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German Pages 958 [975] Year 1950
Philosophen-Lexikon
PHILOSOPHEN-LEXIKON Handwörterbuch der Philosophie nach P e r s o n e n
V e r f a ß t und h e r a u s g e g e b e n v o n
WERNER ZIEGENFUSS und
GERTRUD JUNG
ZWEITER BAND
L-Z
W A L T E R D E G R U Y T E R & CO • B E R L I N
1950
vormals G. J, Göschensche Verlagshandlung • J, Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp.
C o p y r i g h t 1 9 5 0 b y W a l t e r d e G r u y t e r & C o . . A r c h i v - N r . 4 2 46 49 P r i n t e d in G e r m a n y G e s a m t h e r s t e l l u n g : G e r h a r d S t a l l i n g AG., O l d e n b u r g ( O l d b ) , A u g u s t 1950
L. Laas, Ernst, geb. 16. Juni 1837 in Fürstenwalde (Spree), gest. 25. Juli 1885 in Straßburg. 1872 Prof. in Straßburg. L. ist ein klarer und entschiedener Verfechter des Positivismus, den er im Gegensatz zu der platonisierenden Philosophie entwickelt. Für den Piatonismus in der Philosophie sind charakteristisch: seine mathematisierende und ontologische Denkweise, der Drang, ein Absolutes zu erfassen, sein Rationalismus, der außerhalb der sinnlichen Erfahrung Normen und Gesetze erkennen will, der Glaube an menschliche Spontaneität und schöpferische geistige Freiheit, dié Annahme eines Übersinnlichen. Demgegenüber beschränkt sich die positivistische Lehre streng auf die sinnliche Erfahrung. Von der Gegebenheit der sinnlichen Empfindung kann weder ein Bewußtsein, noch ein Ding zu selbständiger Existenz abgelöst werden. Wahrnehmungsinhalt und Bewußtsein sind untrennbar eins. Entsprechend der unablässigen Wandelbarkeit der Empfindungen sind auch die Wahrnehmungsobjekte, unter ihnen das Ich, in ständiger Wandlung begriffen. Nur die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den elementaren Agentien, die eine Projektion des Ich nach außen sind, sind konstant. Die Erkenntnisse bleiben nichts als umgeformte Wahrnehmungen. Um nun die Erkenntnis sich nicht in die jeweiligen Inhalte der Einzelbewußtseins-Iche auflösen zu lassen, nimmt L. die Beziehung aller Wahrnehmungsobjekte auf ein einziges mögliches Gesamtbewußtsein an. Das ideale Weltbild, das diesem entspricht, die Welt als die Summe der möglichen Wahrnehmungsinhalte für ein Einzelbewußtsein, will die Erkenntnis herausgestalten. S c h r i f t e n : Kants Analogien der Erfahrung, 1876. — Idealismus u. Positivismus, I: D. Prinzipien des Idealismus u. Positivismus, histor. Grundlegung, 1879. II: Idealist. u. positivist. Ethik, 1882. III: Idealist, u. positivist. Erkenntnistheorie, 1884. Russ. Übers. 1909. — Kants Stellung in d. Gesch. des Konflikts zwischen Glauben u. Wissen, 1882. — Literar. Nachlaß, hrsg. v. B. Kerry, 1887, L i t e r a t u r : Hanisch, Rudolf, D. Positivism. v, E. L., Diss., Leipzig 1902. — Gjurits, Dragischa, D. Erkenntnistheorie des E. L., Diss., Leipzig 1902. — Grunicke, D. Begriff der Tatsache in der positivist. Philos, des 19. Jhdts., 1930. — Katharina Awakowa-Skijéwa, D. Erkenntnisth. v. E. L., Diss., Zürich 1916. — Nikolaus Koch, D. Verh. d. Erkenntnisth. v. E. L. zu Kant, Würzburg 1940, — Ludwig Salamonowicz, Die Ethik des Positivismus nach E, L„ Diss., Berlin 1935.
La Boétíe, Étíenne de, geb. 1. September 1530 in Sarlat (Dordogne), gest. 18. August 1563 in Germignan bei Bordeaux. Französischer Staatswissenschaftler und Philosoph, befreundet mit Montaigne, der L. B.s Nachlaß herausgab. S c h r i f t e n : Opuscules, hrsg. v. M. Montaigne, Paris 1570. — Discours vitude volontaire, 1548; Introduction et notes de Paul Bonnefon, Paris 1922; in: des chefs-d'oeuvres méconnus. L i t e r a t u r : Bonnefon, Paul, E. d. 1. B., Bordeaux 1888; Montaigne et 2 Bde., Paris 1898. — Barrére, Joseph, L'humanisme et la politique dans le de la serv. vol.", Étude sur E. d. L. B., Paris 1923.
de la serCollection ses amis, „Discours
Labriola, Antonio, geb. 2. Juli 1843 in Cassino, gest. 2. Februar 1904 in Rom, 1871 Habilitation an der Univers. Neapel, 1874 Prof. an der Univers. Rom. — Die philosophische Entwicklung L.s führte von der Schülerschaft zu Hegel über die Anhängerschaft an Herbart zu moderner soziologischer Forschung und Geschichtsphilosophie. Er unternahm es, das Werden und Entstehen der sokraPhilosophen-Lcxikon
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Lachelier
tischen Schule zu Athen von ihren sozialen und ökonomischen Voraussetzungen aus zu verstehen, und war damit einer der ersten, die das geistige Leben in seinen „materialistischen" Voraussetzungen untersuchten. Seit 1878 wandte er sich nach kritischer Auseinandersetzung mit Herbart ganz den Studien der G e schichte und der sozialen W e f t zu, wurde Sozialist und bekannte sich in gewisser W e i s e seit 1887 zum Marxismus. Sein Programm war, die „Philosophie der I d e e n " durch die „Philosophie der Dinge" zu ersetzen. S c h r i f t e n : Difesa della dialettica di Hegel, Nap. 1862. — Espos. crit. della dottrina delle passioni sec. Spinoza, Nap. 1865. — La dottrina di Socrate secondo Senofonte, Platone ed Aristotele, Nap. 1871; neu hrsg. v. B. Croce, Bari 1909. — Della libertà morale, Nap. 1873. — Dell'insegnamento della storia, Roma 1876 — Morale e religione, 1873. — Del concetto della libertà, 1878. — I problemi della filosofia della storia, 1887. — Del socialismo, 1889. — In memoria del manifesto dei Comunisti, Roma 1895. — Saggi intorno alla concezione materialistica della storia, 3 Bde., 1896/97, franz. Umarbeit., in 2 Bdn., Paris 1897/98. — Socialisme et philosophie, Paris 1899. — A proposito della crisi del Marxismo (contro Masarykj in: Riv. ital. di Sociol., Roma 1899. — Del mat. storico, 2. ed. Roma 1902. — Discorrendo di socialismo e di filos., 2. ed. Roma 1902. — Scritti vari di filosofia e politica (racc. e pubblicati da B. Croce), Bari 1906, — Da un secolo all'altro, hrsg. v. L. Dal Pane, Bologna 1925. — Briefwechsel mit Engels, in: Nuova riv. stor., Bd. XI u. XII, 1927/28, hrsg. v. L. Dal Pane. L i t e r a t u r : Andler, La conception materialiste de l'histoire d'après Labriola, in: Rev. de Mét., 1897. — P. Orano, L., in: Riv. Libri ed Autori, Roma 1904, — Torre, A., Le idee filosofiche di A. L., in: Riv. ital. di sociologia, Bd. 10, 1906; S. 278—293. — Diambrini-Palazzi, S., Il pensiero filosofico di A. L., Bologna 1923. Lachelier, Jules, geb. 27. Mai 1832 in Fontainebleau, gest. 16. J a n u a r 1918 ebda. 1858 Prof. am L y c é e de Caen, 1864 an der École normale supérieure in Paris. — Von der Metaphysik L.s nimmt der spiritualistische Positivismus in Frankreich seinen Ausgang. L. verbindet den kantischen Idealismus mit dem spiritualistischen Realismus (réalisme spiritualiste) von Biran und Ravaisson. Auch durch Leibniz ist seine Gedankenbildung entscheidend beeinflußt. Das W e s e n des Wirklichen ist Geist. Die Wissenschaft ist ein W e r k des Geistes, durch apriorische E l e m e n t e bestimmt, nicht auf die T a t s a c h e n der Erfahrung allein zu begründen. Ziel der Wissenschaft ist die Erkenntnis der Gesetze für Tatsachen, ihr Verfahren ist die Induktion. Diese muß gegründet werden auf die geistige Tätigkeit, das Denken (pensée) und seine Beziehung zu den Erscheinungen. Das menschliche Denken ruht auf dem Prinzip der W i r k - und der Zweckursachen. Dem Gesetz der Wirkursachen (causes efficientes) sind alle Erscheinungen unterworfen; es gibt die einzige Begründung für die Einheit des Universums, die unser TDenken voraussetzt. Alles Geschehen in der Natur muß sich mechanisch erklären lassen und ist notwendig vorherbestimmt. „Das Prinzip der Wirkursachen führt zu einem idealistischen Materialismus. Der Spontaneität des Lebens und der Freiheit der menschlichen Handlungen gerecht zu werden, ermöglicht uns das Gesetz der Zweckursachen, das zum spiritualistischen Realismus hinleitet. S o besitzt die Natur zwei Existenzweisen, gegründet auf die beiden Gesetze, die das Denken den Erscheinungen auferlegt: eine abstrakte Existenz, die identisch ist mit der Wissenschaft, deren Gegenstand sie bildet, die auf dem notwendigen Gesetz der Wirkursachen beruht, und eine k o n k r e t e Existenz, identisch mit dem, was man die ästhetische Funktion des Denkens nennen könnte, die auf dem zufälligen Gesetz der Zweckursachen b e r u h t " (Fondement de l'induction, S. 81). Die Zufälligkeit, die das Zweckgeschehen kennzeichnet, ist eine „Wahlnotwendigkeit" (nécessité de convenance et de choix). So unterwirft die wahre Philosophie das mechanische Geschehen der Zweckdeutung, den M e c h a -
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nismus der Finalität. „Die wahre Philosophie der Natur i s t . . . ein spiritualistischer Realismus, vor dessen Augen jedes Sein eine Kraft und jede Kraft ein Gedanke ist, der zu einem immer vollständigeren Bewußtsein seiner selbst strebt" (S. 101/2). Unter dem Einfluß Schopenhauers gewinnt L.s Spiritualismus eine voluntaristische Färbung. „Wir sind frei in unserm Sein und bestimmt in unsern Seinsweisen" (Psychologie und Metaphysik, S. 415). — „Die letzte Stütze für jede Wahrheit und jedes Dasein ist die absolute Spontaneität des Geistes" (S. 158). Um das Wesen des Gedankens, seine Ganzheit (totalité) zu erkennen, genügt nicht die psychologische Analyse; sie muß durch metaphysische Synthese ersetzt werden. „Die Wissenschaft des Gedankens in sich selbst, des Lichtes an seiner Quelle, ist die Metaphysik" (S. 172/3), während die Psychologie nur das Licht erkennt, das das Denken auf die Empfindung wirft. In seiner Annahme, daß zielstrebige Kräfte die Einheit des Seins erklären, in seiner Betonung des Zweckgeschehens, in seiner Hervorhebung des Willensmoments, in seiner Lehre von einer intellektuellen Formung des Gegebenen und in seinem Glauben an Freiheit des Handelns liegen die Hauptpunkte seiner Wirkung. Boutroux und Bergson betrachten sich als Schüler L.s. S c h r i f t e n : Du Fondement de l'induction, Thèse de doctorat, 1871; 9. A. 1907. — Psychologie et métaphysique, in Revue philosophique, t. XIX, 1885, deutsch von Rudolf Eisler, 1908; mit Appendices: Études sur le syllogisme, suivies de l'observation de Platner, et d'une note sur le Philèbe, Paris 1907. L i t e r a t u r : G. Noel, La phil, de L., in Revue de Mét. et de Morale, 1898. — Séailles, Gabriel, La phil. de L., Paris 1920. — Boutroux, Émile, Jules L., in Revue de Mét. et de Morale, 1921, p. 1—20. — Brunschvicg, Marcel, La Littérature française contemp., étudiée dans les textes (1850—1925), Bd. I, Paris 1925. — Benrubi, J., Les sources et les courants de la phil. contemporaine en France, Paris 1933, Bd. II, S. 594—604
Lacombe, Paul, geb. 1833 in Paris, gest. 17. Juli 1919 in Lanzerte. Unter dem Einfluß von Comte und Stuart Mill erstrebt L. eine wissenschaftliche Grundlegung der Geschichtswissenschaft von der Soziologie aus. Er betont die Bedeutung der Institutionen. S c h r i f t e n : De l'histoire considérée comme science, Paris 1894; 2. Aufl. 1930. — Introduction à l'histoire littéraire, Paris 1898. — La guerre et l'honneur, Paris 1900. — L'appropriation du sol, Paris 1912. — La psychologie des individus et des sociétés chez Taine, Paris 1906. — Taine, historien et sociologue, Paris 1909. — La première commune révolutionnaire de Paris et des assemblées nationales, Paris 1911. L i t e r a t u r : Berr, Henri, P. L., l'homme et l'oeuvre, in: Revue et synthèse historique, Bd. 30, 1920; S. 97—143. — La sociologie, hrsg. v. D. Essertier, in: Philosophes et savants français du XXe siècle, Bd. 5, Paris 1930; S. 386—394.
Lactantius, Lucius Caecilius Firmianus, gest. in hohem Alter nach 317 n. Chr. Rhetor zu Nikomedien in Bithynien, soll später in Gallien Lehrer von Crispus, dem Sohn Konstantins des Großen gewesen sein. L. war vielleicht Schüler des Arnobius und gehört mit diesem und Minucius Felix zu den sogenannten christlichen Popularphilosophen. L., der vor seinem Ubertritt zum Christentum der Stoa nahestand, erwarb sich das Verdienst, daß er als erster im Abendland aus den christlichen Dogmen und der christlichen Lebensbetrachtung ein einheitliches System zu entwickeln versuchte. Er beweist die Einheit und Einzigkeit Gottes aus seiner Vollkommenheit, die ihm als ewigem Geist eignet. Die Welt würde nicht sein können, wenn die Vorsehung nicht das Werk eines einheitlichen Wesens wäre. Dieses Wesen Gottes wird von den Propheten bestätigt. L. wendet sich, ähnlich wie Tertullian, entschieden gegen die heidnisch-griechische Philol*
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sophie, die nach ihm der Wahrheit und den Geboten Gottes zuwiderläuft; alle menschliche Weisheit erklärt er gemäß der Bibel für Torheit vor Gott. Durch die mangelnde Übereinstimmung der philosophischen Lehrmeinungen sieht L. die Irrtümlichkeit des philosophischen Denkens und damit die Notwendigkeit einer Offenbarung der Wahrheit bewiesen. Die Tugend ist darum auch nicht um ihrer selbst willen vorhanden und erstrebenswert, wie die Philosophen, vor allem Piaton und Aristoteles lehrten, sondern die Tugend besteht in der Erfüllung der Gebote Gottes gegen ihn selbst und gegen die Menschen; Gottesdienst ist wichtiger als der Dienst am Menschen. Ohne Reinheit der Gesinnung kann nicht von Tugend gesprochen werden. Die Affekte sollen nicht unterdrückt oder auf ein bestimmtes Maß gebracht, sondern in richtiger Weise gebraucht werden. Die Haupttugend ist die Gerechtigkeit, die in der Frömmigkeit wurzelt und die Billigkeit zum Maßstab hat, welche gleiche Einschätzung aller Menschen fordert. Den Zweck der Welt sieht L. in einem ewigen Gottesdienst, der den Menschen und seine Unsterblichkeit verlangt. Die Seele ist in ihrer Existenz unabhängig vom Körper und von Gott selbst erschaffen; die Möglichkeit der Erkenntnis und der Verehrung Gottes bürgt für ihre Unsterblichkeit. S c h r i f t e n : Werke bei J. P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 6—7, Paris; übers, v. Hartl u. Knappitsch, in: Bibl. d. Kirchvät., 1911, Bd. 36. — De mortibus persecutorum, dt. Luzern 1946, — Werke, hrsg. v. S. Brandt u. G. Laubmann, 2 Bde., 1890 ff. L i t e r a t u r : P. G. Frotscher, Des Apologeten L. Verhält, zur griech. Philos., Leipzig 1895, Diss. — R. Pichon, L., Paris 1901. — F. Fessier, Benutzung der philosophischen Schriften Ciceros durch L., 1913. — J. Sigert, Die Theologie des Apologeten L. in ihrem Verhältnis zur Stoa, 1919. — K. E, Hartwell, L. and Milton, London 1929.
Ladd, George Trumbull, geb. 19. Januar 1834 in Painesville (Ohio), gest. 8, August 1921 in New Haven (Connecticut). Prof. der Philosophie am Bowdoin College 1879 bis 1881, am Yale College seit 1881. — L. will im Anschluß an die Lehren der deutschen Philosophie, besonders an Lotze, eine erfahrungsmäßige Begründung des philosophischen Denkens geben. Er will die Ergebnisse der Wissenschaften synthetisch in einem Gesamtbild vereinigen, für das die Geisteswissenschaften besondere Bedeutung haben. Seine letzte Deutung des Weltsinns findet er von der Persönlichkeit aus; ,,Das Wirkliche ist der persönliche Geist Gottes und die Welt persönlicher Geister, die er geschaffen hat." S c h r i f t e n : The Principles of Church Policy, 1882. — The Doctr, of Sacr, Scripture, 1884. — Elements of Physiological Psychology, 1887. — What is the Duble, 1888. — Outlines of Phys. Psychol., 1890, — Psychology, Descriptive and Explanatory, 1894, — Outlines of Desc. Ps., 1898. — Philos, of the Mind, 1895. — Philos, of Knowledge, New York 1897. — A Theory of Reality, 1899. — Essays on the Higher Education, New York 1899. — Philos, of Conduct, New York 1902. — Philos, of Rei,, 2 vols, N e w York 1905. — In Korea with Marquis Ito, New York 1908. — Knowledge, Life and Reality, 1909. L i t e r a t u r : Fochtman, Vicent A., Das Leib-Seele-Problem bei G. T. L,, München 1928, Diss.
Lafitte, Pierre, 1823 bis 1903. Schüler und Nachfolger Comtes in der kultischen Fortführung seiner Religion. S c h r i f t e n : Les grands types de l'humanité, 2 vol., Par. 1875. — Cours de philos, première, Paris 1889 f.
Lagalla, Julius Caesar. 1571 bis 1624. Prof. der Philos, am Collegium Romanum in Rom. Jesuit.
Lagarde
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S c h r i f t e n : De phaenomenis in orbe lunae, 1612. — De Immortalitate animorum e x Aristotelis sententia, 1621. L i t e r a t u r : Allatius, Leo, J . C. L. philosophi romani vita, ed. Gabriel Naudaeus, Paris 1644.
Lagarde, Paul Anton de (Bötticher), geb. 2. November 1827 in Berlin, gest. 22. Dezember 1891 in Göttingen. Sohn von Joh. Friedr. Wilhelm Bötticher, Prof. am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin. 1844 in Berlin Studium der Theol. bei Hengstenberg, des Persischen und Arabischen bei Friedrich Rückert, der philologischen Methode bei Karl Lachmann. 1846 Theologiestudent in Halle bei Tholuck. 1849 Dr. phil. mit einer Diss. „Initia Chromatologiae Arabicae", 1851 Hab. für orientalische Sprachen in Halle mit den „Arica". Reisestipendium für London und Paris durch Bunsens Vermittlung 1852. Durch seine Gegnerschaft gegen kirchliche, politische und wissenschaftliche Machthaber verbaut L. sich die akademische Laufbahn. 1854—1866 Lehrer an Berliner Gymnasien und Mädchenschulen; erwirbt sich mit Privatunterricht die Mittel für den Druck seiner Bücher. 1866—1869 ermöglichte ihm ein Stipendium von Friedrich Wilhelm IV. freie Forschung an der Septuaginta, 1868 D. theol. von Halle. 1869 als Prof. der orientalischen Sprachen an Ewalds Stelle nach Göttingen berufen; Gegner von Ritschis Theologie. Die philosophische Hauptleistung L.s liegt auf ethischem Gebiet, Ethos in seinem eignen weiten Sinne als gleichbedeutend mit Religion gefaßt. ,,Mir steht . . . fest, daß Religion ursprünglich Ethos — ich sage nicht Ethik —, nicht Physik war, wie sie jetzt Ethos — ich sage abermals nicht Ethik — und nicht Dogmatik ist, Daher suche ich in allem Ältesten ethischen Sinn" (Ausgewählte Schriften I, S. 180). Von religiösem Ethos war L.s wissenschaftliche Arbeit und sein praktisches Wirken getragen. Er empfand beides als Einheit. „Ich (bin) auch mit meinen gelehrten Studien ganz und gar Praktiker, der auf sein Volk wirken wollte" (S. 26). — „Ich habe schlechterdings keinen Sinn für theoretische Wahrheit. Ich will mein Volk binden und befreien; jeder Gedanke, den ich denke, zielt darauf ab, dies in der richtigen Weise zu tun" (S. 133). — „Darum will ich für den Menschen fechten gegen die Tatsachen, für die Kraft zu schaffen gegen das Geschaffene" (S. 144). Als einzig wertvoller Gegenstand der Wissenschaft, des Studiums, erscheint L. der Mensch. Er ist die „lebendigste Kraft in der Geschichte", und Geschichte ist „nur die Zwiesprache, welche er über Tod und Ewigkeit hinüber mit Gott, und welche Gott über Sünde und Irrtum hinüber mit ihm hält" (S. 143). Daß mit einer theologischen Betrachtung das Wesen der Geschichte erfaßt wird, ist selbstverständliche Voraussetzung für L. „Meine Neigungen gelten der Geschichte des Reiches Gottes, die ich ab und an auch Philosophie der Geschichte nannte, und zeitig bin ich auf die jetzt oft von mir wiederholte Definition der Theologie gekommen, sie sei das Wissen um die Geschichte des Reiches Gottes" (S. 166). Aus der gleichen Wurzel wachsen daher bei ihm wissenschaftliches Forschen und verantwortungsbewußter Dienst am Volk. „Etwas anderes bin ich nicht als Theologe, und mein Interesse für alle Dinge hat seinen Mittelpunkt in meiner Theologie" (S. 26). Sie umschließt seine philologische Arbeit, sein Studium zahlreicher orientalischer Sprachen, seine Schaffung von Textausgaben, seine Septuaginta-Forschung, seine Bibelkritik, seine Beschäftigung mit philosophischen Urkunden, wie seine Gegenwartskritik und seine Zukunftsmahnung, seinen Kampf um die Bildung einer deutschen Volksgemeinschaft und um Beseitigung ihrer vermeintlichen „Gegner": Protestantismus, Humanismus, Liberalismus, Rationalismus, Spießertum und Judentum.
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L.s Philosophie der Geschichte, theologisch gedeutet und religiös empfunden, will den Gang der Geschichte vom Instinkt zum vollbewußten Leben widerspiegeln, will dem stetigen Fortschritt des Menschen von leichteren zu schwereren Aufgaben folgen. Sie will aber auch, als Theologie und Ethos, das Dunkel der Gegenwart erhellen und eine lichte Zukunft vorbereiten. Sie empfängt ihr Gepräge durch L.s Überzeugung, daß wir „entweder vor einer neuen Zeit oder vor dem Untergang stehn" (S. 279). So düster ihm seine Gegenwart erscheint, sie beschattet nicht L.s Gesamtbild von der Geschichte. „Die Freude allein ist es, welche die Räder der Welt treibt" (S. 144), vom Menschen erlebte Freude. Beseeltheit und Lebendigkeit sind die Wesenszüge des Menschen. Der voll-lebendige Mensch ist der mit Gott lebende. Er ist auch der glückerfüllte. „Ich erkläre, daß ich nach wie vor das Leben des Menschen mit Gott und vor Gott — so sage ich jetzt statt Religion — als die Grundlage auch alles Erdenglücks betrachte" (S. 200). Die „Urzeit" menschlichen Lebens und menschlicher Gesittung stand kulturell hoch. „Das Koptische zeigt noch vielfach die Art der Urzeit: höchste Kraft, die sich der geringsten Mittel bedient, feinste Beobachtung nicht des Sinnlichen, sondern des Geistigen; . . . Wenn eine uralte Sprache so tiefe Einsicht in das Wesen des Wahren und Rechten ausdrückt, dann ist nicht die Nacht, sondern der Morgen die Wurzel des Tages" (S. 184). Die Sprachen bilden einen unmittefbaren Zugang zum menschlichen Seelenleben. „Für mich ist die Sprache Ausdruck einer P§yche, jede Sprache der Ausdruck einer andern Psyche, und jede Psyche der Gegenstand einer Erziehung durch Gott, also eines Werdens, also einer Geschichte" (166). Aus der Kenntnis ihrer Sprachen glaubt L. auch mit dem Seelenleben der Semiten vertraut zu sein. Andererseits reicht Bekanntschaft mit der Sprache und den Sprachdenkmälern nicht aus zum Eindringen in fremdes Seelenleben. Nur aus dem Leben können wir es erkennen, „von dem die Literaturen nur einen, und nicht den echtesten, Teil zum Ausdrucke bringen" (197). W e r das Leben selbst zur Erkenntnisquelle macht, wie L., der darf nicht bei der Herzählung von Einzeltatsachen stehenbleiben, sondern muß sich auf seinen Blick für das Ganze, auf seine Fähigkeit zum Erwerb einer Gesamtanschauung verlassen. L. bekennt: „Ich registriere nicht tote Fakta, sondern ich beschreibe ein Leben, ein Werden, und darum auch ein Vergehn". — „So etwas lerne ich nicht Stück für Stück, sondern ich sehe es auf Einen Blick ganz oder ich sehe es nie" (S. 167). — „Nichts ist dem sogenannten Gebildeten schwerer, als ein Ganzes zu verstehn. Der Liberale unserer Tage haftet stets am Einzelnen" (S. 135). Bloße Einzelheiten dürfen nicht der Erkenntnisgewinnung dienen; auf sie darf auch kein Urteil über lebendige Wesen und ihr Tun gegründet werden. „Ich verwahre mich dagegen, daß Einzelheiten irgendwelchen Lebens und irgendwelcher Arbeiten als Einzelheiten vor Gericht gezogen werden. W e r nicht alles in Einem sehen will, der bleibe wenigstens mir mit seinem Urteile vom Halse." Auch das Urteil über die eigne Zeit darf nicht aus Einzelheiten gewonnen werden. An einer Gesamtanschauung muß man sie messen und fragen, ob eine Tatsache oder Anschauung den Totaleindruck der Geschichte stört, die Harmonie unterbricht. So urteilt das Gewissen. „Ein Gewissen gibt es nur, wo es eine Gesamtanschauung vom Leben, d. h. wo es eine Religion gibt". So ist Religion der Anfang und das Ende, der Maßstab für gegenwärtiges Geschehen und das Ziel, auf das hin es gerichtet sein soll. Auch von hier aus bestimmt sich der Sinn jeder Einzelarbeit. „Meine Schüler wissen . . . , daß ich jede Einzelarbeit nur als ein Mittel zu dem Zwecke ansehe, eine Gesamtanschauung des um die ganze Men-
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schenwelt werbenden Reiches Gottes zu finden, und daß ich diese Ansicht auch als Patriot gewonnen wissen will" (S. 59). In seiner Reich-Gottes-Arbeit, in seiner Religiosität ist auch L.s Glaube an das Deutschtum verankert. Nach seinem Bekenntnis ist „Deutschland das Herz der Menschheit". Es muß die Aufgabe sehen lernen, die ihm damit gesetzt ist, muß den Weg zu seiner Höhe finden. „Denn im Völkerleben gelten dieselben Gesetze der Entwicklung wie im Leben der Individuen, und im Leben der Individuen ist ein Sinken überall da festzustellen, wo nicht ein Steigen stattfindet" (S. 183). L. sieht es als seine Berufung an, das Verantwortungsbewußtsein des Deutschen für die Reinheit seines Wesens und für die Herausgestaltung seines Volkstums zu wecken, und ihn stark im Kampf gegen seine Widersacher zu machen. „Katholizismus, Protestantismus, Judentum, Naturalismus müssen vor einer neuen Weltanschauung das Feld räumen, ganz räumen, so daß ihrer nicht mehr gedacht werde, wie der Nachtlampen nicht mehr gedacht wird, wenn die Morgensonne über die Berge scheint — oder aber die Einheit Deutschlands wird von J a h r zu J a h r fraglicher" (S. 278). Es ist falsch, wenn Deutschland Humanismus und Kosmopolitismus als Ideal vorgegaukelt wird. „Nicht Humanität zu entwickeln, ist die Aufgabe der Geschichte. J e d e r Mensch soll als ein von andren Menschen verschiedener neben andren, deren eigenartige Tüchtigkeit er anzuerkennen hat, etwas sein und leisten; und wie der Mensch neben den Mitmenschen, so soll das Volk neben den Mitvölkern stehn" (S. 216). — „Ich kenne keine Wissenschaft, die nicht Wissenschaft einem bestimmten Volke gerne angehörender Personen wäre; denn so lange es eine Geschichte gibt, sind bedeutende Menschen nie Kosmopoliten gewesen" (S. 59). — Auch die Religion muß das Gepräge des Volkstums tragen, muß national gestaltet sein. Von diesem Ziel hat der Protestantismus weit weggeführt. Die zukünftige Kirche muß über ihn hinwegschreiten. „Ich bin gewiß nicht orthodoxer Christ, . . . aber ich stehe mit voller Überzeugung in der durch Photius wie durch die Reformation und deren Gegner unterbrochenen Entwickelung der Kirche" (S. 192). L.s herbes Urteil über Christentum, Deutschtum und Kultur seiner Zeit, das er auf Durchforschung der christlichen Vergangenheit und auf Zukunftsahnen gründete, haben die Zeitgenossen nicht verstanden. Daß die Liebe zu Deutschland und das Gefühl der Verantwortlichkeit für sein Volk vor Gott auch seine Wissenschaft leitete, daß ihm seine eigene Person als Träger dieser Aufgabe wichtig sein mußte, wurde lange bei der Leidenschaftlichkeit seiner Kampfführung übersehen. „Ungerecht bin ich meines Wissens gegen niemanden gewesen; aber der Sache, welcher ich durch Nichtverschweigen des in meinen Augen besonders Tadelnswerten dienen wollte, habe ich vielleicht auch durch gerechten Tadel ihrer anderen Diener mehr geschadet als genützt" (S. 13). Als Vorkämpfer für Entwicklung und Aufstieg seines Volkes mußte L. den Wagemut zu vollem Einsatz seiner Persönlichkeit besitzen. Gegenangriff und die Gefahr eignen Irrens schreckten ihn nicht. „Ich habe ohne Leitung meinen Pfad finden müssen und trage die Schmarren der Dornen, die mich versehrt, im Gesichte, die Schwielen der Urwaldaxt an den Händen; ich werde niemandem vorwerfen, der ein Pionier ist, daß er nicht wie ein maitre de plaisir aussieht. Ich werde auch niemandem vorwerfen, daß er irrt: denn ich habe selbst oft geirrt und werde bis an meines Lebens Ende irren" (S. 254). Nie dient L. sich selbst, stets seiner Aufgabe. Mit Stolz bekennt er: „sein Weg war Arbeit, Mut und Verleugnung seines Ichs, letzteres auch da, ja da am meisten, wo er sein Ich am deutlichsten in den Vordergrund stellte. Nur euer Bestes suchte er, als er sich selbst verteidigte und der Lüge wie dem Hasse die Maske der Wissenschaftlich-
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L a k y d e s aus Kyrene — Lalande
keit vom"Gesichte riß" (S. 280). Für sein Handeln wie für sein Forschen macht er die Wahrheit seines Satzes geltend: „In jeder taugenden Arbeit der Wissenschaft steckt irgendwelche Liebe, heiße, Herzensliebe", die Liebe zu Gott und die Liebe zum eignen Volk. S c h r i f t e n : Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theol., Kirche u. Religion, 1873. — Politische Aufsätze, 1874. — Über die gegenwärtige Lage des Deutschen Reichs, 1876. — Deutsche Schriften, 2 Bde., 1878—81: Gesamtausgabe, 2. Abdruck, 1891. — Symmicta, 2 Bde., 1877—80. — Mitteilungen, 4 Bde., 1884—91. — Opere italiane des Giordano Bruno, hrsg. in 2 Bdn., 1888—89. — Septuagintastudien, 1891—92. — Philolog. u. theolog. Abhandlungen der Frühzeit, in: Gesammelte Abhandlungen, 1866, Neudruck 1896. — Für die s p ä t e r e n theolog.-philolog. W e r k e vergi, Realenzyklopädie für p r o t . Theol, u. Kirche, 3. Aufl., Bd. 11, S. 212 ff. — Auswahl: Schriften für das Deutsche Volk, Bd. I: Deutsche Schriften, Bd. II: Ausgewählte Schriften, herausgeg. v. K. A. u. Paul Fischer, 1924. L i t e r a t u r : Bibliographie von R. Gottheil in: Proceedings of the American Oriental Society, 1892. — Lagarde, Anna de, Erinnerungen aus L.s Leben, 1894; 2. A. 1918. — Julius Wellhausen, Gedächtnisrede auf P. d. L., Gött.Gel.Nachr., 1894. — Schemann, Ludwig, P. d. L „ 2. Aufl. 1920. — R. Breitling, P. d. L. u. d. Großdeutsche G e d a n k e , 1927. — Mommsen, Wilhelm, P. d. L. als Politiker, in: Göttinger Beiträge z. Kulturgesch., 1927. — Klamroth, Kurt, Staat u. Nation bei P. d. L., Abh. d. Rechts- u. Staatswiss. F a k u l t ä t Göttingen, Bd. 8, 1928. — Hollmann, Rudolf, L. als Pädagoge, in: Pädagog. Magaz., Nr, 602; 1915. — Platz, Hermann, P. d. L.s Flucht ins Altgermanische, in: Großstadt u. Menschentum, 1924; Kap. 5. — Alfred Rahlfs, L.s wissenschaftl. Lebenswerk, 1928 (mit Übersicht über die wiss. Schriften). — 0 . Conrad, L., ein P r o p h e t deutscher Bildung u. deutschen Volkstums, 1928. — Krog, Fritz, L. u. d. deutsche Staat, 1930. — Hippler, Fritz, Staat u. Gesellschaft bei Mill, Marx, Lagarde, 1934. — K ä t e Schiffmann, L.s Kulturanschauung, Münster 1938. — Lothar Schmidt, L.s Kritik an Kirche, Theologie u. Christentum, Stuttg. 1935. — Hans Wittig, D. geistige W e l t P. L.s, Diss., Hamburg 1937. — C. Tiltack, L, im Lichte d e r Rassenseelenkunde, Diss., Kiel 1942.
Lakydes aus Kyrene, von etwa 240 bis etwa 222 v, Chr. Scholarch der zweiten Akademie, Nachfolger des Arkesilaos. L i t e r a t u r : Diog. Laert. 4,59—61. — R. Hirzel, Hermes 18 (1883), 1—16.
Lalande, André, geb. 19. Juli 1867 in Dijon. Seit 1904 Prof. an der Sorbonne; 1922 Mitglied der Akademie. — L. ist Gegner des Evolutionismus, wie Spencer ihn entwickelt, und Vertreter eines spiritualistischen Positivismus. Als allgemeinstes Gesetz in der Natur und Grundlage für den menschlichen Fortschritt betrachtet er die Dissolution oder Involution, den Weg vom Verschiedenartigen zum Gleichartigen, der viele Bezeichnungen trägt (unification, identification, désindividualisatíon, marche à l'égalité, dédifférenciation). Die vier Hauptarten der Involution sind; mechanische, physiologische, psychologische, soziale. Überall herscht Dualismus, in der Natur und im Innern des Menschen. Zwei Strebungen wirken im Menschen, die eine auf Individualisierung, die andre auf Dissolution, Auflösung der eignen Person in die ganze Welt. Der Weg vom Heterogenen zum Homogenen ist auch die Grundrichtung des Gedankens. In der Involution siegt der Geist über die Natur oder das Leben; sie leitet das menschliche Handeln. Die Vernunft ist die Fähigkeit, alle Dinge zur Einheit zu bringen. S c h r i f t e n : L'idée directrice de la Dissolution opposée à celle de l'Évolution, Paris 1898; 2. Aufl. u, d. Titel: Les illusions évolutionistes (La Dissolution), Paris 1931. — Lectures sur la phil. des scienceis, Paris 1893; letzte Aufl. Paris 1932. — Les principes universels de l'éducation morale, in: Revue de Mét. et de Morale, 1901. — Sur une fausse exigence de la Raison dans la méthode des sciences morales, in: Revue de M é t . et de Morale, 1907. — Précis raisonné de morale pratique, Extrait revisé du Bulletin de
Lalo — L a m b e r t von A u x e r r e
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la Soc. Française de Phil., 1907. — Raison constituante et raison constituée, in: Revues des Cours et Conférences à la Sorbonne, 1925. — Vocabulaire de la phil., 2 vol., Paris 1926; 4. éd., 3 Bde., 1932. — Les Théories de l'induction et de l'expérimentation, in: Bibl. de la Revue des Cours et Conférences, Paris 1929. — Hrsgbr.: Revue Philosophique, seit 1890. L i t e r a t u r : J . Benrubi, Les sources et les courants de la phil. française contemporaine en F r a n c e , Paris 1933, Bd. II, S. 639—659.
Lalo, Charles, geb 1877 in Périgueux. L. entwickelt eine Ästhetik von positivistischer Färbung und auf soziologischer Grundlage, als exakte Wissenschaft. Dies macht ihn zum Gegner des „ästhetischen Vitalismus" von Guyau, Séailles, Bergson. Von Fechner ist er zwar beeinflußt, doch übt er an seiner empirischen und experimentellen Ästhetik Kritik, auf Dürkheim gestützt. Das ästhetische Phänomen ist für ihn eine soziale Tatsache, und die Ästhetik ist nicht ein Teil der Psychologie oder einer Lustlehre, sondern wird vollständig als Zweig der Soziologie. „Die vollkommene Ästhetik (esthétique intégrale) wäre das wissenschaftliche Studium aller Bedingungen für Schönheit, fortschreitend von den abstraktesten zu den konkretesten unter Erschöpfung aller Möglichkeiten! sie wäre also ganz und gar oder eins nach dem andern Mathematik, Physiologie, Psychologie, Soziologie" (Les sentiments esthétiques, S. 14). S c h r i f t e n : L'Esthétique expérimentale contemporaine, Paris 1908. — Esquisse d'une esthétique musicale scientifique, Paris 1908. — Les sentiments esthétiques, Paris 1910. — Introduction à l'esthétique, 1912; 2. Aufl. 1925. — L'art et la vie sociale, 1921. — Aristote, Paris 1922. — La b e a u t é et l'instinct sexuel, Paris 1922. — Notions d'esthétique, 1925. — L'expression de la vie dans l'art, Paris 1933. L i t e r a t u r : J . Benrubi, Les sources et les courants de la phil, contemporaine en F r a n c e , Paris 1933, S. 189—193.
Lamarck, Jean Baptiste de Monet de, geb. 1. August 1744 in Bazentin (Picardie), gest. 18. Dezember 1829 in Paris. Prof. am Jardin des Plantes zu Paris. — L. gibt bereits vor Darwin die Konstanz der Arten als Erklärungsgrundsatz auf. Er nimmt an, daß mit dem Auftauchen neuer äußerer Lebensbedingungen und damit neuer Ansprüche an die organischen Funktionen sich die Organismen selbst ändern. Die Organe passen sich den neuen Lebensbedingungen allmählich an. Die neu erworbenen Eigenschaften sind vererbbar, während die Organe, die nicht gebraucht werden, sich zurückbilden. S c h r i f t e n : Système des animaux sans vertèbres, Paris 1801. — Philos, zoologique, 1809, Paris 2 Bde., deutsch 1909. — Histoire naturelle des animaux sans vertèbres, 7 Bde., Paris 1815—22; neu hrsg. in 11 Bdn. von G. H. Deshayes u. H. Milne-Edwards, 1835—45. — Système analytique des connaissances positives de l'homme, Paris 1820. Li t e r a t u r : G. Wolff, Beiträge z. Kritik d. Darwinschen Lehre, 1898; D. Begründung d. Abstammungslehre, 1907. — A. S. Pachard, L. the F o u n d e r of Evolution, New York 1901. — K, Detto, D. Theorie der direkten Anpassung u. ihre Bedeutung f. das Anpassungs- u. Deszendenzproblem, 1904. — M. Landrien, L., le fondateur du transformisme, in: Mémoires de la Société Zoologique de France, 1908, Bd. 21; Paris 1909. — Leiber, L., 1910. — Kühne, Friedr., L., 1913; in: Klassiker der Naturw, — Perrier, Edmond, L., Paris 1925; in: Les grands hommes de F r a n c e . — Le Roy, É., L'exigence idéaliste et le fait de l'évolution, Paris 1927, — H. Daudin, Cuvier et L., Paris 1926; De Linné à L., Paris 1926. — S. Tschulok, L., 1937.
Lambert von Auxerre, um 1250, Logiker, vgl. Wilhelm Shyreswood. L i t e r a t u r : C. Prantl, Gesch. d. Logik III 25—32, 1858—1870. — B. Hauréau, Hist. de la philos, scol. II, 1, S. 188—190, Paris 1880.
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Lambert
Lambert, Johann Heinrich, geb. 26. August 1728 in Mühlhausen (Elsaß), gest. 25. September 1777 in Berlin. Mitglied der Berliner Akademie. Mathematiker, Astronom und Physiker. Im Briefwechsel mit Kant. Die Bedeutung L.s für die Physik liegt in der Anwendung der Mathematik; er schuf u. a. eine Photometrie, eine Hygrometrie und eine Pyrometrie und entwarf ein Bild des Fixsternsystems. Seine Erkenntnislehre stellt L. in dem „neuen Organon" und der „Architektonik" dar. Er unterscheidet vier Hauptgebiete innerhalb der Erkenntnis: die Dianoiologie, die Alethiologie, die Semiotik und die Phänomenologie. Die Dianoiologie behandelt die Disziplin der Logik, die L. in Anlehnung an die Wölfische Philosophie entwickelt. Die logischen Formen werden dabei von ihm durch geometrische Symbole veranschaulicht, z. B. der Begriff durch eine Linie und seine Merkmale durch unter dieser Linie stehende Punkte, ähnlich in der Schlußlehre. — In der Alethiologie werden die einfachen Grundbegriffe und ihre Verbindungen, das „Reich der Wahrheit" behandelt. Die einfachen Begriffe werden durch das Verfahren der „anatomischen" Analyse gewonnen, indem Begriffe daraufhin untersucht werden, ob und wieweit sie sich in einfachere zerlegen lassen. Sie können nicht in eine Definition gefaßt, sondern nur bezeichnet und durch ein anderes veranschaulicht werden. Sie enthalten keinen Widerspruch in sich, weil zu diesem eine Zweiheit des sich Widersprechenden gehört, die in einem Einfachen nicht vorhanden sein kann. Das Kennzeichen der einfachen Begriffe ist ihre unmittelbare „Gedenkbarkeit". Auf diese müssen die zusammengesetzten Begriffe in ihrer Gedenkbarkeit zurückgeführt werden. Die Grundbegriffe sind solche Begriffe, „deren Möglichkeit und Richtigkeit unmittelbar einleuchtet, sobald man sie sich vorstellt". Sie treten uns durch die Erfahrung und in ihr in das Bewußtsein. L. nennt Solidität, Existenz, Dauer, Ausdehnung, Kraft, Bewußtsein, Wollen, Beweglichkeit, Einheit, auch Licht, Farbe, Schall, Wärme usw. Bestimmte zu diesem Zwecke geeignete Grundbegriffe lassen eine Kombination zu, durch welche die einzelnen Gebiete der Wissenschaften sich gliedern und aufbauen. Auswahl- und Aufbauprinzipien sind dabei die Grundsätze und Postulate. Zehn einfache Begriffe erweisen sich für die Zusammensetzung als tauglich: Solidität, Existenz, Dauer, Ausdehnung, Kraft, Bewußtsein, Wollen, Beweglichkeit, Einheit und Identität. Die Grundbegriffe wie auch die auf ihnen aufgebauten Wissenschaften gelten a priori und bilden das „Reich der Wahrheit". Die Apriorität definiert L. so, „daß man absolute und im strengsten Verstände nur das a priori heißen könne, wobei wir der Erfahrung vollends nichts zu danken haben" (Organ. § 639), die ewigen Wahrheiten, wie sie in Arithmetik, Geometrie, Chronometrie, Phoronomie, Logik usw. vorliegen, sind „priores non tempore, sed ratione". — Der Gegenstand der Semiotik ist der Ausdruck und sein Verhältnis zum Gedachten. L. betont, daß die natürliche Repräsentation des Gedachten in der gewöhnlichen Sprache nicht erreicht werden kann, da die Sprachen unter mannigfachen zufälligen Bestimmungen sich entwickelt haben, An ihre Stelle muß eine metaphysische Sprache treten, die erst den natürlichen Ausdruck gewährleisten kann. Es wäre ein Zeichensystem für die Zwecke dieser natürlichen Sprache zu schaffen, eine Forderung, die L. selbst zu erfüllen gesucht hat. — Die Phänomenologie soll lehren, den Schein in den Erscheinungen zu erkennen und das Wahre und den Schein voneinander zu sondern; dabei wird in dem Subjekt-Objektverhältnis, das dem Schein zugrunde liegt, alles das als subjektiv aufzufassen sein, dessen angenommene Objektivität einen Widerspruch in der Wissenschaft ergeben würde.
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In der Architektonik wird zunächst die Alethiologie fortgeführt (erster Teil), sodann die Ontologie entwickelt (zweiter und dritter Teil), endlich die Methodologie dargestellt, die „Mathesis", die das Problem der Übertragung der mathematischen Methode auf die Erfahrungswelt zu ihrem Mittelpunkt hat (vierter Teil). Die „logische W a h r h e i t " des Gedenkbaren, so lehrt L. in der Architektonik, b e d e u t e t allein noch nichts, das G e d e n k b a r e stellt nur Möglichkeiten dar, zu denen die Möglichkeit des Existierens notwendig hinzukommen muß, wenn eine Erkenntnis erreicht w e r d e n soll. Dies k a n n geschehen durch den Inbegriff des Gedenkbaren, dem die Möglichkeit der Existenz zukommt, und hier ist das Reich der „metaphysischen Wahrheit". In das G e d e n k b a r e aber strömt als das, wodurch es zur metaphysischen Wahrheit wird, das Solide und die Kraft in ihrer Gegenständlichkeit ein, und es ergibt sich eine genaue Zuordenbarkeit des Wahren im logischen und im metaphysischen Sinne. Die metaphysische Wahrheit erfordert einen ersten Anfang, wie das Reich des logisch W a h r e n im für sich Gedenkbaren ihn besitzt, ein Wesen, d a s durch sich und für sich ist und infolge des inneren denkmäßigen Zusammenhanges der beiden Reiche denkend ist: Gott. Die Kraft und das Solide haben in ihm die notwendige Möglichkeit ihrer Existenz. Der göttliche Wille, diese Kraft des Wollens, die das auf der K r a f t des Denkens beruhende G e d e n k b a r e aus seiner der K r a f t des Könnens entspringenden Existenzmöglichkeit in die Existenzwirklichkeit überführt, ist gut und will das Gute; daher denn auch die bestehende Welt unter den denkbaren möglichen die beste ist. S c h r i f t e n : Kosmolog. Briefe üb. d. Einrichtg. d. Weltbaues, 1761. — Neues Organon oder Gedanken üb. d. Erforschung u. Bezeichnung d. Wahren u. dessen Unterscheidg. v, 'Irrtum u. Schein, 2 Bde., 1764. — Anlage zur Architektonik od. Theorie d. Einfachen u. Ersten in d. phil. u. mathemat. Erkenntnis, 2 Bde., 1771. — Logische u. philos. Abhdlgen., hrsg. v. Joh. Bernoulli, 2 Bde., 1782. — L.s „Deutscher gelehrter Briefwechsel", hrsg. v. Joh. Bernoulli, 1781 f. — J. H. L.s Monatsbuch mit den zugehörigen Kommentaren wie mit einem Vorwort über den Stand der Lambertforschung, hrsg. v, K. Bopp, Abhdl. d. bayr. Akad., math.-phys. Kl., Bd. 27, Nr. 6, 1915. — Critérium veritatis, hrsg. v. K. Bopp, Erg.-Heft Nr. 36 d. Kant-Stud., 1915. — Üb. die Methode, die Metaphysik, Theologie u. Moral richtiger zu beweisen, hrsg. v. K. Bopp, Erg.-Heft Nr. 42 d. Kant-Stud., 1918. — Opera mathematica, hrsg. v. A. Speiser, Bd. I, 1946. — Briefwechsel zwischen L. Euler u. J. H. L., hrsg. v. K. Bopp, 1924. L i t e r a t u r : 0 , Baensch, J . H, L.s Philos, u. seine Stellung zu Kant, 1902. — Krienelke, L.s Philos, d. Mathematik, 1909. — K. Bopp, L.s Stellung zum Raumproblem u. seine Parallelentheorie in d. Beurteilung seiner Zeitgenossen, Sitz.-Ber. d. bayr. Akad., 1914. — Sterkman, P., De plaats van J . H. L. in de ontwikkeling van het idealisme voor Kant, Diss., Utrecht 1928. — Barthel, Ernst, Elsäss. Geistesschicksale, 1928; S. 27—80. — Max E. Eisenring, J. H. L. u. d. wiss. Philos, d. Gegenw., Diss., Zürich 1942. •— J . H. L., Leistung u. Leben, herausg. v. Fr Löwenhaupt, Mühlhausen 1943. — M. Steck, J . H. L., Schriften zur Perspektive, 1943, mit Schriftenverzeichnis u. Bibliographie.
Lamennais, Hugues Félicité Robert de, geb. 19. Juni 1782 in St. Malo (Bretagne), gest. 27. F e b r u a r 1854 in Paris. 1834 von der katholischen Kirche wegen der „Paroles d'un Croyant" verurteilt. 1848 Mitglied der Constituante. L. gehört zur theokratischen Schule. L. ist der Philosoph der an sich selbst enttäuschten Vernunft. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die Trugschlüsse der philosophischen Lehren, während er einen Glauben an die an sich unfehlbare Kraft der natürlichen Intuition festhält. Diese stellt das gemeinsame Element der Religionen dar und wird von dsr katholischen Kirche in besonders hohem Maße ausgedrückt. — L.s Philosophie ist im Gegensatz zum Sensualismus am Seienden selbst orientiert,
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Lamettrie
dessen Wesenszüge der Endlichkeit und Unendlichkeit er für vereinbar hält. Gott oder die Substanz hat drei wesentliche Eigenschaften, Macht, geistige Form und Liebe. In der Sprache der christlichen Religion ist der Vater die Macht, der Sohn die durch die Macht erzeugte Intelligenz, der Geist die Liebe. S c h r i f t e n : Essai sur l'Indifférence en matière de Religion, 4 Bde., Paris 1817—23. — Paroles d'un Croyant, Paris 1834, deutsch 1834 u. 1843. — Esquisse d'une Philosophie, 4 Bde., Paris 1841—46, dtsch. 3 Bde., 1843. — Oeuvres inédites et corresp., hrsg. v, A. Blaize, 2 Bde., Paris 1866. — Oeuvres compl., 10 Bde., Paris 1836—37; 2. A. 1844—1847. — Ges. Werke, deutsch v. G. Rudolphi, 2 Bde., 1844. — Corresp. inéd. entre L, et le Baron de Vitrolles, hrsg. v, E. Forgues, Paris 1898. — Confidences de L., lettres inédites à Marion, hrsg. v. A. Dubois de Villerabel, Nantes u. Paris 1886. —A. Laveille, Un L. inconnu, lettres inéd. à Bénoît d'Azy, Paris 1898, — Lettres inéd. de L. à Montalembert, hrsg. v. E. Forgues, Par. 1898. — Un fragment inédit de l'Esquisse d'une Philosophie, hrsg. v, Chr. Maréchal, Rev. de Mét. 1898 f. — Essai d'un Système de philos, cathol., (1830 f.), hrsg. v. Chr. Maréchal, Paris 1906. — Lettres de Montalembert à L., Paris 1933. L i t e r a t u r : Paganel, Examen critique des Opinions de l'abbé de L., 2 Bde., 1825. Lacordaire, Considérations sur le Syst. philos, de M. d. L,, 1834. — Paul Janet, La Philos, d. L., Paris 1890. — O. Bordage, La Philos, de L., 1869, — A. Ricard, L., 2. Aufl., Paris 1883. — Roussel, L. d'après des Documents inédits, 2 Bde., Rennes 1893. — Ch. Boutard, L., sa vie et ses doctrines, 2 Bde., Paris 1905—08. — Chr. Maréchal, La Métaph. sociale de L., Ann, de philos, chrétienne, 1906. — Ders., L. et Lamartine, Paris 1907. — Ders,, L., La dispute de l'Essai sur l'Indiff,, Paris 1925, —• Duine, F., Essai de bibliographie de F. R. d. L., Paris 1923. — Ahrens, Liselotte, L. u. Deutschland, 1930; in: Universitas Archiv Bd. 32. — Giraud, Victor, La vie tragique de L,, Paris 1933, in: Les énigmes de l'histoire, — R. Vallery-Radot, L., Paris 1931.
Lamettrie, Julien Offray de, geb. 25. Dezember 1709 in St. Malo, gest. 11. Nov. 1751 in Berlin. Vertreter des biologischen Materialismus, ursprünglich Arzt, wurde durch Verfolgungen gezwungen, nach den Niederlanden zu gehen, wo er in Leiden seine Hauptschrift ,,L'homme machine" verfaßte, und folgte 1748 einer Einladung Friedrichs des Großen nach Berlin; er wurde Mitglied der Akademie und blieb bis zu seinem Tode in Berlin. — L. versucht, das Denken aus den körperlichen Funktionen abzuleiten. Die Empfindungen sind Ursprung des Denkens und des Wollens. Ohne Empfindungen würde der Mensch keine Ideen haben, ihre Entwicklung aber ist so sehr von Erziehung und Unterricht abhängig, daß ein Mensch, der von allen Menschen getrennt aufwachsen würde, geistig leer bliebe. Die Materie hat Bewegungskraft und Empfindungsfähigkeit als ihre wesentlichen Eigenschaften, Auch die Tiere besitzen Empfindung und vermögen zu denken. Der Zusammenhang innerhalb der nur materialistisch aufzufassenden Natur ist vollkommen, so daß es in ihr Gegensätze nicht geben kann. Alle Spekulationen lehnt L. ab und hebt jede Verbindung zwischen Religion und Sittlichkeit auf. Seine Moralanschauungen führen zu einem sinnlichhedonistischen Lebensideal, mit der Einschränkung, 'daß das öffentliche Interesse dem privaten voranzugehen habe. Eine Handlung, die in dieser Weise bestimmt ist, ist ,,gut". Der metaphysische Sinn des Lebens ist zweifelhaft. L. nennt das Leben ein Possenspiel. Eine Gesellschaftsverfassung ohne Religion würde zum größten Glück ihrer Mitglieder führen. S c h r i f t e n : Histoire naturelle de l'âme, La Haye 1745. — L'homme machine, Leiden 1748, Paris 1921, deutsch v. Brahn, 1909. — L'homme plante, 1748. — Réflexions philosophiques sur l'origine des animaux, 1750. — L'art de jouir ou l'école de la volupté, 1751, deutsch v. Dedekind: Die Kunst, die Wollust zu empfinden, 1751. — Venus métaphysique ou essai sur l'origine de l'âme humaine, 1751. — Oeuvres philosophiques, 2 Bde., London 1751; neu hrsg. in 3 Bdn., 1796.
La Motte — Lanfrank
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L i t e r a t u r : Picavet, L. et la critique allemande, Paris 1889. — J . E. Poritzky, L., s. Leb. u. s. Werke, 1900, — Bergmann, Ernst, Die Satiren des Herrn Maschine, 1913. — R. Boissier, L, M., médecin, pamphlétaire et philosophe, Paris 1931. L a Motte, A n t o i n e Houdar de, geb. 18. J a n u a r 1672 in Paris, ¿ e s t . 26. D e zember 1731 ebda. F r a n z ö s i s c h e r D i c h t e r und Philosoph, S c h r i f t e n : Discours sur la poésie, 1707. — Réflexions sur la critique, 1716, — Oeuvres complètes, 11 Bde., Paris 1754. L i t e r a t u r : Dupont, Paul, Un poète philosophe au commencement du 18e siècle, H. d. L. M., Paris 1898, Thèse. — Dost, Gerhard, H. d. L. M., Diss., Leipz. 1909. — Gillot, L., 1914. Lamprecht, Karl, geb. 25. F e b r u a r 1856 in J e s s e n , gest. 10. M a i 1915 in Leipzig. Habilitation in B o n n 1880, 1890 o. Prof. in Marburg, 1891 in Leipzig. — L. v e r tritt eine universale Geschichtsauffassung in kollektivistischem Sinn. E r läßt alle geschichtliche Forschung von sozialpsychologischen Anschauungen begründet sein. Aufgabe der Geschichtserforschung im besonderen ist die Gewinnung von G e s e t z e n . L. selbst h a t typische P e r i o d e n des Geschichtsverlaufes am B e i s p i e l der deutschen G e s c h i c h t e entwickelt, die nach seiner Meinung generelle Gültigk e i t haben. E r unterscheidet: Symbolismus (älteste Zeit), Typismus (3. bis 11. J a h r h . ) , Konventionalismus (12. bis 14. J a h r h . ) , Individualismus (15. J a h r h . bis Mitte 18. J a h r h . ) und Subjektivismus (seit Mitte 18. J a h r h . ) , S c h r i f t e n : Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter, 3 Bde., 1885—86. — Deutsche Gesch., 12 Bde., 1891—1909; neueste Ausg. 19 Bde., 1920—1922. — Alte u. neue Richtung in der Geschichtswiss., 1896. — Was ist Kulturgesch.? 1897. — Zwei Streitschriften, den H. H. Oncken, Delbrück u. Lenz zugeeignet, 1897. — D. hist. Methode d. Herrn von Below, 1899. — D. kulturhist. Methode, 1900. — Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, 2 Bde., 1901—04, — Moderne Gesch.wissenschaft, 1905, — Einf. in d. histor. Denken, 1912, — Deutscher Aufstieg 1750 bis 1914, 1914. L i t e r a t u r : B. Weiss, L.s Gesch.philos., Arch. f. syst. Philos,, Bd. 12, 1906, — E. Rothacker, Üb. d. Mögl. u. d. Ertrag e. genet, Gesch.auffassung im Sinne K. L.s, 1912. — W. Wundt u. M. Klinger, K. L., ein Gedenkblatt, 1915, — R. Kötzschke, Verzeichnis der Schriften K, L.s, in: Sachs, Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Verh., Bd. 67, 1905; S. 105—119. — E. J . Spieß, D. Geschichtsphilos. v. K. L., Diss., Freiburg (Schweiz) 1921. — Seifert, Friedrich, D. Streit um K. L.s Geschichtsphilos., 1925; in: Sozialphilos. Vortr. 2. — J . Hohlfeld, K. L., 1930. Lamy, D o m F r a n ç o i s , 1636 bis 1711, B e n e d i k t i n e r . B e k ä m p f t die L e h r e des Leibniz von der prästabilierten Harmonie, A n h ä n g e r von M a l e b r a n c h e , G e g n e r Spinozas. S c h r i f t e n : De la connaissance de soi-même, 6 Bde., 1694—98, 2. Aufl. 1699. — Premiers éléments ou entrée aux connaissances solides, Paris 1706. — Lettres philosophiques, Paris 1703, — L'incrédule amené à la religion par la raison, Paris 1710. — Nouvel athéisme renversé, anonym, 1696. L i t e r a t u r : Malebranche, Nicolas de, Traité de l'amour de Dieu . . ., suivi des trois lettres au P. Lamy, introductions et notes de Désiré Roustan, Paris 1922; in: Collection des chefs-d'œuvres méconnus. Land, J a n P i e t e r Nicolaas, geb. 23. April 1834 in Delft, gest. 30. April 1897 in Arnheim. Professor in Leiden. S c h r i f t e n : De wijsbegeerte in de Nederlanden. Met Levensbericht van den schrijver door C. B. Spruyt, s'Gravenhage 1899. — Hrsg. v. Spinozas Werken, mit J . van Vloten, 1882—83, u. von Geulincx Werken, 1891—93. Lanfrank, geb. um 1010 zu Pavia, gest. 24. M a i 1089 in Canterbury. R e c h t s gelehrter in Pavia. 1070 Erzbischof von Canterbury. L e h r e r des Anselm von
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Langbehn — Lange, Friedrich Albert
Canterbury. Gegen den Rationalismus des Berengar von Tours fordert er das Fernhalten dialektischer Methodik von der Theologie, die er auf die von den heiligen Autoritäten vermittelte göttliche Wahrheit ausschließlich begründen will.
S c h r i f t e n ; Opera omnia, hrsg. v. J . A. Giles, 2 gregoriana, hrsg. v. P. Jaffe, in: Bibliotheca Rerum J . P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 150, Paris 1851. L i t e r a t u r : Boehmer, Heinrich, Kirche u. Staat 1899, S. 79—126. — A. J . Macdonald, L., Oxford 1926. in: Theolog. Quartalsschrift, 1930.
Bde., Oxford 1844. — Monumenta Germanicarum, Bd. 60, 1865. —
in England u. in der Normandie, — E. Hora, Zur Ehrenrettung L.s,
Langbehn, Julius, „der Rembrandtdeutsche", 1851 bis 1907. Gab anonym die kulturphilosophische Schrift „Rembrandt als Erzieher" heraus. L. trat 1900 zum Katholizismus über.
S c h r i f t e n : Rembrandt als Erzieher, 1890, häufig aufgelegt (84 Auflagen bis 1946). L i t e r a t u r : C. Gurlitt, L. der Rembrandtdeutsche, 1927. — Hans Bürger-Prinz, J . L., Leipz. 1940. — Liselotte llschner, R. a. E., Danzig 1928. — Walther Kerstiens, Gestalt u. Geschichte nach L., Diss., Münster 1941. — Benedict Momme Nissen, J . L. Auswahl, Freiburg 1930. — Ders., Der Rembrandtdeutsche J . L„ Freiburg 1926; 2. A. 1929; zuletzt 1937; Die Kunst Rembrandts, Bilderbuch zu Rembrandt als Erzieher, 1929; Der Geist des Ganzen, 1932. — Hans Strobel, Die Begriffe v. Kunst u. Erziehung bei J . L., Würzburg 1941.
Lange, Carl Georg, 1834 bis 1900. 1877 Prof. der Med. in Kopenhagen. — L. gestaltet 1885 die auch von James 1884 vertretene Theorie, daß seelische Erregungen das Ergebnis körperlicher Reaktionen sind. Die seelische Erregung bleibt gebunden an körperliche Zustände und ist nichts als die Perzeption ihres Wechsels.
S c h r i f t e n : Über Gemütsbewegungen, 1885, deutsch 1887, — Kunstgenuß, Kopenhagen 1893, deutsch 1903.
Sinnesgenüsse u.
Lange, Friedrich Albert, geb. 28. September 1828 in Wald bei Solingen, gest. 21. Nov. 1875 in Marburg. Als Student in Zürich hörte L. den Herbartianer Bobrik. Er promovierte in Bonn 1851 mit Quaestiones metricae, 1855 habilitierte er sich dort mit einer Antrittsvorlesung „Über den Zusammenhang der Erziehungssysteme mit den herrschenden Weltanschauungen verschiedener Zeitalter." Auf Grund einer politischen Maßregelung wegen „Mangel an gereiftem Urteil und leidenschaftsloser Besonnenheit" nahm L. Herbst 1862 seine Entlassung. Er blieb in Duisburg als Redakteur und als Sekretär der Handelskammer und trieb statistische und volkswirtschaftliche Studien. Im Nov. 1866 ging er nach der Schweiz, habilitierte sich in Zürich, und erhielt 1870 als Erster die Professur für „induktive Philosophie", 1873 wurde er nach Marburg berufen. L.s Stellung in der Geschichte der Philosophie wird bestimmt durch sein Werk „Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart". Es ist eins der einflußreichsten philosophischen Bücher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh.; denn es hatte erheblichen Anteil an der Überwindung des Materialismus durch seine kritische Darstellung und Widerlegung, wie mittelbar durch Förderung des Neukantianismus. L. hat, wie Helmholtz, als einer seiner ersten Vertreter zu gelten, und wie dieser erklärte er Kant aus den neuen Ergebnissen des Sinnesphysiologie heraus. Neben Kritik des Materialismus und Wiederbelebung Kants ist es L.s Ablehnung aller Metaphysik, die historisch wirksam wurde. L. wirft den spekulativen Systemen und den materialistischen Weltdeutungen eine Überschreitung ihrer Grenzen vor, wenn sie als eine oder gar als die Philosophie gelten wollen. Die Aufgabe, die die Spekulation des deutschen Idealismus sich setzte, die Welt als Ganzes zu verstehen, ist für eine Wissenschaft unlösbar.
Lange, Friedrich Albert
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Zu begreifen vermag der Mensch immer nur Einzelnes oder Bruchstücke; ein Ganzes muß er — dichten! Dabei ist „Dichtung" in dem umfassenden Sinn wie bei Schiller genommen, den L. aufs höchste verehrte: als ein „notwendiges und aus den innersten Lebenswurzeln der Gattung hervorbrechendes Gebiet des Geistes." So gehört spekulative Philosophie, wie alle Metaphysik, in eine Gruppe mit Religion und Kunst, also ins Gebiet der Begriffsdichtung. Aber auch der Materialismus begibt sich auf ein seinem Wesen fremdes Gebiet, wenn er Philosophie sein will. Er darf lediglich mit dem Anspruch hervortreten, als Maxime der naturwissenschaftlichen Einzelforschung zu dienen. Nur als Methode hält L. den Materialismus für berechtigt und brauchbar, und als Methode wendet er ihn selbst auf allen seinen Arbeitsgebieten an. Er bekennt: „Meine Logik ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung, meine Ethik die Moralstatistik, meine Psychologie ruht durchaus auf der Physiologie, mit einem Wort: ich suche mich nur in exakten Wissenschaften zu bewegen." (Brief vom 27. Sept. 1858.) Materialismus aber als philosophische Weltansicht ist nach L.s Meinung längst widerlegt: durch die Physiologie und durch Kant. Zerstört doch die Physiologie der Sinnesorgane den Glauben, daß die Welt so ist, wie wir sie sehen, hören, fühlen. Endgültig überwunden aber ist der Materialismus durch Kant, der gezeigt hat, daß nicht unsere Vorstellungen sich nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unsern Vorstellungen. Die Grundbegriffe des naturwissenschaftlichen Materialismus, Materie, Atom, Kraft, Ding sind nicht „an sich". Es sind vielmehr wissenschaftliche Hilfsbegriffe, von uns erdacht, um uns die Welt verständlich zu machen. Die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens wird von L. im Sinne Kants behandelt. Den kantischen Begriff des a priori erkennt L. zwar an, sieht es aber in unserer geistig-körperlichen Organisation begründet. Gegen die methodischen Grundlagen der kantischen Ethik erhebt L. die stärksten Einwendungen. Er verweist die Ethik, wie Religion und Kunst, in eine Welt der Werte. Als Aufgabe setzt er ihr eine Umgestaltung der Lebensverhältnisse zum Idealen. L.s „Standpunkt des Ideals" hat stark auf die Ausbildung der „Philosophie des Als-Ob" durch Vaihinger gewirkt, der selber in L.s Lehre die grundlegende Vorbereitung für seinen Fiktionalismus sieht. Die nähere Begründung für seine Ablehnung der Metaphysik leitet L. aus deren Anspruch her, objektive Erkenntnis einer objektiv bestehenden Welt zu sein. Alle Erkenntnis ist nach L, getragen von subjektiv geltenden Verstandessätzen und erfüllt von Sinneseindrücken, die gleichfalls nur für das Subjekt Geltung besitzen. So ist das Streben der Metaphysik Selbsttäuschung. Ihre Unhaltbarkeit zeigt sich auch in der Art ihrer Lösungen, die allen Erfahrungswissenschaften widersprechen und bloße Scheingebilde sind. Auch bei Kant ist noch ein metaphysischer Rückstand vorhanden, den L. ihm sehr verdenkt: in der Lehre vom mundus intelligibilis. Diese Ablehnung der Metaphysik machte auf Nietzsche starken Eindruck. In den geschichtlichen Teilen seines Hauptwerkes zeigt L., daß jede Lockerung der Verknüpfung zwischen philosophischer Forschung und positiver Wissenschaft zu einem Abstieg der Philosophie geführt hat. L., der als praktischer Pädagoge gerühmt wurde, hat sich auch mit der Pädagogik als Wissenschaft befaßt. Schon seine Bonner Antrittsvorlesung will den Nachweis führen, daß die Pädagogik als vollendete Erziehungswissenschaft erst mit der Philosophie entstehen kann, aber mit dieser auch notwendig entstehen muß, wenn das System nicht unvollständig bleiben soll. S c h r i f t e n : D. Grundlagen der mathemat. Psychologie, ein Versuch z. Nachweisung des fundamentalen Fehlers bei Herbart u. Drobisch, 1865. — D. Arbeiterfrage, 1865, zul.
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Lange, J o h . J o a c h i m — Languet
1910. — D. Gesch. des Materialismus u. Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2 Bde., 1866: 10. Aufl. mit Vorwort u. Einl. von H. Cohen, 2 Bde., 1921; hrsg. v. Wilhelm Bölsche, 1920. — Neue Beiträge z. Gesch. des Materialismus, Heft 1, 1867. — Logische Studien, ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik u. der Erkenntnistheorie, hrsg. v. H. Cohen, 1877, 2. Aufl. 1894. — Artikel in Schmids Enzyklopädie f. d. ges. U n t e r richtswesen, unter: Leibesübungen, Seelenlehre, Vives. — Biographie Überwegs, 1871. L i t e r a t u r : H. Vaihinger, Hartmann, Dühring u. Lange, 1876. — O. A. Ellissen, F. A. L., 1891. — Bosch, F. A . L. u. s. S t a n d p u n k t des Ideals, 1890. — M. Heinze, D. Idealismus F. A. L.s, Vierteljahrsschrift 1, 1877, — O. A. Ellissen, F. A. L. als Philosoph u. Pädagog, M o n a t s h e f t e d. Comeniusges. III, 1894. — S. H. Braun, F. A, L. als Sozialökonom, Halle 1884, Diss. — Genz, Der Agnostizismus H e r b e r t Spencers mit Rücksicht auf A. Comte und F. A. Lange, Diss., Greifswald 1902. — R. Stölzle, Franz Hoffmann u. F. A. L., Phil. J a h r b . 30, 1917. — Erich Becher, Deutsche Philosophen, 1929. — P. Grebe, Die A r b e i t e r f r a g e bei L,, Ketteier, Jörg, Schäffle, 1935.
Lange, Joh. Joachim, geb. 26. Oktober 1670 in Gardelegen, gest. 7. Mai 1744 in Halle. 1709 Prof. der Theologie in Halle. — L. war Gegner der Wölfischen Philosophie, deren Determinismus er bekämpfte. Sie ist nach seinem Urteil religionsgefährlich, weil atheistisch und spinozistisch. L. betrieb daher die Landesverweisung Wolfis (1723). S c h r i f t e n : Causa Dei et religionis naturalis adv. atheism., 1723. — Modesta disquis. novi philos. syst, de Deo, mundo et homine, 1723. — Selbstbiographie, 1744. L i t e r a t u r : Wolf, Christian, Sammlung aller Schriften, die in d. L. sehen u. Wolffischen Streitigkeit abgesetzt werden, 1737.
Lange, Julius, geb. 19. Juni 1838 in Vordingborg (Seeland), gest. 20. September 1896 in Kopenhagen. 1875 Universitätsprof. in Kopenhagen. Skandinavischer Kunsthistoriker und Ästhetiker. Bruder von Konrad L. — Im Gegensatz zur spekulativ-philosophischen Ästhetik vertritt L. einen realistisch-positivistischen Standpunkt gegenüber den ästhetischen Problemen. S c h r i f t e n : Darstellung des Menschen in der älteren griech. Kunst, hrsg. v. A. Furtwängler, 1899. — Die menschliche Gestalt in der Gesch. der Kunst, hrsg. v. P. Köbke, 1903. — Om Kunstvaerdi, 1876, — Ausgewählte Schriften, hrsg. von P. K ö b k e u. G. Brandes, 3 Bde., 1900—1903. — Briefe, hrsg. v. P. Köbke, 1903. — Streftog i Verdens-Kunstudstillingen i W i e n , 1873. — Vom Kunstwerk, zwei Vorträge (1874 u. 1876), dtsch. hrsg. von J . von Schlosser, o. J , L i t e r a t u r : Kainz, Friedrich, in: Zeitschrift für Ästh., Bd. 22, 1928, S. 449—453.
Lange, Konrad v., geb. 15. März 1855 in Göttingen, gest. 30. Juli 1921 in Tübingen, 1885 Professor in Göttingen, 1892 in Königsberg, 1894 in Tübingen. L. begründet die Illusionstheorie der Kunst und des Ästhetischen. Das Ästhetische ist Illusion, der Zweck der Kunst ist es, eine bewußte Selbsttäuschung und den Genuß der Illusion, im Schwanken zwischen Wirklichkeit und Täuschung, hervorzurufen. S c h r i f t e n : Die künstlerische Erziehung der dtsch, Jugend, 1893. — Die bew. Selbsttäuschung, 1895. — G e d a n k e n zu e. Ästhetik auf entwicklungsgesch. Gründl., Z. f. Psychol., 1897. — D. W e s e n der Kunst, 2 Bde., 1901, 2. Aufl. in 1 Bd., 1907. — D. W e s e n d. künstler. Erziehung, 1902. — Üb. d. Methode d. Kunstphilos., Z, f. Psychol., 1904. — Schön u. praktisch, e. Einführung in die Ästh. der angewandten Künste, 1908, — Üb, d. Zweck der Kunst, 1912. — Krieg u. Kunst, 1915. — Nationale Kinoreform, 1918, — D. ästh. Illusion u. ihre Kritiker, in: Ann. d. Philois,, 1919. — D. Kino in Gegenwart u. Zukunft, 1920.
Languet, Hubert, geb. 1518 in Vitteaux (Cöte-d'Or), gest. 30. September 1581 in Antwerpen. Freund des Melanchthon. Französischer Diplomat, Galt als Verfasser der unter dem Namen Junius Brutus erschienenen Vindiciae contra tyrannos (1579).
Laotse — Larenz
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S c h r i f t e n : Briefe, 2 Bde., 1699. L i t e r a t u r : Lamare, Philibert de, Biographie L.s, 1700. — Blasel, J . , H. L., 1872.
Laotse, chinesischer Weiser, lebte nach älterer Annahme ini 6. Jh. v, Chr., nach neueren Vermutungen im 4. Jh. v. Chr. als Staatsarchivar am kaiserlichen Hofe. L. schrieb seine Lehre nieder im „Tao Te King", dem Buch vom Tao und von seinem Wirken. ,,Tao" (Weg) ist bei L. kosmisches, ethisches, logisches Prinzip. Es ist Urwesen der Welt, Urgrund alles Seins und Lebens, sittliche Weltordnung und ihr Wirken im Menschen. Wer im Sinne des Tao sein Leben führt, ist wunschlos, frei von Begehrlichkeit, im Einklang mit dem waltenden Wesen. Im Gnundzug ist L.s Lehre dem mystischen Pantheismus 'der europäischen Philosophie vergleichbar. Im Gegensatz zu L.s Weisheit steht die Lehre des Kungfutse. S c h r i f t e n : Buch vom höchsten Wesen und vom höchsten Gut (Tao-te-king), aus dem Chines, übers., mit Einl. vers. u. erläutert von Julius Grill, 1910. L i t e r a t u r : R. Wilhelm, L., Das Buch vom Sinn u. Leben, 1911; L. u. der Taoismus, 1925. — H. Haas, Das Spruchgut Kungtses u. L.s, 1920. — Henri Borei, Wu-Wei, übers, v. W. Zimmermann, Bern 1933. — Carl Dallago, L., Innsbruck 1927. — Otto Folberth, Meister Eckehart u. L., Mainz 1925. — Heinrich Stadelmann, Die Biologie des L., Kampen 1936. — Ders., L. u. d. Biologie, Genf 1935.
Laplace, Pierre Simon, geb. 28. März 1749 in Beaumont-en-Auge, gest. 5. März 1827 in Paris, Französischer Mathematiker und Astronom. — L. gestaltet eine Theorie, nach der die Welt aus der Ballung von Nebelmassen entstanden ist. Er bildet die Fiktion eines Geistes, der von einer ihm bekannten Weltformel aus alle künftigen Zustände des Weltalls vorauswissen kann („Laplacescher Geist"). Die Wahrscheinlichkeit definiert L. als subjektive Ansicht von den Erscheinungen, beruhend auf unserer Mischung von Wissen und Nichtwissen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung kann zur Methode positiv-wissenschaftlicher Forschung werden. S c h r i f t e n : Mécanique céleste, 5 Bde., 1799—1825. — Essai philos, sur les probabilités, 1814, deutsch 1819 u. 1886. — Exposition du système du monde, 2 Bde., 1796; deutsch 1797. — Oeuvres compi., 7 Bde., Paris 1843—1848; hrsg. v. d. Académie des Sciences Morales et Politiques, 14 Bde., Paris 1878—1912. — Immanuel Kant u. Pierre Laplace, Die Kant-Laplacesche Theorie, eingel. u. hrsg. v. Heinrich Schmidt, 1925; in: Kröners Taschenausg., Bd. 46. L i t e r a t u r : Kaufmann, L., Paris 1841. — J . Bertrand, La théorie des probabilités de L., Journal des savants, 1887, p. 686. — Mises, R. v., Wahrscheinlichkeit, Statistik u. Wahrheit, 1928.
Lapouge, Georges Vacher de, geb. 12. Dezember 1854 in Neuville de Poitou (Vienne) verstorben. — Der französische Anthropologe L. ist vor Gobineau Vertreter des Rassegedankens und zugleich Vertreter des sozialen Darwinismus. Geschichte ist beherrscht vom Kampf verschiedener Rassen, die nach dem Schädelindex zu unterscheiden sind. S c h r i f t e n : Les Sélections sociales, Paris 1896. — L'Aryen, son rôle social, Paris 1899; deutsch Frankfurt a. M. 1939. — Race et milieu social, Paris 1909. — Les lois fondamentales de l'anthroposociologie, in: Journ. of polit, economy, VI, 1897, Chicago.
Larenz, Karl, geb. 23. April 1903 in Wesel; 1926 Dr. jur.; 1929 Privatdoz. in der rechts- und staatswiss. Fakultät Göttingen, o. Prof. Kiel 1933. S c h r i f t e n : Hegels Zurechnungslehre u. der Begriff der objekt. Zurechnung, 1927. — D. Problem der Rechtsgeltung, 1929. — Rechts- u. Staatsphilos. d. Gegenwart, 1931, 2. Aufl. 1935. — Hegels Dialektik des Willens u. d. Problem der jurist. Persönlichkeit, in: Logos, 1931. — Einführung in Hegels Rechtsphilos., zus. mit Jul. Binder und M. Busse, 1931. — Hegel u. d. Privatrecht, in: Verh. d. 2. Hegelkongr., 1932. — Rechts- u. StaatsPhilosophen-Lexikon
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Larochefoucauld — Lask
philos, des deutschen Idealismus, in: Handbuch d. Philos., Abt. 4, 1933. — Deutsche Rechtserneuerung u. Rechtsphilos., 1934. — Über Gegenstand u, Methode des völk. Rechtsdenkens, Berlin 1938. — Hegelianismus u. preuß. Staatsidee, Hamburg 1940. — Vertrag u. Unrecht, 2 Tie., Hamburg 1936/37. — Rechtsperson u. subjektives Recht, 1935. — Rechtsidee u. Staatsgedanke, in: Festschrift f. J . Binder, 1930. Larochefoucauld, Herzog François VI. von, geb. 15. Dezember 1613 in Paris, gest. 17. März 1680 ebda. — Ethiker, lehrte, daß alle unsere Handlungen aus der Selbstliebe entspringen. S c h r i f t e n : Réflexions ou sentences et maximes morales, 1665; dtsch.v. E. Hardt, 1906, v. F. Hörlek, Reclams Univers.-Bibl., Lpz. — Oeuvres, hrsg. v. D. L. Gilbert u. L. Gourdault, 4 Bde., Paris 1868—1881. L i t e r a t u r : H. G. Rahstede, Stud. zu L.s Leb. u. W., 1888. — Jovy, Deux inspirateurs peu connus des Maximes de L., Daniel Dywe et Jean Verneuil, Vitry-le-François 1910. — G. Tinivella, L. e le sue massime, Sondrio 1910. — R. Grandsaignes d'Hauterive, Le pessimisme de L., Paris 1914. — Gabriel de Larochefoucauld, Un homme d'église, F. d. L., Paris 1926. — Hess, Gerhard, L. Die Maximen, in: Dtsche. Vierteljahrschr. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch., Bd. 13, S. 456—489. — J . Calvet, Hist. de la littérature française, Paris 1934, enthält Bibliographie L.s. Laromiguière, Pierre, geb. 3. November 1756 in Livignac-le-Haut (Aveyron), gest. 12. August 1837 in Paris. 1811 bis 1813 Professor der Philosophie an der F a c u l t é des L e t t r e s in Paris. — L. lehrte, daß neben der Empfindung durch die Sinne eine besondere Aktivität der S e e l e angenommen werden müsse, mit deren Hilfe der Mensch das durch die Empfindung zuströmende Material bearbeitet. Das Bewußtsein hiervon ist von dem bloß Sinnlichen deutlich abtrennbar. Die fundamentale Leistung der S e e l e ist die Aufmerksamkeit. S c h r i f t e n : Leçons de philosophie ou essai sur les facultés de l'âme, 2 Bde., Paris 1815—18. — Projet d'eléments de métaphysique, 1793. — Sur les paradoxes de Condillac, 1805. L i t e r a t u r : Maine de Biran, Examen des leçons de philos, de L., 1817. —• Lami, La Philos, de L., Paris 1887. — Alfarie, Prosper, L. et l'école, Paris 1929; in: Publications de la faculté des lettres de Straßbourg, II, 5. Lasaulx, Ernst v., geb. 16. März 1805 in Koblenz, gest. 10. Mai 1861 in München. 1835 Prof. der Philologie in Würzburg, 1844 Prof. der Philologie und Ästhetik in München. 1847 bis 1849 des Amtes enthoben. — Geschichtsphilosoph, für den die Menschheit ein organisches Ganzes ist und einen Gesamtwillen besitzt. S c h r i f t e n : Der Untergang des Hellenismus, 1854. — Üb. die theolog. Grundlage aller philos. Systeme, 1856. — Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philos, der Gesch., 1856. — Des Sokrates Leben, Lehre u. Tod, 1857. — Die prophetische Kraft der menschlichen Seele in Dichtern u. Denkern, 1857. — Die Philos, der schönen Künste, 1860. L i t e r a t u r : Holland, Erinnerungen an E. v, L., 1861. — R. Stölzle, E. v. L., 1904. — Alfons Koether, E. v. L. Geschichtsphilos. u. ihr Einfl. auf Jacob Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen", Diss., Münster 1937. L a s k , Emil, geb. 25. September 1875 in Wadowice (Österr.), gefallen am 26. Mai 1915 in Galizien. In Freiburg Studium der Jurisprudenz und der Philosophie bei R i c k e r t . 1902 Dr. phil. mit einer Diss. über „Fichtes Idealismus und die G e s c h i c h t e " . In Heidelberg 1905 Habilitation bei Windelband mit einer Schrift über „Rechtsphilosophie" und mit einer Antrittsrede „Hegel in seinem Verhältnis zur Weltanschauung der Aufklärung". Erhielt Kuno Fischers lange unbesetzte Professur. D e r S y s t e m a t i k e r L., der vom Neukantianismus in R i c k e r t s Prägung seinen Ausgang nimmt, entwickelt eine Logik der Philosophie mit dem Ziel der Aus-
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Gestaltung einer Weltanschauung. Die erste, bis 1913 reichende und allein klar überschaubare Periode seines Philosophierens konnte man als einen durch K a n t hindurchgegangenen Piatonismus (Herrigel), als eine Synthese zwischen der platonisch-aristotelischen Philosophie und dem modernen Kantianismus (Rickert), als einen A n s a t z zur Überwindung des Neukantianismus in Richtung auf augustinische Metaphysik des Geistes deuten. D e r Nachdruck liegt auf dem gegenständlichen Sein, der objektiven W e l t , so wie sie in Wahrheit ist; das erkennende Subjekt verhält sich demgegenüber „dienend", auch im unmittelbar-urbildlichen Erkennen. L.s Philosophieren nach 1913, das in seinem Nachlaß unabgeschlossen vorliegt, nähert sich einer A r t von Subjektivismus. Die Aussöhnung zwischen objektivistischer und subjektivistischer Deutung ist L. nicht mehr gelungen. D e r entscheidende Begriff nicht nur in der Logik, sondern für die Philosophie überhaupt ist der Begriff der Form, den L. mehr im antiken als im kantischen Sinne gebraucht. Urform, Urgestalt ist die Kategorie, „Indem die Kategorien sich als ein ,Material' zur Gegenständlichkeit erhöhende ,Formen' erweisen, so ist in der kategorialen F o r m das logis-che Urphänomen . . . zu e r b l i c k e n " (Lehre vom Urteil, 1912, S. 2). Die Kategorie als F o r m und der Inhalt, der von ihr umschlossen wird, das Kategorienmaterial, sind also voneinander zu trennen. Durch das Material erst wird auch das reine mannigfaltigkeitslose Gelten, das in der Urform auf den Plan tritt, in eine Vielheit von urbildlichen Formen zerlegt; ihr Sinn, ihr Bedeutungsgehalt wird gleichfalls nur durch das Material verständlich. L, spricht hier von einem Differenzierungsprinzip. Soviel verschiedengeartetes Material vorhanden ist, so viele Formen des Materials gibt es. Mit dieser an sich bestehenden Entsprechung zwischen Seiendem und Geltendem hat das Subjekt nichts zu tun. Die Gegenstandsform, der urbildliche Formbegriff, die Kategorie wird vom erkennenden Subjekt völlig gelöst. Erkennen heißt, das All der Gegenstände ohne subjektive Zutat „so belassen, wie es in Wahrheit dasteht". Das Subjekt ist die „Erlebensrealität", die „Erlebenstatsächlichkeit", die Erlebensstätte für unsinnlichen Sachgehalt. Um dies im Rahmen seiner systematischen Voraussetzungen begreiflich zu machen, unterscheidet L. das leibhaft Seiende 1. als Material und 2, als Substrat des Geltungsgehalts. Von dieser Trennung, die das Problem der Subjektivität ihm aufgibt, geht der Umschwung in L.s philosophischem Denken aus. Der B e r e i c h des Wirklichen im mundus sensibilis, wo das leibhaftig Seiende „ S u b s t r a t " des Geltungsgehalts ist, der Bezirk der lebendigen Subjektivität, wird gekennzeichnet durch Berührbarkeit von entgegengeltendem theoretischem Wertgehalt, von dem werthaften Gegenüber. Das Erleben erhält also seinen W e r t c h a r a k t e r vom transsubjektiven W e r t ; durch ihn wird es als „kontemplativt h e o r e t i s c h e " Subjektivität gestempelt. Kontemplativ sind ästhetisches und religiöses Verhalten, im Gegensatz zum praktischen Willensverhalten. Die kontemplativen W e r t e sind transpersonal, die praktischen personal. Sinnerfülltes L e b e n kann nur von den W e r t e n her verständlich gemacht werden. Alle Philosophie, die sich selbst versteht, muß Wertphilosophie sein. Das Differenzierungsprinzip, das L. anfänglich nur auf die theoretische Sphäre anwendet, wird schließlich über alle „Sinn-" und „ W e r t " - G e b i e t e ausgedehnt. S c h r i f t e n : Fichtes Idealismus und die Geschichte, 1902, — Rechtsphilos., 1905. — Gibt es einen „Primat der prakt. Vernunft" in der Logik? Vortrag auf dem 3. Internat. Kongreß in Heidelberg, 1908. — Die Logik der Philos. u. d. Kategorienlehre, 1910. — Die Lehre vom Urteil, 1911. — Gesammelte Schriften, 3 Bde., hrsg. v. Eugen Herrigel, mit Geleitwort v. Heinr. Rickert, 1923—24, in Bd. III: Nachlaß-Schriften. L i t e r a t u r : Georg Pick, Die Übergegensätzlichkeit der Werte, Gedanken über das rel. Moment in E. L.s Log. Schriften vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus, 2*
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Lassalle
1921. — Friedrich Kreis, Zu L.s Logik der Philos., in Logos X, 1921—22, S. 227—243. — Eugen Herrigel, E. L.s Wertsystem, Versuch einer Darstellung aus seinem Nachlaß, in Logos XII, 1923—24, S. 100—122.
Lassalle, Ferdinand, geb. 11. April 1825 in Breslau von jüdischen Eltern, gest. 31. August 1864 in Genf. Studierte an den Universitäten Breslau und Berlin Philosophie, wurde in Berlin mit Humboldt, Savigny, Böckh bekannt, unterbrach aber seine erfolgreich begonnene Gelehrtenlaufbahn, um für die Gräfin Hatzfeld acht Jahre hindurch ihren Scheidungsprozeß zu führen. Er verlegte im Laufe des Prozesses seinen Wohnsitz nach Düsseldorf, wurde 1848 mit rheinischen Demokraten bekannt, forderte das Volk zu bewaffnetem Widerstand auf, als die Regierung die Nationalversammlung gewaltsam auflöste, und wurde verhaftet. Er verteidigte sich, wurde freigesprochen, aber wegen eines verwandten Deliktes zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Diese büßte er ab, nachdem er es abgelehnt hatte, ein Gnadengesuch einzureichen. Damit begann seine politische Laufbahn. Sie führte ihn in leidenschaftliche Kämpfe für die Arbeiterschaft gegen den bürgerlichen Liberalismus (Fortschrittspartei, Schultze-Delitzsch), zugleich aber mit dem Bürgertum gemeinsam gegen die Reaktion. Ein Höhepunkt seiner politischen Tätigkeit war der 12. April 1862 mit dem Vortrag über den „Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes", dem sogenannten „Arbeiterprogramm". Dieser Vortrag brachte ihn wieder vor die Schranken des Gerichts. Er verteidigte sich stolz: sein Leben sei der freien Wissenschaft und dem Arbeiter geweiht, und ließ seine Verteidigungsrede unter dem Titel drucken: „Die Wissenschaft und die Arbeiter". Er bekämpfte den Staatsanwalt, einen Sohn Schellings, mit Zitaten aus den Werken seines Vaters, betreffend die Freiheit des Geistes, und wurde zu Gefängnis verurteilt. Dieses Schicksal traf ihn noch häufiger. Den ersten organisatorischen Ansatz zur Realisierung seiner Ideen fand er im Jahre 1863. Ein Zentralkomitee für Arbeiterinteressen in Leipzig wandte sich an ihn und fragte um seinen Rat. Sein offenes Antwortschreiben an dieses Komitee vom 1. März 1863 begründete die sozialistische Bewegung in Deutschland. Es forderte die Arbeiter auf zum Zusammentritt in einer selbständigen politischen Arbeiterpartei. Heftige Kämpfe gegen den Liberalismus und sein Streben zum Einheitsstaat, das ebenso gegen den Föderalismus wie gegen die Dynastien gerichtet war, führten ihn in die Nähe Bismarcks, der ihn einige Male empfing, seine Agitation auch im Interesse der eigenen antiliberalen Politik zu gebrauchen wußte, ohne ihn jedoch zu unterstützen. Der eigentlich große Erfolg für Lassalle blieb aus. Seine Agitation, die schweres gelehrtes Rüstzeug mit leidenschaftlichem Pathos vereinigte, weckte zuerst das Klassenbewußtsein der Arbeiter, indem er von dem Prinzip der Arbeit, als der schlechthinigen Grundlage der Wirtschaft, ausgeht und die Besitzordnung angreift, die im Lohn dem Arbeiter nicht den Gegenwert seiner tatsächlichen Leistung garantiere. Äußerlich erreichte L. nichts. Immer neue Verfolgung und Inhaftierung zerstörten seine Nervenkraft. Er fiel im Duell wegen einer Liebesangelegenheit von der Kugel eines Rumänen. In seinen stark erlebten philosophischen Überzeugungen ist L. vor allem von Hegel und Fichte aus zu verstehen, während seine nationalökonomischen Theorien westlich orientiert sind. Ganz unter dem Einfluß Hegels steht die Erforschung ' der Philosophie „Heraklits des Dunklen", die in Berlin abgeschlossen wird, wo er durch Vermittlung A. von Humboldts beim König von Preußen die Erlaubnis zur Niederlassung erhält, und die 1857 erscheint. Das Werk, mit eindringlicher Spezialkenntnis verfaßt, erläutert die Begriffe und überlieferten Fragmente aus dem Geiste Hegels heraus. So heißt es z. B.: „Die Welt ist somit die beständige
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Einheit der beiden entgegengesetzten Momente des Sein und Nichts, des zur Genesis (Geburt) und des zur Ekpyrosis (Aufhebung, Negation) führenden. Sie besteht also nur dadurch, daß sie die -/evsaii wie die sx^úpajat? und das Umschlagen beider Seiten ineinander beständig in sich hat. Beide Momente sind ihr gleich wesentlich. Die Welt ist so Einheit des Entstehens und Vergehens oder immer werdendes Werden" (I, 129). Die Hegeische Dialektik behält indessen keine entscheidende Macht über sein Denken, und sein Sozialismus hält sich wesentlich an Fichte. Die charakteristische Verschiedenheit, die ihn von dem an Hegel orientierten Marxismus trennt, formuliert L. einmal bei Gelegenheit der Verteidigung seines SickingenDramas gegen die Kritik von Marx und Engels in einem Brief an diese beiden Freunde: „Geht man von der Hegeischen konstruktiven Geschichtsauffassung aus, der ich ja selbst so wesentlich anhänge, so weiß man sich freilich mit euch zu antworten, daß in letzter Instanz der Untergang dort notwendig eingetreten wäre und eintreten mußte, weil Sickingen, wie ihr sagt, ein au fond reaktionäres Interesse vertrat, und daß er dies wieder notwendig mußte, weil ihm Zeitgeist und Klasse das konsequente Einnehmen einer anderen Stellung unmöglich machten. Aber diese kritisch-philosophische Geschichtsanschauung, in der sich eherne Notwendigkeit an Notwendigkeit knüpft, und die eben deshalb auslöschend über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinwegführt, ist eben darum kein Boden weder für das praktische revolutionäre Handeln noch für die vorgestellte dramatische Aktion. Für beide Elemente ist vielmehr die Voraussetzung von der umgestaltenden und entscheidenden Wirksamkeit individuellen Entschließens und Handelns der unerläßliche Boden" (Briefwechsel, Ausg. Mehring, S. 156). In der damit bezeugten Geistesart Lassalles liegen der innere Grund und die tiefere Rechtfertigung dafür, daß er Fichte als seinen politischen Kronzeugen anruft und von ihm 1860 Fragmente über deutsche Einheit herausgibt. Einige Jahre später feiert er ihn in der Berliner Philosophischen Gesellschaft mit dem Vortrag über „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes", der mit den Worten schließt: „An dem Tag, wo alle Glocken läutend die Fleischwerdung dieses Geistes, das Geburtsfest des deutschen Staates verkünden werden, — an diesem Tage werden wir auch das wahre Fest Fichtes, die Vermählung seines Geistes mit der Wirklichkeit feiern". In L.s begleitendem Text zu den Fragmenten heißt es: „Ist ein noch so großer überallher versammelter Haufe von Leuten ein Volk? Gewiß nicht. Zu einem Volke ist vielmehr noch erforderlich, daß dieser Haufe in ursprünglicher Weise von demselben identischen und bestimmten Geiste beseelt sei, der einem Volke eben durch Rassenabstammung, Tradition und Geschichte vermittelt wird. Dies ist ein Volk, aber nur erst an sich. Das Volk ist dann zu vollendeter Wirklichkeit gelangt, oder das Volksein ist dann, wie Fichte sagt, in sein Bewußtsein und sein wahrhaftes Sein übergegangen, wenn es diesen gemeinschaftlichen eigenen ursprünglichen Geist nun auch selbst heraussetzt und entwickelt. Alle Geschichte und aller Drang eines Volkes besteht in nichts, als in der Verwirklichung dieses Geistes. Ein Volk ist frei, wenn es diese Selbstverwirklichung seiner bewußt ausführen kann. Ein solches Volk läßt sich daher nie erobern oder zu dem Anhängsel eines anderen machen, weil es dann statt wie bisher sich selbst zu verwirklichen, einem anderen und fremden Geist und Willen hingegeben ist, und somit jetzt wahrhaft beherrscht, aus Freien in Sklaven verwandelt wäre" (3. Aufl., 1871, 6). L. erinnert gegen die „Hohlheit und Leerheit des nur auf der persönlichen Willkür beruhenden Liberalismus" an Fichtes Freiheitsidee, die auch den Zwang zur Freiheit und die Befreiung von diesem Zwang durch die Einsicht des
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Rechts kennt (10 f.), und wendet sich gegen den Föderalismus: „Neben diesem großen Gegensatz von Föderation und Volkseinheit sinkt sogar der Gegensatz zwischen Monarchie und Republik zu einem relativ unbedeutenden herab" (14); „die größten Gegensätze lassen sich daher unter einer vernünftigen Staatseinheit zusammenfassen, wenn sie nur dabei auch wieder irgendeinen gemeinschaftlichen Grundcharakter haben, wie er bei uns in Abstammung, Bedürfnis, literarisch und wissenschaftlicher Einheit usw. vorliegt" (18). Damit ist L.s philosophisch begründete staatspolitische Grundanschauung gegeben. Im übrigen erklärt er Lessing und Friedrich II, von Preußen für die Hauptfiguren in der literarischen Epoche des vorigen Jahrhunderts. Die Bearbeitung des Hatzfeldschen Prozesses führt ihn in juristische Studien, deren Ergebnis ein „System der erworbenen Rechte" (1861, 2 Bde.) ist. Das historische Denken Hegels wirkt nach, die Formalistik des dialektischen Schemas fällt fort. Die Geschichte wird wesentlich als Prozeß gesehen, in dem die Entwicklung der Institutionen mit der Entwicklung der Ideen zusammenfällt. Die einzelnen Rechtsinstitute sind entsprechend historische, nicht dogmatische Kategorien. Sogar das Naturrecht selbst ist „historisches Recht, eine Kategorie historischer Natur und Entwicklung; denn der Geist selbst ist nur ein Werden in der Historie" (I, 70). Wesentlich ist die daraus von L. gezogene Folgerung, daß zwischen dem germanischen und römischen Eigentumsbegriff, wie auch zwischen den übrigen Grundbegriffen beider Rechte, scharf unterschieden werden muß. Trotz dieses Historismus in der Grundanschauung bleibt L. dogmatisch konstruktiv, wenn er etwa aus dem alten Naturrecht den Satz übernimmt, das Privatrecht sei die Realisation der Freiheit des Individuums (I, 57). So kommt er zu einer Definition der erworbenen als der Rechte, welche durch freie Willensaktionen vermittelt sind (I, 85) — Fichtes Denken scheint wieder durch! — und die das Individuum ganz zu seiner Tat gemacht, „vereinigt" hat (I, 142). Dies bleibt die eigentliche Leistung Lassalles: deutschen Idealismus, verbunden mit sozialistischer und nationaler Gesinnung im Geiste Fichtes, übergeführt zu haben in unmittelbare, politische Aktion des deutschen Arbeiters, den er zuerst in weiterem Maße zum Bewußtsein seiner eigenen Stellung im Staat und damit seines Anrechts auf Unterstützung von Seiten des Staates gebracht hat. In diesem Sinne gibt er im Jahre 1861 zwei entscheidenden Eigentumsfragen ihre politische Formulierung: ob der öffentliche Wille einer Nation Eigentum einer Familie sei, d. i, ob in Frankreich sich eine Dynastie erhalten könne und ob in Deutschland sich der Volksgeist zerteilen und Eigentum der deutschen Fürsten bleiben könne; und ob andererseits in Hinsicht auf die soziale Problematik die freie Betätigung und Entwicklung der Arbeitskraft ausschließlich Privateigentum des Besitzes von Arbeitssubstrat und Arbeitsverhältnis (Kapital) sein, und ob ferner infolgedessen dem Unternehmer als solchem und abgesehen von der Remuneration seiner geistigen Arbeit ein Eigentum an fremdem Arbeitswert zustehen solle als Kapitalprämie, Kapitalprofit, der sich bildet durch die Differenz zwischen dem Verkaufspreis des Produktes und der Summe der Löhne und Vergütungen sämtlicher, auch geistiger Arbeiten, die in irgendwelcher Weise zum Zustandekommen der Produkte beigetragen haben (I, 264). Die geschichtsphilosophische Antwort auf diese Fragen liegt im „Arbeiterprogramm". Sie ist abgefaßt in grundsätzlich idealistischem Sinn: eine neue Idee in der Geschichte bedingt allein eine neue Periode, sie allein bewirkt eine Revolution. Diese Idee muß aber bereits in der Wirklichkeit vorgestaltet sein. Hierin wirkt Hegels Theorie vom Geist in seinem „Ansichsein" nach, ohne daß dieser aber, wie bei Marx, im Begriff der Produktionsverhältnisse und Produk-
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tionsfaktoren zu einem materialistisch genannten „Unterbau" verhärtet wird. Die neue Idee ist die des Arbeiterstandes, sie allein hebt das bisher noch geltende Prinzip der Klassen auf, das zur Unterdrückung des Volkes durch wenige Besitzende führte, und mit der Freiheit des Arbeiterstandes beginnt die Freiheit aller — denn alle sind Arbeiter! Dieses Prinzip wird wesentlich ethisch gefaßt. Seine Verwirklichung soll erfolgen durch das allgemeine Wahlrecht und den Staat.
S c h r i f t e n : Vollständige Ausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Eduard Bernstein, 1919—20. — Nachlaß in 6 Bdn., hrsg. von Gustav Mayer, 1921—25. L i t e r a t u r : E. Bernstein, L. u. seine Bedeutung für die dte. Arbeiterklasse, 1904; 2. A. 1919. — Hermann Oncken, L., 4. Aufl. 1923. — Karl Vorländer, Marx, Engels und L. als Philosophen, 3. A. 1926. — Thier, Erich, Rodbertus, L., Adolf Wagner, Diss.. Leipzig 1930. — Ebeling, Hans, Der Kampf der Frankfurter Zeitung gegen F. L., 1931; in Arch. für die Gesch. d. Sozialismus, Beiheft 4. — Paul Grebe, D. Arbeiterfrage bei . . . Aufgezeigt an ihrer Auseinanders. mit Lassalle, Berlin 1935. — Gustav Mayer, L., 1925; Bismarck und L., 1928. — D, Footman, L., London 1946. — W. Ziegenfuß, Die Genossenschaften, 1948.
Lasson, Adolf, geb. am 12. März 1832 zu Altstrelitz als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, gest. 19. Dezember 1917 zu Berlin. Studierte von Frühjahr 1848 bis 1852 in Berlin Philosophie, klassische Philologie und Rechtswissenschaft. Seit 1860 Lehrer, von 1873 an Prof. am Luisenstädtischen Real-Gymnasium in Berlin. 1861 in Leipzig Promotion zum Dr. phil. 1877 habilitierte L. sich in Berlin für Philosophie, 1897 wurde er dort o. Hon. Prof., 1910 und 1912 Ehrendoktor der theologischen und der juristischen Fakultät. — L.s philologische Studien standen im Zeichen Böckhs, Lachmanns, Trendelenburgs. Für die Vertiefung in die Philosophie fand er einen Gefährten an dem etwas älteren Friedrich Überweg; gemeinsam mit ihm las L. die theologischen Werke von David Friedrich Strauß. Während der Studienzeit schlössen sich beide an die Lehren Friedrich Benekes an; sie waren sich einig in einer besonderen Verehrung Schillers. Auch als die ehemaligen Studienfreunde sich längst nach verschiedenen philosophischen Denkrichtungen entwickelt hatten, zog Überweg L. zur Mitarbeit heran; er übertrug ihm den Abschnitt über die deutschen Mystiker des 14. und 15. Jhs. in seinem „Grundriß der Gesch. der Philosophie" (1862—66). In Berlin hat L. längere Zeit neben Michelet gewirkt. Er führte Jahre hindurch den Vorsitz -der Berliner „Philosophischen Gesellschaft". Mit der für ihn üblichen Kennzeichnung als Hegelianer ist L.s Stellung innerhalb der philosophischen Entwicklung nicht genügend charakterisiert. Er war der Hüter des philosophischen Gedankenguts des deutschen Idealismus, ein Verkünder der schöpferischen Macht des Geistes in einem von den Naturwissenschaften beherrschten, dem Positivismus verfallenen und von dem schrankenlosen Vermögen der Psychologie durchdrungenen Zeitalter. Die Philosophie von dieser Knechtschaft zu befreien und an ihren Urquell zur Überzeugung von der Schöpferkraft der Vernunft zurückzuführen, sah L. als seine Aufgabe an. Systemschöpferisch ist L. nicht gewesen, und auch die Philosophie als Fachwissenschaft hat von ihm keine wesentliche Bereicherung erfahren. Aber die Kraft und Überzeugungstreue, mit der er seine metaphysischen Ansichten verfocht und begründete, seine rhetorische und stilistische Begabung sicherten ihm starke Lehrwirkung in Wort und Schrift. Aufgabe der Philosophie ist es nach L., im Seienden die Vernunft zu erkennen, die ihm innewohnt (immanent ist). Nur der ist vom Geist der Philosophie ergriffen, der die Idee in ihrer schöpferischen Gestaltungskraft erfaßt hat, und nicht derjenige, der sich allein an die Verwirklichung der Idee in einem Einzelnen hält, wie viele Zeitgenossen L.s mit ihrer Versklavung an Kant. Das All-
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gemeine ist die schöpferisch gestaltende Macht der Vernunft, in der und durch die die einzelnen Dinge sind. Die konkreten geschichtlichen Erscheinungen sind Träger dieser vernünftigen Kraft. Wie alle weltgeschichtlich bedeutungsvollen Persönlichkeiten, so hat man auch die großen Philosophen anzusehen als Selbstoffenbarungen des einen schöpferischen Geistes. Die Entwicklungsbahn des Geistes führt in der Geschichte der Philosophie von Aristoteles zu Hegel. Die griechische Philosophie und ihre Gipfelerscheinung Aristoteles haben die entscheidende philosophische Frage gestellt: die Frage nach d«m Denken, das sich selbst zum Objekt hat, oder nach dem sich selbst denkenden Denken. Eine erste Lösung haben erst zweitausend Jahre später Kant und in seinem Gefolge Fichte, Schelling und Hegel gefunden. Von einer solchen Betrachtung der philosophiegeschichtlichen Entwicklung aus erklärt es sich, daß L. den Einklang zwischen Aristoteles und Hegel behauptet hat. Er sieht den Gang der Philosophie als klare systematische Entwicklung, in der sich im dialektischen Spiel die Entfaltung der Vernunft vollzieht. Seine Auffassung der Geschichte der Philosophie ist verwandt mit der Kuno Fischers und Wilhelm Windelbands. In seinem Glauben an die Schöpferkraft und an die absolute Spontaneität des Geistes, der Vernunft, hält L. unbedingt an Hegel fest. Vernunft ist nach ihm erzeugende Kraft, organisch-schöpferisches und zweckbestimmtes Vermögen. Der Gedanke, der Begriff ist lebendige Wirklichkeit. Leben und Denken, Begriff und Anschauung, Gefühl und Gedanke sind innerlich verbunden. Vom Rationalismus und von der Mystik ist L.s Standpunkt gleich weit entfernt. Mit Hegel einig ist L. auch in seiner Auffassung des Verhältnisses von Religion und Philosophie: beide haben die lebendige Erfassung des Unbedingten zu ihrem Gegenstand; verschieden ist nur die Form. Was die Griechen auf dem Weg des philosophischen Denkens fanden, das haben die Vertreter des Christentums in der Form der Religion erfaßt. So ist L. der Meinung, Paulus habe Aristoteles gegenüber nichts Neues ausgedrückt, und der schöpferische Geist des Christentums sei im Grunde hellenischen Ursprungs. Das Prinzip des Christentums ist die Freiheit. Als Repräsentant des universellen, des Weltgeistes ist der Einzelne frei, autonom (selbstbestimmt). Diese Freiheit gibt sich Gestalt, objektiviert sich in der kirchlichen Glaubensgemeinschaft. Luther ist das Bindeglied zwischen dem paulinischen Christentum und dem deutschen Idealismus. Er erhebt die Freiheit zum Prinzip der Theologie, der deutsche Idealismus erhebt sie zu dem der Philosophie. L. war zwar auf die systematische Zusammenfassung des Einzelwissens aus, jedoch keineswegs ein Verächter einzelwissenschaftlicher Forschung. Ihn beseelte ein enzyklopädischer Drang, und sein eigenes Wissen umspannte viele Gebiete: Religion (L., eine stark religiöse Natur, war in jüngeren Jahren zum evangelischen Christentum übergetreten), Rechtswissenschaft, Pädagogik, Volkswirtschaft. Seine Sprachfähigkeit machte ihn zum ausgezeichneten Übersetzer (Aristoteles, Giordano Bruno) und fand ihren Niederschlag in lyrischen Versuchen. Der Ethik setzte L. als Ziel, zu zeigen, wie bei wirklicher Willensbetätigung die Vernunft sich ausdrückt; der Rechtsphilosophie hat er als Aufgabe bestimmt, das vorhandene Recht in seinem vernünftigen inneren Zusammenhang und in seiner Verbindung mit den übrigen Erscheinungen des Lebens zu begreifen. S c h r i f t e n : Baco von Verulams wissenisch. Prinzipien, 1860. — Joh. Gottl. Fichte im Verhältnis zu Kirche u. Staat, 1863. — Meister Eckhart der Mystiker, 1868. — Das Kulturideal u. der Krieg, 1868 (begründet die Notwendigkeit des Krieges als eines sittlichen Faktors der Menschheitsgeschichte). — Prinzip u. Zukunft des Völkerrechts, 1871.
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— Giordano Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip u. dem Einen, 1872, Phil. Bibl., Bd. 21; 4. Aufl. 1923. — De causis finalibus, 1876. — Üb. Gegenstand u. Behandlungsart der Religionsphilos., 1879. — System d. Rechtsphilos., 1882. — Entw. des religiösen Bewußtseins der Menschheit, 1883. — Der Satz vom Widerspruch, 1886. — Armenwesen u. Armenrecht, 1887. — Zeitliches u. Zeitloses, 8 Vortr,, 1890. — Das unendlich Kleine im wirtschafte Leben, 1891. — Das Gedächtnis, 1894. — Der Leib, 1898. — Üb. den Zufall, Vortr. d. Kantges. Nr. 18, 1918. — Übersetzungen von Aristoteles, Metaphysik, 1907; Nikomachische Ethik, 1909; Über die Seele. L i t e r a t u r : Killinger, Philipp, A. L.s Religionsphilos., Diss., Erlangen 1913. — A. Liebert u. F. J. Schmidt, A. L. z. Gedächtnis, Kantstudien, Bd. 23 (1918), Heft 1, S. 101 ff. — F. J. Schmidt, Gedenkblatt, Kantstudien 37 (1932), Heft 1/2, S. 220 ff.
Lasson, Georg, geb. 13. Juli 1862 in Berlin, gest. 2. Dez. 1932. Sohn Adolf Lassons, evangelischer Pfarrer an der Bartholomäuskirche in Berlin. 1921 Ehrendoktor der philos. Fakultät an der Universität Kiel. Von seinem Vater Adolf Lasson übernahm L. die Aufgabe, das Erbe des deutschen Idealismus lebendig zu halten und weiterzugeben. Es war sein Hauptanliegen, dem System Hegels durch Veranstaltung einer vorzüglichen Gesamtausgabe erneut zu umfassender Wirkung zu verhelfen. L. hat damit der Wiederbelebung Hegels vorgearbeitet und ihren Anstieg unterstüzt. Bei seinem Tode war das Herausgeberwerk fast abgeschlossen; nur die Vorlesungen über Geschichte der Philosophie und Teile der Ästhetik fehlten noch. Einzelne Bände hat L. mit ausführlichen Einleitungen versehen, die tief in die Philosophie Hegels eindringen, so die „Logik", die er 1922 nach achtzig Jahren zum ersten Male wieder herausgab. Was er von dieser Schrift Hegels sagt (Phil. Bibl. Bd. 56, S. XI, 1923), könnte als Motto für die ganze Ausgabe dienen; „Wenn sie jetzt aus ihrer Verborgenheit wieder hervortritt, so handelt es sich nicht um die künstliche Auffrischung eines endgültig Verstorbenen, sondern um die Auferstehung eines vorschnell zu den Toten Geworfenen." L, will das Werk Hegels geschichtlich verstehen, und auf Grund dieses Verständnisses seinen bleibenden Wert ermitteln. Der Philosophie seiner eigenen Zeit, besonders der letzten Jahrzehnte, ist L. abgeneigt. Er vermißt in ihr die Einsicht, „daß nicht Intuition und nicht Divination, sondern allein Begriff und Methode der Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Wahrheit und des Lebens, zum begreifenden Selbstbewußtsein des Geistes bereiten können" (Einl. z. Logik, S. XIII). — „Nie war uns die Wiedergeburt des vernünftigen Selbstbewußtseins nötiger denn heut", im Jahre 1923 (S. CVI). — Als protestantischer Theologe hat L. sich bemüht, den Spuren der spekulativen Dogmatik zu folgen und den Glaubensinhalt in philosophische Begriffe zu fassen, um so dem philosophischen Idealismus eine religiöse Grundlage zu geben. L. kämpft auch hier für eine „absolute Philosophie". S c h r i f t e n : Gottes Sohn im Fleisch, 1892; 2. Aufl. 1899. — Zur Theorie des christl. Dogmas, 1897. — Zinzendorf, 1900. — J. G. Fichte u. s. Schrift üb. d. Bestimmung des Menschen, 1908. — Beitr. z. Hegelforschung, 2 Bde., 1909- — Grundfragen der Glaubenslehre, 1913. — Was heißt Hegelianismus? 1916. — Hegel als Geschichtsphilosoph, 1920; 2. Aufl. 1922. — Krit. u. spekulativer Idealismus, Kantstud. 27, H. 1/2, S. 1—58 (1922). — Hegel u. d. Gegenwart, Kantstud. 36, H. 3/4, S. 226—276 (1932). — Hrsg.: G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke, Philos, Bibl., 18 Bde. L i t e r a t u r : Zum 70. Geburtstag G. L.s, Kantstudien 37, H. 3/4, p. 314 (1932).
Lasswitz, Kurd, geb. 20. April 1848 in Breslau, gest. 17. Oktober 1910 in Gotha. — L. steht dem kritischen Idealismus von Hermann Cohen nahe und verbindet diesen mit dem metaphysischen Standpunkt von Fechner. S c h r i f t e n : Atomistik u. Kritizismus, 1878. — Die Lehre Kants von d. Idealität des Raumes u. d. Zeit, 1883. — Gesch. d. Atomistik v. Mittelalter bis Newton, 2 Bde., 1889
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Laue — Laurie
bis 1890; 2. Aufl. 1926. — G. Th. Fechner, 1896; 3. Aufl. 1910. — Wirklichkeiten. Beiträge zum Weltverständnis, 1900;, 4. Aufl. 1921. — Religion u. Naturwiss., 1904. — Seelen u. Ziele, 1908. — Auf zwei Planeten (Marsroman), 1897. L i t e r a t u r : Friedr. Ditte-s, Eine Verjüngung des absoluten Idealismus, Pädagogium, 1884. — Vorländer, in: Z. f. Philos., Bd. 120, 1902. — Hans Lindau, in: Kantstudien, Bd. 16, 1911.
Laue, Max v., geb. 3. Oktober 1879 in Pfaffendorf bei Koblenz. Physiker, Dr. phil. Dr. med. h. c. Dr.-mg. e. h. Privatdoz. in Berlin 1906, München 1909. A. o. Prof. in Zürich 1912, o. Prof. in Frankfurt 1914, in Berlin 1919, nach 1945 in Göttingen. Nobelpreisträger 1914.
S c h r i f t e n : Das Relativitätsprinzip, 1911; 2. Aufl. 1913. — Die Relativitätstheorie, I, 4. Aufl. 1921; II, 2. Aufl. 1923 f. — Üb. d. Auffindung d. Röntgenstrahlinterferenzen, 1920. — Das Elektron . . . , Berlin 1934. — Energiesatz u. neuere Physik, 1943. — (Mit F . Möglich) Über das magnetische Feld, 1933. — Die Interferenzen v. Röntgen- u. Elektronenstrahlen, 1935. — Korpuscular- u. Wellentheorie, 1933. — Materiewellen, 1944. — Röntgenstrahlinterferenzen, 1941. — Gesch. d. Physik, 1946. — Theorie d. Supraleitung, 1947. L i t e r a t u r : Zehn Jahre Laue-Diagramm, 1923; in: Die Naturwiss., J g . 10. — Kraus, Oskar, Offene Briefe an . . . M. v. L. üb. d. gedankl. Grundlagen der speziellen u. allg. Relativitätstheorie, 1925.
