismen von Selbst/Andere oder Körper/Seele fremd zu sein scheinen, und für deren Weltanschauung Anthropologen deshalb Begriffe benutzen wie ‚Perspektivismus‘, ‚transspecies engagement‘ oder ‚Transformabilität‘.78 Dennoch hat auch ein solch integrales Gewebe blutige und grausame Dimensionen. Viele Bewohner Westafrikas zweifeln nicht, dass Menschenaffen eigentlich Menschen sind. Zahlreiche Narrative erläutern, warum sie als Schimpansen im Wald leben.79 Da gibt es jene, die Gottes Gebot missachteten und am Feiertag fischen gingen; andere benutzten widerrechtlich die Kalabasse ihrer Schwiegermutter; die dritten stritten sich, bis sie es vorzogen, nicht mehr mit Menschen zu reden; wieder andere waren stur im Umgang und leben lieber abseits im Busch. Schimpansen werden auch Hebammenkünste zugeschrieben und man glaubt, dass die starken Menschenaffen im Krieg mit Nachbarstämmen helfen können. Solche Menschenähnlichkeit ist aber Segen und Fluch zugleich. Zwar mag die Jagd dadurch teilweise tabuisiert werden. Andererseits heizen magische Potenzen Tötungen geradezu an. So werden gebrochene Extremitäten mit Schimpansenknochen geschient, um das Heilen zu beschleunigen. Eine Mixtur aus zerriebenen Knochen wird Kindern verabreicht, damit ihr Skelett stark wird, sowie Ringkämpfern, die dadurch schwer besiegbar werden. Schulpflichtige trinken aus der Schädelkalotte eines Schimpansen, was sie klug machen soll. In manchen Dörfern schließlich werden Feiern zu Ehren eines Schimpansentöters abgehalten – ähnlich jenen Zeremonien, die einen Krieger glorifizieren, der einen Widersacher in der Schlacht vernichtete. Obwohl speziell Peter Singer um eine lückenlos logische Begründung bemüht ist,80 haftet dem Great Ape Project mit seiner in-
78 E. Kohn, „How dogs dream: Amazonian natures and the politics of transspe cies engagement“, in: American Ethnologist, 34/2007, S. 3-24; V. E. Grotti, M. Brightman, „Humanity, personhood and transformability in Northern Amazo nia“, in: M. Brightman, V. E. Grotti, O. Ulturgasheva (Hrsg.), Animism in Rain forest and Tundra: Personhood, Animals and Non-Humans in Contemporary Amazonia and Siberia, Oxford 2012, S. 162-174. 79 G. Nyanganji, A. Fowler, A. McNamara, V. Sommer, „Monkeys and apes as ani mals and humans Ethno-primatology in Nigeria’s Taraba region“, in: V. Som mer, C. Ross (Hrsg.), Primates of Gashaka. Socioecology and Conservation in Nigeria’s Biodiversity Hotspot, New York 2011, S. 101-134. 80 P. Singer, Practical Ethics.
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dividualistischen Ausrichtung bei detaillierter Hinterfragung durchaus etwas von ‚quick-and-dirty‘ an. Dennoch glaube ich, mich dabei für Richtiges und Gutes zu engagieren. Selbst die GAP-skeptische Tierrechtlerin Sina Walden meint, dass sich rückblickend kaum entscheiden lässt, was bei flächendeckenden, moralisch relevanten Veränderungen den Ausschlag gab. Führten ökonomische Interessen der USA-Nordstaaten zur Befreiung der Sklaven in den Südstaaten? Oder war ‚die Zeit reif‘ für solche Ideen? Oder war es die ‚Stimmung‘, die von einem herzbewegenden Buch wie Onkel Toms Hütte ausging? Sina Walden resümiert deshalb: „Der ‚falsche‘ Weg kann zum guten Ergebnis führen, der ‚richtige‘ ins Nichts – oder umgekehrt“.81 Ich zumindest bin gespannt. Ein abschließender Vorbehalt bezieht sich auf das 4. Stichwort: Illusionismus. – Einwand: Extreme Tierrechts-Forderungen sind politisch nicht durchsetzbar. – Erwiderung: Anti-Diskriminierungs-Kampagnen brauchen oft Jahrzehnte bis zu ersten Erfolgen. Als ich