Laurie, Simon Somerville, 1829 bis 1909. Prof. der Pädagogik zu Edinburg. L. entwickelt seine Theorie des Erkennens von dem Wesensunterschied her, den er zwischen dem Bewußtsein des Tiers und des Menschen findet. Das Bewußtsein des Tiers ist wesentlich objektgebunden und kennt keine eigene Aktivität. Es entfaltet sich in drei Stufen. Auf der ersten lebt das Tier in der bloßen Zuständlichkeit eines subjektiven Gefühls. Auf der zweiten beginnt sich ihm im Empfinden eine Dualität von Objekt und Subjekt aufzutun. Auf der dritten hat es (in der „Attuition") ein klares Bewußtsein der Gegenständlichkeit, die es jedoch nicht verdeutlicht. Als Subjekt besitzt es von sich kein eigenes Selbstbewußtsein, sondern hängt in seinem Leben von dem Objekt völlig ab. Mit dem Menschen erst beginnt das Subjekt ein Bewußtsein seiner selbst im Unterschied vom Objekt zu entfalten. Es tritt dem Objekt in freier Aktivität entgegen. Ein Ausdruck dieser Aktivität ist seine Fähigkeit, zu erkennen. Schon in seiner Wahrnehmung drückt es Spontaneität aus. In der Wahrnehmung ist es zugleich sich seiner selbst bewußt. Eine absolute Trennung besteht nicht zwischen dem Subjektiven und dem Objekt. Beide, aufgefaßt als Inneres und Äußeres, sind Beziehungsbegriffe, und L. hegt letzten Endes die Überzeugung, das die Welt und den Menschen schaffende Wesen könne nicht im Menschen die hohe Kraft der Erkenntnis geschaffen haben, wenn diese Erkenntnis nicht in der Lage sei, die Wirklichkeit als solche einheitlich zu erkennen. Eine Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen und den wirklichen Dingen muß festgehalten werden. L. geht weiter zu der metaphysischen These, daß ein Vernunftwille (will-reason) in gleicher Weise der Wirklichkeit, wie der Erkenntnis zugrunde liegt. Diese Vernunft zu realisieren, ist auch im Ethischen die Aufgabe des Menschen. Die letzte Fassung seiner Philosophie gestaltet L. als Ontologie und Religionsphilosophie. Die Ontologie beruht auf der vernünftigen Intuition als der höchsten Stufe menschlicher Erkenntnis. Gott selbst ergibt sich ihr, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, als die Totalität unserer Erfahrung und gegenständlich als die Kontinuität unseres Lebens mit dem Sein. Für das einzelne menschliche Wesen erscheint er als transzendent. An und für sich ist er dem Sein immanent. Durch diesen doppelten Charakter seiner Immanenz und Transzendenz entsteht
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eine Spannung der Individuen gegen Gott, die in ihrer Besonderheit sich gegen ihn als Negationen verhalten können. Diese Negativität des Einzelwesens erscheint, wenn man das Übel in der Welt betrachtet, so stark, daß sie Gott selbst in Schwierigkeit zu bringen vermag. Nur indem die Einzelwesen sich zu seinen Mitwirkenden machen, gelingt eine Aussöhnung des Einzelwesens in seiner Negativität mit dem Ganzen des Universums. S c h r i f t e n : Philosophy of Ethics, Edinb. 1866. — Metaphysica, Nova et Vetusta, A Return to Dualism, 1884; 2. Aufl. 1889. — Ethica or the Ethics of Reason, 1885; 2. Aufl. 1891. — Institutes of Education, Edinb. 1892; 2. Aufl. 1899. — Synthetica, being Meditations Epistemological and Ontological, 2 vols., Lond. 1906. L i t e r a t u r : J. B. Baillie, L.s Natural Realfem., in: Mind, 1908—09. — G. Remacle, La Philos. de S. S. L., Paris 1910. — Munker, Friedr., Wissenschaftl. Strömungen in der mod. engl. Pädagogik im Anschluß an A. Bain u. S. S. L., Diss., Jena 1912.
Lavater, Johann Caspar, geb. 15. November 1741 in Zürich, gest 2. Januar 1801 ebda. Der Pfarrer L. vertritt als religiöser Schriftsteller den Sturm und Drang. Das Suchen nach einer theoretischen Grundlage für sein religiöses Erleben treibt ihn zur Philosophie. L. ist ein unsystematischer, gefühlsbestimmter Denker, der in sprunghaftem, lebendigem Stil dem fühlend Erkannten Ausdruck gibt, und sich zu der Art seines Philosophierens durch große Vorbilder berechtigt glaubt: ,,Wer verlangt, daß man bei Betrachtungen über die zukünftige Glückseligkeit immer kalt bleiben, auch da, wo man nur untersucht, immer mit der Ängstlichkeit eines gefühllosen Pedanten alle Bilder entfernen soll, der scheint nicht billig zu sein; scheint zu vergessen, daß sogar die größten philosophischen Genies, sogar da, wo sie metaphysizierten, die Sprache der Einbildungskraft liebten und mit Nutzen brauchten, Baco, Cartes, Kepler, Leibniz sind Beispiele davon" (Aussichten in die Ewigkeit II, S. CXVI f.). In den Gedankengängen der Aufklärung, besonders der Wolffischen Philosophie aufgewachsen, gerät L. in den sechziger Jahren unter den Einfluß von Charles Bonnet, der als Naturforscher Wirklichkeitssinn und Offenbarungsgläubigkeit verbindet. L. übersetzt seine „Philosophische Palingenesie" (um 1770). Im Jahre 1773 steht er in den Reihen der Stürmer und Dränger und bekennt sich zu Rousseaus Verkündigung der Gefühlsunmittelbarkeit. Empfinden, Fühlen, unmittelbares Erfahren, innerliches Erleben sind nun für ihn eins. Herder und Goethe gewinnen ihn für die Geniebewegung. Ihren Niederschlag findet seine Philosophie der Genialität in den „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe". Die Physiognomik ist ein neues Auge, die Ausdrücke der göttlichen Weisheit und Güte zu bemerken. Nur der Kenner des menschlichen Gesichts versteht die Natursprache des Genies, die Natursprache der Weisheit und Tugend. Diese Menschenkenntnis schadet der Menschenliebe nicht. Unter Physiognomik versteht L. den Schluß vom Äußeren auf den Charakter des Menschen, die „Fertigkeit, durch das Äußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen, das, was nicht unmittelbar in die Sinne fällt, vermittelst irgendeines natürlichen Ausdrucks wahrzunehmen". Als Physiognomie bezeichnet L. „alle unmittelbaren Äußerungen des Menschen". „Im engern Verstand ist Physiognomie die Gesichtsbildung, und Physiognomik Kenntnis der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung" (Physiogn. Fragm. I, S. 13). Die Seele der Physiognomik ist Beobachtung, das heißt „Wahrnehmen mit Unterscheiden". Viele Menschen fühlen physiognomisch, aber wenige denken physiognomisch. Wissenschaftlicher Physiognomist ist nur der, „wer bestimmt die Züge, die Äußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die dem Menschen Charakter sind". W e r „die Gründe
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von diesen so und so bestimmten Zügen und Ausdrücken, die inneren Ursachen dieser äußeren Wirkungen zu bestimmen imstande ist", steht auf dem Gipfel physiognomischer Forschung, ist philosophischer Physiognomist. L, versucht nun die Grundlagen der Physiognomik als Wissenschaft herauszuarbeiten. Dies erfordert drei Voraussetzungen: 1. nichts in der Welt geschieht ohne zureichenden Grund, 2. der Mensch hat, wie jedes Ding, zwei Seiten, eine innere und eine äußere; 3. jedes Ding muß etwas an sich haben, wodurch sein Unterschied von jedem andern erkannt werden kann. „Alle Gesichter der Menschen, alle Gestalten, alle Geschöpfe sind nicht nur nach ihren Klassen, Geschlechtern, Arten, sondern auch nach ihrer Individualität verschieden." — „Es ist dies . . . der erste, tiefste, sicherste, unzerstörbarste Grundstein der Physiognomik, daß bei aller Analogie und Gleichförmigkeit der unzähligen menschlichen Gestalten nicht zwei gefunden werden können, die, nebeneinander gestellt und genau verglichen, nicht merkbar unterschieden waren. „Nicht weniger unwidersprechlich ist's, daß eben so wenig zwei vollkommen ähnliche Gemütscharaktere als zwei vollkommen ähnliche Gesichter zu finden sind" (I, S. 45; 1, Vorl. S. 23). Es steht nun die äußere Verschiedenheit des Gesichts und der Gestalt mit der innern Verschiedenheit des Geistes und Herzens in einer natürlichen Analogie. Zwischen Körper und Geist besteht eine reale Wechselwirkung, ein Kausalzusammenhang, der bis ins Einzelne und Kleinste reicht. „Das Kleinste muß seinen Grund haben wie das Größte. Alles hat seinen Grund, oder gar nichts. Wenn du das nicht ohne weitere Beweise erkennst, Physiognome, weg vom Studium der Physiognomik!" Alle Menschen sind von der Natur nach einer Grundform gebildet; aber die Verschiedenheit der geistigen Individualitäten bringt eine Verschiedenheit der äußeren Erscheinungen hervor. Für das innere Erleben des Menschen bildet eine Beobachtung des Körperlichen den einzigen Zugang. L. vertritt eine Lehre vom Keimkörper, der den -menschlichen Körper überall erfüllt und der Seele den Antrieb gibt. Für das physiognomische Verfahren hat L. die Grundlinien entworfen. Der physiognomische Sinn wird am besten an der Silhouette geübt und entwickelt. In Jakob Böhme, den L. im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen sehr hoch schätzt, findet er Spuren eines tiefen physiognomischen Sinns. Als einzige Quelle aller Wahrheit, als'Quelle auch für das Genie betrachtet L. die individuelle Natur. Auf seiner Individualität ruht auch die Berechtigung für seinen Glauben, der ihm das Einwirken einer transzendenten Welt gewiß macht, Seine innere Erfahrung stützt sich auf äußere Offenbarung. In dieser Grundstimmung seines Philosophierens fühlt L. sich dem Glaubensphilosophen Friedrich Heinrich Jacobi verwandt. Eine erkenntnistheoretische Grundlegung seines Glaubens geben L.s „Drei Gespräche über Wahrheit und Irrtum, Sein und Schein", Maßstab für die Wahrheit, die mit Existenz gleichbedeutend ist, wird eine Affektion des Ich; das Ich ist ein „Gedanken- und Empfindungssystem". „Wir selbst sind der einzige Maßstab zu allem, was wir wahr, existent, Objekt oder Dinge außer uns nennen. Was mit uns übereinkommt, mit uns harmoniert, uns gleichförmig, ein Teil unseres Selbst ist, das ist für uns, ist existent, wahr für uns". — „Wahrheit ist uns jede Größe, oder jede Existenz, die dem gleich zu sein scheint, was wir eigne Existenz nennen." Es gibt Gradabstufungen der Wahrheit und der Existenz: je mehr Sinne, um so mehr Existenz, durch Steigerung der Wahrheitsempfänglichkeit. Existenz und Wahrheit kommen und vergehen mit unsern Sinnen. Daraus folgt, daß es „für uns keine absolute, innerlich objektive, abstrakte, absonderliche, selbständige Wahrheit oder Existenz"
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gibt. Nur in unseren subjektiv-seelischen Vorgängen, nur in unsern inneren Bewußtseinszuständen werden uns Wirklichkeit und Wahrheit greifbar. „Jede Erkenntnis, insofern sie rein ist, ist Gefühl, Beriihrtheit auf eine gewisse Weise, eine gewisse neue Seinsart." Je weniger die Fachphilosophie von L.s Schaffen Kenntnis nahm, um so stärker wurde seine Wirkung auf das Geistesleben seiner Zeit. Sein „Sensualismus der gefühlsmäßigen Erfahrung", seine Philosophie des Genies, seine Gefühlsinnerlichkeit wurden zu starken Gegenkräften gegen den Intellektualismus der Aufklärung. Sein Gefühlsglaube trägt mit dazu bei, dem Emotionalen einen Platz neben der Ratio zu erkämpfen. S c h r i f t e n : Aussichten in die Ewigkeit, 4 Bde., 1768—78. — Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst, 2 Tie., 1772—73. — Pontius Pilatus oder d. Mensch in allen Gestalten, 4 Bde., 1782—85. — Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis u. Menschenliebe, 1775—78. — Vermischte Schriften, 2 Bde., 1774—81. — Sämtl. kleinere prosaische Schriften, 3 Bde., 1784—85. — Nachgel. Schriften, hrsg. v. Gessner, 5 Bde., 1801—02. — Ausgew. Schriften, hrsg. v. Orelli, 8 Bdchen., 1841—44. — Ausgewählte Werke, hrsg. v. E. Stähelin, 4 Bde., 1943. — Briefwechsel mit Hamann, hrsg. v. H. Funck, 1894. — Goethe u. L., Briefe u. Tagebücher, hrsg. v. Funck, 1901; Schriften d. Goethe-Ges., Bd. 16. L i t e r a t u r : Maier, Heinrich, An der Grenze d. Philos., Melanchthon, Lavater, D. Fr. Strauß, 1909. — Janentzky, J. C. L.s Sturm u. Drang im Zushg. s. religiösen Bewußtseins, 1916, — Vömel, Alexander, J. C. L., 1923. — Guinaudeau, Olivier, J.-G. L. Études sur sa vie et sa pensée jusqu'en 1786; Paris 1924. — v. Bracken, Ernst, Die Selbstbeobachtung bei L., 1932. — Giering, Karl, L. u. der junge Pestalozzi, Diss., Berlin 1932. — J. Forssmann, L. u. die rel. Strömungen des 18. Jhs., 1934. — Th. Hasler, L., 1942.
Law, Edmund, 1703 bis 1787. — Der anglikanische Bischof L. bildet im Anschluß an Locke die Lehre von Raum und Zeit weiter. S c h r i f t e n : An Enquiry int o the ideas of space, time, immensity and eternity, 1734. — An Essay in ethics, 1777.
Lawrence, David Herbert, geb. 11. September 1885 in Eastwood (Nottingham), gest. 3. März 1930 in Bandol bei Toulon. Englischer Dichter. S c h r i f t e n : Lady Chatterley's Lover, 1928, deutsch v. H. Herlitschka, 1931. — Psycho-analysis and the Unconscious, 1921. — Ges. Briefe, hrsg. v. A. Huxley, 1932. L i t e r a t u r : Wesslau, Werner, Der Pessimismus bei D. H. L., Greifswald 1931; Diss. — Lawrence, Frieda, geb. Freiin v. Richthofen, Not I, but the wind. Memoirs of her Husband, with letters, poems and other hitherto unpublished material by D. H. L„ London 1935. — D. H. L., A personal record by E. T., Lond, 1935. — E. Seiliiere, D. H. L. et les récentes idéologies allemandes, Paris 1936. — E. D. MacDonald, L., London 1936 (enthält nachgelassene Schriften).
Lawrow, Peter Lawrowitsch, geb. 14. Juni 1823 in Melechow (Pskow), gest. 6. Februar 1900 in Paris. — L. begründet im Anschluß an die Philosophie von Kant, Comte, Hegel, Feuerbach, Proudhon und Marx eine von ihm Anthropologismus genannte Weltanschauung, Im Mittelpunkt seines Systems steht die menschliche Individualität, die zugleich die treibende Kraft "der geschichtlichen Bewegung ist. Die geschichtliche Entwicklung beruht auf dem persönlichen Willen, wie der Fortschritt in der physischen und moralischen Entwicklung der Persönlichkeit besteht. Der moderne Sozialismus umfaßt die Zusammenarbeit der Intelligenz als Führerschicht mit der breiten Masse der Arbeiter und Bauern. Wie die primitive Gesellschaft auf der Tradition und die kapitalistische auf den Interessen, so wird die kommende Gesellschaft auf Solidarität begründet sein.
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Lay — Lechner
S c h r i f t e n : Histor. Briefe, 1870; deutsch von S. Dawidow, 1901; 5. A. 1917. — Russisch: Versuch über die Gesch. des modernen Gedankens, Genf 1888—94. — D. Probleme des histor. Verstehens, Moskau 1898. — Hauptperioden in der Gesch. des Gedankens, Moskau 1903. L i t e r a t u r : Tscheskis, L. A., La philos, sociale de P. L., in: Revue de synthèse historique, Bd. 15 u. 16, 1912—13. L a y , August, geb. 30. Juli 1862 in B ö t t i n g e n (Breisgau), gest. 9. M a i 1926 in Karlsruhe. Dr. phil., Prof. Mitbegründer der E x p e r i m e n t a l p ä d a g o g i k . S c h r i f t e n : Grundlegung der experimentellen Didaktik, I, 1903; 4. Aufl. 1920. — Experimentelle Pädagogik, m, bes. Rücksicht auf die Erziehung durch d. Tat, 1908; 3. Aufl. 1918. — Die Tatschule, 1911; 2. Aufl. 1921. — Psychologie nebst Logik u. Erkenntnislehre, 1912; 2. Aufl. 1914. — Lebensgemeinschaftsschule, 1927. — Selbstdarstellung in: Die Pädagogik der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. II, 1927. L a z a r u s , Moritz, geb. 15. S e p t e m b e r 1824 in F i l e h n e (Posen), gest. 13. April 1903 in Meran. 1860 Prof. der Philosophie in Bern. 1873—96 Prof. in Berlin. — L. begründet mit Steinthal z u s a m m e n die Zeitschrift für V ö l k e r p s y c h o l o g i e und S p r a c h w i s s e n s c h a f t . Indem er d a s „allen E i n z e l n e n G e m e i n s a m e der inneren Tätigkeit" erfaßt, will L. das W e s e n d e s „ V o l k s g e i s t e s " klären. „So ist auch der V o l k s g e i s t g e r a d e das, w a s die bloße Vielheit der Individuen erst zu e i n e m V o l k e macht, er ist das Band, das Prinzip, die Idee d e s V o l k e s und bildet seine Einheit" ( G e d a n k e n über V ö l k e r p s y c h o l o g i e , 1860). S c h r i f t e n : Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen u. Gesetze, 1856—57; 3. Aufl., 3 Bde., 1883—97. — Üb. d. Ideen in der Gesch., 1865; 2. Aufl. 1872. — Ideale Fragen, 1878; 3. Aufl. 1885. — Die Ethik des Judentums, Frankfurt 1898; 2. Bd. aus d. Nachlaß, 1911. — Aus meiner Jugend, Autobiographie, hrsg. v. N. Lazarus, 1913. L i t e r a t u r : C. Th. Achelis, M. L., Hamburg 1899. — Sganzini, Carlo, Die Fortschritte der Völkerpsychologie von L. bis Wundt, 1913; in: Neue Berner Abhandlgn., H. 2. — Leicht, Alfred, L., Der Begründer der Völkerpsychologie, 1904. — Lewkowitz, A., M. L. z. 100. Geburtstag, in: Monatsschrift f. Gesch. u. Wissenschaft d. Judentums, Bd. 68, 1924; S. 185—192. L e B o n , G u s t a v e , geb. 7. M a i 1841 in N o g e n t - l e - R o t r o u , gest. 15. D e z e m b e r 1931 in Paris, — L. B. vertritt in s e i n e r M a s s e n p s y c h o l o g i e d e n G e d a n k e n , daß in der M a s s e das D e n k e n des E i n z e l n e n a u f g e h o b e n wird zugunsten einer m e i s t primitiveren D e n k w e i s e . Er u n t e r s c h e i d e t fünf A r t e n d e r Logik: die biologische, die das u n b e w u ß t e Instinktleben regelt, die affektive, die k o l l e k t i v e , die m y s t i s c h e des religiösen und politischen Glaubens, und die rationale. S c h r i f t e n : L'homme et les sociétés, 1886. — Les monuments de l'Inde, 1894. — Les lois psychologiques de l'évolution des peuples, 1894. — La psychologie des foules, Paris 1895; deutsch 1922. — P s y c h o l . du socialisme, 1898; 8. Aufl. 1917. — Psychologie de l'éducation, 1902; 13. Aufl. 1910. — Les opinions et les croyances, Paris 1911. — La psychol. politique, Paris 1911. — La Révolution française et la psycholog. des révolutions, 1912. — Aphorismes du temps présent, Paris 1913. — Bases scientifiques d'une philos, de l'histoire, Paris 1931. — Begründer der Bibliothèque de philos, scientifique. L i t e r a t u r : Schwalenberg, W., G. L. B. u. seine Psychologie des foules, Bonn 1919, Diss. — Rageot, Gaston, Portraits d'écrivains: G. L. B., in: Revue politique et littéraire, Bd. 59, 1921; S. 307—311. L e c h n e r , Matthias, geb. 22. Februar 1882 in A n g l b e r g (Oberbayern). Dr. phil. Pfarrer; D o z e n t an der philos.-theol. H o c h s c h u l e in Dillingen a. D. 1926. S c h r i f t e n : Die Erkenntnislehre des Suarez, 1911. — Die Religiosität u. Sexualität des Kindes, 1929. — Erziehung u. Bildg. in der griech.-röm. Antike, 1933. — Hrsg. des Pharus.
Leconte — Lehmann-Issel
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L e c o n t e , J o s e f , g e b . 26. F e b r u a r 1823 in L i b e r t y ( G e o r g i a ) , gest. 1901. 1 8 6 9 P r o f . für G e o l o g i e und N a t u r p h i l o s o p h i e in B e r k e l e y (Calif.). A m e r i k a n i s c h e r Evolutionist. S c h r i f t e n : Religion and Science, 1873. — Evol. in Relig. Thought, N. Y. 1887. L e e s e , K u r t , g e b . 6. J u l i 1887 in G o l l n o w (Hinterpomm.). L i e . t h e o l . K i e l 1912. Dr. phil. Heimburg 1926. H a b i l i t i e r t für P h i l o s o p h i e in H a m b u r g 1928, a. o. P r o f e s s o r 1935. S c h r i f t e n : Die Prinzipienlehre der neuen systemat. Theologie im Lichte d. Kritik Ludwig Feuerbachs, 1912. — Moderne Theosophie, 1921. — Die Geschichtsphilqs. Hegels, 1922. — Philos, u. Theologie im Spätidealismus, Forsch, zur Auseinandersetzung von Christentum u. idealist. Philos, im 19. Jhdt., 1929. — Die Krisis u. Wende des christl. Geistes, Studien zum anthropolog. u, theolog. Problem d. Lebensphilos., 1932. — Rasse, Religion, Ethos, 1934. — Die Mutter als religiöses Symbol, 1934. — Das Probi, d. Arteigenen, Tübingen 1935. — Die Rei. d. protest. Menschen, Berlin 1938. — Natürl. Rei., Berlin 1938. — Herausg. Der Protestantismus . . . , Stuttgart 1941. L e Grand, A n t o i n e , g e s t . 1699. F r a n z i s k a n e r , trug den C a r t e s i a n i s m u s nach England. S c h r i f t e n : Philosophia vetus e mente R. des Cartes, London 1671. — Institutiones philos, secundum principia R. de C. nova methodo adornatae, London 1672. — Apologia pro Cartesio, London 1679, Nürnberg 1681. L e R o y , E d o u a r d , geb. 1870. P r o f , a m C o l l è g e de F r a n c e . — F r a n z ö s i s c h e r R e l i g i o n s p h i l o s o p h , dessen M e t a p h y s i k B e r g s o n n a h e s t e h t . S c h r i f t e n : La logique de l'invention, 1905, — Le problème de Dieu, 1907. — Dogme et critique, 1907. — Une philos, nouvelle: M, Bergson, 1912, L e h m a n n , A l f r e d , 1858 bis 1921. P r o f . d e r P s y c h o l o g i e in K o p e n h a g e n . Schüler von W . Wundt, V e r t r e t e r der e x a k t e n Psychologie. S c h r i f t e n : Aberglaube u. Zauberei, Kopenh. 1893—96; 2, Aufl. 1920; deutsch 3. Aufl. 1925. — Grafologien, Kop. 1920. — Hauptges. d. menschl. Gefühlslebens, Kop. 1892; deutsch Leipz. 1892; 2. Aufl. 1914, — Die körperlich. Äußerungen psych. Zustände, 1899—1905. — Grundzüge d. Psychophysiologie, 1912. — Pädagogische Psychologie, 1913. L i t e r a t u r : H. Krarup, Die Metaphysiologie A. L.s krit, erläutert, 1907. — A. Aall, A. L. in memoriam, Scand. scientifical Review, vol. 1, 1922, Lehmann, G e r h a r d , geb. 10. J u l i 1900 in B e r l i n . P r o m o t i o n 1922. P d . Univ. B e r l i n 1940. H e r a u s g e b e r der K a n t a u s g a b e n ( A k a d e m i e ) . S c h r i f t e n : Üb. d. Setzung Individualitätskonstante, 1922. — Psychologie des Selbstbewußtseins, 1923. — Eros im modernen Denken: Versuch einer Met. der Geschlechtsliebe, 1923. — Die Grundprobleme der Naturphil., 1923. — Üb. Einzigkeit u. Individualität, 1926. — Das rei. Erkennen, 1926. — Vorschule d. Metaphysik, 1927. — Psychologie der Individualitäten. Ein Beitr. zur Theorie des Char., 1928. — Das Kollektivbewußtsein, 1928. — Zur Grundlegung der Kulturpädagogik, 1929. — Gesch. d. nachkant. Philos., 1931. — Sozialphilos., in: Lehrbuch der Soziologie u. Sozialphilos, von Dunkmann, 1931. — Die Ontologie d. Gegenwart in ihren Grundgestalten, 1933, — Kants Nachlaßwerk u. die Kritik der Urteilskraft, 1939. — Die deutsche Philos, d. Gegenw., 1943. — Mithrsg. „Archiv f. angewandte Soziologie", 1932/33. — Hrsg.: Kant, Ausgabe der Berliner Ak„ Bd. XX, 1931; XXI, 1936; XXII, 1938. Lehmann-Issel, K u r t , geb. 19. A p r i l 1892 in D o s s e n b a c h ( B a d e n ) . P r o m o t i o n 1920, Lie. theol., P f a r r e r . S c h r i f t e n : Die Grenzen des objektiven Erkennens in der Theologie, 1921. — Anthropologie oder relig. Erneuerung, 1922. — Theosophie nebst Anthroposophie u. Christengemeinschaft, 1927. — Der Glaube, Eine Unters, der Grundlagen der evangel Religiosität, 1928. — Deutschtum u. posit. Christentum, Berlin 1939.
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Lehmen — Leibniz
Lehmen, Alfons, geb. 5. Febr. 1847 in Höxter i. W„ gest. 1910. S. J . Prof. in Valkenburg (Holl. Limburg). S c h r i f t e n : Lehrbuch der Philos. auf aristotel.-scholast. Grundlage, 4Bde.,Freibg. 1899 f.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, Frhr. v. (Leibnüz, Leibnüzius, Leibnuzius, Leibnitius, niemals Leibnitz), geb. 1. Juli 1646 (21. Juni a. St.) zu Leipzig, gest. 14. November 1716 in Hannover. Sein Vater, Friedrich Leibnüz, zuletzt Professor der Moralphilosophie an der Universität Leipzig, starb 1652. In der Leipziger Nicolaischule genoß L. den ersten Unterricht, studierte darauf, seit 1661, in Leipzig und Jena die philosophischen Wissenschaften und Ius. 1663 Baccalaureusdisputation über seine erste akademische Schrift: De principio individui, 1664 Magister, 1666 bei der Bewerbung um die juristische Doktorwürde abgewiesen, darauf in Altdorf 1667 mit der Dissertation „de casibus perplexis in jure" promoviert. Eine in Altdorf ihm angebotene Professur schlug er aus, ging nach Nürnberg, wo er mit Alchemistenkreisen in Verbindung trat. In Nürnberg lernte er den Kanzler des Kurfürsten von Mainz, des Johann Philipp von Schönborn, den Frhrn. v. Boyneburg kennen, der ihn zur Übersiedlung nach Frankfurt bestimmte. Er kam 1667 dorthin und vollendete eine bereits auf der Reise nach Altdorf begonnene Schrift, die Nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae, durch die er in den kurmainzischen Dienst Zutritt fand. Er hatte die Schrift dem Kurfürsten Johann Philipp gewidmet, der ihn dem mit der Bearbeitung des Corpus iuris beschäftigten Hofrat Dr. Lasser zur Mitarbeit beiordnete. Das sehr weitgesteckte Ziel der Arbeit, das in einem von beiden veröffentlichten Programm dargelegt wurde, konnte freilich nicht in der gedachten Weise erreicht werden, da für eine so große Aufgabe — das zu schaffende Gesetzbuch sollte für alle christlichen Nationen Geltung haben — die notwendigen Vorarbeiten fehlten. Im Sommer 1670 wurde L. Rat beim Kurfürstlichen Revisionsgericht und trat in eine nähere Beziehung zu seinem Gönner, dem Frhrn. v. Boyneburg. Boyneburg war vom Protestantismus zum Katholizismus übergetreten, und auf seinen Einfluß vor allem gehen die Arbeiten zurück, die L. der Wiedervereinigung der beiden christlichen Konfessionen widmete. L. selbst hat den Übertritt zum Katholizismus abgelehnt, zu dem er auch später, als er Mitglied der Pariser Akademie werden sollte, angeregt wurde. Er unterstützte Boyneburg in seiner Kontroverse mit dem Unitarier A. Wissowatius, der das Dogma der Trinität bekämpfte, durch die Schrift Sacrosancta Trinitas per nova inventa logica defensa, die er 1671 verfaßte, ohne freilich das im Titel gesetzte wissenschaftliche Ziel zu erreichen; bereits 1667 hatte er in der Abhandlung Confessio naturae contra Atheistas gegen den Atheismus Stellung genommen. An den Reunionsbestrebungen des Protestantismus mit dem Katholizismus wirkte L. in dem späteren Stadium der Verhandlungen mit dem Bischof Spinola tätig mit. Vor allem infolge des aus politischen Gründen einsetzenden Widerstandes Frankreichs scheiterten die Pläne, ebenso wie die Einigungsarbeiten für einen Zusammenschluß der Lutherischen und Reformierten, an denen unter Mitwirkung L.s Hannover und Berlin beteiligt waren (zwischen 1697 und 1706). Boyneburgs Einfluß machte sich auch auf dem Gebiete der Politik geltend; er veranlaßte 1669 L. zur Abfassung des Specimen demonstrationum politicarum pro eligendo rege Polonorum, auctore Georgio Ulicovio Lithuano, das bereits vor der Ethik des Spinoza den Mos geometricus auf eine Frage der Politik anwendet, sowie 1670 zu der Schrift „Bedenken, welchergestalt Securitas publica
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interna et externa im Reich auf festen Fuß zu stellen", die den Kurfürsten vor der Gegnerschaft gegen Frankreich warnen sollte. Aber auch philosophische Arbeiten L.s regte Boyneburg an. L. wurde von ihm auf die Schrift des Marius Nizolius, De veris principiis et vera ratione philosophandi, aufmerksam gemacht, die 1553 in Parma erschienen war, und gab sie mit Anmerkungen und einer Einleitung neu heraus (Francof. 1670). Bei dieser Arbeit mußte sich L. eingehend mit Descartes befassen, Studien, aus denen vor allem die Abhandlungen Theoria motus concreti und Theoria motus abstracti (Mainz 1671) hervorgingen. Die in diesen Schriften ausgesprochene Anerkennung des leeren Raumes und der Indifferenz des Stoffes gegen Bewegung und Ruhe hat L. später zurückgenommen. 1672 ging L. im Auftrage Boyneburgs nach Paris, wo er sich bemühte, Ludwig XIV. das Consilium Aegyptiacum vorlegen zu lassen, das diesen von Holland und vor allem Deutschland ablenken und Ägypten in seinen Blickkreis bringen sollte. Das Vorhaben schlug fehl, weder Ludwig XIV. noch die ihm Nahestehenden haben das Schriftwerk gelesen. In Paris und während seines Zwischenaufenthaltes in London, der in den Anfang des Jahres 1673 fällt, kam L. mit den berühmtesten Gelehrten in Berührung, so mit Huygens, Arnauld, Malebranche, Huet, in London mit Newton, Collins, Boyle. Er wurde Mitglied der Royal Society. Als L. nach dem Tode Boyneburgs und Johann Philipps 1676 nach Deutschland zurückkehrte, lernte er auf dieser Reise Spinoza im Haag persönlich kennen. Die Mehrzahl dieser persönlichen Beziehungen pflegte L. durch einen umfangreichen und weitverzweigten Briefwechsel. L. hatte nach seiner Entlassung aus dem mainzischen Dienste das Amt eines Rates und Bibliothekars bei Herzog Johann Friedrich in Hannover angenommen, nachdem die Pläne, die sich auf die Schaffung einer festen Bindung mit der französischen Akademie richteten, gescheitert waren. Jetzt trat er 1676 dieses Amt an. Er blieb mit Unterbrechungen vierzig Jahre hindurch, bis zu seinem Tode, in Hannover. — 1684 und 1686 erschienen von ihm die beiden Abhandlungen Nova methodus pro maximis et minimis und De geometria recondita et analysi indivisibilium et infinitorum in den Acta Eruditorum zu Leipzig, in denen er die Grundlagen der Differential- und Integralrechnung erörterte. 1687 gab Newton sein Werk Principia mathematica philosophiae naturalis heraus. In ihm wurde ein Verfahren mathematischer Rechnung, die sogenannte Fluxionenarithmetik, angewandt, die der Mathematik, wie L. sie gestaltete, ähnlich war. Hieraus ergab sich eine Auseinandersetzung über die Priorität der wichtigen Erfindung, die zu einem sehr heftigen Streite sich auswuchs; er wurde zunächst 1712 durch Urteil der von den Parteien angerufenen Royal Society zugunsten Newtons entschieden. Das Urteil ist von den namhaftesten Mathematikern des 18/ und 19. Jahrhunderts insofern richtiggestellt worden, als man feststellte, daß trotz der offenbaren Ähnlichkeit beider Erfindungen L. doch in seiner Lehre wichtiges Neues zur Darstellung brachte, das ihm zweifellos allein zugehört, und daß infolge der größeren Klarheit und der zweckmäßigeren Form der Bezeichnungen der mathematischen Begriffe die L.sche der Newtonischen Fassung nicht unerheblich überlegen ist. Wichtiger aber ist es, L.s Rechenweise auf die umfassendere Lehre von der Chara-cteristica universalis zu beziehen, die dasselbe Problem in noch größeren Zusammenhängen abhandelt und sich mit der Frage allgemeingültiger und eindeutiger Bezeichnung von Gegenständen überhaupt befaßt, von der ein besonderer Fall die quantitative Verhältnisse ausdrückende Algebra ist. Von dieser allgemeinen Lehre der Universalmathematik aus erhält die Rechnungsmethode L.s erst ihren besonderen Sinn. Philosophen-Lexikon
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Herzog Johann Friedrich starb bereits drei Jahre nach L.s Übersiedelung nach Hannover, und die Nachfolger lockerten die Verbindung mit ihm merklich, zumal ein Projekt der Lösung der Wasserwirtschaftsfrage in den Harzbergwerken, für das er den auf Johann Friedrich folgenden Ernst August interessiert hatte, sich in der Durchführung nicht bewährte. Um sich aus dieser ungünstigen Situation zu befreien, übernahm er die Abfassung der Geschichte des Weifenhauses (1685), die ihn in ständig sich mehrende Schwierigkeiten brachte, so daß er schließlich ernstlich von Hannover fortstrebte. Aber seine Bemühungen, sich einen anderen Wirkungskreis in einem der Zentren Europas zu schaffen, blieben erfolglos. Er hat dann mit manchen Änderungen am ursprünglichen Plan das Werk durchgeführt, das neben zahlreichen, in der Hauptsache von seinen Mitarbeitern redigierten Quellenschriften die von ihm selbst verfaßte Geschichte des Deutschen Reiches von der Zeit Karls des Großen bis zu der des Ausganges des sächsischen Kaisergeschlechtes, allerdings nur bis 1005, darbietet; die bis zum Ende dieser Periode noch ausstehenden 19 Jahre bis 1024 hat er nicht mehr dargestellt. Als Methode zur Aufhellung von solchen Geschichtsperioden, über die keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen, betrachtete L. die vergleichende Sprachforschung, die er auch selbst in seinen Arbeiten angewandt hat. Er fixierte diese Untersuchungsweise in der Abhandlung Brevis designatio meditationum de originibus gentium ductis potissimum ex iudicium linguarum, Mise. Berol. 1710. Weiter forderte er die Berücksichtigung der natürlichen Bodenverhältnisse und schrieb selbst die Protogaea, eine Urgeschichte der Erde, die er seinem Geschichtswerk vorangehen lassen wollte. Von 1687 bis 1690 unternahm L., auch zum Zwecke der Materialsammlung für die Welfengeschichte, eine Reise nach Bayern, Österreich und Italien, die ihm wichtige Beziehungen schuf in Wien und Italien, hier mit den Jesuiten. 1691 wurde ihm auch die Leitung der Bibliothek von Wolfenbüttel übertragen, 1696 erhielt er die Ernennung zum Geheimen Justizrat. Seine zunehmende persönliche Vereinsamung wurde nur durch den Umgang mit der Herzogin, späteren Kurfürstin Sophie und ihrer Tochter, der Königin Sophie Charlotte, sowie mit dem Herzog Anton Ulrich in Wolfenbüttel gemildert. Dem Einfluß der Königin Sophie Charlotte verdankte L. die Verwirklichung seines Planes, in Berlin nach dem Pariser und Londoner Vorbild eine Sozietät der Wissenschaften zu begründen; sie wurde 1700 unter ihm' als ihrem ersten Präsidenten ins Leben gerufen. Mehrere gleichlaufende Pläne entsprechender Gründungen in Dresden, Petersburg — L. hatte Gelegenheit, dreimal, 1711, 1712 und 1716 mit Peter dem Großen persönlich über diese wissenschaftlichen, wie über wichtige politische und wirtschaftliche Pläne zu verhandeln — und Wien erhielten zwar grundsätzlich Zustimmung, gelangten aber nicht zur Ausführung; in Dresden wurde diese durch die Sorgen des Nordischen Krieges, in Wien durch finanzielle Schwierigkeiten des Kaisers verhindert. Während seines letzten längeren Aufenthaltes in Wien, der vornehmlich diesen wissenschaftlichen Bestrebungen galt (1712—1714), gewann er den Prinzen Eugen zum Freunde; seine Erfolge dort wurden 1713 durch die Ernennung zum Reichshofrat anerkannt. — L. starb zu Hannover. Seine Bestattung in der Neustädter Kirche fand unter offizieller Beteiligung der Kirche statt, der Hannoversche Hof war nicht vertreten. Die wichtigsten philosophischen Schriften L.s sind der Discours de métaphysique (1686), das Système nouveau (1695), die Nouveaux Essais (1704), die Theodizee (1710) und die Monadologie (1714).
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In dem Discours de métaphysique entwickelt L. erstmalig in zusammenhängender Abhandlung seine Metaphysik. In ihrer Mitte steht der Begriff Gottes, der von L. als das vollkommenste Wesen im Sein und im Handeln definiert wird. Im göttlichen Intellekt sind die metaphysischen und mathematischen ewigen Wahrheiten und die Regeln der Güte, der Gerechtigkeit und der Vollkommenheit. Damit ist in den göttlichen Entscheidungen jede Willkür unmöglich, die Rationalität herrscht auch in ihnen: Gott ist selbst die Rationalität. Die Vollkommenheit bestimmt L. als einen Zustand, in welchem mit dem geringsten Aufwand eine größtmögliche Mannigfaltigkeit von Wirkungen und Zwecken erreicht wird, und dementsprechend ist die vollkommene Ordnung der Welt die umfassendste Mannigfaltigkeit des Erscheinenden auf Grund möglichst einfacher Voraussetzungen. Am besten entspricht solchem Vollkommenheitsbegriff eine Vorstellung der Welt, nach der eine Vielzahl von individuellen, voneinander völlig unabhängigen, unvergleichbaren, unzerlegbaren, einmaligen Substanzen existiert. Sie sind von dem göttlichen Prinzip unterschieden, stehen aber als geschaffene Substanzen nur durch das göttliche Zentrum, in dem alle zusammenhängen, miteinander in Verbindung, ohne daß irgendeine unmittelbare Einwirkung einer Monade auf eine andere stattfinden könnte; die Monade ist fensterlos, wie L. später in seiner Monadologie sagt. Eine jede dieser individuellen Substanzen, deren Wesen in der Vollkommenheit ihres Begriffes besteht, ist ein Spiegel des Universums oder Gottes; er gelangt in jeder individuellen Substanz in der ihr entsprechenden Weise zur Wiedergabe. Jede einzelne dieser substanziellen Monaden spiegelt mit verschiedenem Grade der Klarheit das gesamte Geschehen des Universums; in ihren Zuständen sind sowohl die Vergangenheit wie auch die Gegenwart und die Zukunft enthalten. Die damit zugleich ausgesprochene Determiniertheit der individuellen Substanzen führt nicht zu einer absoluten Aufhebung jedes Fortschritts des Menschen in seiner inneren Entwicklung. Eine Stelle aus einem Briefe L.s an Coste aus dem Jahre 1707 lautet: ,,Das Universum hat keinen Mittelpunkt, und seine Teile sind von unendlicher Mannigfaltigkeit — also wird nie der Fall eintreten, wo alles auf beiden Seiten vollkommen gleich ist und gleichen Eindruck auf uns macht, und wenn wir auch nicht imstande sind, alle der kleinen Eindrücke inne zu werden, die zur Bestimmung unseres Willens beitragen, so ist doch immer etwas vorhanden, das unsere Wahl zwischen zwei Widersprüchen bestimmt, ohne daß der Fall je auf beiden Seiten vollkommen gleich wäre. Wenn aber auch unsere Wahl ex datis immer nach allen inneren Umständen zusammengenommen bestimmt ist und es für die Gegenwart nicht von uns abhängt, den Willen zu ändern, so bleibt doch nichtsdestoweniger wahr, daß wir über unser zukünftiges Wollen eine große Gewalt haben, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Gegenstände richten und uns an gewisse Denkweisen gewöhnen. Auf diesem Wege vermögen wir uns daran zu gewöhnen, den Eindrücken besser zu widerstehen und die Vernunft mehr zur Geltung zu bringen, kurzum, können wir dazu beitragen, uns das wollen zu lassen, was sich gehört" (Philos. Schriften, hrsg. v. R. Habs, Lpzg. 1883, S. 272). Der damit ausgesprochenen Möglichkeit der Entwicklung zu größerer Rationalität entspricht eine Unterscheidung der möglichen Wahrheiten. L. trennt die Vérités nécessaires, die dem Satz des Widerspruchs unterliegen und vor allem in der Geometrie gegeben sind, von den Vérités contingentes, die die Dinge in ihrer Tatsächlichkeit betreffen und also sich auf Erfahrung beziehen; hier gilt der Satz des Widerspruches nicht; denn das Gegenteil eines empirischen Faktums ist nicht an sich widerspruchsvoll. — Die metaphysische Bestimmtheit der 3*
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Substanzen hindert nicht ein Erfassen des Erfahrungsgeschehens mit Hilfe der mechanischen Gesetzlichkeit; es ist möglich, das Geschehen in solcher Art aufzufassen und zu wahren Urteilszusammenhängen zu gelangen. Als ein Naturgesetz nennt L. die Erhaltung der Kraft, ein Gesetz, das nach ihm an die Stelle des Gesetzes des Descartes von der Unveränderlichkeit der Quantität der Bewegung treten muß. Diese These trug ihm die offene Feindschaft der Cartesianer ein. Auf solche Weise versucht L. zu einer Aussöhnung des Mechanismus und des Teleologismus zu gelangen: die Causae finales stehen nicht in einem ausschließenden Gegensatz zu den Causae efficientes! für seine Teleologie beruft sich L. auf den Phädon Piatons. — Entsprechend und analog einer Abhängigkeit des Körperlichen von der metaphysischen Verursachung Gottes entstammen auch die immateriellen Naturen, die Geister, die Ideen, dem göttlichen Prinzip. In der Seele sind die Ideen verworren enthalten, sie werden von dem Geist zur Klarheit und Deutlichkeit erhoben (Meditationes de cognitione, veritate et ideis). L. zieht die platonische Theorie der Anamnesis heran. Die Ideen können nicht auf äußerer, sondern müssen auf innerer Erfahrung beruhen, sie sind entsprechend unserer Herkunft aus Gott uns unmittelbar auch von ihm eingegeben; hierdurch wird Gott zum unmittelbaren äußeren • Objekt unseres Denkens. Der Wille steht folgerichtig mit dem Willen Gottes in Zusammenhang und vermag ihn nachzuahmen. Gott hilft durch seine Gnade den Kreaturen in ihrer Endlichkeit, aus der allein das Übel in der Welt entspringt. — Leib und Seele stehen nicht durch Wechselwirkung miteinander in Verbindung, sie sind voneinander gänzlich unabhängig. Die Perzeptionen der Seele entstehen in ihr selbst und haben ihren Grund in ihr, aber dieses Entstehen unterliegt einer Gesetzlichkeit, nach der die Perzeptionen dem Geschehen in der Welt und vor allen Dingen auch dem Geschehen in dem zugehörigen Leibe entsprechen müssen. Vollkommenheit und Glückseligkeit sind die Prinzipien der gegenständlichen Welt und der immateriellen Welt der Geister. Die physische Welt ist nach vollkommenem Plane eingerichtet, die moralische Welt zur größtmöglichen Glückseligkeit bestimmt. Die Abhandlung Système nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l'union, qu'il y a entre l'âme et le corps (1695) beginnt mit der Erklärung, daß eine Einheit im Materiellen aus dem Materiellen nicht geschaffen werden könne, weil das Materielle immer nur aus Teilen und ihren Aggregaten bestehe. Er verlegt darum die Einheit in formelle Atome oder „metaphysische Punkte" im Gegensatz zu den materiellen Atomen des Demokrit und seiner Anhänger, die es als unteilbare nicht geben kann. Die einfachen Substanzen sind realiter existierende Punkte, ihr Wesen sind seelenartig vorstellbare Forces primitives oder erste Entelechien in einer Stufenordnung, deren Spitze die Geister oder Esprits bilden. Diese Substanzen bewirken als erste und absolute Prinzipien die Aggregierung des Einzelnen und alle Tätigkeit; in uns entspricht ihnen unser Ich. Vermittels der mathematischen Punkte als ihrer points de vue stellen sie die Welt dar. Neben den substantiellen oder metaphysischen und den mathematischen, modalen Punkten nennt L. noch die physischen Punkte, die durch das Zusammentreffen körperlicher Substanzen entstehen, Im weiteren Verlauf der Abhandlung betont L. die Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Abgeschlossenheit der Substanzen, die in einem von vornherein geregelten Reiche der Harmonie mit den anderen Substanzen existieren. Er weist darauf hin, daß die Hypothese der inneren Übereinstimmung der Vernunft am meisten entspricht und der Vollkommenheit der Werke Gottes in be-
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sonderem Maße gerecht zu werden vermag. — Als Foucher gegen die Theorie des Système nouveau Bedenken geltend machte, benutzte L. zur Bezeichnung des entscheidenden Grundsatzes seines Systems den von ihm geprägten Terminus Prästabilierte Harmonie, zu dessen Verdeutlichung er in zwei Aufsätzen das schon von Geulincx verwandte Uhrengleichnis weiter ausführte. Eine dreifache Möglichkeit, so lehrt L., besteht, um die volle Übereinstimmung zweier Uhren in ihrem Gange zu erklären. Die erste ergibt sich, wenn die beiden Uhren durch eine mechanische Vorrichtung in der Weise miteinander in Verbindung gesetzt worden sind, daß der Gang der einen sich auf den Gang der anderen mechanisch überträgt; die zweite, wenn jemand fortwährend die eine Uhr nach der anderen stellt und beide so in Übereinstimmung hält; die dritte, wenn die beiden Uhren bei ihrer Anfertigung bereits so gleichmäßig konstruiert und aufeinander abgestimmt worden sind, daß eine Differenz des Ganges hernach gar nicht eintreten kann. Die erste Möglichkeit nimmt die psychophysische Wechselwirkungslehre an, die L. wegen der Unmöglichkeit der Einwirkung von Substanzen aufeinander und der Einwirkung des Körperlichen auf das Geistige und umgekehrt ablehnt, die zweite wird vom Occasionalismus gelehrt, dem L. nicht zustimmen zu können glaubt, weil die Vorstellung seines jedesmaligen Eingreifens der Würde Gottes nicht entspricht; sie wird in besserer Weise durch die Vorstellung des Zusammenhanges nach der letzten Möglichkeit, des Consentement préétabli gewahrt; auch ist nach L. ein Zusammenhang dieser Art naturgemäßer. Die Nouveaux essais sur l'entendement humain (1704) enthalten die Auseinandersetzung L.s mit dem Sensualismus und Empirismus Lockes, die auf jedes Kapitel des Lockeschen Werkes "An essay concerning human understanding" eingeht; sie entsprechen dieser Abhandlung auch in der Anlage. Die Schrift erschien erst 1765, da L. sie wegen des gerade in der Zeit ihres Abschlusses erfolgenden Todes von John Locke (1704) nicht veröffentlichte. — Es ist vorzüglich die Verkennung der Notwendigen Wahrheiten, die L. in dieser Schrift Locke zum Vorwurf macht, die Verkennung des Sachverhaltes, daß für den Beweis der Notwendigen Wahrheiten eingeborene' Ideen erforderlich sind, „weil die Sinne zwar lehren, was geschieht, aber nicht, was notwendig geschieht" (Brief an Bierling v. 19. Nov. 1709). Sodann weist L. darauf hin, daß der Geist auch sich selbst, und zwar durch die aus ihm stammenden Grundbegriffe wie Substanz, das Wahre, das Seiende usw., gegeben ist: „Nempe nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi ipse intellectus" (ebd.). Im Verlaufe der Auseinandersetzung nun entwickelt L. im Gegensatz zu Locke seine eigene Psychologie und Erkenntnistheorie. Dabei bemerkt er, daß die Lockeschen Lehren im ganzen mehr Ähnlichkeit mit denen des Aristoteles haben, während sein eigener Standort mehr dem des Piaton entspricht. Er lehrt im Anschluß an die platonische Anamnesislehre den ursprünglichen Besitz der Seele an Grundsätzen und Grundbegriffen, die bei entsprechender Gelegenheit wiedererweckt ins Bewußtsein treten. Ihr Vorhandensein in der Seele muß als eine Disposition, als eine Anlage vorgestellt werden, so und nicht anders zu denken. Die Ideen sind virtuelle Fähigkeiten, die den Beweis gewisser Wahrheiten zu leisten vermögen und diese dadurch — in den Gebieten der Ethik, Metaphysik, Logik usw. — zu Notwendigen Wahrheiten machen, im Gegensatz oder Unterschied zu den Individuellen Wahrheiten, die, aus der sinnlichen Erfahrung gewonnen, die aktuelle Erkenntnis zwar ermöglichen, aber nicht vollkommen und hinreichend, und darum nur Beispiele darstellen. Die Seele, die alle eigentliche Erkenntnis erst möglich macht, hat — entgegen Lockes Meinung — keine Zeiten, in denen sie nicht
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denkt; sie denkt auch im Schlafe; denn eine Substanz ist nie in völliger Ruhe; auch im Schlafe finden dauernd Perzeptionen statt, die nur wegen ihrer geringen Intensität nicht ins Bewußtsein treten; denn eine wenn auch verworrene Empfindung hat man auch im Schlafe. Die räumliche und zeitliche Einordnung eines jeden Wesens in seine Umgebung und sein Verbleiben darin wird bewirkt durch die Petites perceptions, durch die unendlich vielen, unendlich kleinen und daher unbemerkten Eindrücke, die, in kontinuierlicher Folge verstärkt, bewußt werden und in Stufen die merklichen Perzeptionen bilden; die Eindrücke der Gleichheit zweier oder mehrerer gegenständlicher Einheiten sind nicht sachlich begründet, denn es gibt in Wirklichkeit nicht zwei Dinge, die völlig einander gleich wären. Die Dinge unterscheiden sich nicht bloß numerisch, sondern qualitativ. Das Gesetz der Kontinuität verbietet die Annahme eines leeren Raumes und einer atomistisch aufgefaßten Materie. L. lehrt, daß der Raum von einer ursprünglich flüssigen und unendlich teilbaren Materie erfüllt sei. Die Materie, die den Bereich des Wirklichen ausmacht, unterscheidet er in metaphysische und physische; die metaphysische ist die allgemeine, die physische die den Körpern zugrunde liegende. Beiden steht der Bereich des Logischen oder Idealen gegenüber. Durch Beschränkung einer ursprünglichen Natur oder einer realen Gattung entstehen die Modifikationen der Dinge, in deren Bestand oder Zusammenhang Gott nicht willkürlich einzugreifen vermag: die Natur der Dinge und ihre natürliche Ordnung sind die sich selbständig auswirkenden Gesetze, denen sie gehorchen. L. bemerkt, daß die Veränderungen, die mit der Materie vor sich gehen, damit sie zum Denken gelangt, nicht begreiflich seien; es bestände jedoch die Möglichkeit einer Verbindung der Materie mit der unsterblichen Seele, Im ersten Buch handelt L. von den eingeborenen Ideen, den Notwendigen Wahrheiten oder Vernunftwahrheiten, den Vérités nécessaires ou de raison, die er den von Locke allein anerkannten Tatsachenwahrheiten, den Vérités de fait, gegenüberstellt. Die Vernunftwahrheiten entstammen dem Geiste selbst, so daß also dispositionell oder präformativ, nicht aktuell, die gesamte Mathematik im Geiste vorhanden ist. Die eingeborenen Wahrheiten, die Vérités innées, werden zu einem Teil instinktiv, „par instinct", und entsprechend verworren erkannt, andere in deutlicher und klarer Erkenntnis durch das natürliche Licht, das Licht der Vernunft, die Lumière naturelle, das heißt mit Hilfe der durch richtige Definitionen erfolgenden Rückführung auf die ersten Prinzipien. Als solche Notions innées nennt L. die Ideen des Seins, des Möglichen, Gottes, der Tugend usw. — Das zweite Buch befaßt sich mit der Klassifikation der Ideen, wie sie von Locke vertreten wird. Dabei stellt L. fest, daß die Idee das unmittelbare innere Objekt des Denkens ist, während Gott das unmittelbare äußere Objekt ist. Alle äußeren sinnlich gegebenen Gegenstände sind nur mittelbare Objekte, weil ihre Einwirkung unmittelbar auf die Seele unmöglich ist. Daher ist die Seele eine kleine Welt, „un petit monde, où les idées distinctes sont une représentation de Dieu et où les confuses sont une représentation de l'univers", keine Tabula rasa. Raum und Zeit sind ewige Wahrheiten, die metaphysisch unmittelbar aus Gott hergeleitet werden müssen, sie beziehen sich auf das Mögliche und auf das Existierende und sind Relationen, nicht, wie Newton meint, etwas Reales und Absolutes. Infolge dieses ihres Wesens können sie auch nicht das Principium individuationis sein oder enthalten. Dieses formuliert, sich als das Gesetz des Nichtzuunterscheidenden (Principium identitatis indiscernibilium). In dem sprachphilosophische Fragen behandelnden dritten Buch nimmt L. bei Erörterung der Erkenntnisbedeutung der Tennini gegen den Nomi-
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nalismus Stellung, weil die bloßen Worte noch nicht Geltung bei sich zu führen brauchen; ewige Geltung besitzen allein die Ideen. Das vierte Buch handelt von der Erkenntnis. Es gibt ursprüngliche, durch Intuition erfaßbare Wahrheiten, die Vérités primitives, und abgeleitete Wahrheiten, Vérités dérivatives, die beide wieder notwendig oder zufällig sein können; im ersten Falle handelt es sich dann um die Vérités de raison, im zweiten um die Vérités de fait. Der Satz der Identität-und der Satz des Widerspruchs sind das Prinzip für die bejahende oder die verneinende Bestimmung der apriorischen Vérités primitives, die dritte Möglichkeit, die der disparaten Sätze, ergibt sich entsprechend. Beide, die apriorischen und aposteriorischen Vérités primitives besitzen den höchsten Grad der Gewißheit, so daß also ihre Geltung nicht von einem noch Gewisseren abhängen kann. Unter den Beweisverfahren gibt L. dem analytischen gegenüber dem synthetischen, auch durch die Methode der Ausschließungen unterstützten Verfahren den Vorzug. — L. fordert eine Wahrscheinlichkeitslehre, die viele der demonstrativ-verfahrenden Wissenschaften ersetzen könnte und müßte. Die Erkenntnis im Bereiche des Sinnlichen ergibt sich durch die raumzeitliche Kohärenz der Phänomene. Die Wahrheit der Erkenntnis im Sinne eines begreifbaren klaren Zusammenhanges entspringt der Vernunft. — In der Frage der Beweisbarkeit Gottes hält L. Descartes entgegen, daß, wenn der ontologische Gottesbeweis sein. Ziel erreichen solle, zunächst die Möglichkeit der Idee Gottes bewiesen werden müßte, und er will seinerseits den Existenzbeweis Gottes in der Weise führen, daß er auf das Vorhandensein des gesamten Universums in jeder Seele verweist, die ohne Einwirkung von außen zu diesem Besitz gelangt ist. Daraus folgt, daß hierfür eine allgemeine Ursache vorliegt, welche die einzelnen Seelen mit der entsprechenden Natur begabt hat und von welcher die Harmonie der einzelnen Wesen untereinander abhängt. Diese allgemeine Ursache enthält die allgemeinen Gesetze des Universums und verleiht den höchsten Vernunfturteilen ihre Notwendigkeit, die ihnen gegenüber den Urteilen über empirische Gegenstände höhere Dignität gibt. — Das Werk erörtert auch die Einteilung der Wissenschaften. Die Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal erschienen 1710, sind aber bereits früher verfaßt worden; sie gehen auf Gespräche L.s mit der Königin Charlotte zurück. Die drei Arten des Übels, das metaphysische, das physische und das moralische Übel, entspringen, das ist das Beweisziel der Essais, nicht Gott als ihrem freien Urheber, sondern sind nach den Gesetzen, die unsere Welt möglich machen, notwendig. Eine bessere Welt als die unsere ist nicht möglich; denn sonst bestände sie durch Gottes Weisheit, Güte und Allmacht. Darum muß die Welt notwendig aus endlichen Wesen bestehen. Aus diesem Begriff der Endlichkeit leitet nun L. die drei Übel ab: das metaphysische Übel ist eine bloße Privation, ein bloßes Fehlen des Vollkommenen, und infolge der mannigfaltigen Abstufung des Seins sind die Unvollkommenheiten mannigfaltig und ungleich; das physische Übel, das sich im Schmerz äußert, entspringt dieser Ordnung des Seins und dient als Erziehungsmittel ziir Erringung größerer Güter und als Strafe für Sünden. Jedenfalls hängt das Maß des den einzelnen Wesen zugeteilten Übels von ihrer Stellung im Zusammenhange des Ganzen ab und dient stets ihrem und der Welt Besten; das moralische Übel oder das Böse entspringt der freien Entscheidungsmöglichkeit der geistigen Wesen gegenüber dem von ihnen erkannten Gesetz. Es hat einen weiteren Grund in der Unvollkonunenheit, die mit allem Endlichen verbunden ist und in einem Mangel an Deutlichkeit der Vorstellungen zum Ausdruck ge-
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langt, so daß schon aus diesem Grunde die freie Entscheidung des Menschen fehlgehen kann. Die Harmonie des Ganzen erfordert das Böse ebenso wie jede andere Unvollkommenheit, weil sonst das Gute nicht vorhanden wäre. Immer dient es dem Geiste zu seinem Besten; das Reich der Natur und das Reich der Gnade stehen in Harmonie miteinander. Die erst nach L.s Tode veröffentlichte, für Nicolaus Remond und seine Freunde bestimmte Monadologie, mit der die im gleichen Jahre (1714) verfaßte Abhandlung Principes de la nature et de la gräce vielfach wörtlich übereinstimmt, faßt noch einmal die Lehren L.s über die Substanz und ihren Elementcharakter, über ihre Tätigkeit und die Harmonie der vielen einzelnen geschaffenen Substanzen, über ihr Verhältnis zur Gottheit und ihre Unterschiede untereinander zusammen. Nach der Bestimmung des Wesens der einfachen Substanz bemerkt L., daß mit den Monaden fortdauernd Veränderungen vor sich gehen, die sämtlich einem inneren Prinzip entspringen. Die Tätigkeiten, die diese Veränderungen bewirken, sind Strebungen, die den Übergang von einer Perzeption der Monade zur andern Perzeption herbeiführen. Die Perzeptionen stellen das Zusammengesetzte dar, das eine Vielheit im Einfachen ist, und werden in der Apperzeption bewußt erfaßt. Jede bewußte Vorstellung ist ein reflexives Erfassen der vielen unbewußten Vorstellungen der Petites perceptions, die in ihrer Gesamtheit den inneren Zustand der Monade ausmachen. Das Brausen des Meeres, das wir vernehmen, entsteht aus den vielen einzelnen kleinen Geräuschen der einzelnen Wellen, die wir nicht in ihrer Einzelheit bemerken, sondern eben nur in ihrem Zusammentreffen in sehr großer Zahl. Die Apperzeption ist das Ziel der perzipierenden Tätigkeit der Monade, und ihre Vollkommenheit ist von dem Grade der Deutlichkeit der Bewußtheit abhängig. Die Monaden stehen in einer Stufenfolge mit unendlich vielen Abstufungen, deren hauptsächliche sind: die Stufe, auf welcher die Monade in einem Zustande der Betäubung sich befindet und nur einfache verworrene Vorstellungen hat (monades nues); es folgt die Stufe der (tierischen) Seelen, denen unterschiedene Perzeptionen und Erinnerung eignen (animaux); die höchste irdische Stufe hat der Mensch mit seiner vernünftigen Seele, die von gottähnlichem Geist erfüllt ist und auf sich selbst zu reflektieren vermag (esprits). Darauf erörtert L. die beiden Prinzipien der Vernunfterkenntnisse, das Prinzip des Widerspruchs und das des zureichenden Grundes; anschließend die Unterscheidung von Notwendigen Vernunftwahrheiten und Zufälligen Tatsachenwahrheiten. Diese letzten führen, da ihre Analyse ins Unendliche geht, zur Annahme einer umfassenden Substanz, aus der allein die Existenz des mannigfachen Tatsächlichen hergeleitet und verstanden werden kann. Die vielen Einzelmonaden werden von der göttlichen Urmonade durch kontinuierliche Ausstrahlung erzeugt, und Gott ist, wie der Ursprung des Tatsächlichen, auch der des Vernünftigen, der ewigen Wahrheiten, aus denen die notwendigen Wahrheiten ihr (logisches) Sein ableiten. Diese Wahrheiten sind nicht, wie die Tatsachenwahrheiten, von dem göttlichen Willen abhängig, sondern unterstehen allein dem göttlichen Verstände. Gott ist „die Macht, die die Quelle von allem ist, dann das Wissen, welches das Einzelne der Ideen enthält, und endlich der Wille, der nach dem Prinzip des Besten die Veränderungen oder Hervorbringungen bewirkt" (Monadol. 48). In ihm sind diese Attribute vollkommen, während sie in den geschaffenen Substanzen Nachahmungen sind. Die geschaffenen Substanzen oder geschaffenen Monaden unterscheiden sich voneinander nach dem Maß ihrer Vollkommenheit, das dem Maß ihrer Tätigkeit entspricht; diese aber ist abhängig von ihrem Besitz an deutlichen Vorstellungen;
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soweit die geschaffene Monade verworrene Vorstellungen hat, ist sie passiv, leidend. Jede der Monaden hat eine besondere Ansicht des Universums infolge ihrer von den anderen jeweils verschiedenen Natur, und so gibt es entsprechend der unendlichen Anzahl der geschaffenen Monaden gleichsam unendlich viele Universa: „Dies ist das Mittel, um init der größtmöglichen Ordnung so viel Mannigfaltigkeit zu erlangen, als möglich ist, d. h. das Mittel, so viel Vollkommenheit zu erlangen, als nur erlangt werden kann" (ebd, 58). In den folgenden Ausführungen wird die Seele als die Entelechie des Körpers, als die zentrale Monade und das Prinzip der Einheit des Organismus bezeichnet. Die Körper befinden sich in einem beständigen Umwandlungsprozeß, der genauer nur als ein dauerndes Fließen verstanden werden kann; denn die Teile des Körpers vergehen und andere kommen neu. Die Seele aber bleibt. Es gibt daher keine Seelenwanderung und keine von einem Körper gänzlich abgesonderte Seele; nur Gott kann als vollkommen körperlos vorgestellt werden. Tod und Neuzeugung sind aus diesem Grunde ebenfalls unmöglich, es gibt nur Développements und Accroissements, Entwicklungen und Vergrößerungen, und Enveloppements und Diminutions, Schrumpfungen und Verkleinerungen. „Man darf also behaupten, daß nicht allein die Seele (der Spiegel eines unzerstörbaren Universums), sondern auch das Tier selbst unzerstörbar ist, wenngleich seine Maschine oftmals teilweise untergeht und organische Stücke annimmt oder abstößt" (ebd. 77). Wenn so auch die Seele und der Körper je ihren eigenen Gesetzen unterworfen sind, so stimmen sie doch auf Grund der zwischen allen Substanzen waltenden prästabilierten Harmonie zusammen; denn sie bringen das gleiche Universum zur Darstellung. Das Gesetz der Seele ist die Zweckursächlichkeit. Sie verwirklicht sich durch die Begehrungstriebe einerseits, die Mittel und Zwecke andererseits; das Gesetz der Körper ist die kausale Ursächlichkeit, die sich in der Bewegung darstellt. Neben dieser Harmonie in den Reichen des Teleologischen und des Kausalen besteht die andere zwischen dem physischen Reiche der Natur und dem moralischen der Gnade; alle Geister bilden in der Vereinigung den Gottesstaat, die allumfassende Monarchie der moralischen Welt unter der Herrschaft Gottes, der der vollkommenste Herrscher des vollkommensten Staates ist. Die Harmonie, in der sich dieses wahrhafte Reich Gottes befindet, bewirkt, daß „die Dinge durch die eigenen Wege der Natur zur Gnade führen, und daß z. B. der Erdball auf natürlichem Wege genau zu den Zeitpunkten zerstört und wiederhergestellt werden muß, wo die Regierung der Geister es der Züchtigung der einen und der Belohnung der anderen wegen erfordert" (ebd. 88). Aus der Liebe zum Herrscher, dem Urheber alles Guten, folgt das Streben aller weisen und tugendhaften Menschen, die Gebote dieses göttlichen Herrschers zu erforschen und zu befolgen; denn sie haben begriffen, daß nichts besser hätte eingerichtet werden können, als es eingerichtet worden ist, wenn sie auch in ihrem gegenwärtigen Zustande nicht alles klar zu verstehen vermögen, und sie sind überzeugt, daß nur ein solches Verhalten und Tun „unser Glück bewirken kann" (ebd. 90). Damit schließt die Monadologie. In den Meditationes de cognitione, veritate et ideis, einer 1684 in den Acta Eruditorum erschienenen Abhandlung, trifft L. grundlegende erkenntnistheoretische Bestimmungen, und im Specium dynamicum pro admirandis naturae legibus circa corporum vires et inutuas actiones detegendis et ad suas causas revocandis, das ebenda im Jahre 1695 veröffentlicht wurde, wendet er seine metaphysische Theorie auf die Phänomene der Physik an.
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In den Meditationes de cognitione knüpft L. an das cartesische Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit der Cogitationes an und lehrt: „Das Wissen ist . . . entweder dunkel oder klar, das klare entweder verworren oder deutlich, das deutliche aber entweder inadäquat oder adäquat, das adäquate entweder symbolisch oder intuitiv: das vollkommenste aber ist das, welches gleichzeitig adäquat intuitiv ist" (Ubers, v. Habs b. Reclam, „Kleinere philos. Sehr,", Lpz. 1883, S. 245). Der dunkle Begriff reicht zur vollständigen Erkenntnis eines Vorgestellten und zu seiner zweifelsfreien Unterscheidung von einem anderen nicht aus. Er macht die Erkenntnis dunkel, die sich auf ihn gründet. Klar wird sie, wenn sie das Vorgestellte wiedererkennt und von anderem unterscheidet. Die klare Erkenntnis ist verworren, wenn die der Unterscheidung von anderem dienenden und hinreichenden Merkmale nicht einzeln aufgezählt werden können, wie z. B. beim Erkennen von Farben, Gerüchen usw. Deutlich wird der Begriff durch vollständige Angabe aller das Vorgestellte von einem anderen • unterscheidenden Merkmale, z. B. in den Nominaldefinitionen. Deutliche Erkenntnis ist auch bei einem undefinierbaren Begriffe möglich, wenn er entweder ursprünglich oder Merkmal von sich selbst ist, so daß er nur durch sich selbst erfaßt werden kann. Bei dem inadäquaten Wissen sind von zusammengesetzten Begriffen die einzelnen Merkmale zwar klar, aber nur verworren bekannt; wird alles deutlich erkannt oder die Analyse des Begriffes vollständig durchgeführt, so ist damit die Erkenntnis adäquat. Es ist aber zweifelhaft, ob dem Menschen ein solches Wissen erreichbar ist. Die Begrifflichkeit der Zahlen nähert sich ihm. In den Fällen, in denen ein vollständiger Überblick über die Sache schwer zu gewinnen ist, ersetzen vrir die Dinge durch Zeichen, ohne jedesmal ihre genaue Erklärung zu wiederholen: solche Erkenntnis ist eine blinde oder symbolische. Beispiele für sie bieten besonders die Algebra und die Arithmetik. Bei sehr zusammengesetzten Begriffen ist die gleichzeitige Vorstellung aller in ihnen enthaltenen Vorstellungen nicht möglich; gelingt solche Erkenntnis dennoch, so ist sie intuitiv. Nur die intuitive Erkenntnis der deutlich erkannten Dinge führt zum Erlangen der Ideen. Irrtümer entstehen dadurch, daß wir die Analyse eines Begriffes nicht weit genug durchführen, uns also mit einer blinden Erkenntnis begnügen; ein Beispiel hierfür ist der ontologische Gottesbeweis der Scholastiker und des Descartes; man versäumte hier den Nachweis der Möglichkeit der Idee Gottes. Es muß zwischen den Nominaldefinitionen, welche die unterscheidenden Merkmale angeben, und den Realdefinitionen, welche die Möglichkeit der Sache dartun, unterschieden werden. Daraus ergibt sich, daß eine Idee dann wahr ist, wenn der Begriff möglich ist, falsch, wenn er einen Widerspruch enthält. Die Möglichkeit eines jeden Begriffes, der an einem zusammengesetzten Begriffe beteiligt ist, vermag die Möglichkeit eines in diesem zusammengesetzten Begriffe gemeinten Dinges a priori darzutun, wenn sich die zusammensetzenden Begriffe nur nicht untereinander widersprechen; ein solcher Sachverhalt liegt besonders in den kausalen Definitionen vor, durch die man weiß, wie der Gegenstand erzeugt werden kann. Die adäquate Erkenntnis ist auch die Erkenntnis der Möglichkeit der Sache; denn der Begriff ist möglich, wenn die vollständige Analysis widerspruchsfrei durchgeführt ist. Freilich wird es dem Menschen kaum jemals gelingen, analytisch bis auf die ersten Möglichkeiten der Dinge und die unauflösbaren Begriffe, als die unbedingten Eigenschaften Gottes, zurückzugehen; man wird sich mit der erfahrenen Wirklichkeit gewisser Begriffe begnügen und nach ihnen andere bilden. — Erst wenn alle diese angegebenen Erfordernisse für eine Erkenntnis erfüllt sind, neben das cartesische Axiom von der Klarheit und
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Deutlichkeit die Leibnizschen Kriterien des Wahren und Deutlichen getreten sind, und ferner die Wahrheit der Ideen in streng logischer Weise bewiesen ist, kann von wahrer und hinreichender Erkenntnis gesprochen werden. Auch wenn wir mit Malebranche glaubten, daß wir alle Dinge in Gott schauen, so müßten wir dennoch uns eigene Ideen annehmen, die das uns von Gott dispositionell Gegebene aktualisieren, wenn auch unser Geist nicht in allen Fällen ausreicht, die Einzelheiten sich klar bewußt zu machen. Im Specimen dynamicum führt L. aus, daß das Charakteristikum der Substanz nicht die Ausdehnung, sondern das Wirken ist. Er unterscheidet aktive und passive Kraft. Beide können ursprünglich (primitiv) oder abgeleitet (derivativ) sein. Die ursprüngliche aktive Kraft ist die Entelechie oder die allgemeine metaphysische Ursache, die abgeleitete aktive Kraft ist die Einschränkung der ursprünglichen aktiven Kraft in der Welt der gegenständlichen Erscheinung; die ursprüngliche passive Kraft ist das Prinzip des Widerstandes, durch das die Materia prima entsteht, die abgeleitete passive Kraft äußert sich in der Materia secunda, in der körperlichen Masse. Es folgt die Erörterung und Ableitung des Gesetzes der Erhaltung der Kraft und des Gesetzes der Kontinuität, sowie die Ablehnung der Atomtheorie. L. betont, daß die Erscheinungen in der körperlichen Welt nur durch mechanisch wirkende Ursachen erklärt werden dürfen, erst die allgemeinen Gründe für diese Gesetzlichkeit liegen in der höheren Ursache, letztlich der göttlichen Substanz. Die beiden Erklärungsarten der Erscheinungen durch die wirkenden Ursachen (Reich der Kraft) und durch die Zweckursachen (Reich der Weisheit) vermögen sich zu durchdringen, ohne sich zu stören; im Reich der Kraft hat dabei immer das Größte, im Reich der Weisheit das Beste statt. S c h r i f t e n : L. deutsche Schriften, hrsg. v. G. E. Guhrauer, 2 Bde., 1838—1840. — Gesamtausg. der philos. Schriften v. Joh. Ed. Erdmann; 1840. — Die philos. Schriften v. G. W. L., hrsg. v. C. J. Gerhardt, 7 Bde., 1875—90 (vgl. W. Rabitz in der Deutschen Liter. Zeitg. 1907, Nr. 34 f.; B. Erdmann, im Arch. f. Gesch. d. Philos. IV, 320—323, vgl. hier Stückeverzeichnis d. Erdmannschen u. d. Gerhardtschen Ausg.). — G. W. L., Deutsche Schriften, hrsg. v. W. Schmied-Kowarzik, Bd. 1—2, 1916. — Kl. philos. Aufs, in deutscher Übers., m. Einl., v. Gustav Schilling: L. als Denker, 1846; ferner v. Kirchmann in der Philos. Bibl. u. v. R. Habs in Reclams Universalbibl. — G. W. L., Hauptschriften z. Gründl, d. Philos., übers, v. A. Buchenau, hrsg. v. E. Cassirer, 5 Bde., Philos. Bibl., 1904—06; 2. Aufl. 1924. — Sämtliche Schriften u. Briefe, hrsg. v. d. preuß. Akad. d. Wissensch, unter Leitg. v. Paul Ritter u. Erich Hochstetter, seit 1924 (etwa 40 Bde. geplant). L i t e r a t u r : C. G. Ludovici, Ausf. Entwurff einer vollst. Historie d. L.schen Philos., 2 Teile, 1737 (ausgezeichnete Sammig. des damals vorlieg, bio- u. bibliograph. Materials). — E. Troeltsch, L., 1908, Dtsche. Gedenkhalle. — P. Ritter, L. u. die dt. Kultur, Gedächtnisrede, gedr. in: Zeitschr. d. hist. Vereins f. Niedersachs. 81 (1916) 165 ff. — W. Wundt, L. zu seinem 200jähr. Todestag, 1917. — W. Rabitz, L.-Biogr., in: K. Fischers Gesch. d. neuer. Philos. III, 5. Aufl., 1920. — B. Erdmann, L. in s. Stelig. zur Mathem. u. Naturwissensch., in: Die Naturwissenschaften, 4. Jahrgang, 1916, 6^3 ff. — M. Cantor, Vöries, üb. Gesch. d. Mathem., 3. Bd., 2. Aufl. — E. Cassirer, L.' System in s. wissensch. Grundlagen, 1902. — H. Schmalenbach, L., 1921. — H. Heimsoeth, L.' Weltansch. als Urspr. s. Gedankenwelt, Kant-Studien XXI (1917) 365 ff. — B. Jansen, Streiflichter auf d. philos. System L.', Stimmen d. Zeit 92 (1917) 526 ff. — D. Mahnke, D. Neubeleb, d. L.schen Weltanschauung, Logos 9 (1920) 363 ff.; Leibnizens Synthese von Universalmathematik u. Individualmetaphysik, Sonderdruck aus: Jahrbuch f. Phänomenol. 47, 1925; L., 1927. — R. Hönigswald, G. W. L., Ein Beitr. zur Frage seiner problemgeschichtl. Stelig., 1928. — Hagemeister, Emma, D. ethischen Probleme d. L.schen Theodic6e u. ihre haupts, Vorarb. in der Gesch. d. Ethik, Münster 1929, Diss. — Stieler, Georg, L. u. Male-
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Leicht — Leisegang
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Leicht, Alfred, geb. 4. November 1861 in Schwarzenberg. Promotion Leipzig 1882. Professor, Schulmann. S c h r i f t e n : Lazarus, d. Begründer der Völkerpsychologie, 1904, — Lazarusstudien, 1912. — Lazarusgedenkschrift am 100. Geburtstage, 1903. — Hrsg.: Pädagog. Briefe von Prof. Dr. M. Lazarus, 1903: Moritz Lazarus' Lebenserinnerungen (mit Nahida Lazarus), 1906.
Leighton, Joseph Alexander, geb. 1870 in Orangeville. Prof. am Hobart College, New York. — Der amerikanische Philosoph L. ist Vertreter eines idealistischen Standpunktes. S c h r i f t e n : Typical m o d e r n conceptions of God or the Absolute of G e r m a n romantic idealism and of English evolutionary agnosticism with a constructive essay, N e w York 1901. — Man and the cosmos, an introd, to metaphysics, N e w York 1922. — Religion and the mind of to-day, N e w York 1924. — T h e Individual and the social order, an introd. to ethics and social phil., N. Y. 1926. — Individuality and education, a democratic phil. of education, N. Y. 1928. — Fichte's conception of God, in: Philosophical Review, V; 1896.
Leisegang, Hans, geb. 13. März 1890 in Blankenburg. Promotion in Philosophie bei Clemens Bäumker und Theobald Ziegler in Straßburg 1911. Habilitation für
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Philosophie in Leipzig 1920, a. o. Professor ebda. 1925, o. Professor in Jena 1930, kam 1934 wegen Opposition gegen den Nationalsozialismus ins Gefängnis, verlor seine Professur, studierte Mathematik und Physik, promovierte 1941 zum Dr, rer. nat., arbeitete als technischer Physiker in der Industrie, wurde 1945 wieder o. Professor der Philosophie in Jena, 1948 an der Freien Universität Berlin. Forschungen auf dem Gebiete der hellenistischen Religion, unterstützt durch Studien klassischer Philologie und orientalischer Religionen ergaben für L. die Einsicht, daß die Griechen das Orientalische in seinem Wesen nie verstanden haben, sondern die orientalischen Motive in rein griechische Formen, Weltanschauungen und Weltbilder einfügten. L. bemüht sich, das andersartige Denken zu erschließen, das die hellenistische Weltanschauung, aus der das Christentum erwuchs, im Gegensatz zu unserer Logik auszeichnet. Von hier aus kam L. zu der allgemeineren Feststellung verschiedener Typen des Denkens, die er durch die Geschichte der Philosophie verfolgte und als „Denkformen" systematisch am historischen Material entwickelte. Eine Bestätigung seiner Methode und seiner Theorie fand er in der Deutung der Weltanschauung Lessings, der Denkform Goethes, Hegels und anderer Persönlichkeiten der Literatur- und Philosophiegeschichte. Bezüglich der Systematik der Philosophie ergibt sich für L., daß alles logische Denken nicht durch Logik allein geschaffen wird, vielmehr in seinen besonderen Formen durch die Gegenstandsbereiche mitbestimmt ist, an denen sich das Denken orientiert. Die Gegenstände, die dem Denken in verschiedener Weise vorliegen, z. B. im Verhalten toter Körper zueinander, als Organismen, als Artefakte, aber auch als ideelle Gegenstände, wie Zahlen, Gattungsbegriffe usw., konstituieren jeweils in bestimmter Gruppierung und Auswahl eine bestimmte Wirklichkeitswelt, in der ein Denker lebt. Die von allem Psychologischen absehende Phänomenologie des Denkens, wie sie L. pflegt, deckt nun die Abhängigkeit des Denkens und seiner logischen Formen von dieser jeweils eigentümlichen Gegenstandswelt auf und führt von da zu einer Methaphysik der Erkenntnis und Ontologie. L. will zeigen, daß die Ergebnisse des Denkens nur so weit richtig sind, wie die Denkform der Struktur der Gegenstände entspricht, von denen ein solches Denken gleichsam abgelesen wurde, daß sie aber falsch sind, wenn die an einem Gegenstandsbereich gebildete Denkform dazu verwendet wird, um mit ihr alle Gegenstände zu bearbeiten, wie dies durch die Systematiker der Philosophie meist geschah. S c h r i f t e n : Die Begriffe der Zeit u. Ewigkeit im späteren Piatonismus, 1913. — Der Heilige Geist; das Wesen und Werden der mystisch-intuitiven Erkenntnis in der Philos, u. Religion der Griechen, 1919. — Pneuma Hagion, Der Ursprung des Geistbegriffs d. synopt. Evangelien aus d. griech. Mystik, 1922. — Griech. Phil, v, Thaies bis Piaton, 1922. — Hellenist. Philos., 1923. — Die Gnosis, 1924, 3. Aufl. 1942. — Indices ad Philonis Alexandrini Opera, 2 Bde., 1926—30. — Weltanschauung; philos. Lesebuch, 2 Bde., 1926 (zus. mit Ernst Bergmann). — Deutsche Philos, im 20. Jhdt., 1928. — Denkformen, 1928, 2. Aufl. 1949. — Die Piatondeutung d. Gegenwart, 1929. — Religionsphilos. d, Gegenwart, 1930. — Lessings Weltanschauung, 1931. — Goethes Denken, 1932. — Dante u. das christliche Weltbild, 1941. — Hegel, Marx, Kierkegaard, 1948. — Artikel Logos, Sophia, Physik, Physis, Philon, Platon u. a. in der Realenzyklopädie der klass. Altertumswissenschaften. L i t e r a t u r : Erich Unger, D. Philos, des letzten Jahrzehnts, 1932. — Hans Meyer, Weltanschauung der Gegenwart, 1949, S. 299 f.
Lemoine, J. Albert Felix, 1824 bis 1874- Prof. in Nancy, Bordeaux, seit 1862 an der École Normale in Paris.
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S c h r i f t e n : Quid sit materia apud Leibnitium, 1847. — Charles Bonnet de Genève, philosophe et naturaliste, 1850. — L'âme et le corps, 1862. — Le vitalisme et l'animisme de Stahl, 1864. — De la physiognomie et de la parole, 1865. — L'habitude et l'instinct, 1875. Lenin, Vladimir Iljitch (Uljanov), geb. 18. 4. 1870 in Simbirsk, gest. 21. 1. 1923. Der Vater Lenins war in seinen späteren J a h r e n Staatsrat in Simbirsk. Nach juristischen und staatswissenschaftlichen Studien an der Universität zu Kasan wurde Lenin wegen Teilnahme an revolutionären Kundgebungen der Studentenschaft relegiert und verbannt. Später wurde es ihm wieder möglich, seine Studien fortzusetzen; 1889 legte er das juristische Staatsexamen ab. Nachdem er sich zunächst in Petersburg als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, wandte er seine Interessen in wachsendem Maße den Aufgaben der politischen Tätigkeit zu. Er traf sich mit Plechanow im Ausland, 1897 wurde er als Urheber eines Streiks in Petersburg verhaftet und für drei J a h r e nach Sibirien verbannt, Von nun an lebte er an verschiedenen Orten im Ausland. Mit Plechanow gründete er die revolution ä r e Zeitschrift „Iskra". Nach dem Scheitern der Revolution von 1905 verfaßte er die philosophische Schrift: „Materialismus und Empiriokritizismus". Nach dem Ausbruch der russischen Revolution von 1917 kehrte er nach Rußland zurück und stürzte im Oktober 1917 die Kerenski-Regierung. Von diesem Zeitpunkt an war Lenin bis zu seinem Tode als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der Führer des russischen Volkes. Als Philosoph reiht sich Lenin in die Entwicklung des „historischen Materialismus" ein, die in seiner Zeit vor allem durch die Schriften Plechanows vertreten wird. Er kennzeichnet das Werden dieser Philosophie mit folgenden Worten: „Sowohl Marx und Engels, als auch J . Dietzgen betraten die philosophische Arena zu einer Zeit, als bei den fortschrittlichen Intellektuellen im allgemeinen und in den Arbeiterkreisen im besonderen der Materialismus vorherrschte. Es ist daher ganz natürlich, daß Marx und Engels ihr ganzes Augenmerk nicht auf die Wiederholung des Alten richteten, sondern auf eine ernsthafte theoretische E n t w i c k l u n g des Materialismus, auf seine Anwendung auf die Geschichte, d. h. auf die V o l l e n d u n g des Gebäudes der materialistischen Philosophie b i s o b e n . Es ist ganz natürlich, daß sie sich auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie darauf b e s c h r ä n k t e n , die Irrtümer Feuerbachs zu korrigieren, die Trivialitäten des Materialisten Dühring zu verlachen, die Fehler Büchners zu kritisieren . . . und das zu unterstreichen, was diesen in den Arbeiterkreisen am meisten verbreiteten und populären Schriftstellern b e s o n d e r s fehlte, nämlich die Dialektik. Um die ABC-Wahrheiten des Materialismus, die die Hausierer in Dutzenden von Auflagen in die Welt hinausschrien, machten sich Marx, Engels und J . Dietzgen keine Sorge, sie richteten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, daß diese ABCWahrheiten nicht vulgarisiert, nicht zu sehr vereinfacht werden, nicht zu einer Gedankenstagnation führen (Materialismus unten, Idealismus oben), nicht dazu, daß die w e r t v o l l e Frucht der idealistischen Systeme, die Hegeische Dialektik, vergessen wird — diese echte Perle, die die Hähne Büchner, Dühring u. Co. (samt Leclair, Mach, Avenarius usw.) aus dem Misthaufen des absoluten Idealismus nicht auszusondern vermochten" (Materialismus und Empiriokritizismus, sämtl. W e r k e deutsch, Bd. XIII, Wien-Berlin, 1927, S. 241). Eine erkenntnistheoretische Auslegung der materialistischen Dialektik, die Lenin durchführt, nachdem die erkenntnistheoretischen Probleme in seiner Zeit eine besondere Bedeutung gewonnen haben, zeigt eine Vereinigung des Relativismus und der Objektivität als für sie charakteristisch. Bereits „die materialistische Dialektik von Marx und Engels schließt unbedingt den Relativismus ein, reduziert sich aber
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nicht auf ihn, d. h. sie gibt die Relativität aller unserer Erkenntnisse zu, aber nicht im Sinne der Verneinung der objektiven Wahrheit, sondern im Sinne der geschichtlichen Bedingtheit der Grenzen der Annäherung unserer Kenntnisse an die Wahrheit" (a.a.O. S. 125). Ebenso wie die Dialektik ist auch das Moment des Materialismus innerhalb des Ganzen der materialistischen Geschichtsauffassung vor der Aufhebung der Objektivität durch einen Relativismus oder Idealismus, wie sie auch im Philosophieren der „empiriokritizistischen" Schule Machs vorliegt, zu bewahren. Der Politiker Lenin verteidigt hier eine nach seiner Auffassung fundamentale geistige Position des Denkens der Arbeiterschaft. „Auf dem Wege über den Machismus werden direkte philosophische Reaktionäre und Prediger des Fideismus als Lehrer der Arbeiter eingeschmuggelt" (a. a. 0 . S. 216), und ,,die neueste Philosophie ist genau so parteilich, wie die vor zweitausend Jahren. Die kämpfenden Parteien sind dem Wesen der Sache nach, das durch gelahrtquäcksalberische neue Namen oder durch schwachsinnige Parteilosigkeit verhüllt wird, der Materialismus und der Idealismus. Letzterer ist nur eine verfeinerte raffiniertere Form des Fideismus, der in voller Rüstung gewappnet dasteht, über große Organisationen verfügt, und nach wie vor unausgesetzt auf die Massen einwirkt, indem er das geringste Schwanken des philosophischen Gedankens sich zunutze macht. Die objektive Klassenrolle des Empiriokritizismus läuft ganz hinaus auf Handlangerdienste für die Fideisten in ihrem Kampf gegen den Materialismus überhaupt und gegen den historischen Materialismus insbesondere" (a. a. O. S. 367). Hier liegt das Interesse begründet, das Lenin an der Erkenntnistheorie nimmt, und hier liegen die Motive für seine entschiedene Stellungnahme für einen materialistischen Standpunkt auch in der Auffassung der Erkenntnis. Er handelt damit auch im Sinne seiner eigenen These: „Leben und Praxis müssen der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein" (a. a. 0 . S. 131). Die Stellung gegenüber dem Problem „Idealismus" oder „Materialismus" ist entscheidend für die philosophische Eigenart der Denker überhaupt. „Die erkenntnistheoretisch wirklich wichtige Frage, die die philosophischen Richtungen scheidet, besteht nicht darin, welchen Grad von Genauigkeit unsere Beschreibungen der kausalen Zusammenhänge erreicht haben und ob diese Angaben in einer exakten mathematischen Formel ausdrückbar sind, sondern darin, ob die Quelle unserer Erkenntnis dieser Zusammenhänge eine objektive Gesetzmäßigkeit der Natur ist, oder die Beschaffenheit unseres Geistes, das diesem eignende Vermögen, bestimmte apriorische Wahrheiten zu erkennen usw." (a.a.O. S. 150). So gibt es eine breite Front, die sich in immerwährendem Angriff gegen den Materialismus richtet: „Wer ein wenig mit der philosophischen Literatur vertraut ist, wird wissen, daß es kaum einen modernen Professor der Philosophie (und auch der Theologie) geben dürfte, der sich nicht direkt oder indirekt mit der Widerlegung des Materialismus befaßt hätte. Hundertmal, tausendmal wurde verkündet, daß der Materialismus widerlegt sei, und bis heute fährt man fort, ihn zum hundertundersten oder tausendundersten Male zu widerlegen" (a. a. O. S. 3), Eine solche scheinbare Widerlegung sieht Lenin im Empiriokritizismus von Mach und seiner Schule, der lehrt, daß nur Empfindungen uns gegeben und nur Verhältnisse von Empfindungen erkennbar sind. Lenin will dagegen die Objektivität der Erkenntnis der Materie in Einklang bringen mit der Tatsache, daß die Sinnesorgane und die durch diese vermittelten Empfindungen am Erkenntnisvorgang beteiligt sind. „Materialist sein, heißt die objektive Wahrheit, die uns durch die Sinnesorgane zugänglich wird, anerkennen" (a. a. 0 . S. 120), und „eben das ist Materialismus: die Materie wirkt auf unsere Sinnesorgane und erzeugt die Empfindung. Die
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Empfindung ist abhängig vom Gehirn, von den Nerven, der Netzhaut usw., d. h. von in bestimmter Weise organisierter Materie. Die Existenz der Materie ist unabhängig von der Empfindung. Die Materie ist das Primäre. Die Empfindung, der Gedanke, das Bewußtsein sind die höchsten Produkte der in bestimmter Weise organisierten Materie. Dies ist die materialistische Auffassung überhaupt und die Auffassung von Marx und Engels im besonderen" (a. a. O. S. 37). Der Grund für diese Überzeugung liegt in der Erfahrung. „Dieselbe Erfahrung . . d i e in uns die festeste Überzeugung bewirkt, daß u n a b h ä n g i g von uns andere Menschen und nicht bloß Komplexe meiner Empfindungen des Hohen, Niedrigen, Gelben, Harten usw. existieren, dieselbe E r f a h r u n g bewirkt bei uns die Überzeugung, daß Dinge, Welt und Umgebung unabhängig von uns existieren. Unsere Empfindungen, unser Bewußtsein sind nur das A b b i l d der Außenwelt, und es ist selbstverständlich, daß ein Abbild nicht ohne das Abgebildete existieren kann, das Abgebildete aber unabhängig von dem Abbildenden existiert. Die » n a i v e « Ü b e r z e u g u n g der Menschen wird vom Materialismus b e w u ß t zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht" (a. a. O. S. 53). Neben die naive Überzeugung tritt das Bewußtsein des Naturwissenschaftlers: „Für jeden Naturwissenschaftler, der sich durch die Professorenphilosophie nicht verwirren läßt, sowie für jeden Materialisten ist die Empfindung tatsächlich die unmittelbare Verbindung des Bewußtseins mit der Außenwelt, die Verwandlung der Energie des äußeren Reizes in eine Bewußtseinstatsache. Diese Verwandlung beobachtet jeder Mensch millionenmal und beobachtet sie wirklich auf Schritt und Tritt. Das Sophistische der idealistischen Philosophie liegt gerade darin, daß die Empfindung nicht für die Verbindung des Bewußtseins mit der Außenwelt gehalten wird, sondern für eine Scheidewand, für eine Mauer, die das Bewußtsein von der Außenwelt trennt, nicht für das Abbild einer der Empfindung entsprechenden äußeren Erscheinung, sondern für das »einzig Seiende«" (a. a. O. S. 33). Im Gegensatz zum Empiriokritizismus wie zu jedem Idealismus usw. ergibt sich also: „Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, photographiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert" (a. a. O. S. 117). Analog dem Einbezogensein eines Momentes der Relativierung in die im ganzen die Objektivität nicht aufhebende Dialektik verbindet der historische Materialismus ebenfalls eine geschichtliche Relativierung des jeweiligen Standes der Erkenntnis mit der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis als Erkenntnis einer absoluten Wahrheit. „Vom Standpunkt des modernen Materialismus, d. h. des Marxismus, sind nur die Grenzen der Annäherung unserer Erkenntnisse an die objektive, absolute Wahrheit geschichtlich bedingt, die Existenz dieser Wahrheit selbst ist u n b e d i n g t , unbedingt ist, daß wir uns ihr nähern. Geschichtlich bedingt sind die Konturen eines Bildes, aber unbedingt ist, daß dieses Bild ein objektiv existierendes Modell wiedergibt. Geschichtlich bedingt ist, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen wir in unserer Erkenntnis des Wesens der Dinge bis zu der Entdeckung des Alizarins im Kohlenteer kamen oder bis zu der Entdeckung der Elektronen im Atom, aber unbedingt ist, daß jede solche Entdeckung ein Vorwärtsschreiten der »unbedingt objektiven Erkenntnis« ist. Kurz gesagt, geschichtlich bedingt ist jede Ideologie, aber unbedingt ist, daß jeder wissenschaftlichen Ideologie (im Unterschied z. B. zur religiösen Ideologie) eine objektive Wahrheit entspricht, eine absolute Natur" (a. a. O. S. 124). Lenin erklärt es „für eine spezifisch kantische und Humesche Schrulle, zwischen der E r s c h e i n u n g und dem D i n g a n s i c h eine p r i n z i p i e l l e Grenze zu ziehen" (a. a. O. S. 102), aber seine letzte Überzeugung hebt auch die relative
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Grenze zwischen beiden auf zugunsten einer Überzeugung, für die die Realität an sich zuletzt eine rein naturhafte ist: „Die Gegenstände unserer Vorstellungen unterscheiden sich von unseren Vorstellungen, das Ding an sich unterscheidet sich von dem Ding für uns, denn letzteres ist nur ein Teil oder eine Seite des ersteren, so wie der Mensch selbst nur ein Teil der in seinen Vorstellungen abgebildeten Natur ist" ( a . a . O . S . 10). Wie Lenin in entschiedener Weise gegen jedes Eindringen eines „idealistischen" Moments in die Auffassung vom Wesen der Erkenntnis kämpft, so wendet er sich scharf gegen jedes „idealistische", „opportunistische" oder „volkstümlerische" Element in der Auslegung des Sozialismus. Er will den Marxismus als konsequente Theorie des Klassenkampfes in Theorie und Praxis von jedem Kompromiß freihalten. Dabei spricht er aber der Intelligenz nicht nur eine Bedeutung als einem Exponenten einer aus sich heraus geschehenden ökonomischen Entwicklung zu, sondern er betont ihren aktiven Charakter und ihre wesentliche Leistung nicht allein für das Entstehen der modernen sozialistischen Gedankenwelt, sondern auch für die Revolution und für die Neugestaltung der Gesellschaft. So wenig eine bloße Spontaneität der Arbeiterschaft im rein wirtschaftlichen Kampf in einer geschichtlichen Entwicklung oder ein Terrorismus einzelner die gesellschaftlichen Fortschritte heraufführen können, so wenig vermag die Arbeiterklasse auf eine politische Theorie und auf eine Erkenntnis ihrer Situation im Ganzen der Gesellschaft, also auf eine wissenschaftliche Soziologie zu verzichten. Dabei ist jeder Versuch einer Anpassung des wissenschaftlichen Niveaus an die Fassungskraft der niedrigsten Schichten, statt energischer Bemühung, diese auch geistig zu heben, eine Gefahr für die Interessen des Sozialismus. Jede Selbstpreisgabe der eigenen Aktivität der Intelligenz gegenüber der Spontaneität der wirtschaftlichen Aktion der Arbeiterschaft liefert diese in Wahrheit nur den Einflüssen jener „bürgerlich" gesonnenen Sozialisten, wie Kautsky und Bernstein aus, gegen deren „Revision" der marxistischen Thesen und Programmatik sich Leniin entschieden absetzt. Die selbständige Aktivität der Intelligenz ist aber von Willkürfreiheit zu unterscheiden. Wie schon Hegel die Freiheit zuletzt in der selbstentschlossenen Erfüllung historischer Notwendigkeiten sieht und Plechanow diesem Gedanken eine materialistische Wendung gibt, indem er betont, daß gerade das Bewußtsein, der Notwendigkeit eines historischen Prozesses zur Verwirklichung zu verhelfen, der geistigen Aktivität und der Freiheit der Persönlichkeit einen starken Rückhalt gibt, so bildet auch für Lenins Auffassung eine Notwendigkeit den Hintergrund des Bewußtseins auch von der Gültigkeit des Wissens. Wir wissen von der Existenz dieser Notwendigkeit „aus derselben Quelle, aus der wir wissen, daß die Dinge außerhalb unseres Bewußtseins und unabhängig von diesem existieren, nämlich aus der Entwicklung unserer Kenntnisse, die jedem Menschen millionenfach zeigt, daß sich Nichtwissen in Wissen verwandelt, sobald der Gegenstand auf unsere Sinnesorgane wirkt, und daß umgekehrt Wissen sich in Nichtwissen verwandelt, wenn die Möglichkeit solcher Wirkung aufgehoben wird" (a. a. O. S. 183). Die Erkenntnis selbst unterliegt somit auch dem Entwicklungsgedanken, wie er dem Naturalismus und der Dialektik eigentümlich ist, deren Verbindung im Ganzen der Philosophie Lenins den historischen Materialismus charakterisiert. S c h r i f t e n : Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1928—1930. — Ausgewählte Werke in 12 Bänden, Wien-Berlin 1932. — Ausgewählte Werke in 2 Bänden, Bd. I Moskau 1946, Bd. II Moskau 1947 (in deutscher Sprache). — Briefe an Maxim Gorki 1903—1913, Wien 1924. L i t e r a t u r : Heinz Horn, L. als Philosoph, Dresden 1933. — Piaton Michajlowiö Kerzencev, Das Leben Lenins, übers, a. d. Russ., Moskau 1937. — Georg Lukács, Lenin, Studie über den Zushg. d. Gedanken, Berlin 1924, — Josef Stalin, Lenin, Moskau 1939. — Philosophen-Lexikon
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Lennerz — Leone Ebreo
Ernst Drahn, Lenin. Eine Bio-Bibliographie, Berlin 1924. — N. K. Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, Wien-Berlin 1929. — Josef Stalin, Fragen des Leninismus, deutsch 1948. — Lenin, Wladimir Ujitsch. Ein kurzer Abriß seines Lebens und Wirkens (ohne Verfasser), Moskau 1947. — W. Ziegenfuß, Lenin. Soziologie und revolutionäre Aktion im politischen Geschehen, Berlin 1948.
Lennerz, Heinrich, geb. 24. Juni 1880 in Kempen (Rheinl.). S. J. Prof. an der Gregorianischen Universität Rom, S c h r i f t e n : Schelers Konformitätssystem u. die Lehre d. kath, Kirche, 1924. — Natürl. Gotteserkenntnis, 1926. — Hrsg. v. Lehmen, Lehrb. d. Philos,, III, 4-/5. Aufl. 1923. — Salva illorum substantia, in: Greg. 3 u. 4, 1922.
Lenz, Joseph, geb. 19. März 1892 in Heckhuscheid. Dr. phil. Innsbruck 1916 und Bonn 1921. Doz. für Philosophie am Priesterseminar in Trier 1919, Prof. ebda. 1921. S c h r i f t e n : Die docta ignorantia oder mystische Gotteserkenntnis des Nikolaus Cusanus in ihren philos. Grundlagen, 1923. — Vorschule d. Weisheit, Würzburg 1941; 2. A. 1948.
Léon, Xavier, geb. 21. Mai 1868, gest. 21. Okt. 1935. Schüler von Darlu am Lycée Condorcet und Schüler von Boutroux. Prof. an der Sorbonne. Organisator der philosophischen Arbeit in Frankreich. Mit Darlu und Ravaisson gründet er 1893 die Revue de Métaphysique et de Morale, um die spiritualistische Philosophie gegen den empirischen Positivismus durchzusetzen. Er ruft die Internationalen Kongresse für Philosophie ins Leben; der erste wird 1900 in Paris von Boutroux geleitet. L. ist auch Gründer der Société Française de Philosophie (1901). Seine eigene philosophische Arbeit gilt Fichte. S c h r i f t e n : La philosophie de Fichte, 1902. — Fichte et son temps, 2 Bde. in 3 Tien., Paris 1922, 24, 27.
Leonardo da Vinci, geb. 1452 in Vinci bei Empoli, gest. 2. Mai 1519 in Schloß Cloux bei Amboise. Der Maler L. war auch als Mathematiker, Physiker und Philosoph genial, ein Vorläufer des Galileo Galilei, beeinflußt von der Pariser Schule der Occamisten. Die Mathematik ist nach L. die einzige wahrhaft erkennende Wissenschaft. Daher ist in dem Gebiet der Physik die Mechanik die vollkommenste Disziplin; denn sie vermag sich am vollkommensten der Mathematik zu bedienen. Das Geschehen in der Natur verläuft mit Notwendigkeit, wie Mathematik und mathematische Naturwissenschaften zeigen, sie weicht von den ihr eigenen Gesetzen niemals ab. Andererseits gibt L. die Erklärung, daß die Bewegung, die das Fundament des Naturgeschehens bildet, auf einer spirituellen Macht beruht, die er als die Naturkraft für das Naturgeschehen in Anspruch nimmt. Auch sonst durchbricht er die konsequente kausalwissenschaftliche und mathematische Erklärungsweise, wenn er davon spricht, daß der Teil von sich aus die Tendenz zum Ganzen habe, weil die Aufnahme ins Ganze seiner eigenen Erhaltung zugute komme. Denn sein Teilcharakter bedeute seine Unvollkommenheit, und diese wolle er überwinden. Wie denn überhaupt bei L. die gesamte Natur ein beseeltes Ganzes und auf oberste Zwecke hingeordnet ist. S c h r i f t e n : Schriften, hrsg. v. M. Ch. Ravaisson-Mollieu, 6 Bde., Paris 1881—91. L i t e r a t u r : Marie Herzfeld, L. d. V., Der Denker, Forscher u. Poet, 1906, 3. A., Jena 1911 (enthält deutsche Übersetzungen). — P. Duhem, Étude sur L. d. V., Paris 1906; seconde série, Paris 1908: troisième série, Paris 1913. — G. Gentile, Bruno e il pensiero del rinascimento, Florenz 1920 (auch über L, d. V.).
Leone Ebreo (Leo Hebraeus, eig. Name: Abrabanel, Juda), geb. zwischen 1460 und 1463 zu Lissabon, gest. zwischen 1520 und 1535. Jüdischer Arzt und Philosoph. In seinem „Dialog über die Liebe" verbindet L. E. den Neupiatonis-
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Leonhard! — Leroux
mus des Ibn Gebirol mit dem Aristotelismus des Maimonides und mit echt platonischen Gedanken. Der Wirkungsgrad L. E.s auf Spinoza ist strittig.
S c h r i f t e n : Dialoghi dell' amore, Roma 1535, Venedig 1541, Bari 1929. L i t e r a t u r : Pflaum, Heinz, Die Idee der Liebe. Leone Ebreo, 2 Abhandlungen z. Gesch. d. Philos, in der Renaissance, 1926. — Zimmels, L. Hebräus, 1886. — E. Solmi, Benedetto Spinoza e L. E., 1903. — Carl Gebhardt, Spinoza u. der Piatonismus, in: Chron, Spinozanum, I, 1921, S. 178 ff. — G. Gentile, L. E, e Spinoza, in: Studii sul Rinascimento, 1923, S. 96 ff.
Leonhard!, Hermann Karl Frhr. v., geb. 12. März 1809 in Frankfurt a. M., gest. 21. Aug. 1875 in Prag. Seit 1849 Prof. in Prag. Anhänger K. Chr. Fr. Krauses, Schwiegersohn von ihm. L. berief und leitete den ersten Philosophenkongreß, der im Jahre 1868 in Prag stattfand. S c h r i f t e n : Der Philosophenkongreß als Versöhnungsrat, 1869. — Sätze aus d. theoret. u. prakt. Philos. Erneute Vernunftkritik, 1869, — L. gab zahlreiche Schriften Krauses u. die Ztschr. „Die neue Zeit, freie Hefte f. vereinte Höherbildung der Wissensch, u. des Lebens" 1869—75 heraus.
Leontius von Byzanz, geb. um 485 in Konstantinopel, gest. um 543 ebda. Neuplatoniker, in dessen synkretistischen Schriften ein Vordringen der aristotelischen Denkweise in der Patristik zuerst deutlich bemerkbar wird. S c h r i f t e n : Zeugnisse bei J . P. Migne, Series Graeca, Bd, 86, 1. L i t e r a t u r : F. Loofs, L. v. B., 1887, Texte u. Untersuchgn. III, 1 u. 2; ders., Realenzyklop. f. protest. Theol. u. Kirche, XI, 3. Aufl. 1902, 394 ff.
Leontjew, Konstantin Nikolajewitsch, geb. 1831 im Gouv. Kaluga, gest. 24. Nov. 1891 bei Moskau. Russischer Arzt und Philosoph. — Furcht ist der Anfang aller Weisheit und Liebe allein ihre Frucht. Die Völker durchlaufen eine Entwicklung von jugendlicher Einfachheit zu entfalteter Koimplexheit. Komplexe Gesellschaftsformen müssen mit Gewalt beherrscht werden. S c h r i f t e n : Ges. Sehr., hrsg. v. I. Fudel, 9 Bde., Moskau 1912—13. L i t e r a t u r : Erinnerungsschrift für L., Petersburg 1911 (m, Bibliogr.). — Berdjajeff, N., K. L. (russ.), Paris 1926; 2. A. 1938. — Masaryk, T. G., Zur russ. Gesch.- und Religionsphilos.; 2 Bde., 1913. — Miliukov, P. N., Le mouvement intellectuel russe, franz. Übers., Paris 1918; Kap. 8.
Leopardi, Giacomo, Graf, geb. 29. Juni 1798 in Recanati, gest. 14. Juni 1837 in Neapel. Italienischer Dichter, Vertreter pessimistischer Weltanschauung, von weltschmerzlicher Grundstimmung.
S c h r i f t e n : Pensieri, 1845, deutsch 1928. — Pensieri di varia filosofia e di bella letteratura, 7 Bde„ m. Einl. v. Carducci, 1898—1900. — Scritti vari inediti di G. L., 1906. — Il testamento letterario di G. L., 1921. — Briefwechsel, hrsg. v. Viani u. Piergili, 5. Aufl., 3 Bde., 1892, — Epistolario, hrsg. v. F. Moroncini, 7 Bde., Florenz 1934/42. — Opere, hrsg. v. Ranieri, 2 Bde., 1845—46; hrsg. v. De Robertis, 3 Bde., Mailand 1937 f. — Gesamtausgabe, hrsg. v. F. Flora, Mailand, seit 1937. L i t e r a t u r : Vossler, Karl, L„ 1923; 2. Aufl. 1930. — Zottoli, L., 1927. — MazzatiniMenghini, Bibliografia Leopardiana, 1931. — F, L. Mannucci, L., Turin 1934. — A. Momigliano, I „Pensieri" die G. L,, Bari 1938, — G. Gentile, Poesia e filosofîa di G. L., Florenz 1939. — A. Tilgher, G. L., Rom 1940.
Leroux, Pierre, geb. 17. April 1797 in Bercy bei Paris, gest. 11. April 1871 in Paris. L. ist stark beeinflußt von Condorcet und der bedeutendste Philosoph des Samt-Simonismus. Die Menschheit hält er für realer als das Individuum. Dieses stellt für sich betrachtet nur eine Abstraktion dar.
S c h r i f t e n : Zus. mit L. Reynaud: Encyclopédie nouvelle, Paris, 8 vol., 1838—41. — Réfutation de l'éclecticisme, Paris 1839; 2. Aufl. 1841. — De l'Humanité, de son 4*
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Le Roy — Lessing, Gotthold Ephraim
principe et de son avenir, 2 Bde., Paris 1840; 2. éd. 1847. — D'une religion nationale, Boussac 1846. — Du Christianisme et de son origine démocratique, Paris 1848. — La grève de Samarez, Paris 1863. — Job, Paris 1866, — Hrsgbr. von ,,Le Globe". L i t e r a t u r : Mirecourt, Eugène de, Les contemporains, Pierre Leroux, Paris 1896. — P. F. Thomas, P. L., Paris 1904. — H. Mougin, P. L., Paris 1938.
Le Roy, Edouard, geb. 1870 in Paris. Prof, am Collège de France. — L. R. vertritt eine Verbindung von Pragmatismus und moralischem Dogmatismus. Alles Wissen hat nur praktischen Wert. Die Dogmen schreiben vor zu handeln, als ob ein persönlicher Gott wäre. In seinem Kampf gegen den Thomismus stützt L. R. sich auf Bergsons Spiritualismus, dem er auch sonst anhängt. S c h r i f t e n : Science positive et philos, de la liberté, in: Congr. intern, de Philos., Par. 1900. — Dogme et critique, Paris 1906; 4. éd. 1907. — Science et philos., in: Rev. de Mét., Paris 1899—1900. — Une philos, nouvelle: H. Bergson, Paris 1912. — L'exigence idéaliste et le fait de l'évolution, Paris 1927. — Les origines humaines et l'évolution de l'intelligence, Paris 1928. — Le problème de Dieu, 1929; 10. éd. 1930. — La pensée intuitive, 1 u. 2, Paris 1929—30. — Introduction à l'étude du problème religieux, 1944.
Leroy, Georges, 1723 bis 1789, Schüler Condillacs, Verteidiger des Helvetius, lieferte in seinen Lettres philosophiques sur l'intelligence et la perfectibilité des animaux (Paris 1768) Ansätze zu einer vergleichenden Psychologie. S c h r i f t e n : Außer den Lettres: Examen des critiques du livre intitulé: de l'esprit, Paris 1760 (gegen Voltaire). — Réflexions sur la jalousie, Paris 1772. L i t e r a t u r : M. Marx, Ch. G. L. u. s. Lettres philosophiques, Ein Beitr. zur Gesch. der vergleich. Psychologie des 18. Jhdts., 1898.
Lersch, Philipp, geb. 4. April 1898 in München, Dr. phil. Pd. für Philosophie und Psychologie, T. H, Dresden 1929, a. o. Prof. dort 1936, o. Prof. Breslau 1937, Leipzig 1939, jetzt in München. S c h r i f t e n : D. Traum in der deutschen Romantik, 1923. — Die Lebensphilos. der Gegenwart, 1932, — Gesicht u. Seele, Grundlinien einer mimischen Diagnostik, 1932. — Der Aufbau d. Charakters, Leipzig 1938 und 1942. — Das Probl. der Vererb, des Seelischen, Leipzig 1942. — Seele u. Welt, Leipzig 1941. — Vom Wesen der Geschlechter, München 1947. — Hrsg.: Zeitschrift für angewandte Psychol. u. Charakterkunde.
Lesage, Georges Louis, 1724 bis 1803. Schweizer Naturwissenschaftler, lebte in Genf. L. lehrte, daß die Gravitation auf der sehr schnellen Bewegung äußerst kleiner im Räume befindlicher Körper, der corpuscules ultramondains, beruhe, die in allen Richtungen stattfinde, Diese Theorie verband er mit dem Newtonischen Gravitationsgesetz. S c h r i f t e n : Abhdlg. im Journal des Savants, 1764; in den Berliner Memoiren, 1782. — Physique mécanique, z. Tl. veröff. von Prévost, 1818. — Handschriften in der Bibl. publique, Genf.
Leser, Hermann, geb. 1. Juli 1873 in Weimar, gest. Juni 1937. Privatdoz. an der Universität Erlangen 1901, a. o. Prof. ebda. 1908, o. Prof. ebda. 1921. S c h r i f t e n : Zur Methode d. krit, Erkenntnistheorie, 1900. — D. Wahrheitsproblem unter kulturphilos. Gesichtspunkt., 1901, — Grundcharakter u. Grundprobleme der Euckenschen Philos., 1907. — J. H. Pestalozzi, 1908. — Einf. in die Grundprobleme d. Erkenntnistheorie, 1911. — Der Idealismus des Deutschen, 1918. — Die pädagog. Probleme in der Geistesgesch. der Neuzeit, 3 Bde., 1925—28.
Lessing, Gotthold Ephraim, geb. 22. Jan. 1729 in Kamenz (Lausitz), gest. 15. Febr. 1781 in Braunschweig. — L., der deutsche Schriftsteller und Dichter der Aufklärung, ist durch seine Stellungnahme zu den Problemen der Religion, der Moral, der Kunst und der Geschichte auch für die Philosophie von be-
Lessing, Gotthold Ephraim
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sonderer Bedeutung. Das Denken L.s steht unter mannigfachem Einfluß: unter dem der Patristik, Spinozas, Leibniz', Shaftesburys, Wolfis, Diderots und Herders; er hat seine Anschauungen nicht zu einem System vereinigt; aber seine Weltanschauung ist einheitlich und geschlossen. Sie entspringt einem zur Haltung gewordenen Rationalismus, der in fast leidenschaftlicher Weise nur die Vernunft und ihre kritische Kraft anerkennt, L. nahm seinen Ausgang von einer sich ständig vertiefenden Kritik des theologischen Glaubens und besonders der christlichen Religion. Das Ziel, zu dem er hinstrebt, ist die Schaffung eines Ideals, das dem Leben die Norm gibt und weder von der Religion noch von der Metaphysik abhängig ist. Es soll seine Kraft allein aus der rationalen Idee der Humanität gewinnen, soll die Menschlichkeit des Menschen, seine Würde, seine Unabhängigkeit in einem von äußerem Zwange freien Handeln verwirklichen und zur Entfaltung bringen, damit ihm sein Glück in der Gemeinschaft der gleichgesinnten Mitmenschen wird. Durch seine schöpferische Kritik wird L. zum Lehrer und Beginn der deutschen klassizistischen Kultur, Seine Gesellschaftslehre führt bis zu einer bewußt kosmopolitischen und internationalen Kulturauffassung, die er am zureichendsten in der Freimaurerei verwirklicht findet. In seiner Schrift über die „Erziehung des Menschengeschlechts" spricht L. seine geschichtsphilosophischen Ansichten aus. Die Entwicklung der Menschheit in der Geschichte verläuft entsprechend der Entwicklung des Einzelnen. E i unterscheidet die drei Stufen des Kindes, des Jünglings und des Mannes. Das Kind strebt nach unmittelbar gegenwärtigem Genuß, der Jüngling nach zukünftiger Ehre und Wohlstand, deren Vorstellung sein Tun in der Gegenwart bestimmt. Der Mann handelt, auch wenn eine Aussicht auf gegenwärtigen oder künftigen Genuß nicht bestehen sollte, nur in Erfüllung einer sittlichen Pflicht. Auf die Menschheit übertragen entspricht in diesem Schema dem Kindesalter das Zeitalter des Alten Testaments, der Jünglingsstufe das des Neuen Testaments, während die Mannesstufe dem Menschengeschlechte noch vorbehalten ist. Dies wird die Zeit des Neuen ewigen Evangeliums sein, wo das, was jetzt erst wie in einer Spiegelung vorgestellt und als geoffenbart geglaubt wird, in seiner Verbundenheit mit den anderen Grundwahrheiten der Vernunft klar erkannt wird. Mit dieser Konstruktion verbindet L. den Gedanken der individuellen Palingenese; danach hat jeder Mensch in Parallele zur Entwicklung der Menschheit alle Grade der Vervollkommnung zu durchlaufen, wozu eine häufigere Wiederholung seines Lebens notwendig sein kann. Die Möglichkeit einer solchen Palingenese muß nicht vom Vorhandensein der Erinnerung an eine frühere Existenz abhängen. Es kann ein zeitweiliges Vergessen eintreten. Die Ästhetik, durch die er großen Einfluß gewann, behandelt L. in seinem „Laokoon" und in der „Hamburgischen Dramaturgie". Die fundamentale Bedeutung dieser Werke liegt darin, daß sie eine Anerkennung der Kunst als eines autonomen Kulturgebietes herbeiführen. L. betont den Unterschied der Poesie als einer Zeitkunst von den Raumkünsten und befestigt ihn im kunstwissenschaftlichen Bewußtsein. Die Poesie hat die Aufgabe, das Seelenleben des Menschen darzustellen. Insbesondere für das Drama, das er von den übrigen Arten der Dichtung abgrenzt, entwickelt L. diese Theorie, Vorbild ist für ihn Aristoteles; er übernimmt seine Definition der Kunst als Nachahmung, Das Drama hat die Aufgabe, die Handlungen der Menschen wiederzugeben. Für die Durchführung dieser Aufgabe im einzelnen der dramatischen Handlung stellt L. die Forderung der Einheit der Handlung; sie wird erfüllt, wenn alles Geschehen im Drama als streng unter dem Gesetz der Kausalität verlaufend dargestellt wird, damit durch die Geschlossenheit der Motivierung das ablaufende Geschehen einsichtig werden
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Lessing, Theodor
kann. Einheit von Zeit und Ort ist dieser Forderung der Einheit der Handlung gegenüber von geringerer Bedeutung, Der Inhalt des Dramas bestimmt dessen Wirkung; die tiefste und nachhaltigste Wirkung wird erzielt, wenn das Drama einen tragischen Gehalt hat, wenn in ihm alle großen menschlichen Leidenschaften sichtbar werden. Die Wirkung des Tragischen liegt, wie L. in Übereinstimmung mit Aristoteles lehrt, im Erregen von Furcht und Mitleid, um eine Reinigung von diesen Affekten im Teilnehmenden zu erzielen. Uber L.s Stellung zum Spinozismus, über die Frage, ob L. „Spinozist" ist, sind, seit Jacobi nach L.s Tode ein Gespräch darüber mitteilte, zahlreiche Streitigkeiten entstanden. Unbestreitbar strebte L. eine monistische Weltanschauung an, andererseits jedoch wollte er sich die Welt nicht als Mechanismus, sondern als Organismus vorstellen; deshalb konnte ihm die Gottheit die Seele des Alls sein. Über das Verhältnis Gottes zur Welt sagt er in dem Aufsatz „Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott", daß die Begriffe, die Gott von den wirklichen Dingen hat, mit den wirklichen Dingen eins und identisch sein könnten; denn wenn man annehme, daß die Dinge in der empirischen Wirklichkeit und als Urbild in Gott existieren, dann verdoppele man dieses Urbild unnötig und in unsinniger Weise. Einige Stellen in seinen Schriften scheinen zu erweisen, daß L. sich Gott auch als den Genius vorstellte, der analog dem Künstler schafft. S c h r i f t e n : Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1780. — Lessings Philos. (Auswahl aus Lessing); hrsg. v. P. Lorentz, 1909. — L. gab die sogen. W o l f e n b ü t t l e r F r a g m e n t e (cf. Reimarus) heraus, — Hamburgische Dramaturgie, 1767—1769, — Ernst u. Falk, Gespräche für Freimaurer, 1778—80. — W e r k e , Vollständige Ausgabe in 25 Bänden u, zwei Registerbänden, hrsg. v. Julius P e t e r s e n u. W. v. Olshausen, 1925—35. — Sämtl. Sehr,, Berlin 1825—1828. — Ausw. v. Bruno M a r k w a r d t , Breslau 1939. — L. Heldentum der Vernunft. Ausw. v. Rudolf K. Goldschmitt-Jentner, Stuttgart 1941. L i t e r a t u r : Kuno Fischer, L. als Reformator d. deutschen Literatur, 2 Tie,, 1881. — A. Frey, Die Kunstform des L.schen Laokoon, 1905. — P. Wernle, L. u. d, Christentum, 1912. — H. Scholz, Zum Streit um die Erziehung d. Menschengeschlechts, Preuß, J a h r b b . 155 (1914) 71 ff. — D, Hauptschriften z. Pantheismusstreit zwischen J a c o b i u. Mendelssohn, Neudr. d. Kant-Gesellsch., 1916. — Th. C. van Stockum, Spinoza—Jacobi—L., Groningen 1916. — Rosenthal, Der Schönheitsbegriff b. K a n t u. L., Kant-Stud. 20 (1915) 174 ff. _ W . Oehlke, L. u. s. Zeit, 2 Bde., 1920; 2. A. 1929. — G. Witkowski, L„ 1920. — Chr. Schrempf, L. als Philosoph, 2. A. 1921. — G. Fittbogen, Die Religion L.s, 1923. — Erich Schmidt, L., 4. A. 1923, — K, Vorländer, Philos. unserer Klassiker L., Herder, Schiller, Goethe, 1923. — W. Dilthey, D. Erlebnis u. d. Dichtg. L., Goethe usw.; 10. Aufl., 1929. —• Tonelli, Luigi, L'anima moderna da L, a Nietzsche, Milano 1925. — J . Clivio, L. u. das Problem der Tragödie, 1928. — K. Aner, Die Theologie der Lessing-Zeit, 1929. — Wiese, Benno v,, Dichtg., Ästhetik, Philos., 1931; in: D. wissensch. Weltbild. — B. Rosenthal, Der Geniebegriff des Aufklärungszeitalters (L. und die Popularphilosophen), 1933; in: German, Studien, H. 138, — Wagner, A l b e r t Malte, L., D, E r w a c h e n d. deutschen Geistes, 1931. — Fr. Klein, L.s Weltanschauung, 1931. — Leisegang, Hans, L.s W e l t anschauung, 1931. — Gent, W e r n e r , Weltanschauung, . . . Erl. am Beisp. d. Weltansch, L.s, 1931. — Waller, Martha, L.s Erz. des Menschengeschlechts. E. Auseinandersetzung mit der L.-Forschung, German. Studien 160, 1936. — Georg Eichholz, Die Geschichte als theolog. Problem bei L., Gotha 1937. — Harald Henry, H. u. L., Würzburg 1941. — Max Kommerell, L. u. Aristoteles, F r a n k f u r t 1940. — F o l k e Leander, L. als ästhetischer Denker, Göteborg 1942. — Helmut Thielicke, Vernunft u. Offenbarung, E, Studie über d. Religionsphilos. L.s, Gütersloh 1936. — A r t h u r v, Arx, L. u. d. geschichtl. Welt, F r a n k f u r t 1944.
Lessing, Theodor, geb, 8. Februar 1872 in Hannover, gest. 30, August 1933 in Marienbad. Dr. phil, et med., Prof. Stellte 1926 seine Vorlesungen ein. S c h r i f t e n : Schopenhauer — W a g n e r — Nietzsche, 1908. — Wertaxiomatische Studien, 1908; 2. Aufl. 1914. — Philosophie der Tat, 1914. — Europa und Asien (Unter-
Leukippos — Lévy-Briihl
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gang der Erde am Geist), 1916; 5. Aufl. 1931. — Gesch. als Sinngebung des Sinnlosen, 1919; 5. Aufl. 1929. — Naturtrilogie (Tiere, Blumen, Dämonen), 1920—30. — Die verfluchte Kultur, 1921. — Prinzipien der Charakterologie, 1926, — Gesammelte Schriften, I, 1935. L i t e r a t u r : August Messer, Der Fall Lessing, 1926. — Wolf Goetze, D. Gegensätzlichkeit d. Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers u. Th. L.s, Diss., Leipzig 1930.
Leukippos von Milet, lebte um 450 v. Chr., vermutlich Schüler des Parmenides aus Elea, Lehrer Demokrits, begründete die Atomistik, Seine Schriften fanden sich wahrscheinlich unter denen Demokrits, so daß Epikur behaupten konnte, ein Philosoph Leukippos habe gar nicht gelebt. Jedoch berichten dem entgegen Aristoteles und Theophrast von ihm. S c h r i f t e n : Diels, Vorsokr., c. 54; Nachtr, Vors., 4. Aufl. L i t e r a t u r : E. Zeller, Zu Leukippos, im Archiv f. Gesch. d. Philos., Bd. 15, 1902, S. 137—140. — P. Bokownew, Die L.-Frage, Dorpat 1911. — Ernst Howald, Noch einmal L., in: Festschr. f. Karl Joël, Basel, 1934.
Levi ben Gerson (Gersonides), 1288 bis 1344. Jüdischer Religionsphilosoph, Averroist, übernahm die Lehre des Aristoteles von der göttlichen Erschaffung der Welt aus einem Urstoffe, der nach ihm freilich infolge seiner absoluten Formlosigkeit dem Nichts gleich ist. Ferner lehrte er, daß die Unsterblichkeit der Seele aus ihrer Vereinigung mit dem aktiven Intellekt folgt, mit dem sie sich in verschiedenem Grade der Vollkommenheit verbindet. S c h r i f t e n : Milhamot Adonai, hrsg. Riva di Trento, 1560; neue Ausg. (hebr.) 1866. — B. Kellermann, Die Kämpfe Gottes von Levi b. G,, übers, u. erkl. Tl. I 1914, Tl. II 1916 (Schriften d. Lehranst. für d. Wissenschaft d. Judent. III 1—2; V 1—3). L i t e r a t u r : A, Franck, Moralistes et philosophes, Paris 1872, 47—70. — C. Prantl, Gesch. d. Logik II; 2. Aufl. 1885, 399 f. — Jakob Karo, Krit. Unters, zu L. b. G., Diss., Würzburg 1935.
Lévy-Brûhl, Lucien, geb. 10. April 1857 in Paris, gest. 13. März 1939 in Paris. École Normale 1876. Seit 1885 Professor an Lyzeen, 1885 Docteur ès lettres. Dozent für Ideengeschichte des modernen Deutschland an der École des Sciences politiques. Prof. an der Sorbonne 1899. 1902 Nachf. von Boutroux. O. Prof. 1908. Leiter der Revue philosophique seit 1916, — Unter dem Einfluß Dürkheims beschäftigte L.-B. sich in seinen Anfängen mit soziologischen Fragen. Haiuptgegenstand seiner späteren Forschung ist das Seelenleben des Primitiven. Das primitive Denken unterstellt sich nicht der Erfahrung und vollzieht sich nicht gemäß dem Gesetz des Widerspruchs. Dieselben Dinge können ihm sie selbst sein und auch anderes als sie selbst: „sie senden aus und empfangen Kräfte, Vorzüge, Eigenschaften, mystische Tätigkeiten, die sich außerhalb ihrer bemerkbar machen, ohne daß sie ^aufhören zu bleiben, wo sie sind" (Les Fonctions mentales, p. 77}. Das primitive Denken ist daher „prälogisch" auf Grund seiner kollektiven Gebundenheit. S c h r i f t e n : L'Idée de responsabilité, 1884. — L'Allemagne depuis Leibniz, Essai sur le développement de la conscience nationale en Allemagne, 1890. — La Philos, de Jacobi, 1894. — La Philos. d'Auguste Comte, 1900. — La Morale et la science des moeurs, 1903. — Les Fonctions mentales dans les sociétés inférieures, 1910; deutsch: Das Denken der Naturvölker, 2. Aufl. 1926. — La Mentalité primitive, 1922; deutsch: Die geistige Welt der Primitiven, 1927. — L'Ame primitive, 1927; deutsch, 1930. — Le Surnaturel et la nature dans la mentalité primitive, 1931. — La Mentalité primitive, Conférence, Oxford 1931. — La Mythologie primitive, 1935. — Hrsg. v. Lettres inédites de John Stuart Mill à Auguste Comte. L i t e r a t u r : J. Benrubi, Les sources et les courants de la philos, contemp. en France, 1933, S. 204—229. — D. Essertier, Les Savants français du XX e siècle, Bd. 4 u. 5, Paris 1930.
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Lewes — Lichtenberg
Lewes, George Henry, geb. 18. April 1817 in London, gest. 28. November 1878 ebda. — L. verficht zunächst den Positivismus von Comte und wendet sich dann später zu einer Evolutionstheorie, die auch die Anwendung positiv empirischer Methoden auf metaphysische Probleme gestattet. Er erklärt die apriorischen Elemente der Erkenntnis als ererbte Erfahrungen (Instinkt). S c h r i f t e n : A Biographical History of Philosophy, 4 Bde., 1845—46 ; 5. Aufl. in 2 Bdn., als: The History of Philosophy from Thaies to Comte, 2 Bde., 1866, 5. Aufl. 1878; deutsch, 2. Aufl. 1873—76. — Comte's Philosophy of the Positive Sciences, 1853, — Life and Works of Goethe, 2 Bde., 1855; deutsch, 1856—57. — Aristotle, 1864; deutsch, 1865. — Problems of Life and Mind, 3 Bde., 1873—79, — The Physical Basis of Mind, 1877; neu 1893. — On Actors and the Art of Acting, 1875; deutsch 1878. — The Study of Psychology, 1879. — Dramatic Essays, 1896. L i t e r a t u r : Green, T. H., Works, Bd. 1, London 1885; 2. Aufl. 1890.
Lewin, Kurt, geb. 9. November 1890 in Mogilno (Posen), gest. 12. Februar 1947 in Newton, Mass., U.S.A. Dr. phil. Habilitation in Berlin 1921, a. o. Prof. ebda. 1927, seit 1933 in U.S.A. Psychologe. S c h r i f t e n : Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie u. Physik u. die Darstellung vollständiger Stammbäume, in: Abh, z. theoret. Biologie, hrsg. v. H. Schaxel, Heft 5, 1920. — D. Begriff d. Genese in Physik, Biologie u. Entwicklungsgesch., Unters, z. vergi. Wissenschaftslehre, 1922. — Vorsatz, Wille u. Bedürfnis 1926. — Idee u, Aufgabe der vergleichenden Wissenschaftslehre, 1926. — Gesetz u. Experiment in der Psychologie, 1927. — Die Entwicklung der exp. Willenspsychol. u. die Psychotherapie, 1929. — Die psycholog. Situation bei Lohn u. Strafe, 1931. — Dynamical Theory of Personality, 1933. — Hrsg. v. Symposion, philos. Zeitschrift f. Forschung u. Aussprache.
Lewkowitz, Albert, geb. 6. April 1883 in Georgenberg (Oberschlesien). Promotion 1910. Doz. a. d. Hochschule für jüdische Theologie in Breslau 1914. S c h r i f t e n : Zur Philos, d. jüd. Religion, 1916, — Religiöse Denker d. Gegenwart, 1923. — Mechanismus u. Idealismus, 1924. — Das Judentum u. d. geistigen Strömungen d. Neuzeit, 1928—29. — Das Judentum u. d. geistigen Strömungen d. 19. Jhdts., 1934.
Liard, Louis, geb. 22. August 1846 in Falaise (Calvados), gest. 21. September 1917 in Paris. 1876 Prof. in Bordeaux, 1884 Rektor in Caen, 1902 Vizerektor der Akademie zu Paris. — L. vertritt im Anschluß an Renouvier und Lachelier einen idealistischen Kritizismus. S c h r i f t e n : Les Définitions géométriques et les définitions empiriques, 1873. — La Science positive et la métaphysique, Paris 187.9; deutsch 1910. — Les Logiciens anglais contemporains, 1878; deutsch 1880; 2. Aufl. 1883, — Descartes, 1881; 2. Aufl. 1903. •— Morale et enseignement civique, 1883. — Logique, 1884. — L'enseignement supérieur en France, 1789—1893; 2 Bde., 1888—94. — L'université de Paris; 2 Bde., 1902. L i t e r a t u r : J. Benrubi, Les sources et les courants de la philos, contemporaine en France, 1933, S. 468 bis 471.
Lichtenberg, Georg Christoph, geb. 1. Juli 1742 in Oberramstadt bei Darmstadt, gest. 24. Februar 1799 bei Göttingen. 1769 a. o. Prof. der Physik in Göttingen. Vertreter der Naturphilosophie und Erkenntnistheorie der Aufklärungszeit. Die Außenwelt ist in ihrer Realität gewiß. Über unsere Vorstellungen von den in ihr existierenden Dingen hinaus vermögen wir aber über diese Dinge nichts auszusagen, wenn auch unsere Erkenntnis nur in Gegenwirkung auf sie zustande kommt. Da der Schluß von den Vorstellungen und Empfindungen, die uns allein vorliegen, auf äußere Dinge durchaus nicht notwendig ist, so ist es unmöglich, im Erkennen von solchen Dingen auszugehen. Wir kommen aus uns selbst niemals heraus. Auch das Ich ist nur ein Postulat, das praktischem Bedürfnis entspringt, Darum ist es besser, zu sagen, daß es denkt, als: ich denke.
Lichtenberger — Lieber
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S c h r i f t e n : Üb. die Physiognomik wider die Physiognomen, 1778. — Vermischte Schriften, 9 Bde., 1800 bis 1805. — Alb. Leitzmann, Aus L.s Nachlaß, 1899. — Ausgew. Schriften, hrsg. v. A. Messer, 1925; von Vincent, 1932. — Briefe, hrsg. v. Leitzmann u. Schüddekopf, 3 Bde., 1901—04. — Briefe aus L.s englischem Freundeskreis, hrsg. von H. Hecht, 1925. — Werke in 1 Bde., herausg. v. Rudolf K. Goldschmitt, Stuttgart 1935. — Unsterblicher L., Ausw. v. Hanns Witte, Berlin 1939. — L., Aphorismen u Schriften, Ausw, v. Ernst Vincent, Leipzig 1931. — Auswahl von Paul Requadt, Stuttgart 1939. — Auswahl von W. Schumann: Der Herr Hofrat, Goslar 1947. L i t e r a t u r : E. Friedeil, L., 1910. — H. Kluge, Die pädagog. Gedanken L.s, Jahrb. d. Ver. f. wiss. Pädag., Bd. 44, 1912, 49 ff. — P. H. Magin, Üb. G. Chr. L. u. seine noch unveröffentl. Handschriften, Progr., 1913. — V. Bouillier, G. Chr. L., Paris 1914. — F. Kleineibst, G. Chr. L. u. s. Stelig. zur dtschn. Lit., Freie Forschg. zur dtschn. Lit.gesch. 4, 1915. — Dostal-Winkler, Josef, L. u. Kant, 1924; in: Baust, zu e. Philos, d. Als-ob, Bd. 10. — Hahn, Paul, G. Chr. L. u. d. exakten Wissenschaften. Materialien zu s. Biogr-, 1927; in: Vorarb. zur Gesch. d. Göttinger Univ., H. 4. — M, Domke, Goethe und L., 1935. — Georg Seider, Vers, über d. Bemerkungen L.s, Stuttgart 1937. — Otto Deneke, L.s Leben, I, München 1944. — Herbert Schöffler, L., Göttingen 1944, Lichtenberger, Henri, geb. 12. M ä r z 1864 in Mülhausen, gest. 16. N o v e m b e r 1941 in B i a r i t z . 1905 P r o f . an der Sorbonne zu P a r i s . 1929 begründete L. das Institut germanique an d e r S o r b o n n e . S c h r i f t e n : Wagner poète et penseur, 1898; 5. Aufl. 1910, deutsch 1899. — Heine penseur, 1905; deutsch 1905. — La philos, de Nietzsche, 1898; deutsch 1899. — F. Nietzsche, 4. éd. 1908. — L'Allemagne moderne, 1907. — Novalis, 1912. — La sagesse de Goethe, 1921. — L'Allemagne d'aujourd'hui, 1922. — Faust, 3 Bde., 1932 f. — Ubers. Faust, 2. Tl., 1933. Lieb, F r i t z , geb. 10. J u n i 1892. 1923 Lie. theol. in B a s e l , 1924 Habilitation ebda. 1930 Umhabilitierung n a c h B o n n für östliches Christentum in der ev. theol, F a k u l t ä t , 1931 a, o. Prof., D. theol. B a s e l . S c h r i f t e n : Die Jugendgeschichte Franz Baaders, 1926. — Glaube u, Offenbarung bei J . G. Hamann, 1926. — Die Beurteilung des westeuropäischen Geisteslebens in der russ. Religionsphilos., 1929. — D, Problem des Menschen bei Dostojewski; in: Orient u. Okzident, Heft 3. — Christ u. Antichrist im Dritten Reich, Paris 1936. — Das geistige Gesicht d. Bolschewism., Bern 193.6. Liebeck, Adolf, geb. 1. August 1886. Dr. med. — L , sucht einen E w i g k e i t s standpunkt, w i e ihn der mittelalterliche Mensch besaß, um aus der Unrast d e r M o d e r n e hinauszugelangen, und findet ihn durch eine Auflösung d e s Sinnenscheins. S e i n Standpunkt ist der eines kritischen R e a l i s t e n , s t ä r k e r zu Hegel, als zu K a n t hinneigend. S c h r i f t e n : Welterwachen. Der Weg z. einer neuen Kultur des Abendlandes, Bd. 1, 1928. — Einf. in eine Kritik d. Sinne; in: Philos, u. Leben, 1926. Lieber, F r a n z , geb. 18. M ä r z 1800 in Berlin, gest. 2. O k t o b e r 1872 in N e w Y o r k . 1835 bis 1856 Prof. der G e s c h i c h t e und politischen Ökonomie am S o u t h - C a r o l i n a College, 1857 bis 1865 Prof. für G e s c h i c h t e und Politik an der Columbia-Universität, 1865 bis 1872 Prof. d e r Verfassungsgeschichte und des öffentlichen R e c h t s . — L. ist deutsch-amerikanischer Philosoph der P o l i t i k ; seine Schriften legten in A m e r i k a mit den Grund für die bewußt nationale P o l i t i k der Union. S c h r i f t e n : Manual of Politicai Ethics, 2 Bde., Boston 1838; 2. Aufl. hrsg. v. T. D. Woolsey, Philadelphia 1875. — Legal and Politicai Hermeneutics, Boston 1839; 3, Aufl. St. Louis 1880. — On Civil Liberty and Seif Government, Philadelphia 1853; 3. Aufl, hrsg. v. T. D, Woolsey, Philadelphia 1874. — Miscellaneous Writings, hrsg. v. D. C. Gilman, 2 Bde., Philadelphia 1881. L i t e r a t u r : Life and Letters of Fr. L., hrsg. v. Thomas Perry, Boston 1882. — Harley, Lewis R., Fr. L., His Life and Politicai Philosophy, New York 1899.
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Liebcrt — Lilienfeld
Liebert, Arthur, geb. 10. November 1878 in Berlin, gest. 5. November 1946 in Berlin. Dr. phil., Habilitation in Berlin 1925. A. o. Prof. ebda, 1928 bis 1933. 0 . Prof. an der Universität Belgrad 1934. — Neukantischer Standpunkt mit Hinwendung zur Dialektik. S c h r i f t e n : Pico von Mirandula, 1905. — Monismus u, Renaissance, 1909. — Der Anthropomorphismus d. Wissenschaft, 1909. — D. Problem der Geltung, 1914; 2. Aufl. 1920. — D. Geltungswert der Metaphysik, 1920. — W i e ist krit. Philos. ü b e r h a u p t möglich? 1919; 2. Aufl. 1923. — Vom Geist d. Revolution, 1919; 3. Aufl. 1923. — August Strindberg, s. Weltanschauung u. s. Kunst, 1920; 3. Aufl. 1923. — E t h i k , 1923. — Die geistige Krisis d. Gegenwart; 3. Aufl. 1925. — Mythus u. Kultur, 1925. — Philos. u. Schule, 1927. — Zur Kritik d e r Gegenwart, 1927. — Geist u. W e l t d. Dialektik, 1929. — D. Bestimmung des philos. Unterrichts, 1930, — Erkenntnistheorie, 2 Bde., 1930 f. — Wilhelm Dilthey, 1933. — Philos. des Unterrichts, 1934. — Hrsg. v. G. E. Schulze, Änesidem, 1911; Spinoza-Brevier, m, Nachwort, 1912; Fichte, Reden, m. Einl., 1912. — Der universale Humanismus, Zürich 1946. — Die Pflicht der Philosophie in u n s e r e r Zeit, Zürich 1946. — Die Kritik des Idealismus, Zürich 1946.
Liebmann, Otto, geb. 25. Februar 1840 in Löwenberg (Schlesien), gest. 14. Januar 1912 in Jena. 1865 Habilitation in Tübingen, 1872 a. o. Prof. in Straßburg, 1882 o. Prof. in Jena. — L. steht ursprünglich in der Gedankenwelt des Neukantianismus. Er entwickelt sich weiter zur Forderung nach einer kritischen Metaphysik, die eine hypothetische Auffassung vom Wesen der Dinge gestaltet. Alle Philosophie muß indessen innerhalb der Sphäre des menschlichen Bewußtseins bleiben, denn dieses Bewußtsein ist die Urtatsache. S c h r i f t e n : Kant u. die Epigonen. E. kritische Abhandl., 1865; Neudr, 1912. — Üb. d. individuellen Beweis für d. Freiheit d. Willens, 1866. — Üb. d. obj. Anblick, 1869. — Zur Analysis d. Wirklichkeit, 1876; 4. Aufl. 1911. — Üb. philos. Tradition, 1883. — Die Klimax d. Theorien, 1884; Neudr. 1914. — G e d a n k e n u. Tatsachen, 2 Bde., 1882—1904. — Psychol. Aphorismen, 1892. — W e l t w a n d e r u n g (Gedichte), 1899. — I. Kant, 1904. — Vier Monate vor Paris, 1870—71; 2. Aufl. 1895. L i t e r a t u r : Festschrift d. Kantstudien z. 70. Geb., hrsg. v. H. Vaihinger u. B. Bauch, 1910. — Meyer, Adolf, Üb. L.s Erkenntnislehre u. ihr Verh. z. Kant. Philos., Diss., J e n a 1916.
Lienhard, Fritz, geb. 7. Oktober 1871 in Biel (Kt. Bern). Dr. phil. Lic. theol. Privatdoz. in Bern 1923, a. o. Prof. ebda. 1928. S c h r i f t e n : D. Gottesbegriff bei G. Th. Fechner, 1920. — D. Gottesidee in Kants opus posthumum, 1923. — Ist Kant der Philosoph d. Protestantismus? 1923.
Lietz, Hermann, geb. 28. April 1868 in Dumgenewitz auf Rügen, gest. 12. Juni 1919 in Haubinda (Thüringen). Pädagoge. Schüler von Eucken und Rein. S c h r i f t e n : Lebenserinnerungen, hrsg. v. E. Meissner, 1920. — D. deutsche Nationalschule 1911; 2. Aufl. 1920, — Unterricht u. Kunst in deutschen Landeserziehungsheimen, 1903. — Deutsche Landeserziehungsheime, 1910, L i t e r a t u r : A n d r e e s e n , Alfred u. a., in: Pädagog. Zentralblatt, Bd. 8, 1928; S. 137 bis 170; H. L., 1934. — Tischendorf, Arno, Hermann L. u. die neue Erziehung, Diss., J e n a 1934.
Lilienield, Paul v., 1829 bis 1903. Senator in Petersburg. 1897 bis 1898 Präsident des internationalen Instituts für Soziologie. L. vertritt die OrganismusTheorie des sozialen Lebens und faßt die menschliche Gesellschaft real als Organismus auf. S c h r i f t e n : G e d a n k e n üb. d. Sozialwissenschaft d, Zukunft, 5 Bde., 1873—81. — La pathologie sociale, Paris 1896. — Zur Verteidigung d. organ. M e t h o d e in d e r Soziologie, 1898.
L i t e r a t u r : Henne am Rhyn, Otto, P. v. L., 1890; in: Deutsche Denker, Bd. 6.
Liljequist — Lindner, Ernst Otto Timotheus
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Liljequist, P. Efraim, geb. 24. September 1865 in örebro (Mittelschweden). Studiert im ersten Semester in Leipzig bei Drobisch, Heinze und Wundt, dann in Uppsala 1885 bis 93. Seine Lehrer sind der Kantforscher Burmann und der Schüler von Boström, C. Y. Sahlin. Später führt er seine Studien in Deutschland fort, und zwar in Göttingen bei G. E. Müller. Seine Dissertation über Bacon ermöglicht ihm 1893 eine Habilitation in Uppsala; 1894 kommt er als Vertreter Norströms nach Göteborg, 1906 wird er ord. Prof. in Lund. Die innere Spannweite der Problematik von L. reicht von der Kantischen Philosophie zum schwedischen Persönlichkeitsidealismus (Boström), wobei festzuhalten ist, daß starke innere Verwandtschaft zwischen beiden besteht. Als fester Grundsatz, auf dem die Gedanklichkeit L.s ruht, gilt, „daß das Subjekt unserer Erfahrungen ein endliches, unvollkommenes, relatives Subjekt ist und .für seine vollständige Erklärbarkeit ein unendliches, vollkommenes, absolutes Subjekt voraussetzt". Die unvollkommenen, relativen Subjekte, d. h. die Menschen, haben prinzipiell als Ideen des absoluten und vollkommenen Subjekts zu gelten. Insofern, d. h. als Ideen des absoluten Subjekts, haben sie auch Anteil an dessen Vollkommenheit. Andererseits können sie selbst wesensmäßig nie vollkommen im totalen Sinn werden, eben weil sie nur Momente sind. Nur als Momente sind sie miteinander im absoluten Subjekt möglich. Die Unvollkommenheit erstreckt sich auch auf die Fähigkeiten des Erkennens. Das einzelne Subjekt hat nicht die Fähigkeit zu vollkommener Perzeption. Das absolute Subjekt hingegen, dem die Fähigkeit zu vollkommener Perzeption allein eignet, erfaßt durch diese zugleich das Ansich eines jeden Etwas. Während Raum und Zeit nur Eigentümlichkeiten unserer unvollkommenen menschlichen Erfahrung bleiben, sollen die Kantischen drei Vernunftideen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) eine über die bloße Glaubensgeltung hinausreichende Bedeutung erhalten. Dazu ist es notwendig, den Dualismus zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu überbrücken. In Gott ist das Zusammenfallen dieser Gegensätze erreicht, S c h r i f t e n : Von der Philos, Francis Bacons, mit bes. Berücksichtigung des ethischen Problems, 2 Bde., Uppsala 1893—94. — Antike u. moderne Sophistik, 1896. — Von den ältesten Schriften Boströms, 1897. — Einf. in die Psychologie, 1899. — Von spezifischen Sinnesenergien, I, Prolegomena, 1899. — Meinongs allgemeine Werttheorie, 1904. — Boströms älteste lat. Diss. ins Schwed, übersetzt, 1915. — Erik Gustaf Geijer, ein schwedischer Geschichtsphil., in: Die Akademie, H. I, Erlangen 1924. — Selbstdarstellung, in: Die Phil, der Gegenwart in Selbstdarst., Bd. VI, 1927, S. 37—64. L i t e r a t u r : Studier tillägnade E. L., den 24. Sept. 1930 utgivna av Gunnar Aspelin och Elof Äkesson, Lund 1930, 2 Bde., (Festschrift zum 65. Geb.).
Lindau, Hans, geb. 12. Aug. 1875 in Berlin. Dr. phil. Leipzig 1899. Bibliotheksrat i. R. Schriften:
Johann Gottlieb Fichte u. d. neuere Sozialismus, 1899.
Lindemann, Heinrich Simon, 1807 bis 1855. Prof. in München. Anhänger K. Chr. Fr. Krauses. S c h r i f t e n : D. Lehre vom Menschen oder Anthropologie, Zürich 1844, Erlangen 1848. — Denklehre oder Logik, Solothurn 1846.
Lindner, Ernst Otto Timotheus, 1820 bis 1867. Journalist. Anhänger Schopenhauers. Literatur: 1913.
Gruber, Robert, D. Briefwechsel zw. Arthur Schopenhauer u. O. L.,
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Lindner, Gustav Adolf — Lipmann
Lindner, G u s t a v A d o l f , g e b . 11. M ä r z 1 8 2 8 in R o z d a l o w i t z ( B ö h m e n ) , gest. 16. O k t . 1887 in P r a g . 1881 P r o f . an d e r b ö h m i s c h e n U n i v e r s i t ä t in P r a g . A n hänger Herbarts. S c h r i f t e n : Lehrb. d. empir. Psychologie als indukt. Wissenschaft, 1858; 12. Aufl. 1898. — Lehrbuch d. formalen Logik nach genet. Methode, 1861; 6. Aufl. 1885. — Einl. in das Studium d. Philos., 1866. — D. Problem des Glücks, psycholog. Untersuchungen üb. d. menschl. Glückseligkeit, 1868. — Ideen z. Psychologie d. Gesellschaft als Grundlage d. Sozialwissenschaft, 1871. — Üb. latente Vorstellungen, 1875. — Allgem. Erziehungslehre 1877, 19. Aufl. 1917. — Allgem. Unterrichtslehre, 1879; 10. Aufl. 1915. — Arnos Comenius, 4. Aufl. 1897. Lindner, T h e o d o r , geb. 2 9 . M a i 1 8 4 3 i n B r e s l a u , g e s t . 27. N o v e m b e r 1919 in H a l l e . 1874 P r o f . in B r e s l a u , 1876 in M ü n s t e r , 1888 b i s 1913 in H a l l e . H i s t o r i k e r . S c h r i f t e n : Geschichtsphilos., D. Wesen der gesch. Entwicklung, Einl. zu einer Weltgesch. seit d, Völkerwanderung, 1901; 3. Aufl. 1912, — Gesch. d. deutschen Volkes, 2 Bde., 1894. — Weltgesch. seit d. Völkerwanderung, 9 Bde., 1901—16; 2. Aufl. in 10 Bdn., 1920—21. L i t e r a t u r : Werminghoff, Albert, Th. L. zum Gedächtnis, 1920. — Sommerlad, Theo, Th. L., in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 5, 1930. L i n d w o r s k y , J o h a n n e s , S . J . , g e b . 2 1 . J a n u a r 1 8 7 5 in F r a n k f u r t a. M., gest. 9. S e p t e m b e r 1939 in E s s e n . D r . phil. P r i v a t d o z . in K ö l n 1920. A . o, P r o f e s s o r e b d a . 1923, o. P r o f . i n P r a g 1928. — T h e o r e t i s c h e r und e x p e r i m e n t e l l e r P s y c h o l o g e . S c h r i f t e n : Das schlußfolgernde Denken, 1916. — D. Wille, 1919; 3. Aufl. 1923. — Experimentelle Psychologie, 1921; 5. Aufl. 1931. — Willensschule, 1922, 3. Aufl. 1927. — Umrißskizze einer theoret. Psychologie, 1922, 2. Aufl. 1923. — Theoret. Psychologie, 1926. — Zum Problem d. falschen Wiedererkennens (déjà vu); in: Arch. f. d. ges. Psychol., 15, 1909. — Fordern die Reproduktionserscheinungen ein psych. Gedächtnis? in: Phil. J b . , 1920. — Vorzüge u. Mängel bei d. Lösung von Denkaufgaben, Z. f. angew. Psychol., 18, 1921. — Revision einer Relativitätstheorie, in: Arch. f. d. ges. Psychol., 48, 1924. — Versuche üb. höhere Gefühle, ebenda, 1928. — Gedankenkraft, Versuch einer Theorie des Couéismus, in: Stimmen der Zeit, 1928. — Erfolgreiche Erziehung, 1933. — Das Seelenleben d. Menschen, 1934; in: D. Philosophie, Abt. 9. — Psychologie d. Aszese, Freiburg 1935. — Des werktätigen Kath. Lebenskunst, 1938. Linke, P a u l F e r d i n a n d , g e b . 15. M ä r z 1876 in S t a ß f u r t . P r o m o t i o n 1901 L e i p zig. P r i v a t d o z . 1 9 0 8 in J e n a , a. o. P r o f . 1918, o. P r o f . 1 9 4 6 e b d a . — L . s B e m ü h u n g e n gelten der L e h r e von der I n t e n t i o n a l i t ä t des B e w u ß t s e i n s . E r will die H u s s e r l s c h e A k t a n a l y s e durch e i n e G e g e n s t a n d s a n a l y s e e r s e t z e n . D i e P h ä n o m e n o l o g i e , soweit sie n i c h t v e r s t e h e n d e P s y c h o l o g i e sein will, wird bei d i e s e r A u f f a s s u n g zur m e t h o disch b e t r i e b e n e n K a t e g o r i e n l e h r e . D e n n K a t e g o r i e n gibt es nicht in e i n e r reinen V e r n u n f t , s o n d e r n in einer p r i m ä r e n R e g i o n des g e g e n s t ä n d l i c h G e g e b e n e n , die b e i A b s t r a k t i o n v o n a l l e r b e o b a c h t b a r e n W i r k l i c h k e i t zum V o r s c h e i n k o m m t . S i e sind als z e i t l o s e b e n s o s e h r a l l e m W e c h s e l des G e s c h e h e n s e n t r ü c k t , w i e d a s eine, m i t sich s e l b s t i d e n t i s c h b l e i b e n d e W i r k l i c h e d e r G e s a m t w i r k l i c h k e i t . S c h r i f t e n : Humes Lehre vom Wissen, 1901. — D, Stereoskop. Täuschungen u. d. Problem des Sehens von Bewegungen, 1908, — Die phänomenale Sphäre u. d. reale B e wußtsein, 1912. — Grundfragen d. Wahrnehmungslehre, 1. Aufl. 1918, 2. Aufl. 1929. — Bild u. Erkenntnis, in: Philos. Anzeiger, Halbbd. 2, 1926. — Gegenstandsphänomenologie, in: Philos. Hefte, H. 2, 1930. — Das Absolute u. s. Erkenntnis, 1935. — Verstehen, Erkennen u. Geist, Leipzig 1936. — Hrsg.: Abhandlungen z. begründenden Philosophie, seit 1939. Lipmann, O t t o , g e b . 6. M ä r z 1880, g e s t . 7. O k t o b e r 1 9 3 3 in N e u b a b e l s b e r g . P r o m o t i o n 1904. P s y c h o l o g e .
Lippert — Lipps, Hans
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S c h r i f t e n : Grundriß d. Psychol. f. Juristen, Vorwort v. Franz Liszt, 1908 ; 3. Aufl. 1925. — Psychol. f. Lehrer, 1920; 2. Aufl. 1928; spanisch 1924. — Psychol, d, Berufe, in: Kafka, Handb. d. vergleich. Psychol., 1922. — Üb. Begriff u. Formen d. Intelligenz, 1924. — Die Lüge. In psychol., philos., jurist., pädagog., histor., soziolog., sprach- u. literaturwissenschaftl. u. entwicklungsgesch. Betrachtung. Zus. m. Paul Plaut, 1927. — Lehrbuch d. Arbeitswissenschaft, 1932. — Bibliographie in: Ztschr. f. angew. Psychol., Bd. 36, 1930. L i t e r a t u r : Festschrift O. L. z. 50. Geb., hrsg. v. Paul Plaut, 1930; in: Zeitschr. f. angew. Psychol,, Bd. 36, H. 1 u. 2.
Lippert, Julius, geb. 12. April 1839 in Braunau (Böhmen), gest. 12. November 1909 in Prag. Kulturhistoriker. L. betont die Bedeutung des historischen und geographischen Faktors für die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft und zeigt die Rolle der religiösen Gedanken im Kulturleben auf. S c h r i f t e n : Der Seelenkult in s, Beziehungen zur althebräischen Religion, 1881.— D. Religionen d. europäischen Kulturvölker, 1881. — Christentum, Volksglaube u. Volksbrauch, 1882. — Allg. Gesch. d. Priestertums, 2 Bde., 1883—84. — D. Gesch. d. Familie, 1884. — Kulturgesch. d Mensohheit in ihrem organ. Aufbau, 2 Bde., 1886—87. — Deutsche Sittengesch., 3 Tie., 1889. — Sozialgesch. Böhmens, 2 Bde., 1896—98. L i t e r a t u r : Autobiograph. Skizze, in: Deutsche Arbeit, Nr, 5, 1905—06; S. 25—34.
Lipps, Gottlob Friedrich, geb. 6. August 1865 in Albersweiler, gest. 9. März 1931 in Zürich, Bruder von Theodor Lipps. Oberlehrer, Privatdoz, und Prof. in Lpz., Prof. in Zürich 1911. — Der Philosoph und Psychophysiker L, ist ein Schüler Wilh. Wundts. Er widmete sich besonders der Erforschung der mathematischen Probleme, die sich für die experimental-psychologische Methode ergeben. Als Forschungsgegenstand diente ihm daneben vor allem die Bildung von Mythen, wobei er an seine zahlenphilosophischen Untersuchungen anknüpft. Nicht die Beseelung der Natur führt zum Mythus, sondern die Annahme, daß die Gegenstände unabhängig vom wahrnehmenden Menschen existieren. Erst wenn sie als Erzeugnis des Denkens erkannt werden, ist der Weg frei für die Entstehung der Philosophie überhaupt und die Entwicklung einer kritischen Weltanschauung. S c h r i f t e n : Die log. Grundlagen des mathemat. Funktionsbegriffs, Diss., Zweibrücken 1888. — Grundr. d. Psychophysik, 1899; 3. Aufl. 1908. — Unters, üb. d. Grundlagen d. Mathematik, Philos. Studien, Bd. 9—12. — Die Theorie d. Kollektivgegenstände, 1902. — Die psych. Maßmethoden, 1906. — Mythenbildung u. Erkenntnis, 1907. — Weltanschauung u. Bildungsideal, 1911. — Das Problem d. Willensfreiheit, 1912; 3. Aufl. 1919.
Lipps, Hans, geb. 22. November 1889 in Pirna, gest. 1942. Dr. phil. 1912. Dr. med. 1919. Privatdoz. in Göttingen 1921, a. o. Prof. ebda. 1928, in Frankfurt 1935. — L. gehört zu den Philosophen, die die Phänomenologie Husserls in Richtung auf eine philosophische Anthropologie weiterentwickeln. Dabei kommt die Philosophie Diltheys, speziell als Hermeneutik, wieder zur Geltung. L. lehrt; „Die Erkenntnistheorie ist recht verstanden tatsächlich weiter nichts als Interpretation, sofern sie ein bestimmtes Wissen zum Ausgang nimmt" (Phänomenol. d. Erk. I, 51). Dabei teilt er auch den Apriorismus, der dieser Richtung naheliegt, wenn er ausführt: „Das Apriorische liegt an anderer Stelle als im Bewußtsein, bzw. in dessen Gesetzmäßigkeit. Es ist greifbar in den Antizipationen der Einstellung. Kurz formuliert nämlich darin, daß man schon da ist, wenn man sucht, fragt, beobachtet, die Sinne etwas tun l ä ß t . . . Die Erkenntnis ist etwas, was mich angeht." Ihre Konzeption ist „anthropologisch" zu begreifen (a. a. O. 49/50). S c h r i f t e n : Untersuch, z. Phänomenologie d. Erkenntnis, I, 1927, II 1928. — Beispiel, Exempel, Fall u. d. Verhältnis d. Rechtsfalles z. Gesetz, 1931. — Die Paradoxien d. Mengenlehre, in: Husserls Jahrb., VI, 1923. — D. Urteil, in: Husserl-Festschrift, 1929.
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Lipps, Theodor
— D. menschl. Natur, Frankfurt 1941. — Unters, zu einer hermeneutischen Logik, Frankfurt 1938. — D, Verbindlichkeit d. Sprache, herausg. v. E. v. Busse, Frankfurt 1944.
Lipps, Theodor, geb. 28. Juli 1851 in Wallhalben (Pfalz), gest. 17. Oktober 1914 in München. 1877 Privatdoz. der Philosophie in Bonn, 1884 a. o. Prof., 1890 o. Prof. in Breslau, 1894 in München. Begründer des Münchener Psychologischen Instituts. L. stellt die Philosophie als auf der inneren Erfahrung beruhend dem naturwissenschaftlichen Denken entgegen. Die innere Erfahrung bildet die Grundlage aller „Geisteswissenschaften", also auch der Logik, Ästhetik usw. Sie entfaltet sich in der Psychologie und ,,die Psychologie ist die philosophische Wissenschaft oder die Philosophie als Wissenschaft, das ist die Psychologie". Ihr Gegenstand ist das Bewußtseinsleben, das Bewußtseinswirkliche, ihre Methode ist die psychologische Analyse in der Retrospektion, im Zurückblicken auf Erlebtes. Eine eigentliche Selbstbeobachtung gibt es nicht. Am Gegenstand der psychologischen Analyse unterscheidet L. zwischen Inhalt und Akt. Das Vorstellen, Denken usw. selbst ist der Akt, der sich auf das Vorgestellte, Gedachte als seinen Inhalt richtet. Das Seelenleben ist sehr stark an das Ich gebunden, es ist immer Erleben eines Ich, Hinter dem Erlebnis-Ich, in dem die Bewußtseinserlebnisse in einem Motivationszusammenhang verknüpft erscheinen, steht ein reales Ich, das selbst nicht bewußt wird und das dem Bewußtseins-Ich transzendent bleibt. Die Erlebnisse sind Begleitvorgänge für dieses reale Ich. Neben dem stark ichgebundenen Erleben innerhalb des Bewußtseins, und in ihm zur Erscheinung kommend, stehen die Gegenständlichkeiten. Zwar bleibt das Erleben die einzige Quelle, aus der der Logiker schöpfen kann, aber was er als Gegenständlichkeiten etwa in Form von Urteilen aus dem seelischen Verlauf des Urteilens herausnimmt, hat seinen eigenen Bestand und nimmt dem Erleben gegenüber den Charakter der Forderung an. Diese Forderungen der Gegenstände selbst herauszuarbeiten ist Aufgabe der philosophischen Disziplinen. Letztlich werden auch diese gegenständlichen Forderungen auf Wesenszüge des Bewußtseins, sofern es von dem einzelnen Ich unabhängig ist, zurückgeführt: „Die Logik redet allein von den Gesetzen des Denkens. Damit meint sie nicht die Gesetzmäßigkeit, nach welcher das Denken in einem Individuum tatsächlich verläuft, sondern die Gesetze, die im Denken als Denken, abgesehen von allen denkenden Individuen liegen". In diesen Gesetzen erschließt sich die Eigenart eines „reinen Bewußtseins", Während man in der Behandlung der Logik durch L, stark den Einfluß Husserls spürt, hat er von den eigentlich philosophischen Disziplinen die Ästhetik selbständig und charakteristisch ausgebildet. Die Kunst ist ihm die „geflissentliche Hervorbringung des Schönen" (Griundleg, der Ästhetik, 1903). Das Schöne oder ästhetisch Wertvolle verweist weiter auf das Lustvolle, „Vom »ästhetisch Wertvollen« nun wissen wir von vornherein Eines: Es ist, wie alles Wertvolle, lustvoll. Dies liegt im Sinn des Wortes »wertvoll«. Etwas ist wertvoll, dies heißt: Es ist geeignet, in bestimmter Art zu erfreuen, Befriedigung zu erzeugen, kurz, Lust zu erwecken. Das Wort »wertvoll« wäre ein leeres Wort, ohne diese Beziehung auf die Freude, die Befriedigung, die Lust des fühlenden Wesens" (a. a. O., S. 6). Für das Erfassen des Wesens der Lust gilt „der allgemeine Satz: Ein Grund zur Lust ist gegeben in dem Maße, als psychische Vorgänge — oder Komplexe von solchen — also Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken und Zusammenhänge von solchen, der Seele »natürlich« sind. Lust begleitet die «psychischen Vorgänge» in dem Maße, als ihr Vollzug in der Seele
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oder ihrer Natur günstige Bedingungen findet. Lust ist der Ausdruck oder das unmittelbare Bewußtseinssymptom dieses Sachverhaltes, der Reflex oder Widerschein desselben im Bewußtsein. Ebenso ist Unlust das unmittelbare Bewußtseinssymptom dafür, daß psychische Vorgänge zur Natur der Seele in Gegensatz treten, für sie einen Zwang oder eine Zumutung bedeuten, -daß ihr Vollzug ungünstige oder minder günstige Bedingungen in der Seele oder der Natur der Seele findet" (10). Auf diese Weise bleibt das Ästhetische auf das engste an das Subjekt, an das Ich gebunden. „Ästhetische Werte entstehen . . . nicht an sich, aber für mich, d. h. es entsteht meine Wertung der Werte, indem solches mir objektiv geboten wird, das allgemeiner psychologischer Gesetzmäßigkeit zufolge im Inhalte meines Geistes einen bestimmten »Widerhall« finden kann, Dazu ist aber zweierlei erforderlich: das Objektive einerseits und das Subjektive, der Inhalt meines Geistes, und die Erziehung zu jener »Hingabe« andererseits. Und die Geschichte der Wertungen oder die Geschichte des Geschmacks in der Menschheit, ist die Geschichte des subjektiven Eintretens von Objekten in den Gesichtskreis der Menschen, des Auftauchens von Formen und Ausdrucksmitteln, wodurch nach psychologischen Gesetzen ein »Widerhall« im Inhalt des Geistes der Menschen geweckt werden kann; und sie ist die Geschichte des menschlichen Geistes, seiner Inhalte und seiner »ästhetischen Erziehung«, d. h. seiner Erziehung zu jener »Hingabe«, geschehe dieselbe nun durch Menschen oder durch Umstände. Sie ist dagegen nicht die Geschichte jener psychologischen Gesetze, also auch nicht die Geschichte psychologischer Prinzipien, da diese nichts sind, als die psychologischen Gesetze. Diese, also auch die ästhetischen Prinzipien haben keine Geschichte. Sie können für uns keine haben. Wesen, deren psychische Gesetzmäßigkeit eine andere wäre als die unsrige, sind für uns unvorstellbar" (a. a, O, 94), Neben die Hingabe an den Gegenstand tritt zur Charakteristik des Wesens ästhetischer Erlebnisse die Einfühlung als der innere Mitvollzug der Dynamik des Gegenstandes in seiner besonderen Gestalt, Auf diese verweist auch zuletzt die Lust: , , . . . in der Lust . . . , die mir quillt aus . . . freiem inneren Mitmachen eines inneren Verhaltens, das in einer Ausdrucksbewegung für mich unmittelbar liegt, besteht die ästhetische Lust an der Ausdrucksbewegung . . . Sie ist mit einem Wort Lust aus der »Einfühlung«" (112). Ihren letzten Hintergrund hat die auf der Psychologie beruhende Philosophie von L. in einer Philosophie des Lebens. „Gegenstand unserer positiven Wertung ist jedes Leben und jede Lebensmöglichkeit, nämlich genau soweit dies Leben wirkliches, d. h. positives Leben ist, nicht Negation des Lebens oder der Lebensmöglichkeiten, Mangel, Schwäche oder Zeichen derselben. Und wir können gleich hinzufügen: Unwert ist uns jede solche Negation. Und damit ist nun zugleich der Sinn alles Schönen bezeichnet. Aller Genuß der Schönheit ist Eindruck der in einem Objekt liegenden Lebendigkeit und Lebensmöglichkeit; und alle Häßlichkeit ist ihrem letzten Wesen nach Lebensnegation, Mangel des Lebens, Hemmung, Verkümmerung, Zerstörung, Tod" (102). S c h r i f t e n : Herbarts Ontologie, Diss., Bonn 1874. — Grundtatsachen d, Seelenlebens, Bonn 1883: Neudr. 1912. — Psycholog. Studien, 1885; 2. Aufl. 1905. — D. Streit um d. Tragödie, 1890. — Ästhet, Faktoren d, Raumanschauung, 1891, — Grundzüge d, Logik, 1893; Neudr, 1911; 3. Aufl. 1923. — Raumästhetik u. geom,-opt. Täuschungen, 1897. — Komik u. Humor, 1898. — Ethische Grundfragen, 1899 ; 4. Aufl. 1922. — Selbstbewußtsein, Empfindung u. Gefühl, 1901. — Einheiten u. Relationen, 1902. — Leitf. d, Psychologie, 1903. — Vom Fühlen, Wollen u. Denken, 1902 ; 3, Aufl. 1926. — Ästhetik, 2 Bde., 1903—06; 2. Aufl. 1906. — Ästhetik, in: Kultur d. Gegenwart, I, 6, Systematische Philos., 1905; 2. Aufl. 1908. — Inhalt u. Gegenstand, Psychol. u. Logik, in: Sitz.ber. der Münchener
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Lipsius — Litt
Akad, d. Wiss., Philos. KL, 1905. — Naturwissenschaft u. Weltanschauung, 1907. — Psychol. Unters., 2 Bde., 1907—12. — Philos. u. Wirklichkeit, 1908. — Ps. Wiss. u. Leben, Münch. Akad., Philos. KL, 1901. — Naturphilos., in: Philos. d. 20. Jahrh., hrsg. v. Windelband, 2. Aufl. 1907, — Übersetzer v. Humes Traktat üb. d. menschl. Natur, 1906 f. L i t e r a t u r : M. Ahrem, D. Problem d. Tragischen bei Th. L. u. Joh. Volkelt, Diss., Bonn 1908. — J . Pikler, Üb. Th. L.s Vers, einer Theorie d. Willens, 1908. — W. Wirth, D. Probleme der psychol. Studien v. Th. L., in: Arch. f. d. ges. Psychol., 1908. — Ose. Schuster, D. Einfühlungstheorie v, Th. L. u. Schopenhauers Ästhet., in: Arch. f. Gesch. d. Philos., 1912. — Konr. Müller, Th. L.s Lehre vom Ich im Verhältnis zur Kantischen, 1912. — O. Külpe, in: Jahrb. d. Münch. Akad., 1915. — Münchner philos. Abh., Th. L. z. 60. Geb., 1911. — Anschütz, Georg, Th. L., 1915; aus: Arch. f. d. ges. Psychol., Bd. 34, H. 1. — Alfred Petzold, Hume u. L., Diss., Erlangen 1921. — Heinrich Gothot, D. Grundbestimmungen über die Psychol, d. Gefühls bei Th. L., Diss., Bonn 1921. — Otto Hassenpflug, Üb. d. Tragische. Unters, im Anschluß an Joh. Volkelt u. Th. L., Langensalza 1916.
Lipsius, Justus, geb. 18. Oktober 1547 bei Brüssel, gest. 23. März 1606 in Löwen. Prof. in Löwen 1592. Knüpft an den Stoizismus an. S c h r i f t e n : De constantia, 1584; deutsch 1802. — Manuductio ad Stoicam philosophiam, 1604. — Physiologiae Stoicae libri III, 1610. — Opera omnia, 8 Bde., 1585; 2. Aufl. 4 Bde., 1637; 4 Bde. 1675. — Briefe, hrsg. v. G. H. M. Delprat, 1858. L i t e r a t u r : A. Steuer, Die Philos. d. J . L., Diss., Münster 1901. — V. A. Nordmann, J . L. als Geschichtsforscher u. Geschichtslehrer, Helsinki 1932; in: Suomalaisen Tiedekatemian Toimituksia, Ser. B. T. 28, 2.
Liszt, Franz v., geb. 2. März 1851 in Wien, gest. 21. Juni 1919 in Seeheim a. d. Bergstraße. 1899 Prof. des Strafrechts in Berlin. — Der Jurist L. vertritt eine soziologische Deutung der Funktionen des Rechts. S c h r i f t e n : Lehrbuch d. deutschen Strafrechts, 1881; 26. Aufl. hrsg. v. Eberhard Schmidt, 1932. — D. Zweckgedanke im Strafrecht, 1882. — Strafgesetzgebung d. Gegenwart, in: Rechtsvergleich. Darst., 2 Bde., 1894—99. — Strafrechtl, Aufs. u. Vorträge, 2 Bde., 1905. — Vergleich. Darst. d. deutschen u. ausländ. Strafrechts, 16 Bde., 1905—09. — Das Völkerrecht, systemat. dargest., 1898; 12. Aufl. hrsg. v. Max Fleischmann, 1925. L i t e r a t u r : Dahl, Frantz, F. v. L., Kopenhagen 1919. — Jaanis A. Georgakis, Geistesgesch. Studien z. Kriminalpol. u. Dogmatik F. v. L.s, Leipzig 1940. — Heinz Specht, D. Strafzweck bei Feuerbach u. L,, Diss., Hamburg 1933. — Otto Knetsch, D. Täterpersönlichkeit bei F. v. L., Diss., Giessen 1936.
Litt, Theodor, geb. 27. Dezember 1880 in Düsseldorf. Dr. phil., a. o. Prof. in Bonn 1918, o. Prof. in Leipzig 1920, in Bonn 1947. Das philosophische Bemühen L.s wendet sich vor allem den Geisteswissenschaften, ihrer methodischen Grundlegung, ihrer Stellung im Ganzen der Wissenschaft, sowie ihrer begrifflichen Bearbeitung der kulturellen Erfahrungen zu. In seinen methodologischen Ansichten fühlt L. sich Husserls „Phänomenologie des Bewußtseins", Natorps „rekonstruktiver Psychologie", und Hönigswalds „Denkpsychologie" verwandt. Als das grundlegende Problem aller Wissenschaftstheorie sieht L. die Antithese: Erkenntnis und Leben an, der er eine eingehende Untersuchung widmet. Von Hegel, Fichte und Schelling an gerechnet, gehen dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft drei Entwicklungsphasen voraus. In der ersten glaubt die Wissenschaft mit dem Ganzen der Wirklichkeit auch das Leben ihrem Richterspruch unterworfen; in der zweiten bildet eine „positive" Wissenschaft das Ideal zweckfreier Forschung, bloßer Erklärung von Tatsächlichem aus. Erst in der dritten, einer Zeit der „Selbsterforschung der Wissenschaft", tritt das Leben mit seinen Forderungen an die Wissenschaft heran. „Jetzt erst wird die Wissenschaft
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als Funktion des geistigen Lebens zum Forschungsobjekt der Wissenschaft", sie reiht sich nun ein in den Kreis der übrigen Leistungs- und Ausdrucksformen der Kultur. Den Problemen, die hier entstehen, kann nur geisteswissenschaftliches Denken gerecht werden; es ist gekennzeichnet durch den Spannungsreichtum der Dialektik, während naturwissenschaftliches Denken nur geradlinigen Fortschritt kennt, und sich nur um 'Sachzusammenhänge bewegt. Innerhalb der Naturwissenschaften erscheint die Antithese Erkenntnis und Leben in der Form „Naturerkenntnis" und „Zwecksetzung und -erfüllung"; Leben ist hier „zweckgerichtetes Sinnen und Tun", Anders in der Funktionslehre oder Strukturlehre, die eine „Lehre von den Grundfunktionen des Geistes" ist. „Geistig" aber nennt L. „eben dasjenige seelische Geschehen, dem die Intention auf einen Sinngehalt innewohnt". Durch den hindeutenden Charakter ihrer Begriffe verweist die Funktionslehre auf das Leben, das hier erscheint als „das Ganze der sinngerichteten Funktionen des Geistes", die „Fülle der konkreten Inhaltlichkeit, in welcher jene Funktionen allein Wirklichkeit sind", und als „der besondere seelische Gehalt des konkreten Subjekts, das sein Erkenntnisbemühen auf irgendeinen Teil jener Fülle hinwendet". Die Aufgaben, die nun erwachsen, werden von den Geisteswissenschaften mit Hilfe des „Verstehens" gelöst. Verstehen ist „Hineinstellen eines inhaltlich, sinnhaft bestimmten Aktes in das Ganze eines konkreten Erlebniszusammenhangs". Die Quelle, aus der das Verstehen sich nährt, ist das Erleben. Seine Beziehungen zum Leben verschließen dem geisteswissenschaftlichen Denken Erkenntnisse von der Gültigkeit und Abgelöstheit, wie sie in den Naturwissenschaften erreicht werden können. Für das Verhältnis von Wissenschaft und Leben ergibt sich aus der Strukturlehre: „Die Wissenschaft entsagt dem Unternehmen, selbst Zwecke setzen zu wollen, um die Welt menschlicher Zwecksetzungen mit dem hier erreichbaren Höchstmaß von vorurteilsloser Sachlichkeit und Treue spiegeln zu können. Das Leben andererseits gibt den Anspruch preis, daß die Wissenschaft ihm das Geschäft der Zielbestimmung abnehme, um nicht der inneren Erhöhung und Ausweitung verlustig zu gehen, die einzig eine von solchen Ansprüchen entlastete Wissenschaft ihm geben kann." Die Strukturlehre steht im Wechselverhältnis zu einer zweiten „Prinzipienwissenischaft", der Wertlehre. Voraussetzung dafür ist, daß jede geistige Betätigung in Bewegung gesetzt wird durch ein leitendes „Interesse", dessen Richtung gedanklich bestimmt ist „durch ein Aufweisen der Werte, die das Subjekt durch die Betätigung dieses Interesses tatsächlich anerkennt". Für die Beziehung zwischen Struktur- und Wertlehre gilt: „Das Letzte und Grundsätzlichste, das ausgesagt werden kann, sobald das Denken auf der Funktionsseite verweilt, ist in der Stnukturlehre niedergelegt; das Letzte und Grundsätzlichste, was die Inhaltseite angeht, kommt in der Wertlehre zu Wort." In der Sphäre des Sinns entfaltet sich der ideelle Gehalt der Strukturlehre, in der Sphäre des Erlebens ergreift die denkende Betrachtung der Wertlehre ihren Gegenstand. Dies wird wichtig für die Betrachtung „der Gesamtwirklichkeit, die wir als »Kultur« bezeichnen". Sie muß „im Ganzen wie im Einzelnen, die doppelte Richtung einerseits auf die Struktur des kulturellen Lebensprozesses, andererseits auf das Wertreich der kulturellen Sinngehalte einschlagen, um schließlich beide Betrachtungsweisen in dieselbe gegliederte Einheit zurückzuführen, als welche »Kultur« erlebte Wirklichkeit ist". Die Sätze der Strukturlehre haben Gültigkeit für alle Überlegungen über das Sollen. Sie stehen daher in besonderem Verhältnis zur Ethik als einer Wissenschaft vom Sollen. „Alles, was irgend über Aufbau und Zusammenhang der Philosophen-Lexikon
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geistigen Welt in allgemeiner Form sich ausmachen läßt, gehört in das Fundament jeder nur denkbaren Ethik hinein". Den strukturellen Aufbau der geistigsittlichen Welt bezeichnet L. auch mit dem Begriff sozial. „Soziale Theorie" und „soziale Ethik" stehen in engster Verbindung in seinem Versuch, eine Grundlegung der Kultur zu entwickeln, dem sein Werk „Individuum und Gemeinschaft" dient. S c h r i f t e n : Gesch. u. Leben, 1918; 3. Aufl. 1930, — Individuum u. Gemeinschaft, 1919; 3. Aufl. 1926. — Erkenntnis u. Leben, 1923. — D. Philos, d. G e g e n w a r t u. ihr Einfluß auf d. Bildungsideal, 1925; 2. Aufl. 1927. — Ethik d. Neuzeit, 1926. — Möglichkeiten u. Grenzen d. Pädagogik, 1926. — „Führen" oder „Wachsen lassen"? 1927. — Wissenschaft, Bildung u. Weltanschauung, 1928. — Kant u. Herder, 1930. — Einl. in die Philos., 1933. — Philos. u. Zeitgeist, 1934. — D. Allgemeine im A u f b a u der geisteswiss. E r k e n n t nis, 1941. — D. Befreiung d. geschichtl. Bewußtseins durch Herder, 1943. — D. deutsche Geist u. d. Christentum, 1938. — Protestantisches Geschichtsbewußts., 1939. — D. Selbsterkenntnis des Menschen, 1938. — D. Stelig. d. Geisteswiss. im nationalsoz. S t a a t e , Leipzig 1933. L i t e r a t u r : Pixberg, Hermann, Soziologie u. Pädagogik bei Willmann, Barth, L. u. Krieck, Langensalza 1927; Diss., Köln. — Vanselow, Max, Kulturpädagogik u. Sozialpädagogik b e i Kerschensteiner, Spranger u. L., 1927. — Barth, Reinhold, Das m e t h o d . Problem u, d. Problem d, „Grenze" in der gegenw, päd. Lit,, Diss., J e n a 1932.
Littré, Émile, geb. 1. Februar 1801 in Paris, gest. 2. Juni 1881 ebda. Schüler von Comte. L. verharrt bei dem reinen Positivismus und wendet sich von der mystischen Philosophie in Comtes Endepoche ab. S c h r i f t e n : Histoire de la langue française, 2 Bde., Paris 1862; 2. Aufl. 1863. — Dictionnaire de la langue française, 4 Bde., Paris 1863—77. — Analyse raisonnée du cours de philosophie positive, Paris 1845. — Application de la philosophie positive au gouvernement des sociétés, Paris 1850. — Conservation, révolution et positivisme, Paris 1852, 2. Aufl. 1879. — Paroles de la Philos. positive, Paris 1859, 2. Aufl. 1863. — Auguste Comte et la Philos. positive, Paris 1863. — A. Comte et St. Mill, 1866. — L a science au point de vue philos., Paris 1873, 5. Aufl. 1884. — Études sur les b a r b a r e s et le moyenâge, Paris 1867; 3. Aufl. 1874. — F r a g m e n t s de philos, positive et de sociologie contemp., Paris 1876. — De l'établissement de la Troisième République, Paris 1880. L i t e r a t u r : E. M. Caro, L. et le positivisme, Paris 1883. — A. Poëy, M. L. e t Auguste Comte, Paris 1877; 2. Aufl. 1880. — Brennecke, Adolf, in: Deutsche Rundschau, Bd. 39, 1884: S. 82—94.
Locke, John, geb. am 29. August 1632 als Sohn des Juristen John Locke zu Wrington bei Bristol, gest. am 28. Oktober 1704 in Oates (Essex). Eigentlicher Begründer der Philosophie der Aufklärung und Hauptvertreter des metaphysikfeindlichen Empirismus, den er als erster in einem System der von ihm zuerst als selbständige Wissenschaft behandelten Erkenntnistheorie zur Darstellung brachte. Seine erste Ausbildung genoß er auf der Westminster-Schule zu London und studierte dann seit 1652 in Oxford hauptsächlich Medizin und Naturwissenschaften; daneben beschäftigte ihn vor allem die Philosophie Wilhelms von Occam; die Lehre des Descartes übte auf ihn «ine starke Anziehungskraft aus. In diese erste Studienzeit fällt L.s Bekanntschaft mit dem Physiker und Chemiker Robert Boyle. 1665 besuchte er in Begleitung des englischen Gesandten Brandenburg und lebte zwei Monate in Cleve. Von 1667 bis 1675 war er Arzt im Hause des Lord Anthony Ashley, des späteren Earl of Shaftesbury, mit dem er befreundet war. Er erzog dessen Sohn und später auch dessen Enkel, den nachmals berühmten Philosophen. Die ersten Entwürfe zu L.s Essay concerning human understanding fallen in die Jahre 1670 und 1671. Nach vorübergehender Wahrnehmung des Amtes eines
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Secretary of the presentation of benefices begab sich L. 1675 nach Frankreich, von wo er 1679 nach England zurückkehrte, nachdem Shaftesbury, der vorübergehend in Ungnade gefallen war, wieder am englischen Hof aufgenommen wurde. Kurz darauf wurde Shaftesbury ein Prozeß gemacht, der allerdings mit Freispruch endete. Um sich den auch gegen ihn gerichteten Verfolgungen zu entziehen, ging L. 1683 nach Holland, konnte aber, als 1689 .durch die Revolution Wilhelm von Oranien englischer Herrscher wurde, nach England zurückkehren. Er erhielt wiederum ein öffentliches Amt, veröffentlichte 1689 seinen ersten Brief über Toleranz (lateinisch), dem er in den folgenden Jahren drei weitere Briefe über den gleichen Gegenstand folgen ließ; 1689 bis 1690 gab er den Essay concerning human understanding heraus, 1690 die Two treatises of government, 1692 die geldtheoretische Schrift Some considerations of the consequences of the lowering of interest and raising the value of money, 1695 seine Further considerations of the raising the value of money. 1693 erschien seine Schrift: Some Thoughts concerning education, die unter anderem auf Rousseau einen starken Einfluß ausübte, 1695 die Abhandlung The Reasonableness of Christianity as delivered in the Scriptures. Die Philosophie L.s geht von der Frage der Lebensgestaltung aus, die er im empirischen Sinne beantwortet. Und da nach ihm überall „die Vernunft . . . unser letzter Richter und Führer sein" muß, so interessieren ihn vor allem die Leistungsfähigkeit, Ursprung, Gewißheit und Umfang der menschlichen Erkenntnis und die Grundsätze, „nach welchen wir in Dingen, wo keine gewisse Erkenntnis stattfindet, unsern Beifall und unsere Überzeugung bestimmen sollten". Diesen Fragen ist L.s Hauptwerk, der Essay concerning human understanding, gewidmet. Das erste Buch wendet sich gegen die Annahme von angeborenen Ideen, wie sie etwa Descartes vertritt. Den Ausdruck „Idee" will L. in der gleichen Bedeutung wie Vorstellung, Begriff und Phantasiebild verwenden. Es erhebt sich die Frage, woher die Ideen in unserm Verstände stammen, deren Vorhandensein uns die Erfahrung zeigt. Die Lehre vom Angeborensein der Ideen, die der Seele ursprüngliche Begriffe vor ihrem Wirken in der Welt zuschreibt, stützt sich vor ällem auf die Behauptung einer allgemeinen Übereinstimmung über gewisse theoretische und praktische Grundsätze. L. will dagegen den Nachweis führen, daß weder diese behauptete Übereinstimmung besteht, noch daß sie, wäre sie vorhanden, ein Angeborensein der Ideen erforderte. Denn theoretische Grundsätze, wie der Satz der Identität und der des Widerspruchs, sind beispielsweise Kindern, aber auch Menschen ohne wissenschaftliche Bildung unbekannt, und es erscheint andererseits als kaum angängig, einen Besitz der Seele an solchen Grundwahrheiten zu behaupten, der ihr nicht bewußt ist und nicht erkannt werden kann. Analog verhält es sich mit den Grundsätzen der Sittlichkeit, die an Evidenz hinter den theoretischen Grundsätzen zurückstehen, aber deshalb nicht weniger wahr sind als diese. Alle Moralgesetze, nach denen wir uns in unserem Handeln richten sollen, müssen begründet werden, und können deshalb nicht angeboren sein. Nur von den beiden Grundmotiven unseres Handelns, von dem Wunsche nach Glückseligkeit und dem Widerstreben gegen das Elend können wir aussagen, daß sie angeboren sind; sie aber sind Tendenzen unseres Wollens und gehören nicht zum Bereich des Verstandes. Und wenn in den moralischen Grundsätzen, die, wie wir sehen, von Person zu Person und von Volk zu Volk wechseln, dennoch Übereinstimmung erzielt wird, so liegt die Ursache in dem Zwang, daß die Gesellschaft nur durch die Gleichheit der moralischen Gesetze 5*
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sich erhalten und den Zustand allgemeiner G l ü c k s e l i g k e i t hervorbringen kann. Erziehung und S i t t e erzeugen diese Übereinstimmung, und es ist einleuchtend, daß der kindliche Verstand, der ein u n b e s c h r i e b e n e s B l a t t ist, durch die E r ziehung zum Heilighalten s o l c h e r gemeinsamer Moralverpflichtungen bestimmt w e r d e n kann. In dem zweiten B u c h e , das von der positiven Bestimmung des Ursprungs der Ideen handelt, b e z e i c h n e t L. die S e e l e als ein weißes und unbeschriebenes B l a t t P a p i e r ( W h i t e P a p e r , T a b u l a rasa), auf das die einzelnen E r k e n n t n i s s e , wie sie aus der Erfahrung herkommen, aufgetragen werden; das der S e e l e Eingeborene V e r m ö g e n zu E r k e n n t n i s s e n will L. damit nicht bezweifeln. E s muß nun die i n n e r e und. die ä u ß e r e Erfahrung unterschieden werden. Handelt es sich um äußere, den Sinnen zugängliche Gegenstände, so h a b e n wir es mit einer S e n sation zu tun, betrifft die Erfahrung die inneren W i r k u n g e n unseres G e i s t e s , mit einer R e f l e x i o n . D i e Vorstellungen der F a r b e n , des W a r m e n und K a l t e n , des H a r t e n und W e i c h e n usw. stammen von den äußerlich w a h r n e h m b a r e n G e g e n ständen, wie sie durch die Sinne aufgenommen werden, auf sie richtet sich das G e m ü t und verhält sich ihnen gegenüber teils passiv, teils aktiv. W e n n sich diesen Vorgängen im G e m ü t die S e e l e zuwendet und sie zum O b j e k t einer reflektiven B e t r a c h t u n g m a c h t , dann bilden sich im V e r s t ä n d e Vorstellungen, die von den Außendingen unabhängig sind. Die zwei Quellen der Ideen (Vorstellungen, Begriffe) sind also die durch die Sinne vermittelte ä u ß e r e W a h r nehmungisensation), und die innere Wahrnehmung der G e m ü t s t ä t i g k e i t (reflexion), die in Wahrnehmung, D e n k e n , Zweifeln, Glauben, E r k e n n e n , W o l l e n usw. b e steht. Die S e e l e vermag erst dann zu denken, wenn der M e n s c h sinnliche E i n d r ü c k e hat. Die Vorstellungen (Ideen) müssen in einfache und in zusammengesetzte eingeteilt werden. Die einfachen Vorstellungen bedürfen k e i n e r Erklärung, die zus a m m e n g e s e t z t e n werden auf D e n k e n und W o l l e n zurückgeführt. E i n f a c h e V o r stellungen k ö n n e n durch einzelne Sinne (Warm, K a l t , W e i c h , Dicht usw.), wie durch das Zusammenwirken m e h r e r e r Sinne (Raum oder Ausdehnung, G e s t a l t , Bewegung usw.), wie durch die R e f l e x i o n (Vorstellen oder D e n k e n , Wollen), wie endlich durch die Sinne und die R e f l e x i o n (Lust, Unlust, E x i s t e n z , Einheit, Zeitverlauf usw.) hervorgerufen werden. Nicht allen durch die S i n n e vermittelten Ideen entsprechen E i g e n s c h a f t e n der Dinge selbst. E s ist zwischen den ursprünglichen und den a b g e l e i t e t e n E i g e n s c h a f t e n oder den primären und sekundären Qualitäten zu unterscheiden. P r i m ä r e Qualitäten gehören u n a b t r e n n b a r zu den G e g e n s t ä n d e n und ihrer E x i s t e n z . L. nennt Ausdehnung, G e s t a l t , Undurchdringlichkeit, Bewegung, Ruhe, Zahl, Lage. D i e sekundären Qualitäten der G e g e n stände beruhen nicht, wie die primären Qualitäten, auf gleichartigen E i g e n s c h a f t e n der Gegenstände, sondern werden in s u b j e k t i v e r Gegenwirkung auf ents p r e c h e n d e physikalische Einwirkungen seitens der K ö r p e r in u n s e r e r S e e l e erzeugt. S o l c h e sekundären Qualitäten sind T ö n e , G e r ü c h e , G e s c h m a c k s - und Wärmeempfindungen, F a r b e n . E i n e dritte K l a s s e von Eigenschaften sind die K r ä f t e (Powers), die Veränderungen in anderen K ö r p e r n verursachen, so daß sie u n s e r e sinnlichen W a h r n e h m u n g e n modifizieren (z. B . die K r a f t des F e u e r s , B l e i zum S c h m e l z e n zu bringen). D i e reflektive T ä t i g k e i t d e r S e e l e umfaßt m e h r e r e V e r m ö g e n : das Vorstellungsvermögen (Perception), das Behaltungsvermögen ( R e tention), das Vorstellungen gegenwärtig erhält oder wieder vergegenwärtigt, das Unterscheidungs- (Discerning and distinguishing), das Vergleichs- (Comparing), das Zusammensetzungs- (Composition), das Benennungs- (Naming) und das A b straktionsvermögen (Abstraction). S i e sind die fundamentalen E r k e n n t n i s v e r -
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mögen des Geistes. Rein menschlich unter ihnen ist allein das Vermögen der Abstraktion, die anderen sind beim Tiere höchstens dem Grade nach verschieden. Bei einfachen Vorstellungen verhält sich die Seele gänzlich passiv. Ihre Selbsttätigkeit wird erst wirksam, wenn sie diese einfachen Vorstellungen zur Bildung neuer, komplexer Ideen (Complex ideas) heranzieht; hierbei wirken besonders Vergleichung, Zusammensetzung und Abstraktion. Auch in den Akten der Erinnerung verfährt das Erkenntnisvermögen aktiv. Durch diese Annahme einer Eigentätigkeit des Geistes bei der Bearbeitung der einfachen Vorstellungen geht L. tatsächlich über den einseitigen Sensualismus und Empirismus hinaus. — Die komplexen Ideen sind entweder Modi (Modes) oder Relationen (Relations) oder Substanzen (Substances). Die modalen Vorstellungen gehen auf Eigenschaften von Substanzen zurück, nicht auf etwas selbständig Existierendes, und sind zusammengesetzte Begriffe: Dankbarkeit, Dreieck usw.; sie sind rein (Simple modes), wenn sie Gleichartiges betreffen (z.B.Dutzend), gemischt (Mixed modes), wenn sie Ungleichartiges betreffen (z. B. die aus der Zusammensetzung von Farbe, Gestalt usw. hervorgegangene Schönheit). Die Substanzideen stellen Verbindungen der Elementarideen dar, die zur Vorstellung eines unabhängig von anderen existierenden Dinges notwendig sind. L. unterscheidet zwischen den Ideen von Einzelsubstanzen, wie ein Mann, und solchen, die eine Vielheit enthalten, wie Armee usw. Die Ideen der Relation entspringen beim Vergleichen von Vorstellungen untereinander. Sie sind als zusammengesetzte Vorstellungen im Bewußtsein und haben eine „Foundation of relation". — Unter den einfachen Modi nennt L. die Modi der Raumvorstellung, die aus den einfachen sinnlichen Vorstellungen der drei Dimensionen entspringt, die Modi der Zeitvorstellung, die aus verschiedenen Vorstellungen bestimmter Zeitlängen besteht (Stunde, Tag usw.); ferner die Modi der Zahlidee und des- Denkens sowie die der Idee der Kraft. Die Idee der Kraft entspricht dem kontinuierlichen Bestand der Erfahrungswelt bei dauerndem Wechsel der Erscheinungen als das Vermögen, das sie bewirkt. Die Substanz ist die Annahme eines Substrats, das von den miteinander in Verknüpfung auftretenden Vorstellungen verschieden ist, und dessen Existenz sowohl im Körperlichen wie im Geistigen nicht bezweifelt werden kann; eine eigentliche Vorstellung dieses Substrats besitzen wir nicht. L. hält an der Zweiteilung der Substanzen fest. Als dritte Substanz bezeichnet er Gott; die Vorstellung Gottes entsteht durch Steigerung der Begriffe von Kraft, Dauer, Verstand und Willen über jedes endliche Maß hinaus, aber wir haben auch in diesem Falle nur eine verworrene, undeutliche Vorstellung der Substanz. Den Begriff der Kausalität erwerben wir ebenfalls aus der Erfahrung, indem wir die Beobachtung machen, daß in dem Relationszusammenhang von Qualitäten und Substanzen die einen eine Einwirkung von anderem erleiden. In seiner Lehre von der Sprache, der das dritte Buch gewidmet ist, führt L. aus, daß die Worte Zeichen zunächst unserer eigenen, dann auch fremder Vorstellung, endlich der Dinge selbst sind. Die Speeles und Genera sind Bildungen unseres Geistes, der sich bestrebt, eine Vielheit von einander ähnlichen Dingen unter einem einheitlichen Namen zusammenzufassen, da es unmöglich ist, einem jeden Einzelding seinen besonderen Namen zu erteilen. Zu dem Zwecke dieser Bildung von Species und Genus handhabt der Verstand die Abstraktion, d. h. er faßt die als wesentlich betrachteten Merkmale unter Weglassung von nebensächlichen Merkmalen zu Hauptvorstellungen zusammen, unter denen er die ähnlichen Einzeldinge sammelt. Der Begriff des Seins ist der höchste der auf diese abstraktive Weise gewonnenen Allgemeinbegriffe.
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L.s Erkenntnistheorie wird im vierten Buche abgehandelt. Erkenntnis ist die Perzeption einer Verbindung und Übereinstimmung oder eines Widerstreites unter den Vorstellungen; er unterscheidet vier Arten, die Identität und Verschiedenheit, die Relation, die Koexistenz oder notwendige Verknüpfung, das reale Dasein. Entsprechend der Art der Perzeption ist die Erkenntnis von verschiedener Evidenz. Diese ist am höchsten in der intuitiven Erkenntnis, geringer in der demonstrativen und am geringsten in der sinnlichen Erkenntnis, obwohl auch sie noch als ein Wissen bezeichnet werden kann: "Of real existence we have an intuitive knowledge of our own, demonstrative of God's, sensitive of some or other things" (IV 3 § 21), Die Wahrheit besteht nur für die Sätze und in ihnen. Die Verbindung oder Trennung von Zeichen im Satz ist dann wahr, wenn ihnen der Sachverhalt auf seiten der Dinge entspricht. Die Wahrheit ist real oder verbal, je nachdem den durch die Zeichen ausgedrückten Verbindungen der Ideen in der natürlichen Welt Existierendes zugeordnet werden kann oder nicht. In allen Fragen, in denen wir eine klare Erkenntnis mit Hilfe unseres Verstandes nicht erwerben können, dürfen wir hypothetische Urteile heranziehen; es stellt sich dann die Aufgabe, ihre Brauchbarkeit an Hand der Erfahrung zu erweisen. — Weder aus der Erfahrung noch mittels des Verstandes gebildete Urteile sind die Sätze der Offenbarung, auf die in allen den Fällen zurückgegangen werden muß, in welchen ein Urteil aus Erfahrung und Verstand nicht gebildet werden kann; die Offenbarung darf allerdings niemals den Erkenntnissen der Vernunft widersprechen; denn die Vernunft ist selbst bereits Offenbarung, Offenbarung im Bereiche des Natürlichen. Sie wird durch die übernatürliche Offenbarung, in der Gott Wahrheiten unmittelbar mitteilt, erweitert und ergänzt. Diese unmittelbaren göttlichen Offenbarungen können nicht bezweifelt werden, denn entweder sind sie mit den Mitteln der natürlichen Vernunft als wahr erweisbar, oder die Vernunft trifft in ihnen doch auf Hinweise, die sie als göttliche bestätigen. Fehlt auch dies, so ist das vorgeblich Geoffenbarte zu verwerfen; denn die Vernunft bildet für uns stets das letzte und entscheidende Instrument der Prüfung, wenn schon keine Erfahrung in der natürlichen Welt zu Gebote steht. Im letzten Kapitel der Schrift nimmt L. zur Frage der Einteilung der Wissenschaften Stellung. Die drei Hauptgebiete des Wissens und der Erkenntnis sind die En p r o y en contra, 1894, — Cartas p e d a gógicas, 1895.
Sertíllanges, Antonin-Gilbert, geb, 16. November 1863 in Clermont-Ferrand, Dominikaner. S c h r i f t e n : Socialisme et Christianisme, 1905; 2. A. 1932. — Les sources de la croyance en Dieu, 1905; 2. A. 1932. — Saint Thomas d'Aquin, 2 Bde., 1910; 4. A. 1925; dt. 1. Bd. 1928. — L'Eglise, 1917; dt. 1937. — Les grandes thèses de la philos, thomiste, 1928. — Catéchisme des incroyants, 2 Bde., 1930; 2. A. 1933; dt. 4 Bde., 1934. — Hrsg.: Revue Thomiste, 1894—1900.
Servatus Lupus, geb, um 814 n. Chr., gest. 862 in Ferrières bei Sens. 830—836 Studium in Fulda unter Hrabanus Maurus. Lehrtätigkeit im Kloster Ferrières bei Sens, wird 842 dort Abt, 849 Romreise, Parteigänger Karls des Kahlen. — Der Theologe S. L,, ein glänzender Vertreter der karolingischen Kultur, gibt in seinen
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Briefen einen Spiegel des geistigen Lebens seiner Zeit. Er greift ein in den sogen. Gottschalkschen Streit um den Sinn der Prädestination. Mit Augustin ist er von der Unfreiheit des natürlichen Willens zum Guten überzeugt. Doch zieht er, im Gegensatz zu Gottschalk, nicht völlig die Konsequenz einer doppelten Prädestination: der Erwählten zum ewigen Leben, der Verworfenen zum ewigen Tode. S c h r i f t e n : Liber de tribus quaestionibus. — Vita Wigberti. — Vita Maximini. — Werke bei J. P. Migne, Sériés Latina, Bd. 119. — Ausgabe seiner Briefe: Lettres de Servat Loup, hrsg. v. Desdevires du Dezert, P. 1888. L i t e r a t u r : Nicolas, Etude sur les lettres de S. L., Thèse, Paris 1861. — Sprotte, Biographie des S. L., 1880. — R. Schmid, Art. S. L. in Realenz. für prot. Theol. u. Kirche, Bd. 12, 1902, p. 716 fi.
Servet, Michael (Servetus, Miguel Serveto), geb. 1511 in Tudela (Aragonien), auf dem Scheiterhaufen verbrannt 27. Oktober 1553 in Genf, 1525 Studium der Rechtswissenschaft und der Bibel in Toulouse. 1530 Diskussion mit Oekolampad in Basel über die Trinität. 1534 Studium der Mathematik und der Medizin in Paris. 1535 Korrektor in Lyon. 1537 mathematische und medizinische Vorlesungen in Paris; wird wegen des Zulaufs von Studenten durch die älteren Ärzte von dort vertrieben. 1540 als Arzt nach Vienne. Briefwechsel mit Calvin. Wegen seiner anonymen Schrift ,,Christianismi restitutio" der Ketzerei angeklagt. Flucht durch die Schweiz, doch in Genf 1553 auf Calvins Wunsch verhaftet und wegen Verleugnung Gottes und Christi verbrannt. S. ist Gegner der aristotelischen Scholastik. In der Medizin, die er als Entdecker des Lungenkreislaufs gefördert hat, wendet er sich gegen den Arabismus. Seine Schrift „De trinitatis erroribus" bestreitet die Wesenstrinität und nimmt an ihrer Stelle drei Dispositionen des einen, unteilbaren und ewigen Gottes an. S c h r i f t e n : De trinitatis erroribus, 1531. — Dialogorum de trinitate libri duo; de justitia regni Christi capitula quattuor, 1532. — Christianismi restitutio, 1553; dt. von B. Spieß, 3 Bde., 1892—96. L i t e r a t u r : Trechsel, Die protestantischen Antitrinitarier, Bd. 1: M. S. u. seine Vorgänger, 1839. — Brunnemann, Michel Servetus, 1865. — Pünjer, De Michaelis Serveti doctrina, 1876. — N. Tollin, Das Lehrsystem M. S.s, 3 Bde., 1876—78. — Amallo y Manget, Hist. critica de Miguel de S,, Madrid 1888. — P. L. Ladame, M. S-, sa réhabilitation historique, Genf 1913. — A. Martinez-Tomas, Miguel S., Barcelona 1925. — Wolfrad Emde, M, S. als Renaissancephilosoph, Stuttgart 1941, in: Zeitschr. für Kirchengeschichte, 1. Halbd., 1941. — R. Bainton, The present state of S.s studies, in: Journal of modern history, 1932 (mit Bibliographie).
Seth, Andrew, eigentlich Andrew Seth Pringle-Pattison, geb. 1850 in Edinburg, gest. 1931 ebenda. 1880 Prof. der Logik und Metaphysik in Edinburg. — S. ist Gegner Greens. Er lehnt dessen Hypostasierung des Bewußtseins überhaupt ab. Auch die Annahme eines Denkens an sich hält er für falsch. S c h r i f t e n : The Development from Kant to Hegel, 1882. — Hegelianism and Personality, 1887, 1893. — Man's place in the cosmos, 1897; erweitert 1902, — Two lectures on Theism, 1897. — The philosophical radicals and other essays, 1907.
Seth, James, geb. 1860 in Edinburg. Prof. in Edinburg. — Der Ethiker S. schließt sich Kants Lehre von der praktischen Vernunft an und vertritt das Postulat der Willensfreiheit. Er betrachtet als die sittliche Aufgabe der Persönlichkeit „selfrealisation". S c h r i f t e n : Freedom as ethical postulate, 1891. — A study of ethical principles, 1894; 10. A. 1908.
Seuse, Heinrich, latinisiert Suso, geb. 1. März 1300 in Überlingen am Bodensee, gest. 25. Jan. 1366 in Ulm. Schon 1313 Aufnahme in das Inselkloster in Konstanz (Dominikaner). Studium generale in Köln, lernt bei Meister Eckhart (gest. 1327).
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Nach Erscheinen seiner mystischen Schriften wird S. wegen Ketzerei angeklagt und des Amtes entsetzt. Steht in den Kirchenstreitigkeiten auf Seite des Papstes. Ab 1348 in Ulm. 1831 selig gesprochen. Der Mystiker S., entscheidend beeinflußt von Meister Eckhart, aber auch ein guter Kenner des Thomas von Aquin und des Bonaventura, versucht in seinem äußeren wie in seinem inneren Leben „zu einer ganz vollkommenen Gelassenheit seiner selbst" zu gelangen. Von „innerlicher Gelassenheit" handelt seine erste Schrift, noch ganz unter dem lebendigen Eindruck seines Lehrers Meister Eckhart verfaßt, das „Büchlein von der Wahrheit". Das folgende „Büchlein der ewigen Weisheit", am Vorbild des Bernhard von Clairvaux entwickelt, will die erkaltende göttliche Liebe in den Herzen wieder entzünden. Es hat das Leiden Christi und des Menschen Sterben zum Inhalt. Erhalten ist auch die Lebensbeschreibung des S., aufgezeichnet von der Dominikanerin Elsbeth Stagel, die S. im Kloster Töss bei Winterthur kennengelernt hatte und die sein Beichtkind geworden war. Ihre Verbindung mit S. spiegelt der zweite Teil der Selbstdarstellung wider. Durch Elsbeth Stagel wurden auch Briefe S.s an sie selbst und andere Beichtkinder gesammelt, was ihn zur Abfassung seines „Briefbüchleins" antrieb. In deutscher Sprache geschrieben, vermittelt es tiefen Einblick in S.s Religiosität. Von seinen Predigten ist nur ein geringer Teil überliefert, in Verbindung mit Predigten Taulers. Weltentsagung und Gotteshingabe bilden ihr Hauptthema. Auch sie erweisen S. als einen Meister des Worts. S. ist kein systematischer Denker. Seine Stärke ruht mehr in der Eindringlichkeit, mit der er sein Gotteserlebnis verkündet. Er ist der Mystiker des Gefühls, mit „minnereichem" Herzen, wie er sich selbst charakterisiert. Andere haben ihn als den Propheten der Gottesminne oder als Minnesänger der Gottesliebe bezeichnet. Seine Sprache ist die der Liebeslyrik des Mittelalters und des Rittertums, dem er entstammte (Sohn eines Ritters vom Berg, de Monte, und einer Edelfrau von Suse). Die Gottesminne, die S. lehrt, ist nur dann echt, wenn sie sich in einem liebevollen, minnigen Herzen für die Brüder bekundet. Den mystischen Heilsweg, den der Mensch in Reinigung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott zurücklegen muß, schildert S, mit den Worten: „ein gelassener Mensch muß entbildet werden von der Kreatur, gebildet werden mit Christo und überbildet werden in der Gottheit." Die wahre Vollkommenheit des Menschen besteht darin, Gott zu erfahren und zu genießen, mit ihm eins zu werden und in dieser Vereinigung stille und selig zu sein. Doch muß der Mensch zuvor das innere Werden der Dreieinigkeit an sich erlebt haben, wie er auch die Leiden Christi in sich bilden muß. Auch auf die Folgezeit hat S., einer der meistgelesenen Mystiker seiner Tage, stärker durch seine Sprachgewalt als durch seine Denkkraft gewirkt. S c h r i f t e n : Werke, älteste Ausgabe von Felix Faber, Augsburg 1482; 2. A. 1512; lat. Übers, von Surius, 1555. — Werke, krit. Ausg. von K. Bihlmeyer, 1907; Übers, v. W . Lehmann, 2 Bde., 1911; 2. A. 1922; von N. Heller, 1926. — S.s Leben u. Schriften, hrsg. v. M. Diepenbrock, eingeleitet von J . Görres, 1829; 4. A. 1884. — Die Deutschen Schriften des Seligen H. S., hrsg. v. F. Heinr. Seuse Deniile, München 1876—80. — Die Briefe H. S.s, hrsg. v. W . Preger, 1876. — Horoiogium Sapientiae, hrsg. v. J . Strange, 1856. •— Die Briefbücher Susos, von W. Preger, in: Zeitschr. f. deutsches Altertum, N, F., Bd, 8, S. 373—415. L i t e r a t u r : F. Bricka, Henri Suso, Straßb. 1854. —• R. Seeberg, Ein Kampf um jenseitiges Leben, Heinr. Seuse, Dorpat 1889. — W . Volkmann, Der Mystiker H. S., 1869. — Th. Jäger, H. S., 1893. — A. Pummerer, S.s Büchlein der Wahrheit, Programm, Mariaschein 1908. — A. Lang, Heinrich Suso. Prag 1911. — S. Hahn, H. S.s Bedeutung als Philosoph, in: Baeumker-Festgabe, 1913, S. 347—356. — A. Nicklas, Die Terminologie des H. S., bes. die psycholog., log.-met, u. myst. Ausdrücke, Diss., Königsberg, 1914. — R. Zeller, Henri S., P. 1922. — de Hornstein, Les grands mystiques allemands du 14e s., Eckhart, Tauler,
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Severus — Seydel
Suso,Luzern 1922. — A.Levarti, EnricoS., in: Rivista di filos. neoscol. 15(1923), S. 39 ff. — D. de Man, H. S. en de moderne devoten, in: Nederl. Arch. voor Kerkgesch., Bd. 19 (1926), S, 279 ff. —• Ida Friederike Coudenhove, Germanische Heiligkeit, 1934; 3. A. 1935. — Maria Augustina Fischer, Die Hl. Schrift in den Werken des dten. Mystikers H. S., Diss., München 1936. — Ludwig Heieck, Das Verhältnis des Ästhetischen zum Mystischen, dargestellt an H. S., Diss., Erlangen 1936. — Ursula Wegmann, Die S.sche Mystik u. ihre Wirkung auf die bildende Kunst, Diss., Berlin 1938. — Konrad Gröber, Der Mystiker H. S., Freiburg 1941. — Joseph Bühlmann, Christuslehre u, Christusmystik des H. S., Luzern 1942.
Severus (Seberos), lebte im 2. nachchristlichen Jahrhundert. Ein Fragment seiner Schrift ,,irsp> 'VJ//,;•' ist bei Euseb erhalten. Auch soll er einen Kommentar zu Piatos Timaios verfaßt haben, unter starker Betonung des Mathematischen. Die Weltseele hält er für eine geometrische Größe. Ihre beiden Grundbestandteile setzt er in Beziehung zum Punkt, der unteilbar ist, und zur Ausdehnung, die teilbar ist. S. soll bestritten haben, daß die Seele aus einem leidensfähigen und einem leidenslosen Teil besteht. S c h r i f t e n : Euseb, Praep. ev. 13, 17, 7. L i t e r a t u r : Zeller, Philos. der Griechen, Bd. III, 1, 4. A., S. 836, 841 f. — Überweg, Grundriß der Gesch. der Philos., Bd. 1, 11. A., 1920.
Sextus Empirikus, lebte Ende des 2. Jhs. n. Chr. in Alexandria und Rom. Arzt. Als Arzt wurde S. E. zur empirischen Schule gerechnet. Er hat nicht nur eine eigene Art der Skepsis entwickelt, sondern auch die Argumente aller früheren Skeptiker gegen den Dogmatismus gesammelt und geordnet und damit eine der wichtigsten Quellenschriften für antike Philosophie geschaffen. Er bediente sich der (nicht erhaltenen) Werke des Aenesidemus als Quelle. Indem S. E. alle damals bekannten und die früheren Formen der griechischen Philosophie einer strengen Kritik unterzieht, gemessen an den Grundgedanken der Pyrrhonischen Skepsis, legt er den Keim zur späteren Entfaltung einer Kritik der Erkenntnis. In „Adversus mathematicos" werden nach Aufdeckung der Mängel in Grammatik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astrologie und Musik (der späteren Artes liberales) auch die Schwächen der philosophischen Wissenschaften Logik, Physik, Ethik ins Licht gestellt. S c h r i f t e n : Pyrrhoniae hypotyposes; Adversus mathematicos; Ausgabe von Fabricius, 1718; 2 Bde., 1814; von Bekker, 1842. — Pyrrhonische Grundzüge, hrsg. v. Pappenheim, Leipzig 1877. — Werke, krit. Ausg., hrsg. v. Mutschmann, 2 Bde., 1912—14. — Deutsche Auswahl bei Nestle, Die griech. Philosophen, Bd. III, Nachsokratiker, 1923. L i t e r a t u r : C. Jourdain, S. E. et la philos. scholastique, Paris 1858. — M. M. Patrick, S. E. and Greek scepticism, Diss., Bern 1899. — Arthur Kochalsky, De S, E. adversus logicos libris, Diss., Marburg 1911. — E. Loew, Das heraklitische Wirklichkeitsproblem u. s. Umdeutung bei Sextus, Pr. Wien 1914. — W. Heintz, Studien zu S. E., 1932.
Seydel, Rudolf, geb. 27. Mai 1835 in Dresden, gest. 8. Dezember 1892 in Leipzig. Studierte 1852—56 in Leipzig Philologie, Theologie und Philosophie, habilitierte sich 1860 in Leipzig für Philosophie, 1867 a. o. Professor. S. ist Schüler Christian Hermann Weißes und wird allgemein zu den Vertretern des spekulativen Theismus gezählt; doch vollzieht sich diese Einordnung nicht ganz zwanglos. Es sollte nur von Annäherung, nicht von Gleichheit der Grundstimmung gesprochen werden. Denn ein zweiter Faktor ist ebenso lebenskräftig in S.s philosophischem Denken; der Einfluß Schellings. Auch er wirkte sich im Hauptgebiet seiner Denkarbeit aus. Diese richtete sich auf Ergründung des Wesens der Religion und Erforschung ihrer Geschichte. In der intellektuellen Anschauung wird das Absolute, wird das göttliche Wesen erfaßt, „Religion ist Leben in Gott und aus Gott . . . auf Grund eines ursprünglich noch ungeteilten, einheitlichen, göttlichen
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Willenstriebes" (Religionsphilosophie S. 2 5 ) . E s ist eine ideale, eine vollkommene Religion denkbar, als eine solche, „die aus einem aus innerster, zentralster Tiefe des Menschenwesens hervorbrechenden Zielstreben oder Triebwillen erwächst, der alles „spezifisch" Menschliche und Selbstische überwächst, Gottes Leben im Menschenleben einwohnend zeigt und darauf geht, das Vollendete zu verwirklichen in allen denkbaren F o r m e n " (Religionsphilosophie S. 147 f.). In der Religionsphilosophie werden die religiösen Zustände der Seele zum Gegenstand denkender B e trachtung gemacht. E s zeigt sich, daß der religiöse W i l l e auf „volle Gottesgemeins c h a f t " geht, das heißt darauf, alles im Menschen und in der W e l t dem Göttlichen unterzuordnen, ganz ohne Einschränkung. Denn das Höchste darf nichts neben sich' haben. Im Wollen, Fühlen, Erkennen und Handeln verwirklicht sich dies religiöse Verhältnis des Menschen zum Göttlichen. Philosophiegeschichtlich hat S. sich dadurch verdient gemacht, daß er die Widersprüche in Schopenhauers Lehre vom W i l l e n aufdeckte. S i e liegen darin, daß der W i l l e sich nur unter der F o r m der Zeitlichkeit darstellt, aber doch ohne diese existieren müßte; weiter daß die Individuation des Willens Bedingung ist für die Bildung des Intellekts im Individuum, andererseits aber den Intellekt bereits voraussetzt, denn Raum und Zeit als Prinzip der Individuation sind nach Schopenhauer Formen des anschauenden und denkenden Subjekts. S c h r i f t e n : Schopenhauers philosophisches System dargestellt und beurteilt, Lpz. 1857. — Der Fortschritt der Metaphysik unter den ältesten jonischen Philosophen, Lpz. 1861, — Logik oder Wissenschaft vom Wissen, Lpz. 1866. —• Die Religion und die Religionen, Lpz. 1872. — Ethik oder Wissenschaft vom Seinsollenden, Lpz. 1874. — Religion und Wissenschaft, Breslau 1887. — Der Schlüssel zum objektiven Erkennen, Halle 1889. — Religionsphilosophie im Umriß, Lpz. 1894, hrsg. von P. W, Schmiedel (mit Verzeichnis der Schriften). L i t e r a t u r : M. Brasch, Leipziger Philosophen, Lpz. 1894. — H. Lischewski, Über R. S.s Religionsphilosophie, Diss., Erlangen 1902, Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Graf von, geb. 26. Februar 1671 in London, gest. 15. Februar 1713 in Neapel. Auf seine Erziehung gewann Locke als Freund seines Großvaters Einfluß. 1687 bis 1689 Europareise. F r e i e Schriftstellerei, Eintritt ins Parlament. 1698 Reise nach Holland, dort Verbindung mit B a y l e und Leclerc. 1700 Eintritt ins Oberhaus. 1711 aus Gesundheitsgründen nach Italien. Das Schaffen des englischen Moralphilosophen Sh. wird regiert von seinem unwandelbaren Glauben an eine Harmonie, die das Weltganze wie das einzelne Seelenleben und den gesellschaftlichen Zusammenhang der Individuen durchwaltet. Diese Harmonie ist durch keinen Mißklang gestört. Sie garantiert den Sieg des Guten und begründet die Macht des Schönen, zwischen denen eine innige Verbindung besteht. Das unleugbare Vorhandensein von Bösem wie von Häßlichem ist einbezogen in den Weltplan: es dient nur dazu, die Vollkommenheit der harmonischen Ordnung im Weltganzen sichtbar zu machen, in dem das Gute und das Schöne triumphieren. In seinem theoretischen Bemühen ist Sh, vor allem dem Sieg des Guten in der Moral und seiner engen Verknüpfung mit dem Schönen nachgegangen. Verwandtschaft mit seinem eigenen Glauben an Harmonie, Güte und Schönheit und an geordneten Zusammenhang im W e l t - und Naturganzen wie im menschlichen Seelenleben findet Sh. in der ihm wohlvertrauten antiken Philosophie (Plato, Aristoteles, Stoa) und bei Giordano Bruno. Als seinen Gegenpol betrachtet er Hobbes und bekundet seine Gegnerstellung zu ihm auf Schritt und Tritt. E s ist der ungebrochene Optimismus Sh.s, sein enthusiastisches Bekenntnis zum Glauben an die Harmonie im W e l t a l l und Menschenwesen, und es sind die pantheistischen
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Züge seines Weltbildes, die in der Folgezeit wirksam wurden. Sein Einfluß ist bei den späteren englischen Moralisten (Hutcheson und Hume), in der deutschen Klassik (Wieland, Herder, Goethe, Schiller) und in der französischen Aufklärung (Diderot, Voltaire) spürbar. Sh.s Moralphilosophie ruht, der wissenschaftlichen Gepflogenheit seiner Zeit entsprechend, auf dem Fundament einer Affektenlehre. Hobbes hatte, wie Spinoza, das Selbsterhaltungsstreben zum Grundaffekt erklärt. Auch bei Sh. nimmt es noch eine entscheidende Stellung ein, tritt aber doch in bewußtem Gegensatz zu Hobbes nur als eine von drei verschiedenen Gruppen von Affekten oder Trieben auf. Die erste Art sind die unnatürlichen Affekte, durch die weder eigenes noch fremdes Wohl gefördert wird. Zorn, Haß und Bosheit, Grausamkeit und Neid gehören dazu. Die zweite Art, die natürlichen oder geselligen Affekte (natural oder social affections), wie Mitleid und Mitfreude, stellen das Band im Zusammenleben der einzelnen Menschen dar, das auf Freundschaft und Wohlwollen begründet sein soll. Als dritte Art treten die egoistischen Neigungen auf (selfish oder private affections), von Hobbes fälschlich für die einzigen vorhandenen gehalten. Zielen die sozialen Affekte auf das allgemeine Wohl (public good), so streben die egoistischen Neigungen zum eigenen Wohlergehen (private good) hin. Beide sind in gleicher Weise ursprünglich, also nicht aufeinander zurückführbar, wie Hobbes wollte, dem nur der egoistische Trieb als tiefwurzelnd galt. E s kommt für das sittliche Leben und damit für die Glückseligkeit des Individuums darauf an, zwischen egoistischen und sozialen Neigungen das rechte Maß herzustellen. Die Harmonie darf nicht gestört werden. Das bedeutet, daß nicht eine Affektgruppe die andere überwuchern oder ganz verdrängen darf. Die unnatürlichen Affekte müssen ausgemerzt werden. Die egoistischen sind, in Grenzen gehalten, so berechtigt wie die sozialen. Alle drei Affektarten können nun ihrerseits zum Objekt von Vorstellungen werden und eine zweite Klasse von Affekten hervorrufen. Sh. bezeichnet sie als Reflexions-Affekte ireflex oder rational affections). Sie sind angeboren und führen zu Wertgefühlen und Werturteilen. Reflexions-Affekte sind Billigung und Mißbilligung oder Gefallen und Mißfallen, als Wurzel der ethischen Urteile gut und böse wie der ästhetischen Urteile schön und häßlich. Der Mensch hat eine natürliche Neigung zu sittlich-schönem Handeln und eine natürliche Abneigung gegen unschönes Verhalten. Die Quelle seiner moralischen Urteile ist der moral sense, ein angeborener moralischer Sinn, und ebenso entspringen die ästhetischen Urteile einem ästhetischen. Sinn. Der moralische Sinn ist „eine echte Antipathie oder Abneigung gegen Ungerechtigkeit, eine natürliche Voreingenommenheit des Geistes zugunsten der moralischen Vornehmheit". Gefallen am Affektzustand der Seele tritt dann ein, wenn Harmonie in ihr herrscht, und diese wiederum ist vorhanden, wenn die unnatürlichen Affekte unterdrückt und die sozialen und egoistischen gut ausgeglichen sind, wenn „eine geordnete Ökonomie der egoistischen und sozialen Affekte" hergestellt ist. Das moralische Urteil, auf unser eigenes Handeln angewendet, heißt das Gewissen, oder das Gefühl für recht und unrecht (the sense of right and wrong). E s lehnt die Handlungen ab, welche die Harmonie unseres eigenen oder eines anderen Lebens stören. Für den zum Einklang mit sich, zur Harmonie gelangten Menschen entwirft Sh. das Idealbild eines Zustands, den Goethe später die „schöne Seele" nannte. Sh. schwebte dabei das Menschentum der griechischen Antike, die Kalokagathie, vor, doch hat er auch Züge des Hofmannes seiner eigenen Zeit hineinverwoben. In der Herstellung des harmonischen Affektzustandes beruht die Tugend; in der Tugend aber liegt bereits die wahre Glückseligkeit. Die Tugend soll aus der Freiheit stammen. Niemals darf sie erzielt oder erzwungen werden durch Androhung von
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Strafe oder Verheißung von Lohn. Diese Überzeugung bringt Sh. in starken Gegensatz zur christlichen Paradieses- und Höllen-Stimmung und zur kirchlichen Praxis. Den ethischen Wert spricht er beiden ab. Die Moral kann nicht auf Religion aufgebaut werden. Was sittlich gut ist, wissen wir. W a s die Gottheit ist, wissen wir nicht. Eher ist der entgegengesetzte Weg gangbar: daß unser sittliches Bewußtsein die Grundlage für die Herausbildung des Gottesbegriffs abgibt. Sittliches Bewußtsein ist eine natürliche Anlage im Menschen, in jedem Einzelnen in gleicher Ursprünglichkeit vorhanden. Sh. erkennt, daß in der angeborenen Fähigkeit zu sittlicher Billigung und Mißbilligung eine Art von Bewertungsvermögen liegt. Seinen Grundbegriff der Harmonie, die das Seelenleben des Einzelnen und das Zusammenleben der Individuen in der Gesellschaft beherrschen soll, wendet Sh. auch auf Welt und Natur an. Die Welt ist nicht ein vom Verstand entwickeltes System, man kann sie nicht durch Aufbau aus ihren kleinsten Elementen begreifen. Am tiefsten und sinnentsprechendsten wird sie in künstlerischer Betrachtung erfaßt. Der Mensch, der sich um Weltverständnis bemüht, ist denkend, fühlend und wollend zugleich. Seine Selbstbesinnung bildet einen Schutzwall gegen jeden Zweifel. Vor der Realität der inneren Erfahrungen muß der Skeptizismus haltmachen; er kann sie nur bestreiten, indem er sie voraussetzt. Aber nicht nur unser Innenleben, sondern auch die Natur und die Wissenschaft von ihr liefert uns den Beweis für die Harmonie, den Einklang, die Ausgeglichenheit in allen Dingen. E s herrscht Gesetzmäßigkeit in der Natur. „Wunder", die die gesetzte Ordnung durchbrechen, gibt es nicht. Alle Teile sind zusammengefaßt in der Einheit des Alls, die unsern Glauben an ein göttliches Wesen nährt. W e r es nur durch „Wunder" bestätigt sieht, beruft sich auf die Unordnung in der Welt, um ihren göttlichen Ursprung zu erweisen. Der göttliche Geist ist der Quell der Ordnung und Gesetzmäßigkeit in der Natur, er ist der Quell der Harmonie in der Welt und ihrer unendlichen Schönheit. Der Genuß eines einzelnen Schönen in der Welt, eines schönen Antlitzes, einer schönen Gestalt, reicht nicht hin, „um eine strebende Seele zu befriedigen. Sie sucht mehr Schönheiten zusammenzufassen, und durch eine wie immer geartete Verbindung von ihnen eine schöne Gesellschaft (beautiful society) zu bilden. Sie betrachtet Gemeinschaften, Freundschaften, Verbindungen, Pflichten, und erwägt, durch welche Harmonie einzelner Geister die allgemeine Harmonie gebildet und das Gemeinwohl (commonweal) begründet wird. Und auch mit dem allgemeinen Wohlergehen (public good) in einer Gemeinschaft von Menschen nicht zufrieden, gestaltet sie sich ein edleres Objekt und sucht mit umfassenderer Hinneigung das Gute der Menschheit. Sie wohnt mit Freuden mitten unter jener Vernunft und jenen Ordnungen, auf denen dieser schöne Einklang und dieses angenehme Wohlgefallen beruht. Gesetze, Verfassungen, bürgerliche (staatliche) und religiöse Riten, was immer die primitive Menschheit zivilisiert oder abschleift; die Wissenschaften und Künste, Philosophie, Moral, Tugend; der gedeihliche Zustand der menschlichen Angelegenheiten und die Vervollkommnung der menschlichen Natur; dies sind ihre erfreulichen Betrachtungsgegenstände, und dies ist der Reiz der Schönheit, von der sie angezogen wird. Noch glühend in diesem Bemühen (so groß ist ihre Liebe zur Ordnung und Vollkommenheit), ruht sie dennoch hier nicht aus, und gibt sich nicht zufrieden mit der Schönheit eines Teils, sondern . . . sucht das Gute von allem . . . Getreu dem Lande ihrer Herkunft und ihrer höheren Heimat sucht sie hier Ordnung und Vollkommenheit, das Beste wünschend und noch voller Hoffnung, eine gerechte und weise Verwaltung zu finden. Und da alle Hoffnung darauf eitel und vergeblich wäre, wenn nicht ein universaler Geist (universal mind) regierte, weil ohne eine solche höchste Intelligenz und vorausschauende Sorge das zerstreute Universum zum Erleiden unendlichen Unglücks verurteilt wäre, so ist
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Shaftesbury
es hier, wo der edle Geist sich bemüht, die Ursache jener Heilkraft zu entdecken, durch die das Interesse des Ganzen gesichert ist, die Schönheit der Dinge und die Ordnung des Universums glücklich gestützt wird." (The Moralists, Tl. I, Abs. 3.) S. ist sich wohl bewußt, daß das Hauptargument gegen seine Deutung der Welt aus ihrer Güte, Schönheit und Vollkommenheit der Hinweis auf die Übel, das Böse, Häßliche und Unvollkommene in Mensch, Welt und Natur bleibt. Doch läßt er sich in seinem Glauben dadurch nicht beirren, so wenig wie später Leibniz in seiner Zuversicht, daß die bestehende Welt die beste aller möglichen ist. „Vieles wird geltend gemacht, um zu zeigen, warum die Natur irrt, und wie sie so ohnmächtig und irrtumsvoll aus einer niemals irrenden Hand hervorging. Aber ich streite ab, daß sie sich irrt; und wenn sie in ihren Hervorbringungen höchst unwissend und verkehrt erscheint, so behaupte ich, daß sie gerade darin so weise und weitschauend ist wie in ihren besten Werken. Denn nicht dann sollen sich die Menschen beklagen über die Ordnung der Welt, oder entsetzt sein über das Aussehen der Dinge, wenn sie verschiedene Interessen vermischt oder einander in die Quere kommen sehen, Naturen abgestuft nach verschiedenen Arten, die zueinander in Gegensatz stehen, wobei in ihren verschiedenen Tätigkeiten die höheren den niederen unterworfen sind, Im Gegenteil: gerade wegen dieser Ordnung von niederen und höheren Dingen bewundern wir die Schönheit der Welt, die sich so auf Gegensätzlichkeiten gründet, während aus so verschieden-artigen und auseinanderstrebenden Prinzipien ein allgemeiner Einklang (universal concord) entsteht. So ist in den verschiedenen Ordnungen irdischer Formen ein Verzicht erforderlich, ein Opfer und gegenseitiges Nachgeben der Naturen" (a.a.O.). Daß eine Kreatur die andere verzehrt, daß Lebewesen vernichtet und nicht gerettet werden, spricht nicht gegen, sondern für die Gesetzmäßigkeit in der Welt. Denn die Gesetze können sich nicht einem Niedrigerstehenden unterwerfen. „Die Zentralkräfte, welche die beharrenden Welten in ihrem richtigen Gleichgewicht und in ihrer richtigen Bewegung halten, dürfen nicht beansprucht werden, um ein wandelbares Wesen zu bewahren und ein winziges Tierchen vor dem Abgrund zu retten, dessen zerbrechliche Gestalt sich ohnehin so bald auflösen muß, und mag man sie noch so sehr beschützen". So dürfen wir uns nicht wundern, wenn Erdbeben, Stürme, Seuchen, Flutwellen einzelne Lebewesen oder ganze Gattungen schädigen und zerstören. Wir dürfen uns auch nicht wundern, wenn Seele und Gemüt mitleiden unter solchen Vernichtungen, durch ihr Gebundensein an einen gebrechlichen Leib. „Hier ist die Lösung, die wir brauchen; und darauf gehen die scheinbaren Mängel zurück, die man der Natur zur Last legt. In alledem liegt nichts, was nicht natürlich und gut wäre. Das Gute hat die Oberherrschaft; und jede vergängliche und sterbliche Natur räumt durch ihre Sterblichkeit und Vergänglichkeit einem Besseren den Platz, und alles gemeinsam weicht vor jener besten und höchsten Natur, die unvergänglich und unsterblich ist." Gott ist eine Art Weltgeist, und jede menschliche Seele bildet einen Teil davon. So gewinnt Sh.s Gottesvorstellung pantheistische Züge. Das mechanische Geschehen ist nur eine Seite des Naturganzen (gegen Hobbes). Als lebendiges Glied des Universums teilzuhaben an Einheit und Harmonie der Welt ist des Menschen Ziel. Er erreicht es, wenn er seine Kräfte zum Guten und Schönen als freie Persönlichkeit entfaltet, die in Freundschaft, Sympathie und natürlichem Wohlwollen mit andern Menschen in Gemeinschaft lebt. S c h r i f t e n : Characteristics of men, manners, opinions, times, 3 Bde., London 1711; Ausg. von Hatch, 3 Bde., 1869; dt., 3 Bde., Lpz. 1776; darin in Bd. II: Inquiry concerning virtue and merit, 1699; in 2 Bden. hrsg. v. J . M, Robertson, London 1900; zuerst bearbeitet von Diderot; dt. 1780. — Several letters, written by a noble Lord to a young man at the
Shakespeare — Shand
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university, L. 1716. — T h e moralists, übers, v. Karl Wolff, 1910. — Ein Brief ü b e r den Enthusiasmus. Die Moralisten, dt. mit Einleitung von M a x Frischeisen-Köhler, Phil. Bibl., Bd. 111, 1909. — Untersuchung ü b e r die Tugend, dt. v. P. Ziertmann, Phil. Bibl., Bd. 110, 1906. L i t e r a t u r : Spicker, Die Philosophie des G r a f e n von Sh., 1872. — Gizycki, Georg von, Die Philos. Sh.s, 1876. — Fowler, Sh. and Hutcheson, 1882. — B. Rand, T h e life, unpublished letters and philosophical regimen of Sh., 1900. — J . J . Martin, Sh.s u. Hutchesons Verhältnis zu Hume, Diss., Halle 1905. — O. F. Walzel, Sh. u. das deutsche Geistesl e b e n des 18. Jhs., in: Germ.-roman. M o n a t h e f t e , 1909, S. 416—437. — Weiser, Christian Friedrich, Sh. u. das deutsche Geistesleben, 1916. — Stürmer, Leo, D e r Begriff „moral s e n s e " in der Philos, Sh.s, Diss., Königsberg 1928. — Stettner, Leo, Das philos. System Sh.s u. Wielands Agathon, Halle 1929. — Neuburger, Adalbert, Legalität u. Moralität, mit bes. Berücks. von Kant u. Sh., Diss., Tübingen 1931. — Meinecke, Friedrich, Sh. u. die Wurzeln des Historismus, 1934. — Osske, Ita, Ganzheit, Unendlichkeit u. Form. Studien zu Sh.s Naturbegriff, 1939. — Portmann, Paul Ferdinand, Die deutschen Übersetzungen von Sh.s Soliloquy, Diss., Freiburg 1942. — Kern, Irmgard, Sh.s Bild vom Menschen, Diss., Frankf. a. M„ 1943. S h a k e s p e a r e , W i l l i a m , geb. 23. A p r i l 1564 in S t r a t f o r d - o n - A v o n , gest, 23. A p r i l 1616 ebda. 1585 n a c h L o n d o n . — U m d i e M i t t e des 19, J a h r h u n d e r t s e n t s t a n d e n , v o r a l l e m in N o r d a m e r i k a , Z w e i f e l darüber, ob der e n g l i s c h e D i c h t e r Sh. t a t s ä c h lich der V e r f a s s e r der unter s e i n e m N a m e n ü b e r l i e f e r t e n D r a m e n sei. E s w u r d e d i e T h e o r i e v o n der V e r f a s s e r s c h a f t des P h i l o s o p h e n F r a n c i s B a c o n g e b i l d e t u n d auf d e s s e n t i e f e K e n n t n i s der m e n s c h l i c h e n N a t u r u n d des m e n s c h l i c h e n Charakters gestützt. Zur B e g r ü n d u n g der V e r m u t u n g ist e b e n s o v i e l beigebracht w o r d e n w i e zu ihrer W i d e r l e g u n g . S o taucht sie v o n Zeit zu Zeit w i e d e r auf mit n e u e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n A r g u m e n t e n u n d g e w i n n t j e d e s m a l ernste Verteidiger. S c h r i f t e n : W e r k e , Ausg. v. Chalmers, 9 Bde., London 1805; v. Boswell, 21 Bde., 1821; v. Ch. Knight, 8 Bde., 1838—43; v. Clark u. Wright, 9 Bde., 1863 bis 1866; Globe edition, 1864; dt. v. Wieland, 8 Bde., 1762—66; v. A. W . Schlegel, 9 Bde., Bln. 1797—1810; v. L. Tieck, 9 Bde., 1825—34; v. Friedr. Bodenstedt, 38 Bdchen., Lpz. 1867—71; 5. A„ 9 Bde., 1890; v. Gundolf. — Sonnets, hrsg. v, Dowden, London 1881. L i t e r a t u r : Alois Brandl, Sh., 1894, — Wyman, Bibliography of the Bacon-Sh. controversy, Cincinnati 1884, — N. Holmes, Authorship of Sh., N. Y. 1866 (für Bacon). — A p p l e ton Morgan, The S h a k e s p e a r e a n myth, Cincinnati 1881; dt. v, Müller-Mylius, Lpz. 1885. — Wigston, Bacon, Sh. and the rosicrucians, London 1888. — E, Bormann, Das Sh.-Geheimnis, 1894; Der A n e k d o t e n s c h a t z Bacon-Sh.s, 1895. — C, Stopes, T h e Bacon-Sh, question answered, 1889 (gegen Bacon). — J . Schipper, Zur Kritik der Sh.-Bacon-Frage, Wien 1889 — R. Wülker, Die Sh.-Bacon-Theorie, in: Berichte der kgl. sächs, Ges. der Wiss., 1889, und in: Anglia, 1894, Beiblatt Nr, 3, — Kuno Fischer, Sh. u. die Bacon-Mythen, 1895. — Georg Seibel, Bacon versus Sh., Pittsburg 1919. — George Connes, T h e Sh. mystery, 1927. — Sir E. K. Chambers, W . Sh., a study of facts and problems, 2 Bde., Oxford 1930, S h a l e r , N a t h a n i e l S o u t h g a t e , lebte 1841 bis 1906. P r o f . für P a l ä o n t o l o g i e a n der H a r v a r d - U n i v e r s i t ä t , C a m b r i d g e bei B o s t o n (U.S.A). S c h r i f t e n : T h e interpretation of nature, N. Y, 1893. — T h e individual, a study of life and death, 1901. S h a n d , A l e x a n d e r Faulkner, lebte 1858 bis 1936 in E n g l a n d . — Sh. bestreitet die Lehre M a c D o u g a l l s , w o n a c h die m e n s c h l i c h e n A f f e k t e Z e i c h e n der Instinkte sind, d i e u n s e r L e b e n durchsetzen. Er b e h a u p t e t im G e g e n s a t z dazu, daß A f f e k t e u m f a s s e n d e r s i n d a l s Instinkte u n d d i e s e ihren Z w e c k e n dienstbar machen, S c h r i f t e n : The Foundations of character. A study of the tendencies of the emotions and sentiments, London 1914; 2. verm. A. 1920. L i t e r a t u r : W. R, Boyce Gibson, Shand's Foundations of char., in: Mind, N. S. XXV, 1916. — A. F. Shand, 1858—1936, from the Proceedings of the British Academy, Vol. XXII, L. 1938.