das Thema der Personenrechte für Menschenaffen vor etwa zehn Jahren erstmals in Vorträgen und Interviews ansprach, waren Publikum und Gesprächspartner oft perplex – nach dem Motto „Der Affenforscher war wohl zulange allein im Wald“. Der Neustart der GAP-Kampagne im Jahre 2011 traf auf eine veränderte Stimmungslandschaft. Bei öffentlichen Diskussionen merke ich nun eine immense Neugier, sich mit der Grundrechtsfrage zu beschäftigen – vielleicht, weil sie intellektuell herausfordert und weil Rückkopplung mit einer spannenden und populären Wissenschaftsdisziplin wie der Verhaltensbiologie ein Trumpf ist. Überdies verkörpern Gorilla & Co. Sympathieträger ersten Ranges. Schließlich und endlich müsste auch niemand durch den Totalschutz unserer Verwandten seinen alltäglichen Lebensstil ändern – anders als beim Thema Vegetarismus. Eine offensichtliche Parallele ist jedenfalls verheißungsvoll. Denn bis in die jüngste Vergangenheit hinein erschien es in disparaten kulturellen Kontexten als komplett absurd, dass etwa Muslime, Sklaven, Homosexuelle, ‚Indianer‘, Frauen, ‚Neger‘, Kinder oder Juden irgendwelche Rechte haben sollten. Wer hätte vor 20 Jahren geglaubt, dass gleichgeschlechtliche Paare heiraten und Kinder ad81 S. Walden, „Privilegien für Menschenaffen?“
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optieren dürfen? Und dass dies heute in mehr und mehr Nationen zum sozialen Konsens gehört? Das GAP hat bereits mehrere Entwürfe von Gesetzen angeregt, auch wenn die nicht oder nur halbherzig umgesetzt wurden. Die Neuregelungen beziehen sich zudem gewöhnlich auf ein Verbot biomedizinischer Experimente – wie etwa in Neuseeland (1999), Österreich (2005) oder Spanien (2008) –, während der ‚Rechtsgedanke‘ eine eher untergeordnete Rolle spielt.82 Doch auch vormalige Anti-Diskriminierungs-Bewegungen brauchten langen Atem.
Jenseits der Einwände: Die Zukunft versuchen Im Mai 2014 lud das GAP in Berlin zu einer Pressekonferenz ein, um einen beim Petitionsausschuss des Bundestages eingereichten Text Nr. 51830 vorzustellen. Wortlaut: „Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass Große Menschenaffen als Rechtspersonen anerkannt werden. Hierzu soll Artikel 20a GG ergänzt werden durch: ‚Das Recht der Großen Menschenaffen auf persönliche Freiheit, auf Leben und körperliche Unversehrtheit wird geschützt.‘“ Wo sonst oft mehr Einladende sitzen als Journalisten, war der Saal überfüllt. Die Veranstaltung schlug hohe Wellen. Der Spiegel, ZDF heute, Südwestrundfunk, Die Welt, GEO, Die Morgenpost, Tina, Cicero und als Adelsschlag eine 5-seitige Titelgeschichte in Die ZEIT – zahllose Medien berichteten mehr oder weniger wohlwollend.83 Das Thema ‚Grundrechte für Menschenaffen‘ gehört somit im deutschsprachigen Raum mittlerweile zur Substanz politischer und intellektueller Debatten. Es wird stetig schwieriger, jene als Spinner abzutun, die sich für den Gedanken einsetzen, dass unsere allernächsten Verwandten Personen wie Du und Ich sind. Daran ändert auch die vorläufige Ablehnung der Petition durch den Ausschuss des Deutschen Bundestages nichts. Begründung: „Die Grundrechte (Artikel 1 bis 19 Grundgesetz) sind natürlichen Personen vorbehalten und erstrecken sich nicht auf alle Lebewe82 Siehe die Dokumentation des Falles unter (http://nonhumanrightsproject.org), Suchbegriff: „Tommy“, zuletzt abgerufen am 04.12.2015; vgl. S. Wise, Rattling the Cage: Toward Legal Rights for Animals, Cambridge (Mass.) 2000. 83 Pressespiegel in (http://www.greatapeproject.de), zuletzt abgerufen am 04.12. 2015.