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Shankara — Shelley
Shankara, geb. ca. 788 n. Chr. in Malabar. Begründer der Hindu-Theologie, Shaw, George Bernard, geb. 26. Juli 1856 in Dublin. Englischer Schriftsteller. S c h r i f t e n : Dramatische W e r k e , deutsch, Berlin 1919 ff. — Essays, deutsch, Berlin 1926. — Quintessence of Ibsenism, 1891, 3. Aufl. 1922, — T h e intelligent womans guide to socialism and capitalism, 1928, deutsch 1928. L i t e r a t u r : Castrén, Gunnar, G. B. Sh., Helsingfors 1906, — Bab, Julius, B. Sh., 1910, 2. Aufl. 1926. — Cestre, Charles, B. Sh. et son oeuvre, 1912. — Burton, Richard, B. Sh., t h e man and the mask, N. Y. 1916. — Nicolaysen, Lorenz, B. Sh. Eine philosophische Studie, München 1923, in: Philos. Reihe, Bd. 67. — Chesterton, Gilbert K., G. B. Sh., 1910, übers, v. Meitner u, Goldscheider, Wien 1925. — Henderson, Archibald, Tischgespräche mit G. B. Sh., deutsch Berlin 1926; B. Sh, Playboy and prophet, New York u. London, 1932. — Braybrooke, Patrick, T h e genius of B. Sh., London 1925; T h e subtlety of G. B. Sh., e b e n d a 1930. — Broad, C. L. u. V. M., Dictionary to the plays and novels of B. Sh. (m. Bibliogr.), London 1929. — J . S. Collis, Sh., London 1926. — Heuser, Hilde, Die Eigenart des Sozialismus Sh.s, F r a n k f u r t 1934. — Schreiner, Eitelfritz, G. B. Sh., Nationalsozialist?, Berlin 1934. — Lehmann, Wilhelm, G. B. Sh.s Verhältnis zu Romantik und Idealismus, Diss., Bonn 1935. — F r a n k Harris, B. Sh., Hamburg 1932, Albatroß Bd, 36. — G e r h a r d Kutzsch, Der Fall ,,Candida", Leipzig 1941. — Paul Lengnick, Ehe und Familie bei B. Sh., Diss., Königsberg 1933, — Rolf Lorenz, B. Sh.s Auseinandersetzung mit der Tragik des Daseins, Diss,, Marburg 1937. — Edith Sörensen, G. B. Sh.s Puritanismus, Diss., Hamburg 1941. — Markus Timmler, Die Anschauung Sh.s ü b e r die Aufgaben des Theaters, Breslau 1936. — R u t h Ehrmann, G. B. Sh. und der viktorianische Sozialismus, Diss., Basel 1937. — H. Pearson, G. B. Sh., London 1942. — G. B. Sh. 90, Aspects of B. Sh., hg. v. S. Winsten, London 1946.
Shedd, William Grunoys Thayer, lebte 1820 bis 1894. Prof. für englische Literatur, später für systematische Theologie an der Universität Vermont, U.S.A. S c h r i f t e n : A history of Christian doctrine, 2 Bde., N. Y. 1863. — T h e Christian element in Plato and the platonic philosophy, 1860. — Dogmatic theology, 3 Bde., N. Y. 1894.
Shelley, Percy Bysshe, geb. 4. August 1792 in Fieldplace (Sussex), gest. 8. Juli 1822 auf einer Seefahrt bei Viareggio (Italien). Besuch der Eton-Schule, wo Sh, bereits durch Äußerungen über Religion Ärgernis erregte. 1808 Studium in Oxford. 1811 relegiert wegen atheistischer Veröffentlichungen. Geht nach London. Reisen nach Irland und der Schweiz; dort Bekanntschaft mit Byron. 1818 Übersiedlung nach Italien. Der englische Dichter Sh. setzt sich in seiner Jugend ein für ein idealistisches Weltbild, das die völlige Umwandlung der bestehenden Verhältnisse, notfalls ihre Zerstörung, und die Abschaffung der überlieferten Religion zur Voraussetzung hat. Durch Vertiefung in Plato und seine Ideenwelt erfahren Sh.s philosophische Gedanken eine tiefgehende Umgestaltung. Der Glaube an einen Universalgeist, de£ die Welt durchwaltet, und mit dem der einzelne Menschengeist durch das Band der Schönheit verknüpft ist, setzt sich bei ihm durch. In seinen Pantheismus ist die Natur einbezogen. Durch seine pantheistische Grundstimmung, seinen Naturbegriff und sein Schönheitsideal wirkt Sh., den man der romantischen Richtung zuzurechnen pflegt, stark auf die deutsche Romantik ein. S c h r i f t e n : T h e necessity of atheism, 1811. — An Address to the Irish people, 1812. — A letter to Lord Ellenborough, 1812. — Queen Mab, 1813; dt. 1887. — A refutation of deism, 1814. — Alastor, or the spirit of solitude, 1816. — Hymn to intellectual beauty, 1816. — T h e revolt of Islam, 1818. — P r o m e t h e u s unbound, 1818; hrsg. v. R. Ackermann. 1908; dt. v. Helene Richter, 1887. — T h e Cenci, 1820; dt. 1837. — Defense of poetry, 1821. — Epipsychidion, 1821. — Hellas, 1822. — M a s q u e of anarchy, 1832. — Prose works, hrsg. v. R. H. Shepherd, 2 Bde., 1888. — Complete works, hrsg. v. R. Ingpen u. W. E. Peck, mit Briefen, 10 Bde., 1926/27; dt. v. Jul. Seybt, 1844; v. A. Strodtmann, 1886. — Übersetzer von Piatos Symposion und Goethes Faust, 1819—1822.
529 L i t e r a t u r : E d w a r d Dowden, T h e life of P. B. Sh., 2 Bde., 1886, — J . A. Symonds, Sh„ 1878; 2. A. 1887. — J . C. Jeaffreson, The real Sh., 2 Bde., 1885. — Brandes, Sh. u. Byron, 1893. — Helene Richter, P. B. Sh., 1898. — R. A c k e r m a n n , P. B. Sh., 1906. — A. Droop, Die Belesenheit Sh.s, Diss., J e n a 1906. •— D. J . Macdonald, The radicalism of Sh. and its sources, Washington 1912. — H. N. Brailsford, Sh., Godwin and their circle, London 1913. — Th, Spira, Sh.s geistesgeschichtl. Bedeutung, 1923. — S. Liptzin, Sh. in Germany, 1924. — O. W. Campbell, Sh. and the Unromantics, N. Y, 1924. — E. Carpenter and G. Bornefeld, Psychology of the p o e t Sh., N. Y. 1925. — C. Brinton, The political ideas of the English Romanticists, London 1926. •—• W. E. Peck, Sh., his life and work, London 1927. — A. Maurois, Ariel ou la vie de Sh., 1923; dt. 1928. — C. A. Grabow, Sh,, a Newton among poets, Chapel Hill 1930. — Heinr. Pothmann, Das Vater-Sohn-Problem bei Sh., Diss., Bonn 1932. •—• Hans Liedtke, Sh. — durch Berkeley und Drummond beeinflußt?, Diss,, Greifswald 1933. — J . C. Clarke, Sh. and Brown, L. 1934. — Hans Meyer, Rousseau und Sh., ein typologischer Vergleich, Diss., Halle 1934. — Ludwig Hörr, Aufklärerische u. romantische Züge im W e r k e P. B. Sh.s, Diss., Gießen 1935. — Heinz Brandt, Das p r o testierende Element in der Dichtung Sh.s, 1934. — Wilhelm Ebbinghaus, Das ästhetische Einheits- u. Vollkommenheitsproblem bei Sh., Diss., Marburg 1931. — Ernst Happel, Das Verhältnis von Wirklichkeit u. Kunst im W e r k e Sh.s, Diss., Marburg 1937. — Else O'Sullivan-Röhling, Sh. u. die bildende Kunst, Halle 1928.
Shorey, Paul, geb. 3. August 1857 in Davenport (Iowa), gest. 24. April 1934. Studium an der Harvard-Universität, 1881—82 in Leipzig und Bonn, 1882—83 in Athen, 1884 in München. 1885—92 Prof. für Griechisch in Bryn Mawr. 1896 in Chicago. 1913—14 Roosevelt-Professor in Berlin. — Der klassische Philologe Sh. widmete sich der Plato-Forschung. S c h r i f t e n : De Piatonis idearum doctrina, 1884, •—• T h e idea of good in Plato's Republic, 1895. — T h e Odes and Epodes of Horace, 1898. — The unity of Plato's thought, 1903. — T h e assault on humanism, 1917.
Shute, Richard, lebte 1849 bis 1886. Prof. der Logik in Bombay. Der Logiker Sh. ist Relativist und Skeptiker. Er erkennt weder die UnveränderIichkeit der Wahrheit noch die Denknotwendigkeit von Sätzen an. Mills Theorie der logischen Bedeutung des Syllogismus und sein Gesetz von der Gleichförmigkeit der Natur lehnt er ab. S c h r i f t e n : A Discourse on truth, 1877; dt, 1883. L i t e r a t u r : K, Uphues, Grundlehren der Logik nach Richard Sh.s Discourse on truth, 1883.
Shyreswood, Wilhelm, gest. 1249 in Lincoln. Sh. stammte aus Durham. Studium in Oxford. Lehrer in Paris, wo Petrus Hispanus zu seinen Schülern zählte. Kanzler in Lincoln. — Sh, war Verfasser eines Handbuchs der Logik und gewann durch Petrus Hispanus Einfluß auf ihre Weiterentwicklung. S c h r i f t e n : Logische Schrift, noch ungedruckt; auszugsweise bei Prantl, Gesch. der Logik, Bd. III, S. 11—24.
Sibbern, Frederik Christian, geb. 18. Juli 1785 in Kopenhagen, gest, 16. Dezember 1872 ebendort, Von 1813 an Prof. der Philosophie in Kopenhagen. Lehrer Sören Kierkegaards. — Als Anhänger von Steffens und Schelling neigt S. zuerst zur Romantik, löst sich dann aber von ihr und ihren Konstruktionen und berücksichtigt die empirischen Wissenschaften und ihre Ergebnisse. Unter dem Einfluß des Norwegers Treschow, dessen Individualismus durch S. auf Kierkegaard weiterwirkt, widmet er sich der Ausbildung einer pluralistischen Entwicklungslehre. S. ist überzeugter Christ. Die Wahrheit des Christentums gilt ihm als das einzige, was die Rätsel des Daseins lösen und eine umfassende Lebensanschauung schaffen kann. Ein tiefes soziales Verständnis läßt S. weitschauende Blicke in die Zukunft tun. S. ist erklärter Gegner von Hegels System. Philosophen-Lexikon
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Siciliani — Sidgwick
S c h r i f t e n : Menneskets aandelige natur og vaesens, 2 Bde., Kopenhagen 1819—1828. — Logikens elementer, 1822. —• Psykisk Pathologi, Kop. 1828. — Bemerkninger og undersoegelser fornemmelig betraeffende Hegels phiiosophi, 1838. — Speculat. kosmologi, Kop. 1846. — Om forholdet i mellem sjael og legeme, Kop. 1849. — M e d d e l e l s e r af indholdet af et skrift fra aaret 2135, 3 Hefte, 1858—72. — Dt.: Uber den Begriff, die Natur u. das Wesen der Philosophie, 1843. L i t e r a t u r : Harald Höffding, Die Philosophie in Dänemark im 19. Jdht., in: Archiv f. Gesch. der Philosophie, 1899; Danske filosofer, Kop. 1909.
Siciliani, Pietro, lebte 1835 bis 1886. Prof. in Bologna, Italienischer Positivist, auch in der Pädagogik. S c h r i f t e n : Della statistica e del metodo numerico, 1861. — Della lege storica e del movimento filosofico e politico del pensiero italiano, 1862. — Gli Hegeliani in Italia, Bologna 1868. — Il rinnovamento della filosofia positiva italiana, 1871. — Socialismo, darwinismo, e sociologia moderna, 1879, — La nuova biologia, 1885.
Sidgwick, Alfred, geb. 1850 in Skipton (Yorkshire). Lebte als Privatgelehrter in Villansagia (Cornwall). — Der englische Philosoph S. ist Kritiker der formalen Logik. Man kann die Wahrheit eines Satzes nur an seinen Konsequenzen erkennen. Erst in der Anwendung wird die Bedeutung eines Satzes wie die Geltung eines Gesetzes klar. An der Verschiedenheit ihrer Anwendungsmöglichkeiten erweist sich die Mehrdeutigkeit von Sätzen. S c h r i f t e n : Fallacies, a view of logie, London 1883, — Distinction and criticism of beliefs, 1892. — The process of argument, 1893. — The use of words in reasoning, 1901. — The application of logie, 1910. — Elementary logie, 1914. — Zahlreiche Aufsätze im Mind,
Sidgwick, Henry, geb. 31. Mai 1838 in Skipton (Yorkshire), gest. 28. August 1900 in Cambridge. Studium in Cambridge. 1859—1869 Lecturer für klassische Wissenschaften am Trinity College, von 1869 ab für Moral- und politische Philosophie. 1883 Professor. Mitbegründer der Society für Psychical Research und ihr erster Präsident. Der englische Moralphilosoph S. bezeichnet sich als „Utilitarier auf intuitionaler Grundlage". Seine Untersuchung der „Methoden der Ethik" führt ihn aüf drei Grundformen: Utilitarismus oder universalistischer Hedonismus, wenn das Glück der Allgemeinheit erstrebt wird; Egoismus — oder egoistischer Hedonismus oder Epikureismus — mit der eigenen Glückseligkeit als Endziel des sittlichen Handelns; Intuitionismus, bei dem individuelle oder universelle Vollkommenheit das ethische Ziel bildet. Hatten seine Vorbilder Bentham und Mill den Intuitionismus zugunsten des Utilitarismus bekämpft, so unternimmt S. eine Versöhnung dieser beiden ethischen Verhaltensweisen. Der Intuitionismus geht von der Überzeugung aus, daß uns intuitiv gewiß ist, was sittlich gut sei. In seiner philosophischen Form (er besitzt außerdem eine perzeptionale und eine dogmatische) nimmt er abstrakte Moralprinzipien, als intuitiv gewisse Sätze von absoluter Klarheit und Sicherheit, an. Wird „die Forderung nach wirklich selbstverständlichen ersten Prinzipien stärker geltend gemacht", so geht der Intuitionismus in Utilitarismus über. Aufgabe des Moralphilosophen ist es, diese ersten Prinzipien aufzufinden, deren Befolgung sittliches Handeln gewährleistet. Nach S. sind es die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Klugheit und des Wohlwollens. An Kants kategorischem Imperativ übt S. Kritik, aus dem Glauben heraus, daß des Menschen eigene Glückseligkeit eine offenbare Verpflichtung für ihn ist. Auch Kants Begründung der Sittlichkeit auf Freiheit läßt er nicht ohne weiteres gelten. In der Erkenntnistheorie ist S. Relativist. Vom Christentum als Religion rückt er ab, doch gilt es ihm als „unentbehrlich und unersetzlich, wenn man es vom soziologischen Standpunkt betrachtet". S. hat seine Forschungsarbeit allen Gebieten der
Sidonius Apollinaris — Siebeck
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praktischen Philosophie zugewendet: der politischen, sozialen, pädagogischen, neben seinem ethischen Hauptarbeitsfeld. Mit allem Nachdruck setzte er sich für Frauenbildung und -erziehung ein. Schließlich wandte er der psychischen Forschung reges Interesse zu und organisierte ihre Arbeit durch Schaffung der „Society for Psychical Research". S c h r i f t e n : Methods of ethics, London 1874; 7. A. 1907; dt., 2 Bde., 1909. — History of ethics, 1879; 4. A. 1896. — Principles of political economy, 1883; 3. A. 1901. — Scope and method of economic science, 1885. — Outlines of the history of ethics, 1886; 5. A. 1902. — Elements of politics, 1891; 2. A. 1897. — Practical ethics, 1898. — Philosophy, its scope and relations, hrsg. v. J . Ward, 1902. — Lectures on the ethics of T. H. Green, Herbert Spencer, and J, Martineau, posthum, 1902. — The development of European polity, hrsg. v. E. M. Sidgwick, 1903. — Miscellaneous essays and addresses, hrsg. v. E. u. A. Sidgwick, 1904. — The philosophy of Kant and other lectures and essays, hrsg. v. J . Ward, 1905. — Aufsätze im Mind (s. Überweg, Bd. V, S. 102). L i t e r a t u r : R. Magill, Der rationale Utilitarismus S.s, Diss,, Jena 1899. — E, Winter, S.s Moralphilosophie, Diss., Göttingen 1905. — A, Sidgwick u. E. M. Sidgwick, Henry S., London 1906. — A, G. Sinclair, Der Utilitarismus bei S. und Spencer, 1907. — Emil Mattiesen, Das persönliche Überleben des Todes. Eine Darstellung der Erfahrungsbeweise, Bd. II, 1936, S. 221 ff. — Karl Schmitt-Wendel, Kants Einfluß auf die englische Ethik, 1912, S. 54 £f. i
Sidonius Apollinaris, eigentlich Cajus Sollius Modestus Apollinaris S,, geb. um 430 in Lyon, gest. um 480 dort. Sorgfältige Ausbildung. Disputationsübungen unter Mamertus Claudianus. 456 Romreise mit seinem Schwiegervater, dem Kaiser Avitus, Um 470 Bischof von Clermont. In politische Kämpfe zwischen Römern und Goten verwickelt. — Der gallische Rhetor S. A. spiegelt in seinen Schriften, vor allem in zahlreichen, großenteils überlieferten Briefen die Endzeit des antiken Kultur- und Geisteslebens, seinen Übergang ins Christentum und seinen Kampf gegen das aufkommende Germanentum wider, S c h r i f t e n : Migne, Patrologia Latina, Bd. 58. —• Oeuvres, hrsg. von E . Baret, Paris 1879. — Epistolae et Carmina, hrsg. von Lütjohann, in: Monumenta germ. hist., Auetores antiquissimi, Bd. 8, 1887 (147 Briefe in 9 Büchern und 24 Gedichte); Vorrede u. Indices von Mommsen. — Ausg. v. Paul Mohr, 1895. L i t e r a t u r : Georg Kaufmann, Die W e r k e des C. S, A. S. als eine Quelle für die Gesch. seiner Zeit, Diss., Göttingen 1864. — Choix, St. Sidoine A., 1866. — Arnold, Art. S. A., in: Realenzykl. f. prot. Theol. u. Kirche, Bd. 18 (1906), S. 302 ff. — Klotz, Art. S. A „ in: Pauly-Wissowa, Realenc. der klass, Altertumswiss., 2. Reihe, Bd. 2, 1923.
Siebeck, Hermann, geb. 25, September 1842 in Eisleben, gest. 22. Februar 1920 in Gießen, 1860—62 Studium der Philologie und Philosophie in Leipzig und Berlin, Tätigkeit als Oberlehrer. 1872 Habilitation für Philosophie in Halle. 1875 als o. Prof. nach Basel, 1883 nach Gießen. S, hat seine Förscherarbeit der antiken Philosophie, der Geschichte der Psychologie, der Ästhetik und der Religionsphilosophie gewidmet. Das Rüstzeug dazu brachte er von seinen klassischen Studien und aus der Unterweisung durch den Herbartschüler Drobisch und den Aristotelesforscher Adolf Trendelenburg mit, Seine Erstlingsarbeit galt einem Vergleich der aristotelischen mit der herbartianischen Psychologie. Es folgte eine Untersuchung der Ideenlehre in Piatos Philebos, eine weitere des Begriffs der Materie bei Plato, eine Erörterung von des Sokrates Verhältnis zur Sophistik, eine Abhandlung über den Zusammenhang der stoischen mit der aristotelischen Naturphilosophie, Auch der Chronologie der platonischen Dialoge und der Ewigkeit der Welt nach aristotelischer Lehre forschte er nach. Die Ergebnisse dieser Arbeiten gingen in eine Aristoteles-Monographie ein. Von der „Geschichte der Psychologie" ist nur der erste Band in zwei Teilen beendet, Darin wird die Psychologie vor Aristoteles und die Psychologie von Aristo34*
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Siebeck
teles bis Thomas von Aquino behandelt. Für die mittelalterliche Psychologie liegen einzelne Aufsätze vor, zur Psychologie der Scholastik und zur Willenslehre des Duns Scotus, Von psychologischer Grundlage aus fand S. Zugang zur Ästhetik, die ihm Förderung verdankt. In seiner Schrift „Das Wesen der ästhetischen Anschauung" will er eine „Physiologie der Phantasie" geben, gestützt auf Herbart und Steinthal und ihre Lehre von der Apperzeption. Die schöne Erscheinung betrachtet er als „das in sinnlicher Darstellung gegebene Analogon der in sich selbst ruhenden erscheinenden Persönlichkeit, die keinen anderen Zweck hat außer demjenigen als solche da zu sein". Die ästhetische Anschauung kommt zustande, indem wir zu den äußeren Eindrücken den Inhalt unseres persönlichen Lebens hinzubringen. S. spricht von einer „Persönlichkeits-Apperzeption". Der ästhetische Gegenstand in Natur und Kunst wird als Ausdruck einer Persönlichkeit gedeutet, die Wellenbewegung des Meeres z. B. als Spiel lebendiger persönlicher Kräfte. Mit seiner Auffassung, daß in der ästhetischen Anschauung Seelisches zu sinnlichem Ausdruck gelangt, Sinnliches den Eindruck einer erscheinenden Persönlichkeit erweckt, kommt S. der Einfühlungstheorie nahe. Als Anwendungsgebiet seiner ästhetischen Lehren wählt S. in mehreren Arbeiten die Musik. Auch der erste Teil des „Lehrbuchs der Religionsphilosophie" mit seiner Untersuchung über Wesen und Entwicklung des religiösen Bewußtseins ruht auf S.s psychologie-geschichtlicher Forschungsarbeit. Der zweite Teil erörtert die Wahrheit der Religion. Religion ist „die Verstandes- und gefühlsmäßige praktisch wirksame Überzeugung von dem Dasein Gottes und des Überweltlichen und in Verbindung hiermit von der Möglichkeit einer Erlösung", Religionsphilosophie nennt S. „die Anwendung der Philosophie als der Wissenschaft von dem Wesen und der Betätigung des geistigen Lebens auf die Tatsache der Religion als einer bestimmt unterschiedenen Ausgestaltung desselben". Um festzustellen, „ob die Religion einem wirklichen im Wesen und der Betätigung des Geistes gelegenen Bedürfnisse entspricht", geht S. aus von der Religion als einer „Tatsache des menschlichen Gemeinschaftslebens im ganzen und allgemeinen". Der geschichtliche Entwicklungsgang führt von der Stufe einer Naturreligion zur Moralitäts- und schließlich zur Erlösungsreligion. Die subjektiven und objektiven Ausgestaltungen des religiösen Bewußtseins unterwirft S. einer Betrachtung, „welche phänomenologischen Charakter besitzt, d. h. noch abgesehen von der Frage nach der Wahrheit der diesem Bewußtsein gegenständlichen Inhalte die im erfahrungsmäßigen Wesen des Geistes liegenden Faktoren und Motive aufzeigt, welche teils direkt (von innen her), teils indirekt (auf Beeinflussung von außen) als Religion erzeugend und den Stufengang derselben bedingend angesehen werden müssen". Bei Behandlung der Wahrheit der Religion stellt S. Berührungspunkte und Unterschiede von Religion und Metaphysik klar. Verbunden durch die Annahme eines Überweltlichen, das über den Bereich der Erfahrung hinausgeht, trennen sie sich doch im Ziel. Metaphysik will den Grund der Dinge und ihren Zusammenhang als etwas Unpersönliches erkennen, sie kommt auf einen Geist, welcher der Welt immanent ist, aber nicht als Persönlichkeit gedacht werden muß. Die Religion aber, der Glaube, geht „auf das Bewußtsein eines persönlichen Verhältnisses des Menschen zum göttlichen Grunde der Dinge"; sie setzt und sucht ein persönliches Höchstes und Absolutes jenseits des empirischen Zusammenhangs. Auch hier wie in seinen ethischen Ansätzen tritt der Begriff der Persönlichkeit bei S. in den Vordergrund. S c h r i f t e n : Aristotelis et Herbarti doctrinae psychologicae quibus rebus inter se congruant, 1872. — De doctrina idearum qualis est in Piatonis Philebo, 1872. — Unter-
Siegel—Siegmund-Schultze
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suchungen zur Philosophie der Griechen, 1873; 2. A . 1888. — Das W e s e n der ästhetischen Anschauung, 1875. — Das Traumleben der Seele, 1877. — Über das Bewußtsein als Schranke der Naturerkenntnis, 1879. — Gesch. der Psychologie, Bd. I, 2 Tie., 1880. — Über W e s e n und Ziel des wissenschaftlichen Studiums, 1883. — Beiträge zur Entstehungsgesch. d e r neueren Psychologie, 1891. — Uber die Lehre vom genetischen Fortschritt der Menschheit, 1892. — Lehrbuch der Religionsphilosophie, 1893. — Aristoteles, 1899. — Goethe als Denker, 1902; 2. A. 1905. — Über musikalische Einfühlung, 1906. — Zur Religionsphilosophie, 1907. — G r u n d f r a g e n zur Psychologie und Ästhetik der Tonkunst, 1909. — Über Freiheit, Entwicklung und Vorsehung, 1911. — Über die Psychologie der Scholastik, in: Archiv f ü r Gesch. der Philosophie, Bd. I—III, 1888 ff. und in; Zeitschr. f. Phil. u. phil. Kritik, Bd. 93—95, 1888 f. — Über die Willenslehre bei Duns Scotus, in: Zeitschr. f. Phil. u. phil. Kritik, Bd. 112. 1898. L i t e r a t u r : Geisler, S.s Religionsphil., 1908. — W . Moog, Hermann S., in: Kantstudien, Bd. 25, 1920, S. 298 ff. S i e g e l , C a r l , geb. 19. A u g u s t 1872 in W i e n . 1904 H a b i l i t a t i o n d o r t , 1913 a . o. P r o f . U n i v e r s i t ä t C z e r n o w i t z , 1919 o. P r o f . d o r t , 1927 i n G r a z . S. v e r t r i t t e i n e n „ g e n e t i s c h - k r i t i z i s t i s c h e n S t a n d p u n k t auf p s y c h o l o g i s c h e r Grundlage (kritischer Empirismus), verbunden mit kritischem Realismus". E r sieht das D e n k e n als eine Willensfunktion, das Urteil als einen „theoretischen E n t s c h l u ß " an. A l s N a t u r p h i l o s o p h e r k l ä r t er das Organische vitalistisch. Beim organischen Geschehen spielt die „Konstellation", ein individual-historischer F a k t o r , e i n e R o l l e . E r l ä ß t s i c h d a h e r n i c h t v ö l l i g auf m e c h a n i s c h e G e s e t z e z u r ü c k führen, S c h r i f t e n : Die Entwicklung der Raumvorstellung, 1899. — Zur Psychologie u, Theorie der Erkenntnis, 1903. — H e r d e r als Philosoph, 1908. —. Naturgesetzlichkeit und Vitalismus, 1910. — Von der Natur des Denkens, 1911. — Gesch. der Naturphilosophie, 1909—1913. — Alois Riehl, zur Gesch. des Neukantianismus, 1931, — Nietzsches Zarathustra, Gehalt u. Gestalt, 1938. —• Zur Typologie u. Psychologie philosophie-historischer Zusammenhänge, Zeitschr. für Psychol., Bd. 124, 1932. S i e g f r i e d , K a r l A d o l f , geb. 22. J a n u a r 1830 in M a g d e b u r g , g e s t . 9. J a n u a r 1903 in J e n a . S t u d i u m d e r T h e o l o g i e u n d P h i l o l o g i e in H a l l e u n d B o n n . T ä t i g k e i t a l s G y m n a s i a l l e h r e r . 1859 D r . p h i l . in H a l l e . 1 8 6 5 — 1 8 7 5 P r o f . u n d G e i s t l i c h e r in P f o r t a . 1865 P r o f . f ü r a l t t e s t a m e n t l . T h e o l . in J e n a . D r . t h e o l . — D e r T h e o l o g e S. hat durch eindringende Erforschung von Hellenismus und Spätjudentum und durch A u f h e l l u n g der G e d a n k e n w e l t Philos die Philosophiegeschichte gefördert. S c h r i f t e n : Zur Kritik der Schriften Philos, in: Zeitschr. f. wiss. Theologie. Bd. 17, 1874. — Philo von Alexandria als Ausleger des Alten Test, an sich selbst u. nach seinem geschichtlichen Einflüsse betrachtet, 1875. — Spinoza als Kritiker u. Ausleger des Alten Test., 1867. — Thomas v. Aquino als Ausleger des Alten Test., in: Zeitschr. für wiss, Theol., Bd. 37 (1894), S. 603 ff. •—• Der jüdische Hellenismus, in: Zeitschr. f. wiss. Theol., Bd. 18 (1875), S. 465 ff. — Bibel u. Naturwissenschaft, in: J a h r b . f. prot. Theol., Bd. 7 (1881), S. 1—59. —- Hrsg.: Buch der Erkenntnis der Wahrheit, aus dem Syrischen, nachgelassen von C. Kayser, 1893. L i t e r a t u r : B, Baentsch, Art. S,, in: Realenzykl. f. prot. Theol. u. Kirche, Bd. 18 (1906), S. 320 ff. S i e g m u n d - S c h u l t z e , F r i e d r i c h , geb. 14. J u n i 1885 i n G ö r l i t z . D r . t h e o l . P r a k t i s c h e r P ä d a g o g e , L e i t e r d e s B e r l i n e r J u g e n d a m t s seit 1918. W i r d 1926 H o n o r a r Professor an der Berliner Universität für Jugendkunde und Sozialpädagogik. 1934 S t u d e n t e n b e r a t e r U n i v e r s i t ä t Z ü r i c h , 1947 o. P r o f e s s o r f ü r S o z i a l e t h i k u n d Sozialpädagogik an der Universität Berlin. S c h r i f t e n : Schleiermachers Psychologie, 1913. — Ver sacrum, 1920. — Sozialismus u. Christentum, 1919. — Die soziale Botschaft des Christentums, 1921. — Die Überwindung des Hasses, 1947,
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Sigbert von Beek — Siger von Courtrai
Sigbert von Beek, Sibertus de Beka, lebte im 14. Jhdt. 1316 Magister der Theologie, 1317 bis 1330 in seiner niederdeutschen Heimat. — Der Karmeliter S. v. B. ist, wie sein Orden, Anhänger des Thomismus. Sein Lehrer war vermutlich Guido Terreni, seinerseits Schüler des Gottfried von Fontaines, Er ist Verfasser von zwei überlieferten Quodlibeta, die sich mit einigen Abweichungen auf Thomas von Aquino stützen. S c h r i f t e n : B. F. M. Xiberta, Due Quelibet inedita Siberti de Beka, in: Annal. Ordinis Carmelit., Bd. IV, 1922, S. 305—341.
Siger von Brabant, gest. vor 1285 in Orvieto (Italien). Lehrer, zeitweilig Rektor an der Universität Paris. Bei Verurteilung seiner Lehren im Jahre 1277 verläßt er Paris. Er wird der Ketzerei angeklagt und vor ein Gericht geladen, flieht nach Italien und lebt dort am römischen Hof in Orvieto. Dort wird er von seinem Sekretär getötet. S. v. B. ist als Führer und Verbreiter des averroistischen Aristotelismus an der Pariser Universität der große Gegner des Thomas von Aquino, Über seine Rolle in der Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie haben erst Editionen von Clemens Baeumker (1898), P, Mandonnet (1908 und 1911) und Quellenfunde durch Martin Grabmann (mitgeteilt 1911) Licht verbreitet. Vorher wurde S, v, B. mit Siger von Courtrai identifiziert und für einen Thomisten gehalten. In seinen Werken gibt S. v. B. vielmehr die aristotelischen Gedanken im Anschluß an Averroes wieder und vermeidet bewußt ihre Angleichung an christliche Lehren. Er bekennt sich zu dem Grundsatz: „Hier soll nicht die Meinung des Aristoteles verheimlicht werden, auch wo sie der Wahrheit widerstreitet," Zu den auch von S. vertretenen, von der Kirche verurteilten averroistischen Sätzen gehören die Behauptungen: es besteht Einheit des menschlichen Intellekts (Monopsychismus) ; es gibt keine persönliche Unsterblichkeit; die menschlichen Handlungen werden nicht von göttlicher Vorsehung regiert; des Menschen Wille ist nicht frei; die Welt ist ewig; ewig sind auch die bewegte Materie und die Intelligenzen. S. ist Vertreter der Lehre von der zweifachen Wahrheit, einer theologischen und einer philosophischen. Als Beweis für die überragende Bedeutung des S. v. B, und ihre Anerkennung unter den Zeitgenossen kann seine Erwähnung in Dantes Göttlicher Komödie (Paradis X, 136) gelten, S c h r i f t e n : De anima intellectiva (Hauptwerk), — Impossibilia. •— Quaestiones logicales. — Quaestiones naturales. — De aeternitate mundi. — Kommentar zu Aristoteles, De anima. — De generatione et corruptione. — Cl. Baeumker, Die Impossibilia des S. v. B., eine phil. Streitschrift aus dem 13, Jh., zum erstenmal vollständig hrsg. u. besprochen, 1898, in Beiträge zur Gesch. der Phil, des MA., II, 6. — P. Mandonnet, S. de B. et l'averroisme latin au 13e siècle, Etude critique et documents inédits, 2 Bde., Löwen 1911 u. 1908, L i t e r a t u r : Martin Grabmann, Mitteilungen über scholastische Funde in der Bibliotheca Ambrosiana zu Mailand, in: Theol. Quartalsschr. 1911, S. 544 (neue Hs, der Impossibilia); Neu aufgefundene Werke des S. v. B. u. Boethius v. Dacien, in: Sitzungsber. der Münchener Ak., 1924; Neu aufgefundene „Quaestionen" S.s v., B, zu den Werken des Aristoteles, in: Miscellaneen Fr. Ehrle, I, 1924, S. 103—147. — F. Pelster, Die Bibliothek von Santa Caterina zu Pisa, Xenia Thom. III, S, 276 (neue Hs. von De aeternitate mundi). — S, Reinach, L'enigme de Siger, in: Revue historique 1927, Bd. 151, S. 34 ff. — A, Masnovo, I primi contatti di S. Tommaso con l'Averroismo latino, in: Rivista di filosofia neoscol,, Bd. 18(1926), S. 43 ff, — F . van Steenberghen, S, de B. d'après ses œuvres inédites, Löwen 1931; Les œuvres et la doctrine de S. deB., Brüssel 1938. — W. J.Dwyer, L'Opuscule de S, de B. ,,De aeternitate mundi", Löwen 1937.
Siger von Courtrai, gest. 1341. Studium in Paris, 1309 magister artium, 1315 Prokurator der Sorbonne. 1308—1330 Dekan der Kirche in Courtrai. — S. v. C„ früher fälschlich mit Siger von Brabant identifiziert, ist Thomist, Seine philo-
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sophische Leistung liegt auf dem Gebiet der Sprachlogik. Er unternimmt es, die grammatikalischen Regeln von Donatus und Priscianus philosophisch zu begründen. S c h r i f t e n : Ars priorum (Komm, zu Aristoteles' ersten Analytiken). — Fallaciae. — Summa modorum significandi. — Sophismata oder Impossibilia. — G. Wallérand, Les Oeuvres de S. de C. Etude critique et textes inédits, Löwen 1913. L i t e r a t u r : A. Niglis, S. v. C., Beiträge zu seiner Würdigung, Diss,, Freiburg 1913. Sigwart, Christoph, geb. 27. März 1830 in Tübingen, gest. 4. August 1904 ebenda. 1846—1851 Studium der Philosophie, Theologie und Mathematik in Tübingen. 1852 bis 1855 Lehrer in Halle, 1855 bis 1858 Repetent am theologischen Seminar in Tübingen, 1859 bis 1863 Professor am Seminar in Blaubeuren, 1865 bis 1903 o. Professor der Philosophie in Tübingen. Von seinen akademischen Lehrern hat Chr. Ferd. Baur nachhaltigen Einfluß auf S. ausgeübt, während I. H. Fichte ihm fremd blieb. Er trieb mathematische, astronomische und physikalische Studien. 1854 promovierte er mit einer Abhandlung über Pico von Mirandula in Tübingen zum Dr. der Philosophie. E s folgten Studien zu Schleiermachers Dialektik. Mit einer Abhandlung „Zur Apologie des Materialismus" (1859) nahm er zum Streit um den Atomismus Stellung. Historische Untersuchungen schlössen sich an, bis auf Grund einer Verbindung von psychologischer Analyse der Denktätigkeit und kritischer Reflexion auf die Verfahrensweisen der tatsächlichen Arbeit der Wissenschaften das Hauptwerk, die „ L o g i k " entstand, von der 1873 der erste, 1878 der zweite B a n d erschien. Die beherrschende Absicht der „ L o g i k " ist es, Gesichtspunkte und Normen für die Gültigkeit des Denkens zu gewinnen. Als psychologisch fundierte, normative Disziplin steht die Logik im Zusammenhang der ethischen Probleme, die in der F r a g e „ W a s soll ich t u n ? " ihre praktische Wendung finden. Die Voraussetzung dafür, daß diese F r a g e überhaupt einen Sinn hat, ist, daß der Mensch keinerlei Notwendigkeit unterliegt, die „zum Voraus widerstandslos eine gewisse Handlungsweise erzwänge" (Vorfragen der Ethik, S, 2). Im Unterschied zu einer abstrakten Pflichtenethik hält S. weiter fest, das „einzig denkbare Motiv eines Wollens" sei das „Verhältnis eines gedachten Zweckes zu mir, vermöge dessen er für mich ein G u t " sei (S. 7), Das schließt nicht aus, daß auch ein für andere Gutes oder große allgemeine Zwecke unmittelbar zum Ziel meines Handelns werden können, sofern ich sie als Gut anerkenne (S. 12). Erst wo ich das Bedürfnis empfinde, eine Einheitlichkeit und Harmonie meines Wollens in allen seinen Bestrebungen herzustellen, gewinnt die Frage, „was soll ich t u n ? " den Charakter eines Grundproblems der wissenschaftlichen Ethik (S. 16). Um sie zu beantworten, muß ein unbedingter Imperativ als ein wirklich allgemein gültiger aufgestellt werden. Der Kantische kategorische Imperativ, der „keinen inhaltsvollen Zweck vorschreibt", kann „aus sich keinen Impuls zu einer bestimmten Handlung erzeugen , . . Die Aufgabe der Ethik verlangt vor allem die Feststellung des höchsten G u t e s " (S. 17). Dieses umfaßt notwendigerweise den Begriff eines Gesamtzustandes der Gesellschaft. Um ihn zu verwirklichen, ist es „ein wohlbegründeter und durch seine logische Durchsichtigkeit sich empfehlender Gedanke, wenn der Theorie der besten Verfassung einer menschlichen Gemeinschaft als Ideal vorschwebt, alle Tätigkeit der einzelnen und alle ihre Verhältnisse zueinander, die Verteilung der Arbeit (und konsequenterweise auch die Erzeugung der Nachkommenschaft) durch Gesetze zu regeln und dadurch eine der Ordnung der Natur vergleichbare Ordnung herzustellen, indem das wechselnde Befehlen durch die allgemeine Vorschrift ersetzt wird, unter der auch die Leitenden stehen" (S. 30 f.). Indessen genügen Gesetze angesichts der individuellen Mannigfaltigkeit des Lebens nicht, und „die Verwirklichung des Zwecks fällt unter den Gesichtspunkt der K u n s t " (S. 35). Der Begriff des höchsten Gutes aber setzt voraus,
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daß die Gemeinschaft von Menschen, die ihn realisieren soll, aus Individuen „von rein sittlicher Gesinnung" besteht (S. 48). Da aber mit der Unvollkommenheit der Menschen gerechnet werden muß, sind Macht, Gehorsam und Unterordnung unerläßliche Momente in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der sittliche Fortschritt in der menschlichen Gesellschaft zeigt „eine gewisse logische Notwendigkeit" (S. 65). Das Lebensideal wird dauernd ausgearbeitet und umgestaltet. Seine inhaltlichen Zwecke sind durch die Bedürfnisse und Triebe der sinnlich geistigen Natur gegeben, und aus diesen „entwickeln sich mit fortschreitender Einsicht die großen realen Zwecksysteme, deren Verwirklichung die Geschichte ist, in immer vollständigerer Wechselwirkung — Wirtschaft und Handel, Familienleben, Jugenderziehung, gesellschaftlicher Verkehr, Wissenschaft, Kunst, religiöse Gemeinschaft. Aus diesen Elementen muß sich jede bestimmte Fassung des höchsten Gutes zusammensetzen; der gesellschaftliche Zustand, der als höchster Zweck gedacht wird, kann nur dann ein höchstes und vollkommenes Gut sein, wenn er die Möglichkeit enthält, jedem alles das zu gewähren, was für ihn vermöge seiner einheitlichen menschlichen Natur ein Gut ist" (S. 67). In dieses Zwecksystem der kulturellen Leistungen unter dem Gedanken eines höchsten Gutes ordnet sich die „Logik" ein. Sie ist die Kunstlehre, die dem Denken hilft, zu gewissen und allgemeingültigen Sätzen zu gelangen. Während es Sache der Psychologie ist, die Eigenart des Denkens als geistiger Tätigkeit zu bestimmen, deren Zweck darin besteht, „Erkenntnis des Seienden" zu sein, unterscheidet die logische Betrachtung des Denkens sich von der psychologischen durch die Beziehung auf das Denkziel, „seiner Notwendigkeit gewiß und allgemeingültig zu werden" (Logik, 5. Aufl.,. S. 9). Sofern die Logik durch ihre Regeln nicht materiale Wahrheit des Denkens verbürgen, sondern nur formale Richtigkeit des Verfahrens normieren soll, ist sie als Kunstlehre „notwendig formale Logik" (S. 11). Da niemandes Denken in Wirklichkeit ganz aus sich allein heraus beginnt, „darf weder von der bestimmten Art, wie unser Denken von der Sinnesempfindung Stoff und Inhalt erhält und ihn zu Vorstellungen von Dingen, Eigenschaften, Tätigkeiten usw. gestaltet, noch von seiner historischen Bedingtheit durch die menschliche Gesellschaft abgesehen werden" (S. 15). Damit erscheint das Denken als Glied des gesamtgeistigen Lebensvorganges und der gesellschaftlich-seelischen Wirklichkeit. Die Fähigkeit, objektiv notwendiges Denken von nicht notwendigem zu unterscheiden, prägt sich aus „in dem unmittelbaren Bewußtsein der Evidenz, welches notwendiges Denken begleitet" (a. a. O.), Die Aufgabe der Logik ist es, in ihrem analytischen Teil das Wesen der Denkfunktion, im gesetzgebenden Teil die Bedingungen und Gesetze ihres normalen Vollzuges und im technischen Teil die Regeln des Verfahrens aufzusuchen, durch das das unvollkommene Denken zu einem vollkommenen im Sinne seines letzten Zwecks werden kann. Im ganzen will die Logik „nicht eine Physik, sondern eine Ethik des Denkens" sein (S. 22), und die Methodenlehre ist ihr Hauptziel. Die Grundfunktion des Denkens ist das Urteil. Die Eigentümlichkeit des Begriffs besteht in seiner Konstanz, als der durchgängigen festen Bestimmtheit und der Sicherheit und Allgemeingültigkeit seiner Wortbezeichnung. Seine Allgemeinheit hat er mit jeder Vorstellung als solcher gemeinsam, während das Ziel aller Begriffsbildung im logischen Sinne „eine für alle Denkenden gleiche Ordnung ihres mannigfaltigen Vorstellungsgehaltes" ist (S. 324). Die Definition ist „ein Urteil, in welchem die Bedeutung eines einen Begriff bezeichnenden Wortes angegeben wird, sei es durch einen Ausdruck, der diesen Begriff in seine Merkmale zerlegt zeigt, wodurch also der Inhalt des Begriffs vollständig dargelegt ist, sei es durch Angabe der nächsthöheren Gattung und des artbildenden Unterschieds, wodurch seine Stel-
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lung im geordneten System der Begriffe angegeben wird" (S. 379). S. verteidigt den Wert des logischen Schlusses gegen die empiristische Kritik J. St. Mills, indem er feststellt: „Wenn die kategorischen Syllogismen als Obersätze analytische Begriffsurteile voraussetzen, so können sie die Aufgabe, das immer neu entstehende Denken zu begründen, nicht erfüllen, sondern sind darauf beschränkt, die feststehenden Begriffsverhältnisse bei jeder Anwendung gegenwärtig zu erhalten. Eine höhere Bedeutung gewinnen die kategorischen Syllogismen nur, wenn sie entweder, wie bei Aristoteles, in den Dienst der Begriffsbildung gestellt, oder wenn ihre Obersätze nicht bloße Begriffsurteile, sondern synthetische Sätze im Kantischen Sinne sind" (S. 474). Der Methodenlehre stellt S. die allgemeine Aufgabe, „Anweisung zu dem Verfahren zu geben, mittels dessen von einem gegebenen Zustande unseres Vorstellens und Wissens aus durch Anwendung der uns von Natur zu Gebote stehenden Denktätigkeiten der Zweck, den das menschliche Denken sich setzt, in vollkommener Weise, also durch vollkommen bestimmte Begriffe und vollkommen begründete Urteile erreicht werden könne" (Logik, Bd. II, S. 3). Der hierbei vorschwebende Zweck des Denkenwollens ist „einerseits die Erkenntnis der der Wahrnehmung zugänglichen Welt, andrerseits die Feststellung der letzten Ziele unseres Wollens. Das Ideal der Welterkenntnis enthält zuerst ein nach Raum und Zeit vollständiges W e l t b i l d , sodann eine in einem vollendeten Begriffssystem vollzogene K l a s s i f i k a t i o n des Gegebenen, endlich die Einsicht in die N o t w e n d i g k e i t des Gegebenen in Form eines durchgängigen K a u s a l z u s a m m e n h a n g e s . Die Besinnung über die Ziele unseres Wollens vollendet sich in der Aufstellung eines h ö c h s t e n Z w e c k s , der alle einzelnen Handlungen in sich befaßt, und in der Einsicht, daß derselbe unbedingt gewollt werden soll" (II, S. 6). Der so bestimmten Aufgabe dient S.s Methodenlehre in umfassender Weise, indem sie das Aufsuchen der Begriffselemente und der Formen ihrer Synthese und die Synthese der Begriffselemente zu zusammengesetzten Begriffen prüft, und weiterhin die direkten Methoden der Urteilsbildung, sowie Deduktion und Beweis mit ihren Voraussetzungen und die methodischen Prinzipien der Bildung der Wahrnehmungsurteile entwickelt. Das Werk schließt mit einer umfassenden Deutung und Bearbeitung des Induktionsverfahrens als Methode der Gewinnung allgemeiner Sätze aus einzelnen Wahrnehmungen. Eine Eigenart des gesamten Werkes besteht in dem historisch-kritischen Charakter der Behandlung seines Gegenstandes, der eine Verarbeitung der bedeutsamen Lehrmeinungen aus der Geschichte dieser Disziplin und ein Fruchtbarmachen ihres bleibenden sachlichen Gehaltes bewirkt. Die letzten Auflagen des Werkes wurden durch die Anmerkungen Heinrich Maiers in diesem Sinne durch eine eingehende Prüfung und Kritik der neuesten Theorien und Standpunkte der Logik und der hauptsächlichen Wandlungen in den Wissenschaften umfassend ergänzt. S. faßt selbst die Gesamtanschauung zusammen, durch die seine Philosophie bestimmt ist und die auch seiner Logik im Rahmen der Metaphysik einen Platz gibt: „Die V o r a u s s e t z u n g e n , von welchen alle Methoden ausgehen müssen, die sich nicht bloß auf die Entwicklung unserer Vorstellungen nach subjektiven Gesetzen beziehen, enthalten eine Ü b e r e i n s t i m m u n g dessen, was unser b e w u ß t e s , von einheitlichen Zwecken geleitetes D e n k e n und W o l l e n fordert, mit dem, was durch die u n w i l l k ü r l i c h e n und von a u ß e n b e d i n g t e n T ä t i g k e i t e n gesetzt ist. Diese Übereinstimmung zweier für die k a u s a l e Betrachtung zunächst voneinander unabhängig erscheinender Gebiete kann nur durch eine t e l e o l o g i s c h e B e t r a c h t u n g begriffen werden. Soll in dieser eine w i r k l i c h e E r k l ä r u n g liegen, so kann ich dieselbe nur in der Voraus-
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Setzung eines e i n h e i t l i c h e n G r u n d e s sowohl des bewußten Denkens und seiner Gesetze als der ihm gegenüberstehenden von ihm unabhängigen Objekte vollenden, eines Grundes, der als letzter Erklärungsgrund der Beziehung von Subjekt und Objekt zugleich u n b e d i n g t sein muß. Die Prinzipien der Methodenlehre weisen auf die G o t t e s i d e e , deren bestimmtere Fassung nur durch die Ideale möglich ist, welche unserem Denken und Wollen als Ziele seines Tuns vorschweben. Damit ergibt sich die M e t a p h y s i k a l s A u f g a b e , welche einerseits die letzten V o r a u s s e t z u n g e n , von denen alles planmäßige Denken ausgeht, andererseits die R e s u l t a t e , zu denen es gelangt, in einer einheitlichen Auffassung von dem letzten Grunde des Verhältnisses der subjektiven Gesetze und Ideale des Denkens und Wollens zu dem objektiven Inhalte der Erkenntnis zusammenzufassen hat. Das höchste und schwierigste P r o b l e m d e r M e t a p h y s i k liegt in der Bestimmung des Verhältnisses, in welchem die N o t w e n d i g k e i t als Leitfaden aller E r k e n n t n i s des Seienden zu der F r e i h e i t steht, welche das subjektive Postulat des bewußten Wollens ist. Sofern die Logik selbst ein solches Wollen voraussetzt, und die Grundsätze ihrer Methoden P o s t u l a t e sind, bezeichnet sie selbst die S c h r a n k e d e r F o r d e r u n g e n , welche sie in Beziehung auf die Erkenntnis durchgängiger Notwendigkeit stellt" (Logik, II, S. 774 f.). S c h r i f t e n : Ulrich Zwingli und der Charakter seiner Theorie, 1855. — Schleiermachers Erkenntnistheorie, in: Jb. f. deutsche Theologie, II, 1857. — Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, ebda. — Zur Apologie des Atomismus, ebda., 1859. — Schleiermacher in seiner Beziehung zum Athenäum der beiden Schlegel u. Geschichte des Klosters Blaubeuren, Blaubeurer Seminarprogramm, 1861, — Huldreich Zwingli, Stuttgart 1862. •— Ein Philosoph und ein Naturforscher über Franz Bacon von Verulam, in: Preuß. Jahrb. 1863. — Noch ein W o r t über Franz Bacon von Verulam, ebenda, 1864. — Spinozas neuentdeckter Traktat von Gott, dem Menschen und dessen Glückseligkeit, Gotha 1866. — Logik, 1. Aufl. 1873 u. 1878, 5. Aufl. 1924. Engl. Übers, v. Helen Dendy, London 1895, — Kleine Schriften, 2 Bde., 1881, 2. Aufl. 1889. — Logische Fragen, in: Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos., IV u. V, 1880—1881. — Vorfragen der Ethik, Freiburg 1886, 2. Aufl. 1907. — Die Impersonalien, Freiburg 1888. •—• Ein Collegium logicum im 16. Jahrhundert, Universitäts-Progr. 1890. L i t e r a t u r : Biographischer Abriß und ausf. Bibliogr. von Heinrich Maier, in: Sigwart, Logik, 5. Aufl., 1924. — I. Engel, S.s Lehre vom Wesen des Erkennens, Diss., Erlangen 1908. — Jos. Flaig, S.s Beiträge zu Grundlegung und Aufbau der Ethik, Diss., J e n a 1912. — Theodor Häring d. J., C. S. (mit Bibliogr.), 1931. — Kurt A l b e r t Märtz, Die Methodik der Geschichtswissenschaft nach Ranke, S. und Wundt, Diss., Leipzig 1916. — Lilly Buchhorn, Evidenz und Axiome im Aufbau von S.s Logik, Diss., Berlin 1931, •—• Georg Schilling, Die Berechtigung der teleologischen Betrachtungsweise der Natur nach Paulsen u, S., Diss,, Erlangen 1919.
Sigwart, Heinrich Christoph Wilhelm, geb. 31. August 1789 in Remmingsheim (Württemberg), gest. 16. November 1844 in Stuttgart. Besuch der Klosterschulen Blaubeuren und Heilbronn. 1807 Studium der Theologie, Philologie und Philosophie in Tübingen. 1816 a. o, Prof,, 1818 o. Prof. für Philosophie in Tübingen. 1841 Prälat und Generalsuperintendent in Hall. — Der Philosophiehistoriker S., Vater des Logikers Christoph S., ist Gegner der dialektischen Methode Hegels und Vertreter der aristotelischen Logik. Als Theist bekämpft er den Pantheismus der Hegelianer. Die Kenntnis Spinozas hat er durch den Hinweis auf seine Beeinflussung von Moses Maimonides und auf seine Verbindung mit dem jüdisch-orientalischen Denken bereichert. S c h r i f t e n : Über den Zusammenhang des Spinozismus mit der cartesianischen Philosophie, 1816. — De peccato seu malo morali, 1816. — Handbuch zu Vorlesungen über die Logik, 1818, 3. A. 1835. — Handbuch der theoretischen Philosophie, 1820. — Die
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Leibnizsche Lehre von der prästabilierten Harmonie, 1822. — Grundzüge der Anthropologie, 1827. — Die Wissenschaft des Rechts nach Grundsätzen der praktischen Vernunft, 1828. — Vermischte philosophische Abhandlungen, 2 Bde., 1831, — De historia logicae inter Graecos usque ad Socratem, 1832. — Der Spinozismus hist. u, philos, erläutert, 1839. — Das Problem von der Freiheit u. Unfreiheit des menschlichen Willens, 1839. — Das Problem des Bösen oder die Theodizee, 1840. — Vergleichung der Rechtsund Staatstheorien des B. Spinoza u. des Th, Hobbes, 1842. —- Geschichte der Philosophie vom allg. wissenschaftl. u. geschieht!. Standpunkt, 3 Bde., 1844. L i t e r a t u r : Liebmann, A r t . S. in: Allg, Dte. Biographie, Bd. 34 (1892), S. 306 ff.
Simcox, Edith J., geb. 1844, gest. 1901. — Die englische Philosophin S. ist Vertreterin des Evolutionismus und einer perfektionistischen Ethik. Die Naturgesetze sind zugleich die Wurzel der ethischen und politischen Gesetze. Der Mensch als ein Teil der Natur empfängt von ihr auch den gesamten Inhalt seines Bewußtseins. Unter dem regelmäßigen Einfluß der äußeren Dinge entwickelt sich in ihm die Tendenz, so zu handeln, wie es für seine Erhaltung und Vervollkommnung dienlich ist. Das Bewußtsein der moralischen Verbindlichkeit erwächst aus der Beschränkung des eigenen Handelns durch das Wollen anderer Menschen. Als drei Arten von Gütern sind das natürlich, das sinnlich und das moralisch Gute zu unterscheiden. S c h r i f t e n : Natural Law, an essay in ethics, 1877. — Episodes in the lives of men, 1886.
Simiand, François, französischer Soziologe, geb. 18. April 1873 in Gières, gest. 13. April 1935 in Saint-Raphael, Schüler von Emile Dürkheim. S c h r i f t e n : La méthode positive en science économique, 1912. — Statistiques et expériences, 1922. — Le salaire, l'évolution sociale et la monnaie, 3 Bde., 1932. L i t e r a t u r : Dorothea Knobloch, Die Methodologie F. S.s, Diss., Köln 1935. — B. V. Damales, L'œuvre scientifique de F. S., Paris, 2. Aufl., 1947.
Simmel, Georg, geb. 1. März 1858 in Berlin, gest. 26. September 1918 in Straßburg. Pd. in Berlin, 1901 a. o. Prof. für Philosophie dort, 1914 o. Prof. in Straßburg. Durch alle Perioden seines wandlungs- und anpassungsfähigen philosophischen Denkens hindurch hält S. an dem Bestreben fest, das L e b e n in seiner beständigen Bewegung und Entwicklung und in seinem Beziehungsreichtum zu erfassen. Sieht und erforscht er zunächst vor allem die Fülle der in unaufhörlicher Wandlung begriffenen Phänomene, so gewinnt allmählich die Suche nach der Lebenseinheit, die diese Phänomene verbindet, stärkeres Gewicht. Doch gelängt S, nie völlig zur Überwindung des R e l a t i v i s m u s . Sein Schaffen wird zum Spiegelbild der Problematik seiner Zeit, der Jahrhundertwende und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, und ergründet sie bis in ihre feinsten Nuancen, ,,Es ist wie ein Altweibersommer, in dem zahllose vibrierende und die Beleuchtung wechselnde Fäden die ganze Luft ohne Anfang und Ende erfüllen, um sich in allen denkbaren Weisen zu kreuzen, zu mischen und zu verfilzen" (Troeltsch, Historismus, S. 572). Die erste Periode seines Philosophierens wird von S. selbst als relativistischer Pantheismus bezeichnet. Unter dem Einfluß Darwins und Spencers findet er hin zum Evolutionismus. Er denkt das lebendige Geschehen in einzelne Elemente aufgelöst und müht sich um kausalgenetische Erklärung des scheinbar Konstanten, Autonomen und Absoluten. S. empfing von Bastian und Lazarus entscheidende methodische Einflüsse. Die Schmollersche Schule lenkte seine Wahl auf geschichtliche Gegenstände und soziologische Gebilde. Das Denken selbst betrachtet S. in seinem Jugendstadium als biologische Anpassung. Auch pragmatistische Züge sind seinem frühen Denken eigen. Den Gesichtspunkt der Brauchbarkeit wendet er auf die Wahrheit an; sie erscheint ihm als Gattungszweckmäßigkeit, Gewissen als Gattungsinstinkt. Die p h i l o s o p h i s c h e n W e r k e d i e s e s e r s t e n Z e i t r a u m s
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haben es mit der Soziologie, der Moralwissenschaft, der Geschichtsphilosophie zu tun. Es sind: Über soziale Differenzierung (1890), Einleitung in die Moralwissenschaft (1892/93), Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), Philosophie des Geldes (1900), Soziologie (1908). Es ist die eindringende Beschäftigung mit Kant, die den Relativismus S.s einschränkt. Die aus Universitäts-Vorlesungen erwachsene Schrift über Kant (1903) vertritt die Überzeugung: „Kant und sein System sind völlig intellektualistisch, sein Interesse, wie es aus dem Inhalt seiner Lehre hervorleuchtet, ist: die für das D e n k e n gültigen Normen als auf a l l e n Lebensgebieten gültig zu erweisen." (S. 5). Dabei werden die Fehler des Rationalismus vermieden, der „die anderen Seelenenergien von vornherein zu verdrängen" sucht. „Die Selbständigkeit des Gefühls, die das Leben beherrschende Macht des Willens wird anerkannt. Und nun erst greifen die vernunftmäßigen Normen der Logik ein und charakterisieren von sich aus Sein und Wert jener." — „An den I n h a l t e n des Lebens, soweit sie methodisch-systematisch und mit in sich ruhender Gültigkeit zur Wissenschaft aufgebaut werden — im Gegensatz zu dem ewig fluktuierenden, ewig variierenden P r o z e ß des Lebens — findet die intellektualistische Logik ihren eigentlichen Gegenstand." (S. 7). Es kann dabei außer Ansatz bleiben, „ob aus einem letzten Wurzelgrunde vielleicht gerade diese Lebens-Jenseitigkeit der Wissenschaft als eine besondere Ausformung der Lebensimpulse aufsteige". Die Gesetze, nach denen das logische Denken die Lebensinhalte zu bewältigen vermag, sind apriorisch. „In ewigem Flusse, der keine Stauung kennt, ziehen die Eindrücke der Sinne an uns vorbei; aber sie sind nur Momente, nur Punkte gleichsam, und unser eigenes tätiges Bewußtsein erst stiftet die Verbindung unter ihnen, — es fügt die einzelnen optischen Eindrücke zu einer räumlichen Ordnung, die zufällige Folge der Bilder zu dauernden Regeln, die wechselnden Vorstellungen zu einem bestimmt charakterisierten Ich zusammen. Die Gesetze, nach denen diese Verbindungen gestiftet werden, sind, wie Kant sich ausdrückt, a priori, d. h. sie entstehen nicht aus der Erfahrung, sondern sie bringen diese zustande, als die Formen des Intellekts, in welche dieser den sinnlichen Stoff faßt." (13.) S. hat die Denkgesetze, den Intellektualismus und das Apriori Kants auf seineWeise umgedeutet. „Für Kant, dem es ausschließlich auf Analyse und Fundierung der als Wissenschaft vorliegenden Erkenntnis ankam, verstand es sich von selbst, daß die zusammenwirksamen Energien diejenigen waren, die von vornherein theoretischer Natur, auf Erkenntnis von Objekten eingestellte waren: die Sinnlichkeit, der Verstand, in gewissem Sinne die Vernunft. Aber dies ist doch nur die Vorstufe zu der Goethischen Überzeugung, daß zu jeder Erkenntnis a l l e Lebenselemente überhaupt tätig sein müßten: die künstlerische Phantasie wie die Liebe, der Schönheitssinn, wie die gar nicht zu rationalisierende Ahnung, das rein Intellektuelle wie das menschlich Allgemeine unserer Anlage nicht weniger als Sinnlichkeit und Verstand. Der g a n z e I n t e l l e k t erkennt — das war die kantische Überwindung des Sensualismus und Rationalismus. Und nun steigt dies ins Höhere und Weitere: der g a n z e M e n s c h erkennt. Damit erst hat unser geistiges Weltverhältnis seine tragfähigste Basis gewonnen, jede differentielle Seelenkraft, die wir für die eine oder die andere Erkenntnisaufgabe einzusetzen haben, ist jetzt nur noch das besonders gestaltete und gerichtete Strombett, in das jeweils die Ganzheit unseres seelischen Lebens kanalisiert ist." (17). Vom Apriori heißt es: „Das Apriori liegt tief versponnen in dem ganz unregelmäßigen, sich auflösenden, sich weiterspinnenden Gewebe unseres Wissens vor und kann nur durch Beobachtung, Analyse, Induktion, die der Korrektur und Fortentwicklung unterworfen bleiben, herauserkannt werden. Neben der Allgemeinheit und Notwendigkeit seines Prinzips, gegenüber der nur graduellen Sicherheit alles Psychologischen, steht eine eben-
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so nur graduelle seiner Einzelfeststellung." (27), S. glaubt sagen zu dürfen, daß Allgemeinheit und Notwendigkeit der Formen des Denkens „dem modernen Menschen nicht mehr so wichtig und entscheidend" sind wie für Kant. „Wir sind bescheidener geworden, die induktiv erreichbaren Sicherheiten scheinen uns im Allgemeinen zu leisten, was wir von unserm Erkennen verlangen können, und unsrer Stellung im Kosmos angemessen zu sein. Es entspricht dem jetzigen Lebensgefühl, statt an ein starres Ein-für-Allemal, vielmehr an eine unabschließbare Entwicklung auch in den tiefsten Schichten unseres Geistes zu glauben — welche Entwicklung keineswegs einfach als Fortschritt zu rühmen ist, sondern sich nach der noch geheimnisvollen Rhythmik des Organischen vollzieht." (27/28). S. spricht dem Apriori zwei Seiten zu: die rein wissenschafts-theoretische nimmt in Kants eigener Darstellung breiteren Raum ein; die weltanschauliche — die „subjektive Innenseite der Kantischen Lehre" — übt die tiefere Wirkung aus. „So hat das Apriori gewissermaßen zwei Seiten: es steht einerseits in dem idealen Raum der reinen Wissenschaft, ein geistiger Gehalt, gelöst von allem Prozeß, aller Bewegtheit des Lebens, gleichgültig gegen seine seelische Verwirklichung und ihre Träger; andrerseits aber, um überhaupt dazusein, um zustandegebracht zu werden und Erkenntnis zustande zu bringen, bedarf es doch der Dynamik des Lebens, jetzt ist es ein seelisches Ereignis, das nun tiefer in die Innerlichkeit des Subjekts hineinverfolgt werden kann, bis zu dem letzten Quellpunkt, der letzten Entscheidung des Ich, von wo dann seine Verflechtung mit dem allgemein menschlichen oder dem spezifisch modernen Lebensgefühl geschehn und es in das metaphysisch gedeutete Verhältnis unsrer seelischen Potenzen zu dem Weltbild überhaupt eintreten kann." (29). Die Fruchtbarkeit der Entdeckung Kants, „daß unsere Erfahrungen von übersinnlichen, von unsrem Geist gleichsam mitgebrachten Voraussetzungen bedingt sind", ist von Kant selbst keineswegs erschöpft. Er „hat sie nur auf das naturwissenschaftliche Gebiet angewandt; denn sein originales Denken galt einerseits der Natur, das seelische Leben als solches und alles Geschichtliche andererseits interessierte ihn nur vom Standpunkte eines sittlichen Wertes aus und war ihm an und für sich kein Gegenstand eignen Forschens." (33). Auch die psychologische und die historische Welt muß auf ihre apriorischen Voraussetzungen untersucht werden, eine Aufgabe, der sich S. selbst im Fortgang seines Philosophierens unterzieht. Was wir geschichtliche Tatsachen nennen, spiegelt nicht das unmittelbare Erleben ab. Der Bericht des Augenzeugen und die reproduzierende Darstellung sind „Formung eines gegebenen Stoffes nach gefühlsmäßigen, intellektuellen, politischen, psychologischen, ethischen Kategorien". Nur so kann „das Geschehen zur Geschichte werden". Von den Formen, mit denen unser Geist an die Wirklichkeit herantritt, erklärt S.: „unser Geist h a t nicht diese Formen, sondern er i s t sie." (34). Den seelischen Formkräften in der Geschichte, im sozialen und religiösen Leben und in der Ethik ist S. nachgegangen in folgenden Untersuchungen der zweiten Periode seines Schaffens, nach Beeinflussung durch Kant: Die Religion (1906), Soziologie (1908), Hauptprobleme der Philosophie (1910), Grundfragen der Soziologie (1917), Zur Religionsphilosophie (1911). Sucht er die Eigenart jedes einzelnen dieser Lebensgebiete zu erfassen, so will er doch auch ihren gegenseitigen Verflechtungen gerecht werden und vor allem ihr jeweiliges Verhältnis zur Soziologie herausstellen. Umspannt wird alles vom Begriff — und der Realität — des Lebens. Auf die Religion angewendet, stellt sich das Bild z. B. so dar: „Das Religiöse in seinem spezifischen Wesen, seinem reinen, von allem „Ding" freien Dasein ist ein L e b e n ; der religiöse Mensch ist einer, der auf eine bestimmte, nur ihm eigene Art l e b t , dessen seelische Prozesse einen Rhythmus, eine Tonart, eine Anordnung und Maßverhältnis der seelischen Einzelenergien zeigen, die von denen des theo-
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retischen, künstlerischen, praktischen Menschen als solchen unverwechselbar verschieden sind. Aber dies alles ist eben Prozeß und noch nicht Gebilde. Und jenes Leben, jene Funktion muß deshalb, wenn die bezeichenbaren, sozusagen objektiven Religionen entstehen sollen, I n h a l t e ergreifen und sie formen, wie die apriorischen Kategorien des Erkennens die theoretische Welt formen. Und wie diese Verstandeskategorien Erkenntnis möglich machen, aber für sich noch nicht Erkenntnis sind — so machen die religiösen Formen von Sünde und Erlösung, von Liebe und Glaube, von Hingabe und Selbstbehauptung als Lebensbewegtheiten Religion möglich, aber sie s i n d sie für sich noch nicht; so wenig, wie der Inhalt, der so zur Religion emporgelebt wird, für sich religiös ist." (Die Rel., S. 15). Beide Faktoren verbinden sich auf die folgende Weise: „Die religiöse Stimmung des Menschen, als eine charakteristische Ablaufsart seines Lebensprozesses, läßt alle möglichen Bezirke, in denen dieser Prozeß sich abspielt, als religiöse erleben. Und nun erst steigen aus dem so gestimmten Leben und Weltfühlen die Sondergebilde auf, mit denen der religiöse Prozeß Körper wird oder einen Gegenstand gewinnt. Die religiöse Strömung, die Inhalte durchflutend, die das Leben sonst noch intellektuell, praktisch, künstlerisch anordnet, reißt sie in der neuen Form ins Transzendente empor. Die Religiosität, als innerste Lebensbeschaffenheit, als die unvergleichliche Funktionsart gewisser Existenzen, erobert gleichsam erst auf der Wanderung durch die inhaltliche Mannigfaltigkeit der Welt eine Substanz für sich und stellt damit sich selbst sich gegenüber, die Welt der Religion dem Subjekt der Religion". Voraussetzung für die Entstehung von Religion ist es, „daß die religiösen Kategorien schon zum Grunde liegen, das Material von vornherein mitwirksam gestalten müssen, wenn dieses als religiös bedeutsam empfunden werden, wenn sich aus ihm religiöse Gebilde ergeben sollen. Nicht das Empirische wird zum Religiösen übertrieben, sondern das im Empirischen liegende Religiöse wird herausgestellt." (S. 17). Die Dinge sind „religiös bedeutsam und steigern sich zu transzendenten Gebilden, weil und insofern sie von vornherein unter der religiösen Kategorie aufgenommen sind". Die Religion ist nun auch ein soziologisches Phänomen. „Der praktische Glaube ist ein Grundverhalten der Seele, das seinem Wesen nach soziologisch ist, d. h. als ein Verhältnis zu einem dem Ich gegenüberstehenden Wesen aktualisiert wird", (47), Er wird dadurch zu einem festen Zusammenhalt der menschlichen Gesellschaft. Im Religiösen wie im Gesellschaftlichen wird ein Vielfaches zu einer Einheit zusammengefaßt. „Die verwirrende Masse der Dinge, aus der nur hier und da ein kausal verbundenes Erscheinungspaar auftaucht, gibt primitiveren Epochen eigentlich nur e i n e Gelegenheit, ein Vielfaches als Einheitliches zu empfinden, nämlich die soziale Gruppe" (S. 52). „Die Synthese zur Gruppe ist das Prototyp der gefühlten bewußten Einheit — jenseits der der Persönlichkeit —, und ihre eigentümliche Form spiegelt oder sublimiert sich in der religiösen, durch die Gottesbegriffe zusammengehaltenen Einheit des Daseins". Die feste soziologische Gestaltung war es, „durch die die Kirche in dem Zusammenbruch der antiken Welt den Wert eines Absoluten, eines Haltes vom Überweltlichen her, ja des unmittelbar Göttlichen erhielt." (56). Vom Prozeß des Werdens einer Religion fällt zugleich Licht auf Werden und Wirkung der Gesellschaft. „Die rein empirisch-soziale, historisch übernommene Einheitsform wird von der religiösen Stimmung aufgenommen und offenbart sich damit von sich aus als das Gegenbild oder die mystische Wirklichkeit der transzendenten Einheitlichkeit, des rein religiösen Zusammengefaßtseins der Welt. Der spezifische Religionswert erscheint hier als Ursache und als Wirkung, jedenfalls ideell als der Ausdruck der soziologischen Wechselwirkungsform, die wir die Einheit der Gruppe nennen." (57).
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Wie sich schon an der Wechselwirkung zwischen ihr und dem Religiösen enthüllt, liegt das praktische Problem der Gesellschaft in dem Verhältnis, das ihre Formen zum Eigenleben der Individuen besitzen, die ihr zugehören. „Gewiß lebt die Gesellschaft nur an den Individuen. Allein dies schließt eine Vielheit von Konflikten zwischen beiden keineswegs aus. Einerseits, weil das Sondergebilde „Gesellschaft", in das die Individuen ihre sozialen Elemente hinein gegeben haben, eigene Träger und Organe gewinnt, die dem Einzelnen mit Forderungen und Exekutiven wie eine ihm fremde Partei gegenübertreten; und andererseits ist der Konflikt gerade dadurch nahegelegt, daß in und an dem Einzelnen die Gesellschaft als ganze sozusagen vertreten ist." J a „der Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum setzt sich in das Individuum selbst als der Kampf seiner Wesensteile fort." Der tiefste Zusammenstoß zwischen beiden geht auf die allgemeine Form des Einzellebens, nicht auf einen einzelnen Inhalt. „Die Gesellschaft will eine Ganzheit und organische Einheit sein, so daß jedes ihrer Individuen nur ein Glied ist; in die spezielle Funktion, die es als solches zu üben hat, soll es womöglich seine gesamten Kräfte gießen, soll sich umformen, bis es ganz zum geeignetsten Träger dieser Funktion geworden ist. Allein gegen diese Rolle sträubt sich der Einheits- und Ganzheitstrieb, den das Individuum für sich allein hat. Es will in sich abgerundet sein und nicht nur die Gesellschaft abrunden helfen" (S. 64), Die Freiheit hat den Sinn der vollen Selbstverantwortung, „die wir nur besitzen, sobald unser einzelnes Tun der reine Ausdruck unserer Persönlichkeit ist". Nach dieser Freiheit, die ihn für sein Tun verantwortlich macht, strebt der Einzelne, und gerade sie ist es, die sich „seiner Einordnung in die sozialen Mächte als Forderung gegen Forderung entgegenstellt" (65). Nicht nur am Religiösen, sondern „an allen im weitesten Sinne soziologischen Beziehungen des Individuums, so einseitig ihr Inhalt und so einheitlich ihre Form sei, lassen sich ein Quantum Bindung und ein Quantum Freiheit aufweisen" (66). Die Lösung dieser anscheinend unentrinnbaren Spannung zwischen dem Individuum und dem Ganzen der Gesellschaft wäre „eine Struktur des Ganzen, die gerade auf die Selbständigkeit und geschlossene Einheit seiner Elemente angelegt ist, sich gerade mit dieser erst vollendet" (67), Dieser idealen Verfassung würde dann die tatsächliche sich ins Unendliche annähern. Die Gesellschaft drängt ihre Individuen zur Arbeitsteilung. J e verschiedener ihre Leistungen sind, desto stärker sind sie aufeinander angewiesen, und desto fester wird die erreichte Einheitlichkeit. Auf Grund dieser Arbeitsteilung ist man berechtigt, „in der Lebenseinheit des Organismus ein Gleichnis der Gesellschaft zu sehen" (70). Arbeitsteilung führt aber auch zur „Vereinseitigung des Individuums", vor allem in komplizierten Kulturen, zu denen die unsere gehört. Der Einzelne wird dabei in eine Teilexistenz hineingepreßt, „die dem Ideal seines Eigenwesens, der Ausbildung einer harmonischen, allseitig gerundeten Ganzheit völlig widerspricht". Die Vollendung der Gesellschaft wird mit der „Unvollendetheit des Individuums" erkauft (72). Die Spannung zwischen Freiheit und Bindung ist nach S. „vielleicht die tiefstgelegene Komplikation unseres Lebens"; denn es erweist sich, „daß dasjenige, was seine Spontaneität einschränkt und sein freies Emporstreben niederdrückt, doch zugleich die Bedingung ist, unter der allein dieses Tun und Streben zu einer sichtbaren Äußerung, einem formenden Schaffen gelangen kann". (Philosophische Kultur, S. 152). Dem schaffenden Individuum, dem Schöpfertum, das er vom Gestaltertum unterscheidet (Rembrandt, S. 200), hat Simmel eine Anzahl von Monographien gewidmet. Das Wesen der schöpferischen Denkerpersönlichkeit und des schaffenden Wort- und Formkünstlers suchen seine Werke über Schopenhauer und Nietzsche (1906), Kant und Goethe (3. A. 1916), Goethe (1913), Rembrandt (1916), Michelangelo, Rodin (in; Philosophische Kultur, 1911) zu ergründen, „Der künstlerische
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Mensch und der wissenschaftliche, der genießende und der handelnde — sie finden alle ein gleiches Material an Greifbarkeiten und Hörbarkeiten, an Impulsen und Schicksalen, und ein jeder, insofern er rein Künstler oder Denker, Genießer oder Praktiker ist, gestaltet daraus ein besonderes Weltganzes" (Religion, S, 9). Das Genie stellt die organische Einheit des Materials, der „sozusagen mechanisch auseinanderliegenden Elemente" dar. „Der Lebensprozeß des Genies vollzieht sich nach dessen innersten, ihm allein eigenen Notwendigkeiten — aber die Inhalte und Ergebnisse, die er erzeugt, sind von der sachlichen Bedeutung, als hätten die Normen der objektiven Ordnungen, die ideellen Forderungen der Sachgehalte der Dinge sie hervorgebracht. Der Eindruck des Exzeptionellen, der für das Genie wesentlich ist, stammt daher, daß die sonst nicht oder nur zufällig zusammengehenden Reihen: des Lebens und der Sachwerte — in ihm eine einzige bilden". (Goethe, S. 2). Die „ideellen Forderungen" der Sachgehalte der Dinge, die S. jetzt anerkennt, im Gegensatz zu den positivistischen Anfängen seines Denkens, erheben den Anspruch auf eine über das Subjekt hinausgehende Gültigkeit für unser Denken und Handeln. Man pflegt dies Zugeständnis ideeller Forderungen und eine daraus folgende Annäherung S.s an den Begriff des Absoluten als Anzeichen einer neuen Periode seines Philosophierens zu betrachten, in der man Einflüsse von Husserl zu verspüren meint, ohne Abhängigkeit nachweisen zu können. Den fragmentarischen Abschluß seines Gedankenwerks bildet die Ausgestaltung einer Kultur- und Lebensmetaphysik, deren besondere Prägung Einwirkung Nietzsches und Bergsons, den erst S. in Deutschland bekannt machte, zu verraten scheint. Ihren Niederschlag fand diese letzte Phase von S.s Philosophie in den Vorstudien zu einer Metaphysik des Lebens, die in dem Sammelband „Lebensanschauung" nach seinem Tode veröffentlicht wurden. Ihr Hauptbestandteil ist die Abhandlung über das „individuelle Gesetz". Hatte S. in seinen Werken über schöpferische Persönlichkeiten die Vielfalt von Möglichkeiten zur Lebensdeutung und Lebensgestaltung gezeigt und durch Darstellung der verschiedenen Weisen ihres Weltfühlens die Irrationalität des Lebens erneut zum Ausdruck gebracht, so war nun doch ein gewisses Bedürfnis nach Zusammenfassung der Fülle zu einer Einheit, nach Einschränkung des Relativismus in ihm lebendig. In seinem Aufsatz über die „Transzendenz des Lebens" spricht er es aus: „In den Einseitigkeiten der großen Philosophen kommt das Verhältnis zwischen der unendlichen Vieldeutigkeit der Welt und unseren beschränkten Deutungsmöglichkeiten zum unzweideutigsten Ausdruck. Allein daß wir diese Einseitigkeiten als solche wissen und nicht nur die einzelnen, sondern die Einseitigkeit als prinzipielle Notwendigkeit — das stellt uns über sie. Wir verneinen sie in dem Augenblick, in dem wir sie als Einseitigkeit wissen, ohne daß wir darum aufhörten in ihr zu stehen. Dies ist das einzige, was uns der Verzweiflung über sie, über unsere Beschränktheit und Endlichkeit zu entheben vermag: daß wir nicht einfach in den Grenzen stehen, sondern weil wir uns ihrer bewußt sind, sie überflügelt haben" (nach: Frischeisen-Köhler, S, 46). S. entwickelt nun den Begriff eines „absoluten Lebens" oder eines „Überlebens" und lehrt die „Immanenz der Transzendenz". Das Leben im absoluten Sinn umfaßt das Leben im relativen Sinn und seinen Gegensatz, den Tod, Das Leben kann sich nicht anders entfalten als in Gegensätzen, es braucht den Gegensatz, geht aber zugleich über ihn hinaus. Es ist zugleich es selbst und mehr als es selbst. Es „übergreift" die Grenzen gegen sein Jenseits. Das Sichselbstentgegensetzen des Lebens drückt sich im Selbstbewußtsein aus; es ist das „Transzendieren" des Lebens. Leben überhaupt kann definiert werden als die Immanenz der Transzendenz. Geistiges Leben aber — und damit knüpft S. die Endgestalt seines Denkens an den Anfang, an die biologische Betrachtung, die so sein gesamtes Philosophieren begleitet — ist die höchste
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Steigerung des organischen Lebens. Beide sind Erscheinungen des All-Lebens, das absolut — als Umspannung aller Gegensätze — verstanden, „metaphysisch" genannt wird. Auch für diese letzte Phase seines Denkens sind Vorklänge in dem früheren Schaffen S.s zu vernehmen: „Das Leben ist die unaufhörliche Relativität der Gegensätze, die Bestimmung des einen durch das andere und des anderen durch das eine, die flutende Bewegtheit, in der jedes Sein nur als ein Bedingtsein bestehen kann. Aus dem Eindruck des Hochgebirges aber sieht uns eine Ahnung und ein Symbol entgegen, daß das Leben sich mit seiner höchsten Steigerung an dem erlöst, was in seine Form nicht mehr eingeht, sondern über ihm und ihm gegenüber ist". (Philosophische Kultur, 2. A „ S. 141). Es gehört zur Eigenart der Denkerpersönlichkeit S., daß sie sich gegen Systematik wehrt, auch gegen das philosophische System. Die wesentliche Aufgabe der Philosophie sieht er nach eigenem Bekenntnis von je darin, „von dem unmittelbar Einzelnen, dem einfach Gegebenen das Senkblei in die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten zu schicken". (Rembrandt, S. V I I ) . Der Weg dahin führt durch die „schlichte Tatsächlichkeit" hindurch. „Die philosophischen Begriffe sollen nicht immer nur in ihrer eigenen Gesellschaft bleiben, sondern auch der Oberfläche des Daseins geben, was sie zu geben haben". Daß die am Tatsächlichen „angesetzten philosophischen Richtlinien sich durchaus in e i n e m äußersten Punkte zu schneiden, sich also in ein philosophisches System einzuordnen hätten, ist ein monistisches Vorurteil, das dem — viel mehr funktionellen als substantiellen — Wesen der Philosophie widerspricht." (S. V I I I ) . In seinen „Hauptproblemen der Philosophie" (1910, Göschen Nr. 500) charakterisiert S. seine philosophische Darstellung als eine solche, die im Gegensatz zu fast allen übrigen „mehr unmittelbar auf die geistige Bewegung, als auf das von ihr gestaltete Gebilde, mehr auf den geistigen Zeugungsvorgang, als auf das schließliche Erzeugnis geht" (S. 6). Die philosophische Produktivität setze das Organ eines solchen inneren Nachschaffens voraus. Was Philosophie ist, wird mit ihren eigenen Begriffen und Mitteln erwiesen. „Sie selbst ist sozusagen das erste ihrer Probleme". „Die Philosophie, und vielleicht also sie allein, bewegt sich in diesem eigentümlichen Zirkel: innerhalb ihrer eignen Denkweise, ihrer eignen Absichten, die Voraussetzungen dieser Denkweise und Absichten zu bestimmen. E s gibt von außen keinen Zugang zu ihrem Begriff." (S. 8). Dieses Verhalten ist Ausdruck ihrer Bemühung, voraussetzungslos zu denken. „Die vollkommene Voraussetzungslosigkeit ist freilich unerreichbar." Den Philosophen kann man „als denjenigen bezeichnen, der das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit des Seins hat" (S. 12). „Welche Spezialfrage der Logik oder der Moral, der Ästhetik oder der Religion er auch behandle — als Philosoph tut er es nur, wenn jene Beziehung zu der Totalität des Seins irgendwie darin lebt." Legt man diesen von ihm aufgestellten Maßstab an S. selber an, so muß man ihn in jeder Phase seines Schaffens, und auch da, wo er sich weitabliegenden Gegenständen zuwendet, als echten Philosophen bezeichnen. Auch von ihm gilt, daß sein philosophisches Denken „das Persönliche versachlicht und das Sachliche verpersönlicht. Denn es drückt das tiefste und letzte einer persönlichen Attitüde zur Welt in der Sprache eines Weltbildes aus." (S. 28). S c h r i f t e n : Uber soziale Differenzierung; soziolog. u. psycholog. Untersuchungen, 1890. — Die Probleme der Geschichtsphilosophie, eine erk.theoret. Studie, 1892; 2. völlig veränderte A. 1905; 5. A. 1923. — Einleitung in die Moralwissenschaft, eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, 2 Bde., 1892/93; 3. A. 1 9 1 1 — Philosophie des Geldes, 1900; 2. A. 1907. — Kant, 1903 ; 4. A. 1918. — Schopenhauer u. Nietzsche, 1907; 2. A. 1920. — Die Religion, 1907; 2. A. 1912. — Hauptprobleme der Philosophie, 1910; 7. A. 1949 (Göschen, Nr. 500). — Soziologie, 1908; 2. A. 1922. — Philosophische Kultur, Ges. Essays, Philosophen-Lexikon
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Simmias — Simon, J u l e s
1911: 2. A. 1919. — Goethe, 1913. — Deutschlands innere Wandlung, 1914. — Kant und Goethe, zur modernen Weltanschauung, 1916. — Das Problem der historischen Zeit, 1916 (Philos. Vorträge der Kantges-, Nr. 12). — Rembrandt, 1916. — Grundfragen der Soziologie, 1917 (Göschen). — Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, 1917. — Lebensanschauung, 1918. — Vom W e s e n des historischen Verstehens, 1918, — Der Konflikt d e r modernen Kultur, 1918. — Zur Philosophie der Kunst, hrsg. von G e r t r u d Simmel, 1922. — Vorlesungen über Schulpädagogik, 1922. — F r a g m e n t e u. Aufsätze, aus dem Nachlaß hrsg. v. G e r t r u d Kantorowicz, 1923. L i t e r a t u r : M, Adler, G. S.s Bedeutung f ü r die Geistesgesch., W i e n 1919. — M a x Frischeisen-Köhler, G. S., Kantstudien, Bd. 24, H e f t 1, 1919. — Wilhelm Knevels, S.s Religionstheorie, 1920. — N. J . Spykman, T h e social theory of G. S., 1925, — M a x Grünewald, Die Philosophie S.s, mit bes. Berücksichtigung ihrer Beziehung zum Pragmatismus, Diss., Breslau 1925. — Ernst Troeltsch, Der Historismus, S. 572—595, 1922 (vorher in den Preuß. J a h r b b . veröff.). — Erich Tromnau, G. S.s Schopenhauerauffassung, Diss., Königsberg 1927. — Karl-Alfred von Marcard, Der Begriff des K u n s t w e r k s bei G. S., Diss., Leipzig 1929. — Hersch-Leib Woyslawski, G. S.s Philosophie des kapitalistischen Geistes, Diss., Berlin 1931. — Helmut Bohner, Untersuchungen zur Entwicklung d e r Philosophie G. S.s, Diss. Freiburg 1930. — G e r h a r d Loose, Die Religionssoziologie G. S.s, Diss., Leipzig 1933. — Herwig Müller, G. S. als Deuter u. Fortbildner Kants, Diss., Leipzig 1935. — Wilhelm Fabian, Kritik d e r Lebensphilosophie S.s, 1926. — Hermann Gerson, Die Entwicklung der ethischen Anschauungen bei G. S,, Diss., Berlin 1932. S i m m i a s aus Theben, Z e i t g e n o s s e des S o k r a t e s . D e r P y t h a g o r e e r S. w a r zu E n d e d e s 5. v o r c h r i s t l i c h e n J a h r h u n d e r t s S c h ü l e r d e s P h i l o l a o s . Er w i r d in P i a t o s P h a i d o n a l s B e k a n n t e r d e s S o k r a t e s z u m G e s p r ä c h s p a r t n e r gemacht. S, lehrte, daß d i e S e e l e im p h y s i s c h e n u n d im e t h i s c h e n S i n n e die H a r m o n i e z w i s c h e n den K ö r p e r e l e m e n t e n sei. V o n den S c h r i f t e n d e s S. ist nichts überliefert, L i t e r a t u r : Fr, Blass, Eine Schrift des S. von Theben, in: J a h r b . f ü r Philosophie u. Pädagogik, Bd. 123 (1881), S. 739 ff. S i m o n , J u l e s (eigentlich J u l e s F r a n ç o i s S i m o n S u i s s e ) , geb. 31. D e z e m b e r 1814 in Lorient, gest. 8. J u n i 1896 in Paris. A b 1835 Lehrer in Paris, C a e n u n d V e r s a i l l e s , 1839 P h i l o s o p h i e - P r o f e s s o r a n der S o r b o n n e für Cousin. Verliert s e i n e P r o f e s s u r 1851 aus p o l i t i s c h e n Gründen: a l s R e p u b l i k a n e r v e r w e i g e r t er d e n H u l d i g u n g s e i d für N a p o l e o n . N a c h d e s s e n Sturz m e h r f a c h Unterrichtsminister. 1875 M i t g l i e d der f r a n z ö s i s c h e n A k a d e m i e . — S. ist Vertreter d e s S p i r i t u a l i s m u s . E s bedarf k e i n e s B e w e i s e s für die E x i s t e n z d e s a b s o l u t e n g ö t t l i c h e n W e s e n s , w o h l aber dafür, d a ß G o t t e i n e P e r s o n ist. S. m a c h t sich die W i d e r l e g u n g aller p h i l o s o p h i s c h e n S y s t e m e zur A u f g a b e , in d e n e n die P e r s ö n l i c h k e i t G o t t e s a n g e z w e i f e l t wird. Er rechnet d a z u n e b e n d e n S y s t e m e n v o n D e s c a r t e s , Malebranche, Leibniz, S p i n o z a auch K a n t u n d H e g e l . Auf d e m G e b i e t e der M o r a l p h i l o s o p h i e e n t w i c k e l t S. die a l l g e m e i n e n R e g e l n d e s V e r h a l t e n s , die sich aus den e t h i s c h e n P r i n z i p i e n ergeben, u n d z e i g t ihre U n a b h ä n g i g k e i t v o n d e n D o g m e n der geoffenbarten R e l i g i o n . S c h r i f t e n : Etude sur la théodicée de Platon et d'Aristote, — Histoire de l'école d'Alexandrie, 2 Bde., 1844—45. — Le devoir, 1854; 17. A. 1902. — La religion naturelle, 1856; 8. A. 1883. — La liberté, 2 Bde., 1859; 4. A. 1872. — La liberté de conscience, 1857; 6. A. 1883. — L'ouvrière, 1861; 9. A. 1891. — L'école, 1864; 11. A. 1886. — Le travail, 1866. — L'ouvrier de huit ans, 1867. — La politique radicale, 1868. — La peine de mort, 1869. — Souvenirs du 8 Septembre, 2 Bde., 1874. — Le livre du petit citoyen, 1880. — Victor Cousin, 1887. — Mignet, Michelet, Henri Martin, 1889. — La femme du 20e siècle, 1891; 21. A. 1893. — Quatre portraits (u. a. Renan), 1896, — Lebenserinnerungen: Premières années, 1901, und Le soir de ma journée, 1901. — Hrsg.: Descartes, Malebranche. L i t e r a t u r : Séché, Jules S,, sa vie, son temps, son œ u v r e (1814—1896), 1898; J u l e s S., ses dernières années, 1903.
Simon, Paul — Simplicius
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Simon, Paul, geb. 23. August 1882 in Dortmund, verstorben. 1907 Priesterweihe. Dr. theol., 1917 Dr. phil., 1919 Professor an der philos.-theol, Akademie Braunsberg, 1925 o. Professor Universität Tübingen. 1933 Dompropst in Paderborn. S c h r i f t e n : Der Pragmatismus in der modernen französischen Philosophie, 1920. — Einführung in Dantes Göttliche Komödie, 1921. — Das Handbüchlein des hl. Augustinus, 1923. —- Philosophisches Lesebuch, 1925. — Die Idee der mittelalterlichen Universität und ihre Geschichte, 1932. — Sein und Wirklichkeit, Grundfragen einer Metaphysik, 1933. — Voraussetzung und Wesen der mittelalterlichen Universität, 1933. — Die geistigen Wurzeln unserer Weltanschauungskrise, 1933. — Geschichte als Weg des Geistes, 1933. — Mythos oder Religion, 1934; 3. A. 1935. — Die Entwicklung des Wissenschaftsbegriffs seit dem Beginn der Neuzeit, 1934. — Weltanschauung, 1935. — Besinnliche Reise, 1938. — Zur natürlichen Gotteserkenntnis, 1940. — Wissenschaftsideal u. Philosophie in besonderer Berücksichtigung von Bergson, in: Philosophia perennis, Festschrift für Joseph Geyser zum 60. Geb., 1930.
Simon von Tournay, um 1200 Lehrer an der Sorbonne. — Der Pariser Theologe S. ist Vertreter eines gemäßigten Realismus. Er wurde zu Unrecht des Averroismus beschuldigt. In seinen Schriften zeigt er sich beeinflußt von Pseudo-Dionysius und Johannes Scotus Eriugena. Als einer der ersten Scholastiker kennt er die Physik des Aristoteles; ob auch De anima und die Ethik, ist umstritten. Das Verhältnis von Glauben und Wissen drückt S. antithetisch aus: „Aristoteles vertritt den Satz, daß die Vernunft den Glauben schafft. Aber Christus lehrt, daß der Glaube die Vernunft schafft. Daher heißt es bei Aristoteles: erkenne, und du wirst glauben. Aber bei Christus: glaube, und du wirst erkennen." S c h r i f t e n : Institutiones in sacram paginam oder Sententiae. — Quaestiones quodlibetales. — Summa. — Disputationes. — Expositio symboli S. Athanasii. — De theologiis affirmationis et negationis. — (Verfaßt zwischen 1176 und 1192, zum Teil ungedruckt). L i t e r a t u r : M. de Wulf, Histoire de la philosophie en Belgique, 1910, S. 56 ff. — M. Grabmann, Die Gesch. der scholast. Methode, Bd. II, S. 535—552.
Simplicius von Cilicien (Simplikios von Kilikien), lebte im 5./6. Jh. n. Chr. Lehrer in Alexandrien und Athen während der Regierung Justinians. Nach Schließung der athenischen Schule durch Justinian im Jahre 529 wandert S. mit andern Philosophen nach Persien aus, kehrt aber 533 nach Griechenland zurück. Der neuplatonische Philosoph S. ist Schüler von Ammonius in Alexandrien und von Damascius in Athen; er vermittelt zwischen ihren abweichenden Lehren. S. ist Verfasser von Aristoteles-Kommentaren, von denen einige — zu den Schriften vom Himmel, von der Seele, zu den Kategorien und zur Physik — erhalten sind. Der umfassenden Gelehrsamkeit des S. auf philosophischem, philologischem und exaktwissenschaftlichem Gebiete verdanken wir unersetzliche Angaben und zahlreiche Bruchstücke, vor allem zur antiken Philosophie, auch zur vorsokratischen. S. versucht Plato und Aristoteles zu harmonisieren, indem er ihre Unstimmigkeiten nur als solche der Worte, nicht der Sache selbst betrachtet. Auch ist er heftiger Gegner der christlichen Lehre, besonders des übergetretenen Philoponos. S c h r i f t e n : Aristoteles-Kommentare in der Akademie-Ausgabe, Berlin, Bd. 7—11. — Komm, zu Aristoteles, Metaphysik, hrsg. v. Hermann Diels, Berlin 1882. — Komm, zu Arist., Vom Himmelsgebäude, hrsg. von Heiberg, 1894. — Komm, zu Arist., Von der Seele, hrsg. von Hayduck, 1882. — Kommentar zu Epiktet, Encheiridion, hrsg, von Enk, Wien 1866 (dt.); von Schweighäuser (griech.), Lpz, 1800. L i t e r a t u r : Praechter, Artikel S,, in Pauly-Wissowa, Realenzyklop. der klass, Altertumskunde, 2. Reihe, Bd. 5 (1927), Sp. 204—213. 35*
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Singer — Sleidanus
Singer, Kurt, geb. 18. Mai 1886 in Magdeburg. 1910 Dr. rer. poi., 1920 Privatdozent in Hamburg, 1924 bis 1933 Professor dort. 1931 Gastprofessor an der Universität Tokio. — Philosoph und Sozialwissenschaftler. S c h r i f t e n : On the crisis of the p r e s e n t day, 1932. — Das Geld als Zeichen, 1920. — Piaton u, das Griechentum, 1920. — Piaton der Gründer, 1927.
Siron, epikureischer Philosoph, Lehrer des Dichters Vergil. Sismondi, Jean Charles Léonard Simonde de, geb. 9. Mai 1773 in Genf, gest. 25. Juni 1842 ebenda. Englandreise und mehrjähriger Aufenthalt in Italien, 1805 in Begleitung von Madame de Staël. Ab 1800 ständig in Genf, Tätigkeit bei der Handelskammer. In seinen frühen Werken lehnt S. sich an Adam Smith an, übt aber später Kritik an seiner Wirtschaftstheorie. Als einer der Ersten weist er auf die sozialen Schäden des wirtschaftlichen Liberalismus hin. Auch in der Prägung und Erweiterung des Begriffs „Renaissance" war S. führend. Er dehnt ihn als Renaissance des lettres latines et grecques über Kunst- und Literaturgeschichte aus. S c h r i f t e n : Histoire des républiques italiennes du moyen âge, Bd. 1—4, Zürich 1807/08; Bd. 5—16, Paris 1809—1818; Ausg. in 10 Bdn., Paris 1840. — Histoire des Français, 31 Bde., Paris 1821—1844; daraus: Précis, 3 Bde., 1839—1844. — Histoire de la chute de l'empire Romain et du déclin de la civilisation de 250 à 1000, 2 Bde., P. 1835, dt. v. Lindau, Lpz. 1836. — De la littérature du midi de l'Europe, 4 Bde., P. 1813—1829; dt. 2 Bde., Lpz. 1816—1819. — E t u d e s sur les sciences sociales, 3 Bde., P. 1836—-1838. — Principes d'économie politique appliqués à l a législation du commerce, 2 Bde., Genf 1803. — Nouveaux principes de l'économie politique, 2 Bde., P. 1819; 2. A. 1827. — L e t t r e s inédites, hrsg. v. Taillandier, P. 1863. — Correspondance, hrsg. v. Mongolfier, 1863. — Lettres inédites, hrsg. v. Villari u. Monod, P. 1868. L i t e r a t u r : Spahn, Der sozialpolitische S t a n d p u n k t des schweizerischen Nationalökonomen S. de S., 1886. — Aftalion, L'oeuvre économique de S. de S., 1899. — J e a n d e a u , S. p r é c u r s e u r de la législation sociale contemporaine, Thèse, Bordeaux, 1913. — Tellhauer, Simonde de S., Diss., Freiburg 1922. — Konrad Gumbel, S. de S. als Wirtschaftskritiker, T h e o r e t i k e r u. Sozialkritiker, Diss., Gießen 1928. — Maria W e r t h , Die Kritik des Industrialismus bei S. u. Le Play, Diss., Köln 1929. — Karl Traub, Das Problem Eigentum u. Gemeinschaft, entwickelt aus den Systemen Proudhons u. S.s, Diss,, Tübingen 1937.
Skoworoda, Grigorij, geb. 3. Dezember 1722 in Tschernuchi, Gouv. Poltawa, gest. 9. November 1794 in Iwanowka, Gouv. Charkow. Pädagogische Tätigkeit an geistlichen Anstalten. Unternahm zahlreiche Europareisen als Wanderphilosoph. Der Ukrainer S. war zugleich Mystiker und Rationalist. Er führte heftigen Kampf gegen die Unwahrheit. S c h r i f t e n : W e r k e , vollständig hrsg. v. D. Bahalyj, Charkow 1894; von W. BonczBrujewicz, Petersburg 1912. L i t e r a t u r : Marie v. Besobrasof, G. Sk., in: Archiv f. Gesch. der Phil., Bd. 26 (19131. —• Bahalyj u. J a w o r s k y j , Der ukrainische Philosoph G, S, Sic., ukr., 1923. — Bahalyj, G. S. Sk., der ukrainische Wanderphilosoph, ukr., 1926. — Mirtschuk, Sk., ein ukrainischer Philosoph des 18. Jhs., in: Zeitschr. für slawische Philol., Bd. 5, 1929; Tolstoj u. Sk., in: Abhandlungen des Ukrainischen Wissenschaftl. Instituts in Berlin, Bd. 2, 1929. — Haase, Die kulturgeschichtl. Stellung des ukrain. Philosophen G. S. Sk,, in: J a h r b ü c h e r f ü r Kultur u. Gesch. der Slawen, N. F., Bd. 4, 1929. — Drmet Oljancyn, Hryhorij Sk., 1722—1794. Der ukrainische Philosoph des 18. Jhs. u. s. geistig-kulturelle Umwelt, Berlin 1928, in: Osteuropäische Forschung, N. F., Bd. 2.
Sleidanus, Johannes (eigentlich Joh. Philippi), geb. etwa 1506 in Schleiden bei Köln, gest. 31. Oktober 1556 in Straßburg. Jurastudium in Lüttich, Köln, Löwen, Paris und Orleans. Eintritt in die Dienste von Franz I. von Frankreich. 1542 zurück nach Deutschland, ab 1544 in Straßburg. 1545 Botschafter der protestantischen Fürsten beim König von England. 1551 nach Trient.
Slotemaker de Bruine — Smend
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Die Schriften des protestantischen Historikers S. bilden die zeitgenössische Hauptquelle für die Geschichte der Reformation in Deutschland und für die Kultur im Zeitalter Karls V. S. behauptet, den Grundsatz befolgt zu haben: „Die Geschichte muß in erster Linie Wahrheit und Lauterkeit üben." E r begann seine wissenschaftliche Laufbahn als erasmischer Humanist und Verehrer Melanchthons und wurde später durch das Studium von Calvins Schriften beeinflußt. S c h r i f t e n : De statu religionis et reipublicae Carolo V. Caesare, commentarii, 26 Bücher, Straßburg 1555, Buch 26 (bis 1556) posthum 1558; hrsg. von Am Ende, 3 Bde., Frankfurt 1585/86; dt. v. Semler, 4 Bde., Halle 1770/73. — Summa doctrinae Piatonis de república et legibus, 1548. — De quattuor summis imperiis, 3 Bde., 1556. — Opuscula, hrsg. v. Putschius, 1608. — Briefwechsel, hrsg. v. Baumgarten, 1881. L i t e r a t u r : Herrn. Baumgarten, Über S.s Leben u. Briefwechsel, Straßburg 1878; S.s Briefwechsel, 1881. — Ad. Hasenclever, S.-Studien, Bonn 1905. — G. Kawerau, Art. S. in: Realenzykl. für prot, Theol. und Kirche, Bd. 18 (1906), S. 443—447.
Slotemaker de Bruine, Jan Rudolf, geb. 6. Mai 1869 in Wassenaar beim Haag. 1894 bis 1916 Pfarrer, 1916 bis 1926 Universitätsprofessor in Utrecht, 1926 und 1929 niederländischer Arbeits- und Handelsminister. S c h r i f t e n : Christelijke sociale Studien, 1908. — Selbstdarstellung in: Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, 1925.
Slowacki, Julius, geb. 23. August 1809 in Kremenez, gest. 3. April 1849 in Paris. In Wilna aufgewachsen. 1831 in Paris, 1832—35 in Genf. Geht 1836 nach Italien, Ägypten und Palästina. 1839 Rückkehr nach Paris. Der polnische Dichter S. widmete sich unter Einfluß von Towianski der Philosophie. In eine Art von Mystik versponnen, entwickelte er einen wirkungsvollen national-polnischen Messianismus. S c h r i f t e n : Gesammelte W e r k e , 4 Bde., Leipzig 1862—64. — Gesamtausgabe von Kleiner, 16 Bde., 1924 ff. — Briefe an seine Mutter, 3 Bde., Lemberg 1875/76. — Briefe, 2 Bde., hg. von L. Piwinski, 1932. — Nachlaß, 3 Bde., 2. A., Lemberg 1885. — Król Duch, T e x t u. Kommentar von J . G. Pawlikowski, Lemberg 1924/25. L i t e r a t u r : F . Hössnick, S.-Biographie, 3 Bde., Warschau 1897. — Sarrazin, L e s grands poètes romantiques de la Pologne, Paris 1906. — J , G. Pawlikowski, Mistyka Slowackiego, Lemberg 1909. — J . Kleiner. J . S., 4 Bde., 1919—1927; 2. A. 1928 ff. — F . Grabowski, J . S „ 2. A., 2 Bde., 1920—1926. — Bychowski, S. i jego dusza, 1930.
Small, Albion Woodbury, geb. 1854 in Buckfield, Me., gest, 1926. Studium in Berlin und Leipzig. 1881 bis 1888 Professor für Geschichte und politische Ökonomie am Colby College, USA., 1892 bis 1924 an der (ersten) soziologischen Fakultät in Chicago. — Der Vertreter des Evolutionismus S. organisierte die soziologische Forschung in USA. S c h r i f t e n : Introduction to the study of sociology. — General sociology, 1905. — Adam Smith and modern sociology, Chicago 1907. — The Cameralists, 1909. — T h e meaning of social science, 1910. — Between Eras: from capitalism to democracy, 1913. — Origins of sociology, 1924. — Gründer und Mithrsg. des American J o u r n a l of Sociology, 1895 bis 1926. L i t e r a t u r : H. W, Odum, American Masters of Social Science, 1927.
Smend, Rudolf, geb. 15. Januar 1882 in Basel. 1908 Hab. für Rechtswiss. in Kiel. 1909 a. o. Prof. in Greifswald, 1911 o. Prof. in Tübingen, 1915 in Bonn, 1922 in Berlin, 1935 in Göttingen. — S. ist Gegner der formalistischen Lehre vom Staatsrecht. S c h r i f t e n : Das Reichskammergericht, 1911. — Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts, 1912. — Krieg und Kultur, 1915. — Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, 1916. — Die politische Gewalt im Verfassungsstaat, 1923. — Verfassung u, Verfassungsrecht, 1928. — Bürger u. Bourgeois im deutschen Staatsrecht, 1933. — Politisches Erlebnis u. Staatsdenken seit dem 18. Jhdt., 1943.
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Smetana — Smith
L i t e r a t u r : Hanns Mayer, Die Krisis der deutschen Staatslehre u. die Staatsauffassung R, S.s, Diss., Köln 1931.
Smetana, Augustin, geb. 14. Juni 1814 in Prag, gest. 30. Januar 1851 in Prag. Ehemaliger Kreuzherren-Ordensgeistlicher, wurde exkommuniziert. — Der böhmische Philosoph S. bekennt sich zu einer idealistischen Richtung. Er will die Naturphilosophie Schellings mit Hegels Philosophie des Geistes in Einklang bringen. Die Vervollkommnung der deutschen Philosophie hält er für eine Aufgabe der Slawen. S c h r i f t e n : Die Bedeutung des gegenwärtigen Zeitalters, Prag 1848. — Die Katastrophe u. der Ausgang der Gesch. der Philosophie, Hamburg 1850. — S.s Autobiographie, Gesch. eines Exkommunizierten, aus dem Nachlaß hrsg. v. A. Meißner, Lpz. 1863. — Der Geist, sein Entstehen u. Vergehen, Prag 1865. L i t e r a t u r : T. G. Masaryk, Der moderne Mensch u. die Religion, 1897. — Franz Krejci, Aug. S. im Kampf um die Religion, Prag 1905, 2. A. 1908; Unsere religiösen Ideale (tschechisch), 1927.
Smith, Adam, geb. 5. Juni 1723 in Kirkaldy (Schottland), gest. 17. Juni 1790 in Edinburg. Studium der Theologie in Glasgow und Oxford. Professor für Logik in Glasgow 1751, für Mtoralphilosophie 1752. Erzieher und Reisebegleiter des Herzogs von Buccleugh. 1763 bis 1766 in Frankreich und Italien. Das philosophische Hauptwerk von Smith ist die „Theorie der moralischen Empfindungen". Sie stellt eine Beschreibung des sittlichen Lebens dar, so wie es sich in den Empfindungen der Menschen tatsächlich vollzieht. Werturteile kommen dabei nur mittelbar zum Ausdruck, soweit sie aus dem Geist der Zeit heraus der geltenden Wertordnung entspringen. Der unleugbare Egoismus der menschlichen Natur wird durchbrochen durch die Tatsache, daß es in ihr auch das Mitleid gibt, das sich auf das Unglück und die Sorge anderer Menschen bezieht. Es kommt dadurch zustande, daß der Mensch sich so in die Rolle des anderen hineinversetzt, als ob er selbst betroffen wäre. Zu einer so entstehenden Sympathie im vollen Sinn gehört auch, daß der andere von uns in seinem Verhalten gebilligt wird. Der Wert eines Affektes bestimmt sich danach, wie die Handlung beschaffen ist, die aus ihm erfolgt. Gegenstände des ästhetischen Genusses stehen außer aller Berührung mit Interessen sowohl dessen, der den Affekt empfindet, wie dessen, der über ihn urteilt. Fähigkeiten zu tieferem Eindringen in künstlerische oder wissenschaftliche Gegenstände bewundern wir um ihrer selbst willen. Erst nachträglich erwägen wir den mit ihnen verbundenen Nutzen. Umfassendes Mitgefühl läßt liebenswürdig erscheinen, starke Selbstbeherrschung macht verehrungswürdig. Gewöhnliches moralisches Verhalten aber ist noch keine Tugend, vielmehr erst wo wir ein über den Durchschnitt hinausgehendes Maß an Güte finden, wo wir also bewundern können, beginnt das eigentlich Moralische. Zur ganzen Menschennatur gehören auch die Affekte des Zorns und der Vergeltungstrieb. Fehlen sie ganz, so neigen wir dazu, den Menschen zu verachten, der sie nicht besitzt, Angesichts der vollendeten Humanität aber bedauern wir es, daß die Welt ihrer nicht wert ist. Dagegen ist Gerechtigkeit unbedingt zu fordern, und so scharf auch der Kampf um die Existenz sein mag, niemals ist es gestattet, den Gegner mit unsachlichen Mitteln zu Fall zu bringen. Nur unter dieser Voraussetzung ist eine Gesellschaft überhaupt möglich. Wohltätigkeit dagegen ist keine Grundlage, sondern nur ein Schmuck des Gesellschaftsgebäudes. Die Welt richtet nicht nach der Gesinnung, sondern nach dem Erfolg. Das Urteil der Menschen über einander trifft nur das Äußere und appelliert an unser Bedürfnis nach äußerem Lob, das innere Urteil, das wir über uns selbst fällen, will uns vor unseren eigenen Augen würdig erscheinen lassen. Maßstäbe für unser Urteil bilden sich in den
Smith, Henry Bradford
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Regeln, die wir e n t s p r e c h e n d der in b e s t i m m t e n F ä l l e n e i n t r e t e n d e n Billigung o d e r Mißbilligung a u s der B e o b a c h t u n g ableiten. In der E h r f u r c h t v o r diesen R e g e l n b e g r ü n d e t sich das Pflichtgefühl, das für die M a s s e die einzige R i c h t s c h n u r ihres H a n d e l n s ist. W i e a l l e übrigen E i n r i c h t u n g e n der N a t u r , so b e s t ä t i g e n a u c h die M o r a l g e b o t e die T a t s a c h e , d a ß das G l ü c k der M e n s c h h e i t der Z w e c k der Schöpfung ist. M i t seinem W e r k „ U n t e r s u c h u n g über die N a t u r u n d die U r s a c h e des W o h l s t a n d e s der N a t i o n e n " ist S m i t h einer der B e g r ü n d e r der m o d e r n e n N a t i o n a l ö k o n o m i e g e w o r d e n . D e r einzig w e r t s c h a f f e n d e u n d zuletzt a u c h w e r t b e s t i m m e n d e F a k t o r ist die m e n s c h l i c h e A r b e i t . I h r e sinnvolle Teilung u n d die A u s f ü h r u n g i m m e r s p e z i e l l e r e r F u n k t i o n e n d u r c h jeweils b e s o n d e r e A r b e i t e r ist die Quelle der w i r t s c h a f t l i c h e n P r o d u k t i v i t ä t u n d des F o r t s c h r i t t e s . Die Preisbildung entspringt aus A r b e i t s l o h n , U n t e r n e h m e r g e w i n n u n d G r u n d r e n t e . W e n n der M a r k t v e r k e h r v o l l k o m m e n frei w ä r e , w ü r d e n U n t e r n e h m e r g e w i n n u n d A r b e i t s l o h n sich d a d u r c h v o n selbst in bester W e i s e ausgleichen, d a ß j e d e r sich der B e s c h ä f t i g u n g z u w e n d e n würde, die ihm jeweils den h ö c h s t e n G e w i n n abwirft. — K a n t e r k l ä r t mit B e ziehung auf die „ T h e o r i e der ethischen G e f ü h l e " S m i t h für seinen Liebling (Brief a n M a r k u s H e r z , A k a d e m i e - A u s g . , B d . X , S. 1 2 6 ) . S c h r i f t e n : The Theory of moral sentiments, 1759; new ed., London 1853. — Essays on philosophical subjects, to which is prefixed an account of the life and writings of the author, by Dugald Stewart, Dublin und Edinburg 1795. — An Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations, 2 Bde., L. 1776; hrsg. v. Rogers, 2 Bde., L. 1870. — Lectures on J u s t i c e , police, revenue and arms, hrsg. v. Edwin Cannan, Oxford 1896. — Posthumous essays, hrsg. v. B l a c k u. Hutton, 1795 (darin: On the principles which lead and direct philosophical inquiries). — Theorie der ethischen Gefühle, übers, u. hrsg. v, W a l t e r Eckstein, mit ausführl. Bibliographie, Lpz. 1926. — Eine Untersuchung über Natur u. W e s e n des Volkswohlstandes, übers, v, E. Grünfeld, hrsg. v, H. Waentig, J e n a 1923. — Gesamtausgabe, 5. Bde., von Dugald Stewart, L. 1811 u. 12. L i t e r a t u r : August Oncken, A. S. in der Kulturgesch., 1874; A. S, und Immanuel Kant, 1877. — Wilhelm Paszkowski, A, S. als Moralphilosoph, 1890. — Johannes Schubert, A. S.s Moralphilosophie, 1890. — Feilbogen, S. und Turgot, W i e n 1892. — Witold von Skarzynski, A. S, als Moralphilosoph u, Schöpfer der Nationalökonomie, 1878. — Wilhelm Hasbach, Die philosophischen Grundlagen der von F . Quesnay u. A. Smith begründeten politischen Ökonomie, 1890; Untersuchungen über A. S. u. die Entwicklung der politischen Ökonomie, 1891. — Hermann Huth, Die Bedeutung der Gesellschaft b e i A. S. und Adam Ferguson, Diss., Leipzig 1906. — Albion W . Small, A. S. and modern sociology. Chicago 1907. — Hans Faßbender, Die Lehre vom Arbeitslohn bei A. S. und bei Ricardo, Diss., Köln 1925. — Günter Hoffmann, A. S.s Philosophie in ihrem Verhältnis zu Naturrecht u. Volkswirtschaft, Diss., Berlin 1930. — Franz Wilhelm Koch, Über den Zusammenhang von Philosophie u. Theorie der Wirtschaft bei A. S., Diss., Halle 1927. — Hildegard Koepke, Der Konkurrenzu. Monopolbegriff bei A. S., Berlin 1930. — Hans Rasch, A, S.s Beziehungen zum Merkantilismus, Diss., Gießen 1930. — Wilhelm Stoffel, Wirtschaft u. Staat bei A. S. und David Ricardo, Diss., Köln 1931. — Theodor Pütz, Nationalökonomisches Denken u. W e l t anschauung bei A. S., Diss., München 1931; Wirtschaftslehre u. Weltanschauung bei A. S., München 1932. — W . R. Scott, A. S. as student and professor, Glasgow 1937. — E. A. J . Johnson, Predecessors of A. S., the growth of British economic thought, N. Y. 1937. — F e l i x Seitz, Interesse u. Interessenten-Problem bei A. S. und Chr. J . Kraus, Diss., Freiburg i. Br. 1939. — Georg Viereck, Christian J a k o b Kraus' Moralphilos. in ihrem Verhältnis zu A. S.s „Theory of moral sentiments", Diss., Königsberg 1940. — Rudolf Walder, Das W e s e n der Gesellschaft bei A. S. u. Rudolf Ihering, Diss., Kiel 1943. Smith, H e n r y B r a d f o r d , geb. 1882, gest. 14. N o v e m b e r 1 9 3 8 . P h i l o s o p h i e - P r o f . an der U n i v e r s i t ä t P e n n s y l v a n i e n ,
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Smith, J . A. — Snell, Carl
Smith, J . A., geb. 1863. Professor in Oxford. — Der englische Philosoph S. ist von Croce und Gentile entscheidend beeinflußt. S c h r i f t e n : Knowing and acting, Oxford 1910. — The Nature of art, 1924. — The philosophy of G. Gentile, in: Proceedings of Arist. Soc., Vol. 20, 1920. — Philosophy as the development of the notion and reality of self-consciousness, in: Contemporary Brit. Philos., Vol. n, 1925.
Smith, T. V., geb. 1890. Seit 1916 Lehrer für Philosophie und englische Literatur in U.S.A., Staatsämter in Illinois. Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität von Syracuse (Staat N. Y.). S c h r i f t e n : Democratic way of life, 1925. — Philosophers speak for themselves, 1934. — Legislative way of life, 1940.
Smuts, J a n Christiaan, geb. 24. Mai 1870 in Bovenplaats (Kapprovinz). Studium der Rechte in Leiden, Cambridge und Straßburg. Anwalt in Kapstadt und Johannisburg. Mit 28 Jahren Generalstaatsanwalt für die Transvaal-Republik, dann Staatssekretär. In der Südafrikanischen Union Arbeits- und Justizminister und Ministerpräsident. Smuts legt das Prinzip der Ganzheitlichkeit seiner gesamten Weltanschauung zugrunde und nennt diese „Holismus". Die „holistische" Philosophie lehrt, „daß die Wirklichkeit von Grund auf ganzheitlich oder holistisch ist und daß alle Daseinsformen, in denen dieses Prinzip zum Ausdruck kommt, danach streben Ganze zu sein oder holistisch in mehr oder minder starkem Maße zu sein" (Die holistische Welt, S. X ) . Das „wichtigste Ereignis, das aus dem Begriff des Ganzen folgt, ist . . . das Auftreten des Begriffes schöpferisches Verhalten. Gerade die mit dem Begriff des Ganzen gegebene Synthese ist der Ursprung des schöpferischen Verhaltens in der Natur. Die Natur ist schöpferisch, die Evolution ist schöpferisch, und zwar in dem gleichen Verhältnis, in dem sie aus Ganzen besteht, die neue Gefügetypen und Synthesen hervorbringen" (a. a. O. S. 128). Aus dem Prinzip der Ganzheit in seiner Anwendung auf das gegenständliche Denken ergibt sich eine Umbildung der Kategorien, wie z. B. der Kausalität. Darüber hinaus eröffnet sich ein Ausblick auf die Auslegung der menschlichen Freiheit im Weltall. „In dem Maße, wie die Reihen der Ganzen vorwärts schreiten, verstärkt sich in dieser Welt das Element der Freiheit, bis schließlich auf der Stufe des Menschen die Freiheit die bewußte Aufsicht über diesen Vorgang übernimmt und damit beginnt, die freie ethische Welt des Geistes zu schaffen. Der Holismus wird auf diese Weise zur Grundlage der organischen Fortentwicklung und des freien schöpferischen Fortschritts zu Werten und Idealen, die letztlich dem Leben den Sinn geben, den es hat, und zur Freiheit, die die Voraussetzung jedes geistigen wie auch organischen Fortschritts ist" (a. a. 0 . S. 129). S c h r i f t e n : Holism and Evolution, 1926; 3. Aufl. London 1936; deutsch u. d. Titel: Die holistische Welt, Berlin 1938. — Plans for a better world, 1942. L i t e r a t u r : N. Leir, J a n S., 1917.
Sneath, E. Hershey, geb. 7. August 1857 in Mountville, Pennsylvanien, gest. 20. Dezember 1935. Seit 1889 Professor der Philosophie, 1912 Professor für Religionsphilosophie an der Yale-Universität. 1923 emeritiert. S c h r i f t e n : The philosophy of Reid, 1892. — The ethics of Hobbes, 1898. — The mind of Tennyson, 1900. — Philosophy and poetry, 1904. — Wordsworth, poet of nature and poet of man, 1912. — Religious training in the school and home, 1917. — Shall we have a creed? 1925. — Zus. mit Dean Hodges: Moral training in the school and home.
Snell, Carl, geb. 19. Januar 1806 in Dachsenhausen (Nassau), gest. 12. August 1886 in Jena. Studium der Philosophie und Mathematik in Gießen, Halle, Göttingen, Berlin. Dr. phil., Lehrer in Dresden. 1874 Professor der Mathematik und Physik in Jena.
Snell, Christian Wilhelm — Sniadecki
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Der Naturwissenschaftler S. ist Gegner des Materialismus.
S c h r i f t e n : Die Streitfrage des Materialismus, 1858. — Die Schöpfung des Menschen, 1863. — Vorlesungen über die Abstammung des Menschen, hrsg. v. R. Seydel, 1887. — Nikolaus Kopernikus, 1873. L i t e r a t u r : Cantor, Art. B., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 34 (1892), p. 507.
Snell, Christian Wilhelm, geb. 11. April 1755 in Dachsenhausen (Nassau), gest. 31. J u l i 1834 in Wiesbaden. Studium der Theol, und Philosophie in Gießen. Lehrer und Rektor in Idstein. Gymnasialdirektor in Weilburg. — S. ist strenger Kantianer.
S c h r i f t e n : Welches sind die dauerhaftesten Mittel, den Menschen ohne äußere Gewalt zum Guten zu bringen? 1785. — Über Determinismus u. moralische Freiheit, 1789. — Uber einige Hauptpunkte der philosophisch-moralischen Religionslehre, 1789. — Lehrbuch der Kritik des Geschmacks, 1795. — Handbuch der Philosophie, 1802 ff., zus. mit seinem Bruder Daniel Snell. L i t e r a t u r : W . Sauer, Art. S., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 34 (1892), S. 503 ff.
Snell, Friedrich Wilhelm Daniel, geb. 26. Oktober 1761 in Dachsenhauseri (Nassau), gest. 28. Oktober 1827 in Gießen. 1789 Privatdozent, 1800 o. Professor in Gießen. — Wie sein Bruder Christian Wilhelm S., so ist auch Daniel S. Kantianer. S c h r i f t e n : Menon, 1789. — Darstellung u. Erläuterung der Kantschen Kritik der Urteilskraft, 1791/92. — Über philos. Kritizismus, 1802. — Lehrbuch für den Unterricht in der Philos,, 1794; 8. A. 1832.
Snell, Ludwig, geb. 6. April 1785 in Idstein (Nassau), gest. 5. J u l i 1854 in Küßnacht (Schweiz). Studium in Gießen. Als Schuldirektor in Wetzlar wegen freier Ansichten entlassen. 1824 nach London, 1827 nach Basel, hält Vorlesungen dort. Prof. in Zürich an der neugegründeten Hochschule, danach in Bern und wieder in Zürich für Staats- und Völkerrecht. — Als Philosoph ist S. Kantianer. S c h r i f t e n : Handbuch der Kantschen Philosophie, Bd. II, Zürich 1837 (Bd. I hrsg. v. Daniel u. Wilhelm S.).
Snellman, Johann Wilhelm, geb. 12. Mai 1806 in Stockholm, gest. 4. J u l i 1881 im Kirkkonummi. 1835—38 Dozent der Philosophie in Helsingfors. 1840—41 in Tübingen. Seit 1842 Gymnasiallehrer, 1856 Professor in Helsingfors. Der Finnländer S. steht der Hegeischen Linken nahe. Durch seine Staatslehre bringt er Hegels Theorie vom objektiven Geist zur Auswirkung auf das -Nationalbewußtsein seines Landes.
S c h r i f t e n : Versuch einer spekulativen Entwicklung der Idee der Persönlichkeit, Tübingen 1840/41. — Läran om staten, 1842. — De spiritus ad materiam relatione, 1848. — Samlade arbeten, 10 Bde., 1892—98. — Briefwechsel mit seiner Frau, hrsg, v. K. Snellman, 1928. L i t e r a t u r : Th. Rein, J , V. S„ 2 Bde., 2. A. 1904,
Snethlage, J . L. Der holländische Philosoph S. ist Schüler des von den Marburgern beeinflußten Professors Ovink in Utrecht.
S c h r i f t e n : Kerklijke kultuur in arbeid, 1923. — Proeve einer kritische godsdienstphilos., 1924. — Democratie en Dictatuur, Arnhem 1934. — De Godsdienstphilosophie van Immanuel Kant, Assen 1934.
Sniadecki, Andrzej, lebte 1768 bis 1838. Prof. in Wilna, Chemiker und Physiologe. Bruder von J a n S. — Der polnische Arzt A. S. ist Vertreter des Evolutionsgedankens. E r hat die Philosophie der Medizin in seinem Land begründet. Im Gegensatz zu seinem Bruder J a n S, setzt er sich für die kantische Philosophie ein. Schriften:
Theorie der organischen Wesen, 1804.
Sniadecki, J a n , geb. 29. August 1756 in Znin (Posen), gest. 1830 in Jaszuny bei Wilna. Studium der Mathematik in Posen, Krakau und im Ausland, bei Kästner und Laplace. Von 1780 bis 1806 Professor für Mathematik in Krakau, von 1806
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Soave — Sohm
bis 1825 in Wilna. — Der Mathematiker und Astronom J . S. ist Schüler d'Alemberts und Empirist. Er steht unter dem Einfluß der schottischen Schule. Im Einklang mit dieser Stellungnahme lehnt er jede Art von Metaphysik und Romantik in jeglicher Gestalt ab. S. tritt als Gegner der deutschen Philosophie, vor allem Kants, hervor. Vor Comte und unabhängig von ihm hat er eine Art von Positivismus entwickelt. An der christlichen Religion und Ethik hält S. fest. S c h r i f t e n : Gesammelte Werke, 7 Bde., Warschau 1837/39. — Briefe (von 1788 bis 1830), hrsg. v. Kraszewski, Posen 1878. — Philosophie des menschlichen Geistes (poln.), 1822. — Biographie des Kopernikus. L i t e r a t u r : M. Balinski, Pamietniki o Janie S., Wilna 1865. — T. Ziemba, J . S. na polu filoz., Krakau 1872. — M. Straszewski, J . S., Krakau 1875. — A. Skörski, Filoz. J . S., Posen 1873; J , S„ Lwöw 1890.
Soave, Francesco, geb. 1743 in Lugano, gest. 1816 in Pavia. Prof, an der Universität Parma. — Der Sensualist S. verbreitete die Lehre Condillacs, mit dem er persönlich bekannt war, in seinem Lande. Er war Gegner Kants. S c h r i f t e n : Elementi di filosofia. — Istruzioni di logica, metafisica ed etica. Übers.: Lockes Essay on human understanding.
—
L i t e r a t u r : Savioli, Elogio storica di F. S., Mailand 1806. — Catenazzi, Elogio di F. S., Como 1812; Vita di F. S., Mailand 1815. — L. Fontana, F. S., Pavia 1907. — V. Lozito, F. S. e il sensismo, in: Revista Rosminiana, Bd. 6 u. 7, 1912.
Söderblom, Nathan, geb. 15. Januar 1866 in Trönö, gest. 12. Juli 1931 in Uppsala. 1894 Pfarrer in Paris, 1901 Professor in Uppsala, 1912 in Leipzig. 1914 Erzbischof, 1930 Friedens-Nobelpreis. — Der Religionshistoriker und praktische christliche Theologe S. bemüht sich um eine gedankliche Grundlegung der Weltfriedensbestrebungen und sucht auch theoretisch einer Wiedervereinigung der christlichen Religionen den Weg zu bereiten, S c h r i f t e n : Les Fravashis, 1899. — Religionsproblemet inom katolicism och protestantism, 1910. — Natürliche Religion und allg. Religionsgesch., 1913. — Gudstrons uppkomst, 1914; dt.: Das Werden des Gottesglaubens, 1916; 2. A. 1926, — Humor ok melankoli och ondra Lutherstudier, 1919. — Einführung in die Rel.gesch., 1920; 2. A. 1928. — Christian fellowship, 1923; dt. Einigung der Christenheit, 1925. — Tal och skrifter, 4 Bde., 2. A. 1933. L i t e r a t u r : 0 . Krook, Nathan S., Stockholm 1916. — Peter Katz, N. S., 1925. — Nils Karlström, N. S. in memoriam, Stockholm 1931. — Olle Nystedt, N. S., dt. 1932. — Tor Andrae, N. S., 5. A., Upps. 1932; dt. Bln. 1938. — Hanna Dörr, Der lebendige Gott, 1938; Universitäts-Archiv, Bd. 90.
Sohm, Rudolf, geb. 29. Oktober 1841 in Rostock, gest. 16. Mai 1917 in Leipzig. Studium der Rechtswiss, in Rostock, 1864 Promotion dort. 1866 Hab. in Göttingen, 1870 a. o. Prof. ebenda und o. Prof. in Freiburg, 1872 in Straßburg, 1887 in Leipzig. S. hat die Erscheinungen des Rechtslebens, besonders die Fragen der Verfassung, dargestellt und kritisiert. Seine Auffassung von der Entwicklungsgeschichte der kirchlichen Verfassung und des kirchlichen Rechts steht im schärfsten Gegensatz zur katholischen Lehre über den Gegenstand. S. vertritt die Anschauung: „Die Entstehung des Kirchenrechts und der Kirchenverfassung ist der Abfall von dem von Jesus selbst gewollten und ursprünglich verwirklichten Zustand." Die Verneinung der Welt im Christentum, sein aufs Jenseits gerichteter Charakter, die Gleichheit der Christen als Brüder und ihr Bewußtsein, vom Charisma geleitet zu sein, dies alles läßt eine eigentliche Rechtsbildung nicht zu. S c h r i f t e n : Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung, 1871. — Das Recht der Eheschließung, 1875. — Trauung u. Verlobung, 1876. — Institutionen des römischen
Söhngen — Sokrates
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Rechts, 1884; n e u e A. 1931. — Kirchengesch, im Grundriß, 1888; 2. A. 1924. — Kirchenrecht, Bd. I, 1892; Bd. II, hrsg. v. E. J a c o b i u. O. Mayer, 1923. — Die Entstehung des deutschen Städtewesens, 1890. — W e s e n u. Ursprung des Katholizismus, 1909; 2. A. 1912. — Selbstdarstellung: Dte. Juristenzeitung, Jg. 14, 1909. L i t e r a t u r : H. Fehr, R. S., in: Zeitschr. der Savigny-Stiftung für Rechtsgesch., Germ. Abt., Bd. 38, 1917. — Hans Barion, R. S. u. die Grundlegung des Kirchenrechts, 1931. — Günther Krauss, Der Rechtsbegriff des Rechts, 1936. — Erich Förster, R. S.s Kritik des Kirchenrechts, Haarlem 1942. — Schebler, Alois, Die Reordinationen in der altkathol. Kirche unter bes. Berücksichtigung der Anschauungen R. S.s, Theol. Diss., Würzburg 1936.
Söhngen, Gottlieb, geb. 21. Mai 1892 in Köln. Dr. phil., Dr. theol.; 1931 Hab. Universität Bonn, 1937 o. Professor an der Staatlichen Akademie Braunsberg; 1946 Gastprofessor in Bonn, 1947 o. Prof. in München. S c h r i f t e n : Sein u. Gegenstand, 1930. — Symbol u. Wirklicheit im Kultmysterium, 1937; 2. A. 1940. — D e r W e s e n s a u f b a u des Mysteriums, 1938. — Die Einheit der Theol. in Anselms Proslogion, 1938. — Zum aristotelischen Metaphysikbegriff, in: F e s t g a b e für J o s e p h Geyser, 1930. — Der A u f b a u der augustinischen Gedächtnislehre, in: AugustinusFestschrift der Görres-Ges., 1930. — Thomas von Aquino über Teilhabe durch Berührung, in: Theol. Festgabe für Kardinal Schulte, 1935. — Scholastik u. Mystik der Teilhabe bei Plotin, F e s t g a b e für Adolf Dyroff, in: J a h r b u c h der Görres-Ges., 1936. — Mithrsg.: Grenzfragen zwischen Theologie u. Philosophie, 1936—1939. — Kardinal Newman, 1946. — Humanität u. Christentum, 1946. — Zur theol. Kategorienlehre, in: Wiss. u. Weisheit, 1943.
Sokrates, geb. 470 v. Chr. in Athen, gest. 399 ebenda. Sohn des Bildhauers Sophroniskos und selbst zum Bildhauer bestimmt. S. erwählt aber bald die Philosophie zum Beruf. Mehrfach leistet er Kriegsdienste; seine besondere Tapferkeit in den Schlachten bei Potidäa i. J. 432, bei Delium 424 und bei Amphipolis 422 wurde öffentlich anerkannt. Zu seinen Anhängern zählen Kritias und Alkibiades, zu seinen Schülern Xenophon und Plato, Antisthenes und Aristipp, Euklid von Megara. Seine Hauptgegner sitzen in den Reihen der Sophisten, deren Geldgier und Unfähigkeit S. ständig öffentlich angreift. Er selbst wird zur Zielscheibe dichterischen Spotts in den „Wolken" des Aristophanes (423). Als Verführer der Jugend, Leugner der alten und Anhänger neuer Götter wird S. schließlich von dem Dichter Meletus, dem Gerber Anytus und dem Rhetor Lykon angeklagt und da er im Bewußtsein der Schuldlosigkeit nicht widerruft, im Jahre 399 zum Tode verurteilt. Weil die Rückkehr des Festschiffs von Delos abgewartet werden mußte — während seiner Abwesenheit durfte kein Todesurteil vollstreckt werden —, so blieben S. noch dreißig Tage für vertrauten Umgang mit seinen Freunden. Diese Zeitspanne hat Piaton in seiner „Apologie des Sokrates" und Xenophon in den „Memorabilien" geschildert, bis zu dem Augenblick, als S. nach Eintreffen des delischen Schiffs in gelassener Ruhe und Heiterkeit den Schierlingsbecher leert. Für Leben und Lehre des S. stehen nur die Schriften seiner untereinander sehr verschiedenen Schüler als indirekte Quellen zur Verfügung. Sokrates selber hat nicht geschrieben, sondern sich auf mündliche Unterweisung beschränkt. Die Bewertung der Überlieferung ist nicht einheitlich. Mit ihr wandelt sich das Bild des Philosophen und das Urteil über den Schwerpunkt seines Philosophierens. „Auf der einen Seite steht der skeptisch denkende, einseitig praktische, asketische, kosmopolitisch-antisoziale und individualistische Sokrates des A n t i s t h e n e s , auf der anderen der Sokrates P 1 a t o s , der Intellektualist, der Metaphysiker, der Nationalist, der Soziale, der Mann, dem Wissenschaft, Kultur und Staat über alles gehen." — „Sein Hedonismus brachte ihn mit Antisthenes in Konflikt, wie ihn sein staatsfeindlicher Kosmopolitismus und seine Skepsis von Plato schieden"
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Sokrates
(H.Maicr,S.,S.40). X e n o p h o n will in seinen sokratischen Schriften — den Memorabilien, der Apologie, dem Symposion und dem Ökonomikus —, den echten S. darstellen; er betont unter kynischem Einfluß die Einfachheit und Genügsamkeit des Meisters. Die Fachphilosophie hat von jeher das stärkste Gewicht auf die aristotelischen Zeugnisse über S. gelegt. A r i s t o t e l e s kam erst 367 nach Athen, in eine lebendige mündliche Tradition vom Leben und Sterben des S. E r übernimmt die platonische Sokratesauffassung, Ihm kommt es nicht mehr auf die Person an, die er nie kennengelernt hatte, sondern allein auf die Sache. Er kritisiert die Ethik des S., wie er sie Piatos Protagoras entnimmt, und er m a c h t S. z u m E n t d e c k e r d e s b e g r i f f l i c h A l l g e m e i n e n , zum Schöpfer der Begriffsphilosophie. Dabei trifft er die Einschränkung, daß S. das Allgemeine nur auf ethischem Gebiet aufgesucht habe, nicht dagegen im Bereich der Naturwissenschaften. Gewährsmann für diese Behauptung ist ihm Xenophon in den Memorabilien, IV, 6. Durch die aristotelische Deutung seines Schaffens wird S. recht eigentlich zum Begründer der europäischen Philosophie als Wissenschaft, und entsprechend hat sich die philosophische Datierung an ihm orientiert mit ihrer Unterscheidung der Epochen des Denkens als vorsokratisch, sokratisch und nachsokratisch. Einen ernsthaften wissenschaftlichen Angriff auf die aristotelische Tradition und ihre Überbewertung unternimmt Heinrich Maier in seinem Werk über Sokrates (1913); er sieht allein die frühplatonischen Schriften und die Sokratescharakterisierung im Symposion als unmittelbare Quellen für den geschichtlichen S. und nicht diesen, sondern Plato als den Entdecker des Allgemeinbegriffs an. Neben dem schwierigen Quellenproblem erwachsen der S.-Forschung andere wichtige Fragen: nach der Stellung des S. zur älteren und zur zeitgenössischen griechischen Philosophie, das heißt zur Naturphilosophie und zu den Sophisten, und nach seinem Verhältnis zur attischen Kultur und Wissenschaft; nach dem Hauptakzent seines Schaffens, dessen vielfältige Wirkung seine philosophischen, ethischen, religiösen Züge enthüllt, wie ein Blick auf die Überlieferung zeigt. Bei Xenophon und Antisthenes tritt S. als Verächter der Wissenschaft auf, was Plato jedoch widerlegt. Allerdings hat S. auf eigene wissenschaftliche Forschung verzichtet und die Wissenschaftler seiner Tage, die Naturphilosophen, äußerst kritisch betrachtet, ja die zeitgenössischen Philosophen, die Sophisten und ihre Methoden, heftig angegriffen. Auch stellte er das sittliche Tun und Lassen des Menschen hoch über bloße Theorie. Aber die Herausgestaltung eines v e r nünftigen Denkens als Werkzeug zum Erwerb sachkundigen W i s s e n s und damit gleichzeitig als Mittel zur Gewinnung der T u g e n d war sein Hauptanliegen und Antrieb für sein eigenes Schaffen. Dieses will nicht berufsmäßiger Unterricht im Sinne der Sophisten sein und verschmäht ihre methodischen Mittel, ihre Rhetorik. Es entwickelt eine eigene Technik des Gesprächs mit einem beliebigen, auch einem unkundigen Partner, die M a i e u t i k (Entbindungskunst}, mit dem Ziel, das verborgene wahre Wissen aus ihm hervorzulocken, nachdem ihm sein Nichtwissen zum Bewußtsein gebracht worden ist. Dies geschieht durch Ausfragen, das in der Regel zu falschen Antworten führt. Dieser erste Akt von des S. dialektischem Gesprächsverfahren heißt die Elenktik (von griechisch IXs-f/£iv = überführen); der zweite Akt ist die Protreptik (von griechisch irpoTpsTTTöiv — hinwenden) und leitet durch weiteres Fragen zur richtigen Erkenntnis hin. So wird aus dem Unwissenden ein Sachkundiger. Das Sachwissen lenkt S. auf die sittlichen Probleme. E r lebt selbst in der Überzeugung, daß ein Wissen um das Gute und das Tun des Guten identisch sind. Wissen ist Tugendwissen. Diesen Glauben und die Kraft zu seiner Bewährung will er in seinen Gesprächspartnern und Schülern wecken. Auf dem Weg über die Fragetechnik entzündet er in ihnen
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persönliches sittliches Leben. Darin liegt der Kern seines Philosophierens. Es ist Lehre vom Tugendwissen und sieht das sittliche Ziel im Glück des einzelnen Menschen. Da S. das für das Individuum Gute mit dem Nützlichen gleichsetzt, pflegt man vom sokratischen Eudämonismus (oder Utilitarismus) zu sprechen, man darf aber dabei den idealistischen Grundzug der sokratischen Ethik nicht übersehen. Das sittliche Leben als Sache der Gesellschaft ist dem Individualisten S. noch unbekannt. Seine Ethik kennt keine andere Autorität als das eigene sittliche Wollen; Sittlichkeit ist autonom. Der Tugendhafte, der aus innerer Freiheit sittlich Handelnde besitzt das wahre Wissen, ist nicht mehr der Doxa, der bloßen Meinung unterworfen. Er ist frei, autonom und autark. Er unterliegt nicht dem Triebleben, sondern beherrscht es. Zum sittlichen Wissen, das auch ein sachkundiges ist, gehört die richtige Einschätzung der Güter und der Übel. S. ist davon überzeugt, daß der Wille des Menschen von Natur auf das sittlich Gute gerichtet ist, so daß niemand absichtlich Böses tut. Das sokratische Verfahren, durch Gesprächstechnik das wahre Wissen ins Bewußtsein zu heben, setzt ein latentes Vorhandensein dieses Wissens, philosophisch ausgedrückt: eine apriorische Erkenntnis voraus. Diese Lehre wird innerhalb der S.forschung von vielen bereits Sokrates, von einigen erst Plato zugeschrieben; an Hand der Überlieferung ist die Frage kaum zu entscheiden. Die Art der Gesprächsführung des S., das Ausfragen des andern unter Vorgabe eigenen Nichtwissens, wird die „sokratische Ironie" genannt; dieses methodische Mittel ruht bei S. auf dem Grunde ernsten sittlichen Strebens. Es will hinleiten zur Selbstprüfung und Selbsterkenntnis. W i e die späteren Vernunftethiker, so hat schon S. von einer inhaltlichen Bestimmung des sittlichen Ideals abgesehen. Inwieweit die Ethik des S. seiner Religiosität entspringt, ob S. überhaupt eine religiöse Natur ist, und ob die Anklage auf Verwerfung der alten und Einführung neuer Götter zu recht besteht, bleibt eine strittige Frage. Ein Teil der christlichen Tradition — zuerst der Apologet Justin — hat, S. als den „leidenden Gerechten" in Parallele zu Jesus Christus gestellt. S. selber hat sich weder zu einer religiösen Aufgabe noch zu einem prophetischen Tun bekannt. Das „Daimonion", seine innere Stimme hat die Funktion, ihn vom Tun des Nicht-Guten abzuhalten, doch nicht das Vermögen, ihn zum Guten hinzuwenden. Es bedarf nicht der religiösen Deutung, kann vielmehr als eine A r t geistigen Selbsterhaltungsinstinkts erklärt werden. Doch haben die zeitgenössischen Ankläger des S. im Daimonion ein neues religiöses Prinzip erblickt und bekämpft. Im übrigen aber fiel er dem Asebiegesetz, dem Vorwurf der Gottlosigkeit, zum Opfer. Die Berechtigung des Todesurteils gegen S. wird bis zum heutigen Tage von Philosophen, Juristen und Politikern umstritten, im Rahmen von Erörterungen über die Staatsautorität und ihre Geltendmachung gegenüber wissenschaftlichem Denken und seinen folgerichtigen Ergebnissen. Mit der ungeheuer starken Wirkung seines Sterbens hat die Wissenschaftsgeschichte und die Philosophie ihr Urteil gefällt. Es weicht wesentlich ab von manchen modernen Stellungnahmen (z. B. Heinrich Maier, S., S. 489 u. S. 495: „Auf dem Boden des geltenden Rechts also, und zwar auch nach dessen Sinn und Tendenz, nicht bloß nach seinem Buchstaben, war Sokrates' Verhalten rechtswidrig!"). Die platonische Mystik hat sich an des S. Schicksal entzündet und seine Wirkung durch die Jahrhunderte getragen, S c h r i f t e n : Plato, Apologie, Kriton, Symposion. — Xenophon, Memorabilien, Apologie. — Aristoteles, Metaphysik. L i t e r a t u r : Schleiermacher, Über den Wert des S. als Philosophen, in: Gesammelte Werke, Abt. III, Bd. 2, Bln. 1838. — Ribbing, Über das Verhältnis zwischen xenophontischen u. platonischen Berichten über die Persönlichkeit und die Lehre des S., Uppsala 1870. — Georges Sorel, Le procès de Socrate, 1889. — Karl Joel, Der echte u. der
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xenophontische S., Bd. I, 1893; Bd. II, 1901. — Edmund Pfleiderer, S. u. Plato, 1896. — Robert Poehlmann, S. u. sein Volk, 1899. — J . T. Forbes, S., 1905. — J . Geffcken, S. u. das alte Christentum, 1908. — Adolf Lasson, S. u. die Sophisten, 1909. — G. Zuccante, Socrate, Turin 1909. — A. E. Taylor, Varia socratica, Oxford 1911. — Heinrich Maier, Sokrates. Sein Werk u. seine geschichtliche Stellung, 1913. — Adolf Busse, S., 1914. — Julius Stenzel, Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von S. zu Aristoteles, 1917; Artikel S., in: Pauly-Wissowa, Realenzyklop. der klass. Altertumswiss., 2. Reihe, 5. Halbband, 1925. — Gustav Kafka, S., Piaton u. der Sokratische Kreis, 1921. — Perikles, Bizoukides, ' K-i3tt,[a.ov!7.3Î znyai r.ifi Ï., Leipzig 1921;'II ôt'xr) toü SujxpâTOU;, Athen u. Berlin 1924, — E. Dupréel, La légende Socratique et les sources de Platon, 1924. — M. M. Dawson, Ethics of S., New York 1924. — Heinrich Gomperz, Die Anklage gegen S., in: Neue Jahrbücher für das klass. Altertum, Bd. 53, 1924. — Albert Mirzeler, S., 1926. — Oskar Schirmer, Fragmente um S., 1926. — Christoph Schrempf, S., 1927. — Johannes Kupfer, Die Auffassung des S. in Hegels Geschichtsphilosophie, Diss., Leipzig 1927. — Liselotte Köhler, Die Briefe des S, u. der Sokratiker, übers, u. kommentiert, 1928. — Bruno Böhm, S. im 18. Jahrhundert, Studien zum Werdegang des modernen Persönlichkeitsbewußtseins, 1929. — S. Kierkegaard, Der Begriff der Ironie, mit ständiger Rücksicht auf S., deutsch München 1929. — Constantin Ritter, S., 1931. — Max Alsberg, Der Prozeß des S. im Lichte moderner Jurisprudenz u. Psychologie, 3. A. 1933, in: Schriften zur Psychologie der Strafrechtspflege, H. 1. — Johannes Sykutris, Die Briefe des S. u. der Sokratiker, Paderborn 1933; in: Studien zur Gesch. u. Kultur des Altertums, Bd. 18, H. 2. — Helmut Kuhn, S., 1934. — K. Ernst Girsberger, S. von Athen, Graz 1935. — Emma Edelstein, Xenophontisches u. Platonisches Bild des S., Diss., Berlin 1936. — Dieter Roser, Erziehung u. Führung, Versuch über S. u. Piaton, 1936. — Friedrich Lorenz, Sokrates, Roman, Wien 1938. — Eduard Spranger, Nietzsche über Sokrates, Athen 1939. — Barna Horvath, Der Prozeß des Genius Sokrates — Johanna (ungarisch), Kolozsvar 1942, in: Universitatis Francisco-Josephina Acta juridico-politica 3. — Th. Deman, Le témoignage d'Aristote sur Socrate, Paris 1942. — G. R. Martinez, Saggio sul pensiero politico di Socrate, Tl. I, 1940. — G. Tarozzi, Socrate, Mailand 1940. — R. Guardini, Der Tod des S., 1945. — O. Gigon, S., 1947. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, geb. 28. November 1780 in Schwedt (Uckermark), gest. 20. Oktober 1819 in Berlin. 1795—1799 Besuch des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster. 1799 Studium der Rechtswissenschaft in Halle. 1801 Vorlesungen bei Schelling in J e n a gehört. Bekanntschaft mit Friedrich von Raumer und Heinrich Voss. 1802 Reise nach der Schweiz und Frankreich. 1803 in Berlin Anstellung bei der Kriegs- und Domänenkammer. Besuch von Fichtes Kolleg über die Wissenschaftslehre. 1806 Aufgeben des Staatsdienstes. Studium Spinozas. 1808 Bekanntschaft mit Tieck. 1808 Dr. phil., 1809 a. o. Prof. in Frankfurt (Oder). 1811 o. Prof. für Philosophie in Berlin. 1814/15 Rektor der Universität. Freundschaft mit Schleiermacher. S. hat seine philosophische Aufgabe so bestimmt: „Den innersten Kern und Mittelpunkt in Allem, was das Leben Edles und Wesentliches in sich trägt, aufzudecken und als den eigentlichen Urquell aller abgeleiteten Wahrheit im Bewußtsein lebendig zu erhalten, das ist das Ziel, dem ich alles mein Streben geweiht habe. An der Kunst habe ich dies versucht und werde es auch am Staate, an der Religion und selbst in gewissem Sinne an der Natur versuchen." Für die Herausbildung seiner Philosophie hat S. Einfluß empfangen von Spinoza, Schellings Identitätslehre und den Mystikern. W i e Fichte geht S. aus vom menschlichen Selbstbewußtsein, und ähnlich wie Hegel unterscheidet er zwischen dem endlichen individuellen Selbstbewußtsein und dem unendlichen Bewußtsein. Die Grenze zwischen beiden liegt nicht fest. In der Verendlichung handelt es sich um einen Prozeß, in dem das Absolute sich zum endlichen Dasein determiniert; sie wird wieder aufgehoben durch Selbstoffenbarung des Absoluten. Die gemeine Erkenntnis hat die Beziehungen zwischen den endlichen Gegensätzen des Daseins, die höhere Erkenntnis
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hat das Wesen selbst zum Inhalt. Nur in der endlichen Existenz ist das Wesen von seinen Bestimmungen unterschieden, denn unsere gemeine Erkenntnis geht vom Allgemeinen zum Besonderen. Die Erkenntnis an und für sich aber ist Einheit des Allgemeinen und Besonderen, wie auch Einheit von Form und Stoff. Die vollkommene Einheit des Stoffes mit der Form ist die Idee. Es gibt auf den Willen und auf die Natur bezogene Ideen. Die Offenbarung des göttlichen Bewußtseins bewirkt erstens Aufhebung unseres eigenen Bewußtseins in uns, soweit es den Gegensätzen seiner eigenen Existenz unterliegt, und zweitens die Erschaffung unseres eigenen wahren Wesens, das in Wahrheit das göttliche Wesen selbst ist. „Dieses göttliche Wesen ist in der Natur die gegenwärtige Notwendigkeit, im Organismus das Leben, in unserem Wissen das Wahre, im Handeln das Gute, im Hervorbringen das Schöne, im Selbstbewußtsein die Religion" (F.J.Schmidt, S., S. 382), Den gemeinsamen Wurzelboden für Religion und Kunst sieht S. in der Mystik als der Erkenntnis der unmittelbaren Gegenwart des Ewigen. Auf bewußter und unbewußter Mystik beruht der Unterschied zwischen Allegorie und Symbolik in der Kunst. Von seinen systematischen Plänen hat S. die Anfänge einer philosophischen Rechts- und Staatslehre und einer Religionsphilosophie verwirklicht. Seine philosophische Hauptleistung aber liegt im Gebiet der Ästhetik, sowohl um ihres eigenen Gehalts als um ihrer Weiterwirkung auf Hegel willen (den S. 1818 auf den Lehrstuhl Fichtes nach Berlin berufen ließ). S. entwickelt seine Ästhetik im „Erwin" und in den „Vorlesungen über Ästhetik". Der Plan zu dem philosophischen Hauptwerk „Erwin" stand früh fest. Bereits im Jahre 1800 notiert S.: „Ich habe den Plan gefaßt, ein Buch in Dialogen zu schreiben. Es soll Philosophie mit Poesie verbunden halten und sich über mehrere philosophische Gegenstände ausbreiten. Ein sehr guter Hauptgegenstand wäre wohl ein junger Mann, der mit hohen Begriffen von Liebe und Freundschaft durch die Unempfindlichkeit der meisten Menschen von dem Glauben an die Menschheit abgewandt worden wäre und von weisen Freunden auf den rechten Weg gebracht würde. Dies könnte einen Teil meiner eigenen inneren Geschichte enthalten. Zur Rettung meines Helden müßte die Liebe auch das ihrige tun. Dies ist das erste, was ich von diesem Gedanken niederschreibe; wir wollen doch sehen, was daraus wird." (Nachgel. S. undBriefw. 1,1826; S. 15 f.) Die enge innere Verbindung des Philosophierens mit dem persönlichen Leben, die in ihm einen solchen Plan wirkt, läßt ihn die dialogische Darstellung als Form für die literarische Gestaltung seiner Gedanken wählen. Seine persönliche Lebensüberzeugung, die für seine Philosophie bedeutsamer ist als für systematisch gerichtete Philosophen, deutet er mit den Worten an: „Es gibt nur e i n e n Enthusiasmus, nur e i n Band für Menschen, nur e i n e n festen Boden, auf dem man vor diesem öden und unfruchtbaren Meere der Welt stehen kann; dieses ist der unsichtbare und unzerstörbare des Geistes und der Freundschaft des Geistes." (A. a. O. S. 145). Die Absicht des in Dialogform verfaßten „Erwin" interpretiert er selbst: „Um den Erwin recht zu verstehen, mußt Du Dir nur recht lebhaft das eigentliche Problem und die eigentliche Lösung vor Augen stellen. Das Problem ist durch das erste Gespräch und durch die Widersprüche der darin enthaltenen Systeme deutlich vorbereitet. Es ist nämlich dies: Wie ist es möglich, daß in einer zeitigen und als solche mangelhaften Erscheinung sich ein vollkommenes Wesen offenbaren könne? Denn daß hierin die Schönheit liege, das haben dunkel alle gefühlt und darum die widersprechendsten Dinge zu vereinigen gesucht. Die Lösung ist: Durch ein vollkommenes Handeln von einer gewissen bestimmten Art, welches die Kunst heißt. Dieses ist nur in dem Moment, wo die Idee oder das Wesen die Stelle der Wirklichkeit einnimmt und eben dadurch das Wirkliche für sich, die bloße Er-
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scheinung als solche vernichtet wird. Dies ist der Standpunkt der Ironie. Daraus wird erwiesen, daß die Kunst ihren eigentlichen Sitz im Verstände hat, aber im wesentlichen, nicht in dem bloß reflektierenden; daraus werden bildende und nachsinnende Phantasie, sinnliche Ausführung, Humor, Betrachtung und Witz entwickelt, Dinge, über welche man bisher nie zu einer genügenden Erklärung gekommen war. Auch die Einteilung der Kunst ist noch nie so vollständig aufgestellt und besonders noch nie so bewiesen worden, warum es nicht mehr als fünf Künste geben kann" (a. a. 0 . S. 360 f.). Am Ende der „Philosophischen Gespräche" (1817), die sich vor allem mit der Bestimmung und Bedeutung der Philosophie befassen, kommt S. zu dem Ergebnis: „Nicht um dieses gegenwärtige Leben, wie es sich erscheinend uns aufdrängt, ist es ihr zu tun, sondern um die völlige Vernichtung desselben und um die Enthüllung des Ewigen, wie es in diesem Nichts und gleichsam an der leeren Stelle desselben aus sich selbst das ganze Dasein wird! Darum müssen wir uns selbst durch diese göttliche Kraft völlig vertilgen und hinwegwischen lassen, um uns wieder zu gewinnen, wie wir nur in ihrer wesentlichen Gegenwart wirklich etwas, an uns für uns selbst aber, auch als das Dasein Gottes gedacht, ein reines Nichts sind" (S. 319). Nur unter der Bedingung, daß wir durch die Selbstvernichtung hindurchgegangen sind, wird uns die Einsicht offenbar, „wie die ganze Natur nichts anderes als das sich selbst in seiner Harmonie auflösende Dasein Gottes, wie die Religion, die Sittlichkeit, die Kunst nichts seien als die in der Wirklichkeit verschiedentlich widerscheinende Tat der Selbstvernichtung und Selbstoffenbarung des göttlichen Wesens" (S. 320), — Aus dem Zusammenhang seiner Kunstphilosophie hat eine besondere Bedeutung die Auslegung der „Ironie". S c h r i f t e n : Sophokles' Tragödien, 1808; 2. A. 1824. — De explicatione ellipsium in lingua graeca, 1811. — Erwin, Vier Gespräche über das Schöne u. die Kunst, 2 Bde., Bln. 1815; neu hrsg. v. Rudolf Kurtz, Bln. 1907. — Philosophische Gespräche, 1817. — Nachgelassene Schriften u. Briefwechsel, hrsg. v. Ludwig Tieck u, Friedr. von Räumer, 2 Bde., 1826. — Vorlesungen über Ästhetik, hrsg. v. K. W . L. Heyse, Lpz. 1829. — Briefwechsel mit Tieck, hrsg. v, Matenko, New York 1932. L i t e r a t u r : Hegel, Uber S.s Nachgelassene Schriften u. Briefwechsel, W e r k e Bd. 16. — Reinhold Schmidt, S.s Philosophie, 1841. — Hans Hartmann, Kunst u. Religion bei Wackenroder, Tieck u. S., Diss., Erlangen 1916. — Josef Heller, S.s Philosophie der ironischen Dialektik, Diss., Berlin 1928 (mit Schriftenverzeichnis). — Walter Linden, S. und Hegel, Diss., Hamburg 1938. — Albert Görland, Ästhetik, Hamburg 1937, S. 565 ff.
Solms, Max Graf zu, geb. 24. September 1893 in Assenheim (Hessen). Dr. phil., 1932 Pd. an der Universität Marburg, 1941 o. Professor dort. — Soziologe.
S c h r i f t e n : Bau u. Gliederung der Menschengruppen, 2Bde., 1929u. 1932. — Kritik der Nationalismen, 1947. — Herausgeber: Aus der Werkstatt des Sozialforschers, 1948, und: Civitas Gentium, Quellenschriften zur Soziologie und Kulturphilosophie, Frankfurt a. M. 1946 ff.
Solon, geb. um 640, gest. 559 v. Chr. Der athenische Gesetzgeber und Sozialreformer S. wird zu den sieben Weisen gerechnet. Er soll für das praktische Verhalten den Grundsatz geprägt haben: ¡x/jSsv äyctv (nequid nimis, nichts zu viel). S c h r i f t e n : Fragm. bei Diehl, Anthologia lyrica Graeca, Bd. 1, Lpz. 1925. L i t e r a t u r : Biographie bei Diogenes Laertius u. bei Plutarch, — Lehmann-Haupt, Solon of Athens, Liverpool 1912. — Aly, Art. S. bei Pauly-Wissowa, 2. Reihe, Bd. 3, 1929. — Art. S. in: Encyclopedia Brit., Bd. 20 (1947).
Solowjoff, Wladimir Sergejevic, geb. 16. Jan. 1853 in Moskau, gest. 31. Juli 1900. 1874 promoviert in Moskau mit einer Diss. über „Die Krisis der Philos. in Westeuropa", 1880 Privatdozent, bald darauf an die Petersburger Universität berufen.
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Mitglied des „Gelehrtenkomitees beim Ministerium für Volksaufklärung". Nach der Ermordung Alexanders II. Eintreten für die Mörder, darauf Niederlegen aller Ämter und fortan Leben in bescheidensten Verhältnissen. Gestorben an Herzkrankheit infolge der Entbehrungen. Die Aufgabe der Philosophie wird von S. durch die Tendenz charakterisiert, mit der logischen Vollkommenheit der westlichen Form die Inhaltsfülle der Glaubens? lehre des Ostens zu vereinigen. Dabei steht nach seiner Auffassung die Theologie in ihrem wesentlichen Inhalt der Wahrheit bedeutend näher, als irgendein theoretisches System der Philosophie. Andererseits ist die recht erkannte, im Glauben wurzelnde Wahrheit zugleich und notwendig auch das Gute, die Schönheit und die Macht. Die wahre Philosophie ist nicht nur Sache der Theorie, sondern sie ist untrennbar verbunden mit wirklichem Schaffen und mit sittlicher Tätigkeit, durch die dem Menschen der Sieg über die niedere Natur verliehen wird. So hilft die Philosophie dem Menschen auch auf seinem Weg zu dem höchsten Ziel seines Strebens, zu seiner inneren Vereinigung mit dem wahrhaft Seienden und damit zu dem höchsten Glück und der höchsten Macht. Das absolut Seiende, das nicht nur für unsere Vernunft die notwendige Voraussetzung jeden wahren Begriffs, jeden wahren Urteils und Schlusses ist, sondern auch die notwendige Voraussetzung jeder sittlichen Tätigkeit, ist zugleich das absolute Ziel und das absolute Gute, und es kann daher nicht durch das Denken allein, sondern nur in Verbindung mit dem Willen und dem Gefühl bestimmt werden. Bei aller Bereitschaft, die logisch formalen Werte des westlichen Geistes anzuerkennen und zu übernehmen, bleibt S. ein entschiedener Gegner der in seiner Zeit vorherrschenden Theoreme des Westens. Er setzt sich intensiv mit dem Darwinismus auseinander und lehnt eine Entwicklung der höheren Stufen des organischen Lebens und insbesondere des Menschen aus den niederen ab. Jede Stufe des Organischen stellt ein grundsätzlich Neues dar gegenüber der jeweils tieferen, das Tier gegenüber der Pflanze, der Mensch gegenüber dem Tier, und so bedeutet auch das geistige Wesen des Menschen ein aus tieferen, d. h. naturhaften Stufen nicht abzuleitendes eigentümliches Sein. Der Mensch in seiner höchsten Form ist — als Menschengott — nicht das höchste Entwicklungsprodukt einer aus dem Natürlichen aufsteigenden Reihe, sondern in sein geistiges Wesen wirkt das Gottmenschentum Christi entscheidend hinein. Der Gottmensch ist gegenüber dem natürlichen Menschen kein nur vorgestelltes, sondern ein verwirklichtes Ideal. Das Gottmenschentum Christi, als der höchste Typ des Daseins, ist nicht das Produkt eines vorangegangenen Prozesses, sondern die Geschichte, deren Sinn im Erscheinen Christi das erste und alleinige Wort des Reiches Gottes verwirklicht, bedingt nur das Eintreten des Gottmenschen in das Dasein. Dafür, daß das Wesen des Menschen über sein natürliches Dasein hinausreicht, findet S. einen Beweis in dem Faktum, daß der Mensch sich rein materieller Tatsachen zu schämen fähig ist. Die Scham und die auf ihr begründete asketische Sittlichkeit ist als Tatsache allein schon ein Erweis der geistigen, übermateriellen Wesenheit des Menschen. In gleicher Weise zeigt das Vorhandensein des Mitleids, in dem die durch die Pflicht gebotenen Beziehungen des Menschen zu seinesgleichen wurzeln, eine Wesenseinheit und Solidarität aller Geschöpfe an. Das sympathische Band zwischen allen Geschöpfen, das sich in der Sittlichkeit des Altruismus entfaltet, ist nicht nur Ausdruck einer Forderung, sondern als Seiendes bereits der Anfang ihrer Erfüllung. Diese Begründung des geistigen Wesens des Menschen und seiner solidarischen Verbundenheit mit der geschöpflichen Welt stellt S. in Gegensatz sowohl zu dem abstrakten Individualismus, der nur die Einzelpersönlichkeit gelten lassen will, wie zu dem fanatischen Kollektivismus, der im Philosophen-Lexikon
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Leben der Gesellschaft nur gesellschaftliche Massen kennt. Die gesellschaftliche Existenz, in der der Mensch eine Würde hat, ist keine bloß zufällige Existenz von Beziehungen des persönlichen Lebens. Sie greift als Gemeinschaft in der Welt über den Einzelnen hinaus und verwirklicht sich und die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen allein als Kirche, Diese führt jeden hin zu gottmenschlicher Ganzheit, vermittelt jedem den absoluten Lebensinhalt und macht dadurch alle einander gleich. Der Maßstab wirklichen gesellschaftlichen Fortschrittes besteht darin, daß der Staat die innere sittliche Welt des Menschen so wenig als möglich hemmt, sie vielmehr der freien geistigen Einwirkung der Kirche überläßt und dabei durch Gewährung möglichster Sicherheit die äußere Bedingung für ein würdiges Dasein und für die Selbstvervollkommnung des Menschen schafft. Der Wirtschaft gegenüber lehnt S. in gleicher Weise den ökonomischen Liberalismus, wie die materialistische Form des Sozialismus ab. Die Wirtschaft hat nur einen Sinn und ein wirkliches Leben, wenn sie in eine lebendige Gesellschaft eingefügt und ihren sittlichen Zwecken untergeordnet ist. Ein „freies Spiel der Kräfte" gleicht den chemischen Prozessen in einem Leichnam, die sich nur darum ganz frei entfalten können, weil sie sich in einer verwesenden Substanz vollziehen. Es ist eine Forderung der Vernunft und des Gewissens, daß auch die Wirtschaft dem höchsten sittlichen Grundsatz der Verwirklichung des Guten unterworfen wird. Andererseits hat auch die „Materie" in der wirtschaftlichen Existenz ein Recht auf Vergeistigung. Wenn der Sozialismus dies verkennt und die sittliche Vervollkommnung der Gesellschaft von der herrschenden Wirtschaftsordnung abhängig erscheinen läßt, dann zeigt er, daß er in Wirklichkeit auf dem gleichen Boden steht, wie die bürgerliche, auf der Vorherrschaft der materiellen Interessen aufgebaute Welt. Auch für ihn gilt dann der Grundsatz: der Mensch lebt vom Brot allein, und der Mensch hat seine Bedeutung nur darin, daß er materiellen Wohlstand beherrscht, wenn auch nur in der Eigenschaft seines Erzeugers. Wie das gesellschaftliche Dasein des Einzelmenschen seinen Sinn und seine Wirklichkeit nur hat in seiner Einbezogenheit in die gottmenschliche Gemeinschaft, so existiert ein Volk sinnvoll in seiner inneren schöpferischen Beziehung auf das umfassende Ganze. Ist die schöpferische Tätigkeit eines Volkes universal gerichtet, dann ist das wahre Selbstbewußtsein des Volkes auch universal in seinem Inhalt. Diese Universalität darf auch nicht durch die Forderungen eines Patriotismus eingeschränkt werden, denn sie drückt die allgemeine Tatsache aus, daß das Einzelne Sinn und Geist nur hat in der Vereinigung und im Einverständnis mit dem Alleinen. Auf Überwindung der Gegensätze ist das Denken S.s im Sinne seiner Philosophie auch gegenüber dem Problem Asien und Europa gerichtet. Er sieht einen Entscheidungskampf hier nicht als unbedingt notwendig an. Die erste Bedingung für eine mögliche, wenn auch nach seiner Meinung wenig wahrscheinliche Einbeziehung der mongolischen Rasse in den Kreis der europäischen Bildung sieht er darin, daß die christlichen Völker selber christlicher werden, daß sie sich also in ihrem kollektiven Leben in höherem Grade von sittlichen Grundsätzen, statt durch Eigennutz und konfessionelle Feindschaft leiten lassen. Gegen ein Europa, das innerlich einig und wirklich christlich sei, hätte Asien weder eine Rechtfertigung des Kampfes, noch Aussicht auf Sieg. In diesem Sinne denkt S. auch an die Möglichkeit der Wiedervereinigung aller christlichen Konfessionen. Er lehnt allen Dogmatismus ab, sowohl den des Denkens, wie den des Glaubens. Er erstrebt ein inhaltserfülltes System der freien und wissenschaftlichen Theosophie. Indem die eigene Wahrheit bewahrt, aber auch die Wahrheit fremder Grundsätze anerkannt wird, gelangt man zu jener religiös-sittlichen Stimmung, die eine wahrhafte Vereinigung der Kirchen möglich werden läßt. Nicht nur die westliche und die östliche
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Kirche werden sich wieder miteinander verbinden, sondern auch der Protestantismus wird sich wieder mit der allgemeinen Kirche vereinigen, denn die freie sittliche Aussöhnung des östlichen Christentums mit der katholischen Kirche wird dem katholischen Grundsatz der Autorität den zwangsmäßigen und äußerlichen Charakter nehmen, der die protestantische Bewegung hervorrief. S c h r i f t e n : Die Krisis der westlichen Philosophie, Moskau 1874. — Die Grundprinzipien des einheitlichen Wissens, 1877, — Vorlesungen über Gottmenschheit, 1878—81. — Die Kritik der abstrakten Prinzipien, Moskau 1880. — Die geistigen Grundlagen des Lebens, 1882—84. — Die nationale Frage in Rußland, Moskau 1884. — Geschichte und Zukunft der Theokratie, Agram 1887. — L'idée Russe, Paris 1888. — La Russie et l'Église Universelle, Paris 1889; 3. Aufl. 1922; russ. Petersburg 1912. — Die Rechtfertigung des Guten, Petersburg 1897. — Das Recht und die Sittlichkeit, Petersburg 1897. — Theoretische Philosophie, 1899. — Ges. Schriften, Petersburg 1901—03; 2. Aufl. in 10 Bdn. 1911 f. — Ausgew. Schriften in 4 Bdn., J e n a 1904. — Werke, dt., in Auswahl, hrsg. von Harry Köhler, 1914 ff. — J . B, Sévérac, Introduction et choix de textes, Paris 1910. — Auswahl, herausg. v. Karl Noetzel, u. d. Titel: Von der Verwirklichung des Evangeliums, Wernigerode 1929. — Gedichte, deutsch, Mainz 1925. — Judentum und Christentum, herausg. und übersetzt von Ernst Keuchel, Dresden 1911. L i t e r a t u r : S. Lukjanow, Biographie in 3 Bdn. — L. Apostolow, W. S., Tiflis 1909. — Usnadse, Die metaphysische Weltanschauung W, S.s, Halle 1909. — Fr, Steppuhn, W. S., Diss., Heidelberg 1910, u. Zeitschr. f. Philos., Bd. 138, 1910; W. S„ Heidelberg 1912. — M. d'Herbigny, Un Newman Russe, W. S., Paris 1911. — G. Florowski, Neue Bücher über W. S„ Odessa 1912. — J . B. Sévérac, S., Paris 1912. — E. Trubetzkoi, S., 2 Bde., Moskau 1912 f. — E. Radlow, S., Petersburg 1913. — L. M. Lopatin, The Philosophy of V. S., 1916. — E, Lange, W. S., Eine Seelenschilderung, Mainz 1923; in: Religiöse Geister, Bd. 12. — Kasimir Trukanas, Die Geschichtsphilosophie W. S.s, Diss., Münster 1924. — Hans Prager, W. S.s universalistische Lebensphilosophie, Tübingen 1925. — K. Pflege, W. S. als Philosoph des Gottmenschentums, in: Hochland, 1927/28. — F. Goetz, Der Philos. S, u. das Judentum, Riga 1927. — K. Ambrozaitis, Die Staatslehre W. S.s, Paderborn 1927. — Sacke, Georg, W. S.s Geschichtsphilosophie, Berlin 1929 (mit Bibliographie), in: Quellen zur russ. Gesch., Bd. 9. — Koschewnikoff, Alexander, Die Geschichtsphilosophie W. S.s, in: Der Russische Gedanke, Jg. 1, 1930. — Wl. Szylkarski, S.s Philosophie der All-Einheit, Kaunas 1932, in: Commentationes ordinis philologorum Universitatis Vytauti Magni, Vol. 9. — Gößmann, Felix, Der Kirchenbegriff bei W. S., Würzburg 1936, in: Das òsti. Christentum, H. 1. — Karl Vladimir Truklar, Wl. S., Diss., Rom 1941. Soltykowicz, Josef, lebte 1762 bis 1831. Prof. in Krakau, Der polnische Ethiker und Sozialphilosoph S. stand dem Empirismus nahe. S c h r i f t e n : Abhandlung über die Ursachen der gegen die Wissenschaft gerichteten Verleumdungen (poln.), Krakau 1828. Sombart, Werner, geb. 19. J a n u a r 1863 in Ermsleben, gest. 19. Mai 1941 in Berlin. 1882 Studium der Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in Pisa und Berlin; Dr. phil. in Berlin. 1890 a. o. Prof. in Breslau, 1906 o. Professor an der Handelshochschule Berlin, 1917 o. Professor an der Universität Berlin, emeritiert 1931. S. hat die Wirtschaftsgeschichte des Abendlandes mit ihrer Entwicklung zum Kapitalismus systematisch und empirisch dargestellt. Methodisch unter dem Einfluß des Marxismus stehend, wurde er doch zu seinem Kritiker. F ü r die geschichtliche Forschung forderte er eine wertfreie, rein kausale Methode. Die philosophischen Gedanken des Neukantianismus und der Phänomenologie übten eine gewisse Wirkung auf ihn, wie er überhaupt einer philosophischen Besinnung über die Grundlagen seiner speziellen Wissenschaft aufgeschlossen ist. S. gliedert die Geschichte nach Kulturperioden, deren jede ein System von bestimmtem Geist und Stil ist, eine individuelle Abwandlung des menschlichen Geistes. Grundlage einer jeden Periode ist die ökonomische Funktion, die von 36*
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einer besonderen „Wirtschaftsgesinnung" bestimmt wird. Der Übergang von einem System zum folgenden wird nach der dialektischen Methode Hegels gedacht: jede Periode enthält in sich den Keim zu ihrem Gegensatz, der dann die nächste charakterisiert. S. ist vor allem der Wechselwirkung zwischen ökonomisch-sozialen Faktoren auf der einen und geistig-rechtlichen Elementen auf der andern Seite nachgegangen. Die Nationalökonomie strebt S. dadurch fortzuentwickeln, daß er Theorie und Empirie zu einer Einheit in der Idee des Wirtschaftssystems zusammenfaßt. Darüber hinaus unternimmt er eine Systematisierung des Bereichs der Wirtschaftswissenschaften. Im Rahmen der von ihm aufgestellten drei Typen der Nationalökonomie vertritt er die „verstehende" Betrachtung und lehnt jede naturwissenschaftliche Einstellung scharf ab. Um die Nationalökonomie als Wissenschaft zu bewahren, will er auch sie völlig „wertfrei" gestaltet sehen. S. stellt seine Forschungen in den umfassenderen Rahmen der Soziologie hinein. Diese ist für ihn vor allem „Geistwissenschaft", ihre Methode ist „noosoziologisch" (Soziologie, was sie i s t . . . , 1936, S. 24). „Aller Geist ist Gesellschaft, genauer: aller Geist weist auf Gesellschaft hin, ist auf Gesellschaft eingestellt, ausgerichtet, angelegt, angewiesen, wenn er sich verwirklichen will. Wir erleben die Sprache nur durch andere; aller Geist wird im Menschen durch andere gepflanzt. Der Einzelmensch wäre sprach- und geistlos. Aber auch alles Menschenwerk, alle objektive «Kultur» erfüllt sich nur in Gesellschaft, durch Gesellschaft: Religion, Kunst, Recht, Staat, Wirtschaft. Diese Geistbereiche sind ebensoviele Gesellschaftsbereiche, in denen freilich die Beziehung zwischen Geist und Gesellschaft etwas verschieden nuanciert ist, sofern bestimmte Bereiche des Geistes ohne Gesellschaft wenigstens g e d a c h t werden können, wie Religion und Kunst, andere auch das nicht einmal: wie Staat, Recht, Wirtschaft. Jene h a b e n Gesellschaft..., diese s i n d Gesellschaft" (S. 25). Mit gleicher Entschiedenheit betont S. das geistige Wesen des Menschen, und sein Werk „Vom Menschen" ist eine umfassende Darstellung der geistig gestaltenden Funktionen und Leistungen des Menschen in Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Im Gegensatz zu den naturalistischen Formen der Anthropologie erklärt S.: „Wer nicht einsieht, daß der Mensch ein Geschöpf sui generis, besonderer Art ist, das aus dem Naturganzen herausfällt und seine besonderen Bahnen wandelt, befindet sich ganz einfach im Irrtum" (S. 109). Von dieser grundsätzlichen Erkenntnis her untersucht S. die Gesamtheit der menschheitlichen Kultur und der Menschenwelt unter Einbeziehung einer außerordentlichen Fülle von geistesgeschichtlichen Erfahrungen, so daß seine Theorie des „Menschen" sich zu einer modernen Kulturphilosophie entfaltet. S c h r i f t e n : Römische Campagna, 1888. — Friedrich Engels, 1895. — Sozialismus und soziale Bewegung im 19, Jh., 1896; 10. A. u. d. Titel: Der proletarische Sozialismus (Marxismus), 2 Bde., 1924, — Technik u. Wirtschaft, 1901, — Der moderne Kapitalismus, 1902; 7. A, 1928, — Wirtschaft u. Mode, 1902. — Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jh., 1903; 7. A. 1924. — Das Lebenswerk von Karl Marx, 1909. — Die Juden u. das Wirtschaftsleben, 1911; 15. A. 1924. — Der Bourgeois, 1913. — Die Ordnung des Wirtschaftslebens, 1924; 2. A. 1928. — Die drei Nationalökonomien, 1930. — Die Zukunft des Kapitalismus, 1932, — Deutscher Sozialismus, 1934. — Weltanschauung, Wissenschaft u, Wirtschaft, 1938. — Vom Menschen. Versuch einer geistwissenschaftl. Anthropologie, 1938. — Soziologie, was sie ist u. was sie sein sollte, in: Abh, der Berliner Ak. der Wiss., 1936, phil.-hist. Kl., V. L i t e r a t u r : Festgabe für W. S., hrsg. v. A. Spiethoff, München 1933, in: Schmollers Jahrbuch, J g . 56, H, 6. — Friedrich Pollock, S.s „Widerlegung" des Marxismus, 1926, in: Archiv für Gesch. des Sozialismus, Beiheft 3. — R, Michels, Bedeutende Männer, 1927. —
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A r t h u r Nitsch, S.s Stellung zum Sozialismus, 1931. — Gustav Adolf Groß, Die wirtschaftstheoretischen Grundlagen des „Modernen Kapitalismus" von S., J e n a 1931. — W e r n e r Engel, M a x W e b e r s u. W. S.s Lehre von den Wirtschaftsgesetzen, Berlin 1933. — Buchholz u. Weißwange, W. S.s „Deutscher Sozialismus" im Urteil der Presse, Berlin 1935. — Erich Fechner, Der Begriff des kapitalistischen Geistes bei W. S. u, M a x W e b e r , in: Archiv f ü r Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 63, u, in: Weltwirtschaftl. Archiv, Bd. 30. — Sabri F. Ulgener, S.s Persönlichkeit u, seine Stellung in der Weltwirtschaftsphilosophie (türkisch), Istanbul 1942. — W, Ziegenfuß, W e r n e r S., in: Schmollers J a h r buch, 69. Jg., H e f t 3, Berlin 1949.
Sommer, Artur, geb. 14. Juli 1889. Dr. phil., 1927 bis 1933 Privatdozent in Gießen, 1948 Dozent in Heidelberg. S c h r i f t e n : Über einige ältere Stufentheorien, in: Festschrift f ü r Alfred W e b e r , 1948. — Französische, englische u. spanische Merkantilisten als Quellen Fr, Lists, in: F r . List, Schriften, Bd. IV, 1927. — Lists Pariser Preisschrift von 1837, in: Mitteilungen der List-Ges., 1927. —> Über ein n e u e n t d e c k t e s W e r k Fr. Lists, in: Schmollers J a h r b u c h , 1928. — A d a m Müller u. Fr. List, in: Wehrwirtschaftl. Archiv, 1931. — Hrsg.: F r . List, Schriften, Reden, Briefe, Bd. IV, VI, IX, 1927—1934.
Sommer, Gustav Adolf Hugo, geb. 26. Mai 1839 in Wolfenbüttel, gest. 31. Januar 1899 in Blankenburg (Harz). Ausbildung zum Ingenieur, dann 1860 Studium der Philosophie in Göttingen bei Lotze. 1861 Studium der Rechtswiss. in Berlin, Heidelberg und Göttingen. 1872 Richter in Blankenburg. S. ist Anhänger Lotzes und Gegner des Materialismus, Positivismus und Pessimismus von seiner streng christlichen Grundlage aus. Gegen Auswüchse des Darwinismus wendet er sich in einer Streitschrift (1887). Wilhelm Wundt, an den diese gerichtet war, weist sie schroff zurück. S c h r i f t e n : De doctrina quam de harmonia rerum praestabilita Leibnitzius p r o posuit, Preisschrift 1861. — Über das W e s e n u. die Bedeutung der menschlichen Freiheit, 1882; 2. A. 1885. — Pessimismus u. Sittlichkeit, 1882; 2. A. 1883, Preisschrift von Haarlem. — Die Neugestaltung u n s e r e r Weltansicht durch die Erk. von der Idealität des Raumes u. der Zeit, 1882. — Gewissen u. moderne Kultur, 1884. — Individualismus o d e r Evolutionismus? 1887 (gegen Wundt). — Die Bedeutung der landschaftlichen Schönheit für die menschl, Geisteskultur. — Zahlreiche Aufsätze in den Preuß. J a h r b ü c h e r n .
Sopatros von Apameia, lebte im 4. Jh. n. Chr. Schüler des Neuplatonikers Jamblich und Mitglied der syrischen Schule. Nach Jamblichs Tode (um 330) geht er nach Konstantinopel und soll philosophischen Einfluß auf Kaiser Konstantin gewonnen haben. Doch erreichen seine Neider seinen Sturz und seine Hinrichtung, wahrscheinlich unter der Begründung, daß S. für den Polytheismus eintrat. Seine Schrift über die Vorsehung ist nicht erhalten. L i t e r a t u r : Friedrich Focke, Quaestiones Plutarcheae, Diss., M ü n s t e r 1911. — Fr. Wilhelm, S., in: Rheinisches Museum, Bd. 72 (1918), S. 374 ff.
Sorbiere, Samuel, geb. 1615 bei Uzes, gest. 1670 in Paris. — Der französische Arzt S. ist Gegner Descartes* und Anhänger von Gassendi. Selbst Skeptiker, hat er des Sextus Empirikus Hypotyposes Pyrrhoneae übersetzt. S. stand im Briefwechsel mit Thomas Hobbes. S c h r i f t e n : L e t t r e s et discours, 1616. — Übers.: Sextus Empirikus, Hypotyposes; Thomas Hobbes, De cive, 1649, — 17 Briefe des Thomas Hobbes an S. Sorbiere, nebst Briefen Sorbieres, Mersennes u. a., hrsg. u. erläutert von Ferd. Tönnies, in: Archiv f ü r Gesch. der Phil., Bd. III (1890), S. 58—78, 192—232.
Sorel, Georges, geb. 2. November 1847 in Cherbourg, gest. 30. August 1922 in Boulogne-sur-Seine. 1867—92 Ingenieur bei der Straßen- und Brückenverwaltung. Von 1892 an freier wissenschaftlicher Schriftsteller.
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Von zwei Seiten her bahnt S. der philosophischen Erkenntnis einen Zugang zu den Sonderproblemen der Gegenwart: er erschließt ihr die Welt der Technik und des technischen Fortschritts, und er erweckt ihr Bewußtsein von der moralischen Unzulänglichkeit und Dekadenz der Zeit, die in schreiendem Mißverhältnis zu der technischen Weiterentwicklung steht. Um einen Ausgleich dieses Mißverhältnisses bemüht S. sich sein Leben lang, mit häufiger Wandlung seines Standpunktes. Auf der Suche nach etwas Festem, woran die wankende Moral der Zeit sich aufrichten kann, schreitet er durch eine Fülle von verschiedenen, zum Teil entgegengesetzten Gedankenwelten hindurch. Der Zeit entsprechend, überwiegt in ihnen allen der politische Aspekt. S. ist 1898 Sozialist, Verteidiger von Dreyfus und Bewunderer von Jaurès. 1908 finden wir ihn als Gegner des politischen Sozialismus und als Theoretiker des revolutionären Syndikalismus. Um 1912 hat er Sympathie für die Traditionalisten und nähert sich den konservativen und nationalistischen Ideen. Kurz nach 1918 gehört er zu den ersten Verteidigern des Bolschewismus. Ähnlich wie bei Hegel, ist auch bei seinem Tode (1922) die Rechte wie die Linke in gedanklicher Abhängigkeit von ihm. Als Philosoph im engeren Sinne ist S. weitgehend Autodidakt. Er steht in bewußter Gegnerschaft zu jeder Art von Systematik, ja auch zu Durchsichtigkeit und Klarheit. Seiner Überzeugung nach kommt es auf das Vorwärtstreiben der Gedanken an, und dafür ist ein Anreiz zum Widerspruch wichtiger als Zustimmung. Entsprechend lehnt S. den Intellektualismus und den Rationalismus ab, als Hemmnisse für einen Fortgang der Erkenntnis. In seinem Anti-Intellektualismus ist er mit Bergson verknüpft. Intuitionen und Instinkte, Irrationales und Unbewußtes befähigen zum Erfinden, zum Schaffen, zum Vorwärtskommen. Den „Bildern" (images), nicht intellektueller Arbeit, entspringen die Mythen, im Gegensatz zur Utopie. Beispiel für eine Utopie ist die liberale politische Ökonomie; sie ist S. verhaßt, wie der gesamte Liberalismus. Mythen sind z. B. Generalstreik und revolutionäre Katastrophen, Ein Mythos kann nicht eigentlich widerlegt werden, denn er ist mit den Überzeugungen einer Gruppe identisch und ist der Ausdruck dieser Überzeugungen in der Sprache der Bewegung. Die gegenwärtigen Mythen bereiten den Menschen vor auf einen Kampf zur Zerstörung des Bestehenden, während die Utopien auf Reformen abzielen und widerlegt werden können. Der Mythos vom Generalstreik spielt für die politische Ökonomie bei S. dieselbe Rolle, wie die Hypothese in der Wissenschaft bei Poincaré. Als Gegner Rousseaus hält S. den Krieg, die Gewalt und den Klassenkampf für den sichersten Weg zur Freiheit. S. hat keine zusammenfassende Darstellung seiner Lehren gegeben. Kommentare, Vorreden, Analysen bilden den Hauptertrag seines Schaffens. Sein wichtigstes und wirkungsvollstes Werk sind die „Reflexionen über die Gewalt" (1908). Sie sind hervorgegangen aus S.s Artikeln im „Mouvement socialiste". Er verteidigt die Gewalt, die er vom Zwang unterscheidet. Gewalt braucht nicht notwendig von Roheit begleitet zu sein. S. betrachtet sie als ein Werkzeug des moralischen Fortschritts. Sie aktiviert mit Hilfe des Mythos vom Generalstreik das Proletariat und stachelt seinen Willen zum Werk (der Zerstörung) an. Die Demokratie aber, von jetzt ab S.s Todfeind, untergräbt die Moral der Arbeiterschaft durch den Zwang zu Kompromissen. In den Reflexionen über die Gewalt (Vorrede) verteidigt S. seinen sozialen Pessimismus. Er ist überzeugt von der natürlichen Schwäche der menschlichen Natur, die, sich selbst überlassen, der Dekadenz verfällt. Ob sie diesem Hang wirksam zu begegnen vermag, ist eine Lebensfrage für die gegenwärtige Gesellschaft. Die Kirche kann die Aufgabe einer Gegenwirkung gegen die Dekadenz nicht mehr erfüllen, denn es besteht kein Band zwischen Religion und Produktion. Nur wo eine Verbindung mit der Produktion vorhanden ist, kann die
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soziale Krise der Gegenwart überwunden werden, die daraus entspringt, daß die moralische Höhe der Individuen dem technischen Zustand ihrer Werkzeuge nicht mehr angepaßt ist. Eine nationale und traditionalistische Neigung, die 1907 bei ihm aufkommt, bringt S. in Berührung mit der Action française, eine Entwicklung, die der erste Weltkrieg unterbricht. • Unter den historischen Einflüssen auf S. muß die von Proudhon und von Marx ausgehende Wirkung erwähnt werden. Mit Proudhon verbindet ihn der Moralismus, der stärkste Zug in seiner eigenen Persönlichkeit. Sein Schülerverhältnis zu Marx ist sehr frei. Das Schwergewicht der marxistischen Lehre ruht nach S. in Marx' Theorie der geschichtlichen Entwicklung. S c h r i f t e n : Le procès de Socrate, 1889. — L'avenir socialiste des syndicats, 1900. — Réflexions sur la violence, 1908; dt. Über die Gewalt, 1928. — Introduction à l'économie moderne, 1903. — Saggi di critica del marxismo, Palermo 1903. — Les illusions du progrès, 1908. — La décomposition du marxisme, 1908; dt. 1930. — Matériaux d'une théorie du prolétariat, 1919. — Ruine du monde antique. — Conception matérialiste du monde. S c h r i f t e n : Gaétan Pirou, G. S., 1924. —• P. Perrin, Les idées sociales de G. S., 1925. — Michael Freund, G. S., Der revolutionäre Konservatismus, Frankfurt 1932. — Thomas Niederreuther, G. S.s Betrachtungen über die Wirtschaft, Diss., München 1934. — Pierre Angel, Essais sur G. S. I. De la notion de la classe à la doctrine de la violence, Paris 1936. — Rainer Heyne, G. S. und der autoritäre Staat des 20. Jhs„ Tübingen 1938, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Bd. 29, H. 1 u. 2.
Sorley, William Ritchie, geb. 4. November 1855 in Selkirk, Todesdatum unbekannt. Von 1883 an Philosophie-Prof. in Cambridge, von 1894 bis 1900 in Aberdeen, danach wieder in Cambridge. — Der englische Philosoph S. ist von der deutschen Philosophie beeinflußt. Er gehört dem Neuidealismus in England (Anglo-Idealismus) zu. S. führt die Politik der rohen Gewalt schon auf Fichte und Hegel zurück und verfolgt sie vorwärts bis Treitschke. Er entwickelt eine besondere Wertlehre, nach der nur den Eigenschaften und Zuständen der Person Wert zukommt, die Dinge dagegen nur Wirkungswert besitzen. S c h r i f t e n : The moral life and moral worth, 1911. — The international crisis, The theory of the state, Oxford 1916 {darin: The state and morality). — A history of English philosophy, Cambridge 1920. — Selbstdarstellung in: Muirhead, Contemporary British philosophy, Bd, 2, 1925.
Sorokin, Pitirim Alexandrowitch, geb. 21, Januar 1889 in dem kleinen Dorf Touria in Rußland. Schüler des Lehrerkollegs der Provinz Kostroma in Rußland 1903—06, Abendschule in St. Petersburg 1907—09, psycho-neurologisches Institut St. Petersburg 1910—14, Magistrant für Strafrecht 1915, Dr. der Soziologie 1922, Privatdozent am psycho-neurologischen Institut 1914—16, an der Universität St. Petersburg 1916—17, Professor für Soziologie daselbst 1919—22, Professor für Soziologie an der landwirtschaftlichen Akademie 1919—22, an der Universität Minnesota 1924—30, Dekan der Abt. Soziologie an der Harvard-Universität seit 1930. Mitglied des Exekutiv-Komitees des allrussischen landwirtschaftlichen Sowjet 1917, Mitglied des Rats der russischen Republik 1917, Sekretär des Ministerpräsidenten 1917, Mitglied der russischen Verfassungskammer 1918, zum Tode verurteilt und schließlich verbannt von der kommunistischen Verwaltung 1922, nach den Vereinigten Staaten ausgewandert 1923 und eingebürgert 1930. Mitglied der amerikanischen Akademie der Künste und Wissenschaften, der amerikanischen soziologischen Gesellschaft, Ehrenmitglied des Internationalen Instituts für Soziologie der tschechoslowakischen Akademie für Landwirtschaft, der deutschen soziologischen Gesellschaft und der ukrainischen soziologischen Gesellschaft, Präsident
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des Internationalen Instituts für Soziologie 1936/37. Mitglied der griech.-orthodoxen Kirche. Wenn ein soziologisches System in einem oder zwei Worten gekennzeichnet werden soll, dann können vielleicht die Begriffe „soziologischer Integralismus" S.s System so gut wie irgend andere beschreiben. Der erste Ausdruck „soziologisch" will .die Tatsache betonen, daß S. sozial-kulturelle Erscheinungen als eine Kategorie eigener Art betrachtet, unterschieden von unorganischen, organischen und psychologischen Erscheinungen, und nicht auf sie zurückführbar sind. Er will weiterhin anzeigen, daß die Soziologie diese Kategorie aus ihr selbst heraus erforscht und nur indirekt die Beziehungen zwischen den sozial-kulturellen und unorganischen, organischen und psychologischen Erscheinungen. Dieser Ausdruck bedeutet auch, daß die Hauptaufgabe der Soziologie in einer besonderen Untersuchung der Organisation und des Lebens dieser sozial-kulturellen Welt besteht, ebenso wie in einer Untersuchung der wichtigsten Beziehungen zwischen den Hauptklassen der sozialkulturellen Erscheinungen. Das bedeutet schließlich, daß die sozial-kulturelle Welt eine Kategorie eigener Art ist, und daß die Soziologie ein eigenes Gefüge von aufeinander bezüglichen Grundsätzen, unabhängig von denen anderer Wissenschaften, errichten muß, das sich der Natur der erforschten Erscheinungen anpaßt. In dieser Richtung geht S. systematisch soweit, daß er versucht, die Kategorien der sozialen Zeit, des sozialen Raumes, der sozialen Beziehung und manche andere zu begründen. Diese sind zu unterscheiden von den Kategorien Zeit, Raum, kausale Beziehung usw., wie sie in den Naturwissenschaften bestehen und von S. als ungeeignet betrachtet werden zur angemessenen Erforschung sozialer Erscheinungen. S. weist die unrichtigen Vereinfachungen von Dürkheim, de Roberty und anderen Vertretern der soziologistischen Schule zurück, besonders in seinem Werk über kulturelle Integration, und trägt die folgerichtigen Grundsätze dieser Schule viel weiter, als sie von ihren früheren Führern selbst entwickelt wurden. Das zweite Wort: I n t e g r a l i s m u s weist einen anderen grundlegenden Gesichtspunkt der Theorien von S. auf. Wenn wir seine soziologische Methode betrachten, dann drückt sich der Integralismus zuerst in dem Grundsatz aus, daß sozial-kulturelle Erscheinungen zwei voneinander untrennbare Aspekte haben: einen inneren, den Aspekt der Meinung und Gesinnung, und einen äußeren, den Aspekt der außersubjektiven körperlichen und objektiven Darstellung der inneren Ansicht. Die beiden untrennbaren Ansichten müssen bei jeder Erforschung der sozialen Erscheinungen untersucht werden. In dieser Hinsicht entfernt sich S. von den erklärten „Behavioristen", die die sozial-kulturellen Erscheinungen nur als außersubjektive Erscheinungen ansehen, und von den soziologischen „Introspektivisten", die über den „inneren Sinn" der sozial-kulturellen Werte philosophieren, aber dabei versäumen, ihre „objektiven" Gegebenheiten zu berücksichtigen. In genauer Übereinstimmung mit diesem „integralen" Standpunkt verlangt die Methode S.s die Vereinigung der logisch-erkenntnistheoretischen Erschließung, im besonderen der „phänomenologischen" Methode im Husserlschen Sinne mit dem empirischen Studium der wesentlichen Tatsachen. Das erste ist absolut notwendig, wenn man die „innere" Seite der sozial-kulturellen Erscheinungen begreifen und verstehen will; das zweite, wenn man ihre Außenseite, wie sie sich in der empirischen Welt der Sinne „objektiviert", untersucht. Seiner Ansicht nach kann ohne ein feines und tiefes logisches Denken, das die logischen und erkenntnistheoretischen Annahmen, Prinzipien, Wesen, Formen und übrigen Aspekte des erforschten soziologischen Problems analysiert, weder bloßer Empirismus noch Tatsachenkult — sei er statistischer oder historischer, experimenteller oder beobachtender Art — zuverlässige Resultate liefern. Auf der anderen Seite ist es mit Rücksicht auf viele
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soziale Probleme möglich, einige gleichwertige logische Theorien zu formulieren, und welche von diesen Theorien am angemessensten ist, kann nur die erfahrungsmäßige Untersuchung der wesentlichen Tatsachen auf dem Weg der Induktion entscheiden. Logik ohne die wesentlichen Tatsachen ist unfruchtbar; die „Tatsachen" ohne Logik und analytisch-synthetisches Denken sind überhaupt keine wesentlichen Tatsachen, sie sind sinnlos und haben keinen Erkenntniswert. In übereinstimmender Weise findet man in allen wichtigeren Werken von S. den Versuch, die logischen und die „Tatsachen erforschenden" Methoden zu einer inneren Einhelligkeit zusammenzuführen: jedes wichtige Problem wird zunächst logisch und erkenntniskritisch analysiert und dann folgt die tatsächliche Bewährung der Zuverlässigkeit der vorgeschlagenen Theorie an den Einsichten aus wesentlichen historischen, statistischen, beobachtenden und oft experimentellen Daten. Entsprechend dieser grundlegenden Auffassung kritisiert S. die Einseitigkeit der „Tatsachenhuber" ebensosehr, wie die der „Logizisten", die sich von der empirischen Wirklichkeit entfernen. Als weitere Einzelheit dieser „integralen" (nicht-eklektischen) Methode von S. erscheint der besondere Nachdruck, den er auf die „logisch-sinnvolle" oder „phänomenologische" Methode legt, als die einzige, durch die wir das Chaos von Vorstellungen von sozialen Phänomenen in Begriffen von verständlichen, logisch-sinnvollen Systemen begreifen, verstehen und ordnen können, und sein Betonen der „kausal-funktionalen" Methode als der einzigen zum Begreifen und systematischen Erfassen der kausal-funktionalen Gleichförmigkeiten der objektiven empirischen Welt der sozialen Erscheinungen. Der „Integralismus" erscheint also in S.s Begriff der Soziologie keineswegs als eine bloße enzyklopädische Ansammlung und Niederlage aller anderen Sozialwissenschaften, noch als besondere Disziplin, die ihren eigenen Ausschnitt aus den sozial-kulturellen Erscheinungen untersucht, wie es Simmel und andere fordern. Der „Integralismus" des Systems von S. besteht in einer Auffassung der Soziologie als einer verallgemeinernden Wissenschaft, die sich auf die sozial-kulturelle Welt als ganzes bezieht, und zugleich als einer besonderen systematischen Wissenschaft in dem Sinne, daß sie sich mit dieser sozialenWelt als einem Ganzen nur gemäß wahrhaft spezifischen und bestimmten Grundzügen befaßt. Die Stellung der Soziologie in dieser Hinsicht ist nach S. ähnlich der Stellung eines Geschäftsführers oder Schatzmeisters in einem Geschäftsunternehmen: beide verfahren mit der Firma als einem Ganzen, aber nur gemäß bestimmten Richtlinien. Keiner von beiden versucht es, das Werk aller Angestellten und Arbeiter in der Firma selbst zu verrichten. Ihre Leistungen sind durchaus besonders geartet, und dennoch erstrecken sie sich auf die Firma als auf ein Ganzes. Die besonderen Grundlinien, gemäß denen die Soziologie sich auf das Ganze der sozialen Welt erstreckt, haben es zu tun mit ihrem Erscheinen in Wiederkehr und Wiederholung, in Zeit und Raum: wiederkehrende Formen und Typen, wiederkehrende Prozesse, wiederkehrende Beziehungen zwischen verschiedenen Klassen von sozialen Phänomenen. Da sie wiederkehren, sind sie nicht einmalig; wenn sie nicht einmalig sind, gehören sie zu der ganzen Klasse entsprechender Erscheinungen. Die Formen, Prozesse und Beziehungen, die in allen sozial-kulturellen Erscheinungen wiederkehren, sind als solche Formen, Prozesse und Beziehungen allen diesen Erscheinungen gemeinsam. Daher ist die Soziologie eine generelle und zugleich spezielle Disziplin. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist es, die immer sich wiederholenden Formen und Typen sozialer Struktur, sozialer Einrichtungen und ihrer logischen und ursächlichen Beziehungen zu erforschen. Sie beginnt mit dem allgemeinen — mit dem, was allen sozial-kulturellen Erscheinungen gemeinsam ist, gleichgültig wo und wann sie gegeben sind — und sie endet mit den sich wiederholenden Formen, Typen und Be-
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Sotion — Soto
Ziehungen, die nur einer gegebenen bestimmten Klasse sozialer Erscheinungen gemeinsam sind. Insoweit, als solch eine Forschung nur die logische Analyse und Einordnung dieser Formen, Typen und Beziehungen gibt, bildet sie den ersten Teil der Soziologie: die Theorie der sozialen Struktur und Organisation. Insoweit als die Soziologie eintritt in ein Studium ihres Wechsels, ihrer Umformung und ihres Wandels in der Zeit, bildet sie damit den zweiten Teil der Soziologie: die Theorie des sozialen Prozesses, der sozialen Umformung, des Wechsels und Wandels. (Im Zusammenhang mit diesem Standpunkt lehnt S. die Begriffe der „Entwicklung", des „Fortschritts" und jede allgemeine gradlinige Auffassung der Richtung der sozialkulturellen und historischen Prozesse ab.) So begriffen beginnt die Soziologie mit „Formen- oder Strukturlehre" und „Lehre von den Prozessen" der einfachsten sozialen Erscheinungen und sie endet mit der Kultur-Soziologie als einem Ganzen. In diesem letzten Teil wird sie zur soziologischen „Geschichtsphilosophie". Diese Bemerkungen geben einen Begriff vom Wesen des soziologischen Integralismus im System S.s. Diese Grundsätze zusammen mit manchen anderen ziehen sich durch alle wichtigeren monographischen Werke S.s hindurch, beginnend mit seinem russischen „System der Soziologie" und endend mit seiner „Sozialen und kulturellen Dynamik" und einem System der Allgemeinen Soziologie. In diesen Werken finden manche von diesen und anderen Grundsätzen ihre systematische Formulierung, wie auch ihre Anwendung auf eine umfassende Fülle von empirischem Material und ihre Begründung in einer solchen. (Für das Lexikon verfaßt von P. A. Sorokin). S c h r i f t e n : Crime and punishment, Petersburg 1914. — Leo Tolstoi as a philosopher, Moskau 1915. — Elements of sociology, Jaroslavle 1919. — System of sociology, 2 vol., Petersburg 1920/21. — General theory of law, Jaroslavle 1919 (sämtlich russisch). — The influence of hunger on human behavior, 1922. — Leaves from a Russian diary, New York 1924. — Today's Russia, 1923. — Essays in social politics, 1923. — Sociology of revolution, Philadelphia 1925; (übers, dt. u. japanisch). — Social mobility, N, Y, 1927 (übers, dt., chinesisch, japanisch). — Contemporary sociological theories, N. Y, 1928 (übers, dt., franz., tschechoslow., jugoslawisch, bengalisch, chinesisch, japanisch). — Principles of rural-urban sociology, N. Y. 1929. — Systematic source-book in rural sociology, 3 vols., Minneapolis, 1929—1931. — Social and cultural dynamics, 4 vols., 1937/41. — Time-budgets of human behavior, Harvard-Univ. Press, 1939. — Crisis of our age, N, Y. 1941. — Man and society in calamity, N. Y. 1942. — Sociocultural causality, space, time, Duke Univ. Press, 1943. — Russia and the United States, N. Y. 1944. — Society, culture and personality: their structure and dynamics (A system of general sociology), N. Y. 1947, L i t e r a t u r : Art. S, in: Current biography, N. Y. 1942, — L. von Wiese, P. A. S., in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, 1, Jg., 1948, S. 105 ff.
Sotion aus Alexandria, Philosoph des 2. Jhs. v. Chr. S. ist Peripatetiker. In seinem zwischen 200 und 170 v. Chr. entstandenen Werk „AinZoxrj x(ov 9'.Xoao?iov" hat S. als Erster die Geschichte der griechischen Philosophie an der Entwicklung ihrer Philosophenschulen durch Behandlung der Abfolge ihrer Leiter (Schulhaupt = Diadoche) darzustellen versucht. Er stellte zwei Entwicklungsreihen nebeneinander, die jonische von Thaies, die italienische von Pythagoras ableitend. Mittelbar hat die Behandlungsweise des S. die PhilosophieGeschichte von Diogenes Laertius stark beeinflußt. Soto, Dominicus de (Franciscus), geb. 1491 in Segovia, gest. 15. November 1560 in Salamanca. Studium in Alcala bei Thomas von Villanova. Promotion in Paris. 1524 Dominikaner. Lehrer der Philosophie in Alcala, Burgos, Salamanca. Beichtvater Karls V.
Souriau — Spangel
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Der Scholastiker S. ist Thomist, hat aber auch terministische Einflüsse empfangen. Die Physik Buridans wirkte auf seine Behandlung der Probleme der Dynamik ein. S c h r i f t e n : Commentari! in Aristotelis dialecticam. — Comm, in categorías, Venetüs 1583. — Comm. in libros VIII physicorum, Salamanca 1545. — Summtilae, 1529. — De natura gratiae libri III ad synodum Tridentinam, Ven. 1547; 2. A, Antwerpen 1550. — De justitia et jure libri VII, Salamanca 1556.
Souriau, Paul, Professor in Paris. Der französische Ästhetiker und Kunstphilosoph S. sieht die objektive Schönheit in der Vollkommenheit und betrachtet das Künstlerische als eine Art von Traumzustand. S c h r i f t e n : L'esthétique du mouvement, 1887. — La suggestion dans l'art, 1893. — La rêverie esthétique, 1906.
Spalding, Georg Ludwig, geb. 8. April 1762 in Barth (Pommern), gest. 7. Juni 1811 in Berlin. Pfarrerssohn. 1779—1782 Studium der Theologie und Philologie in Göttingen und Halle. 1792 Dr. phil. in Halle, Prof, am Gymnasium zum Grauen Kloster. 1803 Mitglied der Berliner und Münchener Akademie. Sp. hat die antike Philosophie erforscht. S c h r i f t e n : Vindiciae philosophorum Megaricorum, Halle 1792, — Commentar, in libros de Xenophonte, Zenone et Gorgia, 1793, — Hrsg. der Institutio oratoria des Quintilianus, 3 Bde., 1798 ff.; 4 Bde., hrsg. v, Ph, Buttmann, 1816, L i t e r a t u r : Philipp Buttmann, Denkschrift auf G. L. Sp., Abh. der Berliner Ak, der Wiss., 1814, S. 24—41, — G. L. Walch, Memoria Sp., 1821.
Spalding, Johann Joachim, geb. 1. November 1714 in Tribsees (SchwedischPommern), gest. 22, Mai 1804 in Berlin. Hauslehrer, ab 1747 Pfarrer. 1763 Bekanntschaft mit Lava ter. Von 1764 bis 1788 Propst an St, Nicolai in Berlin, Vater von Georg Ludwig Sp. Während seines Studiums wird Sp. mit der Wölfischen Philosophie und mit Shaftesbury vertraut, den er übersetzt. Als Anhänger der Aufklärung wendet er sich gegen den Pietismus. Seine „Vertrauten Briefe, die Religion betreffend" bekämpfen den Materialismus und den Atheismus. S c h r i f t e n : Bestimmung des Menschen, 1748; 13. A. 1794; neu hrsg. von Horst Stephan, 1908, — Gedanken über den Wert der Gefühle im Christentum, 1761, — Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes u. deren Beförderung, 1772; 3. A. 1791. — Vertraute Briefe, die Religion betreffend, 1784, — Religion, eine Angelegenheit des Menschen, 1796; 2. A, 1798. — Briefe von Sp. an Gleim, 1771. — Lebensbeschreibung, von Sp. selbst aufgesetzt u. mit Zusatz hrsg. v. seinem Sohn G. L. Spalding, 1805, L i t e r a t u r : Petrich, Hermann, J. J. Sp,, in: Allg. Deutsche Biogr., Bd, 35 (1893), S. 30 f. — Beckmann Kurt, Berührungen zwischen J. J . Sp. und Immanuel Kant in der Fassung seines Religionsbegriffs, Diss., Göttingen 1913. — Nordmann, Hans, J. J, Sp., Diss., Berlin 1929. — Aner, Karl, Die Theologie der Lessingzeit, 1929.
Spangel, Pallas, geb. in den vierziger Jahren des 15, Jhs. in Neustadt a, H., gest. Juli 1512 in Heidelberg. Studium in Heidelberg, dort 1477 Rektor der Univ., hält 1486 Gedächtnisrede auf Marsilius von Inghem. — Der Scholastiker Sp. ist Lehrer und Freund zahlreicher Humanisten. Zu seinen Schülern gehören Jakob Wimpheling und Philipp Melanchthon, der 1509 bis 1512 in seinem Hause lebt. S c h r i f t e n : Herausgabe der Scripta des Thomas de Argentina super quattuor libros sententiarum, 2 Bde., Straßburg 1490.
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Spann
Spann, Othmar, geb. 1. Oktober 1878 in Wien. Studium in Wien, Zürich und Tübingen. 1908 Privatdozent für Staatswissenschaften an der Deutschen Technischen Hochschule in Brünn, 1909 a. o., 1911 o.Professor dort." 1919 Ordinarius in Wien, 1949 im Ruhestand. Unter dem Einfluß der romantischen Schule, vor allem Baaders, setzt Sp. sich ein für eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die er als „Universalismus" bezeichnet. Ausgehend von logischen Studien und einer Kategorienlehre, die sich um den Begriff der Ganzheit ordnet, entfaltet er seine universalistische Auffassung zu einer Staats- und Gesellschaftslehre und Geschichtsphilosophie. Der Universalismus wird ihm auch zum Wertmaßstab und zum Auswahlprinzip bei seiner Betrachtung der bisherigen philosophischen Lehren. Die „Kategorienlehre" (1924) will exakt beweisen, „daß der Begriff der Welt als eines geordneten Ganzen dem menschlichen Wissen nicht unerschwinglich ist". In den Mittelpunkt stellt Sp. den Begriff der Ganzheit und erörtert die Eigenschaften, die ihr wesensnotwendig zukommen. Das Ganze hat kein Dasein; es wird in den Gliedern geboren, geht in ihnen nicht unter, sondern ist im Grunde der Glieder und vor ihnen. So ist das Ganze alles in allem. Im Verhältnis der Glieder zu ihrem Ganzen wird die Tatsache der „Ausgliederung" wichtig, worunter Sp. das Erscheinen des Ganzen in seinen Gliedern versteht (S, 90), Jedes Ganze ist ein sinnvoll funktionierendes Gebilde und besitzt eine Art von Vollkommenheit. Dieses Wesen des Ganzen spiegelt sich in seinen Gliedern wider und verleiht ihnen Eigenleben, jedoch in verschiedenem Grade, woraus sich eine Abstufung der Glieder, die sich zu Teilganzen zusammenfügen, ergibt. Dieser Gedanke der Abstufung oder Verschiedenheit des Ranges charakterisiert Sp.s Philosophie in allen ihren Einzelgebieten. Den Zusammenhang zwischen Glied und Ganzem sieht Sp. als vermittelt an, nicht als unmittelbar. Entwicklung ist „Entfaltung oder Umgliederung". Zu den Eigenschaften des Ganzen gehört auch die „Rückverbundenheit des Gliedes im Ganzen": „Als Rückverbundenes hat das Glied zugleich die Weise der Einerleiheit mit sich selbst und der Selbstfremdheit" (S. 218). In Sp.s „Geschichtsphilosophie" (1932) wird „Geschichte" als „Gegenwart der Vergangenheit" betrachtet. Der Begriff der Überlieferung gewinnt dadurch besonderes Gewicht, in Verbindung mit dem Sp. eigentümlichen Begriff der Zeit. Er ergibt sich aus der metaphysischen Haltung Sp.s, die in einer Lehre vom absoluten Geist gipfelt. Der absolute Geist transzendiert nach Sp. nicht; er lebt nach immanenten Gesetzen und kann sich nicht fortentwickeln. In der Weltgeschichte tritt er in die Erscheinung, und zwar ist er in jedem Augenblick und in jedem Zeitalter als Ganzes wirksam. Er manifestiert sich immer; doch da er nicht entwicklungsfähig ist, so kommt es nur zu Umschichtungen in seinem Gefüge. Ein dynamisches Element kommt in die Geschichte hinein durch Sp.s Gedanken der gesellschaftlichen Spannungen. Sp. will aus der Annahme von Spannungen einen „anderen, wahreren Begriff der Dialektik" entwickeln „als die Philosophie Hegels". Es gibt zwei Ursachen der Spannung: den Geist selbst, und die Folge der von dem Geist gesetzten Handlungen. Durch die Notwendigkeit, sich mit den Spannungen auseinanderzusetzen, wird der Mensch schöpferisch. So wird diese Auseinandersetzung zur Grundlage der Kultur. Mit der „gesellschaftlichen Spannung" gewinnt ein soziologisches Phänomen entscheidendes Gewicht für die Geschichtsphilosophie Spanns. Ihre Soziologisierung wird auch aus der Art seiner geschichtlichen Kategorien deutlich. Der „Philosophenspiegel" Spanns (1933) sucht das philosophische Grunderlebnis herauszuheben, unter Berücksichtigung der soziologischen Probleme, und
Spaventa
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an Stelle einer bloßen Erörterung der einzelnen Lehrsysteme. A l s die „Urunterscheidungen der Philosophie" sieht Sp. Idealismus und Empirismus an. Der Materialismus gilt ihm als Fehlform des Empirismus. Neben dem erkenntnistheoretischen oder kritischen und dem sittlichen Idealismus nimmt Sp. den entfalteten oder ontologischen Idealismus an. Die Gesellschaftslehre Sp.s ist Geisteswissenschaft. Sie ruht auf seiner Überzeugung, daß der Geist nur in der „Gezweiung" lebt, nur im Menschen, wie er in der Realität ist. Die gesellschaftliche Realität ist verwirklichter, ausgegliederter Geist, und die sozialen Gebilde werden repräsentiert durch geistige Gehalte, die sich ausgliedern aus dem überindividuellen Ganzen. Sie sind nicht eine Summe von Individuen. Durch seine Ganzheitslehre, den Universalismus, fühlt Sp. sich in Gegensatz zum Individualismus in allen seinen Formen — er umschließt als Folgeerscheinungen Liberalismus und Marxismus —, aber auch zum Mechanismus. Er lehnt auch die daraus erwachsenden Staatsformen ab und setzt sich ein für einen Ständestaat. Der hierarchische Stufenbau des ständischen Staates gehört zu den zahlreichen Grundlehren Sp.s, die seine Verwurzelung im Katholizismus erkennen lassen. S c h r i f t e n : Zur Logik der sozialen Begriffsbildung, 1905. — Wirtschaft u. GeselK schaft, Dresden 1907. — Der logische Aufbau der Nationalökonomie, in: Zeitschrift für die ges. Staatswissenschaft, 1908. — Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre, 1910; 25. A. 1949. — Gesellschaftslehre, 1914; 3. neubearb. Auflage. — Fundament der Volkswirtschaftslehre, 1918; 4. A. 1929. — Vom Geist der Volkswirtschaftslehre, 1919. — Tote u. lebendige Wissenschaft, 1921; 3. A. 1929. — Der wahre Staat, 1921; 4. A. 1938. — Kategorienlehre, 1924; 2. A. 1939. — Gesellschaftsphilosophie, 1928, — Irrungen des Marxismus, 1929; 3. A. 1931. — Schöpfungsgang des Geistes, 1928. — Hauptpunkte der universalistischen Staatsauffassung, 2. A. 1931. — Die Krisis in der Volkswirtschaftslehre, 1930. — Fluch u. Segen der Wirtschaft, 1931. — Geschichtsphilosophie, 1932. — Philosophenspiegel. Die Hauptlehren der Philosophie begriffl. u. lehrgeschichtl. dargestellt, 1933; 2. A. 1949. — Kämpfende Wissenschaft. Ges. Abhandlungen zur Volkswirtschaftslehre, Gesellschaftslehre u. Philosophie, 1934. — Erkenne dich selbst! Eine Geistphilosophie als Lehre vom Menschen u. seiner Weltstellung, Jena 1935, Herdflamme, Ergänzungsbd. 6. — Naturphilosophie, 1937, — Religionsphilosophie, 1947. — Mozarts Größe, 1948. — Klasse u. Stand, in Hdwb. der Staatswiss., 4. A., 5. Bd., S. 692 ff. — Hrsg.: Sammlung Herdflamme (Deutsche Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftslehre); Zeitschrift: Ständisches Leben, L i t e r a t u r : Hans Gustav Keller, Der wahre Staat, eine Darstellung von O. Sp.s Gesellschafts- u. Staatsauffassung, in: Feuille centrale de la Société Suisse de Zofingue, J g . 1927, 1928. — Karl Dunkmann, Der Kampf um Othmar Sp., Leipzig 1928. — Leopold Walk, Der Kausalbegriff bei Schmidt-Koppers u. O. Sp., in Festschrift für P. W. Schmidt, 1928. — Josef Kremer, Die Staatsphilosophie O. Sp.s, Graz 1930, in: Veröffentlichungen der Grazer Philos. Ges., Heft 3. — Elfriede Maschke, O. Sp.s wirtschafts-theoretische Grundauffassung u. ihr Verhältnis zur Grenznutzentheorie, Berlin 1930, in: Königsberger sozialwiss. Forschungen, Bd. 2. — Gottlieb Leibbrand, Umbruch durch O. Sp., Leipzig 1933; 2. A. 1934. — Karl Gerber, Der Universalismus bei O. Sp„ Diss,, Bonn 1934. — P. St. Tesser, Maatschappijphilosophie en maatschappijleer bij Othmar Sp., Haag 1936. — Hans Räber, Othmar Sp.s Philosophie des Universalismus, Darstellung u, Kritik, J e n a 1937. — B. Edler von Graeve, Der Begriff der Volkswirtschaft in der Ganzheitslehre O. Sp.s, Diss., Gießen 1937. — Anton Kammhuber, Der ständische Aufbau im Dritten Reiche . . . verglichen mit der Ständelehre O. Sp.s, Bottrop (Westf.) 1937. Spaventa, Bertrando, geb. 1817 inBomba, gest. 1883 inNeapel. Professor der Philosophie in Neapel. — Sp. ist einer der Hauptvertreter des Hegelianismus in Italien. S c h r i f t e n : La filosofía di Kant e la sua relazione colla filosofía italiana, Turin 1860. — Introduzione alle lezioni di filosofía, Neapel 1862. — La filosofía di Gioberti, Neapel 1863. —• Saggi di critica filosófica, politica e religiosa, 1867. — Principii di filosofía, 1867. — Idealismo e realismo, 1874. — La dottrina della conoscenza, posthum, Neapel 1899. — Principii di etica, mit Vorwort u. Anmerkungen von G. Gentile, Neapel 1904,
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Speiser — Spencer
L i t e r a t u r : L. Ferri, Un libro postumo di B. Sp., in: Rivista it, di filosofia, 1889. — G. Gentile, Scritti filosofici di B. Sp., Napoli 1901; Lettere inedite di B, e G. Sp., 1901; Documenti inediti sull' Hegelismo napoletano, dal carteggio di B. Sp., in: La Criticä Bd. IV, 1906; B. Sp., Rom 1926. — Enrico Vigorita, Bertrando Sp., Neapel 1938.
Speiser, Andreas, geb. 10. Juni 1885 in Basel. 1911 Habilitation in Straßburg; 1917 a. o., 1919 o. Professor der Mathematik in Zürich, seit 1944 in Basel.
S c h r i f t e n : Klassische Stücke der Mathematik, Zürich 1925. — Die mathematische Denkweise, 1932; 2. Aufl. 1946. — Leonhard Euler u. die deutsche Philosophie, Zürich 1934. — Ein Parmenideskommentar, Studien zur Platonischen Dialektik, Leipzig 1937, — Herausgeber: Opera omnia Leonhardi Euleri; Mathematische Werke Joh. Heinrich Lamberts, 2 Bde., 1946 u. 1948; Goethes Farbenlehre, 1949. L i t e r a t u r : Festschrift für A. Sp., 1945,
Spencer, Herbert, geb. 27. April 1820 in Derby, gest. 8. Dezember 1903 in Brighton. Entstammt einer Lehrerfamilie, in der er ausschließlich häuslichen Unterricht empfängt, überwiegend mathematischen und naturwissenschaftlichen. Besitzt eingewurzelte Abneigung gegen Sprachen und Geschichte, später auch gegen intensives Bücherlesen, und wehrt sich gegen ein Universitätsstudium. Wird 1837 Eisenbahn-Ingenieur. Übt bis 1846 praktische Tätigkeit, mit zahlreichen eigenen Erfindungen. Von 1848 an schriftstellerische Arbeit journalistischer und wissenschaftlicher Art. Beginn des philosophischen Schaffens. Freundschaft mit Lewes, mit George Eliot (Miß Evans), mit Tyndall und Huxley. Bekanntschaft mit John Stuart Mill, der ihn fördert. Zwischen 1860 und 1882 Entwurf und Ausführung seines „Systems der synthetischen Philosophie". Nach 1882 bei stark geschwächter Gesundheit und zurückgezogenem Leben Weiterführung seines Systems und Abfassung einer Autobiographie. Der englische Denker Sp, geht von der Überzeugung aus, daß das Universum ein geordnetes Ganzes ist und einer durchgehenden Gesetzmäßigkeit unterliegt, die erkenntnismäßig erfaßt werden kann. Doch bleibt unsere Erkenntnisfähigkeit auf die Phänomene beschränkt. Was hinter ihnen liegt, ist uns verschlossen. Mit dieser Begrenzung des menschlichen Wissens hat Sp, sich frühzeitig abgefunden, „Was die letzte Natur der Dinge oder ihren Ursprung anbetrifft, so ist meine Stellungnahme einfach die, daß ich nichts darüber weiß und mit meiner Unwissenheit zufrieden sein muß. Ich leugne nichts und ich behaupte nichts", schreibt er schon 1848 an seinen Vater (Autobiographie, I, S. 346). „Ich bin zufrieden, die Frage unentschieden zu lassen als das unlösbare Geheimnis." Dieser a g n o s t i s c h e V e r z i c h t S p . s wird gemildert durch seinen unerschütterlichen Glauben, daß der in den Phänomenen zutage tretende Teil der Wirklichkeit mit den Erkenntnismitteln der Wissenschaft greifbar ist. Auch in seinem Glauben an die Einheit der Wissenschaft ist Sp. nie wankend geworden. Sie umspannt und ergründet das Ganze des Universums von der physikalischen und biologischen, der psychologischen und der ethischen, der soziologischen und der religiösen Seite. Ihr Verfahren ist dabei immer das gleiche, weil sie sich auf das e i n e Gesetz stützen kann, das die Gesamtheit des Universums durchwaltet. Es ist das Gesetz des Fortschritts (progress) oder der Entwicklung (evolution, development), mit dessen Kenntnis die Wissenschaft alle Probleme der Erfahrungswelt erschließt. „Die Evolution ist ein Vorgang im Universum, einheitlich und kontinuierlich durch alle Formen der Existenz; daher kann kein Bruch, keine Verwandlung von einer Gruppe konkreter Phänomene in eine andere vorhanden sein ohne eine Brücke von dazwischen liegenden Phänomenen" (Sp. nach Thomson, H. Sp., S. 212). Sp. hat bekannt, daß das Ergriffensein vom Evolutionsgedanken der stärkste wissenschaftliche Antrieb für ihn war und blieb. „Nachdem der Begriff der Evolution in seiner zusammenfassenden Gestalt einmal von mir Besitz genommen hatte, wurde der Wunsch, ihn auszuarbeiten und zu ver-
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künden, so stark, daß es mir fast unerträglich gewesen wäre, mein Leben mit einer anderen Tätigkeit zuzubringen" (Thomson, S. 91). Von 1852 an widmete Sp. sich ausschließlich der Durchführung seines Vorhabens. Sp.s Ansichten über „ E v o l u t i o n " haben selber eine schrittweise Entwicklung erfahren, die sich in seinen Schriften widerspiegelt. Durch seine frühgeschulte Beobachtung der Natur gelangte er in jungen Jahren zu der Erkenntnis, daß eine beständige Wandlung der organischen Formen sich vollzieht. Er deutete sie zunächst ungeprüft als Fortschritt. Auf seine Lektüre von Lyells „Prinzipien der Geologie" führt Sp. seine Verwerfung des Glaubens an eine spezielle Schöpfung der Organismen und die Einsicht zurück, daß ihre fortschreitende Veränderung physisch verursacht und vererbt ist. Seine überaus kritische und zu ständigem Widerspruch neigende Veranlagung brachte es zuwege, daß Sp. gerade durch Lyell, einen erklärten Gegner Lamarcks, f ü r diesen gewonnen wurde. Lamarcks Annahme einer natürlichen Entstehung der Arten und einer Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften stimmte zu Sp.s eigener Vorstellung von der Ordnung der Natur. Bereits in diesem Anfangsstadium seiner Entwicklungslehre tritt eine Eigentümlichkeit von Sp.s philosophischem Denken ans Licht, die nicht minder bedeutungsvoll für sein Werk ist, als sein Agnostizismus und sein Verhaftetsein an die Evolutionstheorie: der feste Glaube, daß zwischen organischem Leben in der Natur und sozialem Leben ebensowenig ein Unterschied besteht in bezug auf die Gesetzlichkeit, der sie unterstellt sind, wie zwischen den Phänomenen des individuellen und des sozialen Lebens. Es ist daher für ihn selbstverständlich, daß die naturwissenschaftlichen, im engeren Sinne die biologischen Erkenntnisse auch für die Wirklichkeit der Geschichte, und das heißt bei ihm: der menschlichen Gesellschaft Gültigkeit besitzen. Schon seine ersten Veröffentlichungen behandeln dementsprechend Fragen des staatlichen und sozialen Lebens und die Prinzipien der Soziologie. „Ich nehme nur geringes Interesse an dem, was man geschichtliche Ereignisse nennt, bin vielmehr nur interessiert an der Soziologie, die sich zu diesen sogenannten geschichtlichen Ereignissen so verhält, wie ein großes Gebäude sich verhält zu den Haufen von Steinen und Ziegeln rund herum" (S. 247). Die Gesellschaft 'selber ist ein Organismus und fällt unter das fürs organische Leben überhaupt geltende Entwicklungsgesetz, dessen Einzelheiten Sp. dem Vorbild der Biologie entnimmt. In seinem Essay über „Soziale Statik" (1860) führt er den Vergleich eines „sozialen Organismus" mit dem menschlichen Körper am Beispiel des Staates durch. Die Regierung ist dem Nervensystem vergleichbar, Landwirtschaft und Industrie dem Ernährungsapparat, Verkehr und Tauschhandel dem Gefäßsystem eines Lebewesens. Die Unzulänglichkeit dieses Verfahrens, aus der Sp. bald eine beträchtliche wissenschaftliche Gegnerschaft erwuchs, führte ihn selber bereits zu der Bezeichnung sozialer Phänomene als „super-organisch". Darin liegt ein gewisses Eingeständnis der Ungeeignetheit rein biologischer Kategorien für die Erfassung sozialen Lebens. Sp.s Ansicht über das Wesen der Entwicklung als allmählicher Fortschritt, ermöglicht durch Vererbung, erfährt eine Erweiterung und Vertiefung, als er mit der Lehre des Naturforschers K. E. von Baer über individuelle Entwicklung bekannt wird. Baer, aus der Schule von Schelling und von Oken hervorgegangen, vertritt auf Grund embryologischer Untersuchungen die These, daß die Entwicklung des Individuums vom Gleichartigen zum Ungleichartigen, vom Homogenen zum Heterogenen fortschreitet. Diese Formel macht Sp. sich nun für sein Entwicklungsgesetz zu eigen. In seinem Essay „Progress, its law and cause" (1857) antwortet Sp. auf die Frage, was „Fortschritt" ist: „Im Hinblick auf den Fortschritt, den die individuellen Organismen im Verlauf ihrer Evolution entfalten, ist diese Frage von den Deutschen beantwortet worden. Die Forschungen von Wolff, Goethe und
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v. Baer haben die Wahrheit begründet, daß die Reihe von Veränderungen, die bei der Entwicklung eines Samenkorns in einen Baum oder eines Eis in ein Tier durchlaufen wird, einen Fortschritt bildet von Gleichartigkeit (Homogeneität) der Struktur zur Ungleichartigkeit (Heterogeneität) der Struktur." Durch endlose Differenzierungen entsteht schließlich das komplexe Gebilde eines ausgewachsenen Tieres oder einer Pflanze. „Dies ist die Geschichte durchaus aller Organismen. Es steht ohne jeden Zweifel fest, daß der organische Fortschritt in einem Wandel vom Homogenen zum Heterogenen besteht." Sp. setzt sich die Aufgabe zu zeigen, „daß dies Gesetz des organischen Fortschritts das Gesetz jeden Fortschritts ist. Sei es in der Entwicklung der Erde, in der Entwicklung des Lebens auf ihrer Oberfläche, in der Entwicklung der Gesellschaft, der Regierung, der Fabrikation, des Handels, der Sprache, Literatur, Wissenschaft, Kunst, diese selbe Entwicklung des Einfachen in das Zusammengesetzte behauptet sich durchaus durch eine Reihenfolge von Differenzierungen. Von den frühesten erkennbaren kosmischen Veränderungen bis zu den jüngsten Ergebnissen der Zivilisation werden wir finden, daß es die Verwandlung des Homogenen in das Heterogene ist, worin der Fortschritt wesentlich besteht" (Progress, in: Everyman Library, Nr. 504, S. 154), „Wenn wir von der Menschheit in ihrer individuellen Gestalt zur Menschheit in sozialer Verkörperung übergehen, so finden wir das allgemeine Gesetz in noch zahlreicheren Belegen. Der Wandel vom Homogenen zum Heterogenen entfaltet sich in gleicher Weise im Fortschritt der Zivilisation als ein Ganzes, und im Fortschritt jedes Stammes oder jeder Nation; und er schreitet noch weiter mit zunehmender Geschwindigkeit" (S. 161). Sp. verfolgt dies am Gang der sozialen Evolution. Eine ihrer frühesten Differenzierungen erfolgt zwischen Herrscher und Beherrschtem. Eine Art der Herrschaft ist die der Religion, eine andere die der Sitten. Weitere Differenzierungen führen zur Bildung von Klassen und Berufsständen, später erst zur Arbeitsteilung. Das Entwicklungsgesetz bestätigt sich nicht nur an der Evolution des sozialen Organismus, sondern auch „an der Evolution aller Produkte des menschlichen Denkens und Tuns, ob sie nun konkret oder abstrakt, real oder ideal sind" (S. 164). Sp. exemplifiziert an der Sprache, an den verschiedenen Kunstarten, an der Wissenschaft, mit dem Resultat: „das, was die deutschen Physiologen als das Gesetz der organischen Entwicklung entdeckt haben, ist das Gesetz aller Entwicklung" (S. 174). Die Entstehung dieses Gesetzes kann nicht noumenal ergründet werden, wegen der Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens; wohl aber können wir ihr phänomenal einen Schritt näher kommen: „Zahllose Tatsachen beweisen, daß jede Art des Fortschritts vom Gleichartigen zum Ungleichartigen führt; und daß es so ist, weil jede Veränderung viele Veränderungen im Gefolge hat" (S. 195). Denn auch dies ist ein Gesetz: „Jede wirkende Kraft bringt mehr als eine Veränderung hervor — jede Ursache bringt mehr als eine Wirkung hervor" (S. 176). Auf der Vielzahl von Wirkungen einer Ursache und auf ihrer unaufhörlichen Vermehrung beruht der d a u e r n d e Ü b e r g a n g v o m H o m o g e n e n z u m H e t e r o g e n e n a l s u n i v e r s a l e E r s c h e i n u n g . Heterogenität, Entwicklung zum Ungleichartigen, ist gleichbedeutend mit Spezialisierung und führt zur „Integration", zur Verdichtung des Stoffes, der Materie, und damit zur Vereinigung der einzelnen Bestandteile, der Elemente, zu einem Ganzen. Die Konzentrierung des Stoffes, die Sp. Integration nennt, wird begleitet von einer Zerstreuung (dissipation) der Bewegung. Beide, I n t e g r a t i o n und D i s s i p a t i o n , gehören zusammen als die beiden Seiten desselben Prozesses. Ihm folgt ein zweiter Vorgang, bezeichnet als Desintegration und Absorption. D e s i n t e g r a t i o n der Materie ist die Aufhebung ihres Zusammenhanges durch Nachlassen der Integration. Unter A b s o r p t i o n wird das Aufnehmen der Bewegung verstanden.