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sen. Auch wenn von einer hohen genetischen Übereinstimmung von großen Menschenaffen und Menschen ausgegangen werden kann, handelt es sich bei diesen Affen um Tiere.“ Moment mal: „… handelt es sich um Tiere …“ – das war doch gerade der springende Punkt, oder? Nun ja, Einspruch ist eingelegt, und die Ablehnung bewirkt gesteigerte Publicity für die Sache … Ein bekennender Menschenaffe wie ich wagt indes zu hoffen, dass meine Nachfahren – wie es ein Mitstreiter, der Philosoph Michael Schmidt-Salomon formulierte – auf den Speziesismus unserer Tage mit der gleichen Fassungslosigkeit zurückblicken werden, mit dem wir heute auf vormaligen Rassismus und Nationalismus schauen.84 PS: Im Dezember 2014 lehnt es ein Gericht in den USA ab, einem Schimpansen Grundrechte zuzusprechen.85 In der Begründung wird behauptet, dass Menschenaffen keine Personen seien („So far as legal theory is concerned, a person is any being whom the law regards as capable of rights and duties. Needless to say, unlike human beings, chimpanzees cannot bear any legal duties, submit to societal responsibilities or be held legally accountable for their actions“).86 PPS: Während ich diese Zeilen schreibe, spricht im Dezember 2014 ein Gericht in Argentinien der seit Jahrzehnten im Buenos Aires Zoo eingesperrten Orang-Utan-Frau ‚Sandra‘ Rechte zu, die ihren Status als „nicht-menschliche Person“ anerkennen.87 Als Konsequenz muss der Zoo sie in eine weitläufigere Schutzstation überführen. Ein kleiner, zu kleiner Sieg von Tierrechtlern? Vielleicht. Doch wenn wir auf andere Emanzipationsprozesse zurückblicken, gewannen auch sie oft über ‚Einzelfälle‘ an Dynamik. Genannt seien hier Lord Mansfields Freisprechung des ‚Negersklaven‘ James Somerset in Großbritannien (1772); das Urteil gegen Rosa Parks, 84 M. Schmidt-Salomon, „Grundrechte für Menschenaffen“, in: P. Cavalieri, C. Goldner, P. Singer, M. Schmidt-Salomon, V. Sommer, Grundrechte für Men schenaffen, Schriftenreihe der Giordano-Bruno-Stiftung, Bd. 4, Aschaffenburg 2011, S. 7-13. 85 Siehe die Dokumentation des Falles unter (http://nonhumanrightsproject.org), Suchbegriff: „Tommy“, zuletzt abgerufen am 04.12.2015; vgl. S. Wise, Rattling the Cage: Toward Legal Rights for Animals. 86 BBC News, „US chimpanzee Tommy ‚has no human rights‘-court“ (http://www. bbc.co.uk/news/world-us-canada-30338231), zuletzt abgerufen am 04.12.2014. 87 BBC News, „Court in Argentina grants basic rights to orangutan“ (http:// www.bbc.co.uk/news/world-latin-america-30571577), zuletzt abgerufen am 21. 12.2014.
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die sich in Selma, Alabama, geweigert hatte, ihren Sitz im Bus für weiße Passagiere frei zu machen (1955); die Grundsatzentscheidung zur Abtreibung in den USA, ausgefochten für Norma McCorvey alias Jane Roe (1973); oder der Rechtsfall, mit dem Edith Windsor in den USA erfolgreich dagegen klagte, dass ‚Heirat‘ und ‚Ehepartner‘ Institutionen sind, die ausschließlich für Heterosexuelle gelten (2013). Vielleicht ist der Fall Sandra also ein neuerlicher „crack in the wall“,88 jener Riss, dem alsbald der Fall einer Mauer folgt.
88 Vgl. P. Singer, In Defense of Animals, New York 1985.
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Autorinnen und Autoren
Andreas Aigner studierte Psychologie und absolvierte eine Ausbildung zum Klinischen- und Gesundheitspsychologen. Er ist Doktorand an der Universität Wien und wissenschaftlicher Mitarbeiter (FWF-Projekt) am Messerli Forschungsinstitut der Veterinärmedizinischen Universität Wien, Universität Wien und Medizinischen Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen grundlagenorientierte Tierethik und Psychoanalyse. Zu seinen Pub likationen gehören: „Die Tiere der Psychologie“, in: R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch (2016, S. 298307); (mit H. Grimm, S. Camenzind), „Tierethik“, in: R. Borgards (Hrsg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch (2016, S. 78-97). Arianna Ferrari ist Forschungsbereichsleiterin und Senior Wissenschaftlerin am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT in Karlsruhe. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Tierethik, Human-Animal Studies und Technikphilosophie. Ihre letzte Publikation ist die Ko-Herausgeberschaft (mit K. Petrus) des ersten deutschen Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen (2015). Herwig Grimm ist Professor für Ethik der Mensch-Tier-Beziehung am Messerli Forschungsinstitut der Veterinärmedizinischen Universität Wien, Universität Wien und Medizinischen Universität Wien und Leiter der gleichnamigen Abteilung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen anwendungsorientierte Tierethik, ve terinärmedizinische Ethik und Pragmatismus in der angewandten Ethik. Zu seinen Publikationen gehören: Das moralphilosophische Experiment. John Deweys Methode empirischer Untersuchungen als Modell der problem- und anwendungsorientierten Tierethik (2010); (Hrsg. mit J. Ostheimer, M. Zichy), Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage nach dem Gegenstand der Angewandten Ethik (2012); „Das Tier an sich. Auf der Suche nach dem Menschen in der Tierethik“, in: K.-P. Rippe, U. Thurnherr (Hrsg.), Tierisch menschlich. Beiträge zur Tierphilosophie und Tierethik (2013, S. 51-95).