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Neben dem Übergang vom Homogenen zum Heterogenen und vom Zustand der Desintegration zu dem der Integration geht der Weg vom Unbestimmten zum Bestimmten. So ergibt sich die ebenso berühmte wie schwer verständliche Definition des Evolutionsgesetzes: „Entwicklung ist Integration des Stoffes, verbunden mit Zerstreuung der Bewegung, ein Vorgang, in dessen Verlauf der Stoff aus einer unbestimmten, unzusammenhängenden Gleichartigkeit (Homogeneität) in eine bestimmte, zusammenhängende Ungleichartigkeit (Heterogeneität) übergeht, während die beibehaltene Bewegung eine entsprechende Umformung erfährt". Homogeneität ist kein stabiler Zustand; denn die einzelnen Teile eines gleichartigen Ganzen sind verschiedenen Einwirkungen aus ihrer Umgebung ausgesetzt, die schließlich das Aufgeben der Gleichartigkeit bewirken. Dies geschieht nach dem physikalischen Gesetz des Beharrens der Kraft. Die Desintegration der Materie, die in rhythmischer Bewegung die Integration ablöst, also der der Evolution entgegengesetzte Vorgang, heißt Dissolution. Dieses Auf und Ab zwischen Entwicklung und Auflösung, E v o l u t i o n und D i s s o l u t i o n , setzt sich als k o s m i s c h e r P r o z e ß fort ins Unendliche, Die Aufhellung dieser Probleme gehört in die Grundlegung seiner Synthetischen Philosophie, die Sp. in den „Ersten Prinzipien" vornimmt. Der erste Teil dieses Werks hat es mit den Gesetzen des Unerkennbaren, der zweite mit denen des Erkennbaren zu tun. Die nächste Schrift im System der synthetischen Philosophie, über die „Prinzipien der Biologie", gilt als klassische Schöpfung. Ist doch Sp. der Erste, der mit seiner intensiven Fähigkeit zur Zusammenfassung und Verallgemeinerung die Tatsachen des Lebens in das Licht des Evolutionsgedankens stellt, mehrere Jahre vor Darwin, dessen Entdeckungen er zustimmend begrüßt, wie dann Darwins Anhänger die Systematisierung ihrer Grundüberzeugungen durch Sp. willig aufnehmen. Doch in dem Glauben an die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften, der die „Prinzipien der Biologie" durchzieht, ist Sp. ständig von Darwin abgewichen. Das Werk behandelt die organische Materie in ihrer Tätigkeit, die Wechselwirkung zwischen den Organismen und ihrer Umgebung; Entwicklung, Anpassung, Vererbung und Variation; Argumente für organische Evolution; die Evolution der organischen Struktur und der Funktionen; die Gesetze der Vervielfältigung (multiplication), Hatte Sp. das L e b e n in einer seiner früheren Arbeiten über die „Theorie der Bevölkerung" (1852) als „die Koordinierung von Handlungen" angesehen, so definiert er es jetzt als „die bestimmte Kombination verschiedenartiger Veränderungen, gleichzeitiger und aufeinander folgender, die übereinstimmt mit äußeren gleichzeitigen und auseinanderfolgenden Veränderungen." Oder er prägt für „Leben" die Formel: es ist „eine unaufhörliche Anpassung innerer Beziehungen an äußere Beziehungen". Die Bestimmungen gelten nur für das Leben, wie es sich uns offenbart, nicht für das Leben seiner Wesenheit nach. „Das letzte Geheimnis bleibt so groß wie immer; denn die Frage ist ungelöst: was .bestimmt' die Koordinierung von Handlungen?" „Das höchste Leben ist erreicht, wenn eine innere Beziehung von Handlungen geeignet ist, jeder äußeren Beziehung von Handlungen zu entsprechen, durch die der Organismus affiziert werden kann." Sp. war selber mit seiner Formel für „Leben" nicht zufrieden, weil sie das dynamische Element nicht adaequat zum Ausdruck brachte, in dem er doch das Wesentliche im Begriff des Lebens sah. Ob das Prinzip der Tätigkeit der organischen Materie inhärent, ob es später zu ihr hinzugekommen ist, wissen wir nicht. „Das Leben als Prinzip der Tätigkeit ist unbekannt und unerkennbar, — während seine Phänomene dem Denken zugänglich sind, ist das implizierte Noumenon unzugänglich, — nur seine Manifestationen kommen in den Bereich unserer Intelligenz, während das, was sich manifestiert, ihn übersteigt". (Die Partien über den dynamischen Charakter des LePhilosophen-Lexikon
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bens sind erst in die zweite Auflage der „Prinzipien der Biologie" vom Jahre 1898 eingefügt.) Da Entwicklung biologisch gesehen Zuwachs an S t r u k t u r ist, so wird der Strukturbegriff bedeutungsvoll. Die Frage taucht auf, ob die (an Struktur gebundene) Organisation das Leben hervorbringt, oder das Leben die Organisation? Sp. antwortet: weder das eine, noch das andere. Struktur und Funktion müssen im Gleichschritt vorwärts gegangen sein. „Aber da das Fortschreiten von einem strukturlosen Zustand zu einem strukturierten Zustand selbst ein Lebensprozeß ist, so folgt, daß Lebensaktivität existiert haben muß, während es noch keine Struktur gab: sonst hätte die Struktur nicht entstehen können." Die Struktur eines Organismus wird bewirkt durch die unzähligen Wechselwirkungen zwischen den Organismen der vorhergehenden Generation, die sich vererben. Sp. hat in seiner Vererbungslehre entscheidende Gedanken Darwins vorweggenommen. Schon 1852 erkannte er, daß „diejenigen, die übrigbleiben um die Rasse fortzusetzen, diejenigen, in denen die Macht der Selbsterhaltung am stärksten ist, die Auserwählten ihrer Generation sind". Er zieht später, nach Erscheinen von Darwins „Ursprung der Arten" (1859), die Formel: „survival of the fittest" (Uberleben des Anpassungsfähigsten, Übrigbleiben des Bestgeeigneten) Darwins Ausdruck „natural selection" vor. „Survival of the fittest" ist „Behauptung des beweglichen Gleichgewichts der Funktion angesichts äußerer Handlungen" und war in Wirkung von allem Anbeginn, ja kann niemals zu wirken aufhören. Unter zivilisierten menschlichen Rassen bleibt die natürliche Selektion beschränkt „auf die Zerstörung derer, die zu schwach sind zum Leben, auch trotz äußerer Hilfe". Auch innerhalb des Individuums nahm Sp. bereits Selektion an, damit Einsichten von Roux vorwegnehmend (Thomson, S. 204 f., unter Hinweis auf Sp.s: The social organism, 1860). Auch in seinen „Prinzipien der Psychologie" hat Sp. die wissenschaftliche Erkenntnis beträchtlich bereichert. Die Anwendung seiner Evolutionstheorie führt hier zur genetischen Erklärung der menschlichen Seele und ihrer geistigen Phänomene. Als Erster hat er das kindliche Seelenleben zur Deutung der seelischen Phänomene beim Erwachsenen und das tierische Vorstadium zur Aufhellung von psychologischen Problemen beim Menschen herangezogen. Er versucht die Entwicklung des Geistes von Reflexhandlungen durch den Instinkt zu Vernunft, Gedächtnis, Gefühl und Willen zu verfolgen und zu beschreiben an Hand ihrer Wechselwirkung mit dem Nervensystem. Von der Korrelation zwischen Körper und Geist ist Sp. überzeugt. Alle Kundgebungen des Geistes hängen also von der körperlichen Struktur ab. „Und nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität des Geistes ist teilweise bestimmt durch diese psycho-physischen Beziehungen." Die ursprünglichen Elemente des menschlichen Bewußtseins oder „Einheiten des Empfindens" (units of feeling) bezeichnet Sp. als „seelische" (oder nervöse) „Schocks". Sp. muß sich auch innerhalb der Psychologie entsprechend den Voraussetzungen seines philosophischen Denkens an die genetische Beschreibung halten und die Lösung des Grundproblems schuldig bleiben; welcher Natur die psychophysische Beziehung ist und wie letztlich der Geist aus der Materie, die Seele aus dem Körper entsteht, bleibt ein Rätsel. Geist und Materie sind antithetische Begriffe und müssen beide als Zeichen der „Unbekannten Realität" betrachtet werden, die ihnen zugrunde liegt. Doch besteht ein Unterschied: „Es scheint leichter, die sogenannte Materie in den sogenannten Geist zu übersetzen, als den sogenannten Geist in die sogenannte Materie zu übersetzen, ja dies letzte ist in der Tat völlig unmöglich." Seinen Glauben, daß in der „Letzten Realität" beides miteinander vereint ist, deutet Sp. nur an (Prinzipien der Psychologie, I, 627). Vom Standpunkt der Erkenntnis betrachtet, stellt sich die Antithese zwischen Geist und Materie als der Gegensatz Subjekt—Objekt dar. Er kann nie überwunden
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werden, solange das Bewußtsein dauert, und gerade er macht eine Erkenntnis der letzten Realität unmöglich, in der er aufgehoben ist. Als Symbole der letzten Unbekannten Realität sieht Sp. neben der Materie auch die übrigen Grundbegriffe (oder Kategorien) an, Bewegung, Kraft, Raum, Zeit. Sie sind komplexe Bewußtseinszustände, aufgebaut aus den Einheiten der Empfindung als den kleinsten Elementen des Seelenlebens. Dem Individuum sind sie durch Vererbung angeboren, von der Gattung durch Erfahrung erworben. Anders ausgedrückt: sie sind a priori für das Individuum, a posteriori für die Gattung. Mit dieser Theorie will Sp. zwischen Apriorismus und Empirismus vermitteln, wie er auch zwischen Idealismus und Realismus vermittelt hat. Er nennt seinen Standpunkt „umgestalteten Realismus" (transfigured realism). In seinen „Prinzipien der Soziologie" untersucht Sp. die Gesetze des „sozialen Organismus" oder der überorganischen Entwicklung. Die Ergebnisse der Biologie und der Psychologie sind dabei vorausgesetzt, die Beispiele werden großenteils der Völkerkunde entnommen. Mit seinem genetischen Verfahren sucht Sp. die Entwicklung der menschlichen Institutionen zeremonieller, politischer und kirchlicher Art zu erschließen. Als Hauptfaktor für ihre Entstehung sieht er die F u r c h t vor Lebenden und Toten an, wie sie sich im Existenzkampf herausbildet. Aus der Furcht vor lebenden Gegnern erwachsen Zeremonien und politische Institutionen, die Furcht vor den Geistern der Toten, vor allem der Ahnen, führt zur Religionsbildung. Furcht ist die Ursache für militärische Handlungen. Durch Kriege werden kleinere soziale Gruppen zu größeren konsolidiert, was den Übergang zum Industrialismus ermöglicht. Der natürliche Antagonismus zwischen Krieg und Industrialismus fördert den sozialen Fortschritt. In kriegerischen Zeiten existiert das Individuum für den Staat, in industriellen soll der Staat zum Nutzen der Bürger behauptet werden. In ihnen wächst die Freiheit des Individuums, Sp.s Ideal ist der englische Liberalismus. Jeder Art von Sozialismus ist er abgeneigt. Seine Formel für die absolute Gerechtigkeit lautet: „jeder Mensch ist frei das zu tun was er will, vorausgesetzt, daß er nicht die gleiche Freiheit eines anderen Menschen verletzt". Individuelle Freiheit und Friede sind der Boden für das Gedeihen alles Guten. „Es ist nur eine Fortdauer des absoluten Friedens draußen und ein starkes Geltendmachen des Nicht-Kriegerischen (non-aggression) drinnen nötig, um die Gestaltung der Menschen zu einer Form zu sichern, die durch alle Tugenden charakterisiert ist". Das Ideal des von Sp. vertretenen Individualismus ist sein Einklang mit dem allgemeinen Wohl. Sp. entwirft ein Bild dieses Endzustandes: „Das letzte Individuum wird ein solches sein, dessen private Bedürfnisse mit den öffentlichen übereinstimmen. Es wird die Art von Mensch sein, der mit spontaner Erfüllung seiner eigenen Natur nebenher auch die Funktionen einer sozialen Einheit vollzieht und doch nur deshalb imstande ist seiner eigenen Natur zu folgen, weil alle anderen dasselbe tun". Als letzte Einheit der menschlichen Gesellschaft sieht Sp. zuerst die Familie, später den einzelnen Menschen an. Zwischen einem individuellen Organismus und einer Gesellschaft bestehen in der Hauptsache vier Parallelen: 1. sie beginnen und wachsen als kleine Aggregate, 2. ihre anfängliche Einfachheit wird dabei durch zunehmende Komplexheit der Struktur ersetzt; 3. bei zunehmender Differenzierung steigert sich die gegenseitige Abhängigkeit der zusammengesetzten Teile, bis das Leben und die normale Funktion jedes einzelnen vom Leben des Ganzen abhängig wird; 4. das Leben des Ganzen wird länger, unabhängig vom Leben der Einheiten, aus denen es zusammengesetzt ist. Die Analogie wird später unter Sp.s Einfluß von Schäffle weitergetrieben. Sp. selbst ist sich ihrer Grenzen deutlich bewußt und zeigt auch vier wichtige Unterschiede zwischen individuellem und sozialem Organismus auf: 1. die Gesellschaften haben keine spezifischen äuße37*
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ren Formen, 2. die Einheiten eines Organismus hängen physisch zusammen, die einer Gesellschaft sind getrennte Personen; 3. die Elemente eines individuellen Organismus sind meist unbeweglich, die eines sozialen Organismus beweglich; 4. im tierischen Körper ist nur ein besonderes Gewebe mit Empfinden begabt, in der Gesellschaft sind es alle Mitglieder. Die Hauptschwierigkeit in der Durchführung dieses Vergleichs liegt darin, daß der individuelle Organismus im Nervensystem ein zentriertes Bewußtsein besitzt, während die soziale Gruppe als Ganzes kein gemeinsames Bewußtsein (corporate consciousness) hat. Die „Prinzipien der Ethik" sind auf Sp.s physikalische, biologische und soziologische Ergebnisse gegründet. Die Moral entwickelt sich als eine Anpassungserscheinung beim Kampf ums Dasein. Der menschliche Wille ist auf Selbsterhaltung und auf Erhaltung der Art gerichtet. Egoismus und Altruismus sind ursprünglich und notwendig. Der Egoismus besitzt die Priorität: erst muß egoistische Lust vorhanden sein, ehe altruistische Sympathie entstehen kann. Die Spannung zwischen Egoismus und Altruismus soll in einem Zustand sozialer Harmonie ausgeglichen werden. Gut ist das Handeln, das das Leben fördert, sowohl im Sinne der Selbsterhaltung als auch der Erhaltung der Art. Dazu gehört ein Überschuß an Lust über die Unlust. Ethisches Ziel ist die Glückseligkeit des Einzelnen und der Art. Sp. verbindet also ethischen Utilitarismus mit ethischem Evolutionismus, Außerhalb des synthetischen Systems der Philosophie blieben Sp.s Schriften „Über Erziehung" (1861), die zwischen 1854 und 1859 entstanden sind. Sie waren zu ihrer Zeit revolutionär, vor allem in der frühen Erkenntnis, daß eine naturwissenschaftliche Erziehung mehr wert sei als jede andere Art des Wissens. „Für Disziplin sowohl als für die Führung ist die Naturwissenschaft vom höchsten Wert. In all seinen Auswirkungen ist das Erlernen der Bedeutung von Dingen besser als das Erlernen der Bedeutung von Worten." Sp. ist Gegner der autoritativen Erziehung und Gegner der Ansicht, daß die Ausführungen des Lehrers und der Bücher wichtige Erziehungs- und Bildungsmittel sind. Er läuft Sturm gegen die verbreitete Annahme, die überlieferte Erziehungsmethode sei unangreifbar. Auch in der Erziehung erscheint ihm „eine vernünftige Erklärung der Phänomene" als wesentlich. Kinder sollen lernen durch unaufhörlichen Gebrauch ihrer Sinne. Man soll ihnen das Wissen in interessanter Form nahebringen, soll sie aber auch unter den natürlichen Konsequenzen törichter oder verkehrter Handlungen leiden lassen. Zeichnen und Malen, wie Musik, sollen eine wichtige Rolle im Erziehungsplan spielen. Die industriellen und sozialen Wandlungen der letzten Zeit haben Sp.s Vorschläge zur Verwirklichung gebracht. Sind diese Vorschläge selber doch aus seiner frühen Erkenntnis der sich anbahnenden tiefgreifenden industriellen Veränderungen entstanden. Bei dem starken Überwiegen seines Intellekts, der geringen Entwicklung seines emotionalen Lebens und dem Ausfall aller mystischen Neigungen findet Sp. nach eigenem Bekenntnis schwer einen Zugang zur Religion. „Das Glaubensbekenntnis des Christentums ist augenscheinlich meiner Natur fremd, sowohl emotional als auch intellektuell." Doch mildert sich seine Haltung allmählich, wie allen bestehenden Institutionen gegenüber. „Ich kam dazu, immer ruhiger und ruhiger auf die Formen des religiösen Glaubens zu blicken, gegen die ich in früheren Tagen eine ausgesprochene Abneigung besaß." Systematisch betrachtet, stößt die Religion an dieselbe Grenze wie die Wissenschaft, was nach Sp.s Meinung eine gewisse Versöhnung zwischen beiden bedeutet. Denn es ist die letzte erkennbare Wahrheit, daß „die Realität, die den Erscheinungen zugrunde liegt, total und für immer unvorstellbar ist für uns . . . , aber wir müssen jedes Phänomen ansehen als die Manifestation einer unverständlichen Macht, die .allgegenwärtig' heißt, wegen der Unfähigkeit
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ihre Grenzen zu bestimmen, obgleich Allgegenwart undenkbar ist". Auch für seine Haltung zur Religion gilt Sp.s Wort: „Ein jeder muß das aussprechen, was er aufrichtig für wahr hält, und indem er seinen Teil (unit) an Einfluß allen anderen Teilen hinzufügt, die Resultate sich selber entfalten lassen." An der starken Wirkung der Resultate von Spencers Philosophie, in allen von ihm durchforschten Einzelgebieten, kann kein Zweifel sein. Weniger klar ist das Bild der Tiefe und Nachhaltigkeit von Einwirkungen, die er empfangen hat. Sp. war Autodidakt und ein eigenwilliger Denker, offen jeder Belehrung durch die Erfahrung, aber von starrem Sinn im Festhalten einmal gewonnener Erkenntnisse. Er gibt zu, daß er stets ein schlechter Leser war, daß er nie ein Buch zur Hand nahm, dessen Grundgedanke ihm falsch schien, und sei der Verfasser noch so berühmt seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Er spricht sich einen völligen Mangel an Autoritätsglauben, eine Unterschätzung der Vergangenheit im Vergleich zur Gegenwart zu, sowie das Fehlen aller Ehrfurcht vor dem, was andere gesagt und getan haben. So lehnt er Piatos Dialoge gänzlich ab und gibt die Lektüre Kants nach kurzem Versuch auf. Erst nach Abschluß eigener Gedankenarbeit zog er gelegentlich frühere und fremde zeitgenössische Forschungsergebnisse heran. Für beeinflußt hielt er sich nur, wo er sich zum Widerspruch gereizt fühlte, „Die einzige Art der Abhängigkeit, die ich anerkenne, ist die Abhängigkeit durch Antagonismus. Meine ausgesprochene Gegnerschaft gegen seine Ansichten führte mich dazu, einige meiner eigenen Ansichten zu entwickeln." So beurteilt er sein Verhältnis zu Comte, auf den Lewes und George Eliot ihn aufmerksam machten; erst 1853 beginnt er sich mit ihm kritisch auseinanderzusetzen, doch glaubt man ihm nur die Übernahme der Termini „Altruismus" und „Soziologie" nachweisen zu können. Aus der Uberzeugung heraus: „Das entschlossene Bemühen (zu denken) verursacht eine Verfälschung des Gedankens" lehnt Sp. jeden Zwang zu gedanklicher Arbeit ab, wie ihm auch erwiesenermaßen jeder Hinblick auf äußeren Erfolg seines Schaffens fremd ist. „Ich war zu jener Zeit, — und bin es seither geblieben — einer von den Leuten, die Dr. Johnson als Narren klassifiziert, einer, dessen Motiv beim Bücherschreiben nicht das Geldmachen war — und es auch niemals wurde." Die Zahl der Anregungen, die er durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse anderer Forscher empfing, ist nicht gering, doch paßte Sp. sie in willkürlicher Verwendung -in sein System ein, ob es sich nun um Lamarcks Lehre von der Vererbung erworbener Fähigkeiten, um die Nebel-Hypothese von Laplace, die Bevölkerungstheorie von Malthus, den Gedanken der physiologischen Arbeitsteilung bei Milne-Edwards, um vonBaers Annahme einer Entwicklung vom Homogenen zum Heterogenen, Groves These von der Korrelation physikalischer Kräfte oder Darwins Lehre vom Ursprung der Arten und der Natürlichen Selektion handelte. S c h r i f t e n : The proper sphere of government. Letters to The Nonconformist, 1843. — Social statics, 1851; abridged and revised, 1892. — The development hypothesis, 1852. — Principles of sociology, 1855, — Progress, its law and cause, 1857. — Essays, 1858. — A System of synthetic philosophy, Programm, 1860. — A System of synthetic philosophy, enthaltend: First principles, 1862; dt. von Vetter, 1875; engl. 2. A . 1867; 6. A. 1900; mit Appendix 1904. — Principles of biology, 2 Bde., 1864—67; 2. A . 1898/99; dt. v. Vetter 1876/77. — Principles of psychology, 1855; 2. A., 2 Bde., 1870—72; 3. A . 1881, 1890; 4. A . 1899; dt. v. Vetter, 1882—86. — Principles of sociology (Umarbeitung), 3 Bde., Bd. I: 1877, Bd. II: 1886; Bd. III: 1896 (Ceremonial, political, ecclesiastical institutions). — Principles of ethics, 2 Bde., Bd. I: 1879, Bd, II: 1892; dt. v. Vetter u. Carus, 1879 ff. — Descriptive sociology, or groups of sociological facts, classified and arranged, zus. mit Duncan, Scheppig u. Collier, 8 Bde., 1873 bis 1881 (enthält: English.-Ancient American races. — Lowest races, Negritos, Polynesians. — African races. — Asiatic races. — American races. — Hebrews and Phoenicians. — French.). — Education, intellectual, moral and physical, 1861; 23. A. 1890; dt.
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Spener, Philipp Jakob, geb. 13. Januar 1635 in Rappertsweiler (Oberelsaß), gest. 5. Februar 1705 in Berlin. 1651 geschichtliche, philosophische und sprachliche Studien in Straßburg. 1653 Magister der Philosophie mit Disputation gegen Hobbes. 1656 bis 1659 Studium der Theologie. 1659 bis 1662 akademische Reisen, unter anderm nach Basel und Genf. 1662 nach Stuttgart und Tübingen. 1663 Hilfsprediger am Straßburger Münster, 1664 Dr. theol. in Straßburg. 1666 Pfarrer in Frankfurt a. M,; Briefwechsel mit Leibniz. 1686 Oberhofprediger in Dresden; Verbindung mit A. H. Francke in Halle. 1691 Propst von St. Nikolai in Berlin.
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Als Begründer der pietistischen Bewegung auf dem Boden des Luthertums fordert Sp. mit dem Wandel der Religiosität zum persönlichen Herzensglauben zugleich eine sittliche Erneuerung durch Bewußtwerden der subjektiven Verantwortung. Dabei kommt es ihm mehr auf praktische Reformen als auf systematisches Durchdenken und philosophisches Begründen seines religiös-sittlichen Lebensideals an. Doch hat er die theoretische Bearbeitung der von ihm berührten Probleme wirksam belebt. S c h r i f t e n : Pia desideria, 1675. — Das geistliche Priestertum, 1677, — Der Klagen über das verdorbene Christentum Mißbrauch u. rechter Gebrauch, 1685. — Die Freiheit der Gläubigen von dem Ansehen der Menschen in Glaubenssachen, 1691. — Briefe, 4 Bde., 1700—1702. — Briefwechsel mit August Hermann Francke, hrsg. v. G. Kramer, 1861. — Hauptschriften, hrsg. v. Paul Grünberg, 1889, in: Bibliothek theologischer Klassiker, 1889. — Lebensbeschreibung, hrsg. v. Freiherrn v. Canstein, 1729; von Lange, 1740. — Auswahl von F . A. E . Hennicke, 1838. — Kleine Schriften, hrsg. v. Steinmetz, 1776. — Ges. Aufsätze u. Vorträge, 1907 ff. L i t e r a t u r : W . Hoßbach, Ph. J . Sp. und seine Zeit, 2 Bde., 1828; 3. A. 1861. — Paul Grünberg, Ph. J . Sp„ 3 Bde., Bd. I: Zeit, Leben, Theologie, 1893; Bd. II: Sp. als praktischer Theologe u. kirchlicher Reformer, 1905; Bd. III: Sp. im Urteil der Nachwelt u. Einwirkung auf sie, mit Bibliographie u. Register, 1906. — Paul Grünberg, Artikel Sp., in: Realenc. für prot, Theol. u. Kirche, 3. A., 1906, S. 609—622. — P. Tschackert, Art. Sp., in: Allg. Deutsche Biographie, Bd. 35 (1893), S. 102—115. — Willi Grün, Sp.s soziale Leistungen u. Gedanken, Diss., Frankfurt a. M., 1934. — Albrecht Stumpft, Ph. J . Sp. über Theologie u. Seelsorge, Diss., Tübingen 1934, — Maria Peters, Ph. J . Sp., Halle 1935. — G. Kerz, Ph. J . Sp., Gießen 1936, — Hans Bruns, Ein Reformator nach der Reformation, Marburg 1937. — Kurt Aland, Ph, J . Sp.s Pia Desideria, Diss., Berlin 1939; Spenerstudien, Berlin 1943, in: Arbeiten zur Kirchengeschichte, Nr, 28.
Spengler, Oswald, geb. 29. Mai 1880 in Blankenburg am Harz, gest. 8. Mai 1936 in München. Studium der Mathematik, Philosophie, Geschichte und Kunst in München und Berlin. Promotion in Berlin mit einer Diss. über Heraklit. Mathematiklehrer in München, danach freier Schriftsteller. Das philosophische Hauptwerk Sp.s, „Der Untergang des Abendlandes", wurde bereits vor dem ersten Weltkrieg konzipiert und unmittelbar danach (1918 und 1922) veröffentlicht. Es erhebt den Anspruch, „nicht . . . eine neben andern mögliche und nur logisch gerechtfertigte, sondern . . . d i e , gewissermaßen natürliche, von allen dunkel vorgefühlte Philosophie der Zeit" zu sein (S. VII), ein Gedanke, der nicht in eine Epoche fällt, sondern der Epoche macht. Seine Eigenart liegt in dem Versuch, „Geschichte vorauszubestimmen", nicht auf die gewohnte Weise religiöser oder politischer Prophetie, sondern mit wissenschaftlicher Exaktheit. „Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf der Erde in Vollendung begriffen ist, derjenigen Westeuropas, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen" (S. 3). Die Frage nach der Logik der G e s c h i c h t e , nach dem Vorhandensein einer „sozusagen metaphysischen Struktur der historischen Menschheit", nach den „allgemeinen biographischen Urformen" für alles Historische wird aufgeworfen. Sie führt weiter zu dem Problem, „was K u l t u r ist, in welchem Verhältnis sie zur sichtbaren Geschichte, zum Leben, zur Seele, zur Natur, zum Geiste steht, unter welchen Formen sie in Erscheinung tritt und inwiefern diese Formen . , . Symbole und als solche zu deuten sind", (S. 4.) Der Mathematiker Sp. ist sich des Unterschiedes der dafür erforderlichen Methode von der naturwissenschaftlichen voll bewußt, „Das Mittel, tote Formen zu begreifen, ist das mathematische Gesetz, Das Mittel, lebendige Formen zu verstehen, ist die A n a 1 o g i e". Sp. behauptet, daß man mit Hilfe der Analogie, des Vergleichs, „die o r g a n i s c h e S t r u k t u r d e s G e s c h e h e n s b l o ß -
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l e g e n " kann. Mit diesem Verfahren glaubt er „einer völlig neuen Philosophie, d e r Philosophie der Zukunft" den Weg zu ebnen. War das einzige Thema der Philosophie bisher die Morphologie der Natur, so ist das zukünftige (gegenwärtig nur bei Sp. vorhandene) „die Idee einer M o r p h o l o g i e d e r W e l t g e s c h i c h t e , der Welt als Geschichte" (S. 7). Sie faßt alle Gestalten und Bewegungen der Welt zu einem B i l d e d e s L e b e n s , d e s W e r d e n s zusammen. Voraussetzung bleibt dabei, daß „sichtliche Geschichte" Ausdruck, Zeichen, „ f o r m g e w o r d e n e s S e e l e n t u m " ist und nicht, wie bisher, nach dem Vorbild der Physik nur auf den Zusammenhang von Ursache und Wirkung hin untersucht werden kann. Sp. unterscheidet die Notwendigkeit von Ursache und Wirkung als Logik des Raumes von der „organischen Notwendigkeit des Schicksals" als L o g i k d e r Z e i t und widmet der geschichtlichen Zeit — wie auch der chronologischen im Unterschied von der mathematischen Zahl — tiefdringende Überlegungen. „Die Mathematik und das Kausalitätsprinzip führen zu einer naturhaften, die Chronologie und die Schicksalsidee zu einer historischen Ordnung der Erscheinung. Beide Ordnungen umfassen die ganze Welt. Nur das Auge, in dem und durch das sich diese Welt verwirklicht, ist ein anderes." (S. 10.) Sp.s „Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte", wie der Untertitel seines Werkes die Aufgabe näher bestimmt, sind getragen von dem Bewußtsein, „daß die Zahl der historischen Erscheinungsformen eine begrenzte ist, daß Zeitalter, Epochen, Situationen, Personen sich dem Typus nach wiederholen". Aus dem Strom der Universalgeschichte hebt Sp. acht verschiedene Kulturen heraus, die er als Organismen, als Lebewesen von individueller Form und begrenzter Dauer ansieht, aufblühend, sich entfaltend und abwelkend wie diese in Jugend, Reife und Alter zwischen Geburt und Tod. Auch der Vergleich mit den Jahreszeiten kann auf sie angewendet werden. Der Gang einer jeden Kultur durch ihre verschiedenen Stadien endet mit einer Zivilisation als Verfallsepoche. Die von Sp. angenommenen Kulturen umspannen als Antike das apollinische Seelentum, als abendländische Kultur die faustische Seele. Zwischen beiden steht die arabische Kultur auf dem Grund eines magischen Seelentums. Sie umfaßt Judentum, Urchristentum, Kirchenväter, Neuplatonismus und Islam. Das Christentum wird dadurch seiner Mittlerstellung zwischen Antike und Moderne entkleidet, wie Sp. sich überhaupt in unbedingter Gegnerstellung zur christlichen Weltanschauung und Lehre befindet. Die Gegenwart wird als letztes Stadium der abendländischen Kultur, als ihre Zivilisationsphase und damit als Verfallsperiode gedeutet, unmittelbar vor dem Zurücksinken ins Fellachentum. Aus seiner Annahme eines völligen Parallelismus im Verlauf verschiedener Kulturen, aus seiner Behauptung des Vorhandenseins von formalen Gleichläufigkeiten und Homologien leitet Sp. das Recht ab, die Zukunft des Abendlandes in Entsprechung zum Untergang der Antike zu konstruieren. Das Überwiegen des Rationalismus, das Überwuchern der Technik, die Herausbildung von Großstädten, Demokratie und Kosmopolitismus sind Abstiegstendenzen. Auch die Gesinnung der Humanität und des Pazifismus, die Behauptung der Menschenrechte, die Forderung der Nächsten- und Bruderliebe verfällt diesem Verdammungsurteil. Als einzig mögliche Philosophie unserer Niedergangsphase proklamiert Sp. die S k e p s i s , mit der auch die antike Weltweisheit abschloß. Sp. hat sich für die Ausgestaltung seiner philosophischen Gedanken allein auf Goethe und auf Nietzsche als Vorläufer berufen und die Nennung weiterer Quellen für seine auch im Fachlichen weitgreifenden Analogien unterlassen. Seine zahlreichen Kritiker aus den vielen von ihm herangezogenen Einzelwissenschaften haben eine Anzahl von Vorläufern namhaft gemacht und eine Unzahl von Sp.s
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Behauptungen widerlegt, ohne damit seine Wirkung auf Dilettanten aller Disziplinen und auf weite Kreise von Gebildeten zu verringern. Sie geht von den romantischen Zügen seiner Weltanschauung, der Schärfe seiner Kulturkritik, der anscheinenden Geschlossenheit seiner Darstellung und der Überzeugungskraft seiner dogmatischen Behauptungen aus. Auch das Zutreffen einiger von ihm behaupteter Analogien hat seiner Philosophie Werbekraft verliehen, S c h r i f t e n : Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. I: Gestalt und Wirklichkeit, 1918; Bd. II: Welthistorische Perspektiven, 1922. — Preußentum u. Sozialismus, 1920. — Der Mensch u, die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, 1931, — Politische Schriften, 1932 (enthaltend: Preußentum u, Sozialismus, 1919; Politische Pflichten der deutschen Jugend, 1924; Neubau des deutschen Reiches, 1924; Das Doppelantlitz Rußlands u, die deutschen Ostprobleme, 1922; Das Verhältnis von Wirtschaft u, Steuerpolitik, seit 1750; Das heutige Verhältnis zwischen Weltwirtschaft u, Weltpolitik, 1926; Neue Formen der Weltpolitik, 1924). — Jahre der Entscheidung, 1. Teil: Deutschland u, die weltgeschichtliche Entwicklung, 1933. — Reden u. Aufsätze, 1937. L i t e r a t u r : Ernst Troeltsch, Der Untergang des Abendlandes, Bd. I, in: Historische Zeitschrift 120, 1919 (und Werke, Bd. IV, S. 677—684); Der Untergang des Abendlandes, Bd. II, in: Hist. Zeitschrift, Bd. 128, 1923 (und Werke, Bd. IV, S. 685—691). — Götz Briefs, Untergang des Abendlandes, Freiburg i, Br, 1920; 2, A, 1921. — Heinrich Scholz, Zum Untergang des Abendlandes, Berlin 1920; 2, A. 1921. — H. von Soden, Sp.s Morphologie der Weltgesch, u, die Tatsachen der Kirchengesch., in: Harnack-Ehrung, 1921. — Franz Köhler, Untergang oder Aufstieg der abendländischen Kultur? München 1921, Philosophische Reihe, Bd. 31. — Eduard König, O. Sp.s Der Untergang des Abendlandes, 1921; 2. A. 1923. — Otto Neurath, Anti-Spengler, München 1921.'— Leonhard Nelson, Spuk, Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagekunst O. Sp.s, Leipzig 1921, in: Öffentliches Leben, H. 27/30. — Karl Stange, Der Untergang des Abendlandes, 1921. — Johannes Wenzel, Der religiöse Charakter des Sp.schen Buches ,,Der Untergang des Abendlandes", Diss., Königsberg 1921. — Karl Schuck, Sp.s Geschichtsphilosophie, Karlsruhe 1921, — Otto Th. Schulz, Der Sinn der Antike u. Sp.s neue Lehre, Leipzig 1921; 2. A. 1922. — Th. Haering, Die Struktur der Weltgesch., 1921. — Manfred Schroeter, Der Streit um Sp., München 1922. — August Messer, Sp, als Philosoph, Stuttgart 1922. — Otto Selz, O. Sp. u. die intuitive Methode in der Geschichtsforschung, Bonn 1922. — Gerhard Gesch, Das Problem des historischen G e s e t z e s . . ., Diss., Erlangen 1923. — Theodor Schneider, Die Kunsttheorien in O. Sp.s „Untergang des Abendlandes", Diss., Freiburg (Schweiz) 1923. — Otto Koellreuter, Die Staatslehre 0 . Sp.s, Jena 1924. — Max Grünwald, Das Judentum bei O. Sp., Berlin 1924, — Ludwig Jacobskoetter, Goethes Faust im Lichte der Kulturphilos. Sp.s, Berlin 1924. — Elisabeth Gräfin Bernstorff, Eine Bergson-Spengler-Parallele, Diss,, Münster 1924. — G. K. Johannsen, 0 . Sp.s deutsche Philosophie, Hamburg 1924, — Eduard Meyer, Sp.s Untergang des Abendlandes, Berlin 1925. — Fritz Lenz, O, Sp.s Untergang des Abendlandes im Lichte der Rassenbiologie, München 1925, in: Archiv für Rassenu. Gesellschaftsbiologie, Bd. 17, H. 3. — Ludwig Stein, Gegen Spengler, Berlin 1925. — Hermann Rudioff, O. Sp.s ethische Anschauungen, Diss., Königsberg 1926. — Peter Winkelnkemper, Die geschichtsmorphologische Wirtschaftsbetrachtung O. Sp.s, Diss., Köln 1930. — Wolf Goetze, Die Gegensätzlichkeit der Geschichtsphilosophie O. Sp.s u, Theodor Lessings', Diss., Leipzig 1930. — K. Armbruster, Sp.s Untergang des Abendlandes, Langensalza 1930. — Arthur Zweiniger, Sp. im Dritten Reich, Oldenburg 1933. — Johann von Leers, Sp.s weltpolitisches System u. der Nationalsozialismus, Berlin 1934. — Ernst Horneffer, O. Sp. wie ich ihn sehe, 1934, in: Zeichen der Zeit, H, 6. — Karl Muhs, Sp. u. der wirtschaftliche Untergang Europas, Berlin 1934. — Erich Günther Gründel, Jahre der Überwindung, 1934. — Wilhelm Düren, Goethe widerlegt Sp., Bonn 1934; Meine Unterredung mit O. Sp., Bonn 1940. — Eberhard Gauhe, Sp. u. die Romantik, Berlin 1937. — Oswald Sp. zum Gedenken, hrsg. v. Paul Reusch, Nördlingen 1938. — Friedrich Fischer, Die politische Gedankenwelt O. Sp.s, Diss., Heidelberg 1941. — Chien Chang, Wertmaßstäbe in Sp.s Philosophie der Geschichte, Diss., Berlin 1941. — Winand Vogel, Sp.s staatsmännisches Denken, Diss., München 1942.
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Speusippos — Spicker
Speusippos, geb. um 407 v. Chr., gest. 339 v. Chr. in Athen. Sohn des Eurymedon und der Potone, der Schwester Piatos. In der Schule des Isokrates herangebildet, kommt er bei Piatos Rückkehr nach Athen im Jahre 387 unter seinen Einfluß und wird Mitglied der Akademie. 361 begleitet er Plato auf seiner dritten sizilianischen Reise. Plato bestimmt ihn zu seinem Nachfolger in der Schulleitung, und Sp. ist von 347 bis 339 Scholarch. Von den zahlreichen Briefen und Schriften des Sp. sind nur geringe Bruchstücke erhalten. Eine fragmentarische Kenntnis seiner Lehren übermitteln Aristoteles, Cicero und Clemens Alexandrinus. Danach weicht Sp. trotz seiner Anhängerschaft an die Akademie von den Lehren Piatos wesentlich ab. Er scheint die Ideenlehre ganz aufgegeben zu haben, mindestens verwirft er die idealen Zahlen und hält nur die mathematischen fest. Für jede Wesenheit (ouaiot): Zahl, Größe und Seele, nimmt er ein eigenes Prinzip an. Er unterscheidet die Einheit als den Ursprung der Dinge vom Guten als ihrem Ziel und beide von der Vernunft. Neben diesen nicht-platonischen Thesen seiner Seinslehre stehen Abweichungen der Erkenntnislehre des Sp. Um ein Ding zu kennen, müssen wir auch seinen Unterschied von anderen Dingen kennen; daher können wir nicht eine Sache allein wissen ohne ihre Verbindung mit den andern. In seinem Werk ,,'0|j.oia'- nahm Sp. eine Klassifikation der Pflanzen und Tiere vor. Seine Ergebnisse führte er auf wissenschaftliche Wahrnehmung zurück, die er von der wissenschaftlichen Verstandestätigkeit unterschied. Diese ,,siriat7jp.ovt)ò) aiatWjau'' kann zwar die Wahrheit nicht erreichen, doch kann sie Definitionen (XÓ711) bilden. Als Ethiker bestreitet Sp., daß die Lust ein Gut ist; er will sie aber auch nicht als Übel bezeichnen. Die Glückseligkeit sieht er an als eine Hexis, und zwar als eine Vollkommenheit in denen, die gemäß der Natur leben. Sp. leitet, philosophiegeschichtlich betrachtet, vom Piatonismus über zum wissenschaftlichen Skeptizismus der späteren Akademie. S c h r i f t e n : Mullach, Frammenta philosophorum graecorum, Bd. III, S. 62—69, Paris 1881. — Paulus Lang, De Speusippi academici scriptis; accedunt fragmenta, Diss., Bonn 1911. L i t e r a t u r : J . G. F. Ravaisson, Speusippi de primis rerum principiis placita, Paris 1838. — M. A. Fischer, De Speusippi vita, 1845. — H. Jackson, Art, Sp., in: Brit. Encycl., 11. A., 1910/11. — Julius Stenzel, Art. Sp., in: Pauly-Wissowa, Realenzykl. der klass. Altertumswissenschaft, 2. Reihe, Bd. 3, 1929.
Sphairos vom Bosporos, griechischer Philosoph im 3, vorchristlichen Jahrhundert. Vertritt als Schüler des Kleanthes die alte Stoa. S c h r i f t e n : Arnim, Stoicorum veterum fragmenta, Bd. I, Nr. 620 ff.
Spicker, Gideon, geb. 1840 in Reichenau. Ord. Prof. für Philosophie in Münster. — Der katholische Philosoph Sp., dem Neuthomismus zugeneigt, aber nicht ohne Kritik gegenüber dem Kirchenglauben, sucht die Schwächen von Theismus und Pantheismus in einer höheren Gottesvorstellung zu überwinden. Die Philosophie muß, wenn sie ihren Verfall verhüten will, eine religiöse Tendenz besitzen, darf aber nicht durch die Theologie gefesselt werden. S c h r i f t e n : Leben u. Lehre des Petrus Pomponatius, Diss., München 1868. — Die Philos. des Grafen v. Shaftesbury, 1872. — De dicto quodam Anaximandri philosophi, Münster 1883. — Über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Philosophie, 1874. — Kant, Hume und Berkeley, eine Kritik der Erkenntnistheorie, 1875. — Lessings Weltanschauung, 1883. — Die Ursachen des Verfalls der Philosophie in alter und neuer Zeit, 1892. — Der Kampf zweier Weltanschauungen, 1897. — Versuch eines neuen Gottesbegriffes, 1902. — Vom Kloster ins akademische Lehramt, Schicksale eines ehemaligen Kapuziners, 1908, — Am Wendepunkt der christlichen Weltperiode, 1910.
Spieß — Spinoza
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L i t e r a t u r : Heinrich Straubinger, Vier Artikel über Sp.s Gottesidee, in: Philos. Jahrbuch der Görresges., Bd. 22 u. 23, 1909 u. 1910. — Kilian Beuschlein, Die Möglichkeit der Gotteserkenntnis in der Philosophie G. Sp.s, Diss., Würzburg 1914.
Spieß, Gustav Adolf, geb. 4. Dezember 1802 in Duisburg, gest. 22. Juni 1875 in Frankfurt am Main. Arzt. — Sp. weiß die Lehre einer durchgängigen Abhängigkeit des Seelischen vom Körperlichen zu vereinigen mit dem Glauben an eine persönliche Fortdauer der Seele, und zwar durch die Annahme, daß sich in ihr schon während des irdischen Lebens ein ,,Keim höherer Ordnung" bildet, der sich nach dem Tode weiterentwickelt. S c h r i f t e n : Physiologie des Nervensystems, Braunschweig 1844. — Über das körperliche Bedingtsein der Seelentätigkeiten, Frankfurt 1854. — Über die Grenzen der Naturwissenschaft mit Beziehung auf Darwin, Frankfurt 1863.
Spiller, Philipp, geb. 26. September 1800 in Einsiedel bei Reichenberg (Böhmen), gest. 1879 als Prof. der Physik in Berlin. — Sp. sieht den Äther als das göttliche Kraftwesen an und gründet auf diese Lehre eine neue Religion, den „Ätherismus", den er als Monotheismus denkt. S c h r i f t e n : Gott im Lichte der Naturwissenschaften, Bln. 1873. — Die Urkraft des Weltalls, Bln. 1876. — Die Irrwege der Naturphilosophie, 1878. — Das Leben, 1878.
Spinoza, Baruch (lat. Benedictus), eigentlich d'Espinosa (nach der spanischen Heimatstadt seiner Vorfahren), geb. 24. November 1632 in Amsterdam, gest. am 21. Februar 1677 im Haag. Aus einer wohlhabenden Familie spanischer oder portugiesischer Juden, vermutlich Marranen, die sich auf der Flucht vor Verfolgungen in den Niederlanden ansiedelten. Der Vater, der Kaufmann Michael d'Espinoza (gest. 1654), hatte eine angesehene Stellung in der Amsterdamer Gemeinde. Die Mutter, Hanna Debora d'Espinoza aus Lissabon, starb bereits 1637/38 in Amsterdam. Unterricht bei den Talmudlehrern Rabbi Saul Levi Morteira und Rabbi Manasse ben Israel; lernt Latein und Griechisch bei dem ehemaligen Jesuiten, späteren „Freigeist" Franz van Ende, der ihn in seiner kritischen Haltung zum überlieferten Glauben bestärkt. Frühzeitige Belesenheit im Alten Testament, dem Talmud, der jüdischen Religionsphilosophie des Mittelalters, der Kabbala, der zeitgenössischen spanischen und portugiesischen Literatur; bald auch Kenntnis der antiken Quellen sowie des aristotelisch-averroistischen und des scholastischen Schrifttums. Der entscheidende Einfluß ging von der Philosophie Descartes aus; sie bedingte zu ihrem Verständnis Vertrautheit mit den naturwissenschaftlichen Lehren und Fortschritten der Zeit. Sp. beschäftigte sich vor allem mit der Optik. Sp.s allmähliche innere Lösung aus der Glaubensgemeinschaft seiner Väter führte zum äußeren Bruch, Seine Lehre, daß man nach der Bibel Gott als körperliches Wesen, die Engel als Phantome und die Seele als Lebensprinzip ansehen dürfe, besiegelte den Abfall. Am 27. Juli 1656 wurde Sp. mit dem Großen Bann belegt, der ihn aus der Amsterdamer Synagoge ausschloß. Diese erwirkte beim Magistrat auch seine Verbannung aus Amsterdam, weil mit Sp.s Ansichten über den menschlichen Charakter des Alten Testaments auch das Christentum bedroht sei. In einer nicht erhaltenen, aber gedanklich in den Theologisch-Politischen Traktat aufgenommenen Beschwerdeschrift wies Sp, seine getadelten Ansichten bei Maimonides und weiteren jüdischen Gelehrten nach. Eine persönliche Teilnahme an der Zeremonie der Verbannung, wie sie anderthalb Jahrzehnte vorher in derselben Synagoge Uriel d'Acosta gedemütigt und zum Selbstmord getrieben hatte, vermied Spinoza. Er zog sich zu intensiver Arbeit in das Dörfchen Ouderkerk bei Amsterdam zurück. Die Erschütterung seiner materiellen Existenz überwand er durch die Hilfe von Freunden. Im Jahre 1660 ging Sp. nach Rhijns-
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bürg, wo er im Kreise von Kollegianten, einer mystisch angehauchten christlichen Sekte, verkehrte; die Behauptung, daß er damals ins Christentum eingetreten sei, trifft nicht zu. Die Jahre 1663 bis 1669 verlebte Sp. in Voorburg beim Haag, die folgenden im Haag selbst, wo er von 1671 bis zu seinem Tode bei dem Maler van der Spyck wohnte. Das frühzeitige Hinscheiden Sp.s an der Schwindsucht, der auch seine Mutter erlegen war, wird häufig mit seiner Erwerbsarbeit, dem Schleifen von optischen Gläsern und dem dauernden Einatmen von Glasstaub, in Verbindung gebracht. Die materielle Not seiner letzten Jahre hat man oft übertrieben. Zu einer Rente aus dem Vermächtnis seines Amsterdamer Freundes Simon de Vries kam in späteren Jahren ein Gehalt, das sein Gönner, der holländische Ratspensionär und Regent J a n de Witt, für Sp, aussetzte. Der größte Teil seiner Mittel wurde von Sp, für die Anschaffung wissenschaftlicher Werke aus allen Gebieten verwendet, wie die überlieferte Liste seiner Bibliothek zeigt (veröffentlicht durch Freudenthal, den ersten und erfolgreichsten Sammler von Spinoza-Urkunden). Ihre Auffindung widerlegte auch die Legende, daß Sp, zwar viel gedacht, aber wenig gelesen habe. An äußeren Ereignissen war Sp.s Denkerleben in seiner selbstgewählten Zurückgezogenheit arm. Der Ruhm seiner Gelehrsamkeit verbreitete sich durch die von Hand zu Hand gehenden Manuskripte seiner Werke — trotz ihrer anonymen oder posthumen Veröffentlichung — und durch seinen Briefwechsel. Dies führte im Jahre 1673 zu einem Ruf an die Universität Heidelberg, als ordentlicher Philosophie-Professor. Der Gelehrte Johann Ludwig Fabritius übermittelte die Aufforderung für Karl Ludwig von der Pfalz, den Bruder der Verehrerin Descartes, Elisabeth von der Pfalz. Sp. lehnte in einem uns erhaltenen Schreiben vom 30. März 1673 ab, unter Hinweis auf den Konfliktstoff, den seine Stellung zur öffentlich geltenden Religion darbieten könnte. Sp.s Berühmtheit zog den deutschen Philosophen Leibniz — kurz vor Sp.s Tode — nach den Haag zu Unterredungen, in denen vor allem der Substanzbegriff erörtert wurde. Ein Brieftausch war vorangegangen. Leibniz hat diese für seine eigenen Konzeptionen nicht unwichtigen Besuche später geleugnet. Vermittelt wurde die Bekanntschaft wahrscheinlich durch den Mediziner Tschirnhausen. Zu Sp.s wahren Freunden zählte Heinrich Oldenburg aus Bremen, von 1660 an Sekretär der Royal Society in London. — Wird unter Hinweis auf seine Lehren oft behauptet, daß Sp. kein Verhältnis zur Kunst und den Künsten hatte, so ist doch überliefert, daß er zeichnete und malte. Eine Selbstdarstellung, die ihn in der Maske des neapolitanischen Freiheitshelden Masaniello zeigt, blieb erhalten. Das spinozistische System, das seine geschlossene Form in der „Ethik" erlangte, ruht auf einer Fülle geistiger Voraussetzungen. Ihre* Kenntnis erleichtert den Zugang zu Sp.s Gedankenwelt, die verschiedenartige und gegensätzliche Elemente zu einer Einheit verschmilzt, Sp.s erste Berührung mit der Philosophie erfolgte durch Einführung des jungen Theologiestudenten in die j ü d i s c h e S c h o l a s t i k , die unter arabischem Einfluß stand. Hier wurde er vor allem mit Moses Maimonides und seinem Hauptwerk, dem „Moreh Nebuchim" (Führer der Strauchelnden) vertraut. Auch die c h r i s t l i c h e S c h o l a s t i k blieb ihm nicht fremd; sie erscheint in seinen Werken summarisch und in abfälliger Beurteilung. Namentlich erwähnt werden nur Thomas von Aquino und Heerebord. Doch fordert die Mehrzahl seiner Grundbegriffe Vertrautheit mit der scholastischen Terminologie, der sie sprachlich entstammen, auch wo Sp, sie mit neuem Inhalt füllt. Die W i e d e r b e l e b u n g d e r a n t i k e n P h i l o s o p h i e im 16. Jahrhundert hinterließ gleichfalls ihre Spuren bei Sp., vor allem in Gestalt der S t o a und des N e u p l a t o n i s m u s . Ob ein direkter historischer Zusam-
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menhang vorliegt, wie Dilthey für die Stoa (über Lipsius und Heinsius) und Alois Riehl für den Neuplatonismus zu beweisen versucht, oder ob die Analogien sich aus der gesamten Zeitströmung hinreichend erklären, blieb eine offene Frage. Riehl hat den Spinozismus geradezu als „Neuplatonismus des 17. Jahrhunderts" bezeichnet. Mit den Stoikern setzt Sp. sich in der Vorrede zur Ethik Buch V kritisch und ablehnend auseinander, doch sind ihm viele Anklänge an die stoische Sittenlehre nachzuweisen. Der neuplatonischen Mystik zeigt sich seine Lehre vom amor Dei intellectualis (Ethik, Buch V) verwandt. Sie konnte Sp. mittelbar durch die i t a l i e n i s c h e Renaissancephilosophie zugekommen sein. Diese kannte er gut in ihrem Vertreter G i o r d a n o B r u n o , der ihn nach Ansicht von Christoph Sigwart und Avenarius tiefgehend beeinflußt hat, nach Meinung von Freudenthal und Benno Erdmann dagegen sich nur oberflächlich mit seinen pantheistischen Gedankengängen berührt, Sp.s Vertrautheit mit M a c c h i a v e 11 spiegelt sich in seiner Staatslehre wider; beide gelangen aus gleichen Erfahrungen zu der gleichen pessimistischen Beurteilung der Menschennatur, Die m e c h a n i s c h e N a t u r a u f f a s s u n g seiner Zeit bildet einen Grundpfeiler von Sp.s Denken, einschließlich der im 17. Jahrhundert entwickelten Kontinuitätslehre. Mit der Atomistik setzt er sich in der Ethik kritisch auseinander, Spinozas Verhältnis zu D e s c a r t e s , von dem der stärkste philosophische Einfluß auf ihn ausging, ist mit der gedanklichen Beziehung des Aristoteles zu Plato oder mit Hegels Verbindung zu Kant verglichen worden. Bei aller Abhängigkeit in Methode und Einzellehren liegt doch eine selbständige Weiterbildung philosophischer Gedanken und eine kritische Auseinandersetzung mit empfangenen Anregungen vor. Sehr früh, bereits bei seiner ersten Beschäftigung mit der lateinischen Sprache, kam Sp. zum Studium der cartesianischen Schriften. Mit ihnen hat es das einzige unter seinem Namen veröffentlichte Werk Sp.s zu tun, betitelt: „Renati Descartes Principia Philosophiae" (1663) und zum Unterricht für einen Schüler bestimmt. Schon in seiner Erstlingsschrift, dem „Kurzen Traktat", kritisiert Sp. die Metaphysik des Cartesius. Auf die cartesianischen „Regulae ad directionem ingenii" geht Sp.s deduktive Methode zurück, und die Grundgedanken seiner Lehre von der Substanz und ihren Attributen fußen auf Descartes. Aber aus den Anlagen seiner aufs Ethische und Religiöse gerichteten Persönlichkeit heraus verleiht er auch dem Übernommenen in Methode, Gedankengehalt und Zielbestimmung ein eigenes Gepräge. Spinozas Bekanntwerden mit der Philosophie seines Zeitgenossen H o b b e s erfolgte, wie Toennies bewies, erst nach dem Jahre 1665. Die Abhängigkeit beschränkt sich auf anthropologische Theorien und Einzelheiten der Staatslehre wie auf die Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Dabei liegt die wesentliche Übereinstimmung in der Betrachtung des status naturalis, des Naturzustandes, als Krieg aller gegen alle, und in der Annahme, daß es darin kein Recht von Natur gibt, sondern ein jedes Ding soviel Recht hat, wie es Macht besitzt. Auch in der tief pessimistischen Beurteilung der Menschennatur begegnen sich Sp. und Hobbes, freilich auch Sp. und Macchiavell. Das Vorhandensein eines natürlichen sozialen Instinkts leugnet sowohl Sp. als Hobbes. Beide behaupten, daß der Staat durch Vertrag aus dem status naturalis hervorgeht, als Produkt der Not zur Sicherung von Leben und Eigentum. Die älteste uns bekannte Schrift Sp.s, der „Tractatus brevis de Deo, homine eiusque felicitate", lateinisch abgefaßt um 1660, ist nur in einer holländischen Übersetzung als „Körte Verhandeling van God, de Mensch en deszelfs Welstand" überliefert, die 1852 wieder aufgefunden und 1866 in deutscher Übertragung von Christoph Sigwart veröffentlicht und kommentiert wurde. Seine Ansicht, daß es
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sich um einen ersten Entwurf zur Ethik handelte, der nicht zum Druck bestimmt war, aber als Handschrift, unter Spinozas Freunden kursierte, hat sich durchgesetzt. Diese „Urethik" ist noch nicht systematisch durchgearbeitet. Die ungegliederte Form geht nicht allein auf Mängel der Überlieferung zurück. Es sind zwei Dialoge eingefügt, eine Darstellungsweise, deren sich Sp. sonst nicht bedient. Der erste entwickelt den Begriff der Natur als der ewigen Einheit und ist auf Beeinflussung durch Giordano Bruno gedeutet worden. In einem ersten Anhang wird bereits der mos geometricus, die für die „Ethik" charakteristische Methode, angewendet, mit ihren Axiomen, Lehrsätzen, Beweisen und Corollarien. Die beiden Pole, um die Sp.s Denken kreist, sind auch hier schon der Gottesbegriff und die menschliche Glückseligkeit. Gott ist das ens perfectissimum und das ens realissimum, seine Existenz gehört zu seinem Wesen. Die Gottesidee in uns setzt Gott selbst als Ursache voraus. Ihm werden unendlich viele Attribute beigelegt, deren jedes selbst unendlich und vollkommen ist. Auch jede Substanz ist ihrer Art nach unendlich und vollkommen; denn sie kann weder durch sich selbst noch durch ein anderes zur Endlichkeit determiniert werden. Eine Substanz kann nicht eine andere hervorbringen oder von einer anderen hervorgebracht werden. Jede Substanz, die in dem „unendlichen Verstände Gottes" ist, ist damit auch in der Natur wirklich. Diese ist nur e i n Wesen, mit Gott identisch, daher können in ihr nicht verschiedene Substanzen sein. Denken und Ausdehnung sind also nicht Substanzen, sondern Attribute, beide auf dieselbe Substanz bezogen. Abweichend von den späteren Gedanken der Ethik nimmt Sp. hier noch ein reales Kausalverhältnis zwischen den Attributen an: Denken und Ausdehnung stehen in Wechselwirkung miteinander. Sie werden bereits als unteilbar gedacht; Teile gelten als reine Gedanken-Dinge. Die einzelnen Dinge sind als Modi der Substanz von dieser abhängig. Gott ist die einzige, ewige, unendliche Substanz, die durch sich selbst besteht; er ist die immanente Ursache der Dinge. Gott ist die schaffende Natur, im Unterschied von der geschaffenen, die Sp, im Kurzen Traktat als „Sohn, Geschöpf oder Produkt" Gottes bezeichnet. Von Ewigkeit her geschaffen und ewig unveränderlich ist auch der Intellekt. Die Erkenntnis Gottes muß adaequat, das heißt klar und deutlich sein. Sie geht der Erkenntnis der Dinge voraus und erweckt in uns Liebe zu Gott. In ihr besteht unsere wahre Glückseligkeit. Mit ihr ist auch die Unsterblichkeit der Seele gegeben; denn die Liebe bewirkt Vereinigung mit Gott, der unveränderlich ist. Der Mensch ist nicht Substanz; er besteht aus dem Modus des Denkens, der Seele, und dem Modus der Ausdehnung, dem Körper. Auch der Wille ist ein Modus des Denkens, vom Verstand und nicht vom Trieb gewirkt. Die Willensfreiheit leugnet Sp, schon in diesem Erstlingswerk. Der Wille ist das Vermögen zu bejahen oder zu verneinen, daß etwas gut oder schlecht ist; er ist vom Verstand abhängig, nicht von der Begierde oder vom Trieb. Der Kurze Traktat enthält schon eine Affektenlehre, wie später die Ethik; sie ist in der Übernahme ererbten Gutes von Descartes abhängig, in der eigenartigen Behandlung des Überlieferten aber selbständig. Einen weiteren Schritt zur Ethik hin, vor allem zur Entwicklung ihrer Erkenntnislehre, bezeichnet die zeitlich folgende Schrift, der „Tractatus de intellectus emendatione", dessen vorliegende Gestalt 1661 oder in der ersten Hälfte des Jahres 1662 erreicht war. Auch diese „Abhandlung über den menschlichen Verstand und über die Art und Weise, wie er am besten zur wahren Erkenntnis der Dinge gelenkt werden kann", bildet einen Teilentwurf zur Ethik und gelangte nie zum Abschluß, weil sich die Ausarbeitung des Hauptwerkes dazwischen drängte. Die Einleitung ist als Selbstdarstellung der inneren Entwicklung Sp.s aufschlußreich und weitberühmt durch ihre Sprachgewalt und das Ergreifende ihrer Dar-
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Stellung. Sp. bekennt sich als Sucher des wahren Guts, das allein eine beständige innere Freude verleiht, nachdem die Erfahrung ihn gelehrt hatte, daß die Dinge des täglichen Lebens eitel und vergänglich sind. Alle seine Bemühungen, damit die Jagd nach den üblichen Gütern, Reichtum, Ehre und Sinnenlust, zu verbinden, scheiterten. Ein Geist, der von ihnen ergriffen ist, hat nicht Raum für ein anderes Gut; auch richtet er sich nach dem Urteil anderer Menschen. So war der Entschluß zu einer neuen Lebensweise notwendig, anscheinend unter Aufgabe sicherer Güter für ein ungewisses Gut, in Wahrheit aber als Tausch eines sicheren und beständigen Gutes gegen sichere Übel. „Denn ich sah, daß ich in höchster Gefahr schwebte und gezwungen war, mit allen Kräften ein Heilmittel zu suchen, und sei es noch so ungewiß; wie jemand, der an einem tödlichen Übel leidet und den sicheren Tod voraussieht, falls er nicht ein Heilmittel anwendet, dieses mit aller Kraft suchen muß, auch wenn es ungewiß ist, weil ja in ihm seine ganze Hoffnung ruht. Alles das aber, dem die große Menge nachjagt, liefert kein Mittel, in unserm Sein zu beharren, sondern verhindert dies sogar und ist oft die Ursache für den Untergang derer, die diese Dinge besitzen, und immer die Ursache für den Untergang derer, die von ihnen besessen werden." Denn Glück oder Unglück ruhen allein in der Beschaffenheit des Objekts, dem wir in Liebe anhängen. Die Liebe zu etwas Ewigem und Unendlichem erfüllt das Gemüt mit reiner Freude und hält ihm jede Traurigkeit fern. Aber die Erkenntnis dieser Tatsache befähigt noch nicht zum Verzicht auf Habsucht, Ehre und Sinnenlust. Erst allmählich muß sich der Geist mit dem Gedanken an das höchste Gut vertraut machen. Was ist aber ein wahres Gut, und worin besteht das höchste Gut? Schon hier taucht die Lehre der „Ethik" auf, „daß die Begriffe gut und schlecht nur verhältnismäßig zu nehmen sind, so daß ein und dasselbe Ding sowohl gut als auch schlecht heißen kann", je nachdem, worauf es bezogen wird. Mit den Begriffen vollkommen und unvollkommen liegt es nicht anders. Auch sie gelten nicht für das Ding seiner Natur nach, wie uns klar wird, nachdem wir erkannt haben, „daß alles, was geschieht, nach der ewigen Ordnung und nach bestimmten Gesetzen der Natur geschieht". Diese Ordnung zu erfassen ist dem Menschen versagt, wohl aber kann er eine menschliche Natur vorstellen, die seiner eigenen überlegen ist, also mehr Vollkommenheit besitzt. Was ihn zu einer solchen größeren Vollkommenheit hinführt, heißt ein wahres Gut, und das höchste Gut ist es, selbst mit anderen Individuen eine solche (vollkommene) Natur zu erlangen. Sie besteht in der E r k e n n t n i s d e r E i n h e i t d e s G e i s t e s m i t d e r g e s a m t e n N a t u r . Um selbst dieses Ziel zu erreichen und andern den Weg dazu zu eröffnen, muß man sich mit der Natur beschäftigen, möglichst viele Menschen zu einer Gesellschaft zusammenfassen, Moralphilosophie wie Erziehungslehre treiben und dabei Heilkunde und Mechanik nicht vernachlässigen. Wichtiger noch ist die Auffindung einer Methode, den Verstand so zu verbessern, daß er die Dinge irrtumsfrei und so gut wie möglich erkennt. Die Erlangung menschlicher Vollkommenheit ist das Ziel aller Wissenschaften; sie wird erleichtert durch Befolgung von drei Lebensregeln: 1. sich dem Fassungsvermögen der großen Menge anpassen; 2. sich dem Vergnügen nur soweit hingeben, wie die Erhaltung der Gesundheit erfordert; 3. auch den Gelderwerb nur soweit betreiben, wie für Leben und Gesundheit und für Befolgung der Landessitten erforderlich ist. Die Vervollkommnung des Verstandes bedingt Kenntnis aller W i s s e n s q u e l l e n und Auswahl der bestmöglichen. Als Vorstufe der in der „Ethik" angenommenen Erkenntnisarten zählt Sp. auf: erstens das Wissen vom Hörensagen oder durch Zeichen (z. B, die Kenntnis meines Geburtstags), zweitens das Wissen aus ungenauer Erfahrung (experientia vaga), der die Korrektur durch den Ver-
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stand fehlt, aber auch die Widerlegung durch Entgegengesetztes abgeht, z. B. die Kenntnis, daß ich sterben werde, oder „daß der Hund ein bellendes Tier und der Mensch ein vernünftiges Wesen ist. Und so kenne ich beinahe alles, was im Leben gebraucht wird"; drittens das Wissen, bei dem das Wesen einer Sache aus einer andern geschlossen wird, aber nicht adaequat, wie beim Schluß von der Wirkung auf die Ursache, z. B. von der Empfindung unseres Körpers auf seine Vereinigung mit der Seele; viertens das Wissen, bei dem die Sache allein aus ihrer Wesenheit oder durch die Erkenntnis ihrer nächsten Ursache begriffen wird, so z. B. wenn ich durch Erkenntnis des Wesens der Seele weiß, daß sie mit dem Körper vereinigt ist, oder wenn ich erkenne, daß zwei und drei fünf ist. „Was ich aber bisher aus dieser Wissensquelle erkennen konnte, war nur wenig." Diese vierte Erkenntnisweise wird hier bereits als „intuitiv" bezeichnet, auch das Beispiel, die vierte Proportionale zu drei gegebenen Zahlen zu suchen, ist der Ethik vorweggenommen. Zur Bestimmung der besten Erkenntnisart dient die Lehre, daß man die Existenz eines Dinges nur erkennt, wenn man zuvor seine Wesenheit erkannt hat. An diesem Maßstab gemessen, können sich nur die dritte und die vierte Erkenntnisweise behaupten; beide schließen den Irrtum aus. Doch nur die vierte führt zur Vollkommenheit, ist „adaequat". Um Gewißheit über das Wahre zu besitzen, genügt es, eine wahre Idee zu haben; sie ist gleichbedeutend mit der adaequaten Idee. Als Methode für die Vervollkommnung des Verstandes betrachtet Sp. „das Erkennen dessen, was die wahre Idee ist", anders ausgedrückt: die „Idee der Idee". Es muß in uns „eine wahre Idee geben, als angeborenes Werkzeug, durch deren Erkenntnis zugleich der Unterschied erkannt wird, welcher zwischen dieser Wahrnehmung und allen übrigen besteht". Der Geist erkennt um so besser, je mehr er von der Natur erkennt, und er erkennt am vollkommensten, wenn er sich auf die Erkenntnis des vollkommensten Seins richtet. Will der Geist ein treues Bild der Natur geben, so muß er seine Ideen von der Idee ableiten, die den Ursprung und Quell der ganzen Natur bildet und nun auch zum Quell aller übrigen Ideen wird. Eingehend wird als erster Teil der Methode der Unterschied zwischen fingierten Ideen und der wahren Idee erörtert. Klare und deutliche Ideen können niemals falsch sein. Es gibt etwas Reales in den Ideen, wodurch sich die wahren Ideen von den falschen unterscheiden. Dies Reale muß aus der Natur des Verstandes abgeleitet werden. Das Falsche besteht darin, „daß etwas von einer Sache bejaht wird, was in dem Begriff, den wir uns von ihm gebildet haben, nicht enthalten ist". Solche unvollständigen oder verstümmelten Ideen beruhen auf einem Mangel unseres Denkens, wie andererseits die adaequaten Ideen eine Kraft unseres Denkens anzeigen. Die abstrakte Erkenntnis ist nach Sp. inadäquat; sie kann den Ursprung der Natur nicht begreifen. Wenn eine Sache in der richtigen Ordnung erforscht wird, so kommt man immer nur zu klaren und deutlichen Ideen; geschieht dies nicht, so setzt der Zweifel ein. Bei den inadäquaten Ideen — oder Vorstellungen — verhält die Seele sich leidend; sie entstehen aus den „zufälligen Erregungen des Körpers". Der zweite Teil der Methode gilt der Aufstellung von Regeln für die Erzielung klarer und deutlicher Ideen, wie sie „aus dem reinen Geiste" entstehen; sie müssen so geordnet und verknüpft werden, daß sie alle auf eine Idee rückführbar sind. Diese Rückführung geschieht durch Schlüsse. Der beste Schluß ist ein solcher, der von einer wahren und richtigen Definition ausgeht; niemals darf er bei abstrakten Begriffen ansetzen. „Der richtige Weg der Forschung ist also der, aus irgendeiner gegebenen Definition Gedanken zu bilden. Das wird um so besser und leichter gelingen, je besser wir eine Sache definiert haben." Bedingung für eine vollkommene Definition ist es, daß sie das innerste Wesen eines Dinges ausdrückt, nicht bloß eine einzelne Eigenschaft; denn die
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Eigenschaften der Dinge können nicht verstanden werden, wenn man ihre Wesenheiten nicht kennt. Die Existenz eines Dinges steht nicht im Zusammenhang mit seiner Wesenheit; sie ist keine ewige Wahrheit. Für das menschliche Erkennen kommt es nicht darauf an, die Reihenfolge der existierenden, der veränderlichen Einzeldinge zu erfassen, sondern nur die Ordnung der ewigen Dinge und deren Gesetze, von denen zuletzt auch das veränderliche Einzelding abhängt. Wie man zur Erkenntnis dieser ewigen Dinge gelangen und ihre Definitionen bilden kann, ist die letzte Frage, die in dem fragmentarischen Tractatus de intellectus emendatione noch zur Behandlung kommt. Zu ihrer Beantwortung muß man die Natur des Verstandes kennen. Unter seinen Eigenschaften zählt Sp. bereits auf, daß er die Dinge nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Dauer, sondern unter einem gewissen Gesichtspunkt der Ewigkeit begreift (sub quadam specie aeternitatis). Nur aus seinen positiven Eigenschaften kann das Wesen des Denkens erkannt werden. In den beiden Traktaten, die auf dem Weg zur „Ethik" liegen, werden zahlreiche Fäden angesponnen, die in dem Hauptwerk zu einem System verwoben sind. Es ist in mehreren Entwürfen entstanden, zuerst in drei, dann in der überlieferten letzten Fassung in fünf Büchern. Das erste Buch kursierte unter Sp.s Freunden schon 1663, das zweite und dritte war 1665 abgeschlossen. Aus dem dritten Buch entwickelten sich in langdauernder Umarbeitung die Bücher drei, vier und fünf der letzten Gestalt des Werks, das Sp. im Jahre 1675 für druckreif hielt, jedoch nach den Anfeindungen, die sein 1670 anonym erschienener „Theologisch-politischer Traktat" nach sich zog, nicht zu veröffentlichen wagte. Erst die Opera postuma, 1677 von Sp.s Freunden herausgegeben, machten Spinozas System in Gestalt der Ethik öffentlich bekannt. Die Darstellung erfolgt nach geometrischer Methode. Definitionen — von Erklärungen begleitet, — Axiome und Lehrsätze mit Beweisen und Folgesätzen umschließen Sp.s systematische Grundgedanken. Die strenge Form ist gelockert durch Vorreden und Anhänge (Appendices), die der Erläuterung, Erweiterung, Auseinandersetzung mit fremden und gegnerischen philosophischen Ansichten dienen. Buch I handelt von Gott, Buch II von der Natur und dem Ursprung des Geistes, Buch III von der Natur und dem Ursprung der Affekte, Buch IV von der menschlichen Knechtschaft (servitus) oder der Macht der Affekte, Buch V von der Kraft des Intellekts oder der menschlichen Freiheit. Religionsphilosophie und Metaphysik, Natur- und Erkenntnislehre, Psychologie und Ethik Sp.s sind in dem Werk enthalten, dessen Schwergewicht er durch die Wahl seines Titels auf die Ethik verlegt. Die gewählte geometrische Methode bringt den unerschütterlichen Glauben der Zeit an die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze und an die Berechenbarkeit des Naturverlaufs zum Ausdruck. Die Strenge der Darstellungsform Sp.s und seiner Gedankenführung hat doch die Mehrdeutigkeit seiner philosophischen Grundüberzeugungen nicht ausschließen können. Die Interpretation seines Pantheismus bewegt sich zwischen den Polen inniger Religiosität und des völligen Atheismus. Seine Gleichsetzung von Gott und Natur wird bald als Materialismus, bald als Panentheismus aufgefaßt. In der Erkenntnislehre wird von Sp.s Deutern der Nachdruck bald auf die rationale, bald auf die intuitive Seite verlegt. Die ethischen Lehren teilen dies Schicksal gegensätzlicher Interpretation, womit Sp.s Glaube an die Eindeutigkeit und Geradlinigkeit seiner mathematischen Methode widerlegt wird. Die Neuartigkeit und Unerschrockenheit seiner Standpunkte verzögerte die Aufnahme seiner Lehren, und seine Stellungnahme zu den überlieferten Religionen ließ ihn schon bei Lebzeiten zum Objekt des Fanatismus und seiner Angriffslust werden. Erst zur Zeit der deutschen Klassik beginnt mit der Bewunderung für das System und seinen Philosophen-Lexikon
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Schöpfer auch die tiefgehende Wirkung spinozistischen Denkens. Sie ist noch nicht erschöpft. Die Problemfülle von Spinozas „Ethik" zwingt zur Beschränkung auf ihren wesentlichen Inhalt, soweit er über den „Kurzen Traktat" und den „Traktat zur Verbesserung des menschlichen Verstandes" hinausreicht. Sie zwingt auch zur Lösung von der mathematischen Form. Sp. gibt in seinem von Gott handelnden e r s t e n B u c h der Ethik die Definitionen seiner metaphysischen Grundbegriffe Substanz, Attribut und Modus. Er definiert die Substanz als „das, was in sich ist und durch sich begriffen wird: das heißt dasjenige, dessen Begriff nicht den Begriff einer anderen Sache zu seiner Bildung braucht" (I, def. 3). Die Substanz ist causa sui, d. h. ihre Wesenheit (essentia) schließt Existenz (existentiam) ein; anders ausgedrückt: ihre Natur kann nicht anders als existierend gedacht werden (def. 1). Die Substanz ist das ens realissimum, das realste Sein; sie ist absolut unendlich, absolut unbestimmt und absolut ewig. Für das Unbestimmtsein der Substanz ist der Satz entscheidend: jede Bestimmung ist eine teilweise Verneinung. „Omnis determinatio est negatio." Die Ewigkeit der Substanz darf nicht als Zeitbegriff aufgefaßt werden; gehört doch bei Sp. die Zeit der untersten Erkenntnisstufe an. Auch Unteilbarkeit und Tätigsein sind Eigenschaften der Substanz. Sie trägt alle Prädikate, die in der abendländischen Tradition Gott zugeschrieben werden, und Sp. vollzieht denn auch die Identifikation von Gott und Substanz in seiner sechsten Definition: „Unter G o t t verstehe ich das absolut unendliche Wesen, das heißt, d i e S u b s t a n z , die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jedes ewige und unendliche Wesenheit zum Ausdruck bringt." Was aber ist das A t t r i b u t ? Es wird bestimmt als „das, was der Intellekt von der Substanz wahrnimmt als ihre Wesenheit bildend" (Def. 4). Ist die Substanz in sich selbst, so sind die Dinge in einem anderen, dessen sie zu ihrer Erkenntnis bedürfen. Sie heißen bei Sp. Modi. „Unter M o d u s verstehe ich die Affektionen der Substanz, oder das, was in einem anderen ist, durch welches es auch begriffen wird" (Def. 5). Es gibt nur eine Substanz: Gott, und „alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder gedacht werden" (I, Lehrsatz 15). Dieser Grundsatz des Pantheismus klingt an das neutestamentliche Wort an: „denn in ihm leben, weben und sind wir", das Sp. wohlbekannt ist. Von der unendlichen Zahl der Attribute, die Gott oder die Substanz besitzt, kann der Mensch nur zwei erkennen: Denken und Ausdehnung. Daß mit dieser Lehre Gott als räumlich gedacht wird, war und blieb einer der anstößigsten und schwerstverständlichen Gedanken Spinozas. Er verteidigt ihn in dem Scholium zum 15. Lehrsatz vor allem mit dem Hinweis, daß die ausgedehnte Substanz nicht als teilbar im Sinne eines körperlichen Dinges, eines Modus der Ausdehnung gedacht werden darf. Gott handelt nach den Gesetzen seiner Natur, er allein ist eine freie Ursache. Er ist die immanente (innewohnende), nicht die transiente (vorübergehende) Ursache aller Dinge (I, Lehrsatz 18). Gott oder alle seine Attribute sind ewig. In Gott sind Dasein und Wesenheit, Existenz und Essenz, eins, im Gegensatz zu den Dingen, die er hervorbringt, sowohl ihrer Existenz als auch ihrer Essenz nach. Alle einzelnen Dinge sind die Modi der Attribute Gottes. Ihre Bestimmung, zu existieren und zu wirken, ergibt sich aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur. Es gibt daher nichts Zufälliges in der Natur der Dinge. Den Inbegriff dessen, was aus dem Wesen Gottes und seiner Attribute folgt, nennt Sp. mit einem scholastischen Terminus die natura naturata oder die geschaffene Natur. Gott selbst als Schaffender heißt natura naturans. Zur geschaffenen Natur gehört auch der menschliche Intellekt, der nichts anderes als die Attribute und Affektionen Gottes umfaßt. Gott handelt nicht aus Willensfreiheit. Der Wille, ein Modus des Denkens wie der Intellekt, darf nicht als freie
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Ursache bezeichnet werden; er ist notwendig bestimmt, in einer unendlichen Kette von Ursachen, deren letzte Gott ist. Aus dieser Determiniertheit ergibt sich, daß die Dinge auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden konnten, als sie eben hervorgebracht worden sind (I, Lehrsatz 33). Wer dies bestreitet, muß zwei oder mehr Gottheiten annehmen. Das aber ist widersinnig. Die Dinge sind von Gott auch in höchster Vollkommenheit hervorgebracht worden. W a s in Gottes Macht steht, das ist auch notwendigerweise da; denn Gottes Macht ist identisch mit seiner Wesenheit. W a s immer existiert, bringt die Macht Gottes zum Ausdruck; so existiert nichts, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung folgt. In einem ausführlichen Anhang zum 1. Buch der „Ethik" wird die teleologische Naturbetrachtung nach ihren Entstehungsgründen untersucht und in ihren Behauptungen widerlegt. Die Menschen kennen die Ursachen der Dinge, ihre naturgesetzliche Verknüpfung gemeinhin nicht. Sie sind sich nur ihres eigenen Strebens nach Erlangung des eigenen Nutzens (utile) bewußt, und halten sich deshalb für frei. Aus dem gleichen Grunde halten sie sich und alle andern für zweckbestimmt und sehen Menschen und Dinge als Mittel zum Zweck an. J a auch die Gottheiten denken sie nach Analogie zum Menschen als frei, auf den menschlichen Nutzen bedacht und damit zweckbestimmt. Die Naturereignisse und Schicksalsschläge, die keinesfalls dem Nutzen des Menschen dienen, werden als Strafen für Missetaten gedeutet, das göttliche Tun gilt für undurchschaubar und das menschliche Fassungsvermögen überschreitend. So blieb die Wahrheit für alle Zeit dem Menschengeschlecht verborgen. „Als ob nicht die Mathematik, die es nur mit den Wesenheiten und den Eigenschaften der Figuren und nicht mit Zwecken zu tun hat, den Menschen eine andere Wahrheitsnorm gezeigt hätte", die dann schließlich auch die wahre Erkenntnis ermöglichte. Die Zweckursachen sind nur der menschlichen Einbildung entsprungen. Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sondern alles ergibt sich aus einer ewigen Notwendigkeit der Natur mit höchster Vollkommenheit. Was in Wirklichkeit die Ursache ist, wird bei einer teleologischen Betrachtung der Dinge als Wirkung angesehen, und umgekehrt. Was vorhergeht, wird zur Folge gemacht, und das Höchste und Vollkommenste gewinnt den Anschein der Unvollkommenheit. Am vollkommensten ist das, was Gott unmittelbar hervorbringt. J e mehr Zwischenursachen, um so größer die Unvollkommenheit, Einen Zweck verfolgen heißt, etwas erstreben, das man entbehrt, was bei Gott unmöglich ist. Da die Menschen sich an den Gedanken gewöhnt haben, daß alles nur um ihretwillen geschieht — daß sie der Endzweck der Schöpfung sind —, so nehmen sie ihren eigenen'Nutzen zum Maßstab der Beurteilung. Von diesem Gesichtspunkt aus bilden sie zur Erklärung der Natur der Dinge die Begriffe: G u t , B ö s e , Schön, Häßlich, Ordnung, Verworrenheit, Wärme, Kälte, und auf den W a h n ihrer Freiheit gestützt die weiteren: L o b und T a d e l , S ü n d e und V e r d i e n s t . Nach Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungskraft oder imaginatio, die sie leicht mit dem Intellekt verwechseln, nennen die Menschen „ g e o r d n e t " , was sie mühelos vorstellen und mühelos erinnern können, und halten diese vermeintliche „Ordnung der N a t u r " für gottgewollt. Die Eigenschaften der Dinge werden vom Menschen bewertet und benannt nach der Wirkung, die sie auf seinen Körper, besonders auf seine Sinne üben. Das Augenfällige, das dem Wohlbefinden dient, heißt schön, das entgegengesetzt Wirkende häßlich; was den Geruch günstig beeinflußt, gilt als wohlriechend, das Entgegengesetzte als stinkend; das der Zunge Angenehme ist süß, das Unangenehme bitter. Der Berührung Wohlgefälliges nennt man weich und glatt, das Abstoßende hart und rauh. Das Ohr bevorzugt Harmonien; ihre Deutung als gottgeschaffen und als 38*
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Sphärenklänge wird von Sp. spottend abgelehnt. „Dies alles zeigt zur Genüge, daß ein jeder nach der Beschaffenheit seines Gehirns über die Dinge urteilt, oder genauer die Affizierungen seiner Vorstellungskraft für die Dinge selbst nimmt". Die Verschiedenheit der menschlichen Körper und Sinnesorgane führt so zu unterschiedlichen und voneinander abweichenden Urteilen, während eine Aufnahme der Dinge durch den Intellekt Übereinstimmung erzeugt, wie das Beispiel der Mathematik zeigt, und den Schwankungen konstitutioneller Verschiedenheit nicht unterliegt. Das z w e i t e B u c h der „Ethik" untersucht Natur und Ursprung der Seele (mens). Wie alles, was ist, so entspringt auch sie aus Gott, der ein denkendes Ding sowohl wie ein ausgedehntes Ding ist (Lehrsatz 1 und 2). Denn nur die beiden Attribute des Denkens und der Ausdehnung vermögen wir zu erkennen aus der unendlichen Zahl von Attributen, die Gott oder der Substanz eigen sind. „Die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ist ein und dieselbe Substanz, die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird" (Lehrsatz 7, Scholium). Auch der Modus der Ausdehnung und die Idee dieses Modus sind ein und dieselbe Sache, nur auf zwei Arten ausgedrückt, die völlig parallel verlaufen. „Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge" (II, 7). „Ob wir also die Natur unter dem Attribut der Ausdehnung oder unter dem Attribut des Denkens oder unter irgendeinem anderen auffassen, so werden wir finden, daß eine und dieselbe Ordnung oder eine und dieselbe Verknüpfung der Ursachen, das heißt dieselben Dinge, einander folgen." Sein Beispiel zur Verdeutlichung dieser Lehre entnimmt Sp., wie in der Regel, der mathematischen Begriffswelt: Gott als ausgedehntes Ding ist Ursache des Kreises, und Gott als denkendes Ding ist Ursache der Idee des Kreises. „Solange wir also die Dinge als Modi des Denkens betrachten, müssen wir die Ordnung der gesamten Natur oder die Verknüpfung der Ursachen allein durch das Attribut des Denkens erklären, und soweit wir sie als Modi der Ausdehnung betrachten, muß auch die Ordnung der gesamten Natur allein durch das Attribut der Ausdehnung erklärt werden, und ebenso verstehe ich es von den andern Attributen" (deren Erkenntnis uns verschlossen ist). Das menschliche Wesen hat an beiden Attributen teil, durch die Seele am Attribut des Denkens, durch den Körper am Attribut der Ausdehnung, Der Parallelismus des gesamten Naturverlaufs wiederholt sich hier. Was im Körper geschieht, der das Objekt der menschlichen Seele ist, wird von dieser wahrgenommen. Um nun die Vereinigung von Seele und Körper zu verstehen, muß man eine adäquate Erkenntnis des menschlichen Körpers besitzen. J e stärker der Körper befähigt ist, mehreres zu gleicher Zeit zu tun oder zu leiden, um so größer ist auch die Fähigkeit der Seele, mehreres zu gleicher Zeit wahrzunehmen. Sp. fügt daher in das zweite Buch der Ethik eine kurze Körperlehre ein (nach II, 13), ausgehend von der Erklärung einfachster Körper, die sich nur nach Bewegung oder Ruhe, Schnelligkeit oder Langsamkeit, Härte, Weichheit und Flüssigkeit unterscheiden, und fortschreitend zu immer mannigfacher zusammengesetzten Individuen, bis hin zu der Behauptung! „Und wenn wir so fortfahren bis ins Unendliche, so werden wir leicht begreifen, daß die ganze Natur ein Individuum ist, dessen Teile, das heißt alle Körper, auf unendliche Arten verschieden sind, ohne daß sich das ganze Individuum wandelt." Auf Sp.s Lehre, daß der menschliche Körper von einem häufig auftreffenden äußeren Körper in seinem flüssigen Teil Spuren (vestigia) empfangen kann, fußt seine Gedächtnistheorie und seine Herleitung der i m a g i n a t i v e n E r k e n n t n i s . „Die Affektionen des menschlichen Körpers, deren Ideen die äußeren Körper als uns gegenwärtig darstellen, werden wir Bilder (imagines) nennen, auch wenn sie
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sich nicht auf die Gestalt der Dinge beziehen" (II* 17, Scholium). „Und wenn die Seele in dieser Hinsicht die Körper betrachtet, so sagen wir, sie imaginiert". Imaginative Erkenntnis an sich braucht nicht falsch zu sein. Sie wird es erst, wenn die Seele vergißt, daß es sich um bloße Bilder handelt, meist um Gedächtnisbilder. Das Gedächtnis ,,ist nichts anderes als eine gewisse Verknüpfung von Ideen, welche die Natur der Dinge außerhalb des menschlichen Körpers einschließen; diese Verknüpfung erfolgt in der Seele nach der Ordnung und Verknüpfung des menschlichen Körpers" (II, 18), Nun kann aber die Seele auch ohne ihre Verbindung mit dem Körper betrachtet werden; dies geschieht in der Idee der Seele (idea mentis), von Sp. auch als Idee der Idee (idea ideae) bezeichnet. „Die Idee der Seele und die Seele selbst ist eine und dieselbe Sache, die unter ein und demselben Attribut, nämlich dem des Denkens, aufgefaßt wird." — „Die Idee der Seele, das heißt die Idee der Idee, ist nichts anderes als die Form der Idee, soweit diese als Modus des Denkens, ohne Beziehung auf das Objekt betrachtet wird" (II, 21). Sobald nämlich jemand etwas weiß, weiß er zugleich auch, daß er es weiß, und weiß gleichzeitig, daß er weiß, daß er weiß, und so weiter. Man hat Sp.s Theorie von der Idee der Idee, die weiter ausgesponnen und auf die Ideen der Affektionen des Körpers bezogen wird, als eine Durchbrechung des Parallelismus zwischen Denken und Ausdehnung angesehen; gibt es doch im Attribut der Ausdehnung keine Entsprechung für das Denken des Denkens, repräsentiert in der Idee der Idee. Aus dieser Theorie erwächst aber Sp.s eigentliche Erkenntnislehre mit ihrer Unterscheidung von adäquaten und inadäquaten Ideen und mit ihrer Annahme verschiedener Erkenntnisstufen, wie sie in seinen früheren Schriften bereits vorgebildet war. Die i n a d ä q u a t e E r k e n n t n i s ist verworren, unklar, verstümmelt, bruchstückhaftj sie sieht die Dinge losgelöst von ihrer Beziehung zu Gott, hält sich ihr Hervorgehen aus Gott nicht gegenwärtig. „Sooft die menschliche Seele die Dinge wahrnimmt nach der gemeinen (communis) Ordnung der Natur, hat sie weder von sich selbst noch von ihrem Körper noch von den äußeren Körpern eine adäquate, sondern nur eine verworrene und verstümmelte Erkenntnis" (II, 29, coroll.). Betrachtet sie doch in allen diesen Fällen durch die Ideen der Affektionen des menschlichen Körpers, die niemals eine klare und deutliche Erkenntnis übermitteln, weil sie vom zufälligen Zusammenstoß der Dinge abhängig und nicht von innen her bestimmt sind. Sieht die Seele die Dinge von innen her an, mit dem Blick auf ihre Übereinstimmungen, Unterschiede und Gegensätze, dann gelangt sie zu ihrer klaren und deutlichen Erkenntnis. In der B e z i e h u n g d e r I d e e a u f G o t t liegt das K r i t e r i u m f ü r W a h r h e i t u n d F a l s c h s e i n . Es ist nichts Positives in den Ideen, weshalb sie falsch heißen: alle auf Gott bezogenen Ideen sind wahr (II, 32). Dazu gehören auch unsere adäquaten und vollkommenen Ideen. „Falschsein" ist ein Mangel der Erkenntnis, wie er allen inadäquaten Ideen eignet. Zu ihnen rechnet Sp. die abstrakten Allgemeinbegriffe (II, 40, schol. 1). In völligem Gegensatz zu ihnen stehen seine ,, n o t i o n e s c o m m u n e s " , Gemeinbegriffe, in denen er die Grundlage für unser vernünftiges Denken erblickt; sie ruhen auf dem, was allen Menschen gemeinsam und in gleicher Weise im Teil wie im Ganzen vorhanden ist, und was daher nur adäquat erkannt werden kann. Die I m a g i n a t i o n , die bildliche Vorstellung, aus Einzelerkenntnissen und aus Zeichen gewonnen, ist immer inadäquat, der R a t i o , dem vernünftigen Denken, als Erkenntnis zweiten Grades, liegen die notiones communes zugrunde. Sie ist adäquat wie die dritte Stufe der Erkenntnis, das intuitive Wissen ( S c i e n t i a i n t u i t i v a ) , das die Wesenheit der Dinge erfaßt. Seine volle Bedeutung tritt im fünften Buch der Ethik ans Licht. Rationelle und intuitive Erkenntnis sind immer
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wahr. Zum Kriterium der Wahrheit hat Sp. die wahre Idee selbst erhoben. „Wie das Licht sich selbst und die Finsternis offenbart, so ist die Wahrheit die Norm ihrer selbst und des Falschen." (II, 43, Scholium). Auch in der Wahrheit der Idee tritt die Verbindung der Seele mit Gott zutage: soweit die Seele die Dinge wahrh a f t erkennt, ist sie ein Teil des unendlichen Intellekts Gottes. Die Unterschiede zwischen imaginativer und rationaler sowie intuitiver Erkenntnis sind tiefgreifend. Nur der unzureichenden bildlichen Vorstellung, der imaginatio, erscheinen Dinge und Geschehnisse als z u f ä l l i g . Für die Ratio gibt es keinen Zufall, sondern nur Notwendigkeit. Rein imaginativ ist aber auch eine z e i t l i c h e Betrachtung der Dinge, ihre Auffassung als vergangen, gegenwärtig und zukünftig. Daß Sp. in dieser Weise die Zeit der untersten Erkenntnisstufe zuweist, verbindet ihn mit der mystisch-religiösen Tradition des Christentums wie des Judentums. Im Unterschied von dieser lehrt er, daß nicht nur der intuitiven, sondern auch der rationellen Erkenntnis eine zeitlose Betrachtungsweise eigen ist. „Es genügt zur Natur der Vernunft, die Dinge unter einer gewissen A r t von Ewigkeit (sub quadam aeternitatis specie) zu betrachten" (II, 44, coroll. 2), Denn die Vernunft sieht das Geschehen als notwendig an. Diese Notwendigkeit der Dinge ist aber die Notwendigkeit der ewigen Natur Gottes, die von jeder zeitlichen Dauer unendlich verschieden ist. Gottes ewige und unendliche Wesenheit kann gar nicht anders als adäquat erkannt werden. Sp. beschließt seine Erklärung der Natur der menschlichen Seele im 2. Buch seiner Ethik mit der ihm eigentümlichen, viel umkämpften W i l l e n s l e h r e , wonach die Seele keinen absoluten oder freien Willen besitzt, sondern durch eine unendliche Kette von Ursachen bestimmt wird — deren letzte Gott ist! — (II, 48), und wonach „Wille und Intellekt ein und dasselbe sind" (II, 49, coroll.). Sp. versteht unter Willen „eine Fähigkeit zu bejahen und zu verneinen, nicht aber eine Begierde" (II, 48, Scholium). Ein Vermögen zur Bejahung und Verneinung schließt aber auch die Idee ein. Beide Fähigkeiten, die willensmäßige und die intellektbestimmte, sind identisch. „In der Seele gibt es keine Wollung (volitio) oder Bejahung und Verneinung, außer jener, die die Idee, soweit sie Idee ist, einschließt" (11,49). Der Anhang zum 2. Buch dient der Festigung von Sp.s Erkenntnis- und Willenslehre durch weitere Klärung der entscheidenden Begriffe und Ablehnung gegnerischer Theorien. Verderblich und der Unwissenheit dienend ist die übliche Verwechslung von „bildlichen Vorstellungen" (imagines), „Wörtern" (verba) und „Ideen", wobei übersehen wird, daß „die Wesenheit der Wörter und der bildlichen Vorstellungen allein von körperlichen Bewegungen konstituiert wird, die den Begriff des Denkens keineswegs einschließen." Unter den Einwänden gegen die spinozistische Gleichsetzung von Willen und Intellekt steht an erster Stelle die Behauptung, der Wille erstrecke sich weiter als der Intellekt; an zweiter der Hinweis auf unsere Fähigkeit der Urteilsenthaltung, also der Freiheit unseres Willens, zuzustimmen oder abzulehnen; an dritter die Ansicht, daß zur Bejahung von Falschem nicht größere Willenskraft gehöre als zur Bejahung von Wahrem, daß dagegen eine Idee mehr Realität besitze als die andere, je nach der Art ihres Objekts; an vierter das Beispiel von Buridans Esel zur Bekräftigung der Willensfreiheit. Für Sp. erledigen sie sich größtenteils durch seine Unterscheidung adäquater und inadäquater Ideen und verschiedener Erkenntnisstufen. Den Nutzen seiner eigenen Ansichten sieht er in der Belehrung darüber, daß unser höchstes Glück oder unsere Glückseligkeit allein in der Erkenntnis Gottes besteht; daß wir Schicksalsschläge mit Gleichmut tragen müssen, weil alles mit derselben Notwendigkeit aus Gottes ewigem Ratschluß folgt, wie aus der Natur des Dreiecks, daß seine Winkel zwei Rechten gleich sind; daß unter Führung der Vernunft die
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negativen Affekte schweigen zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft; daß die Bürger dazu erzogen werden müssen, freiwillig das Beste zu tun. Einer Erforschung des Ursprungs und der Natur der Affekte widmet Sp. B u c h III seines Hauptwerks. Auch die Affekte behandelt er, wie vorher Gott und die Seele, als ob von Linien, Flächen oder Körpern die Rede sei, aus seinem Glauben heraus: „Die Gesetze und Regeln der Natur, nach denen alles geschieht, und sich von einer Gestalt in die andere verwandelt, sind überall und immer dieselben, und so muß auch das Verständnis der Natur irgendwelcher Dinge auf dieselbe Weise erfolgen, nämlich nach den allgemeinen Gesetzen und Regeln der Natur." (III, Vorrede.) S p i n o z a s A f f e k t e n l e h r e r u h t a u f s e i n e r E r k e n n t n i s t h e o r i e , die hier zur Annahme von adäquaten und inadäquaten Ursachen weiterführt. Bei einer inadäquaten oder Teilursache kann die Wirkung aus ihr allein heraus nicht begriffen werden; dagegen kann die Wirkung einer adäquaten Ursache aus ihr selbst heraus klar und deutlich wahrgenommen werden. Sind wir die adäquate Ursache für ein Geschehen, so h a n d e l n wir; geschieht aber etwas in uns oder folgt etwas aus unserer Natur, dessen Teilursache wir sind, so l e i d e n wir. Sind wir die adäquate Ursache einer körperlichen Affektion, so entsteht ein Affekt, der eine H a n d l u n g (actio) ist; verursachen wir die Affektion nur zum Teil oder als inadäquate Ursache, so ergibt sich eine L e i d e n s c h a f t (passio). Was aber ist ein Affekt? Sp. erklärt: „Unter A f f e k t verstehe ich die Affektionen des Körpers, durch welche die Wirkenskraft dieses Körpers vermehrt oder vermindert, unterstützt oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen" (III, Def. 3). Die Handlungen unserer Seele entstehen aus adäquaten, ihre Leidenschaften aus inadäquaten Ideen. Für Sp.s systematische Ableitung der einzelnen Affekte ist der Lehrsatz grundlegend (III, 6): ,,Ein jedes Ding strebt, soweit es an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren"; nur von einer äußeren Ursache, die ihm entgegengesetzt ist, kann es zerstört werden. Dieses S e l b s t e r h a l t u n g s s t r e b e n ist die tätige Wesenheit des Dinges. Es ist nicht auf bestimmte Zeit begrenzt und eignet der Seele, soweit sie adäquate und soweit sie inadäquate Ideen besitzt. Sie ist sich dieses Strebens bewußt. Allein auf die Seele bezogen, heißt das Selbsterhaltungsstreben auch W i l l e ; auf Körper und Seele zugleich bezogen heißt es T r i e b (a p p e t i t u s). Ist der Trieb dem Menschen bewußt, so trägt er den Namen B e g i e r d e ( c u p i d i t à s). Aus dem Parallelismus zwischen Denken und Ausdehnung folgt, daß jede Vermehrung oder Verminderung, Förderung oder Hemmung der körperlichen Wirkenskraft gleichzeitig die Denkkraft unserer Seele mehrt oder mindert, fördert oder hemmt, wobei jede Förderung einen Übergang der Seele zu größerer Vollkommenheit bedeutet. (Eine gegenseitige Beeinflussung von Körper und Geist ist durch den Parallelismus aber ausgeschlossen, nach III, 2). Diese spinozistische Erkenntnis dient als Maßstab für die Einteilung der Affekte. Der Übergang zu größerer Vollkommenheit heißt 1 a e t i t i a , Lust oder Freude, die Herabminderung der Vollkommenheit t r i s t i t i a , Unlust oder Traurigkeit (III, 11, Schol.). Die von laetitia abgeleiteten Affekte sind Handlungen (actiones), die aus tristitia folgenden gehören zu den Leidenschaften (passiones). Eine gleichzeitige Beeinflussung durch zwei entgegengesetzte Affekte bewirkt ein Schwanken der Seele (animi fluctuatio, III, 17, Schol.). Als dritter Grundaffekt tritt in der Ethik die c u p i d i t a s , die Begierde oder das Streben, auf. Sie ist aber gleichzeitig als Selbsterhaltungsstreben d e r Affekt, und alle übrigen Handlungen und Leidenschaften sind letzten Endes nichts als seine Abwandlungen. Dabei gelten als gut nur die Lustaffekte, die laetitia und was zu ihr hinführt, und als s c h l e c h t die Leidenschaften der tristitia, die Unlustaffekte (III, 39, Schol.). Bei seiner Gliederung der Affekte und
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dem Versuch, die geltenden Gesetze für ihre Verknüpfung und ihre Wirkung zu formulieren, bekundet Sp, eine tiefe Einsicht in das menschliche Seelenleben. E r hat bereits Neid und Dünkel als die Antriebe für das Verhalten der nur imaginativ Erkennenden zur Umwelt festgestellt, er hat die Verallgemeinerungssucht und die voreiligen Schlüsse aus nur e i n e r — vermeintlich richtigen — Beobachtung gegeißelt. „Wenn jemand von einem Vertreter irgendeiner K l a s s e oder Nation, die von der seinen verschieden ist, mit Freude oder Traurigkeit erfüllt wird, unter Begleitung seiner Idee — benannt mit dem Namen der K l a s s e oder Nation allgemein —, dann wird er nicht nur jenen einzelnen, sondern alle Vertreter derselben K l a s s e oder Nation lieben oder hassen" (III, 46). Auch den individuellen Verschiedenheiten trägt Sp.s Lehre von den Leidenschaften vo,lle Rechnung. „Verschiedene Menschen können von ein und demselben Objekt auf verschiedene Weise affiziert werden, und ein und derselbe Mensch kann von ein und demselben Objekt zu verschiedenen Zeiten verschieden affiziert werden" (111,51). Die Affekte verschiedener Individuen unterscheiden sich voneinander soweit, wir ihre Wesenheiten (essentiae) voneinander verschieden sind. — Den Abschluß des dritten Buchs der Ethik bildet eine fortlaufende Definition sämtlicher erwähnter Affekte und eine „allgemeine Definition der Affekte", die nun ausdrücklich die Verbindung zur Erkenntnislehre Sp.s herstellt: „Der Affekt, der eine L e i d e n s c h a f t der Seele (animi pathema) heißt, ist eine v e r w o r r e n e I d e e , durch welche die Seele eine größere oder kleinere Existenzkraft ihres Körpers oder eines seiner Teile bejaht als vorher, und durch deren Vorhandensein die Seele selbst bestimmt wird, an dies eher als an jenes zu denken." Im v i e r t e n B u c h der Ethik wird „die menschliche Knechtschaft oder die Macht der Affekte" untersucht, das Preisgegebensein den Leidenschaften, das alte Thema der Theologie und der Ethik. Auch Sp. ist der Überzeugung, „daß der Mensch notwendigerweise immer Leidenschaften unterworfen ist, und daß er dem allgemeinen Lauf der Natur folgt und gehorcht und sich ihm anpaßt, soweit die Natur der Dinge fordert" (IV, 5, Coroll.). Wäre er leidenschaftslos, spinozistisch ausgedrückt: hätte er nur adäquate und nicht auch inadäquate Ideen, so wäre er auch ewig und unendlich, „was absurd ist". Eine Leidenschaft kann die Handlungen (actiones) überwuchern, und es gibt nur ein Mittel dagegen: „Ein Affekt kann nur in Schranken gehalten oder aufgehoben werden durch einen entgegengesetzten und stärkeren Affekt" (IV, 7). Worin beruht die Stärke des A f f e k t s ? in seiner Förderung der Denkkraft der Seele. Von diesem Gesichtspunkt aus ist der Affekt gegen etwas Notwendiges stärker als der gegenüber Zufälligem, und der Lustaffekt stärker als der Unlustaffekt. Eine eigentliche Besiegung von Affekten wird im Rahmen des spinozistischen Systems nur dadurch möglich, daß d i e E r k e n n t n i s s e l b s t a l s A f f e k t b e t r a c h t e t w e r d e n k a n n . Diese Einsicht klingt an in dem S a t z (IV, 14): „Die wahre Erkenntnis des Guten und des Schlechten kann einen Affekt nicht in Schranken halten, soweit sie wahr ist, sondern nur, soweit sie als Affekt betrachtet wird." Da die Stärke des Affekts sich an der Förderung der Denkkraft bemißt, die imaginatio aber mit ihren inadäquaten, daher verworrenen Ideen die Fähigkeit des Denkens hemmt und nur Passionen erzeugt, so scheidet sie aus im Ringen mit den Affekten, und nur die Vernunft (ratio) wie die Intuition (Buch V) können im Kampf mit den Leidenschaften erfolgreich betätigt werden. Den Glauben an die uneingeschränkte Macht vernünftigen Denkens bekundet Sp.s Affektenlehre stärker noch als sein Bekenntnis zur Intuition. „ D a die Ratio nichts gegen die Natur fordert, so fordert sie also selbst, daß ein jeder sich selbst liebt, seinen Nutzen — das, was in Wahrheit sein Nutzen ist —, sucht und alles das erstrebt, was in Wirklichkeit den Menschen zu größerer
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Vollkommenheit hinführt, und absolut: daß ein jeder, soweit es an ihm liegt, sich bemüht, sein Sein zu erhalten" (suum esse conservare, IV. 18, Schol,). Dieses S e l b s t e r h a l t u n g s s t r e b e n ist als Handeln nach den Gesetzen der eigenen Natur zugleich die Grundlage der T u g e n d (virtus) und der Inhalt der G l ü c k s e l i g k e i t (felicitas). Es bildet auch das Fundament für die menschliche Gemeinschaft. Für den Vernunftgeleiteten gibt es nichts Nützlicheres als die Verbindung mit anderen gleicher Art, „Wenn nämlich zwei Individuen gleicher Natur sich miteinander verbinden, so bilden sie ein Individuum, das um das Doppelte mächtiger ist als das einzelne. F ü r d i e M e n s c h e n i s t a l s o n i c h t s n ü t z l i c h e r a l s d e r M e n s c h ; ich sage, der Mensch kann sich nichts wünschen, was für seine Selbsterhaltung hervorragender wäre, als daß alle in allem so miteinander übereinstimmen, daß ihre Seelen und Körper gleichsam eine Seele und einen Körper bilden, und daß alle gleichzeitig, soweit sie können, ihre Selbsterhaltung erstreben, und alle gleichzeitig den gemeinsamen Nutzen aller suchen; daraus folgt, daß die vernunftgeleiteten Menschen, das heißt, die Menschen, die unter Führung der Vernunft ihren Nutzen suchen, nichts für sich selbst begehren, was sie nicht auch für die übrigen Menschen erstreben, und daß sie folglich gerecht, treu und ehrlich sind." Sp.s anscheinender Utilitarismus, der das Streben nach dem eigenen Nutzen zur „Grundlage von Tugend und Frömmigkeit" macht, ist also reiner Rationalismus. „Ganz und gar tugendhaft handeln ist nichts anderes in uns als unter Führung der Vernunft handeln, leben, sein Sein bewahren (diese Drei bedeuten dasselbe), auf der Grundlage des Strebens nach dem eigenen Nutzen" (IV, 24). Aus Vernunft erstreben wir nichts anderes als Erkenntnis, und eine vernunftgeleitete Seele hält daher nur das für n ü t z l i c h , w a s z u r E r k e n n t n i s h i n f ü h r t " (IV,26), und nur das ist auch g u t . Das h ö c h s t e G u t der Seele aber u n d ihre h ö c h s t e T u g e n d ist die G o t t e s e r k e n n t n i s (IV, 28). Eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Wesenheit Gottes bildet geradezu das Wesen der menschlichen Seele. Das Streben nach Gotteserkenntnis verbindet alle Vernünftigen miteinander und ist ein Gut, an dem alle teilhaben können, daher auch ein Band für die menschliche Gesellschaft (IV, 40). Sp. zeigt, welches Ansehen in ihrem Rahmen und unter Leitung der Vernunft die einzelnen Affekte gewinnen, wobei sich erneut der Nutzen aller Lust- und der Schaden aller Unlustaffekte bestätigt. Zu den für die Gemeinschaft schädlichen Leidenschaften gehört das Mitleid (commiseratio); der Vernünftige kennt es so wenig wie Demut und Kleinmütigkeit und Reue. Das Höchste, was er erreichen kann, ist das Ruhen in sich (acquiescentia in se ipso, IV, 52) Zu jedem tätigen Affekt (actio) können wir durch Vernunft hingeführt werden, und keiner ist an sich gut oder schlecht. Den von Vernunft Geleiteten nennt Sp. frei (homo liber); er betrachtet die Dinge nicht unter dem Gesichtspunkt der Zeit; er wählt von zwei Gütern das größere und von zwei Übeln das kleinere, vernachlässigt aber das kleine gegenwärtige Gut um eines größeren zukünftigen willen und zieht das kleinere gegenwärtige Übel einem größeren zukünftigen vor; er kennt den Begriff des Bösen nicht; er besitzt keine Todesfurcht; er zeigt die gleiche Tugend in der Abwendung wie in der Überwindung von Gefahren; lebt er unter Unvernünftigen, so lehnt er ihre Wohltaten ab; er handelt niemals listig, sondern immer treu; er zieht das Leben in einem Staatswesen der Einsamkeit vor. Alle Regeln für ein vernünftiges Leben, die sich aus seiner Affektenlehre ergeben, faßt Sp. gegen Ende des 4. Buches zu 32 Sätzen zusammen. Von der Kraft des Intellekts oder der menschlichen Freiheit handelt das f ü n f t e und letzte B u c h der Ethik. Die Macht der Vernunft, die Glückseligkeit
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der Seele, das Wesen des Weisen verglichen mit dem Unwissenden und seine Herrschaft über die Affekte als Leidenschaften sind seine Hauptthemen (Vorrede). Hatten die vorhergehenden Bücher Sp.s Gottes- oder Substanz- oder Naturlehre, seine Erkenntnislehre und seine Seelenlehre in Gestalt einer Affekttheorie entwickelt, so wird nun aus ihrer Verflechtung das ethische Ergebnis gezogen und damit zugleich der Abschluß des spinozistischen Systems erreicht. Sp. lehnt zwar die stoische und die cartesianische Vorstellung von einer völligen Besiegung der Affekte ab (V, Vorrede), aber auch auf seinem eigenen Wege wird eine Befreiung von dem Teil der Affekte, der den Menschen knechtet, von den Leidenschaften, erreicht. Denn von jedem Affekt, der eine passio ist und daher auf einer inadäquaten Idee beruht, kann durch Bildung einer klaren und deutlichen oder adäquaten Idee eine actio gewonnen werden; dieser Prozeß ist bereits vollzogen mit einer genauen Kenntnis des passiven Affekts. „Ein Affekt ist um so mehr in unserer Gewalt, und um so weniger leidet die Seele an ihm, je bekannter er uns ist" (V, 3, Corr.). Im Grunde ist es ein und derselbe Trieb (appetitus seu cupiditas), durch den der Mensch bald handelt, bald leidet. Setzt die Seele ihre Erkenntniskraft, das heißt ihre Kraft zur Bildung adäquater Ideen ein, so hebt sie damit die passio zur actio auf. Sie besitzt dann die Macht, alle Affektionen des Körpers richtig zu ordnen und zu verknüpfen. Um dem Zustand eines absolut vernünftigen Affektlebens, der niemals völlig erreicht werden kann, möglichst nahe zu kommen, müssen wir uns feste Lebensregeln einprägen und so oft wie möglich anwenden, auch alle Unlustaffekte aus unsern Gedanken verbannen und die Seele mit Freude erfüllen. Die beste Ordnung aller körperlichen Affektionen, aus denen die Affekte entspringen, hat die Seele dann erreicht, wenn sie ihre V e r k n ü p f u n g m i t d e r I d e e G o t t e s herstellt. „Wer sich und seine Affekte klar und deutlich erkennt, liebt Gott, und dies um so mehr, je mehr er sich und seine Affekte erkennt" (V, 15). Diese L i e b e z u G o t t muß der Hauptinhalt der Seele sein und soll alle Menschen mit dem gleichen Band der Liebe verbinden (V, 20). Es gibt keinen Affekt, der der Liebe zu Gott entgegengesetzt wäre, und sie ist von allen Affekten der beständigste. Da die Seele mit dem Körper nicht völlig zerstört werden kann, sondern etwas Ewiges von ihr bleibt (V, 23), so überdauert die Liebe zu Gott auch den Körper, von dem in Gott eine Idee sub specie aeternitatis vorhanden ist. Ist doch Gott die Ursache nicht nur für das Dasein (existentia), sondern auch für die Wesenheit (essentia) des menschlichen Körpers. Zwar haben wir keine Erinnerung an unsere Existenz vor dem Dasein des menschlichen Körpers. „Aber nichts desto weniger fühlen und erfahren wir, daß wir ewig sind. Denn die Seele fühlt nicht weniger das, was sie durch Erkennen begreift, als was sie in der Erinnerung hat. Denn die Augen der Seele, mit denen sie die Dinge sieht und beobachtet, sind die Beweise selbst" (V, 23, Schol.). Das höchste Streben nun der Seele und ihre höchste Tugend ist die Erkenntnis der Dinge nach der dritten Erkenntnisart, die von der adäquaten Idee einiger Attribute Gottes zur adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge fortschreitet. J e mehr wir aber die Dinge auf diese dritte Art erkennen, um so mehr erkennen wir Gott (V, 25). Aus ihr, der intuitiven Erkenntnis, erigibt sich die tiefste Seelenruhe (mentis acquiescentia). Sie betrachtet die Dinge losgelöst von Raum und Zeit, so wie sie in Gott enthalten sind. Sie erwirkt einen A m o r D e i i n t e l l e c t u a l i s , eine geistige Liebe zu Gott, die ewig ist, und wenn wir ihr auf den Grund gehen, sich als die unendliche Liebe Gottes zu sich selbst offenbart (V, 36). „Hieraus folgt, daß Gott, soweit er sich selber liebt, auch die Menschen liebt und weiter, daß die Liebe Gottes zu den Menschen und die geistige Liebe der Seele zu Gott ein und dasselbe
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sind," Unsere Glückseligkeit oder Freiheit besteht in der beständigen und ewigen Liebe zu Gott, oder in der Liebe Gottes zu den Menschen. Der Amor Dei kann durch nichts in der Natur aufgehoben werden. Er befreit von den Leidenschaften und von der Todesfurcht. Der Weise, der sich diese Haltung zu eigen macht, besitzt immer wahre Seelenruhe. Der Weg dahin „scheint äußerst schwierig, kann aber doch gefunden werden. Denn schwierig muß das wohl sein, was so selten aufgefunden wird. Denn wenn das Heil bei der Hand läge und ohne große Mühe auffindbar wäre, wie könnte es dann geschehen, daß fast alle es vernachlässigen? Aber alles Hervorragende ist ebenso schwierig wie selten", (V, Ende,) Während der Ausarbeitung der „Ethik" war Sp, sich bewußt, wie sehr seine systematischen Grundüberzeugungen von den überlieferten und den landläufigen philosophischen und religiösen Ansichten abweichen. Die Aufnahme seines anonym veröffentlichten, aber bald vermutungsweise ihm zugeschriebenen „Tractatus theologico-politicus" (1670) war geeignet, ihn darüber zu belehren. Schon am 19. Juli 1674 erfolgte in Holland ein Verbot dieser Schrift. In einem Brief vom Herbst 1665 an Oldenburg legt Sp. die Gründe für ihre Abfassung dar. „Ich verfasse jetzt eine Abhandlung über meine Ansicht von der Schrift. Dazu bewegen mich 1. die Vorurteile der Theologen; weiß ich doch, daß sie hauptsächlich die Menschen hindern, sich mit Philosophie zu beschäftigen; darum bemühe ich mich, diese Vorurteile aufzudecken und aus dem Denken der Klügeren zu entfernen. 2. Die allgemein verbreitete Ansicht der großen Masse über mich, die nicht aufhört, mich des Atheismus zu beschuldigen; ich fühle mich gezwungen, auch ihr den Boden zu entziehen, soweit ich kann. 3. Die Freiheit zu philosophieren und zu sagen, was wir denken; diese will ich auf alle Arten vertreten, da sie hier durch die Unverfrorenheit von Volksaufwieglern, die in allzu großem Ansehen stehen, nach Kräften unterdrückt wird." Die Erfüllung des ersten Teils seiner Aufgabe: der Versuch, alle theologischen Vorurteile aus dem Weg der Philosophie zu entfernen, veranlaßt Sp. zu einer Kritik der Bibel, die für die theologische Wissenschaft der Folgezeit grundlegend wurde. Ihre philosophischen Voraussetzungen stimmen im wesentlichen mit der „Ethik" und ihrer Unterscheidung von imaginatio und ratio überein. Das Recht des Verstandes und der Vernunft darf durch die Bibel nicht eingeengt werden. Sp, bekundet als Ergebnis seiner Bibelforschungen, „daß in den ausdrücklichen Lehren der Bibel nichts enthalten ist, was mit dem Verstände nicht übereinstimmt oder ihm widerspricht", „daß die Bibel die Freiheit der Vernunft völlig unbeschränkt läßt, daß sie nichts mit der Philosophie gemein hat und daß sowohl diese wie jene auf ihren eigenen Füßen steht". Die Kenntnis der Bibel muß aus ihr allein abgeleitet werden, nicht aus dem, was man mit dem „natürlichen Licht" (lumen naturale) erfaßt. Die Propheten und Apostel haben die Verkündigung von Gottes W o r t der Fassungskraft ihrer Hörer und Leser angepaßt. Gegenstand und Grundlagen der geoffenbarten und der natürlichen Erkenntnis sind verschieden — die geoffenbarte Erkenntnis geht auf Gehorsam —, jede von beiden hat ihr Gebiet für sich. „Weder braucht die Theologie der Vernunft, noch die Vernunft der Theologie als Magd zu dienen" (Kap. 15). Weder braucht die Schrift der Vernunft, noch die Vernunft der Schrift angepaßt zu werden. Nur die Offenbarung, nicht das natürliche Licht kann uns darüber belehren, daß einfacher Gehorsam der Weg zum Heil ist, daher ist die Schrift für sterbliche Menschen tröstlich. „Denn alle können unbedingt gehorchen, aber es sind nur ganz wenige aus dem gesamten Menschengeschlecht, bei denen die Tugend allein unter Führung der Vernunft zur Gewohnheit wird." Aus seiner Trennung von Theologie und Philosophie leitet Sp. das R e c h t z u m f r e i e n P h i l o s o p h i e r e n für einen jeden her.
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I m p o l i t i s c h e n T e i l des Tractatus theologico-politicus (ab Kap. 16) geht es um den Beweis dafür, daß diese Freiheit der Urteilsbildung innerhalb der Theologie und der Philosophie im Rahmen des Staates ohne Gefahr für seinen Frieden und für die Rechte der höchsten Staatsgewalt gewährt werden darf, ja muß, weil ihre Schmälerung den Frieden bedroht und dem Staatswesen schadet. Sp. stützt seine Behauptung auf das n a t ü r l i c h e R e c h t j e d e s e i n z e l n e n , das sich so weit erstreckt, wie sein Begehren und seine Macht reicht. Niemand kann dieses Rechts verlustig gehen, doch kann er seine Macht sich zu verteidigen auf einen andern übertragen. Diese Übertragung erfolgt im Staat an die Inhaber der höchsten Staatsgewalt. Auch ihr Recht reicht so weit wie ihre Macht. Sie allein sind Bewahrer des Rechts und der Freiheit, und die andern haben ihren Anordnungen zu folgen. „Allein da niemand sich der Macht, sich zu verteidigen, so begeben kann, daß er aufhört ein Mensch zu sein, so folgere ich daraus, daß niemand seines natürlichen Rechts ganz beraubt werden kann, und daß die Untertanen manches nach dem Naturrecht behalten, was ihnen ohne große Gefahr für den Staat nicht genommen werden kann." Und wenn auch die Inhaber der höchsten Staatsgewalt nicht nur das bürgerliche, sondern auch das geistliche Recht zu bewahren und zu interpretieren haben — „sie allein sind befugt zu bestimmen, was recht und unrecht, was fromm und gottlos sein soll," — so kann das Ziel nicht Freiheitsbeschränkung des Einzelnen sein, sondern nur seine Befreiung von der Furcht und Bewahrung seiner Sicherheit unter möglichst weitgehender Beibehaltung seines natürlichen Rechts. Die Republik erreicht dies Ziel am ehesten. „Es ist nicht das Ziel der Republik, die Menschen aus vernünftigen Wesen in Tiere oder Automaten zu verwandeln, sondern umgekehrt zu bewirken, daß Geist und Körper bei ihnen in Sicherheit seine Funktionen erfüllt . . . Das Ziel der Republik ist wirklich die Freiheit." Aber ein jeder tritt nur aus eigenem Entschluß sein Recht zu handeln ab, nicht aber sein Recht auf vernünftiges Denken und Urteilen (Kap. 20). Daher wird die beste Republik einem jeden die Freiheit zum Philosophieren lassen, wie sie einem jeden das Recht auf seinen Glauben zubilligt. „Diese Freiheit ist vor allem notwendig zur Förderung von Kunst und Wissenschaften; denn diese werden mit glücklichem Erfolg nur von Menschen gepflegt, die eine freie, möglichst unvoreingenommene Urteilskraft haben." Auf Grund seiner Erfahrungen in den Niederlanden bekennt Sp. sich zu der Ansicht, daß eine demokratische Regierung dem status naturalis am nächsten kommt. Er weist hin auf das Beispiel Amsterdams, und unterwirft seine Ansichten dem Urteil der Staatsgewalt in seinem Vaterland, „Wenn etwas von dem Gesagten den Landesgesetzen widerstreitet oder dem Gemeinwohl schadet, so will ich es ungesagt sein lassen; ich weiß, daß ich ein Mensch bin und irren kann. Doch habe ich mich mit Eifer bemüht nicht zu irren und das Geschriebene völlig in Einklang zu bringen mit den Landesgesetzen, der Frömmigkeit und den guten Sitten." Eine abermalige Behandlung der politischen Probleme im „Politischen Traktat", den Sp. zwischen den Jahren 1675 und 1677 ausarbeitete, blieb unvollendet. Seine Erörterung der drei Verfassungen: Monarchie, Aristokratie, Demokratie gelangte nicht mehr zur Untersuchung der von ihm bevorzugten demokratischen Staatsform. Seiner Überzeugung nach weicht von allen praktischen Wissenschaften die Lehre vom Staat am meisten von der Wirklichkeit ab; „so gelten auch die Theoretiker oder Philosophen als die, welche am wenigsten zur Leitung des Staats geschickt sind. Umgekehrt gelten die praktischen Staatsmänner für solche, welche den Menschen mehr Nachstellungen bereiten, als daß sie für ihr Wohl bedacht wären, und man hält sie eher für listig als für weise". Das Ergebnis der Ethik, daß der Weg der Vernunft sehr steil und schwer zugänglich ist, wirkt sich auch
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in der Politik aus. „Wer deshalb meint, die Menge oder die in den Geschäften befangenen Staatsmänner könnten zu einem Leben bloß nach den Vorschriften der Vernunft gebracht werden, der träumt von dem goldenen Zeitalter der Dichter oder von Fabeln" (Kap. 1, § 5). Daher muß die Regierung so eingerichtet sein, daß ihre Leiter, „mag die Vernunft oder die Leidenschaft sie bestimmen, nicht zur Untreue oder Schlechtigkeit verführt werden können. Auch ist für die Sicherheit des Staates der Beweggrund gleichgültig, welcher die Menschen zur guten Führung der Geschäfte bestimmt, wenn sie nur gut geführt werden. Denn die Freiheit des Geistes und die Charakterstärke ist eine private Tugend; die Tugend des Staates aber ist die Sicherheit" (§ 6). Die Geschichte des Spinozismus, der Nachwirkung der Philosophie Spinozas, vollzieht sich in verschiedenen Stadien. Bis zum Jahre 1785 setzt sich die heftige Bekämpfung seines Pantheismus und seiner Substanzenlehre, der Gleichsetzung auch von Gott, Substanz und Natur, die der Denker bei Lebzeiten erfuhr, gesteigert fort. Er wird aus allen theologischen, philosophischen und politischen Lagern geführt. Darauf folgt, von etwa 1785 bis 1840, eine Periode tiefgehender Wirkung der spinozistischen Gedanken, die vor allem die nachkantischen Systeme Fichtes, Schellings und Hegels ergreift, und auch die deutsche Romantik durchdringt, bis hin zu der schrankenlosen Verehrung Sp.s durch Schleiermacher. Diese Periode wird eingeleitet durch Friedrich Heinrich Jacobis Veröffentlichung eines Gesprächs, das er am 6. und 7. Juli 1780 mit Lessing in Wolfenbüttel führte, als Beweis für Lessings Spinozismus. Der bekannte Pantheismusstreit wird dadurch entfesselt. Im Jahre 1778 liest Herder Spinozas Werke; in seiner Schrift „Gott" (1787) ruht der Niederschlag seiner Lektüre. Auf Herders Veranlassung vertieft sich Goethe im Winter 1785/86 in Spinoza; er fühlt sich in seiner eigenen Einstellung zu Gott und Natur bekräftigt und verbreitet Sp.s Ruhm. Nach 1840 beginnt die historisch-kritische Erforschung von Leben, Entwicklung und Lehre Spinozas. Freudenthal und Carl Gebhardt haben sich um Sammlung von Urkunden und Organisierung der Spinoza-Forschung besonders verdient gemacht. S c h r i f t e n : Renati Descartes Principiorum philosophiae pars I et II, Amsterdam 1663. — Tractatus theologico-politicus, Amsterdam 1670. — Opera postuma, Amsterdam 1677. — Tractatus de Deo et homine ejusque felicitate, hg. v. Ed. Böhmer, Halle 1852; deutsch hg. v. Chr. Sigwart, Tübingen 1870; 2. A. 1881. — Opera, hg. v. H. E. G. Paulus, Jena 1802 f. — Opera quotquot reperta sunt, hg. von J . van Vloten u. J . P. N. Land, 2 Bde., Haag 1882/83; 2. A., 3 Bde., 1895. — Werke, deutsch, in der Philosophischen Bibliothek, Leipzig, Meiner, und in Reclams Universal-Bibliothek. — Sp.-Brevier, hg. von Arthur Liebert, Berlin 1912. — Werke, hg. von Carl Gebhardt, 4 Bde., 1923. L i t e r a t u r : Bibliographie: Spinozana 1897—1922, herausg. v, Dr. W. Meijer, Heidelberg-Amsterdam 1922; als: Bibliotheca Spinozana, T. 1. — Spinoza-Literatur, Verzeichnis. Wien, Selbstverlag der Bibl. der Israelit. Kultusgemeinde, 1927. — Dem Andenken Sp.s, hrsg. v. Deutschen Seminar der Pekinger Reichsuniv., Tientsin-Peiping 1932. — Septimana Spinozana, Den Haag 1933. — Spinoza-Festschrift, Hrsg. Siegfried Hessing, Heidelberg 1933. — Alexander Bernhard, Sp., München 1923. — Wilhelm Bolin, Sp., Berlin 1894; 2. A. bearbeitet v. Carl Gebhardt, 1927. — Theodor Camerer, Die Lehre Sp.s, Stuttgart 1914. — Stanislaus Dunin-Borkowski, Sp., Bd. 1-4, Münster 1933—1936; Sp. nach dreihundert Jahren, Berlin 1932. — Kuno Fischer, Sp.s Leben, Werke u. Lehre, Heidelberg 1909. — Jakob Freudenthal, Sp., Bd. I, Stuttgart 1904; 2. Aufl. Heidelberg 1927, herausg. v. Carl Gebhardt; Bd. II auf Grund des Nachlasses bearb. v. Carl Gebhardt, Heidelberg 1927; in: Bibliotheca Spinozana, T. 5. — Kurt Freyer, Sp., Berlin 1927. — Carl Gebhardt, Sp., 4 Reden, Heidelberg 1927; Sp., Leipzig 1932. — Vasile Gherasim, Activismul lui Sp., Cernowitz 1928. — Jul. Rud. Kaim, Die Philos. Sp.s, München 1921; in: Philos. Reihe Bd. 35. — Rudolf Kayser, Sp., Wien 1932. — Alfred Klaar, Sp., Berlin 1926. — A. Liebert, Sp., Einleitung zur 3. A. des Sp.-Breviers, Leipzig 1933. — Fritz Mauthner, Sp., Dresden 1921. — Georg Mehlis, Sp.s Leben u. Lehre, Freiburg 1923. — K. 0 . Meinsma,
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S. XXVII). Gerade über die Natur der Erkenntnis aber herrschen die meisten Irrtümer. Man betrachtet die physische Seite des Denkens und übersieht seine logische Natur. Die Grundfunktion des Denkens, das Urteilen, hat kein Analogon in der physischen Welt. Das Fundamentalgesetz des Denkens ist ein höherer Begriff der Dinge, der nicht aus der Erfahrung geschöpft werden kann: der Begriff des Absoluten. Er ist die Ur-Idee der Philosophie, Grundlage für alle ihre anderen Ideen. Sp. gelangt so zu einer dualistischen Auffassung der Dinge. Sie besitzen erstens eine physische, zweitens eine absolute Natur. Die Schwierigkeit liegt darin, daß „das Absolute die normale Natur der Dinge ist" (S. 139), ganz gegen allen Anschein. So besteht ein Mißklang zwischen unserer Idee eines realen Objekts und den Objekten der Erfahrung. Die Welt der Phänomene erscheint nur als eine Welt der Substanzen, ohne es zu sein. Sie wird aber beherrscht von Notwendigkeiten, die in einer Welt der Substanzen wurzeln, und bedarf ihrer, um begriffen und erklärt zu werden, das Vorhandensein dieser absoluten Welt der Substanzen damit bestätigend. Sp. läßt sich die gedankliche Sicherung seines Dualismus angelegen sein, hat aber seine philosophischen Grundgedanken zu einer nur geringen Wirkung bringen können. Am stärksten ist sein Einfluß auf Tolstoj. S c h r i f t e n : Die Wahrheit, Leipzig 1867. — Andeutungen zu einem widerspruchslosen Denken, Lpz. 1868. — Forschungen nach der Gewißheit in der Erkenntnis der Wirklichkeit, Lpz. 1868. —• Vorschlag an die F r e u n d e einer vernünftigen Lebensführung, 1869. —- Kurze Darstellung der Grundzüge einer philosophischen Anschauungsweise, Lpz. 1869. —• Erörterung einer philosophischen Grundeinsicht, Lpz. 1869. — Kleine Schriften, Lpz. 1870. — D e n k e n u. Wirklichkeit, Versuch einer Erneuerung d e r kritischen Philosophie, Lpz, 1873: 2. A. 1877; franz. als P e n s é e et réalité, 1896. — Moralität u. Religion, Lpz. 1874: 2. A. 1878. — Empirie u. Philosophie, Lpz. 1876. — Vier Grundfragen, Lpz. 1880. — Gesammelte Schriften, 4 Bde.; Bd. I u. II: D e n k e n u. Wirklichkeit: Bd. III: Moralität u. Religion; Recht u. Unrecht; Bd. IV: Schriften vermischten Inhalts, 1885; neu hrsg. v. Hélène Claparède-Spir, 2 Bde., 1908/1909. —• Esquisses de philosophie critique, 1887, — Nouvelles esquisses de philosophie critique, posthum veröff. in: Revue de Mét. et de Morale, 1895/1897 u. Paris 1899, mit Biographie. L i t e r a t u r : Friedrich Jodl, A. Sp., in: Zeitschrift für Philos., Bd. 98, 1891. — S. Spitzer, Darstellung u. Kritik der Moralphilosophie Sp.s, Dis«., W ü r z b u r g 1897. — Th. Lessing, A. Sp.s Erkenntnislehre, Diss., Erlangen 1899 (mit Bibliographie). — A n d r e a s Zacharoff, Sp.s theoretische Philosophie, Diss., J e n a 1910. — J . Segond, L'idéalisme des valeurs et la doctrine de Sp., in: Revue philosophique, Bd. 73, 1912, — Claparède-Spir, Un p r é c u r s e u r A. Sp., Lausanne 1920, mit Bibliographie.
Spitteier, Carl, geb. 24. April 1845 in Liestal bei Basel, gest. 20. Dezember 1924 in Luzern. Studium der Rechtswissenschaft in Basel, der Theologie in Zürich, Heidelberg und Basel. 1871 bis 1879 Erzieher in Petersburg und Finnland. Lehrer in Bern und Neuveville. 1886 Journalist in Basel und Zürich. Dann freier Schriftsteller in Luzern. Erhielt 1919 den Nobelpreis. — Schweizerischer Dichter. S c h r i f t e n : Prometheus u. Epimetheus (unter Pseud.: Felix Tandem), 2 Bde., 1881. — P r o m e t h e u s der Dulder, 1924. — Lachende W a h r h e i t e n . Essays, 1897. — Olympischer Frühling, 4 Bde., 1900 ff.; neu bearb., 2 Bde., 1910. — Literarische Gleichnisse, 1892. — Meine f r ü h e s t e n Erlebnisse, 1914. — Imago, 1915. — E x t r a m u n d a n a , 1925. — SpitteierBrevier, Auszüge, hrsg. v. Katy A n d r e a e , Zürich 1943. — Aesthetische Schriften. — G e sammelte W e r k e , 11 Bde., hg. v. G. Bohnenblust, W, Altwegg u. Robert Faesi, Zürich 1945 ff. L i t e r a t u r : Robert Faesi, Carl Sp., 1915; Sp.s W e g u. W e r k , Leipzig 1933; C. Sp. als Seher u. Zeitgenosse, 1945; Sp. u. George, in: Dichtung u. Volkstum, N, F. des Euphorion, Bd. 35 (1934), H. 2. — W e r n e r Guggenheim, Carl Sp.s Weltanschauung, Diss., Lausanne 1918. — Carl Sp. in memoriam, von Hermann Burte u. anderen, J e n a 1925. — Friedrich Schmidt, Die Erneuerung des Epos. Eine geschichtsphilosophische
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Betrachtung zu Sp.s „Olympischem Frühling", Leipzig 1928, in: Beiträge zur Ästhetik, Bd. 17. — Rudolf Gottschalk, Sp., Zürich 1928. — Oskar Hofer, Die Lebensauffassung in Sp.s Dichtung, Diss., Lausanne 1929. — Richard Matzig-Schmauss, Prometheusschicksal, Berlin 1930. — Ernst Ewalt, Sp. oder George, Berlin 1930. — Walter Raith, Sp. u. die neue Gemeinschaft, Diss., Gießen 1936. — Werner Adolf Krüger, Sp. u. die Journalistik, Diss., Basel 1937. — Gottfried Bohnenblust, Der junge Sp., 1945.
Spitzer, Hugo, geb. 7. April 1854 in Einöde (Steiermark), gest. 10. Januar 1937. Dr. med. et phil.; 1882 Pd. in Graz. 1893 a. o. Prof., 1906 o. Professor dort. Als Evolutionist und Monist widmet Sp. sich anfänglich der Naturphilosophie. Er nimmt eine Entwicklung des Bewußtseins aus dem „Innensein" der Materie an. Sp.s Hauptleistung liegt auf dem Gebiet der Ästhetik. Von der apollinischen Kunst, die sich auf Anschauung richtet, unterscheidet er die dionysische Kunst, deren Wirkung sich auf Affekte gründet. Sp. ist Gegner der „biologischen" Ästhetik. Als Anhänger Kants zeigt er sich doch auch von Feuerbach beeinflußt. S c h r i f t e n : Nominalismus und Realismus in der neuesten deutschen Philosophie, Leipzig 1876. — Ursprung u, Bedeutung des Hylozoismus, Graz 1881. — Über das Verhältnis der Philosophie zu den organischen Naturwissenschaften, Leipzig 1883. — Beiträge zur Deszendenztheorie u. zur Methodologie der Naturwissenschaften, Leipzig 1886. -— Kritische Studien zur Ästhetik der Gegenwart, 1897. — Hermann Hettners kunstphilosophische Anfänge und Literarästhetik, Graz 1903, als: Untersuchungen zur Theorie u. Geschichte der Ästhetik, I. — Apollinische u. dionysische Kunst, in: Zeitschrift für Ästhetik, Jg. I, 1906. — Die ästhetische Lust u. der Affekt der Freude, ebenda, 1906.
Spranger, Eduard, geb. 27. Juni 1882 in Groß-Lichterfelde bei Berlin. Studium in Berlin bei Dilthey und Paulsen. 1905 Promotion, 1911 a. o. Professor, 1912 ord. Professor in Leipzig, 1920 ord. Professor in Berlin, 1946 ord. Professor in Tübingen. Die Philosophie Eduard Sprangers kommt nicht allein in seinen wissenschaftlichen Werken, sondern vor allem in seinem bis in die Gegenwart hinein in weitem Umfang maßgeblichen Wirken als Pädagoge und Kulturpolitiker zum Ausdruck. Sie ist anfänglich bestimmt durch die Philosophie Diltheys und steht außerdem unter dem Einfluß der Kulturphilosophie Rousseaus und der Wertphilosophie von Rickert. Der hauptsächlich den kulturpolitischen und jeweils aktuellen Problemen zugewandten Denkweise Sp.s entsprechend, hat sein Philosophieren in einer großen Anzahl einzelner Untersuchungen und Darstellungen einen Ausdruck gefunden, der eng mit den jeweiligen Anlässen und konkreten Fragen der gegebenen Situation verbunden ist. Die Gesamthaltung Sp.s ist in allen seinen Untersuchungen charakterisiert durch ein starkes Betonen des Eigenwertes der Individualität und der überindividuellen Wertzusammenhänge, auf die sie sich bezieht und durch die sie bestimmt ist. So versteht es sich, daß Sp.s philosophische Wirkung im theoretischen Sinn vor allem sich knüpft an sein Werk „Lebensformen", das, von der Individualität in ihrer Wertbezogenheit ausgehend, ein System der kulturphilosophischen Deutung der hauptsächlichen Typen des Menschseins ausgestaltet. Um den Weg in Sp.s Kulturphilosophie hinein zu finden, liegt es nahe, von dem Standpunkt Diltheys auszugehen, den dieser in einer zusammenfassenden Darlegung in folgender Weise formuliert: „Der Einzelmensch als isoliertes Wesen ist eine bloße Abstraktion. Blutsverwandtschaft, örtliches Zusammenleben, Zusammenwirken in der Arbeitsteilung, Machtbeziehung in Herrschaft und Gehorsam machen das Individuum zum Gliede der Gesellschaft. Da nun diese Gesellschaft aus den strukturierten Individuen besteht, wirken sich in ihr dieselben strukturellen Regelmäßigkeiten aus. Die subjektive und immanente Zweckmäßigkeit in den Individuen äußert sich in der Geschichte als Entwicklung. Die einzelseelischen Regelmäßigkeiten formen sich um in solche des sozialen Lebens. Die Differenzierung und höhere Be-
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ziehung der differenzierten Leistungen aufeinander im Individuum nimmt in der Gesellschaft als Arbeitsteilung festere und wirksamere Formen an. Die Entwicklung wird durch die Verkettung der Geschlechter unbeschränkt; denn die Erzeugnisse jeder Art von Arbeit bestehen fort als Grundlage für immer neue Generationen; geistige Arbeit breitet sich beständig räumlich aus, geleitet vom Bewußtsein der Solidarität und des Fortschritts: so entstehen Kontinuität der gesellschaftlichen Arbeit, Wachstum der in ihr aufgewandten geistigen Energie und zunehmende Gliederung der Arbeitsleistungen. Diese rationalen Momente, die im Leben der Gesellschaft wirken und von der sozialen Psychologie erkannt werden, stehen unter Bedingungen, auf denen das eigenste Wesen geschichtlichen Daseins beruht; Rasse, Klima, Lebensverhältnisse, ständische und politische Entwicklung, persönliche Eigenart der Individuen und ihrer Gruppen geben jedem geistigen Erzeugnis seinen besonderen Charakter; aber in all dieser Mannigfaltigkeit entstehen doch aus der immer gleichen Struktur des Lebens dieselben Zweckzusammenhänge, die ich als Systeme der Kultur bezeichne: nur in verschiedenen geschichtlichen Modifikationen" (Dilthey in: „Systematische Philosophie", „Kultur der Gegenwart", herausg. v. P. Hinneberg, Teil I, Abt. VI, 1907, S. 34). Von diesem gedanklichen Hintergrund entwickelt Sp. seine „Lebensformen" als auf wesensgleiche Zweckzusammenhänge bezogene und durch diese begründete, in der Mannigfaltigkeit und Wandelbarkeit des konkreten Lebens identische Strukturen. Es ergibt sich so für diese Philosophie ein besonderer Begriff der Psychologie. Weiterhin gewinnen Seele und Geist ein charakteristisches Verhältnis zueinander. Endlich bekommt der „objektive Geist", den Dilthey in Fortführung der Philosophie Hegels vermittelt, und der des „Wertes", mit dem Sp. an Rickert anknüpft, eine besondere Bedeutung. Die P s y c h o l o g i e ist wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie nicht einen besonderen Gegenstand hat, sondern eine eigentümliche Betrachtungsweise ist. Sie ist „Wissenschaft vom Einzelsubjekt", aber sie gewinnt ihren Gegenstand nicht allein aus ihrem Forschungsmaterial, sondern durch die besondere Abstraktionsweise, mit der sie sich auf das Ganze der geistig-seelischen Erscheinungen bezieht. Wird hingegen der Ton auf die „objektive" Seite gelegt, so entsteht angesichts desselben Gegenstandes die „Geisteswissenschaft" („Lebensformen", 3, Aufl. 1922, S. 7), Der Gegensatz gegen die Denkweise der naturwissenschaftlichen Psychologie, die ihren Gegenstand als einen vorfindbaren und durch seine objektive Gegebenheit charakterisierten ansieht, geht dabei so weit, daß auch das Naturerkennen als eine „Geistesobjektivierung" erscheint (S. 8). Im Unterschied von der naturwissenschaftlich verfahrenden „Psychologie der Elemente" wird als Untersuchungsgegenstand der Psychologie festgelegt: „1. die Erlebnisse, die aus der Verflechtung des Subjekts in das Transsubjektive und Kollektive hervorgehen; 2. die Akte und Erlebnisse, die der kritisch objektiven Geistesgesetzlichkeit gemäß sind oder von ihr abweichen" (S. 7). Wenn mit dieser letzteren Wendung auch ein normativer Gesichtspunkt als mit zu berücksichtigend hervortritt, so soll die Psychologie doch „eine beschreibende und verstehende und keine normative" Wissenschaft sein (S. 17). Über das bloße Beschreiben des Vorfindbaren hinaus bleibt der Psychologie ein besonderes Ziel gesteckt, indem sie die Aufgabe hat, „die Grundrichtungen zu finden, in denen der objektive Geist sich aufbaut." Das „Schwergewicht" der „Methode" erscheint endlich geradezu „darin, daß alle geistigen Grundrichtungen und der in ihnen intendierte Sinn a priori erfaßt werden kann" (S. 26). Die S e e l e wird zunächst bestimmt als der „Inbegriff der in einem Ich gebundenen Aktionen, Erlebnisse und Reaktionen" (S. 14). Darüber hinaus muß sie gedacht werden als ein „sinnvoller Zusammenhang vop Funktionen, in dem die verschiedenen Wertrichtungen durch die Einheit des Ichbewußtseins aufeinander bezogen Philosophen-Lexikon
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sind" (S. 17). Endlich ist das Seelenleben ein „Sinnzusammenhang", in dem „verschiedene Sinnrichtungen unterscheidbar sind und in dem oft genug objektiver Sinn und subjektiver Sinn in Widerspruch miteinander stehen" (S. 18). Diese Sinnrichtungen sind ihrerseits nicht unabhängig von dem deutenden Bewußtsein, vielmehr gibt es „verschiedene Einstellungen meines Bewußtseins, aus denen diese Sinngebung hervorgeht" (S. 5). Wie „Sinn" und „Einstellung", so sind auch „ G e i s t " u n d „ S e e 1 e " in Wechselbeziehung aufeinander bezogen. Einerseits „muß unser Wissen von und Teilhaben an der geistigen Welt auf einer Gesetzlichkeit des geistigen Verhaltens beruhen, die dem Einzelsubjekt irgendwie immanent ist und die Akte seiner produktiven Einbildungskraft ebenso beherrscht, wie die Akte des realen geistigen Verhaltens." Es ist sogar das „Grundgerüst des Geistes" ,,a priori gegeben" (S. 6), E s gibt demnach nicht nur Erlebnisse, „die aus der Verflechtung des Subjektes in das Transsubjektive und Kollektive hervorgehen", sondern es müssen auch solche unterschieden werden, „die der kritisch-objektiven Geistesgesetzlichkeit gemäß sind oder von ihr abweichen" (S. 7). Mit dieser Formulierung erscheint der normative Gesichtspunkt mit dem Gedanken der Objektivität des Geistes verbunden. Das Subjektive muß „immer überall gegen das Objektive abgezeichnet werden" (a. a. O.}. Zwar sind es „seelisch bedingte Wirkungszusammenhänge . . . in die das individuelle Ich sich von vornherein eingelagert findet" (S. 5), aber dagegen hebt sich dennoch die Objektivität des Geistigen auch im Seelenleben in dreifacher Weise ab. Sie ist an physische Objekte angeheftet, sie erscheint als aus „Wechselwirkung sehr vieler Einzelsubjekte entstanden" und endlich als „auf bestimmten Gesetzen der Sinngebung oder Sinndeutung beruhend" (S. 6). Dieser Richtung auf eine O b j e k t i v i e r u n g d e s G e h a l t e s des S e e l e n l e b e n s entspricht eine andere, die das Objektive aus dem Lebendigen her ableiten will. Während einerseits ein seelischer „Funktionszusammenhang" dann „sinnvoll" ist, „wenn alle in ihm enthaltenen Teilvorgänge aus der Beziehung auf wertvolle Gesamtleistungen verständlich werden" (S. 13), heißt es andererseits, es sei „das Seelenleben in einem Individuum sinnvoll, weil es in sich selbst die Bedeutung seiner Gesamtaktionen und die Beziehung der Teilfunktionen sei es als werthaft oder als wertwidrig erlebt" ( a . a . O . ) . Beide Bestimmungen erscheinen verknüpft, wenn erklärt wird: „Ich nenne diejenige Verflechtung subjektiver seelischer Funktionen, wodurch ein überindividuelles sinnvolles, ein objektives Sinngebilde erzeugt wird, eine geistige Leistung" (a. a. 0 . S. 19). Zuletzt bleibt aber das „Ich" die einzige schöpferische Instanz: „Ich verstehe unter einem geistigen Akt die aus verschiedenen Funktionen strukturell zusammengewobene Tätigkeit des Ich, wodurch es eine geistige Leistung von überindividuellem Sinn hervorbringt" (S. 21). Damit wird die eingangs wiedergegebene Auffassung Diltheys konsequent fortgeführt. Der Begriff der „Struktur" rückt in den Mittelpunkt der Auslegung. Auch der Begriff des „Organismus" scheint zunächst noch eine Brücke zu einer außerindividuellen Objektivität herzustellen. „Eine Maschine z. B. kann sinnvoll heißen, weil alle ihre Einzelleistungen zu einem Gesamteffekt zusammenwirken, der irgendwie Wert hat. Ein Organismus ist sinnvoll, weil alle seine Eigenfunktionen auf die Erhaltung seines Bestandes unter gegebenen Lebensbedingungen eingestellt sind und weil diese Selbsterhaltung als für ihn wertvoll beurteilt werden kann" (S. 12 f.). Ebenso heißt es vom Seelenleben: „Erst innerhalb einer Struktur empfangen die seelischen Elemente eine Sinnbeziehung, wie die Teile eines Organismus zueinander in immanenten Sinnbeziehungen stehen" (S. 19). Aber letzten Endes wird der Ausdruck des „Organismus" hierbei nur gleichnishaft verwandt. Gemeint ist keine ontische und objektive Sinnhaftigkeit, sondern eine durch die Beziehung
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auf den Wert gestiftete subjektive des „Erlebens". Schon „in einer Maschine hat jeder Teil soviel Wert, wie er für die Leistung des Ganzen beiträgt" (S. 23), und es ist ein „spezifischer Wert", ein „Werterlebnis" „das Ziel, in dessen Dienst die gesamte Akt- und Erlebnisstruktur des betreffenden Gebietes steht" (S. 24). Mit dieser Formulierung prägt sich die Diltheysche These von der dominierenden individuellen Struktur wieder rein aus. An diesem Punkt wirkt weiterhin das andere Motiv einer Bemühung um eine „kritische Objektivität" des Wertes ergänzend ein. E s heißt, „ . . . daß auch das Werten einer Gesetzlichkeit unterliege und daß nur d i e Werte ,echt' oder ,gültig' seien, die mit dieser Wertgesetzlichkeit übereinstimmen" (S. 15). Diese Wertgesetzlichkeit erscheint nun andererseits gegenständlich ausgedrückt in den Produkten des Ich, als eine faktisch zum Ausdruck gskommene, ohne daß zuletzt ihr gegenüber entschieden werden kann, was „echt" und „gültig" sei oder nicht: „Das empirische Ich findet sich bereits eingebettet in überindividuelle geistige Wertgebilde, die sich in ihrer Existenz vom erlebenden Ich abgelöst haben; in ihnen hat die aufbauende Wertgesetzlichkeit in gewissem Grade schon einen überindividuellen Sinn geschaffen, der über das einzelne Ich hinausreicht" (S. 17). Die Tatsächlichkeit des von der „Wertgesetzlichkeit" geschaffenen überindividuellen Sinnes tritt an die Stelle des kritisch normativen Gesichtspunktes der Unterscheidung von „echtem", bzw. „gültigem" Wert und seinem Gegenteil. In gleicher Weise ist der „objektive Geist" einerseits „der ideelle Normenkomplex, der dem Einzelnen wie der Gesellschaft gleichmäßig als Forderung entgegentritt, wie gewertet werden soll" (S. 16), andererseits hat er „mit seinem weitgemäßen oder wertwidrigen Gehalt seine Wurzel in dem Erleben und Schaffen der menschlichen Individuen" (S. 25). Auch hier wird das Normative auf ein Gegebenes begründet und dieses, das individuelle Erleben, unter die Gültigkeit der rein faktischen Objektivität als seiner Norm gestellt. Die Aufgabe, die von Dilthey her gestellt ist, besteht darin, das Einzelwesen als geistiges Wesen aus seiner Isolierung herauszuführen, Sp. erklärt: „Indem ich also das Subjekt mit seinem Erleben und Gestalten in die Gebilde der geschichtlichen und gesellschaftlichen Geisteswelt v e r f l o c h t e n denke, befreie ich es schon aus der Einsamkeit und Inselhaftigkeit bloßer Ichzustände und setze es in Beziehung zu gegenständlichen Gebilden und Objektivitäten" (S. 5). Diese Absicht hat ihre Grenze an der Tatsache, daß der faktische Ausgangspunkt das „Ich" bleibt. Das gilt sogar für das Erkennen des anderen Menschen. Auch diesem gegenüber sieht sich das Erleben auf sich selbst zurückverwiesen: „Man erkennt fremdes Seelenleben, nur dadurch, daß man die geistigen Akte nachbildet, die das andere Subjekt aus seiner singulären Situation heraus vollzieht" (S. 56). Sp. geht nun einen entscheidenden Schritt über Dilthey prinzipiell hinaus, indem er sich nicht auf diese Bindung an das Ich beschränkt, sondern die Gesellschaft als eine objektive Wirklichkeit insoweit anerkennt, als sie „ein überindividueller Wirkungszusammenhang ist, in den der Einzelne hineingeboren wird" (S.57). Es gibt „Kollektivwesen", und „unser Interesse" ist „gerade nur auf die Reflexe gerichtet, die die Kollektivwesen in die Seele der ihnen eingegliederten Individuen werfen" (S. 57). Das Prinzip der Individualität setzt sich jedoch auch gegenüber dieser Objektivität der Gesellschaft und der Kollektivwesen wieder durch: „Man kann die Gesellschaften als überindividuelle Gebilde nehmen, die im Raum und in der Zeit gleichsam als belebte Massen wirken. Aber auch dann faßt man sie wieder unter dem Erkenntnisschema einer geistigen Individualität, W i r h a b e n g a r k e i n a n d e r e s E r k e n n t n i s mittel für G e i s t e s g e b i 1 d e , als die i n d i v i d u e l l e Geistesstruktur. Deshalb bleibt das Ansich g e s e l l s c h a f t l i c h e r Geb i l d e f ü r u n s e r E r k e n n e n t r a n s z e n d e n t " (a. a. 0.) Das entspricht 39*
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Diltheys Auffassung vom Verhältnis von „einzelseelischer Regelmäßigkeit" und „sozialem Leben". Als Konsequenz dieser Gedankengänge ergibt es sich, daß die gesellschaftlichgeschichtliche, geistige Wirklichkeit nur verstanden werden kann von T y p e n m e n s c h l i c h e r I n d i v i d u a l i t ä t aus. Diese zeichnet Sp. auf in den „Lebensformen". In ihnen verbindet sich die Unmittelbarkeit des erlebnismäßigen Zuganges von dem individuellen Dasein her mit der Bezogenheit auf objektive gesellschaftlich-geschichtliche Zusammenhänge, und sie sind ebenso von Wertgesichtspunkten her bestimmt, wie sie zugleich im aktuellen Dasein der Individuen existent werden. Sie sind generell aus ihrem repräsentativen Charakter für die kritische Wertobjektivität, und sie sind konkret als Ausdruck der Gestalt, die das Menschsein in der Begegnung mit Wert und Wirklichkeit annehmen kann. Sie formulieren die Eigenart des ästhetischen und des religiösen, des politischen und des theoretischen Menschen. Am Beispiel des „ökonomischen" Menschen zeigt sich am klarsten der Gedankenfortschritt gegenüber Dilthey, der die Gesellschaft praktisch nur durch das äußerliche Faktum der „Arbeitsteilung" in sich verbunden erscheinen läßt. Der ökonomische Mensch ist aus seinem individuellen Erleben her auf eine typische Weise in den gesellschaftlichen Zusammenhang hineinverwiesen. Er ist „derjenige, der in a l l e n Lebensbeziehungen den Nützlichkeitswert voranstellt". — „Der rein ökonomische Mensch ist egoistisch: Sein Leben zu erhalten ist ihm die erste Angelegenheit" (S. 136). Aus dieser, in solcher abstrakten Reinheit freilich niemals als existent zu denkenden Wertrichtung seines Erlebens heraus findet der ökonomische Mensch seine spezielle Form der Begegnung mit dem Mitmenschen: „Das Interesse, das der ökonomische Mensch an seinen Mitmenschen nimmt, ist ein reines Nützlichkeitsinteresse" (S. 136). „Dieses Verhältnis kann bis zur Ausbeutung gehen, die vom nackten Gesichtspunkt der Rentabilität betrachtet durchaus ökonomisch folgerichtig ist." Eine gewisse Bedingtheit dieser Deutung durch die Auffassungsweise der „klassischen" Nationalökonomie drückt sich aus, wenn es weiter heißt: „Wo der rein ökonomische Gesichtspunkt herrscht, sinkt der Mensch notwendig und naturgemäß immer zu einem Mittel herab, das nach seiner Arbeitskraft, seiner Kapitalkraft, seiner Kaufkraft gewertet wird" (S. 137). Bedenkt man, wie sehr im allgemeinen und beispielsweise auch bei Dilthey die Gesellschaft in ihrer konkreten Realität vorwiegend als durch ihre ökonomischtechnischen Grundlagen bestimmt erscheint, so wird es verständlich, daß sie angesichts der Auffassung Sp.s vom „ökonomischen Menschen" in ihrer eigenen Wesensart nicht sehr hoch bewertet wird. Auch wirkt das starke Betonen des Eigenwertes der Individualität in die gleiche Richtung, Sp. führt auch hier das Erbe des „zweiten" Humanismus fort, dessen Gehalt er an Wilhelm von Humboldt umfassend dargestellt hat. Die Folge ist eine negative Haltung gegenüber der Soziologie als einem Versuch, aus der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit heraus den Weg zum Verständnis der Kultur zu finden. Sp. erklärt: „Von der Soziologie aus sollen alle Kulturfragen entschieden werden. Man löst die Wissenschaft, die Kunst, ja selbst die Religion in soziologische Kräfte auf. Entsprechend wird das Sittliche fast ganz auf das Sozialethische beschränkt. Von dieser soziologischen Augentäuschung müssen wir uns freimachen. So wenig beim Buch der Einband die Hauptsache ist, so wenig bei der sittlichen Kultur die Gesellschaftsordnung. Gewiß — soziale Form und kultureller Gehalt hängen in der Wirklichkeit untrennbar zusammen. Aber das E n t s c h e i d e n d e sind nicht Machtverhältnisse und Rechtsordnungen und Gemeinschaftsformen als solche, sondern der persönlichmenschliche und der sachlich-kulturelle Gehalt, die in der Form der Macht, des Rechtes und der Gemeinschaft auftreten. Genauer gesagt: die Wertstufe von Macht,
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Recht und Gemeinschaft hängt von dem geistigen I n h a l t ab, der in diesen Formen gebunden ist; der geistige Inhalt aber wiederum wird sittlich bedeutsam nur, sofern er immer wieder aus dem Brennpunkt von Gesinnung und Gewissen in der Einzelseele erzeugt wird. Das Letzte bleibt auch in der sozialen Problematik der Mensch als Träger des Geistes: der Mensch in seiner Menschlichkeit oder sittlichen Humanität" (Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Beleuchtung, 2, Aufl. 1929, 61). Die Individualität bleibt Anfang und Ende der Kultur, „Erst in dem Augenblick, wo ich in mir die ewigen aktiven Geisteskräfte entdecke, mit denen ich den Stoff des Erlebens bewältige und forme, weil sie ihrem geistigen Eigengesetz nach so und nicht anders geformt werden m ü s s e n , werde ich ein Ich von höherem Gehalt oder eine P e r s o n " (a. a. O. S. 64). Von hierher bestimmt sich der Sinn und der Wert der Bildung. „Wir sind, indem wir in die Geistesbewegung unserer Zeit hineinstreben, schon präformiert für eine Form, die gerade uns zu schaffen bestimmt sein wird. Aber wir erringen sie nur, indem wir uns b i l d e n , d. h. indem wir zuvor die höchsten objektiven Geistesformen, die schon erobert worden sind, in unseren Busen hineinnehmen und sie mit unserer Seele vermählen. Mit einem Wort: wo objektiver Geist und die sich entfaltende, suchende subjektive Geistigkeit zusammentreffen, d a l i e g t d e r P r o z e ß d e r B i l d u n g " (a.a.O.). Die Psychologie und Pädagogik Sp.s stehen vor dem Hintergrund einer allgemeinen K u l t u r p h i l o s o p h i e . Diese führt zu einer kritischen, wenn nicht pessimistischen Beurteilung der modernen Wirklichkeit. Kultur ist für Spr. „ein überindividuell bedeutsamer Wert- und Sinnzusammenhang, der Wirklichkeit geworden ist und daher in einer realen Gesellschaft als motivsetzender Wirkungszusammenhang lebt" (Die Kulturzyklentheorie und das Problem des Kulturverfalls, 1926, 15). Auch in diesem allgemeinsten Zusammenhang gibt es eine Wechselbeziehung von Einzelnem und Gesamtheit, wobei wiederum der Mensch das Entscheidende bleibt. Die einzelnen Seiten des Wirkungszusammenhanges sind wohl „in ungleichem Maße von den jeweilig lebenden und erlebenden Subjekten, die eine vielschichtige Kulturgesellschaft bilden" unabhängig. Aber das „eigentliche L e b e n der Kultur, und folglich ihr Wachsen und Vergehen" betrifft nicht „die abgelösten Sinngebiete als solche", sondern es beruht „auf dem Verhältnis der jeweils tatsächlich lebenden Kulturträger zu jenem überindividuellen Kulturbestand und Sinngehalt" (a. a. 0 . 1 6 ) . Aus ihrer Begründung im Verhältnis des Menschen zu den Sinngehalten ergibt sich, daß jede Kultur eine „religiöse Basis" hat: „Sie muß dauernd aus der Quelle lebendiger letzter Wertüberzeugungen schöpfen können oder sie verfällt" (a. a. 0 . 18). Da gemäß dem individualistischen und humanistischen Ausgangspunkt Sp.s die Gemeinschaftsbildungen des menschlichen Lebens einen eigenen Sinn und Wert in sich selbst nicht haben können, wird die ganze Last der Sinngebung auf den Einzelmenschen, die Verpflichtung für die Gestaltung der Gesamtheit ebenso einseitig auf den Staat verlegt: „Auf unserer Kulturstufe scheint keine andere Form überindividueller Bindung der Kultur zur Einheit mehr möglich zu sein, als die Bindung durch den Staat hindurch. Denn alles rein innere Leben ist unwiderruflich individualisiert. Deshalb hängt das Fortbestehen einer weit differenzierten Kultur in ganz entscheidendem Maße davon ab, ob das politische Problem einer überindividuellen Willensorganisation noch gelöst werden kann. Ein solcher Wille fordert Verzicht, Selbstverleugnung, Hingabe, also sittliche Energie, nicht bloß geschickte technische Methoden. -Er fordert, daß man auch die tragisch-heroische Notwendigkeit des .wahren Krieges' im Fichteschen Sinne auszuhalten wisse. Und wiederum hängt alles an der Kraft" (a. a. 0 . 1 8 ) .
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Spruyt — Stadelmann
S c h r i f t e n : D i e Grundlagen der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t , Diss., Bln. 1905. — R o u s s e a u s Kulturideale, 1908, — W i l h e l m v o n Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909; 2. Aufl. 1928. — W i l h e l m v o n Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin 1910, —• Philosophie und Weltanschauung, 1910, — Phantasie und Weltanschauung, in: Weltanschauung, Bln. 1911. — Uber die Stellung d. Werturteile in der Nationalökonomie, in: Schmollers Jb., 1914. — Begabung und Studium, Leipzig 1917. — Kultur und Erziehung. Leipzig 1919 f. — Wandlung und W e s e n der Universität seit hundert Jahren, Leipzig 1913. — G e d a n k e n über Lehrerbildung, Leipzig 1920. — 25 Jahre deutscher Erziehungspolitik, Berlin 1919, — Völkerbund und R e c h t s g e d a n k e , Lpz. 1919. — G o e t h e und die Metamorphose des Menschen, W e i m a r 1924. — P s y c h o l o g i e d e s Jugendalters, 1924; 19. A. 1949. — Lebensformen, Halle 1921; 5. Aufl. 1925; engl. Übers. 1928. — Der gegenwärtige Stand der G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n und die Schule, Leipzig 1925. — Der deutsche Klassizismus und das Bildungsleben der Gegenwart, Erfurt 1927. — Wohlfahrtsethik und Opferethik, Berlin 1930. •— Volk, Staat und Erziehung, Leipzig 1932, — H e g e l s Vermächtnis an uns, Berlin 1932. — G o e t h e s Weltanschauung, 1933; 3. A. 1946. — Entwicklungspsychologie, 1942. —• Der Bildungswert der Heimatkunde, Leipzig 1943. •— D i e Magie der S e e l e , Tübingen 1947. — Kulturpathologie, Tübingen 1947. —• Pestalozzis Denkformen, Stuttgart 1947, — D a s d e u t s c h e Bildungsideal der Gegenwart, 2, Aufl. 1929. — Kulturbegegnungen als philosophisches Problem, Stuttgart 1948. —• Sonderausgaben aus den Sitzungsberichten der Preuß. A k a d . d. Wiss.: D i e Frage nach der Einheit der Psychologie, 1926. — Kulturz y k l e n t h e o r i e und das Problem d e s Kulturverfalls, 1926. — D i e w i s s e n s c h a f t l i c h e n Grundlagen der Schulverfassungslehre und Schulpolitik, 1927, — Der Sinn der Voraussetzungslosigkeit in den G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n , 1929, — D e r Kampf gegen den Idealismus, 1931. —• Pestalozzis D e n k f o r m e n , 1947. — D i e Urschichten des Wirklichkcitsbewußtseins, 1934. — Gedächtnisrede auf Heinrich Maier, 1934. — Problem der Kulturmorphologie, 1936, — H e g e l über Sokrates, 1938, — Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Volksschule, 1944. — Zur Theorie des Verstehens, in: Volkelt-Festschrift, Münchcn 1918. — G o e t h e als Greis, in: Jb. d. G o e t h e - G e s . , 1932. — Weltfrömmigkeit, 1941. — Lebenserfahrung, 1947. •— Hg.: Pestalozzis Sämtl. W e r k e , seit 1927; Zeitschr. Die Erziehung, 1925 ff. L i t e r a t u r : W e i ß , Georg, Prof. Dr. Sp. über Herbarts Pädagogik, Dresden 1916. in: Zur Pädagogik der Gegenwart, H. 44, — Pfannkuch, Karl, G e i s t e s w i s s e n s c h a f t statt Philosophie? Erlangen 1926. — V a n s e l o w , Max, Kulturpädagogik u. Sozialpädagogik, . . ., Berlin 1927. — H e i c k e , Herbert, Der Strukturbegriff als methodischer Grundbegriff e i n e r g e i s t e s w i s s e n s c h a f t l i c h e n Psychologie, 1928, — Paleologos, Georg N., Eduard Sp., A t h e n 1928. — Seiterich, Eugen, D i e logische Struktur des Typusbegriffs, Diss., Freiburg 1930, — Kurfess, Franz, Zwei P ä d a g o g e n der Gegenwart, Spranger, Willmann, Paderborn 1932. —• — Freytag, Horst, Der Strukturbegriff bei Sp. u. seine Bedeutung für die Pädagogik, Diss., Braunschweig 1933. — Croner, Else, Eduard Sp., Berlin 1933. — Bosshart, Emilie, D i e s y s t e m a t i s c h e n Grundlagen der Pädagogik Eduard Sp.s (mit einer monogr. Bibliographie), Lpz. 1935. — D. Thielen, Kritik der Werttheorien, Hamburg 1937. — Geistige G e s t a l t e n u. Probleme, Eduard Sp. zum 60. Geburtstag, Lpz. 1942.
Spruyt, Cornelis Bellaar, gest. 1901. Prof. in Amsterdam. — Der Kantianer Sp, bekämpft die Erkenntnistheorie von Schopenhauer, unter dessen Einfluß er doch anfänglich stand, S c h r i f t e n : P r o e v e van e e n e g e s c h i e d e n i s van de leer der aangeboren begrippen, Leiden 1879. — Die Gesch. der Philos. in Holland, 1878—88, in: Archiv für Gesch. der Philos., Bd. II (1889), S. 122 ff., und Bd. III, S, 495 ff. — L e e r b o e k der form. Lógica, posthum, Haarlem 1903. — G e s c h i e d e n i s der Wijsbegeerte, posthum, Haarlem 1904.
Stadelmann, Rudolf, geb, 23. April 1902 in Adelmannsfelden (Württ.), gest. 17. Aug, 1949 in Theusenberg. 1928 Lektor in Bologna, 1929 Pd. für mittlere und neuere Geschichte in Freiburg i. Br.; 1937 o. Prof. in Gießen, 1938 in Tübingen. S c h r i f t e n : V o m Geist des a u s g e h e n d e n Mittelalters, Studien zur G e s c h . der W e l t anschauung v o n Nicolaus Cusanus bis Sebastian Franck, Halle 1929. — D a s geschichtliche S e l b s t b e w u ß t s e i n der Nation, 1934. — D e u t s c h e Reformationsgeschichte, 1935/36. — D i e Romantik u. die Gesch., in: Romantik, 1948. — D i e Geschichtsphilos. G. B. Vicos, in:
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Stadler — Stahl, Friedrich Julius
Geistige W e l t , Bd. 2, 1947. — Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: Historische Zeitschr., Bd. 169 (1949). — Mithrsg.: Große Geschichtsdenker, 1949. Stadler, A u g u s t , geb. 1850 in Z ü r i c h , gest. 1910 e b e n d a . P h i l o s o p h i e - P r o f e s s o r a m P o l y t e c h n i k u m in Z ü r i c h . — D e r S c h w e i z e r P h i l o s o p h St. ist N e u k a n t i a n e r d e r Cohenschen Richtung. S c h r i f t e n : Kants T e l e o l o g i e u. ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, 1874; Neudruck Berlin 1912. — Die Grundzüge der reinen Erkenntnistheorie in der Kantschen Philos., 1876. — Kants Theorie der Materie, 1883. — Die Frage als Prinzip des Erkennens, In: Kantstudien 13, 1908. — Logik, hrsg. v. J. Platter, 1912. — Die Grundbegriffe der Erkenntnis, hrsg. v. J. Platter, 1913. L i t e r a t u r : Hermann Cohen, A . St., Ein Nachruf, in: Kantstudien 15, 1910. S t a ë l , A n n a L o u i s e G e r m a i n e v o n , geb. 22. A p r i l 1766 in P a r i s , gest. 14. J u l i 1817 e b e n d a . — D i e A n h ä n g e r i n R o u s s e a u s F r a u v o n St. s t a n d in e n g e r V e r b i n d u n g mit der deutschen idealistischen P h i l o s o p h i e . S c h r i f t e n : Lettres sur les ouvrages et le charactère de J. J. Rousseau, Paris 1788, neu herausg. 1820. — D e l'influence des passions sur le bonheur des individus et des nations, Lausanne, 2Bde., 1796 f. — De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales, Paris 1800. — De l'Allemagne, 3 Bde., London 1813. — Considérations sur les principaux événements de la Révolution française, 3 Bde., Paris 1818. — Dix années d'exil, Paris 1821, — Oeuvres complètes, 17 Bde., Paris 1820 f. — Oeuvres inédites, Paris 1836. —• Ein fremder Gast. Nach Briefen und Dokumenten herausg, v. A , Götze, Jena 1928. — Über Deutschland, Ausgabe von P. Friedrich, W e i m a r 1913; gekürzte Ausg., Berlin 1921. —• Deutschland und Frankreich, übertragen von A . E, Brinckmann, Hamburg 1941. L i t e r a t u r : Blennerhassett, Charlotte Julia, Frau v, St., ihre Freunde und ihre Bedeutung in Politik u. Literatur, 3 Bde., Berlin 1887 f. — Jaeck, Emma Gertrude, Mad. de St. and the spread of German literature, N e w Y o r k 1915, in: Germanie literature and culture. — Larg, David Glass, Mad. de St., la v i e dans l'œuvre, Paris 1924, in: Bibl. de la Revue de Littérature Comparée, Bd. 16; Mad. de St., la seconde vie, Paris 1928. — Schied, Eugen, Heinrich Heine und das Buch der Frau v. St. „Über Deutschland", Bonn 1927, Diss. — Henning, Jan Allen, L ' A l l e m a g n e de Mad. de St, et la polémique romantique, Paris 1929. — Jean de Pange, Comtesse, Mad. de St. et la découverte de l'Allemagne, Paris 1929, in: Les grands événements littéraires. — Küster, Heinrich, Die politische Rolle der Frau v. St. in der französischen Revolution, Diss., Greifswald 1931. — August Wilhelm Schlegel und Frau v. St., deutsch von W i l l y Grabert, Hamburg 1940, — Olga Gräfin Taxis-Bordogna, Mad. de St., Salzburg 1939, — L e o p o l d Zahn, Eine Frau kämpft gegen Napoleon, Berlin 1939. — Marie-Louise Pailleron, Mad. de St., 4. A „ Paris 1931. — R. M a c N a i r Wilson, Germaine de St., London 1931. — P. E. Schazmann, Bibliographie des œuvres de Mad. de St., Paris 1938. I S t a h l , F r i e d r i c h Julius, geb. 16. J a n u a r 1802 in M ü n c h e n , gest. 10. A u g u s t 1861 in B a d B r ü c k e n a u . S o h n e i n e s j ü d i s c h e n B a n k i e r s ; t r a t als S i e b z e h n j ä h r i g e r z u m e v a n g e l i s c h e n C h r i s t e n t u m über. S t u d i e r t e z u e r s t P h i l o l o g i e , d a n n v o n 1 8 1 9 — 2 3 in Würzburg,
Heidelberg,
Erlangen
Jura;
1826 D r . juris, 1827 in M ü n c h e n
durch
S c h e l l i n g h a b i l i t i e r t . 1832 a. o. P r o f . in E r l a n g e n , d a n n in W ü r z b u r g , 1835 o r d e n t i . P r o f , f ü r S t a a t s - u n d K i r c h e n r e c h t in E r l a n g e n . 1837 b e g i n n t seine p a r l a m e n t a r i s c h e L a u f b a h n . D i e U n i v e r s i t ä t sendet ihn a l s A b g e s a n d t e n z u r S t ä n d e v e r s a m m l u n g
in
M ü n c h e n , w o e r d i e m o n a r c h i s c h - k o n s e r v a t i v e R i c h t u n g v e r t r i t t . 1840 auf S a v i g n y s V e r a n l a s s u n g und B u n s e n s R a t n a c h B e r l i n b e r u f e n ; er liest d o r t n e b e n j u r i s t i s c h e n Kollegs
auch R e c h t s p h i l o s o p h i e
w u r d e St. in d i e K a m m e r
und Geschichte
gewählt,
1854 E i n t r i t t
der
neueren Philosophie.
ins H e r r e n h a u s , M i t g l i e d
1848 des
Staatsrats. 1852 M i t g l i e d des e v a n g e l i s c h e n O b e r k i r c h e n r a t s . St.s p h i l o s o p h i s c h e B e d e u t u n g l i e g t in d e r A u s b i l d u n g seiner S t a a t s - u n d R e c h t s p h i l o s o p h i e , d i e auf d e m B o d e n d e s T h e i s m u s steht. D e r P a n t h e i s m u s ist e i n e d e r S t e l l e n , an d e n e n St. das S y s t e m u n d d i e E i n z e l l e h r e n H e g e l s a n g r e i f t . E r h a t t e sich f r ü h m i t H e g e l b e s c h ä f t i g t u n d w a n d t e sich f r ü h v o n i h m ab, schon als Student.
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Stahl, Friedrich Julius
Aber er hatte sich doch ernstlich um sein Verständnis gemüht, und ganz spurlos war die Vertiefung in Hegel an der Entwicklung seiner rechtsphilosophischen Ideen nicht vorübergegangen. Mit Schelling fühlte St. sich eins in der Bekämpfung des Rationalismus, „dessen innerstes Wesen ihm zumal am Hegelianismus klar geworden" war, lehnte sich aber im übrigen dagegen auf, als sein Trabant zu gelten. St. stellte sich auf die Seite der historischen Rechtsschule, wie Savigny sie vertrat, war jedoch mit ihrem wissenschaftlichen Ergebnis und ihrem Weg dahin nicht restlos einverstanden, sondern wollte ihr mit seinen Lehren zur Einheit und Kraft des Bewußtseins verhelfen. Ihr Kern soll nicht die Ansicht über die tatsächliche Entstehung des Rechts sein, sondern die „über das Ethische, wie es entstehen, welchen Inhalt es erhalten solle, die Ansicht über das Gerechte". So ist Rechtsphilosophie „die Wissenschaft des Gerechten" (Philosophie des Rechts, I , 1 ) . Die sittliche Ordnung aber, die das Gerechte setzt, ist die Ordnung Gottes. In seinem Ursprung von Gott hat das Recht seine Gültigkeit, und auf Gottes Ordnung gründet sich wie das Recht so der Staat. Das Recht ist „die Lebensordnung des Volkes bezw. der Gemeinschaft der Völker, zur Erhaltung von Gottes Weltordnung. Es ist eine menschliche Ordnung, aber zum Dienste der göttlichen bestimmt durch Gottes Gebote, gegründet auf Gottes Ermächtigung" (Philosophie des Rechts, II, 1, S. 194, 3. A.). Und der Staat ist „der Verband eines Volkes unter einer Herrschaft", die „sittliche Welt"; er soll ein sittliches Gemeinwesen sein (II, 2, S. 131 ff. 138), Die Herrschaft im Staate ist monarchistisch gedacht, nach dem Grundsatz „Autorität, nicht Majorität". St. ist der geschworene Gegner des Liberalismus. „Ich fürchte nicht die akute Krankheit der Demokratie, ich fürchte die chronische des Liberalismus. Ich fürchte nicht den Umsturz, sondern die Zersetzung." Ursache für diese Zersetzung ist der Rationalismus, die Abkehr des Menschen von Gott. Aus ihr entspringen alle Revolutionen. Nur das Christentum kann ihrer Herr werden. Darum muß der Staat vom Geiste des Christentums durchdrungen sein; und wenn er auch die bürgerlichen Rechte allen Staatsangehörigen ohne Unterschied des Glaubens zuerteilen soll, so muß er doch die politischen von der Zugehörigkeit zur christlichen Kirche abhängig machen. Rationalismus als Ursache des Liberalismus, und Pantheismus sind die Fronten, gegen die St. kämpft. Jede Philosophie, die den persönlichen Gott leugnet, zerstört Kirche und Staat. Jede Philosophie, die die Welt und Gott aus logischen Gesetzen ableiten will, ist Lüge. Letztes Ziel der Philosophie ist Gott, nicht der mit dem Absoluten gleichgesetzte, sondern der Gott des Christentums. Von der Persönlichkeit und der Freiheit Gottes nimmt daher St.s Rechtsphilosophie ihren Ausgang, weil eben auf ihr Sittlichkeit, Gerechtigkeit und Recht ruhen. Auch den rechtlichen Institutionen wohnt ein Zug zum Persönlichen inne, trotz ihres organischen Charakters. St. ist in Lehre und sprachlicher Prägung des Gedankens nicht völlig ausgeglichen. Man hat ihm „Lust an pointierter Gegenüberstellung vermeinter oder wirklicher Gegensätze" nachgesagt. Aber als Meister der Rede trug er seine Zuhörer über alle Anstöße hinweg. „Es lag ein unbeschreiblicher Zauber in dem Flusse seiner Rede, der überall vernehmbar, klar und durchsichtig bis zum Grunde, nie sich überstürzend und doch voll mannigfaltigen Wechsels, stets spannend und nie ermüdend in ununterbrochenem Laufe dahinfloß." S c h r i f t e n : Die Philosophie des Rechts, Heidelberg 1830—37, 5. Aufl. Tüb. 1879; Bd. 1: Geschichte der Rechtsphilosophie, Bd. 2: Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung. — Fundamente einer christlichen Philosophie, 1846. — Der christliche Staat und sein Verhältnis zum Deismus und Judentum, Bln. 1847. — Der Protestantismus als politisches Prinzip, Bln. 1853.
Stahl, Georg Ernst — Stahr
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L i t e r a t u r : Rudolf Kögel, Art. St., in: Realenzykl. f. prot. Theol. u. Kirche, Bd. 18 (1906), S. 745—752. — Bernh. Michniewicz, St. u. Bismarck, B. 1913. — Herb. Schmidt, F . J . St. über die deutsche Nationalstaatsidee, Breslau 1914. — Karl Poppelbaum, Die Weltanschauung F. J . St.s, Diss., Frankfurt 1922. — Henning v. Arnim, Studien zur Entw. des konservativen Staatsged., Diss., Greifswald 1925. — Werner Srocka, Der Kirchenbegriff F. J . St.s, Diss., Erlangen 1936. — Reinh. Hübner, F . J . St., Diss., Rostock 1928. — Gerhard Masur, F. J . St., Geschichte seines Lebens. Aufstieg und Entfaltung: 1802—1840, Berlin 1930. — P. Drucker, F. J . St., 1933. — Wilh. Lang, St.s „Christlicher Staat" u. Luthers „Obrigkeit", Diss., Bonn 1935.
Stahl, Georg Ernst, geb. 21. Oktober 1660 in Ansbach, gest. 14. Mai 1734 in Berlin. Studium der Naturwiss. und der Medizin in Jena, 1683 Promotion dort. 1693 Prof. für Medizin an der neugegründeten Universität Halle. 1716 Ruf nach Berlin als Leibarzt des Königs. Der Chemiker und Mediziner St., von Haller als „homo metaphysicus" bezeichnet, führt einen entscheidenden Erkenntnisfortschritt in den beiden von ihm vertretenen Wissenschaften herbei durch Anwendung philosophisch geschulten systematischen Denkens auf die ungeordneten fachwissenschaftlichen Einzelbeobachtungen. In der Chemie bricht er die alte alchemistische Tradition durch Zusammenfassung und Erklärung aller Verbrennungsvorgänge in seiner Theorie vom Phlogiston als brennbarem Prinzip. Auch in der Medizin deutet er sämtliche Vorgänge, sowohl des gesunden als des kranken Organismus, von e i n e r Theorie aus. Er lehrt, daß das Leben und alle Lebensvorgänge, auch die körperlichen, ihre Triebfeder ausschließlich in der Tätigkeit der Seele haben. Doch ist es nicht die mit Selbstbewußtsein ausgestattete, unsterbliche Psyche, die den Körper aufbaut und regiert, sondern die anima inscia, der aristotelischen anima vegetativa wie auch dem archeus von Paracelsus und van Helmont verwandt. Phlogiston-Theorie und Animismus haben als Arbeitshypothesen die Einzelwissenschaften gefördert und in der Philosophie Schule gemacht. Der Animismus hat neue Einsichten in das Wesen der Geisteskrankheiten und der Grenzphänomene zwischen gesundem und krankem Denken eröffnet. In seiner Gegnerstellung gegen jede mechanische Auffassung ist St. durch seine tiefe Religiosität und durch Versenkung in die LeibnizWolffsche Philosophie bestimmt. — Auf St. werden 240 wissenschaftliche Schriften und Abhandlungen zurückgeführt. S c h r i f t e n : Theoria medica vera, Halle 1707, 1831 f.; dt. 3 Bde., hrsg. v. K. W . Ideler, 1832/33 (enthält die Theorie des Animismus). — Disquisitio de mechan, et organ. diversitate. — De scopo et fine corporis. — De temperamentis. Experimenta, observationes, et animadversiones chymico-physicae, Berlin 1731, L i t e r a t u r : B. Lepsius, Art. St., in: Allg. Dte. Biographie, Bd. 35 (1893), S. 780—786. — Paul Diepgen, Geschichte der Medizin, Bd. III, 1919, S. 69 f. (Göschen Nr. 786). — Newton, St., Boerhaave et la doctrine chimique, 1930.
Stahr, Adolf, geb, 22. Oktober 1805 in Prenzlau (Uckermark), gest. 3. Oktober 1876 in Wiesbaden. 1825 Studium der Theol. und klassischen Philologie in Berlin und Halle. 1836 Gymnasialprofessor in Oldenburg. 1845 Bekanntschaft, 1854 Heirat mit Fanny Lewald. Freundschaft mit Arnold Ruge. St. hat durch Forschungen zur Geschichte der antiken Philosophie und durch Deutung der aristotelischen Schriften die philosophische Fachwissenschaft bereichert.
S c h r i f t e n : Aristotelea, 1830—1832. — Aristoteles bei den Römern, 1834. — Politik des Aristoteles, hrsg. 1836—1838. — Aristoteles u, die Wirkung der Tragödie, 1859. — Poetik, Politik, Rhetorik, Ethik des Aristoteles, 1860—1863. — Charakteristik Immermanns, 1842. — Weimar u. Jena, 2 Bde., 1852; 3. A. 1892. — Johann Heinrich Mercks ausgewählte Schriften zur schönen Literatur u. Kunst, 1840. — Shakespeare in Deutschland, 1843. — Kleine Schriften zur Kritik der Literatur u. Kunst, 2 Bde., 1845. — Kunst, Künstler u.
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Stallbaum — Stammler
Kunstwerk der Alten, 2 Bde., 1854/55; 2. A. 1878. — Lessing, sein Leben u. seine Werke, 2 Bde., 1859; 9. A. hg. v. Fanny Lewald, 1887. — Fichte, ein Lebensbild, 1862. — Aus der Jugendzeit, 2 Bde. (Autobiographie), 1870—1877. — Aus Adolf St.s Nachlaß. Briefe von St. nebst Briefen an ihn, hrsg. von L. Geiger, 1903. L i t e r a t u r : Ludwig Fraenkel, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr,, Bd. 35 (1893), S. 403—406. — G. Jansen, A. St.s letzte Jahre, 1904.
Stallbaum, Johann Gottfried, geb. 25. September 1793 in Zaasch bei Delitzsch (Prov. Sachsen), gest. 24. Juni 1861 in Leipzig. Studium der Theol. und Philologie in Leipzig. Ab 1818 Lehrer, später Rektor an den Franckeschen Stiftungen in Halle. Seit 1840 a. o. Prof. an der Universität Leipzig. St. ist Interpret und Editor der Dialoge Piatos.
S c h r i f t e n : Gesamtausgabe Piatos, 12 Bde., 1821—1825; 2. Ausgabe, 10 Bde. mit Kommentaren, 1827—1860. — Piatos Parmenides mit dem Komm, des Proklus, 1839. — Diatribe in Piatonis Politicem, Diss., Lpz, 1840. L i t e r a t u r : R. Hoche, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 35 (1893), S. 422 f.
Stallo, John Bernhard, geb. 1823 in Sierhausen (Oldenburg), gest. 1910. Geht 1839 in die Vereinigten Staaten, 1872 als Gesandter nach Italien. St. vertritt einen positivistischen Standpunkt, verwandt mit Mach und Pearson.
S c h r i f t e n : Die Begriffe u. Theorien der modernen Physik, dt., Leipzig 1901. — General principles of the philosophy of nature, 1841, — Reden, Abhandlungen u. Briefe.
Stammler, Gerhard, geb. 3. Mai 1898 in Halle (Saale). Studium in Berlin. 1924 Pd. für Philosophie in Halle, 1938 a. o. Professor, 1939 o. Professor dort. S c h r i f t e n : Berkeleys Philosophie der Mathematik, Diss., heft der Kantstudien, Nr. 55, 1922. — Leibniz, 1930. — Deutsche Tode, Bd. I, 1936, — Ausdruck u. Stil in der Wissenschaftsgesch., 1940. — Zur Klärung des Verhältnisses von Wissenschaft u. Gott, 1, 2, 1939. — Hallesche Vertreter der Philosophie, 1944.
Berlin, als: ErgänzungsLogikarbeit seit Hegels in: Wehrung-Festschrift, in: Deutsche Theologie,
Stammler, Rudolf, geb. 19. Februar 1856 in Alsfeld (Hessen), gest. 25. Mai 1938 in Wernigerode. 1880 Habilitation für röm. Recht in Leipzig. 1882 a. o. Professor in Marburg, 1884 in Gießen, 1885 ord. Professor in Halle, 1916—1923 in Berlin. Als Vertreter des Neukantianismus in der Rechtsphilosophie, als der er sich auch eingehend mit der materialistischen Geschichtsauffassung auseinandersetzt, sieht St. das „Wesen eines Gegenstandes" bestimmt durch die „Einheit seiner Bedingungen", und er fragt somit nach der einheitlichen Art des Vorstellens, die als Recht bestehen kann. (Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928, S. 53.) Unabhängig von allen besonderen empirischen Inhalten, bedeutet der Rechtsbegriff „nichts als ein Verfahren des geistigen Ordnens. In diesem Sinne ist er von unbedingter Gültigkeit" (S. 55). Wie ganz allgemein das gesellschaftliche Dasein der Menschen die Verbindung ihrer Zwecke bedeutet (S. 75), so ist das rechtliche Wollen insbesondere „eine Klasse des verbindenden Wollens", es ist das „unverletzbar selbstherrlich verbindende Wollen" (S. 93). Es ist als solches auch die „logische Bedingung der Sozialwissenschaft" (S. 115) und nicht nur ein „Überbau" über der Wirtschaft als dem „Unterbau". „Sobald man . . . den Inhalt von menschlichem Wollen richtet, so wird als Maßstab und Ziel unvermeidlich ein solcher Willensinhalt gesetzt, der das Prädikat r i c h t i g verdient. Da es sich bei dem R e c h t e um jenes handelt, so erhalten wir als Problem d i e L e h r e v o n d e m r i c h t i g e n R e c h t e." (D. Lehre v. d. richtigen Recht, 1926; S. 45,) Dieses richtige Recht ist ein „positives Recht dann, wenn es in seinem bestimmten Fordern und Verneinen die Rücksicht auf den einheitlichen Grundgedanken des rechtlichen Wollens überhaupt als wesentlichen Rechtspunkt innehält." Es „steht nicht außerhalb des gesetzten Rechtes als eine irgendwelche Norm mit nichtrechtlichen Anforderungen; es ist begrifflich nicht
Standonck
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identisch mit angestrebtem Rechte gegenüber einem geschichtlich gewordenen; seine Eigentümlichkeit liegt nicht in einer besonders gearteten tatsächlichen Herkunft. Das richtige Recht ist gesetztes Recht, dessen Inhalt besondere sachliche Eigenschaften hat; es bezieht sich auf alles Recht, auf das gewesene, daseiende, kommende; es bedeutet eine kritische Abwägung eines geschichtlich erwachsenden Rechtsinhaltes, indem es diesen als richtig oder als unberechtigt systematisch abteilt" (S. 53). Das Recht überhaupt ist der „Zwangsversuch zum Richtigen", und seine allgemeine Begründung liegt darin, daß es ,,die notwendige Bedingung ist, um das soziale Leben der Menschen gesetzmäßig auszugestalten" (S. 56). Will man die Menschengeschichte im Sinne der Entwicklung als eine einheitliche ansehen, dann liegt dieser Einheitsgedanke in der „Idee einer unbedingten Harmonie aller denkbaren Willensinhalte beschlossen. Ihre Anwendung auf das menschliche Zusammenleben gipfelt in der Aufgabe von der Richtigkeit eines Rechtes." Dieser Begriff erweist sich somit „als das grundlegende Element für die Aufgabe: das Ganze der sozialen Geschichte als eine Einheit zu verstehen" (a. a. O. S. 370). S c h r i f t e n : Rechtsphilosophische Abhandlungen u. Vorträge, 2 Bde., 1925. — Die Bedeutung des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches für den Fortschritt der Kultur, 1900. — Mandevilles Bienenfabel, 1918. — Die Gerechtigkeit in der Geschichte, 1915. •—• Die materialistische Geschichtsauffassung, 1921. — Die Gesetzmäßigkeit in Rechtsordnung und Volkswirtschaft, 1902. — Rechtsphilosophische Grundfragen, Bern 1928. — Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1922; 3. Aufl. 1928. — Die Lehre vom richtigen Recht, 1902, neubearb. Aufl. 1926. — Praktikum der Rechtsphilos,, Bern 1925. — Rechts- und Staatstheorien der Neuzeit, 1917; 2. verb. Aufl. 1925. — Der Richter, 1924, in: Das Tagewerk, Bd. 1. — Sozialismus u. Christentum. Die Theorie des Anarchismus, 1894. — Theorie der Rechtswissenschaft, 1911; 2. Aufl. 1923. — Wirtschaft und Recht nach der materialist. Geschichtsauffassung, 1896; 5. Aufl. 1924. — Deutsches Rechtsleben in alter u. neuer Zeit, 2 Bde., 1928—1932. — Herausg.: Zeitschrift für Rechtsphilos., 1913 f. L i t e r a t u r : Max Weber, R. S.s Überwindung d. material. Geschichtsauffsg., Ges. W. III. —• Isaak Breuer, Der Rechtsbegriff als Grundlage der St.schen Sozialphilosophie, 1912; in: Kantstudien, Erg.H. 27. — Binder, Julius, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 1915. — Köster, Otto, Der Rechtsbegriff der ungerechtfertigten Bereicherung . . . mit bes. Rücksicht auf St.s Rechtsphilosophie, Diss., Greifswald 1917. — Festgabe für R. St. zum 70, Geb., hrsg. v. E, Tatarin-Tarnheyden, 1926. — Gerhard Goepel, Über St.s Rechtsphilosophie, Diss., J e n a 1915. — Heinrich Graff, Die Allgemeingültigkeit des St.schen „sozialen Ideals", Diss., Königsberg 1924. —• Erich Kränzlein, Die Naturrechtsphilos. St.s, Diss., Erlangen 1935. — Festschrift zum 80. Geb., hrsg. v. C. A. Emge, 1936; in: Arch. für Rechts- und Sozialphil., Jg. 29, H. 2. — Gamschei Abraham Wielowski, Die Neukantianer u. die Rechtsphil., 1913. — Werner Gornickel, Der Rechtsbegriff bei R. St., Diss., Berlin 1943.
Standonck, Johann, geb. in Mecheln, gest. 7. Februar 1504 in Paris. Besuch der von den Brüdern des Gemeinsamen Lebens gegründeten Schule in Gouda (Niederlande). Studium in Paris. 1485 Prof und Rektor an der Univ. Paris am Collegium Montaigu, mit zwölf Bursen für arme Studenten. Erasmus weilte dort, auch Ignatius von Loyola. Von König Ludwig XII. ausgewiesen. Vorübergehende Rückkehr in seine Heimat, Einführung pädagogischer Reformen in Mecheln, Löwen, Gent. 1493 erneut Rektor der Pariser Universität. St, gehört zu den H a u p t v e r t r e t e r n der devotio m o d e r n a in den Niederlanden, die von den „ B r ü d e r n des gemeinsamen Lebens", einer G r ü n d u n g von Ruysbrock u n d Gert Groote, gepflegt wurde. Getreu ihrem auf christliche Liebestätigkeit u n d Gemeinschaftserziehung der J u g e n d abzielenden Streben richtet er in F r a n k r e i c h u n d den Niederlanden Bildungsstätten ein, die auch f ü r Deutschland vorbildlich wurden. L i t e r a t u r : Altmeyer, Les précurseurs de la Réforme dans les Pays-Bas, I, S. 146 fi.
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Stange — Stapfer
— J . C. van Slee, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1893), S. 330 f. — Hyma, Christian Renascence, 1932.
Stange, Carl, geb. 7. März 1870 in Hamburg. Studium der Theol. in Halle, Göttingen und Leipzig. 1895 Hab. in Halle. 1903 Prof. in Königsberg, 1904 Ordinarius für systemat. Theol. in Greifswald, 1912 in Göttingen. Emeritiert 1935. Ehrendoktor der Theol. — Der Theologe St. widmet sich der Erforschung ethischer Probleme und entwickelt eine Religionsphilosophie.
S c h r i f t e n : Die christl. Ethik in ihrem Verhältnis zur modernen Ethik, 1892, — Die systematischen Prinzipien in der Theol. des Johann Musäus, 1895. — Das Dogma u. seine Beurteilung in der neueren Dogmengesch., 1898. — Einleitung in die Ethik, 2 Bde., 1901/1902; 2. A. 1923. — Das Problem Tolstois, 1903. — Der Gedankengang der Kritik der reinen Vernunft, 1902. — Luthers älteste ethische Disputationen, 1904. — Grundriß der Religionsphilosophie, 1907; 2. A. 1922. — Christentum u. moderne Weltanschauung, 2 Bde., 1911—1914. — Die Rel. als Erfahrung, 1914. — Luther u. das sittliche Ideal, 1919. — Hauptprobleme der Ethik, 1922. — Dogmatik, Bd, I, 1927. — Studien zur Theol. Luthers, Bd. I, 1928. — Das Ende aller Dinge, 1930. — Luthers Gedanken über die Todesfurcht, 1932. — Weltweites Luthertum, 1936. — Erasmus u. Julius II., eine Legende, 1937. — Lorenzo il Magnifico, 2 Bde., 1940. — Hrsg.: Zeitschrift f. systematische Theologie, seit 1923. L i t e r a t u r : Johann Adolf Rust, Carl St., 1920. — Rudolf Hermann, Fragen u. Erwägungen zu St.s Religionsphilosophie, 1921. — Joachim Beckmann, Der Begriff der religiösen Erfahrung bei St., Diss., Münster 1924. — Paul Althaus, Unsterblichkeit und ewiges Sterben bei Luther, 1930, in: Studien des apologet. Seminars, H, 30.
Stanley, Thomas, geb. 1625 in Cumberlow, Hertfordshire, gest. 12, April 1678 in London. 1648 M. A. in Oxford. Der englische Dichter und Schriftsteller St. ist Verfasser einer „Geschichte der Philosophie", die lange Zeit als autoritativ galt für das Problem der Entwicklung des griechischen philosophischen Denkens. Nur für die vorchristliche Zeit gesteht St. die Existenzberechtigung der Philosophie als der Suche nach Wahrheit zu; in der christlichen Theologie ist diese Wahrheit vorhanden. Sie macht daher eine selbständige Philosophie überflüssig. St. wählt im Anschluß an Diogenes Laertius die Form einer Reihe von kritischen Biographien einzelner Philosophen, beginnend mit Thaies. Zu einer wichtigen Quelle für die Kenntnis orientalischer Philosophie wurde der vierte Band von St.s Philosophie-Geschichte, The History of Chaldaick Philosophy. S c h r i f t e n : History of philosophy, 3 Bde., London 1655—1661; 2. A. 1687; 3. A. 1701; ins Lat. übersetzt von Gottfried Olearius, Leipzig 1711 u. Venedig 1733. — History of Chaldaick philosophy, ins Lat. übers, von J , Le Clerc, Amsterdam 1690; engl, erschienen als 4. Bd, der Hist. of phil., 1662. — Hrsg.: Aeschylus, 1663/64.
Stapfer, Johann Friedrich, geb. Januar 1708 in Brugg, gest. 1775 in Dießbach bei Thun. Studium in Bern und in Marburg bei Wolff, — Der reformierte Theologe St. ist orthodoxer Wolffianer. Er bemüht sich, die Wahrheit des Christentums mit demonstrativer Methode evident zu machen. S c h r i f t e n : Institutiones theologicae polemicae universae, 5 Bde., 1743. — Grundlegung zur wahren Rel., 12 Bde., 1746—1753. — Sittenlehre, 6 Bde., 1757—1766. — Anweisung zur wahren Rel., 1753, L i t e r a t u r : P. Tschackert, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr,, Bd. 35 (1893), S. 450.
Stapler, Philipp Albert, geb. 23. September 1766 in Bern, gest. 27. März 1840 in Paris. Studium in Bern und Göttingen. 1792 Prof. für Theol. an der Akademie, und für Philosophie und Philologie am politischen Institut in Bern. 1798 Minister der Künste und Wissenschaften. Enge Freundschaft mit Alexander von Humboldt. — St.s philosophische Veröffentlichungen stehen unter dem Einfluß seiner Beschäftigung mit Kant und mit der sokratischen Philosophie,
Stapledon —• Stattler
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S c h r i f t e n : De philosophia Socratis, 1786. — De vitae immortalis spe, 1787. — Die fruchtbarste Entwicklungsmethode der Anlage des Menschen, zufolge eines kritischphilos. Entwurfs der Kulturgesch. unseres Geschlechts, 1792. — De natura, conditore et incrementis Reipublicae ethicae, 1797, — Artikel: Sokrates, Kant, in: Biographie universelle. — Mélanges philosophiques, littéraires, historiques et religieux, hg. v, Vinet, 2 Bde., Paris 1844. L i t e r a t u r : Rudolf Luginbiihl, Ph. Alb. St., Basel 1887; Aus Ph. A. St.s Briefwechsel, in: Quellen zur Schweizer Gesch., Bd. 11 u. 12, 1891; Alexandre de Humboldt et Ph. A. St., Basel 1891. — Alfred Stern, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 35 (1893), S. 451—456.
Stapledon, William Olaf, geb. 10. Mai 1886 auf der Insel The Wirrai. Erziehung in Oxford, Lehrer in Manchester, Tätigkeit in Port Said an Schiffsagentur. Dann Lektor für Gesch. und englische Literatur, später für Philosophie und Psychologie an der Universität Liverpool. — Der englische Schriftsteller St. behandelt als Philosoph vor allem ethische und soziologische Themen. S c h r i f t e n : A modern theory of ethics, 1929. — Philosophy and living, 1938. — Saints and revolutionaries, 1939. — Beyond the 'Isms'. — Life into death. — Zahlreiche Zeitschriftenartikel.
Stapulensis, s. Faber, Jacobus. Starbuck, Edwin Diller. Prof. in Iowa, U.S.A. — Der amerikanische Religionsphilosoph und -psychologe St. untersucht die religiösen Phänomene, vor allem die „Bekehrung", auf Grund autobiographischer Angaben nach statistischer Methode, um zu erkennen, „welche Grundzüge im religiösen Wachstum für die Menschen im allgemeinen gültig sind". S c h r i f t e n : The psychology of religion, 1899; 2. A. 1901; dtsch, 2 Bde., Leipzig 1909. — What is religion? 1910. — The child mind and child religion, 1909.
Starcke, Carl Nicolai, geb. 1858, gest. 1926. Prof. in Kopenhagen von 1916 an. — Der dänische Philosoph St., der Höffding nahesteht, erforscht vor allem ethische und soziologische Probleme. S c h r i f t e n : L. Feuerbach, 1883—85. — Die primitive Familie, 1886; dt. 1888. — Über die theoretischen Grundlagen der Ethik, 1889. — Über den Skeptizismus, 1890. — Das Gewissensleben, eine Darstellung der Prinzipien für die menschliche Gemeinschaft, dän., 1894 bis 1897.
Staseas von Neapel, lebte im ersten vorchristl. Jahrhundert. Peripatetiker. Staszic, Stanislaw, geb. 6. November 1755 in Schneidemühl, gest. 20. Januar 1826 in Warschau. Staatsmann und Erzieher. — St. ist in seinem Hauptwerk, einer Philosophie der Geschichte in Form eines Lehrgedichts und unter dem Titel „Das menschliche Geschlecht", von Gedanken Rousseaus und von Herders „Ideen" beeinflußt. Als Vorläufer des Messianismus in Polen entwickelt er erstmalig die Lehre von der Reinkarnation. S c h r i f t e n : Rod ludzki (Das menschliche Geschlecht), verfaßt 1792 bis 1818, herausg. in 3 Bden. 1820. — Werke, 9 Bde. (poln.), 1816—1820. — Reisetagebuch 1789 bis 1805 (poln.), 1931. — Pädagogische Schriften (poln.), 1926. L i t e r a t u r : Cz. Lesniewski, St. St., Warschau 1926, — Viktor Hahn, St. St., Leben u. Werke (poln.), 1926. — J. Wojewodzki, Stanislaw St., Warschau 1879.
Stattler, Benedikt, geb. 30. Januar 1728 in Kötzting (Bayrischer Wald), gest. 21. August 1797 in München. 1745 Eintritt in den Jesuitenorden. 1747 bis 1754 Studium der Theol. und Philos, in Innsbruck. 1759 Priesterweihe. Dozent für Philos, und Theol. in Solothurn und Innsbruck. 1770 D. theol. 1773 bis 1781 Prof. für Dogmatik in Ingolstadt, 1773 Mitglied der Münchner Akademie. 1780 Reise nach Rom zur Verteidigung gegen Angriffe.
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Staudenmaier — Staudinger
St. will im G e g e n s a t z z u r S c h o l a s t i k die D o g m a t i k philosophisch behandeln. S e i n e e k l e k t i s c h e P h i l o s o p h i e e n t h ä l t E l e m e n t e der E r k e n n t n i s l e h r e L o c k e s u n d ist w e s e n t l i c h beeinflußt v o n der V e r n u n f t w i s s e n s c h a f t W o l f i s . S t . ist e r k l ä r t e r G e g n e r K a n t s . Z u seinen S c h ü l e r n g e h ö r t S a i l e r . S c h r i f t e n : Tractatio cosmologica de viribus et natura corporum, 1763. — Mineralogiae et metallurgicae principia physica, 1765. — Mineralogia specialis, 1766. — Philosophia methodo scientiis propria explanata, 8 Tie., 1770—1772. — Compendium philosophiae, 1773. — Demonstratio evangelica, 1770. — Demonstratio catholica, 1775, — De locis theologicis, 1775. — Theologia christiana theoretica, 6 Bde., 1776—1780. — Ethica christiana universalis, 1772; 1793. — Ethica christiana communis, 3 Tie., 1772—1789; 1791—1802. — Wahres Jerusalem oder über religiöse Macht u, Toleranz in jedem und besonders im kathol. Christentum, aus Anlaß des Mendelssohnschen J e r u s a l e m u. einiger Gegenschriften. Nebst einem Nachtrag an Herrn Nicolai in Berlin, 1787. — Plan zu der allein möglichen Vereinigung im Glauben der Protestanten mit der katholischen Kirche u. von den Grenzen dieser Möglichkeit, 1791. — Vollständige christl. Sittenlehre, 2 Bde., 1789 u. 1791. — Allg. katholisch-christl. Sittenlehre oder wahre Glückseligkeitslehre, 2 Bde., 1791. — Allg. katholisch-christl. theoretische Rel.lehre, 2 Bde., 1793. — Anti-Kant, 2 Bde., 1788. — Widerlegung der kantischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1789. — Der Anti-Kant im Kurzen, 1791. — Kurzer Entwurf der unausstehlichen Ungereimtheiten der Kantischen Phil, samt dem Seichtdenken so mancher gutmütiger Hochschätzer derselben, hell aufgedeckt für jeden gesunden Menschenverstand u. noch mehr für jeden, auch nur ersten Anfänger im ordentlichen Selbstdenken, 1791. — Meine noch immer feste Überzeugung von dem vollen Ungrunde der Kantischen Phil. u. von dem aus ihrer Aufnahme in die christl. Schulen entstehenden äußersten Schaden für Moral u. Rel., 1794. — Wahres Verhältnis der Kantischen Phil, zur christl. Religion u. Moral, 1794. — Das Geheimnis der Bosheit des Stifters des Illuminatismus, 1787. — Unsinn der französischen Freiheitsphil, im Entwürfe ihrer neuen Constitutionen, zur Warnung u. Belehrung deutscher französelnder Philosophen in das helle Licht gestellt, 1791. L i t e r a t u r : Sailer, Kurzgefaßte Biographie B. St.s, 1798. — Reusch, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 35 (1893), S. 498—506. — S. Georg Huber, Benedikt St. und sein Anti-Kant, 1. Tl.: St. u. seine Kritik der transzend. Ästhetik u. Kategorienlehre, Diss., München 1904. S t a u d e n m a i e r , F r a n z A n t o n , geb. 11. S e p t e m b e r 1 8 0 0 in D o n z d o r f ( W ü r t t . ) , gest. 19. J a n u a r 1 8 5 6 in F r e i b u r g i. B r . S t u d i u m der T h e o l . in Tübingen, 1 8 2 7 P r i e s t e r w e i h e . 1 8 3 0 o. P r o f . in Gießen, 1 8 3 7 in F r e i b u r g i. Br., d o r t 1 8 4 3 D o m k a p i t u l a r . — D e r T h e o l o g e St. bemüht sich u m spekulative D u r c h d r i n g u n g des katholischen Lehrsystems. S c h r i f t e n : J o h a n n e s Scotus Erigena u. die Wissenschaften seiner Zeit, 1834. — Enzyklopädie der theol. Wissenschaften, 1834, — Der Pragmatismus der Geistesgaben oder das Wirken des göttlichen Geistes im Menschen u, in der Menschheit, 1835. — Der Geist der göttl. Offenbarung oder Wissenschaft der Gesch.prinzipien des Christentums, 1837; 8. A., 2 Bde., 1880. — Über das Wesen der Universität, 1839. — Die Philosophie des Christentums oder Metaphysik der Hl. Schrift, 1840. — Darstellung u. Kritik des Hegelschen Systems, 1844. — Die christl. Dogmatik, 4 Bde., 1844—1852, — Das Wesen der kath. Kirche, 2. A, 1845. — Zum religiösen Frieden der Zukunft, 3 Bde., 1846—1851. — Mitbegründer der „Jahrbücher für Theol. u. christl. Philosophie", 1834. L i t e r a t u r : Reusch, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd, 35 (1893), S. 510—512. — F . Lauchert, Franz Anton St., 1901. — Phil. Weindel, Das Verhältnis von Glauben u. Wissen in der Theol, Franz Anton St.s, 1940, in: Abh. aus Ethik u. Moral, Bd. 14. S t a u d i n g e r , F r a n z , geb. 15. J a n u a r 1 8 4 9 in W a l l e r s t ä t t e n bei G r o ß - G e r a u , gest. N o v e m b e r 1921, G y m n a s i a l - P r o f e s s o r in W o r m s und in D a r m s t a d t . D r . phil. St. w u r d e u n t e r d e m Einfluß v o n C o h e n u n d N a t o r p K a n t i a n e r , mit Hinneigung z u r M a r b u r g e r R i c h t u n g des N e u k a n t i a n i s m u s . D a s H a u p t g e w i c h t legte e r auf die B e i b e h a l t u n g der t r a n s z e n d e n t a l e n M e t h o d e K a n t s , in Ablehnung v o n P s y c h o l o gismus und N a t u r a l i s m u s . Die k a n t i s c h e B e g r ü n d u n g v o n R a u m , Z e i t u n d K a t e g o r i e n
Stäudlin
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im Bewußtsein hielt er für eine ontologische Behauptung. Seine eigenen Forschungen gelten der Ethik und ihren Forderungen an Individuum und Gemeinschaft. In der Auseinandersetzung mit Theobald Ziegler kommt er zu der Behauptung, daß die sittliche Frage eine soziale Frage sei. Seine Kritik am kapitalistischen System des alten Liberalismus nähert ihn dem Sozialismus, dem er die höhere Ethik zuspricht, und die höhere F o r m der Sittlichkeit. Das Ideal sei eine Ergänzung von Marx, der die Verbindung von Ökonomie und Ethik vernachlässigt habe, durch die Gedankengänge Kants. In seiner Untersuchung über die „Kulturgrundlagen der Politik" führt St. alles Leben in der Gemeinschaft auf vier Willensformen zurück: Kampf und Beherrschung, Tausch und Gemeinschaftlichkeit. Sie kreuzen und verflechten sich miteinander. St.s praktische Arbeit galt der genossenschaftlichen Bewegung. Das systematische Element im Kantianismus betont St. auch in seiner Arbeit über „Religion in Vernunft und Leben", die Kants Denkweise weiterentwickeln will, jedoch nicht kritiklos. Gegen Kant wendet er ein, daß die Religion nicht nur Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote sei und daß Gott nicht ein Postulat bleiben dürfe. Religion kann nur als Vernunftbestimmung erkannt werden; man darf sie nicht psychologisch aus den Erlebnissen des Individuums deuten. Wer die Welt allein vom Ich oder allein vom Gegenstand aus erklären will, kann niemals das Wesen der Religion erfassen. Die Marburger Schule hat deutlich gezeigt, daß Kant die B e z i e h u n g zwischen Ich und Gegenstand in ihrer Wichtigkeit erkannte. Diese Beziehung tritt auf den verschiedenen Lebensgebieten in verschiedener Gestalt auf. St. bemüht sich um Heraushebung dieser „vermittelnden Lebensbeziehungen", ohne sie jedoch aus einem allgemeinen Prinzip abzuleiten. S c h r i f t e n : Noumena, Darmstadt 1884, — Das Sittengesetz. Untersuchungen über die Grundlagen der Freiheit u. Sittlichkeit, Berlin 1887; 2. A. 1897. — Sonst, Heut u. Einst in Religion u, Gesellschaft, 1889. — Die sittliche Frage eine soziale Frage, in: Philosophische Monatshefte, 1891/92. — Ethik u. Politik, Berlin 1899. — Wirtschaftliche Grundlagen der Moral, Darmstadt 1907. — Sprüche der Freiheit, wider Nietzsches und anderer Herrenmoral, Darmstadt 1904. — Individuum u. Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins, Jena 1913. — Kulturgrundlagen der Politik, Bd. I: Ausgangspunkt u. Methoden, Bd. II: Ursachen und Ziele, Jena 1914, — Religion in Vernunft u. Leben, Darmstadt 1916. — Kants Traktat zum ewigen Frieden, in: Kantstudien, Bd. I, 1896, S. 301—314. — Über einige Grundfragen der Kantschen Philosophie, in: Archiv für systematische Philos., Jg. 2, S. 207—234. — Kants Bedeutung für die Pädagogik der Gegenwart, in: Kantstudien, Bd. IX, 1904, S. 211—245. — Kant u. der Sozialismus, in: Sozialistische Monatshefte, 1904, S, 103—114. L i t e r a t u r : Karl Vorländer, Franz St. zum Gedächtnis, in: Kantstudien, Bd. 28, 1923, S. 484 ff.
Stäudlin, Karl Friedrich, geb. 25. Juli 1761 in Stuttgart, gest. 5. Juli 1826 in Göttingen. 1779—1784 im Tübinger Stift, 1781 Magister. 1786—1790 Reisen durch Deutschland, Frankreich, England und die Schweiz mit Zöglingen. 1790 o. Prof. der Theologie in Göttingen. 1792 Dr. theol. Der Theologe St, nennt seinen Standpunkt den eines „vernünftigen Offenbarungsglaubens" und erklärt: „Ich bekenne offen und freimütig, daß mir das Christentum nur als vereinigter Rationalismus und Supranaturalismus begründet und haltbar zu sein scheint; es dringt auf den Gebrauch der Vernunft und aller unserer Geistesund Seelenkräfte für Religions- und Sittenlehre, aber auf einen gemäßigten, bescheidenen und demütigen, und zugleich auf den Glauben an die übernatürliche, durch den Sohn Gottes geschehene Offenbarung" (Gesch. des Rationalismus u. Supernat., 1826, S. 468). In seinen Schriften zur theologischen Moral stützt sich St. anfänglich auf Kants Sittenlehre. „Später habe ich eingesehen, daß die kritische Moralphilosophie einseitig ist." Er begnügt sich dann mit der Göttlichkeit der
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Stavenhagen — Stebbing
Sittenlehre Jesu und verzichtet auf das absolut höchste Prinzip der Moral. St. erhebt für sich den Anspruch, als Erster eine Geschichte der Moral in Angriff genommen und damit ein neues Fach der Wissenschaft begründet zu haben. S c h r i f t e n : Ideen zur Kritik des Systems der christlichen Religion, Gött, 1791. — Gesch. u. Geist des Skeptizismus, vorzüglich in Rücksicht auf Moral u. Rel., 2 Bde., Lpz. 1794, — Die Gesch, der Moral der Hebräer, Programm, 1794. — Die Moral d e r Kirchenväter, 1796. — De legis Mosaicae momento et ingenio, 1796/97. — De p r o p h e t a r u m doctrina morali, 1798. — Grundriß der Tugend- u. Religionslehre, 1798—1800. — Gesch. der Sittenlehre J e s u , Bd. I, 1799; Bd. II, 1802; III, 1812; IV, 1822. — Grundsätze der Moral, 1800. — Die Moral der apostolischen Väter, 1800. — Kirchliche Geographie u. Statistik, 2 Bde., Gött, 1804. — Philosophische u. biblische Moral, 1805. — Gesch. der philosophischen, hebräischen u. christlichen Moral, Hannover 1806, — Universaigesch, d e r christl. Kirche, 1806; 5. A, 1833. — Gesch. der christl. Moral seit dem W i e d e r a u f l e b e n der Wissenschaften, 1808. — Gesch, der theolog, Wissenschaften seit der Ausbreitung d e r alten Lit., 2 Bde., Gött. 1810/11. — Moral d e r Scholastiker, 1812. — Vier lat. Programme über Berengar von Tours, 1814—1822. — Neues Lehrbuch der Moral für Theologen, Gött. 1815; 3. A. 1825. — Kirchengesch. v. Großbritannien, 2 Bde., Gött. 1819. — Lehrbuch der Enzyklopädie, Methodologie u, Gesch. der theol, Wissenschaften, 1821. — Gesch. der Moralphilos., 1823. — Gesch. der Vorstellungen von der Sittlichkeit des Schauspiels, 1823, — Vom Selbstmord, 1824, — Gesch. vom Eide, 1824. — Vom Gebet, 1824. — Vom Gewissen, 1824. — Von der Ehe, 1826. — Von der Freundschaft, 1826. — Gesch. des Rationalismus u, Supernaturalismus, Gött. 1826. — Gesch. u. Lit. der Kirchengesch., aus dem Nachlaß hrsg. v, J . T. Hemsen, 1827 (enthält Briefe Kants an St.). — Zahlreiche Zeitschriften-Artikel. — Hrsg.: Beiträge zur Philos. u. Gesch. der Rel.- und Sittenlehre, 5 Bde., Lübeck 1797—1799; Magazin für Religions-, Moral- und Kirchengesch., 4 Bde., Hannover 1801—1806, L i t e r a t u r : P. Tschackert, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 35 (1894), S. 516—520. — v. H e n k e u. Wagenmann, Art. St, in: Realenzykl, für prot. Theol. u. Kirche, Bd. 18 (1906), S. 741—744. — Selbstdarstellung in: Zur Erinnerung an D. Stäudlin, mit Schriftenverzeichnis, hrsg. v, J . T. Hemsen, Gött. 1826.
Stavenhagen, Kurt, geb. 25. Dezember 1884 in Tuckum (Kurland), Dr. phil., 1921 Dozent, 1927 o, Professor am Herder-Institut in Riga, 1940 in Königsberg, 1941 in Posen, 1945 Lehrauftrag für Philosophie in Hamburg, 1946 in Göttingen. S c h r i f t e n : Achtung als Solidaritätsgefühl u. Grundlage von Gemeinschaften, 1931, — Das W e s e n der Nation, 1934. — Kritische Gänge in d. Volkstheorie, 1935. — Heimat als Lebenssinn, 1939; 2, A. 1948. — Kant u. Königsberg, 1948. — Soziologie als Wirklichkeitswiss., in: Nation u. Staat, 1931. — Problem der Staatsnation u. Kulturnation, e b e n d a 1932.
Stebbing, L. Susan, geb. 1885 in London, gest. 1943. Studium in Cambridge. M, A, in London mit einer Arbeit über „Pragmatism and French Voluntarism". 1913 bis 1915 Dozentin am King's College in London, später am Bedford College; dort 1933 Professor der Philosophie und Präsident der „Aristotelean Society". St. wurde durch das Werk des Hegelianers Bradley, „AppearanceandReality" für die Philosophie gewonnen. Von G. E. Moore hat sie den stärksten Einfluß empfangen. A. N. Whithehead weckte ihr Interesse für naturwissenschaftliche Philosophie. Im Mittelpunkt ihres Schaffens standen ethische Probleme. Ihr kritisches Vermögen setzte sie im Kampf gegen intellektuelle Unehrlichkeit und Scheinwissen bei den zeitgenössischen Philosophen ein. Durch polemische Schriften und Tätigkeit im Rahmen der Aristotelean Society übte sie wachsende Wirkung. S c h r i f t e n : Philosophy and the Physicists, (gegen Eddington und Jeans). — Thinking to some purpose, — Ideals and illusions, mit Einleitung von A. E. Heath, London 1941; in: T h e Thinker's Library, Nr. 119, London 1948. — M e n and moral principles, Hobhouse Memorial Lecture, L i t e r a t u r : A. H. Hannay, Philosophical Studie». Essays in memory of L. Susan Stebbing, London 1948.
Stefansky—Steffens
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Stefansky, Georg, geb. 8. November 1897 in Prag. Dr. phil. in Prag. 1926 Habilitation für neuere deutsche Literaturgeschichte an der Deutschen Universität Prag, danach in Berlin. 1929 bis 1933 Privatdozent in Münster (Westf). S c h r i f t e n : Das Wesen der deutschen Romantik, Kritische Studien zu ihrer Geschichte, 1923. — Die Macht des historischen Subjektivismus, 1924. — Das hellenischdeutsche Weltbild, Einleitung in die Lebensgesch. Schellings, 1925. — Schelling u. seine Zeit, hist.-kritische Briefausgabe, 2 Bde., 1928. — Ein neuer Weg zu H. v. Kleist, in: Euphorion, 23. Jg., H. 4. — Theorie des Paradoxen, in: Euphorion, 25. Jg., H. 3. —DiltheyStudien, in: Euphorion, 25. Jg., H. 2 und 26. Jg., H. 1. — J . Mosers Geschichtsauffassung, in: Euphorion, 28. Jg., H, 1. —• Grillparzers geistige Persönlichkeit, in: Festschrift für A. Sauer, 1925. — Mithrsg.: Zeitschrift Euphorion,
Steffen, Albert, geb. 10. Dezember 1884 in Murgenthal bei Bern. Der schweizerische Dichter und Schriftsteller St. kam nach starker Beeinflussung durch Dostojewski in die Gefolgschaft Rudolf Steiners und seiner Anthroposophie. S c h r i f t e n : Der Künstler zwischen Westen und Osten, 1925. — Die Künstler u. die Erfüllung der Mysterien, 1928. — Begegnungen mit Rudolf Steiner, 1926, — Goethes Geistgestalt, 1932. L i t e r a t u r : Robert Faesi, Gestalten u. Wandlungen schweizerischer Dichtung, 1922.
Steffens, Heinrich (Henrik), geb. 2. Mai 1773 in Stavanger (Norwegen), gest. 13. Februar 1845 in Berlin. Sohn eines deutschen Chirurgen. 1790 Studium der Theologie und der Naturwissenschaften, besonders der Mineralogie, in Kopenhagen. 1796 Habilitation für Naturgeschichte in Kiel. Geht 1798 nach Jena; persönliche Bekanntschaft mit Schelling, Goethe und A. W. Schlegel, und 1799 in Berlin mit Friedrich Schlegel, Tieck und Schleiermacher. 1802 Vorlesungstätigkeit in Kopenhagen. 1804 Prof. für Naturphilosophie und Mineralogie in Halle. 1811 o. Prof. für Physik in Breslau. 1813 und 1814 kämpft St. als Freiwilliger. 1817 in München Bekanntschaft mit F. H. Jacobi und Franz von Baader. 1832 Professor in Berlin. Der Mineraloge St. wurde ergriffen von Jacobis Briefen über die Lehre Spinozas und von Schellings „Ideen zu einer Philosophie der Natur" und „Von der Weltseele". Das Grundthema seines Philosophierens wird dadurch bestimmt und bereits in seinem Erstlingswerk „Beiträge zur inneren Naturgeschichte der Erde" (1801) angeschlagen. Es ist die Absicht, „alle Erscheinungen des Lebens in der Einheit der Natur und Geschichte zu verbinden und aus diesem Standpunkt der Einheit beider die Spuren einer göttlichen Absichtlichkeit in der großartigen Entwicklung des Alls zu verfolgen". St. vertritt den Gedanken einer schaffenden Natur, die stufenförmig von anorganischen Prozessen aus zum Gipfel der freien menschlichen Persönlichkeit emporsteigt. Der Mensch wird in der „Anthropologie" (1823) als lebendige Einheit von Geist und Natur erfaßt und als Mikrokosmos betrachtet. St. will die Geschichte der Natur als Geschichte der Menschheit ansehen, die Geschichte der Menschheit aber als Spiegel der Natur. „Die Geschichte ist das ewige Vorbild der Natur, die Natur das ewige Abbild und Gleichnis der Geschichte". Die Naturphilosophie St.s verbindet empirische Wissenschaft mit spekulativer Theorie. Daß der Naturforscher St. die seinen Wissenschaften zugrunde liegenden Tatsachen willkürlich als Analogien gebraucht und symbolisch verwendet, als getreuer Schellingianer, hat vor allem bei Herbart schärfste Kritik herausgefordert. Doch sind bei St. der Natursymbolik Grenzen gesetzt. Wohl ist er der Überzeugung, daß Naturtatsachen, zu deren Erkenntnis die Spekulation oft erst auf weiten Wegen und Umwegen gelangt, in überlieferten Mythen klar ausgedrückt sind; geht doch die Mythologie — wie die Poesie — auf unmittelbare göttliche Offenbarung zurück. Aber doch Philosophen-Lexikon
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Steffensen—Steffes
erklärt er sich gegen jeden Versuch, a priori aus der Mythologie zu deduzieren. Die Natur muß nach wissenschaftlichen Methoden erforscht werden, und erst für die wissenschaftlichen Ergebnisse ist ein Vergleich mit Mythen und mit ihrer Naturdeutung zulässig. St.s Erinnerungen „Was ich erlebte" (1840/44) sind eine Hauptquelle für die Erforschung des Geisteslebens zur Zeit der Romantik. S c h r i f t e n : Zu Schellings naturphilosophischen Schriften, 1800, in: Zeitschrift für spekulative Physik, Bd. I, S. 1—48 u. 88—121. — Beiträge zur inneren Naturgesch. der Erde, 1801. — Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, 1806. — Über die Idee der Universitäten, 1809: hrsg. v. Eduard Spranger, 1910. — Die gegenwärtige Zeit u. wie sie geworden, 2 Bde., 1817. — Karikaturen des Heiligsten, 2 Bde., 1819—22. — Schriften, alt u. neu, 2 Bde., 1821. — Anthropologie, 2 Bde., 1823; neue A. 1922. — Wie ich wieder Lutheraner ward, u. was mir das Luthertum ist, 1831. — Von der falschen Theologie u. dem wahren Glauben, 1823; 2. A. 1831. — Polemische Blätter zur Beförderung der spekulativen Physik, 1829—1835. — Novellen, 16 Bdchen., 1837/38. — Christi. Religionsphilosophie, 2 Bde., 1839. — Was ich erlebte, 10 Bde., 1840—44; 2. A. 1844--46. — Lebenserinnerungen, in Auswahl hrsg. von Friedrich Gundolf, 1908. — Nachgelassene Schriften, mit Vorwort von Schelling, 1846. — Nachweis über Nachlaßstücke, in: Kantstudien Bd. 17, S. 115. — Schriften, Auswahl, hg. v. M. Pulver, 1921. L i t e r a t u r : Zur Erinnerung an St., aus Briefen an seine Verleger, hrsg. von M. Tietzen, 1871. — R. Petersen, Henrik St., Kopenhagen 1881, übers, v. Michelsen, 1884. — O. Liebmann, Art. St. in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 35 (1893), S, 555—558. — Wilhelm Rudioff, H. St.s pädagogische Anschauungen, Diss., J e n a 1914. — Martin Meissner, H. St. als Religionsphilosoph, 1936. — Elisabeth Achterberg, H. St. und die Idee des Volkes, Würzburg 1938, in: Stadion, Bd. 2. — Viktor Waschnitius, H. St., 1939.
Steffensen, Karl Christian Friedrich, geb. 25. April 1816 in Flensburg, gest. 11, Dezember 1888 in Basel. 1834 Studium der Rechtswissenschaft in Kiel und Berlin, hört Savigny und Ranke. 1852 Pd. für Philosophie in Kiel, 1854 o. Prof. in Basel, 1854 Rektor der Univ., 1874 D. theol. h. c„ 1879 emeritiert. St. ist Vertreter eines spekulativen Idealismus. In der Geschichte walten ideale Mächte als Kundgebungen Gottes. S c h r i f t e n : Aufsätze, gesammelt von Rudolf Eucken, Basel 1890. — Zur Philosophie der Geschichte, aus dem Nachlaß hrsg. v. Schmidt, mit Vorwort von R. Eucken. 1894. L i t e r a t u r : Carstens, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 54 (1908), S. 451—453.
Steffes, Johann Peter, geb. 27. August 1883 in Outscheid (Bezirk Trier). Dr. theol., Dr. phil. Studium in Trier und Berlin. 1920 Habilitation für Religionswissenschaft in Münster (Westf). 1922 Professor in Frankfurt a. M., dann in Göttingen. 1923 o, Professor in Nimwegen. 1927 in Münster. 1929 wissenschaftlicher Leiter des deutschen Instituts für wissenschaftliche Pädagogik, bis 1935. S c h r i f t e n : Eduard von Hartmanns Religionsphilosophie des Unbewußten, 1921. — Das Wesen des Gnostizismus, 1922. — Repräsentanten religiöser und profaner Weltanschauung, 2. A. 1924. —, Religionsphilosophie, 1925. — Die Staatsauffassung der Moderne auf dem Hintergrund der kulturphilosophischen Zeitideen, 1925; it. 1934. — Katholizismus u. Wissenschaft, I. Rahmen einer allgemein religionsgeschichtl. u. religionsphilos. Betrachtung, 1927. — Religion u. Politik, eine religions- u. kulturwissenschaftl. Studie, 1929. — Der Wandel der Autorität in der Gegenwart, 1931. — Sexualpädagog. Probleme, 1931. — Vom Naturalismus zur neuen Sachlichkeit, 1932. — Die Abrüstung. Eine Forderung der Weltmeinung u. des Weltgewissens, 1932; engl. 1933, — Das Naturrecht in metaphysischer u. religiöser Weltsicht, 1932. — Thomas von Aquino u. das moderne Weltbild, 1946, — Christliche Existenz inmitten der Welt, 1947. — Entwicklungslinien des abendländischen Menschen, in: Universitas, 1947. — Existentielles Denken, in: Theol. Rev., 1948. — Religion u, Religiosität als Problem im Zeitalter des Hochkapitalismus,
Stegmüller—Stein, Edith
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1933. — Der Gottesgedanke, zus. mit J . Verweyen u. Linus Bopp, 1934. — Mithrsg.: Lexikon der Pädagogik der Gegenwart, 2 Bde., 1930—1932. — Lexikon für Theol. u. Kirche, 10 Bde.; Vierteljahrsschrift für wiss. Pädagogik, 1927 bis 1935. Stegmüller, Friedrich, geb. 8. Dezember 1902 in Glatt (Hohenzollern). 1930 Pd. in Freiburg i. Br., 1936 o. Prof. in Würzburg, 1949 in Freiburg i. Br. S c h r i f t e n : Zur Gnadenlehre des jungen Suarez, 1933. — Francisco de Vitoria y la doctrina de la gracia en la escuela Salmantina, 1934. — Gesch. des Molinismus, I., 1935. — Roberti Kilwardby Quaestio de natura theologiae, 1935. — Repertorium initiorum plurimorum in Sententias Pétri Lombardi Commentariorum, 1937. — Repertorium initiorum Sacrae Scripturae Commentariorum, 1942. — Gratia sanans, Zum Schicksal des Augustinismus in der Salmantizenser Schule, in: Aurelius Augustinus, Augustin-Festschrift, hrsg. v. M. Grabmann u. J . Mausbach, 1930. — Zur Literargesch, der Philosophie u. Theologie an den Universitäten Evora u. Coimbra im 16. Jh., in: Spanische Forschungen der Görresges., III, 1931. — Neugefundene Quaestionen des Siger v, Brabant, in: Recherches de Théol. ancienne et médiévale, 1931. — Les questions du commentaire des sentences de Robert Kilwardby, ebenda 1934. — Sententiae Berolinenses, Eine neugefundene Sentenzensammlung aus der Schule des Anselm von Laon, ebenda 1939. — Der Traktat des Robert Kilwardby De imagine et vestigio trinitatis, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge, 1936. Stehr, Hermann, geb. 16. Februar 1864 in Habelschwer dt (Glatz), gest. 11. September 1940 in Oberschreiberhau. Dr. h. c. — Dichter. S c h r i f t e n : Gesammelte Werke, 12 Bde., Leipzig 1934 ff. — Mein Leben, 1934. — Das Hermann-St.-Buch, eine Auswahl aus seinen weltanschaulichen Dichtungen u, Gesprächen, hrsg. v. H. Chr. Kaergel, 1927. — Über äußeres u. inneres Leben, 1931. — Von Mensch u. Gott, Auszug von E, Freitag, 1939. — Das Stundenglas, Reden, Schriften, Tagebücher, 1936. — Im Zwischenreich, 1937. L i t e r a t u r : H. Wocke, Hermann St. u. sein Werk, 1922; H. St., sein Werk u. seine Welt, hrsg. von W. Meridies, 1924. — Willibald Köhler, H. St., 1927. — Martin Krebs, H. St., sein Werk im Zusammenhang des religiösen Bewußtseins der Gegenwart, Diss., Frankfurt a. M. 1931. — Werner Milch, H. St., 1934. — Hermann Böschenstein, H. St., 1935. — Gustav Blanke, H. St.s Menschengestaltung, Diss., Münster 1939, — Karl Emil Freytag, H. St., Groningen 1936. — Hans M. Meyer, Das Übersinnliche bei H. St., Berlin 1936. — Erich Mühle, H. St., 1937. — Schlusnus, Walter, Die Frage der Polarität u. der Einheit im Werk Hermann St.s, Diss., Königsberg 1938. — Rudolf Sturm, Wirklichkeit u. Hohe Welt, Diss., München 1940, — Werner Sorge, Das religiöse Element in der schlesischen Dichtung der Gegenwart, Diss., Breslau 1942. — St.-Bibliographie, in: Die schöne Lit., Jg. 24. Stein, Arthur, geb. 22. Januar 1888 in Zürich. 1912 Promotion in Freiburg i. Br., 1920 Hab. in Bern, 1931 a. o. Prof. dort. 1932—1945 Gymnasiallehrer. 1946 o. P r o fessor für Philosophie und Pädagogik in Bern. S c h r i f t e n : Der Begriff des Geistes bei Dilthey, 1913; 2. A. betitelt: Der Begriff des Verstehens bei Dilthey, 1926. — Pestalozzi u. die Kantische Philosophie, 1927, in: Heidelberger Abhandlungen, Heft 12. — Pestalozzis Auffassung des Menschen, 1946. — Pestalozzi u. Leibniz, in: Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, Bd. V, 1945. — Hrsg.: Archiv für Gesch. der Philosophie, 1931/32. Stein, Edith (Schwester Teresia Benedicta a Cruce OCD.), geb. 12. Oktober 1891 in Breslau, verstorben. — Phänomenologin. S c h r i f t e n : Zum Problem der Einfühlung, in: Jahrbuch für Phänomenologie u. phän. Forschung, 1917. — Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie u. der Geisteswissenschaften, I. Psychische Kausalität, II. Individuum u. Gemeinschaft, 1922. — Eine Untersuchung über den Staat, 1925. — Husserls Phänomenologie u. die Philosophie des hl. Thomas von Aquino, 1929. — Das Ethos der Frauenberufe, 1931. — Hrsg.: Adolf Reinach, Über das Wesen der Bewegung, aus dem Nachlaß hg., 1921. — Kardinal Newman, Briefe u. Tagebücher, übersetzt, 1928. — Thomas von Aquino, Untersuchungen über die Wahrheit, übersetzt, 2 Bde. u. Index, 1931—1935. 40*
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Stein, Heinrich von
Stein, Heinrich von, geb. 12. Februar 1857 in Koburg, gest. 15. Juni 1887 in Berlin. Studium der protestantischen Theologie und der Philosophie. In der Schule Eugen Dührings zum naturwissenschaftlichen Denken erzogen. 1877 Promotion in Berlin mit Diss. „Über die Wahrnehmung". 1879—80 durch Vermittlung Malvidas von Meysenbug Hauslehrer in Bayreuth bei dem damals zehnjährigen Sohn Richard Wagners. Beeinflussung durch den Bayreuther Kreis (Graf Gobineau, Franz Liszt u. a.). Aufenthalt in Italien. 1881 Habilitation in Halle unter Schwierigkeiten wegen Anhängerschaft an Richard Wagner. 1884 Umhabilitierung nach Berlin unter dem Schutz Diltheys mit einer Schrift über „Die Bedeutung des dichterischen Elementes in der Philosophie des Giordano Bruno". Ankündigung von Vorlesungen über Richard Wagner, die seine Laufbahn gefährden; St. begegnet völliger Verständnislosigkeit für sein Streben. In Theologie und Naturwissenschaft spürt v. St. anfänglich dem Geheimnis des schöpferischen Lebens nach. Allmählich ringt er sich zur Erfassung der Natur in bezug auf ihre persönliche Vergeistigung durch die ästhetische Kultur durch. In seinen Leistungen auf dem Gebiet der Ästhetik liegt sein philosophisches Hauptverdienst. Die ihm eigene starke Fähigkeit zum Nacherleben von Kunst und zur künstlerischen Gestaltung kommt seiner erkenntnismäßigen Behandlung der Probleme des Kunstgenießens und des Kunstschaffens zugute. Seine Ästhetik und Kunsttheorie zeugen von dem nachhaltigen Eindruck, den er durch Persönlichkeit und Werk Richard Wagners empfing. Zu ihm sprach Wagner das Wort: „Die Anerkennung einer moralischen Bedeutung der Welt ist die Krone aller Erkenntnis". Diese Überzeugung tritt bei St. in den Hintergrund. Er hält das Vermögen begrifflicher Erkenntnis für begrenzt. Nur die Kunst gibt den Schlüssel zum Sinn der Welt. „Der Gehalt der Dinge ist immer da, aber er offenbart sich nur in der künstlerischen Betrachtung", wie das „empfindende Gemüt" sie übt. Die Lehre von diesem, die „Lehre vom Gefühl" ist aber die Ästhetik nach der Seite des Subjekts; sie ist zugleich „Lehre von den Kunstwerken" nach der Objektseite. Die ästhetische Haltung ist „Verweilen beim Eindruck als solchem" (Vorlesungen über Ästh., S. 4 ) ; „schön" ist ein „Aufgehen im Schauen" (Entstehung der neueren Ästh., S. 97). Das ästhetische Wohlgefühl knüpft sich an das „freie Spiel der Vorstellungen"; es erklärt sich daraus, daß das Bewußtsein ungehindert ihre Zusammenfassung zu einer Einheit vornehmen kann. Im Kunstwerk findet Weltanschauung ihren Ausdruck. „Ästhetik soll das Kunstwerk mit dem gesamten geistigen Leben deutend und erklärend in Beziehung setzen" (Entstehung der neueren Ästhetik, S. 263). Darin beruht ihre kulturelle und ihre philosophische Bedeutung. Sie ist d i e philosophische Disziplin. „Die Ästhetik i s t . . , Grundlage der Philosophie". S c h r i f t e n : Helden u. Welt. Dramatische Bilder, eingeführt durch Richard Wagner, Chemnitz 1883. — Die Beziehungen der Sprache zum philosophischen Erkennen, 1883. — Die Entstehung der neueren Ästhetik, Stuttgart 1886. — Goethe u, Schiller, Beiträge zur Ästhetik der deutschen Klassiker, Lpz. 1893 (Reclam Nr, 3090). —• Vorlesungen über Ästhetik, Stuttg. 1897. — Giordano Bruno, hrsg. v. F. Poske, Lpz. u. Bln. 1900. — Zur Kultur der Seele. Ges. Aufsätze, hrsg. v. F. Poske, Lpz. u. Bln. 1906. — Wagner-Lexikon, zus. mit C. Fr. Glasenapp, Stuttgart 1883. — Aus dem Nachlaß. Dramatische Bilder u. Erzählungen, Lpz. 1888. L i t e r a t u r : H. St. Chamberlain u. F r . Poske, H. v. St. u, seine Weltanschauung, München 1903 ; 2. A. 1905. — W . Martin, Die Grundzüge der Ästhetik Heinrich von St.s, Diss., München 1909. — Günther H. Wahnes, H, v. St. u. sein Verhältnis zu R. Wagner u. F. Nietzsche, Diss., J e n a 1927. — Friedrich Melier, Der Volksgedanke bei H, v. St., Diss., Bonn 1940.
Stein, Heinrich (Ludwig-Wilhelm) von—Stein, Lorenz von
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Stein, Heinrich (Ludwig-Wilhelm) von, geb. 21. November 1833 in Rostock, gest. 28. Mai 1896 in Rostock. 1851 Studium der Philosophie in Berlin, Bonn und Göttingen. 1855 dort Dr. phil, mit einer Diss. De philosophia cyrenaica. 1857 Pd. für Philosophie in Göttingen, 1862 a. o. Prof. 1864 Ruf an den Schweriner Hof. 1870 Rückkehr ins Lehramt als a. o. Prof. für Philosophie in Rostock; 1871 o. Prof. dort. v. St. widmete sich der geschichtlichen Erforschung des Piatonismus. S c h r i f t e n : Sieben Bücher zur Gesch. des Piatonismus. Untersuchungen über das System des Piaton und sein Verhältnis zur späteren Theol. und Phil.; I. Teil: Vorgesch. u. System des Piatonismus, 1862; II. Teil: Verhältnis des Piatonismus zum klassischen Altertum und zum Christentum, 1864; III. Teil (Schluß): Verhältnis des Piatonismus zur Philosophie der christlichen Zeiten, 1875. — J . G. Hamann, Vortrag, 1863. — Schelling, Vortrag, 1875. — Heraklit, 1891. L i t e r a t u r : Heinrich Klenz, Art. v. St. in Allg. Dte. Biogr., Bd. 54 (1908), S. 459 f.
Stein, Karl (Heinrich Friedrich) Freiherr vom, geb. 26. Oktober 1757 in Nassau, gest. 29. Juni 1831 in Kappenberg (Westfalen). Der preußische Staatsmann St. wird bei seinen sozialen, politischen und pädagogischen Reformen geleitet von der Gegnerschaft gegen die kosmopolitischen Gedanken der französischen Revolution, während sein eigenes Bestreben auf die Herausarbeitung der nationalen Eigenart gerichtet ist.
S c h r i f t e n : Briefwechsel, Denkschriften u. Aufzeichnungen, bearb. von Erich Botzenhart, 1931/37, — Ausgewählte Schriften, hrsg. von Klaus Thiede, J e n a 1929, in: Die Herdflamme, Bd. 17. L i t e r a t u r : Pertz, Leben des Ministers Freiherr vom St., 6 Bde., Bln. 1849—1855; Aus St.s Leben, 2 Bde., 1856. — Ernst Moritz Arndt, Meine Wanderungen u. Wandlungen mit dem Reichsfreiherrn vom St., 1858; mit Einleitung von Ricarda Huch, Lpz. 1925, — John Seeley, Life and times of St., 3 Bde., Cambridge 1878; Tauchnitz, 4 Bde., 1879; dt. v. E. Lehmann, Gotha 1883—1887. — Max Lehmann, Frhr. vom St., Göttingen 1917; 3. A. 1931. — Ricarda Huch, St., Berlin 1928. — Klaus Thiede, Die Staats- und Wirtschaftsauffassung des Freiherrn vom St., J e n a 1927. — Erich Botzenhart, Die Staats- und Reformideen des Freiherrn vom St., Tüb. 1927. — Gerhard Ritter, St., 2 Bde., Berlin 1931. — Herbert Hafter, Der Reichsfreiherr vom St. in seinem Verhältnis zu Religion u. Kirche, Berlin 1932, in: Abhandlungen zur mittleren u. neueren Gesch., H. 71. — Friedrich Meinecke, Freiherr vom St., Gedächtnisrede, 1931. — V. Löber, Freiherr vom St., 1933. — G. S. Ford, St. and the era of reform in Prussia (1807—1815), Princeton 1922.