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Autorinnen und Autoren
Hans Werner Ingensiep ist Professor für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Biophilosophie, der Bioethik und der Wissenschaftsgeschichte der Biologie. Neuere Publikationen: (mit H. Baranzke), Das Tier (2008); Der kultivierte Affe (2013); (Hrsg.), Das Tier in unserer Kultur (2015). Ute Knierim ist Professorin für Nutztierethologie und Tierhaltung an der Universität Kassel und dort auch Mitglied im LOEWE-Schwerpunkt ‚Tier-Mensch-Gesellschaft‘. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen methodische Fragen der Tierwohlbeurteilung ebenso wie die Analyse des Einflusses von Haltung und Management auf Verhalten und Gesundheit von Nutztieren, besonders Rindern und Geflügel. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie nicht-kurative Eingriffe vermieden und Strategien zur Verbesserung des Tierwohls etabliert werden können, wobei die Zusammenarbeit mit Europäischen KollegInnen und anderen Disziplinen eine wichtige Rolle spielt. Zu den genannten Themen wirkt sie in einer Reihe von Gremien mit (etwa im Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz des BMEL) und ist Autorin oder Koautorin vieler Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften. Peter Kunzmann, Theologe und Philosoph ist Professor für Angewandte Ethik in der Tiermedizin an der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Gebieten der Ethik und der Angewandten Ethik, insbesondere der Bio- und Tierethik, im Bereich der Grenzfragen von Religion und Philosophie sowie der Geschichte der Philosophie. Wichtige Publikationen: Leben mit und von Tieren (2. Aufl. 2006); Die Würde des Tieres zwischen Leerformel und Prinzip (2007); (mit N. Knoepffler) Primaten – ihr moralischer Status (2011); „Tiere in Massen. Unsere Verantwortung für eine Tierhaltung der Zukunft“, in: U. Meier (Hrsg.), Agrarethik. Landwirtschaft mit Zukunft (2012, S. 211-228); „Sich wandelnde Verhältnisse zum Tier. Wandel im Tierschutz“, in: TIERethik (1/2013, S. 55-77); „Die Spannbreite der Tierethik“, in: Verkündigung und Forschung (59(1)/2014, S. 60-67). Volker Sommer ist Professor für Evolutionäre Anthropologie am University College London. Als international führender Primatologe betreibt er seit Jahrzehnten Feldforschung zur Verhaltensökohttps://doi.org/10.5771/9783495811320 .
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logie von Affen und Menschenaffen in Asien und Afrika. Sommer gehört zu den Menschenaffen-Expertengruppen der IUCN – der ‚Internationalen Union für die Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen‘ im Rahmen der UNO. Als Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung initiierte er die Kampagne ‚Grundrechte für Menschenaffen‘. Einer breiteren Öffentlichkeit ist der engagierte Natur- und Tierschützer durch Fernsehsendungen sowie seine Bücher zu darwinischen Themen bekannt, z. B. Lob der Lüge (1992); Von Menschen und anderen Tieren (2000); Darwinisch denken (2007); Schimpansenland (2008); (mit J. Hof) Menschenaffen wie wir (2010). Dirk Westerkamp ist Professor für Theoretische Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Sprachphilosophie, Ästhetik, Deutscher Idea lismus. Er ist Mitherausgeber der „Zeitschrift für Kulturphilosophie“. Jüngste Publikationen: Sachen und Sätze (2014); Ikonische Prägnanz (2015). Markus Wild ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Basel. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Tierphilosophie, die Philosophie des Geistes und die Frühe Neuzeit. Zu seinen Veröffentlichungen gehören: (Hrsg. mit D. Perler), Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Debatte (2005); Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume (2006); Tierphilosophie zur Einführung (2008); (Hrsg. mit K. Petrus), Animal Minds and Animal Ethics (2013); Tierethik zur Einführung (2016).
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