Stein, Lorenz von, geb. 15. November 1815 in Eckernförde (Schleswig), gest. 23. September 1890 in Weidlingau bei Wien, Seit 1835 philos. und jurist. Studien in Kiel und Jena, 1839 nach Kopenhagen. Dr. jur. in Berlin. Bekanntwerden mit den Ideen des Sozialismus in Paris. 1846 a. o. Prof. in Kiel. Politische Tätigkeit. Stellungnahme gegen Dänemark, daher 1852 Verlust seiner Professur. 1855 bis 1888 Prof. der Staatswissenschaften in Wien. Von Hegel beeinflußt, hat L. v. St. mit starker Neigung zum Systematisieren und Konstruieren, aber doch auf Grund eindringender Beobachtung des wirklichen Lebens und mit umfassenden Kenntnissen eine Gesellschafts- und Staatslehre entwickelt. Er sah die europäische Zivilisation als Produkt der Bildungsschätze und materiellen Güter an, die die Vergangenheit zusammentrug. Im Güterleben werden nach St. stets freie Werte geschaffen — über die Bedarfsdeckung hinaus —, die ihrerseits zu erhöhten Bedürfnissen und Ansprüchen führen. Auch im persönlichen Leben innerhalb der Gesellschaft steigern sich die Bedürfnisse, und immer größere Kreise der Bevölkerung drängen zur Teilnahme an den geistigen Gütern. Ein beständiges Aufsteigen der unteren Volksschichten zu größerer persönlicher Leistung ist die Folge. Der Staat hat die Aufgabe, zwischen Güterleben und sozialer
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Stein, Ludwig
Bewegung eine organische Verbindung zu schaffen. Europa ist dabei als zivilisatorische Einheit zu betrachten, die als Ideen- und Interessengemeinschaft der gleichen Gesetzlichkeit unterliegt. Alle Bildungselemente und alle Güter gehen hier aus den gleichen Wurzeln hervor, und die Aufgabe des Staates ist überall in Europa dieselbe. In seiner Untersuchung des geschichtlichen Verlaufs der sozialistischen Bewegung ordnet St. das Proletariat als den untersten Stand in den dialektischen Prozeß ein und konstruiert die Zukunft als staatssozialistisch. „Gesellschaft" bedeutet für ihn das vom Staat nicht erfaßbare, freie Leben der Individuen. St. trägt durch seine Werke dazu bei, die Dialektik zu einem von ihrer ursprünglichen philosophisch-systematischen Bedeutung unabhängigen Mittel geschichtlicher Forschung auszugestalten. S c h r i f t e n : Die Gesch. des dänischen Zivilprozesses u. das heutige Verfahren, als Beitrag zu einer vergleichenden Rechtswissenschaft, 1841. — Der Sozialismus u. Kommunismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgesch., 1842; 2. A., 2 Bde., 1847. — Die sozialistischen u. kommunistischen Bewegungen seit der 3. franz. Revolution, 1848. — Gesch. der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3 Bde., 1850; Bd. I: Der Begriff der Gesellschaft u. die soziale Gesch. der französ. Revolution bis zum J a h r 1830; Bd. II: Die industrielle Gesellschaft, der Sozialismus u. Kommunismus F r a n k reichs von 1830 bis 1848; Bd. III: Das Königtum, die Republik u. die S o u v e r ä n e t ä t der französ. Gesellschaft seit der F e b r u a r - R e v . 1848; 2. A. 1855; in 3 Bden. neu hrsg. u. mit Einleitung versehen von Gottfried Salomon, 1921. — Die Lebensaufgabe der Hausfrau (anonym), 1851; 3. A. 1890. — System der Staatswissenschaft, 2 Bde., 1852 u. 1856; Bd. I: System der Statistik, Populationistik u. der Volkswirtschaftslehre, Bd. II: Die Gesellschaftslehre. — Lehrbuch der Volkswirtschaft, 1858, 1878, 1887, — Lehrbuch der Finanzwissenschaft, 1860; 1871; 1885/86. — Die F r a u auf dem Gebiete der Nationalökonomie, 1875; 6. A. 1886. — G e g e n w a r t u. Zukunft der Rechts- u. Staatswissenschaft Deutschlands, 1876. — Lehrfreiheit, Wissenschaft u. Collegiengeld, 1875. — Die F r a u auf dem sozialen Gebiete, 1880. L i t e r a t u r : Inama, A r t . L. v. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 35 (1893), S. 661—666. — Ernst Grünfeld, L. v. St. und seine Gesellschaftslehre, J e n a 1910. — Paul Vogel, Hegels Gesellschaftsbegriff u. seine geschichtliche Fortbildung durch Lorenz v. St., Marx, Engels u. Lassalle, 1925. — G e r t r u d Scholl, Die wichtigsten nationalökonomisch-theoretischen Lehren bei L, v. St., Diss., Freiburg 1926. — Heinrich Künne, L. v. St. und die arbeitende Klasse, Diss., Münster 1928. — Heinz Nitschke, Die Gesch.philosophie L. v. St.s, Diss., Leipzig 1931; auch in: Hist. Zeitschr., Beiheft 26, 1932. — Karl Günzel, Der Begriff der Freiheit bei Hegel und L. v. St., Diss., Leipzig 1934.
Stein, Ludwig, geb. 12. November 1859 in Benye (Ungarn), gest. 13. Juli 1930 in Salzburg. 1886 Habilitation für Philosophie in Zürich, 1889 Ordinarius am Polytechnikum dort, 1891 bis 1910 ord. Prof. für Philosophie in Bern. Danach freier Schriftsteller in Berlin. Schüler von Eduard Zeller. St. hat frühzeitig die Bedeutung der sozialen Frage für den Weiterbestand der Kultur im 20. Jahrhundert erkannt und erforscht. Der Kulturphilosoph soll Entstehung und Entwicklung sowie Gegenwartswirkung der Kulturwerte verfolgen, der Historiker die Tendenzen in der Geschichte herausheben, der Soziologe nach psychogenetischer Methode die empirischen Gesetze des gesellschaftlichen Lebens untersuchen und die Normen für das soziale Sollen auffinden. St. sieht die Gesellschaft nicht als Organismus, sondern als Organisation an, entstanden durch zweckgerichtetes Tun menschlicher Willensgemeinschaften. Er ist Vertreter eines sozialen Aktivismus und Optimismus. Als Erkenntnistheoretiker ist St. bemüht, die Ergebnisse der Evolutionstheorie mit den Entdeckungen des Kritizismus zu verbinden. „Der Evolutionismus muß
Steinhart
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ganz und ohne Rest in den Kritizismus hineingebildet werden." Auch die Erkenntnisformen sind von biologischer Bedeutung. „Zeit, Zahl, Raum, Kausalität, wie die Verstandeskategorien überhaupt, sind nichts anderes, als das Alphabet, welches sich die Menschen im Kampfe ums Dasein als Schutzmaßregeln gebildet haben, um erfolgreich im Buche der Natur lesen zu können." Schon Hume habe eine Art von biologischer Erkenntnistheorie vertreten und verdiene daher in gewisser Hinsicht den Vorzug vor Kant. St. ist als Organisator der philosophischen Forschungsarbeit hervorgetreten, unter anderem als Herausgeber des „Archivs für die Geschichte der Philosophie", des „Archivs für systematische Philosophie" und der „Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte", sowie als Herausgeber des Sammelbandes „Die Gesellschaft" (1908). S c h r i f t e n : Die Willensfreiheit, 1882. — Die Psychologie der Stoa, 1886. — Die Erkenntnistheorie der Stoa, 1888. — Handschriftenfunde in Italien, 1889. — Leibniz u. Spinoza, 1889. — Antike Vorläufer des Okkasionalismus, 1889. — Der Humanist T h e o d o r Gaza als Philosoph, 1889. — Leibniz u. Spinoza, 1890. — Nietzsches Weltanschauung u. ihre Gefahren, 1893. — Das Prinzip d e r Entwicklung in der Geistesgesch., 1895, — Die soziale Frage im Lichte der Philosophie, Vorlesungen ü b e r Sozialphilos, u. ihre Geschichte, 1897; 2. A. 1903. — W e s e n u. Aufgabe der Soziologie, 1898. — An der W e n d e des J a h r hunderts, Versuch einer Kulturphilosophie, 1900. — Der Neo-Idealismus, 1903. — Der Sinn des Daseins, 1904. — Der soziale Optimismus, 1905. — Die Anfänge der menschl. Kultur, 1906. — Philosophische Strömungen der Gegenwart, 1908, — Dualismus u. Monismus, 1909, — Einführung in die Soziologie, 1921. — Aus dem Leben eines Optimisten, Erinnerungen, 1930. — Zahlreiche Zeitschriftenartikel, u. a.: Das Problem der Gesch., in Archiv für systemat. Philos., Bd. 14, 1908; Der Pragmatismus, ebenda, Bd. 14, 1908; Handschriftenfunde zur Philos. der Renaissance, in: Archiv f ü r Gesch. der Philos., Bd. I, 1888, S. 534—553; Die Sozialphilosophie im Zeitalter der Renaissance, in: Archiv f ü r Gesch. d e r Philos., Bd. 10, S. 157—190. L i t e r a t u r : Festgabe zum 70. Geburtstag von Ludwig St., Berlin 1929, in: Archiv f ü r systematische Philosophie u. Soziologie, Bd. 33.
Steinbart, Gotthelf Samuel, geb. 21. September 1738 in Züllichau, gest. 3. Februar 1809 in Frankfurt a. O. Studium der Theologie und der Philosophie unter Baumgarten in Halle, dann in Frankfurt a. O., 1794 o. Prof. der Philosophie dort. 1778 D. theol. Der im Pietismus erzogene St. wird durch Vertiefung in Voltaire, Locke und Christian Wolff für die Gedanken der Aufklärung gewonnen. Er vertritt sie vor allem in der Moralphilosophie. Die Moral gründet sich auf vernünftige Selbstliebe. Höchstes Gut ist die Glückseligkeit als Zustand immerwährender Zufriedenheit. Einen solchen kann das Christentum gewähren; darin beruht sein Wert. Tugend ist Genuß des Guten, das der gütige Gott uns schenkt. Die wahre Glückseligkeit fordert als Postulat Unsterblichkeit auf der Grundlage unserer fortschreitenden Vervollkommnung, Durch die Behauptung, daß es nur eine relative Wahrheit für den Menschen gibt, gerät St. in wissenschaftlichen Streit mit seinem Kollegen Joh. Aug. Eberhard in Halle. S c h r i f t e n : System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christentums, für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landsleute u, anderer, die nach Weisheit fragen, eingerichtet, 1778—1780; 4. A. 1794. — Philosophische Unterhaltungen zur weitern Aufklärung der Glückseligkeitslehre, 1782—1784. — Gemeinnützige Anleitung des Verstandes zum regelmäßigen Selbstdenken, 1780; 3. A. 1793. L i t e r a t u r : Richard Hildenbrand, G. S. St., Diss., 1906. — Paul Tschackert, Art. St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 35 (1893), S. 687—689.
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Steinbüchel—Steiner
S t e i n b ü c h e l , geb. 16. J u n i 1888 i n K ö l n , g e s t . 11. F e b r u a r 1949 i n T ü b i n g e n . S t u d i u m d e r k a t h . T h e o l . 1922 P r i v a t d o z e n t in B o n n , 1926 P r o f . f ü r P h i l o s o p h i e in G i e ß e n , d a n n f ü r T h e o l . in M ü n c h e n . 1945 o. P r o f . f ü r M o r a l t h e o l o g i e u n d p h i l o s o p h i s c h - t h e o l o g i s c h e G r e n z g e b i e t e in d e r k a t h . - t h e o l . F a k u l t ä t d e r U n i v e r s i t ä t Tübingen. D. theol., Dr. phil. S c h r i f t e n : Der Z w e c k g e d a n k e in der Philosophie des Thomas von Aquino, 1912. — Der Sozialismus als sittliche Idee, 1921. — F. Lassalles Philosophie u. ihr Verhältnis zum deutschen Idealismus, in: Festschrift f ü r Ad. Dyroff, 1926. — Immanuel Kant, Einführung u. Aufbau, 2 Bde., 1931. — Das Grundproblem der Hegeischen Philosophie, Bd. I, 1933. — Friedrich Nietzsche, eine christl. Besinnung, Stuttgart 1947. — Sozialismus als christliche Idee. Steiner, R u d o l f , geb. 27. F e b r u a r 1861 i n K r a l j e v e c ( U n g a r n ) , g e s t . 30. M ä r z 1925 in D o r n a c h b e i B a s e l . 1890—1897 M i t a r b e i t e r a n d e r G o e t h e - A u s g a b e i n W e i m a r . 1902 M i t g l i e d d e r t h e o s o p h i s c h e n B e w e g u n g , S e k r e t ä r d e r d e u t s c h e n G r u p p e , d i e e r in d e n 1912 v o n i h m g e g r ü n d e t e n „ A n t h r o p o s o p h i s c h e n B u n d " ü b e r n i m m t . S e i t 1913 „ A n t h r o p o s o p h i s c h e G e s e l l s c h a f t " . S t . s t e h t in s e i n e n p h i l o s o p h i s c h e n A n f ä n g e n u n t e r d e m E i n f l u ß H a e c k e l s u n d Nietzsches. E r entwickelt eine Philosophie der Freiheit, die das Individuum als „Quell aller Sittlichkeit und Mittelpunkt alles Lebens" betrachtet. Seine Interpretation der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes geht aus von einem Glauben a n die ü b e r r a g e n d e B e d e u t u n g der Intuition f ü r E r k e n n t n i s u n d B i l d u n g der Weltanschauung. Dieser Glaube wird für ihn das B a n d zur theosophischen Bewegung, über die er bald hinauswächst zur Entwicklung seiner „Anthroposophie", e i n e r G e h e i m l e h r e , d i e d e n A n s p r u c h e r h e b t , e i n e E r k e n n t n i s h ö h e r e r W e l t e n zu e r ö f f n e n , z u g l e i c h a b e r a u c h d u r c h v e r t i e f t e E i n s i c h t d a s g e s e l l s c h a f t l i c h e L e b e n in S t a a t u n d W i r t s c h a f t zu g e s t a l t e n . S c h r i f t e n : Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, 1886. — Goethe als Vater einer neuen Ästhetik, 1889. — Die Philosophie der Freiheit, 1894. — Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit, 1895. — Goethes Weltanschauung, 1897. — Haeckel u. seine Gegner, 1900. — W e l t - u. Lebensanschauungen im 19. Jh., 2 Bde., 1900/01; 2. A. betitelt: Die Rätsel der Philosophie, 1914. — Theosophie, 1904. — Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft, 1907. — Wie erlangt man Erkenntnisse h ö h e r e r Welten, 1909. — Die Geheimwissenschaft im Umriß, 1910. — Vom Menschenrätsel, 1916. — Die Aufgabe der Geisteswissenschaft, 1916. — Von Seelenrätseln, 1917. — Die K e r n p u n k t e der sozialen Frage, 1919. — Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, 1925. — Licht-Lehre, Nachlaß 1925. — Wärmelehre, hrsg. 1925. — Mein Lebensgang, Nachlaß 1925. — Sprachgestaltung und dramatische Kunst, Nachlaß 1926. — Westliche u. östliche Weltgegensätzlichkeit, Nachlaß 1927. — Eurhythmie als sichtbare Sprache, Nachlaß 1927. — Die Philos. des Thomas von Aquino, Nachlaß 1930. — Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust, 2 Bde., 1931. — Goethe-Studien u. goetheanistische Denkmethoden, Nachlaß, 1932. — Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Nachlaß 1932. — Dichtungen, u. a.: Der Hüter der Schwelle, 1912. —• Hrsg.: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften, 6 Bde., W e i m a r e r Ausg. L i t e r a t u r : Friedrich Traub, R. St. als Philosoph u. Theosoph, 1919; 2. A. 1921. — Friedrich Gogarten, R. St.s „Geisteswissenschaft", 1920. — Karl Holl, St.s Anthroposophie, 1921. — Walter Stein, R. St. als Philosoph u. Theosoph, 1921, in: Internat. Bücherei für Sozial- u. Geisteswiss., Heft 9. — W a l t e r J o h . Stein, Die moderne naturwiss. Vorstellungsart u, die Weltanschauung Goethes, wie sie R. St. vertritt, Diss. Wien, erweitert Stuttgart 1921. — Friedrich Rittelmeyer, Vom Lebenswerk R. St.s, 1921; R. St. als F ü h r e r zu neuem Christentum, 1933. — Ernst Boldt, R. St., 1921, Philos. Reihe. — G. Kaufmann, Fruits of anthroposophy, an introduction to the work of R. St., 1922. — Albert Steffen, In memoriam R. St., 1925; Begegnungen mit R. St., 1926. — Hans Erhard Lauer, R. St.s Lebenswerk, Basel 1926. — C. S. Picht, Das literarische L e b e n s w e r k R. St.s, Dornach-
Steinhart—Steinthal
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Berlin 1926. — Ludwig Kleeberg, Wege u. Worte, Erinnerungen an R. St., Basel 1928. — Friedrich Rittelmeyer, Meine Lebensbegegnung mit Rudolf St., 1928, — Christian Gahr, Die Anthroposophie St.s, Diss., Erlangen 1929. — Otto Fränkl, Die Anthroposophie R. St.s, Basel 1930. — Günther Wachsmuth, Die Geburt der Geisteswissenschaft, R. St.s Lebensgang, Dornach 1941. — Steiner-Bibliographie, Dornach 1942. — Bernhart Kallert, Der Erkenntnisbegriff des objektiven Idealismus, Versuch einer Darstellung der Erkenntnistheorie R. St.s, Diss., Erlangen 1942. — Ilse Krause, R. St., 1943.
Steinhart, Karl Heinrich August, geb. 11. August 1801 bei Osterburg (Altmark), gest. 9. August 1872 in Bad Kosen. Pfarrerssohn. 1815—1819 Besuch des Grauen Klosters in Berlin. Studium der Theol. und Philologie in Halle, 1822 Dr. phil. Praktisch-pädagogische Tätigkeit in Pforta 1824—1866; ab 1866 ord. Honorar-Prof. in Halle. Der Philologe St. widmet sich der Erforschung der griechischen Philosophie. S c h r i f t e n : Über die Dialektik Plotins, 1829. — Meletemata Plotiniana, 1840. — Prolegomena ad Philebum, 1843, — Das Leben Piatos, 1873. —• Einleitungen zu allen Dialogen Piatos, 1850—1866. — Zahlreiche Abhandlungen bei Ersch u. Gruber. — Artikel über griech. Philos. vor u. nach Plato bei Pauly-Wissowa,
Steinthal, Heymann (Heinrich), geb. 16. Mai 1823 in Gröbzig (Anhalt), gest. 14. März 1899 in Berlin. Kaufmannssohn. Frühe Talmudstudien. Besuch des Gymnasiums in Bernburg. 1843 Studium der Sprachwissenschaft in Berlin bei Böckh, Bopp, Lipsius, Wilhelm Grimm, des Alten Testaments bei Vatke, der Philosophie und Psychologie bei Werder und Gabler. 1847 Promotion in Tübingen mit einer Diss. De pronomine relativo commentatio philosophico-philologica. Beschäftigung mit Herbart, Freundschaft mit Paul Heyse und mit seinem Vater, dem Sprachphilosophen Karl Heyse und durch ihn mit Moritz Lazarus. Wirtschaftliche Not, 1850 Habilitation an der Univ. Berlin, 1852 bis 1856 Studien in Paris, 1853 in London. Verkehr mit Ernest Renan. Frühjahr 1856 Wiederaufnahme der Vorlesungen an der Universität Berlin. 1862 a. o. Prof. für Sprachwissenschaft dort. Sommer 1872 Beginn einer Lehrtätigkeit an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. St. hat als Begründer der neueren Sprachphilosophie und der Völkerpsychologie zu gelten. Er hat auch die Religionsphilosophie entscheidend gefördert. An Umfang und Tiefe unübersehbare Sprachkenntnisse und sein Wissen um die Gesetze des logischen Denkens und des Seelenlebens prädestinieren ihn zur Ergründung des Wesens der Sprache. Durch Böckh wird er in das Studium Wilhelm von Humboldts eingeführt. Er gelangt zu dem Urteil, daß W. v, Humboldts geniale unmittelbare Anschauung des Wesens der Sprache doch sogleich von seinem reflektierenden Verstand wieder zerstört wird. St. setzt sich die Aufgabe, den Sprachprozeß im allgemeinen und in seiner Verschiedenheit bei den verschiedenen Völkern zu betrachten. An den Sudansprachen führt er den Nachweis, „daß es in der Tat Sprachen gibt, welche mit dem Kategorienschema der philosophischen Grammatik keine Berührungspunkte zeigen." Die Sprache gilt ihm als Gegenstand der Psychologie. Daher kann die Erforschung der verschiedenen Sprachen zum Schlüssel für die Völkerpsychologie werden. St.s Freund und Mitarbeiter Lazarus sah die geistige Individualität des Volkes als Gegenstand der Völkerpsychologie an. Beide Forscher begründeten 1860 die „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft", die bis 1890 erschien (in 20 Bänden). St. bemüht sich, die Gesetze aufzuzeigen, die zur Entstehung der Sprache überhaupt und der verschiedenen Sprachen führten und führen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Lehre von der Apperzeption, die St. über Herbart hinaus fortführt. Auch in die vorsprachliche Stufe der Seelenentwicklung versucht St. einzudringen, wie er die Wirkungsweise der psychischen Faktoren bei unorganischen Sprach-
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Stentrup—Stephanos von Alexandria
erscheinungen aufhellt. Mit Lazarus sieht St. die Sprache als Schöpfung des Volksgeistes an. Denselben Ursprung schreibt er dem Mythos und dem Epos zu. St. betrachtet die Sprachwissenschaft als Produkt der Humanität und als Schwester der philosophischen Spekulation. S c h r i f t e n : Gesch. der Sprachwissenschaft bei den Griechen u. Römern mit bes. Rücksicht auf die Logik, 1864; 2. A., 2 Bde., 1890. — Einleitung in die Psychol. u. Sprachwissenschaft, 1871, Lazarus gewidmet; 2. A. 1881. — Die Sprachwiss. Wilh. v. Humboldts u. die Hegeische Philosophie, 1848. — Die Classifikation der Sprachen, dargestellt als die Entwicklung der Sprachidee, 1850. — Der Urprung der Sprache im Zusammenhange der letzten Fragen alles Wissens, 1851; 4. A. 1888. — Die Entwicklung der Schrift, 1852. — Charakteristik der hauptsächlichsten Typen des Sprachbaues, 1860. — Die sprachphilosophischen Werke Wilhelms v. Humboldt, Ausgabe u. Erklärung, 1884. — Die MandeNegersprachen, psychologisch u. phonetisch betrachtet, 1867. — Die Wurzeln der verschiedenen chinesischen Dialekte, 1854. — Grammatik, Logik u. Psychologie, ihre Prinzipien u. ihr Verhältnis zueinander, 1855. — Philologie, Gesch. u, Psychologie in ihren gegenseitigen Beziehungen, 1864. — Allgemeine Ethik, 1885. — Zu Bibel u, Religionsphilosophie, 1890; neue Folge 1895. — Assimilation u. Attraction, in: Zeitschrift f. Völkerpsychol. u. Sprachwiss., Bd. I. — Gesammelte kleine Schriften, Bd. 1, Berlin 1880. L i t e r a t u r : Glogau, St.s psychologische Formeln, 1876. — P. Ivanoff, Die Abweichungen St.s von Herbart auf dem Gebiete der ethischen Elementarlehre, Diss., Jena 1893, — Th. Achelis, H. St., 1898. — Marie Glogau, G. Glogau, sein Leben u. sein Briefwechsel mit H. St., 1906. — V. Kirchner, Aus u. zu dem Briefwechsel zwischen Glogau u. H. St., J b . der Glogau-Ges., Bd. 12, 1910. Stentrup, Ferdinand Alois, S. J., geb. 8. Juli 1831 in Münster (Westf.), gest. 15. Juli 1898 in Kalksburg (Niederösterr.). 1850—58 Studium der Theol. und Philos. im Collegium Germanicum in Rom, Dr. phil. et theol., Priesterweihe. Prof. für Philos. in Preßburg. 1867—93 o. Prof. für Dogmatik in Innsbruck, — Dogmatiker und Historiker der Philosophie. S c h r i f t e n : Das Dogma von der zeitlichen Weltschöpfung gegenüber der natürl. Erkenntnis, 1870. — Praelectiones dogmaticae de Deo uno, 1878. — Praelectiones dogmaticae de verbo incarnato, 4 Bde., 1882. — Synopsis tractatus scholastici de Deo uno, 1895. — Zur Gesch, der Philos, des Mittelalters, in: Österr. Vierteljahresschrift für kath. Theol., 8. Jg., 1869, S. 393 ff. — Die Lehre des hl. Anselm über die Notwendigkeit der Erlösung und der Menschwerdung, in: Zeitschrift für kath. Theol., 1892, Jg. 16, S. 653 ff. Stenzel, Julius, geb. 9. Februar 1883 in Breslau, gest. 26. November 1935 in Halle. Dr. phil. 1921 Pd. in Breslau, 1925 o. Prof. in Kiel, 1933 in Halle. — E r forscher der griechischen Philosophie. S c h r i f t e n : Studien zur Entwicklung der platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles. Arete und Diairesis. Mit einem Anhang: Literarische Form u. philosophischer Gehalt des platonischen Dialogs, Breslau 1917. — Zahl u. Gestalt bei Plato u. Aristoteles, 1924; 2. A. 1933. — Die Metaphysik des Altertums, 1924—1931. — Plato der Erzieher, 1928, — Die Philosophie der Sprache, 1933, im Handbuch der Philosophie. — Dilthey u. die deutsche Philos, der Gegenwart, 1934, in: Philos. Vorträge der Kant-Ges., Nr. 33. Stephanos von Alexandria, lebte im 7. nachchristlichen Jahrhundert als Philosophie-Lehrer in Alexandria, dann an der Universität Konstantinopel, unter Kaiser Heraklios (610—641). — St. ist Vertreter des alexandrinischen Piatonismus in seinem Endstadium. E r bildet bereits den Übergang zum byzantinischen Platonismus des christlichen Mittelalters. S c h r i f t e n : Kommentar zu Aristoteles, ~pt vjvsia;, in: Commentaria in Aristotelem Graeca, hrsg. von der Berliner Akademie, Bd. XVIII, Stephanus de interpreiatione, ed. M. Hayduck, 1885, — Astronomisch-chronologische Schrift,
Stephen, Sir James Fitzjames—Stepun
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L i t e r a t u r : H. Usener, De Stephano Alexandrino, Bonn 1880; auch: Kleine Schriften, III, S. 247—322; Monumenta German, historic., auctores antiquissimi, Bd. XIII, Berlin 1898, S. 362 fi.
Stephen, Sir James Fitzjames, geb. 3. März 1829 in London, gest. 11. März 1894. Ausbildung in Eton, Kings College in London und Trinity College in Cambridge. Bekanntschaft mit Sir Henry Maine. Laufbahn als Advokat und Richter. 1869 bis 1872 in Indien. Nach Rückkehr Mitglied der Metaphysical Society. — St. ist in seinen rechtswissenschaftlichen und philosophischen Forschungen von Henry Maine beeinflußt. Sein Werk über „Liberty, equality, fraternity" greift John Stuart Mill und seinen Utilitarismus an. S c h r i f t e n : Essays by a barrister, 1862, — General view of the criminal law of England, 1863. — Liberty, equality, fraternity, 1873/74. — Hist, of the criminal law of England, 1883. L i t e r a t u r : Sir Leslie Stephen, Life of Sir James F. St., London 1895 (mit Bibliographie); Artikel J. F. St., in: Dictionary of National Biography. — Letters with biographical notes, hrsg. v. seiner Tochter Caroline Emelia Stephen,
Stephen, Sir Leslie, geb. 28. November 1832 in London, gest. 22. Februar 1904 dort. Erziehung in Eton, Studium in Cambridge, wo er 1883/84 Vorlesungen hält. Bruder von James Fitzjames St., Vater von Virginia Woolf. St. ist Anhänger der Evolutionslehre und zieht ihre Konsequenzen vor allem auf ethischem Gebiet. Er geht nicht vom Individuum und nicht von der Gesellschaft als Aggregat von Individuen aus, sondern von der Gesellschaft als Organismus, dessen Glieder die Individuen sind. Der Charakter des Einzelnen, der sein Handeln bestimmt, hängt von seinen sozialen Funktionen ab. Am sozialen Organismus unterscheidet St. die veränderlichen Organisationen und die beständigeren sozialen Verhältnisse, für die er den Begriff des „sozialen Gewebes" (social tissue) prägt. Das soziale Gewebe bindet den Einzelnen an die Gesellschaft. Die Gesamtheit der Bedingungen für ein kräftiges Gedeihen des sozialen Gewebes ist die Sittlichkeit. Die Gesundheit des „social tissue" ist zugleich ethischer Endzweck und Ziel der sozialen Entwicklung. St. vertritt auch den Utilitarismus: was nützlich ist im Sinne der Lebenserhaltung, ist auch nützlich für die Schaffung von Glückseligkeit. Die einzelnen Glieder des gesellschaftlichen gesunden Organismus werden von Sympathie füreinander bestimmt. Sie ist ein ursprünglicher Instinkt schon im Tier. Das Gewissen ist eine Funktion des gesamten Charakters, Tugend eine Bedingung der sozialen Wohlfahrt. Die Frage, warum der Mensch tugendhaft sein soll, ist unbeantwortbar. S c h r i f t e n : Choice of representatives, 1867. — The playground of Europe, 1871. — Hours in a library, Essays, 3 Bde., 1874—1879; neue A. 1909. — Essays on freethinking and plain speaking, 1873, —• History of English thought in the 18th century, 2 Bde., 1876; neue A. 1949. — Samuel Johnson, 1878. — Alexander Pope, 1880. — Science and ethics, 1882. — Swift, 1882. — An agnostic's apology, 1893. — Life of Sir James Fitzjames Stephen, 1895. — Social rights and duties, 1896, — Studies of a biographer, 4 Bde., 1898—1902. — The English utilitarians, 3 Bde., N e w York 1900. —• English literature and society in the 18th century, 1904. — George Eliot, 1902. — Hobbes, 1904. — Ab 1882 Hrsg. des Dictionary of National Biography (St. hat etwa 378 Biographien beigesteuert!). — Zeitschriftenartikel, u. a.: On some kinds of necessary truth, in: Mind, Bd, 14, 1889, L i t e r a t u r : F, W. Maitland, Life and Letters of L. St., London 1906. — T. Seccombe, Art. St., in: Encycl. Brit., 11. A., Bd. XXV, 1911. — Strachey, L. St., 1925.
Stepun, Fedor Awgustowitsch (Friedrich Steppuhn), geb. 6. Februar 1884 in Moskau. Studium in Heidelberg. 1922 aus Rußland ausgewiesen. 1946 Prof. für Soziologie an der Technischen Hochschule Dresden, 1926 bis 1937 in München.
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Stern, Erich — Stern, William
S c h r i f t e n : Wladimir Solowjew, 1910. — Grundprobleme des Theaters, 1923 (russ.). — Leben u. Schaffen, Aufsätze, 1923 (russ.). — Nikolai Pereslegin, 1927; dt. 1928; 2. A. 1946. — Aus den Briefen eines Artillerie-Offiziers, 1918 (russ.); 1926; dt. betitelt: Wie war es möglich? 1929. — Theater u. Kino, 1932. — Das Antlitz Rußlands u. das Gesicht der russischen Revolution, 1934, — Vergangenes und Unvergängliches, 2 Bde., München 1947.
Stern, Erich, geb. 30. Oktober 1889 in Berlin. 1915 Promotion zum Dr. med., 1917 zum Dr. phil.; 1920 Habilitation in Gießen, 1924 a. o. Prof. ebenda bis 1933. 1928 Dozent am Pädagogischen Institut in Mainz.
S c h r i f t e n : Eschenmeyers Pädagogik, 1918. — Psychiatrie u. Pädagogik, 1920, — Angewandte Psychologie, 1920. — Allgemeine Psychopathologie, 1921. — Über den Begriff der Gemeinschaft, 1921. — Einleitung in die Pädagogik, 1922. — Jugendpsychologie, 1923; 3. A. 1931. — Autorität u. Erziehung, 1925. — Zufall u. Schicksal, 1926. — Psychologie u. Dichtkunst, 1927. — Krankheit u. religiöses Erleben, 1930. — Religiöse Entwurzelung u. Neurose, 1931. — Anfänge des Alterns, 1931. — Die Erziehung u. die sexuelle Frage, 1927.
Stern, William, geb. 29. April 1871 in Berlin, gest. 27. März 1938 in Poughkeepsie, U.S.A. 1897 Pd. in Breslau, 1907 dort a. o. Prof., 1909 o. Prof. in Hamburg, ab 1919 an der dortigen Universität, lehrte nach 1933 in U.S.A. St.s Hauptbeiträge zur Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie sind die Begründung der Differential-Psychologie und die Ausgestaltung des kritischen Personalismus, auf den sich eine eigene Philosophie der Werte gründet. Die Psychologie allgemein ist nach St. eine „analysierende und isolierende Betrachtung seelischer Phänomene", die Differential- oder Individual-Psychologie ist die „Lehre von der differenzierten Menschenseele". Sie hat die Unterschiede der seelischen Funktionen bei den verschiedenen Individuen zu behandeln. Ihre Aufgabe ist es daher, die wirklich vorhandenen seelischen Verschiedenheiten aufzufinden und zu beschreiben, alsdann den Nachweis zu führen, daß diese Verschiedenheiten besondere Erscheinungsformen der allgemeinen psychischen Elemente, Gesetze und Funktionen sind, die wir aus der generellen Psychologie kennen; ferner die aufgefundenen psychischen Besonderheiten in Typen einzuordnen und die Entstehung komplexerer Typen aus dem Zusammentreffen einfacher Typenformen zu beobachten; endlich Einblick zu gewinnen ,,in das Wesen der Individualität, indem man sie als Kreuzungspunkt verschiedener Typen betrachtet." Die Erforschung seelischen Daseins als individuelles Ganzes, das heißt in der Form der Persönlichkeit, ist nicht Angelegenheit der Psychologie. Diese hat hat es vielmehr mit der „sachlichen" Betrachtungsweise menschlichen Seelenlebens zu tun. Der Gegensatz zwischen Person und Sache und seine philosophische Auslegung ist das Fundament des von St. entwickelten Personalismus. Er versteht unter Person „ein solches Existierendes, das, trotz der Vielheit der Teile, eine reale, eigenartige und eigenwertige Einheit bildet und als solche, trotz der Vielheit der Teilfunktionen, eine einheitliche, zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt". Im völligen Gegensatz dazu steht die Sache. Sie ist ein Aggregat aus vielen Teilen, ohne eigenen Wert, nicht einheitlich und zielstrebig, passiv und fremden Zwecken unterworfen. Ist die Person zwecktätige sinnvolle Ganzheit, so ist die Sache zweckfremde mechanische Summe. In dem Widerspiel zwischen Person und Sache sieht St. den für jede Weltanschauung grundlegenden Gegensatz, nicht in der Trennung zwischen Seele und Leib, Geist und Stoff, Psyche und Physis. Das Vorhandensein von Personal- und Sachsystem darf nicht dualistisch gedeutet werden. Es liegen nur zwei Betrachtungsweisen derselben Wesenheiten vor, nicht zwei substantiell verschiedene Seinsweisen. Sehe ich die Wesenheit von der ihr übergeordneten Wesen-
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heit oder vom Standpunkt des Ganzen aus an, so ist sie persönlich; betrachte ich sie dagegen vom Standpunkt der Teile aus, so ist sie sachlich. St. nimmt zwei Daseinsstufen der Person an, die Stufe der bloßen Selbsterhaltung oder der „Person an sich" und die Stufe der Selbstentfaltung oder der „Person an und für sich". Die Welt ist eine Hierarchie von Personen, die von der göttlichen Allperson umschlossen sind. Der anscheinende Dualismus zwischen Physis und Psyche stellt sich also bei St. als Monismus dar. Die Person ist metaphysisch und metapsychisch zugleich. Physisches und Psychisches sind ihre Erscheinungsformen. Die Person erscheint als Objekt und ist ein Ich mit Bewußtsein. Zwischen Physischem und Psychischem besteht ein Parallelismus. Alles Wirken ist personal, daher zweckgerichtet. „Die Person wirkt als Ganzes auf ihre Teile, zum Zwecke des Ganzen." St.s Philosophie der Werte vertritt einen konkreten Idealismus. Die personalen Wesenheiten verschiedener Stufenordnung bilden zugleich das System der Selbstwerte. Auf sie gehen alle abgeleiteten Werte zurück. Es muß zwischen „Strahlwert" als der Ausstrahlung selbstwertigen Seins und „Dienstwert" unterschieden werden, der allem zukommt, was als Mittel zur Bedienung von Selbstwerten brauchbar ist. Das Individuum hat allgemeine Pflichten gegen übergeordnete Werte, es hat aber zugleich seinen eigenen Selbstwert als Persönlichkeit zu erfüllen. Beides vereint kommt in dem sittlichen Imperativ zum Ausdruck: „Gestalte dein Leben so, daß dein Verhalten zu den geheiligten Werten außer dir in deine eigene Selbstwert-Erfüllung aufgenommen werde." Mit diesem Imperativ wird zugleich das Prinzip der „Introzeption" befolgt. Es besagt nach St., daß das Individuum sich ohne Verlust seiner Persönlichkeit durch innere Zielaneignung höheren Personaleinheiten unterordnen kann und soll; dadurch erfährt es eine Selbsterweiterung, keine Selbstaufgabe. Zu den Personen höherer Ordnung gehören bei St. Familie, Volk, Menschheit. S c h r i f t e n : Die Analogie im volkstümlichen Denken, 1893. — Über Psychologie der Veränderungsauffassung, 1898. — Ideen zu einer Psychologie der individuellen Differenzen, 1900; umgearb. unter dem Titel: Die differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen, 1911. — Die psychologische Arbeit des 19. Jhs., 1900, — Zur Psychologie der Aussage, 1902, — Die Aussage als geistige Leistung und als Verhörsprodukt, 1903. — Helen Keller, 1905. — Person und Sache, Bd. I: Ableitung und Grundlehre, 1906; 2. A. 1923; Bd. II: Die menschliche Persönlichkeit, 1918; 3. A. 1923; Bd. III: Wertphilosophie, 1924. — Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes, zus. mit Clara Stern, I. Die Kindersprache, 1907; II. Erinnerung, Aussage u. Lüge in der ersten Kindheit, 1909. — Die psycholog. Methoden der Intelligenzprüfung, 1912. — Psychologie der frühen Kindheit, 1914. — Die Intelligenz der Kinder u. Jugendlichen, 1920. — Psychologie u. Schülerauslese, 1920. — Anfänge der Reifezeit, 1925. — Selbstdarstellung, in: Die Philos, der Gegenw a r t in Selbstdarstellungen, Bd. VI, 1927. — Hrsg.: Beiträge zur Psychol, d e r Aussage, 2 Bde., 1903 u. 1906. — Mithrsg,: Zeitschrift für angewandte Psychologie, 1907—1933, und: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, 1916—1933. L i t e r a t u r : Festschrift zum 60. Geburtstag, hrsg. v. A, Adler, 1931, in: Zeitschr. für angewandte Psychologie, Beiheft 59. — Eugen Seiterich, Die logische Struktur des Typusbegriffs bei W . St., E d u a r d Spranger u. M a x W e b e r , Diss., Freiburg 1930, — Siegfried Casper, Die personalistische Weltanschauung W. St.s, Leipzig 1933.
Sternberg, Kurt, geb, 19. Juni 1885 in Berlin. Dr. phil. Neukantischer Standpunkt. S c h r i f t e n : Friedrich Paulsen, Nachruf und kritische Würdigung, 1908. — Versuch einer Entwicklungsgeschichte des kantischen Denkens bis zur Grundlegung des Kritizismus, 1909. — Gerhart Hauptmann, der Entwicklungsgang seiner Dichtung, 1910. — Beiträge zur Interpretation der kritischen Ethik, 1912. — Zur Logik der Geschichtswissenschaft, 1914; 2. Aufl. 1925. — Der Kampf zwischen Pragmatismus und Idealismus in Philosophie und Weltkrieg, 1917. — Einführung in die Philosophie vom Standpunkt des Kriti-
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Sternberg, Theodor—Sternberger
zismus, 1919. — Moderne Gedanken über Staat und Erziehung bei Plato, 1920; 2. Aufl. 1924. — Die politischen Theorien in ihrer geschichtlichen Entwicklung vom Altertum bis zur Gegenwart, 1922. — Idealismus und Kultur, 1923. — Walther Rathenau, der Kopf, 1924. — Die Geburt der Kultur aus dem Geist der Religion, entwickelt an Gerhart Hauptmanns Roman „Die Insel der großen Mutter", 1925. — Was heißt und zu welchem Ende studiert man Philosophiegeschichte?, 1926. — Heinrich Heines geistige Gestalt und Welt, 1929. — Neukantische Aufgaben, 1931. — Die Geburt des Etwas aus dem Nichts, 1933. — Der Ursprungsgedanke im bibl. Schöpfungsbericht u. in Goethes Faust, 1934, — Hrsgb. v. Staatsphilosophie, in: Quellenhdb. der Philos., 1923. — Der Neukantianismus und die Forderungen der Gegenwart, in: Kantst., 1925, — Die philosophischen Grundlagen in Spenglers „Untergang des Abendlandes", ebenda 1927. — Über die Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen, ebenda 1931, — Spinoza, Gedanken anläßlich s. 250, Todesjahres, in: Arch. f. Rechts- u. Wirtschaftsphilos., 1927. — Schelling, die Philos. d. Romantik, 1922.
Sternberg, Theodor, geb. 5. Januar 1878 in Berlin. 1899 Dr. jur. in Berlin, 1905 Hab. in Lausanne, 1913 o. Prof. für Deutsches Recht u. Rechtsphilosophie in Tokio. 1918, 1922—1925 japanischer Ministerialrat und Dozent an zahlreichen japanischen Universitäten. — Rechtsphilosoph, S c h r i f t e n : Allgemeine Rechtslehre, 2 Bde., 1904. — Einführung in die Rechtswissenschaft, 1912. — I, H. von Kirchmann u. seine Kritik der Rechtswissenschaft, 1908. — Charakterologie als Wissenschaft, 1907. — Das Verbrechen in Kultur u. Seelenleben der Menschheit, 1911. — Entwicklungslinie der Rechtsphilosophie, 1915. — Der Komparatismus u, die Struktur der Wissenschaften, 1929/30. —• Der Begriff der Philosophie, 1933,
Sternberger, Dolf, geb. 28. Juli 1907 in Wiesbaden. Studium 1925 bis 1932, insbesondere 1927 in Heidelberg bei Karl Jaspers und 1929 bei Martin Heidegger in Freiburg. Promotion 1932 bei Paul Tillich in Frankfurt a. M. Die kritische Untersuchung der Existential-Ontologie von Martin Heidegger (Der verstandene Tod) kommt zu dem Ergebnis, daß der Tod nicht ,^erstanden" werden kann. Die Leugnung der Kontingenz des Todes, die Aufblähung des Subjekts zu einem weltlosen, wenn auch angst- und sorgenvollen „Dasein" und die Ausschließung Gottes aus der Ontologie läuft auf eine hybride und selbstische Blindheit gegen den wirklichen Menschen hinaus, sei dieser wirkliche Mensch nun der andere, der Nächste oder ich selbst. In dem „Panorama" wird eine Geschichtsschreibung entwickelt, die weder das „Geistige" von dem wirklichen Geschehen abspaltet, noch das Geschehen nur kausal begreifen will. Es zeigt sich, wie der für das 19, Jahrhundert vor allem charakteristische Versuch, das Leben, die Geschichte, die Naturentwicklung und den Sinn des Daseins in einem geschlossenen Entwicklungszusammenhang zu vergegenständlichen und sich gegenüberzustellen, zwar die Transzendenzbeziehung des unmittelbar dem Daseinssinn zugewandten Menschen weithin zurückdrängen und scheinbar an die Grenze des Lebens in nur noch künstlerische Erscheinungsweisen hinein entwirklichen, jedoch ihn nicht ganz aufgeben kann. Der dargebotene Querschnitt durch die Gesamtheit des geistig-gesellschaftlichen Seins eröffnet den Weg zu einer der menschlich-geistigen Totalität gerechter werdenden Auffassung der eigenen Existenz und damit zu einer Lösung der sich selbst nahezu aufhebenden intellektuellen und künstlerischen Entwirklichung der Sinngebung des Daseins. Das Philosophieren St.s entwickelt sich vor allem in der Form des Essays in unmittelbarer Beziehung auf konkrete Erscheinungen des geistigen Daseins. S c h r i f t e n : Der verstandene Tod, Leipzig, 1934. — Panorama oder Ansichten vom neunzehnten Jahrhundert, Hamburg 1938. — Charly Chaplin, Der Idiot (Dostojewski), Don Quichotte. Ein Versuch über die komische Existenz, in: Die Kreatur, Hg. Martin Buber
Sterzinger—Stewart, Dugald
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u. a., 1930, H. 4. — Jugendstil, Begriff und Physiognomik, in: Neue Rundschau, Berlin 1934. — Einsichten Rudolf Kassners, in: Europäische Revue, 1940, H. 11. — Über eine Fabel von Lessing, in: Die Wandlung, Jg. I, H. 6, 1946, — Herrschaft und Freiheit, ebda. Jg. I, H. 7, 1946. — Nationen und Parteien in der gegenwärtigen Weltlage, ebda., Jg. III, H. 5, 1948. — Aspekte des bürgerlichen Charakters, ebda. Jg. IV, H. 6, 1949.
Sterzinger, Othmar, geb. 1. April 1879 in Reutte (Tirol). 1912 Promotion, 1919 Habilitation, 1927 a. o. Prof. in Graz, gleichzeitig Gymnasiallehrer dort. S c h r i f t e n : Zur Logik u. Naturphilos. der Wahrscheinlichkeitslehre, 1911. — Das Steigerungsphänomen beim künstlerischen Schaffen, in: Zeitschrift für Ästhetik, 1917. — Über den Stand u. die Entwicklung der Begabungen während der Gymnasialzeit, in: Archiv für die gesamte Psychologie, 1924. — Die Gründe des Gefallens u. Mißfallens am poetischen Bilde, in: Archiv für die gesamte Psychol., 1913. — Zur Prüfung u. Untersuchung der abstrakten Aufmerksamkeit, in: Zeitschr. für angewandte Psychol., 1927. — Grundlinien der Kunstpsychologie, 2 Bde., 1938 u. 1939. L i t e r a t u r : E. Czuker, Die philos. Grundlagen der Wahrscheinlichkeitslehre, 1923. — Friedrich Kainz, Das Steigerungsphänomen als künstlerisches Gestaltungsprinzip, 1924.
Steudel, Adolf, geb. 29. Juli 1805, gest. 7. April 1887 in Stuttgart. Studium der Theol., Jurisprudenz und Philos. Rechtsanwalt in Stuttgart. 1877 Dr. phil. h. c. von Tübingen. — Als Philosoph vertritt St. den spinozistischen Pantheismus. S c h r i f t e n : Philosophie im Umriss, 4 Bde., 1871—85. — Kritik der Religion, 1881. — Betrachtungen über die Rechtslehre, 1884. — Der Spiritismus vor dem Richterstuhle des philosophischen Verstandes, 1886. — Das goldene ABC der Philosophie, hrsg. von Max Schneidewin, 1891.
Stewart, Balfour, geb. 1. November 1828 in Edinburgh, gest. 18. Dezember 1887 bei Drogheda (Irland). Studium in Edinburgh. 1859 Direktor des Observatoriums in Kew. 1870—1887 Prof. für Naturphilosophie an Owens College, Manchester. Der hervorragende englische Physiker und Meteorologe St. ist der Überzeugung, daß die Annahme der Unsterblichkeit mit wissenschaftlicher Zuverlässigkeit auf die Lehre von der Erhaltung der Kraft, verbunden mit der Theorie der Wirbelatome, gestützt werden kann, und versucht mit Tait zusammen den exakten Beweis dafür zu liefern. S c h r i f t e n : The unseen universe, or physical spéculations on a future state, London 1875, zus. mit Peter Guthrie Tait. — Paradoxical philosophy, London 1878. — The conservation of energy, 1872.
Stewart, Dugald, geb. 22. November 1753 in Edinburgh, gest. 11. Juni 1828 ebenda. 1765—1769 Studium der Mathematik und Philosophie in Edinburgh, Schüler von Adam Ferguson. 1771 nach Glasgow zum Studium der Philos, bei Thomas Reid. 1772—1785 Prof. für Mathematik in Edinburgh, ab 1785 für Philosophie als Nachfolger von Ferguson. St. gehört als Anhänger und Deuter der Philosophie von Thomas Reid der „Schottischen Schule" von Commonsense-Philosophen an. Die selbstgewissen Grundsätze des common sense (gesunden Menschenverstandes) heißen bei St. Fundamentalgesetze des menschlichen Fürwahrhaltens (fundamental laws of human belief). Die Gewißheit von der Realität der Außenwelt leitet er ab aus der wiederholten Wahrnehmung desselben Gegenstandes in Verbindung mit unserm Glauben an eine feste Naturordnung. Die Existenz des empfindenden und denkenden Ich ist eine „suggestion" des Verstandes, nicht eine Empfindungstatsache. Als glänzender Lehrer und Redner hat St. stark zur Verbreitung der schottischen Schule beigetragen. Seine Übersetzer Prévost und Théodore Jouffroy machten ihn in Frankreich bekannt.
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Stiedenroth—Stirling
S c h r i f t e n : Elements of the philosophy of human mind, Bd. I: 1792, Bd. II: 1814; Bd. Ill: 1827; dt. von S. W. Lange, Bd. I: 1794, als: Anfangsgründe der Philosophie über die menschliche Seele. — Outlines of the moral philosophy, 1793; mit Anmerkungen von J. MacCosh, London 1863. — Account of the life and writings of Adam Smith, 1793. — Account of the life and writings of Principal Robertson, 1796. — Account of the life and writings of Dr. Reid, 1802, — Philosophical essays, 1810. — Dissertations on the progress of metaphysical, ethical and political philosophy since the revival of letters In Europe, 2 Bde., 1815—1822. — Philosophy of the active and moral powers of man, 2 Bde., 1828. — Collected works, hrsg. v. William Hamilton, 11 Bde., 1854—1858. L i t e r a t u r : John Veitch, Life of Dugald St., in: Collected Works, hrsg. v. W. Hamilton, 1854. — J. MacCosh, Scottish philosophy, 1875. — F, Harrison, The philosophy of common sense, London 1907.
Stiedenroth, Ernst, geb. 11. Mai 1794 in Hannover, gest. 3. Mai 1858 in Greifswald. Studium der Theol. und Philos. in Göttingen. 1816 Dr. phil. mit Diss.: Nova Spinozismi delineatio. 1817 Habilitation für Philos. in Göttingen. 1819 Privatdozent in Berlin. 1825 a. o., 1827 o. Professor in Greifswald. St, ist Herbartianer. Seine Psychologie wurde von Goethe geschätzt. S c h r i f t e n : Theorie des Wissens mit Rücksicht auf den Skeptizismus, 1819. — Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen, 2 Bde., 1824.
Stieglitz, Theodor, geb. 1840 in Chiesch (Böhmen). Gymnasialdirektor. Stand unter dem Einfluß Schopenhauers. S c h r i f t e n : Grundzüge der historischen Entwicklung aus den übereinstimmenden Prinzipien der Philosophie A. Schopenhauers und der naturwissenschaftlichen Empirie, Wien 1881. — Über den Ursprung des Sittlichen, 1894.
Stieler, Georg, geb. 28. Januar 1884 in Worms a. Rh. 1922 Pd. für Philosophie in Freiburg i. Br., 1929 a. o. Prof., 1934 o. Prof. dort, 1949 emeritiert. S c h r i f t e n : Nik. Malebranche, 1925. — Person u. Masse, Untersuchungen zur Grundlegung einer Massenpsychologie, 1929. — Leibniz u. Malebranche und das Theodiceproblem, 1930, — Gegenstand u. Methode in der Erziehungsaufgabe der deutschen Gegenwart, 1935. — Fichte als politischer Erzieher, 1937. — Menschwerdung des Menschen, 1947. — G. W. Leibniz, 1949.
Stilpon von Megara, lehrte um 320 v. Chr. in Athen. — Der griechische Philosoph St. gehört zur megarischen Schule. Er ist Gegner der platonischen Ideenlehre. Seine ethischen Ansichten teilt er mit Antisthenes. Ziel des sittlichen Strebens ist die Apathie; der Weise ist selbstgenügsam. Zu St.s Schülern gehört Zenon von Kition, der Begründer der Stoa. L i t e r a t u r : 0 . Apelt, Stilpon, in: Rheinisches Museum, 53, 1898, S. 621 ff.
Stirling, James Hutchinson, geb. 22. Januar 1820 in Glasgow, gest. 19, März 1909 in Edinburgh. Bewerbung um die Professur für Moralphilosophie in Edinburgh 1868, wird von Mill abgelehnt, trotz Befürwortung durch Carlyle. Der schottische Arzt und Philosoph St. hat als Erster in England die Philosophie Hegels eingeführt und zur Wirkung gebracht und dadurch einen Bruch mit den überlieferten philosophischen Denkrichtungen, Empirismus, Utilitarismus, Evolutionismus veranlaßt. Er erkannte, daß die englische Philosophie seit Hume stagnierte und bemühte sich, sie aufzurütteln. „Hume ist unsere Politik, Hume ist unser Handel, Hume ist unsere Philosophie, Hume ist unsere Religion, — es fehlt nicht viel, daß Hume auch unser Geschmack wäre." St, bekämpfte Sir William Hamiltons negative Beurteilung der nachkantischen Philosophie in Deutschland und führte mit seinem Hegelbuch (1865) den entscheidenden Durchbruch der deutschen idealistischen Philosophie, besonders von Hegels Gedankengut, in der Philosophie Großbritanniens herbei. Er wurde dadurch zum Begründer der neu-idealisti-
Stirner
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sehen oder anglo-idealistischen Bewegung und ihrer Teilform, des Anglo-Hegelianismus. S c h r i f t e n : The secret of Hegel, 2 Bde., 1865. — Sir W. Hamilton, being the philosophy of pereeption, 1865. — Lectures on the philosophy of law, 1873. — Textbook of Kant, with commentary, 1881. — Darwinism, workmen and work, 1893. — What is thought, 1900. L i t e r a t u r : Amelia H. Stirling, J . H. Stirling, his life and work, London 1912. — Rudolf Metz, England u. die deutsche Philosophie, 1941.
Stirner, Max, Pseud. für Caspar Schmidt, geb. 25. Oktober 1806 in Bayreuth, gest. 26. Juni 1856 in Berlin. Studierte 1826—1828 Theol. und Philos. in Berlin, als Hörer von Neander, Marheineke, Hegel und Schleiermacher, danach in Erlangen und Königsberg. Lebte als Lehrer, Privatgelehrter und Journalist unter wirtschaftlichem Druck in Berlin. St. steht unter dem Einfluß der Hegeischen Linken, besonders Feuerbachs und Bruno Bauers, doch wirft er beiden Mangel an Radikalismus in ihrer Auffassung des Menschen vor. Er selber gelangt zu einem extremen Individualismus und absoluten Egoismus als dem einzig möglichen philosophischen Standpunkt. Die Allgemeinbegriffe, das Abstrakte überhaupt, die Ideen und die Ideale löst er in bloßen Nominalismus auf. Allgemeine Wesenheiten, Werte, Zwecke sind nur Geschöpfe des Ich. Das Ich ist die einzige Realität, der Dienst am Ich der einzige Wert. Das Ich ist das einzige Wahre. „Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf Nichts gestellt, auf nichts als auf sich. Stelle Ich denn meine Sache gleichfalls auf Mich, der Ich so gut wie Gott das Nichts von allem andern, der Ich mein alles, der Ich der Einzige bin!" St.s Hauptwerk trägt den Titel: „Der Einzige und sein Eigentum", mit dem Motto: Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt. Den Einzelnen, der seine Sache auf nichts als auf sich selber gestellt hat, nennt St. den „Eigenen". Er darf nichts anerkennen als sich selbst. „Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit." Das Verdammungsurteil trifft mit allen Idealen Gott und das Heilige, Kaiser und Papst, Volk und Vaterland, Staat, Gesellschaft und Gemeinwohl. Sie müssen als Gespenster, als bloße Hirngespinste zerstört werden. „Ist der Staat eine Gesellschaft von Menschen, nicht ein Verein von Ichen, deren jedes nur sich im Auge hat, so kann er ohne Sittlichkeit nicht bestehen und muß auf Sittlichkeit halten. Darum sind wir beide, der Staat und Ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser ,menschlichen Gesellschaft' nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur." — „Was kümmert Mich das Gemeinwohl?" Diese Lehren St.s übten Wirkung auf den politischen Anarchismus. „Der Eigene ist der geborene Freie, der Freie von Haus aus: der Freie dagegen nur der Freiheitssüchtige, der Träumer und Schwärmer." Von dieser geringen Art sind nach St. die bürgerlichen Liberalisten. Der „Solipsismus", die Einzigkeitslehre St.s, ist sowohl ethisch als auch erkenntnistheoretisch zu verstehen, „Ich will Alles sein und Alles haben, was Ich sein und haben kann. Ob andere Ähnliches sind und haben, was kümmerts Mich?" — „Ich bin nicht ein Ich neben andern Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig." Dieses individuelle Ich ist weltschöpferisch, nicht, wie bei Fichte, das absolute Ich; denn ein solches ist das Geschöpf meiner Einbildung und hat nur in ihr Existenz. St.s Werk gelangte beim Erscheinen zu vorübergehender Wirkung, auch auf Friedrich Engels, geriet dann aber rasch in Vergessenheit, bis Eduard von Hartmann erneut darauf aufmerksam machte und die Anklänge an Nietzsche dem Buch zu weiterer Verbreitung verhalfen. Philosophen-Lexikon
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Stitny—Stobäus
S c h r i f t e n : Der Einzige und sein Eigentum, Leipzig 1845; 3. A. 1901; in: Reclams Universal-Bibl. erstmalig 1892; Privat-Ausg, von J . H. Mackay, 1911, — Gesch, der Reaktion, 2 Bde., Berlin 1852. — Kleinere Schriften, hrsg. v. J . H. Mackay, 1898; 2. A. 1914. — Übersetzer: Adam Smith, Untersuchungen über den Nationalreichtum, 4 Bde., Leipzig 1846; L. B. Say, Lehrbuch der praktisch-politischen Ökonomie, 4 Bde., Lpz. 1845; L. B. Say, Kapital u. Zinsfuß, Hamburg 1852. — Stirner-Brevier, hrsg. von Anselm Ruest, 2. A., Berlin 1906. — Stirner-Auswahl, hrsg. v. Herbert Stouzh, Berlin 1926, in: Philosophische Reihe, Bd. 84, — Das unwahre Prinzip unserer Erziehung oder Der Humanismus und der Realismus, neu hrsg. v. Willy Storrer, Basel 1927. L i t e r a t u r : John Henry Mackay, Max St., sein Leben u. sein Werk, 1898; 3. A. 1914. — Robert Schellwien, Max St. u. Friedrich Nietzsche, 1892. — Jul. Duboc, Das Ich u. die Übrigen (für und wider M. St.). Ein Beitrag zur Philos, des Fortschritts, 1897. — M. J. P. Lucchesi, Die Individualitätsphilosophie St.s, Diss., Leipzig 1897. — Karl Joel, Philosophenwege, 1901, S. 228—262. — E, Zoccoli, I gruppi anarchici degli Stati Uniti e l'opera di Max St., Modena 1901; Einleitung zu L'Unico, it. Übers, von Der Einzige u. s. Eigentum, 2, A., Turin 1908. — Victor Bäsch, L'individualisme anarchiste de M. St., P. 1904, — Karl Marx u. Friedrich Engels, Der heilige Max, erstmalig veröff, von Eduard Bernstein, in: Dokumente des Sozialismus, Stuttg. 1903/4. — Hermann Schultheiß, St., Grundlagen zum Verständnis des Werkes „Der Einzige u. s. Eigentum", Diss., Greifswald 1906; 2. A., hrsg. v. R. Dedo, 1922. — A, Martin, M. St.s Lehre, Lpz, 1906. — Anselm Ruest, M. St., Leben, Weltanschauung, Vermächtnis, 2. A. 1906. — August Messer, M. St., 1907. — Georg Adler, St.s anarchistische Sozialtheorie, 1907, in: Festgabe für Wilh. Lexis zum 70. Geburtstag. — Ewald Horn, M. St.s ethischer Egoismus, 1907. —• G. Palagero, M, St. et le problème de la vie, Mailand 1909. — Paul Carus, The predecessor of Nietzsche, in: The Monist, 21, 1911, Chicago. — Horst Engert, Das historische Denken M. St.s, 1911 (mit Bibliographie). — George Strugurescu, M, St., Der Einzige u. sein Eigentum, Diss., München 1911. — A. von Winterfeld, St., 1911. — G. Meyer, Die Anfänge des politischen Radikalismus im vormärzl. Preußen, enthält als Anhang: Unbekanntes von St., in: Zeitschrift für Politik, Bd. 6, 1913. — Lachmann, Benedikt, Protagoras, Nietzsche, Stirner, Berlin 1914, in: Bibl, für Philos., Bd. 9. — Hans Sveistrup, Die Philosophie Max St.s, Diss., Berlin 1919 (?); St. als Soziologe, 1928, in: Von Büchern u. Bibliotheken, hrsg. v. G. Abb.; St.s drei Egoismen, 1932. — Neue Beiträge zur Stirner-Forschung, hrsg. von Rolf Engert, Dresden 1921 f. — Rolf Engert, Ein Bildnis Max St.s, 1921. — M. Kurschinsky, Dèr Apostel des Egoismus Max St. u, seine Philos, der Anarchie, aus dem Russ. übers, von Glasenapp, 1923. — Kurt Adolf Mautz, Die Philosophie Max St.s im Gegensatz zum Hegeischen Idealismus, 1936. — Wilhelm Cuypers, Max St. als Philosoph, Diss., Köln 1937. Stitny (von Stitné), Thomas von, lebte 1331 bis 1401 in Böhmen. Studium der Philosophie, Theologie und des kanonischen Rechts an der Universität Prag. Später Lehrer dort. — Der böhmische Philosoph St. steht unter dem Einfluß von Johannes Militz. Seine philosophischen Abhandlungen sind als erste in der tschechischen Muttersprache geschrieben. Sie beschäftigen sich mit Problemen der christlichen Philosophie, vor allem mit ethischen Fragen. Auch dem Begriff des Schönen hat St. eine Abhandlung gewidmet. S c h r i f t e n : O obecnych vecech krestanskych. — De generalibus materiis christianis. — Besednis Reci, Doctae conversationes. L i t e r a t u r : Ignaz Hanusch, Analyse der Philosophie Thomas von Stitnys, Prag 1852. — J. Wenzig, Studien über Th. Ritter von Stitné, Lpz, 1856. — Fr. Palacky, Die Vorläufer des Hussitentums in Böhmen, neue Ausgabe, 1869. — Count Lützow, History of Bohemian literature, New York 1904, S. 63—79. Stobäus (Stobaios), Johannes, geb. in Stobi (Stobai) in Makedonien, lebte im 5. nachchristlichen Jahrhundert. — Die überlieferten, für seinen Sohn Septimius bestimmten Auszüge des St. aus verlorengegangenen griechischen Dichtungen und Prosaschriften bilden eine unserer Hauptquellen für die antiken griechischen Philosophen und ihre Schulen, Hermann Diels führt die doxographischen Zusammen-
Stock—Stöhr
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Stellungen des St. auf die Placita des Aetios (um 100 n. Chr.) zurück, der seinerseits auf den Doxai eines Posidonius-Anhängers im ersten vorchristlichen Jahrhundert fuße. Der antike Titel der Aufzeichnungen St.s lautete „Anthologion". Er wurde im Mittelalter durch die Zweiteilung in Eclogae physicae et ethicae und Florilegium ersetzt. S c h r i f t e n : Florilegium, hrsg. v. Thomas Gaisford, Oxford 1822," hrsg. v. W. Dindorf, 4 Bde., Leipzig 1823/24; von Aug. Meineke, Leipzig 1855/57. — Eclogae physicae et ethicae, hrsg. v. Heeren, Göttingen 1791/1801; von Th. Gaisford, Oxford 1850; von Aug. Meineke, 2 Bde., Lpz. 1860 u. 1864. — Anthologium, hrsg. v. C. Wachsmuth u. O. Hense, 5 Bde. mit Index, Berlin 1884—1923. L i t e r a t u r : O, Hense, Artikel St., in: Pauly-Wissowa, Realenzykl, der klass. Altertumswissenschaft, Bd. 9 (1916), Stock, Otto, geb. 1867, gest. 1903. Privatdozent für Philosophie in Greifswald. — St. ist Anhänger der Immanenzphilosophie Schuppes. S c h r i f t e n : Decartes Grundlage der Philosophie, Diss., Greifswald 1889, — Kantianismus u. Kritizismus, I. Die Probleme der Kritik d. r. V,, Stargard. — Lebenszweck u. Lebensauffassung, 1897, •— Friedrich Nietzsche, 1901. Stöcker, Adolf, geb. 11. Dezember 1835 in Halberstadt, gest. 2. Februar 1909 in Bozen-Gries. Studium der Theol. in Halle und Berlin, Hauslehrer in Kurland, Reisen in Italien. 1863 Pfarrer. 1874—1890 Hof- und Domprediger in Berlin. 1878 Gründung der Christlich-Sozialen Partei. 1890 Mitbegründer des EvangelischSozialen Kongresses. S c h r i f t e n : Christlich-sozial, Reden u. Aufsätze, 1884; 2. A. 1890. — Dreizehn Jahre Hofprediger u. Politiker, 1890. — Gesammelte Schriften, 1896—1897. L i t e r a t u r : D. v. Oertzen, Adolf St., 2 Bde., 1910. — Friedrich Naumann, Gestalten u, Gestalter, hg. v, Theodor Heuß, 1919. — Walter Franck, Adolf St. u. die christlichsoziale Bewegung, 1928; 2. A. 1935. — Paul LeSeur, Adolf St., 1928; 2. A. 1933. — Arnold Poepke, Der christl. Sozialismus A. St.s, Diss., Berlin 1938. — Paul-Gerhard Hübner, A, St.s sozial-ethische Anschauungen, 1930. — Friedrich Brunstädt, A. St., 1935. — Bruno Bendskat, A. St.s Stellung zur Judenfrage, 1937. — Detlev von Walter, Die freie Volkskirche als Ziel A. St.s, Diss., Rostock 1937. — Günther Minia, Ist A. St. ein Irrweg . . . , Diss., Gießen 1943. Stöckl, Albert, lebte 1823—1895. Professor an der bischöflichen Akademie in Eichstätt. — St. vertritt einen neuthomistischen Standpunkt; er ist eifriger Bekämpfer des Materialismus. S c h r i f t e n : Lehrbuch der Philosophie, 7. A., Mainz 1892; neu bearb. v. G. Wohlmuth, 2 Bde., 1905 u. 1912. — Grundzüge der Philosophie, 1892; 2. A. 1911. — Geschichte der neueren Philosophie, 2 Bände, Mainz 1883. — Geschichte der Philosophie des Mittelalters, 3 Bde., Mainz 1864—66. — Gesch. der Philosophie der patristischen Zeit, Mainz 1859. — Der Materialismus geprüft in seinen Lehrsätzen und deren Konsequenzen, Mainz 1877. L i t e r a t u r : A. St., eine Lebensskizze von einem seiner Schüler, Mainz 1897. Stöhr, Adolf, geb. 1855 in St. Pölten (Österreich). Prof. für Philosophie in Wien. — Der Psychologe und Logiker St. gehört in die Richtung von Mach. S c h r i f t e n : Psychologie der Aussage, 1911. — Gehirn u. Vorstellungsreiz, 1912. — Umriß einer Theorie der Namen, 1889. — Zur natürlichen Behandlung des Tiefensehens, 1892. — Gedanken über Weltdauer u. Sterblichkeit, 1894. — Die Vieldeutigkeit des Urteils, 1895. — Letzte Lebenseinheiten, 1897. — Algebra der Grammatik, 1898. — Leitfaden der Logik in psychologisierender Darstellung, 1905; 2. A. 1910. — Philosophie der unbelebten Materie, 1907. — Der Begriff des Lebens, 1909. — Lehrbuch der Logik, 1910. — Monokulare Plastik, 1910. — Das Zeitproblem, 1910. 41*
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Stoltenberg—Störring
Stoltenberg, Hans Lorenz, geb. 20. Mai 1888 in Hamburg. Dr. phil. 1925 Privatdozent in Gießen, 1931 a. o. Prof. dort. 1948 Dozent für Soziologie und Sozialpädagogik am Pädagogischen Institut Weilburg, 1948 Lehrauftrag für Geschichte der Soziologie in Marburg. S c h r i f t e n : Soziopsychologie, 1914. — Wegweiser durch Tönnies, Gemeinschaft u. Gesellschaft, 1919. — Reine Farbkunst in Raum u. Zeit und ihr Verhältnis zur Tonkunst, 1920; 2. A. 1937. — Seelgrupplehre (Psychosoziologie), 1922. — Soziologie als Lehrfach an deutschen Hochschulen, 1926. — Neue Sprachgestaltung, 1930. — Deutsche Weisheitssprache, 1933. — Der eigendeutsche Wortschatz der Weisheitslehre, 1934. — Gesch. der deutschen Gruppwissenschaft, Bd. I, 1937, — Grundformen bewußten Zusammenseins, 1939. — Gesch. der Soziologie, in: Handwörterbuch der Soziologie, hrsg. von A. Vierkandt, 1931. — Grundriß der Leballwissenschaft, in: Festgabe für F. Tönnies, 1936. — Seelgrupplehre, Gesinnschaftslehre u. Verbindungslehre, in: Schmollers Jahrbuch, Bd. 58, 1934. — Der Wortschatz der Wissenschaft, in: Deutsche Wortgesch., 1943.
Stölzle, Remigius, geb. 23. November 1856 in Ob (Baden). Studium der Philosophie und klassischen Philologie in München und Würzburg, 1882 Promotion dort. 1880 bis 1886 Gymnasiallehrer. 1886 a. o. Prof. für Philosophie in Würzburg, 1894 o. Prof. dort. — Im Einklang mit der katholischen Kirchenlehre vertritt St. auch im Bereich seiner philosophischen und philosophie-geschichtlichen Forschungen den aristotelisch-scholastischen Standpunkt. S c h r i f t e n : Die Lehre vom Unendlichen bei Aristoteles, 1882. — Abälards 1121 verurteilter tractatus de unitate et trinitate divina, aufgefunden u. hrsg. 1891. —• K. E. von Baer u. seine Weltanschauung, 1897. — A. v. Köllikers Stellung zur Descendenzlehre, 1901. — E. v, Lasaulx, ein Lebensbild, 1904. — K. E. v. Baers Schriften, ausgewählt u. eingeleitet, 1907. — H. Schell, 1908. — Newtons Kosmogonie, in: Philos. Jahrbuch, Bd. XX, 1907. — Ist die Bezeichnung Kant-Laplacesche Hypothese berechtigt? in: Philos. Jahrbuch, 20. Jg., 1907. — Zahlreiche Zeitschriften-Artikel.
Stoppani, Antonio, lebte 1824 bis 1891. Prof. in Pavia, Mailand und Florenz. — Der italienische Philosoph St. ist Anhänger Rosminis. S c h r i f t e n : II dogma e le scienze positive, 1884. — Sulla cosmogonia mosaica, 1887.
Storchenau, Sigismund von, S. J„ geb. 17. August 1731 bei Klagenfurt (Kärnten), gest. 13. April 1798 in Klagenfurt. 1763 Prof. der Philosophie in Wien. St. ist Wolffianer und Gegner des Deismus. S c h r i f t e n : Institutiones logicae, 1769.— Institutiones metaphysicae, 1769.— Grundsätze der Logik, 1774. — Die Philosophie der Religion, 7 Teile, 1773—81; 2. A. 1807. — Zugaben zur Philos. der Religion, 5 Bde., 1785—89. — Tractatus de religione et theologia naturali, 1786. — Seltenere Urkunden aus dem inneren Archive der Religionsphilosophie, 1791. — Der Glaube der Christen, 1792. — Die Moral des Christen, 4 Bde., 1793—96.
Störring, Gustav, geb. 24. August 1860 in Vörde (Westf.), gest. 1. Dezember 1946 in Göttingen. 1896 Pd. in Leipzig, 1902 bis 1911 o. Prof. für Philosophie in Zürich, 1911 in Straßburg, 1914 in Bonn, 1927 emeritiert. St. ist als experimenteller Psychologe Schüler von Wilhelm Wundt. Als geschulter Psychiater hat er zur Begründung der Psychopathologie beigetragen, und ihre Ergebnisse für das gesamte Seelenleben nutzbar gemacht. Hauptgegenstand seiner Forschung sind die Denkvorgänge, vor allem Urteilen und Schließen. Auch die Theorie der Gefühle wird durch St.s Arbeit weiterentwickelt. Den Ertrag seiner denkpsychologischen Untersuchungen und seiner Psychopathologie wertet St. auch aus zur Förderung der Erkenntnistheorie. Er entwickelt seine eigenen, dem Realismus Külpes nahestehenden Gedanken in kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen Richtungen der Gegenwart, vor allem mit Windelband und Rickert. Beiden macht er den Vorwurf, daß ihre Erkenntnistheorie auf einer unrichtigen psychologischen Urteilslehre ruht.
Stosch—Stout
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S c h r i f t e n : Mills Theorie über den Ursprung des Vulgärglaubens an die Außenwelt, 1889. — Zur Lehre vom Einfluß der Gefühle auf die Vorstellungen, 1896. — Zur Lehre von den Allgemeinbegriffen, in: Psychologische Studien, Bd. X X . — Die Erkenntnistheorie von Tetens, 1901. — Vorlesungen über Psychopathologie in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie, 1900, — Moralphilosophische Streitfragen, 1903. — Ethische Grundfragen, 1906. — Einführung in die Erkenntnistheorie, 1909; 2. A. 1917, — Zur Psychologie des menschlichen Gefühlslebens, 1916; 2. A. 1918. — Logik, 1916. — Die F r a g e der Wahrheit der christlichen Religion, 1920. — Der Hebel der sittlichen Entwicklung der Jugend, 1911; 2. A. 1918. — Erkenntnistheorie, 1920. — Psychologie, 1923, — Das urteilende und schließende Denken in kausaler Bedeutung, 1926. — Die Frage der geisteswissenschaftlichen u. verstehenden Psychologie, 1928. — Die Methode der Psychologie des Gefühlslebens, 1931, in Abderhaldens Handbuch der biolog. Arbeitsmethode, 1931. — Die moderne ethische Wertphilosophie, 1935. — Methoden der Psychologie des höheren Gefühlslebens, 1938, — Die Beziehungen zwischen Psychologie u. philosophischer Ethik, in: Archiv f. die gesamte Psychol., 1932, — Zurechnung u. Verantwortlichkeit, Schuldbewußtsein u, Reue, ebda. 1937. — Das sittliche Sollen, ebda. 1938. — Psychol. der Beziehungen zwischen Sittlichem u. Religiösem, ebda. 1940.
Stosch, Friedrich Wilhelm, (Stossius), geb. 1646 in Berlin, gest. 1704 oder 1707 dort. Hofrat in Berlin, — St. vertritt in seinem anonym erschienenen Werk Concordia rationis et fidei den spinozistischen Pantheismus mit seiner Gleichsetzung von Gott und Natur und mit seinem Determinismus, Er deutet Spinoza naturalistisch und materialistisch. S c h r i f t e n : Concordia rationis et fidei sive Harmonía philosophiae moralis et religionis christianae, Amsterdam (gedruckt in Guben) 1692.
Stout, George Frederick, geb. 6. Januar 1860 in South Shields. Besucht Saint Johns College, Cambridge. 1894 lecturer über Moralwissenschaft in Cambridge, 1896 für vergleichende Psychologie an der Universität Aberdeen. 1903 Prof. an der Saint Andrews-Universität. 1936 emeritiert. Die Hauptgebiete des englischen Philosophen St. sind Psychologie und Erkenntnislehre. Als Psychologe ist er von Herbart beeinflußt, daneben von James Ward. St. versteht unter Psychologie die Wissenschaft von der Entwicklung des Bewußtseins. Er analysiert das Bewußtsein und untersucht die Gesetze und die Resultate der geistigen Prozesse. Die psychische Tätigkeit ist gekennzeichnet durch Richtung auf ein Ziel. In der Erkenntnistheorie vertritt St. eine besondere Art von Idealismus, der durch seine Annahme eines fundamentalen Gegensatzes zwischen Vorstellen und Denken charakterisiert ist. Wir erleben eine Vorstellung, wir denken an Objekte. Eine Vorstellung existiert im Bewußtsein, ein Objekt für das Bewußtsein. Vorstellung und Denken sind in jeder Erkenntnis untrennbar verbunden. Das Vorstellen erhält durch das Denken Sinn und Bedeutung, und es weist dem Denken die Richtung. Das Denken faßt die einzelnen Objekte immer als Teile eines Ganzen auf, und dieses Ganze ist das Universum. Es ist also das allgemeine Objekt alles Denkens. Jeder individuelle Geist spiegelt das Universum von dem Standpunkt seiner Erfahrung aus. Nur wenn sie von einem individuellen Geist erlebt werden, existieren die sinnlichen Vorstellungen, Immer nur Teilchen der Wirklichkeit werden von uns erlebt, die ganze Wirklichkeit aber von einem allgegenwärtigen Geist, den wir postulieren müssen. S c h r i f t e n : Analytic Psychology, 2 Bde., London 1896. — A Manual of psychology, 1898; veränd, Aufl. 1913; 5. A. 1938. — The groundwork of psychology, 1903. — Studies in philosophy and psychology, 1930. — 1891 bis 1920 Herausgeber der Zeitschrift ,,Mind". — Zahlreiche, besonders psychologische Artikel im Mind, erkenntnistheoretische in: Proceedings of the Aristotelian Society, N. S., in: Proceedings of the British Academy, im British Journal of Psychology (s. Uberweg, Bd. V, 1928, S. 152 ff.}.
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Stoy—Straszewski
Stoy, Karl Volkmar, geb. 22. Januar 1815 in Pegau (Sachsen), gest. 23. Januar 1885 in Jena. Pfarrerssohn. Studium der Theol., Philologie und Philosophie bei Hartenstein und Drobisch in Leipzig. 1837 Dr. pliil. Danach in Göttingen Studium der Philos. und Pädagogik bei Herbart, Praktisch-pädagogische Tätigkeit. 1843 Habilitation in Jena mit einer Schrift De auctoritate in rebus paedagogicis Platonicae civitatis principibus tributa. 1844 Gründung der Stoyschen Erziehungsanstalt und des Pädagogischen Seminars in Jena. 1846 a. o., 1857 o. Prof. in Jena, 1866 in Heidelberg, 1867 Seminardirektor in Bielitz (Österr.), 1874 Rückkehr nach Jena. — Der Pädagoge St. ist Herbartianer. Er nimmt eine Unterscheidung zwischen philosophischer, historischer und praktischer Pädagogik vor. S c h r i f t e n : Encyclopädie, Methodologie u. Literatur der Päd., 1861; 2. A. 1878. — Pädagogische Bekenntnisse, Jena 1889. — Philos. Propädeutik, 1869/70. — Im Vorhofe der Psychologie, 1870. — Psychologie in gedrängter Darstellung, 1871. — Die Idee der Erziehungsanstalt, 1885. L i t e r a t u r : G. Fröhlich, K. V. St.s Leben, Lehre u. Wirken, 1885. — A. Bliedner, K. V. St. u. das pädagog. Universitätsseminar, 1886. — Albert Mollberg, K. V. St., 1925. — Joh. Soldt, K. V. St., 1935.
Strabon, geb. etwa 63 v. Chr. in Amaseia im Pontus, gest. etwa 20 n. Chr. in Rom. Ausgebildet in Alexandrien. — Der Geograph St. gehört der späteren Stoa an. Er zeigt sich in seinem Hauptwerk besonders von Poseidonios beeinflußt. S c h r i f t e n : Geographica, hrsg. v. G. Krämer, Berlin 1844—1852; 3 Bde.; hrsg. v. Meineke, 3 Bde., 1852/53 u. 1866, Neudruck 1919 ff.; mit lat. Übers, v. C. Müller u. F. Dübner, 2 Bde., Paris 1853—1857; dt. v. Forbiger, 2 Bde., Stuttgart 1856—1862; 3. A. 1911—1914. L i t e r a t u r : R. Zimmermann, Poseidonios u. St., in: Hermes, 1888, S, 103—130. — G. D. Ohling, Quaestiones Posidonianae ex St. conlectae, Diss., Göttingen 1908. — G. Fritz, De Strabone Stoicorum disciplinae addicto, Diss., Münster 1906. — R. Münz, Quellenkritische Untersuchungen zu St.s Geographie mit besonderer Rücksicht auf die poseidonianische Sprachtheorie, Diss., Basel 1918.
Strachow, lebte 1828 bis 1896. — Der russische Philosoph St. ist Hegelianer. S c h r i f t e n : Die Welt als Ganzes (russ.), Petersburg 1872; 2. A. 1892. — Grundbegriffe der Psychologie u. Physiologie, 1886; 2. A. 1894. — Ewige Wahrheiten, 1887. — Philosophische Skizzen, 1895.
Straszewski, Maurycy, lebte 1848 bis 1921. Studium in Prag und Wien. 1872 Hab. in Krakau. 1879 bis 1910 Prof. dort, danach an der katholischen Universität in Lublin. Der polnische Philosoph St. hat für sein systematisches Schaffen und seine philosophiegeschichtliche Forschungsarbeit verschiedenartige Anregungen empfangen. Er gestaltete sie zu einer eigenartigen Anschauung von Welt und Wirklichkeit aus. S. war Schüler von Lotze und Friedrich Albert Lange. Er bekannte sich zum kritischen Idealismus, und vertrat ihn in mehreren Schriften. Der Oxforder Sinologe James Legge gewann ihn für das Studium der indischen und der chinesischen Philosophie. Durch ihren Vergleich mit der europäischen Entwicklung der Philosophie suchte er die immanenten Gesetze für das methodische Denken der Menschheit in Wissenschaft und Philosophie aufzufinden. St.s eigene Philosophie geht von der Idee des Lebens als der einzigen unmittelbar gegebenen Tatsache aus. Alle Wirklichkeit ist Erlebnis. Unsere Erlebnisse zeigen, daß die Welt zur Ordnung strebt. Sie hat ihren Sinn im Aufbau immer vollkommenerer Wirklichkeiten und im Schaffen immer höherer Werte. Der Weg geht vom sinnlich-Phänomenalen zum vernünftig-Ideellen. Eigentlicher Schöpfer der sinnlich-phänomenalen Welt und der Kulturwerte wie Sprache, Wissenschaft, Philosophie, Moral, Recht, Kunst ist
Straton—Straubinger
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das Leben. Die Quelle des Lebens aber liegt im Absoluten, in Gott. Er ist zugleich das Endziel alles Lebens. Wie die Welt der Phänomene, so besitzt nach St. auch die Ideenwelt nur eine immanente Realität, so daß nur ein gradweiser, kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Welten besteht. Während in Piatos objektivem Idealismus beide Welten für transzendent gelten, sind sie nach dem von St. vertretenen kritischen Idealismus beide immanent. S c h r i f t e n : Ursprung des Pessimismus in Indien, 1884. —• Entwicklung der philosophischen Ideen bei den Indern und Chinesen, 1887, — Über die Bedeutung der Forschungen auf dem Gebiete der orientalischen Philos., 1895. — Ideen zur Gesch. der Philos., 1900. — Le problème de l'espace, 1904. — Gesch. der orientalischen Philos, (poln. u. deutsch), 1894. — Die gegenwärtige Krisis in der Erkenntnistheorie, 1902. — W a s ist Philosophie? 1903. — Die Philos, des hl, Augustinus, 1906. — In Sachen der Metaphysik, 1908. — Der W e r t der Erkenntnis, 1909. — Über Raum- u. Zeitprobleme (französ. u. deutsch), 1910. L i t e r a t u r : W . Gielecki, Prof. St., Krakau 1909. — Josef Bochenski, Die Lehre vom Ding an-sich bei M. v, St., Diss., Freiburg 1931.
Straton von Lampsakos, lebte im 3. vorchristlichen Jahrhundert. Leitete 288 bis 270 v. Chr. die peripatetische Schule, auf Theophrast folgend. Lehrer des Ptolemaios Philadelphus, des Aristarch von Samos und des Lykon aus Troas. St. ist Vertreter der Naturwissenschaft unter den Peripatetikern und trägt den Beinamen ,,der Physiker". Sein Philosophieren stellt eine Verbindung zwischen Aristoteles und Demokrit dar. Die Welt ist nicht von den Göttern geschaffen, sondern diese sind Wirkungen der Natur. „Alle göttliche Kraft liegt in der Natur" (omnem vim divinam in natura sitam esse censet). Von der Natur geht alles Wirken aus. Es geschieht rein mechanisch, ohne Bewußtsein und ohne Zweck. Diese Weltauffassung des St. wird als pantheistischer Naturalismus bezeichnet. St. nimmt einen leeren Raum an, aber nur innerhalb der Welt, zwischen den Grundbestandteilen des Körpers. Diese Grundbestandteile sind unendlich teilbar. Die Tätigkeiten der Seele werden vom Leib bedingt. Psychische Vorgänge, auch Denken und Wahrnehmung, sind Bewegung. S c h r i f t e n : S. Diogenes Laertios 5, 58 ff. — H e r m a n n Diels, Doxographi Graeci, 1879. — Auswahl, deutsch, hg. von Nestle, in: Die Sokratiker, 1922. L i t e r a t u r : G. Rodier, La physique de St. de L., Thèse, Paris 1891. — H. Poppelreuter, Zur Psychologie des Aristoteles, Theophrast, Strato, Programm, Lpz, 1891. — Hermann Diels, Über das physikalische System des St., Sitzungs-Ber, der Berliner Ak., 1893, S. 101—127. — J . H a m m e r - J e n s e n , Das sogen. IV. Buch der Meteorologie des Aristoteles, in: Hermes 50, 1915, S. 113—136 (das Buch wird als J u g e n d w e r k des Straton angesehen). — Capelle, Art. St., in: Pauly-Wissowa, Reihe 2, Bd. 4, 1. Halbbd. 1931.
Straubinger, Heinrich, geb. 5. Juli 1878 in Salmendingen (Hohenzollern). 1901 Priesterweihe. 1908 Pd„ 1909 a. o. Prof., 1918 o. Prof. der Apologetik und Religionswissenschaft in Freiburg i. Br, — Religionsphilosoph. S c h r i f t e n : Die Christologie des hl. Maximus Confessor, 1906. — G r u n d p r o b l e m e der christl. Weltanschauung, 1911. — Die Religion u. ihre Grundwahrheiten in der d e u t schen Philos, seit Leibniz, 1919. — Apologetische Zeitfragen, 1925. — Einführung in die Religionsphilos., 1929, — Religionsphilosophie mit Theodizee, 1934; 2. A. 1949. — L e h r buch der Fundamentaltheologie, 1936. — Evidenz u. Kausalitätsgesetz, in: Philos. J a h r b u c h , Bd. 43, 1930. — Die Evidenz des Kausalitätsgesetzes, in: Philos. J a h r b u c h , Bd. 44, 1931 — Zur natürlichen Gotteserkenntnis, in: Theol, Quartalsschrift, Bd. 126, 1946. — Hrsg.: A. Schill, Theologische Prinzipienlehre, 3. A, 1909; 5. A. 1923.
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Strauss, David Friedrich
Strauss, David Friedrich, geb. 27. Januar 1808 in Ludwigsburg (Württ.), gest. 8. Februar 1874 ebendort. 1821 Eintritt in die Klosterschule Blaubeuren; Friedrich Th. Vischer ist sein Mitschüler. 1825 Übergang auf das Tübinger Stift. Beschäftigt sich mit Schelling und Jakob Böhme. Freundschaft mit Eduard Mörike und Justinus Kerner. Vertiefung in Schleiermachers Glaubenslehre und Hegels Philosophie. 1830 nach Abschluß der Universitätsstudien Vikar. Dr. phil. Am 3. November 1831 nach Berlin, am 14. November stirbt Hegel. Eintritt in den Kreis der Hegelianer. Nähere Bekanntschaft mit Vatke. Lose Verbindung mit Schleiermacher. Im Mai 1832 Repetent am Tübinger Stift; hält Vorlesungen über Logik und Metaphysik, Geschichte der neueren Philosophie und der Moral, auch über Piatos Symposion. 1835 nach Erscheinen des „Lebens Jesu" wird St. die Tübinger Repetentenstelle auf Betreiben der Kirchenbehörde entzogen. Er erhält ein Schulamt in seiner Vaterstadt. Herbst 1836 nach Stuttgart als Privatgelehrter. Januar 1839 Ruf nach Zürich auf den Lehrstuhl der Dogmatik, auf Veranlassung von Ferdinand Hitzig und Kaspar Orelli; doch Pensionierung vor Amtsantritt wegen Widerstands der Bevölkerung. August 1842 Heirat und Übersiedlung nach Sontheim und Heilbronn; bald Trennung von seiner Frau. 1848 württembergischer Abgeordneter. Von 1849 bis 1851 in München, dann mit seinen beiden Kindern in Weimar und Köln, nach 1854 in Heidelberg, 1860 in Berlin, 1865 bis 1872 in Darmstadt, danach in Ludwigsburg. Den ersten Zugang zur Philosophie gewinnt der junge Str. von der romantischen Gedankenwelt aus. Schleiermachers Glaubenslehre, übermittelt durch Str.s Lehrer Ferdinand Christian Baur, Jacobis Überzeugung von der Ursprünglichkeit und Gewißheit des gefühlsmäßigen Glaubens und Schellings intellektuelle Anschauung wirken auf die Erzeugung einer mystischen Grundstimmung in ihm hin. Dem Rationalismus und der Aufklärung ist er feind. „Eine tiefe Sehnsucht nach dem Mohne der Geisterdämmerung durchdrang ihn" (Friedrich Th. Vischer, nach H, Maier, S. 270). Mörike verstärkt diesen romantischen Einfluß nach der ästhetischen Seite. Die Anschauung der Romantik von der Geschichte als einer Auswirkung unbewußter Kräfte aus der Tiefe der Volksseele hat Str. dauernd bewahrt. Vorübergehend gerät er in den Bann von Schleiermachers Glaubenslehre mit ihrer Betonung des Gefühls als Grundfunktion religiösen Lebens. Schleiermachers dialektische Kunst macht ihn aufnahmebereit für Hegels Phänomenologie und für sein Verfahren. Er wird Hegelianer. „Die ganze Weltgeschichte zog in neuer Beleuchtung an uns vorüber; Kunst und Religion in ihren verschiedenen Formen tauchten an ihrer Stelle auf, und dieser ganze Reichtum an Gestalten ging aus dem e i n e n Selbstbewußtsein hervor und wieder in dasselbe zurück, das sich damit als die Macht aller Dinge kennen lernte". Wie in der Philosophie die ewige Weltvernunft zum Selbstbewußtsein gelangt, so schaut auch im Glauben das Absolute sich selbst an, aber auf einer niedrigeren Stufe. Erkenntnisform der Philosophie ist das begriffliche Denken, Erkenntnisweise des Religiösen, des Glaubens ist die bildliche Vorstellung. Der Inhalt ist der gleiche, vor allem im christlichen Dogma, das der Philosophie am nächsten steht. Aber die Frage erhebt sich, wo sich Vorstellungsform und Ideengehalt voneinander scheiden. Sie konzentriert sich für Str. bald auf das Problem, ob der historische Charakter der christlichen Urkunden, vor allem der Evangelien, zum Inhalt des Glaubens oder zur Form gehört, ob er also ewige Wahrheit beansprucht, für Begriff und Vorstellung in gleicher Weise, oder ob er das begreifende Denken nicht bindet? Str. gibt seine Antwort im „Leben Jesu" (1835/36). Die christliche Religion steht wie das Heidentum auf der Stufe des sinnlich-bildlichen Vorstellens. In beiden, im christlichen Dogma wie im heidnischen Mythus, liegt
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philosophische Wahrheit, nicht historische, doch ist sie in ein geschichtliches Gewand gekleidet. Aus der Wahrheit der Idee darf nicht auf historische Wahrheit, etwa der biblischen Erzählungen, geschlossen werden. Auch kann daraus nicht bewiesen werden, daß die berichteten Ereignisse geschehen sein müssen. Die Grundidee der christlichen Religion ist auch die der absoluten Philosophie: die werdende Einheit göttlicher und menschlicher Natur. Aber die Realität dieser Idee fordert nicht, daß sich diese Einswerdung einmal in e i n e m Individuum vollzogen haben muß. Es ist „gar nicht die Art, wie die Idee sich realisiert, in e i n Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle anderen zu zeigen." Nur im Kollektivgeist der Menschheit und nicht in einem einzigen Menschen kann das Absolute zum Selbstbewußtsein gelangen, und nicht in einem bestimmten Zeitpunkt, sondern nur von Ewigkeit her kann sich die Menschwerdung Gottes realisieren. Ob die Einswerdung mit Gott im historischen Jesus stattgefunden hat, muß die historische Forschung mit den Mitteln der Kritik entscheiden. Für die Wahrheit des Glaubens ist nur wesentlich, daß „als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale" zu setzen ist. Die Menschheit ist „die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche, und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Geistes und der Natur". Daraus folgt für die neutestamentlichen Erzählungen, daß sie nicht im geschichtlichen Sinne wahr sein müssen; sie sind mythisch, wie die heidnischen Sagen. Der Mythus ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Religion. Er hat als Grundform religiösen Vorstellens zu gelten. In ihm sieht der Religiöse das Absolute in sinnlicher Gestalt an, als religiöse Geschichte. So auch im Monotheismus. Str. deutet also das Neue Testament mythisch. Sein Mythusbegriff ist romantischer Herkunft. Die Mythen sind nach ihm Dichtungen, nicht als Werk einzelner Individuen, sondern als Schöpfungen religiöser Gemeinschaften oder des Geistes der Völker. Diese Dichtungen steigen unbewußt aus der Tiefe des Gemeingeistes; aber auch in ihnen wirkt die historische Vernunft: die Ideen gewinnen in den Mythen geschichtliche Gestalt. Die Quelle der Geschichte Jesu ist das unbewußte Dichten der Urgemeinde, die sich dabei der Vorstellungsmittel des jüdischen Volkes bedient. „Wie der Gott des Plato auf die Ideen hinschauend die Welt bildete: so hat der Gemeinde, indem sie, veranlaßt durch die Person und Schicksale Jesu, das Bild ihres Christus entwarf, unbewußt die Idee der Menschheit in ihrem Verhältnis zur Gottheit vorgeschwebt." Auf dem Boden von Hegels Philosophie will Str. auch beharren in seinem zweiten großen Werk: „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt" (1840/41). Aber inzwischen war Feuerbach hervorgetreten mit neuen religionsphilosophischen Gedanken, und von seiner Auffassung der Religion als Funktion des Gemüts und der Phantasie blieb Str. nicht unbeeinflußt. Er löst nun den inneren Zusammenhang zwischen Spekulation und Glauben. Der Wissende ist über Glauben und Religion hinausgewachsen und findet die Befriedigung seines Gemüts in philosophischen Erkenntnissen. Str. fordert: es „lasse der Glaubende den Wissenden, wie dieser jenenruhigseineStraße ziehen; wir lassen ihnen ihren Glauben, so lassen sie uns unsere Philosophie!" Entsprechend seinem Standpunkt: „Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte" untersucht Str. die Entwicklung von Glaubensvorstellungen über Häresien zu kirchlichen Symbolen und weiter zu Dogmen, sowie die Zersetzung der Dogmen durch das Erwachen der Kritik. Die Vollendung der Kritik liegt in der spekulativen Einsicht. Auch den Ersatz für die aufgelösten
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Dogmen hat die Philosophie zu liefern, nachdem sich herausgestellt hat, daß die kirchlichen Lehren vor der Wissenschaft der Zeit nicht mehr bestehen können. Str. leistet seine rationale Kritik des Dogmas aus der Überzeugung heraus, daß die Theologie „nur insofern noch produktiv" sein könne, „als sie destruktiv ist". Drei Jahrzehnte später, nachdem er durch das Studium Schopenhauers, Friedrich Albert Langes und naturwissenschaftlicher Schriften hindurchgegangen war, und nach Veröffentlichung seiner Biographien über Hutten (1858 und 1871) und über Voltaire (1870), faßt Str. in einem neuen Werk das Positive zusammen, was nach der vernichtenden Kritik seiner „Glaubenslehre" von der christlichen Dogmatik doch noch erhalten bleibt. Seine Bekenntnisschrift „Der alte und der neue Glaube" (1872) erfüllt diese Aufgabe im Rahmen der Beantwortung von zwei Fragen; „I. Sind wir noch Christen? II. Haben wir noch Religion?", denen die Auseinandersetzung mit den naturwissenschaftlichen Theorien der Zeit, Darwin und Lamarck, in „III. Wie begreifen wir die Welt?" und mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung vom Dekalog bis zum Aufkommen der Sozialdemokratie in „IV. Wie ordnen wir unser Leben?" folgt. Von der Überzeugung aus, daß die Jenseitshoffnung der Weltanschauung Jesu in völligem Gegensatz zur Diesseitsstimmung seiner Zeit und ihrer Aufgaben steht, und daß die sogenannten „christlichen" Ideale der Brüderlichkeit, Nächstenliebe, Feindesliebe auch auf anderem Boden gedeihen können, gelangt Str. zu dem Ergebnis: „wenn wir nicht Ausflüchte suchen wollen, wenn wir nicht drehen und deuteln wollen, wenn wir J a J a und Nein Nein bleiben lassen wollen, kurz wenn wir als ehrliche aufrichtige Menschen sprechen wollen, so müssen wir bekennen: wir sind keine Christen mehr" (12./14. A., S. 61). Mit einem Überblick über den Ursprung der Religion aus praktischem Bedürfnis, über ihre Weiterentwicklung und ihr Wesen, das im Anschluß an Schleiermacher gefaßt wird, sucht Str. die Möglichkeit zur Lösung seines zweiten Problems zu gewinnen. Schleiermacher hatte erklärt, daß Gott und die Welt einerseits nicht identisch sind; „denn wenn wir Gott denken, so setzen wir eine Einheit ohne Vielheit, denken wir aber die Welt, eine Vielheit ohne Einheit; oder die Welt ist die Totalität aller Gegensätze, die Gottheit die Negation aller Gegensätze. Andrerseits jedoch ist auch keine dieser beiden Ideen ohne die andre zu denken. Sobald man insbesondere Gott vor der Welt oder ohne die Welt denken will, wird man sofort inne, daß man nur noch ein leeres Phantasiebild vor sich hat. Wir sind nicht befugt, ein andres Verhältnis zwischen Gott und Welt zu setzen, als das des Zusammenseins beider. Sie sind nicht dasselbe, aber es sind doch nur zwei Werte für die gleiche Sache". (S. 80.) In diesen Gedanken erblickt Str. das Gesamtergebnis der neueren Philosophie zum Gottesbegriff. „Dieser Begriff beruht darauf, daß in der Auffassung des Seienden, um die Schleiermachersche Formel beizubehalten, das Moment der Einheit von dem der Vielheit getrennt, das Eine als die Ursache des Vielen bestimmt, und weil das letztere als ein in sich zweckmäßig Verknüpftes erscheint, dem ersteren Bewußtsein und Intelligenz beigelegt wird. Da nun aber die richtige Auffassung des Seienden nur die sein kann, es als Einheit in der Vielheit und umgekehrt zu begreifen, so bleibt als die eigentlich oberste Idee nur die des Universum übrig. Diese kann und wird sich uns mit allem demjenigen erfüllen und bereichern, was wir in der natürlichen wie in der sittlichen Welt als Kraft und Leben, als Ordnung und Gesetz erkennen werden; über sie hinauszukommen aber wird uns niemals möglich sein, und wenn wir es dennoch versuchen und uns einen Urheber des Universum als absolute Persönlichkeit vorstellen, so sind wir durch alles Bisherige zum Voraus belehrt, daß wir uns lediglich mit einem Phantasiegebilde zu schaffen machen." Auch jetzt noch sieht Str. die Wurzel des Religiösen in der menschlichen Vernunft: aus einem in-
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stinktiven Erkennen der Welt entstehen unbestimmte Vorstellungen von naturbeherrschenden Mächten und daraus ergibt sich das Abhängigkeitsgefühl; ihm entspringen praktische Bedürfnisse und Wünsche, die das Erkennen beeinflussen und zur Bildung von Göttervorstellungen führen; Gedanken Schleiermachers und Feuerbachs haben seine ursprüngliche, in der „Glaubenslehre" vertretene Ansicht ergänzt und erweitert. Von dem Rückgang des Religiösen, verglichen mit der Vergangenheit, ist Str. überzeugt. Was auf früheren Kulturstufen das religiöse Gefühl erregte, kann jetzt naturgesetzlich erkannt und gedeutet werden, und wir können „das absolute Wesen nicht mehr so herzhaft wie unsre Vorfahren als ein persönliches fassen. Es ist nicht anders: so sehr bis auf einen gewissen Punkt Religion und Geistesbildung Hand in Hand gehen, so ist dies doch nur solange der Fall, als die Bildung der Völker sich vorzugsweise in der Form der Einbildungskraft hält; sobald sie Verstandesbildung wird, und besonders sobald sie durch Beobachtung der Natur und ihrer Gesetze sich vermittelt, fängt ein Gegensatz sich zu entwickeln an, der die Religion immer mehr beschränkt. Das religiöse Gebiet in der menschlichen Seele gleicht dem Gebiet der Rothäute in Amerika, das, man mag es beklagen so viel man will, von deren weißhäutigen Nachbarn von Jahr zu Jahr mehr eingeengt wird." Umwandlung aber ist noch nicht Vernichtung, und die Religion unserer Väter braucht noch nicht erloschen zu sein, weil sie sich gewandelt hat. „Geblieben ist uns in jedem Falle der Grundbestandteil aller Religion, das Gefühl der unbedingten Abhängigkeit. Ob wir Gott oder Universum sagen: schlechthin abhängig fühlen wir uns von dem einen wie von dem andern". (S. 93.) „Wir fordern für unser Universum dieselbe Pietät, wie der Fromme alten Stils für seinen Gott. Unser Gefühl für das All reagiert, wenn es verletzt wird, geradezu religiös. Fragt man uns daher schließlich, ob wir noch Religion haben, so wird unsre Antwort nicht die rundweg verneinende sein, wie in einem früheren Falle, sondern wir werden sagen: ja oder nein, je nachdem man es verstehen will." (S. 97.) Von der Wendung zum Materialismus, die der Hegelianer Str. in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft und ihren für die Philosophie und Psychologie wichtigen Ergebnissen nimmt, legt der dritte Teil: „Wie begreifen wir die W e l t ? " Zeugnis ab. „Wenn unter gewissen Bedingungen Bewegung sich in Wärme verwandelt, warum sollte es nicht auch Bedingungen geben, unter denen sie sich in Empfindung verwandelt?" (S. 139.) Man kann seine Ansicht als „klaren krassen Materialismus" bezeichnen, aber den Gegensatz zwischen Materialismus und Idealismus sieht Str. nur als einen Wortstreit an. Gemeinsamer Gegner beider ist der Dualismus. „Zu dieser dualistischen Weltanschauung verhalten sich sowohl Materialismus wie Idealismus als Monismus . . . Dabei geht die eine Theorie von oben, die andere von unten aus; diese setzt das Universum aus Atomen und Atomkräften, jene aus Vorstellungen und Vorstellungskräften zusammen. Aber sollen sie ihrer Aufgabe genügen, so muß uns ebenso wohl die eine von ihrer Höhe bis zu den untersten Naturkreisen herabführen und zu dem Ende sich durch sorgfältige Beobachtung kontrollieren; wie die andere die höchsten geistigen und sittlichen Probleme in Rechnung nehmen und lösen muß." (S. 140.) Jede dieser Betrachtungsweisen führt in die andere hinüber. „Immer bleibt es dabei, daß wir nicht einen Teil der Funktionen unsres Wesens einer physischen, einen andern einer geistigen Ursache zuzuschreiben haben, sondern alle einer und derselben, die sich entweder so oder so betrachten läßt." (S. 141.) Erst die Naturwissenschaft gibt dem Philosophen die Mittel an die Hand, den Monismus durchzuführen. Str. hat auch den Entwicklungsgedanken Darwins an Hegel angeknüpft. Die organische Bildungskraft, die auf unserer Erde ihren Höhepunkt erreicht hat,
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kann nicht weiter „über sich gehen"; daher „will sie in sich gehen. Sich in sich reflektieren ist ein ganz guter Ausdruck von Hegel gewesen. Empfunden hat sich die Natur schon im Tier; aber sie will sich auch erkennen". Seine eigenartige Synthese von Hegelianismus und Materialismus macht es Str, möglich, nicht nur die philosophische Anschauung des Universums, sondern auch seine naturwissenschaftliche Betrachtung als einen neuen Glauben und als eine Art von Religion in die moderne Gedankenwelt aufzunehmen. Wie es bei der Neuheit seiner Dogmen- und Bibelkritik und ihrer unerschrockenen Anwendung nicht anders sein konnte, hat Str. heftige Gegnerschaft in vielen Lagern heraufbeschworen; seine Wirkung büßte bald an Umfang ein, nahm aber an Tiefe zu. Von Nietzsche wurde Str. zum Bildungsphilister gestempelt. Bei aller Schärfe der Kritik hat Str. doch nicht zu den zersetzenden Geistern gehört. Seine Philosophie, die sich auf Hegels Idealismus gründete, kannte keinen Zweifel an der Güte der Welt. „Wenn die Welt ein Ding ist, das besser nicht wäre, ei so ist ja auch das Denken des Philosophen, das ein Stück dieser Welt bildet, ein Denken, das besser nicht dächte. Der pessimistische Philosoph bemerkt nicht, wie er vor allem auch sein eigenes, die Welt für schlecht erklärendes Denken, für schlecht erklärt; ist aber ein Denken, das die Welt für schlecht erklärt, ein schlechtes Denken, so ist ja die Welt vielmehr gut. Der Optimismus mag sich in der Regel sein Geschäft zu leicht machen, . . . . ; aber jede wahre Philosophie ist notwendig optimistisch, weil sie sonst den Baumast absägt, auf dem sie sitzt" (a. a. O., S. 96). S c h r i f t e n : Das Leben J e s u , kritisch b e a r b e i t e t , 2 Bde., Tübingen 1835; 2. A. 1836; 3. A. 1838; 4. A. 1840. — Streitschriften, 1837, — Vergängliches u. Bleibendes im Christentum, Selbstgespräche, 1838, u. in: Zwei friedliche Blätter, 1839. — Charakteristik e n u. Kritiken, 1839 (enthält Studien über Schleiermacher u. Daub}. — Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit d e r modernen Wissenschaft, 2 Bde., 1840/41. — Sechs Volksreden, 1848. — Julian d e r Abtrünnige (Satire auf Friedrich Wilhelm IV.). — Schubart, 2 Bde., 1849. — Christian Märklin, 1850. — L e b e n u. Schriften des Dichters u. Philologen Nicodemus Frischlin, 1855. — Ulrich von Hutten, 2 Bde., 1858; 2. A. in einem Band, 1871. — H. S. Reimarus, 1861. — Kleinere Schriften, 2 Bde., 1862 u. 1866. — Das Leben J e s u für das deutsche Volk b e a r b e i t e t , 1863. — D e r Christus des Glaubens u. der Christus der Geschichte, (Kritik von Schleiermachers Vorlesungen über das Leben Jesu), 1865. — Die Halben u. die Ganzen (gegen Hengstenb e r g u. Schenkel), 1865. — Voltaire, 1870. •— Krieg u. Friede, (zwei Sendschreiben an Renan), 1870. — Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis, 1872; 4. A. 1873, mit N a c h w o r t ; 9. A. 1877, — Gesammelte Schriften, nach des Verfassers letztwilligen Bestimmungen zusammengestellt. Eingeleitet u. mit erklärenden Nachweisungen versehen von E d u a r d Zeller, 1876/78, in 12 Bänden; enthält Schriftenverzeichnis in Bd. 11 (in Bd. I erstmalig: Literarische Denkwürdigkeiten; in Bd. XII Gedichte). — Poetisches G e d e n k buch, 1876 als Manuskript gedruckt. — W e r k e , 5 Bde., 1895. — Ausgewählte Briefe, hrsg. u. erläutert von E d u a r d Zeller, 1895. — Briefe an Binder, hrsg. von T h e o b a l d Ziegler, in: Deutsche Revue, Mai bis J u l i 1905. L i t e r a t u r : Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, E r s t e s Stück: David Strauß, d e r B e k e n n e r u. d e r Schriftsteller, 1873. — E d u a r d Zeller, D. F . Str. in seinem L e b e n u. seinen Schriften, Bonn 1874; Artikel Str., in: Allg. Deutsche Biogr,, Bd. 36 (1893), S. 538—548. — A. Hausrath, D. F. Str. u. die Theologie seiner Zeit, 2 Bde., Heidelb e r g 1876 u. 1878. — H. Beneke, W . Vatke, Bonn 1883. — S. Eck, D. F. Str., 1899. — T h e o b a l d Ziegler, D. F. Str., 2 Bde., 1908; Artikel Str.: in: Realenzyklop. f ü r p r o t . Theol. u. Kirche, 3. A. (1907), S. 76—92. — Heinrich Maier, A n der Grenze d e r Philosophie. Melanchthon—Lavater—David Friedrich Strauß, Tübingen 1909. — Kohut, Str, als D e n k e r H. Erzieher 1908. — A. Lévy, D. F. Str., la vie et l'œuvre, 1909. — Kuno Fischer, Über D. F. Str., in: Philos. Schriften, Bd. 5, 1908. — A . W u n d t , D. F. Str. philosophischer Entwicklungsgang u. Stellung zum Materialismus, Diss., M ü n s t e r 1902. — H. Hieber,
Strauss, Otto—Strindberg
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D. F. Str. als Denker u. Dichter, 1909. — Karl Barth, D. F. Str. als Theologe, Zollikon, 1939, in: Theol. Studien, H. 6. Strauss, Otto, geb. 18. Oktober 1881 in Berlin. 1911 Habilitation in Kiel, 1913 Professor in Kalkutta, 1928 o. Prof. in B r e s l a u . — Str. erforscht die indischen philosophischen Quellen. S c h r i f t e n : Brhaspati im Veda, 1905. — Ethische Probleme des Mahabharata, 1912. — Indische Philosophie, 1924. — Udgithavidya, in: Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wiss., 1931. — Die älteste Philosophie der Karma-Mimamsa, ebenda, 1932, — Scholastisches zum Anfang der Isa-Upanishad, in: Festschrift für Winternitz, 1933. — Übersetzer: Vier philosophische Texte der Mahabharata, zus. mit Paul Deussen, 1906; Th. Stcherbatsky, Erkenntnistheorie u. Logik nach der Lehre der späteren Buddhisten, 1924 (aus dem Russischen). Strecker, Reinhard, geb. 22. J a n u a r 1876 in Berlin. 1917 Pd. für Philosophie in Gießen, 1919 a n der Technischen Hochschule Darmstadt, 1923 Honorar-Prof. an der Universität J e n a , 1930 Dozent an der Forstlichen Hochschule Eberswalde, 1945 Honorar-Professor in Leipzig, 1946 in Gießen, für Philosophie. S c h r i f t e n : Die Ethik Kants, Gießen 1909. — Um den Sinn des Lebens, 1932. — Die Philos. der Alkoholfrage, 1938. — Die philos. Probleme in der Forstwirtschaftslehre, 1938. — Pädagogik u. Politik, 1947. — Von Kant zu Hitler, 1947. — Hrsg.: Fichtes Ausgewählte Werke, zus. mit F. Medicus. Strecker, W i l h e l m . Vertreter des materialistischen Standpunkts im 19. J a h r hundert; seine Hauptschrift w u r d e von Ludwig Büchner eingeführt. S c h r i f t e n : Welt und Menschheit vom Standpunkt des Materialismus, Lpz. 1894. Strich, W a l t e r , geb. 19. A p r i l 1885 in Königsberg i. Pr. — Dr. phil. in München. S c h r i f t e n : Prinzipien der psycholog. Erkenntnis, 1914. — Der irrationale Mensch, 1918. — Hrsg.: Schillers Kleine Schriften; zus. mit Fritz Strich; Die Dioskuren, Jahrbuch für Geisteswissenschaften, 1922—1924. Strindberg, August, geb. 22. J a n u a r 1849 in Stockholm, gest. 14. M a i 1912 ebenda. S t u d i u m der Philosophie, Ästhetik und neueren Sprachen an der Universität Upps a l a . Volksschullehrer in Stockholm. Hauslehrer. S t u d i u m der Medizin, Chemie und P h y s i k . Vorübergehend Schauspieler. Erneutes Studium der Philosophie, A s t r o nomie und der Staatswissenschaften bis zum Abschluß. Tätigkeit an der S t a a t s bibliothek, — Schwedischer Dichter und Schriftsteller, S c h r i f t e n : Das Rote Zimmer, 1879. — Heiraten, 1880. — Schweizer Novellen, 1884. — Die Leute auf Hemsö, 1887. — Beichte eines Toren, 1888. — Sohn einer Magd, 1885.—Entwicklung einer Seele, 1886.—Inferno,1897.—Einsam,1903.—Am offenenMeer,1890. — Schwedische Schicksale, 1882/83. — Historische Miniaturen, 1905, — Antibarbarus, 1895. — Nach Damaskus, 1898 u. 1904. — Schwedische Miniaturen. — Traumspiel, 1902. — Ein Blaubuch, 3 Tie., 1907/1908; Nachtrag 1912. — Samlade skrifter, hrsg. von J. Landquist, 55 Bde., 1911—1920; 2. A. 1921—1927. — Deutsche Gesamtausgabe, hrsg. von Emil Schering, 46 Bde., München 1908 bis 1934. — Briefe, Stockholm 1949. L i t e r a t u r : Karl Ludwig Schleich, Erinnerungen an August St. — H. Esswein, A. St., 1908. — Lind-af-Hageby, A. St., the spirit of revolt, New York 1913. — Adolf Paul, St.-Erinnerungen und Briefe, 1914. — Johannes Neuhaus, A. St. in Leben u. Streben, 2. A. 1916. — N. Erdmann, A. St., 2 Bde., 1920; dt. 1924, übers, v. Goebel. — Arthur Liebert, A. St., seine Weltanschauung u. seine Kunst, 1920; 3. A. 1925. — A. Storch, St. im Lichte seiner Selbstbiographie, 1921. — Ludwig Marcuse, St. Das Leben der tragischen Seele, 1922. — K. Möhlig, St.s Weltanschauung, Bd. 1, 1923. — Oskar Anwand, St., 1924. — G. Lindblad, St. som berättare, 1924, — Martin Lamm, St.s dramer, 2 Bde., 1924—1926. — Karl Jaspers, St. u. van Gogh, 1926. — E. Heden, St., 2. A. 1926; dt. 1926. — Eugen Diem, St., ein Beitrag zur Krisis des modernen Europäers, 1929. — Ester Peukert, St.s religiöse Dramatik, Diss., Hamburg 1929. — Dahlström, St.s dramatic expressionism, Michigan 1930. — V. J . MacGill, A. St., the bedeviled Viking, 1930. — A. Jolivet,
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Strohal — Strümpell
L e théâtre de St., 1931. — Frida Strindberg, Lieb, Leid u. Zeit, 1936. — H. V. E. Palmblad, St.s conception of history, Diss., N. Y. 1927.
Strohal, Richard, geb. 22, August 1888 in Mährisch Schönberg. Dr. phil., 1924 Habilitation in Innsbruck für Philosophie und Pädagogik, 1930 a. o. Prof. dort bis 1938, 1945 o. Prof. in Innsbruck. St. ist Schüler von Franz Hillebrand und Alfred Kastil, der ihn in die Lehre Franz Brentanos einführte. Er vertritt diese Lehre in wesentlichen Punkten, vor allem in der Ansicht von der fundamentalen Bedeutung der empirischen Psychologie für alle philosophischen Disziplinen. S c h r i f t e n : Die Grundbegriffe der reinen Geometrie in ihrem Verhältnis zur Anschauung, 1925. (Wissenschaft u. Hypothese, Bd. 27). — Grundfragen der Psychologie, 1927, — Das „Scheinbare" und das „Wirkliche", in: Festschrift für Franz Brentano, Brünn-Leipzig 1938. — Über den Begriff „Krümmung", in: Annalen der Philosophie, 1930. — Untersuchungen zur deskriptiven Psychologie der Einstellung, in: Zeitschr. für Psychologie, 1933. — Hrsg.: Walter Baade, Allg. Einführung in das Gesamtgebiet der Psychologie, Leipzig 1928.
Strong, Charles Augustus, lebte 1862-bis 1940. Von 1903 bis 1921 Prof. an der Columbia-Universität, danach in Italien. — Der amerikanische Philosoph und Psychologe St. ist Vertreter des kritischen Realismus, doch nicht unmittelbar beeinflußt durch Kants Werke. Als Psychologe vertritt er einen Panpsychismus. S c h r i f t e n : Why the mind has a body, 1903. — Leib u. Seele, 1904. — The origin of consciousness, 1918. — The wisdom of the beasts, 1921. — A theory of knowledge, 1923. — Mithrsg.: Essays in critical realism, 1916—1920. L i t e r a t u r : J . C. Gregory, A comparison of St.s theory of perception with Reid's, in: Philosophical Review, Bd. X X X , 1921.
Strümpell, Ludwig, geb. 23. Juni 1812 in Schöppenstedt, gest. 18. Mai 1899 in Leipzig. Durch seinen Braunschweiger Lehrer Griepenkerl 1830 mit Herbart bekannt gemacht, studiert und promoviert er bei ihm in Königsberg mit einer Diss. De methodo philosophico (1833). Nach Scheitern eines Habilitationsplans Hauslehrer in Kurland. 1843 Hab. in Dorpat mit einer Arbeit De summi boni notione qualem proposuit Schleiermacherus. 1845 a. o., 1849 o. Prof. der theoretischen und praktischen Philosophie und Pädagogik. 1871 Entlassung aus dem russischen Staatsdienst und Pd. in Leipzig, 1872 ord. Honorarprofessor. Begründung eines wissenschaftlich-pädagogischen Praktikums. Der Herbartschüler St. hat eine psychologische Pädagogik begründet als „die Wissenschaft von der geistigen Entwicklung des Kindes, bezogen auf die Zwecke, welche die Erziehung des Kindes durch den Erwachsenen im Anschluß an die Individualität desselben zu erreichen strebt". Er behauptet das Vorhandensein von „frei wirkenden Kausalitäten" im Seelenleben des Menschen, neben dem psychophysischen und dem physischen Mechanismus, und gestützt auf Erfahrung und Logik. Er versteht darunter ein „Ursacheverhältnis", in dem unmittelbar bewußte Vorstellungen so aufeinander wirken, daß ein neuer Bewußtseinsinhalt entspringt, der über das den einzelnen Vorstellungen zugehörende Bewußtsein hinausführt und wieder neue Bewußtseinsinhalte hervorbringen kann. Jeder neue Bewußtseinsinhalt hat einen „Zusatz", durch den die Seele in das Bewußtsein eines Wertes versetzt wird, der dann seinerseits weiterwirkt. Es gibt soviel Arten von frei wirkenden psychischen Kausalitäten, wie Unterschiede von Werten vorhanden sind, nämlich: ,,1. die Kausalität des Gefühlslebens der Seele, 2. die logische Kausalität oder die Kausalität der zwingenden Gründe, 3. die ästhetische Kausalität, 4. die Kausalität des Gewissens, 5. die Kausalität der Selbstbestimmung oder der Willensfreiheit". Für die psychisch-mechanische Kausalität stellt St. vier Gesetze auf: 1, das Gesetz
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der Beharrung, 2. das der Kontinuität, 3. das der Ausschließung, 4. das der Reihenbildung. Die Einheit der einfachen Seelensubstanz begründet den einheitlichen Zusammenhang des Psychischen oder die Einheitlichkeit des Bewußtseins. Wegweisend wirkte St.s „pädagogische Pathologie", die einen neuen Wissenschaftszweig einführte. St. will „die Fehlerhaftigkeiten der geistigen Entwicklung während des jugendlichen Alters, soweit es möglich ist, auf diejenigen ihrer Ursachen zurückführen, die entweder im psychischen Mechanismus allein oder in dem Zusammen- und Gegenwirken desselben mit dem physiologischen Mechanismus zu entwickeln sind." Er verspricht sich davon die Möglichkeit, diese Fehler rechtzeitig zu heilen. — Mit Aufzeichnung seiner Beobachtungen an der geistigen Entwicklung seiner Tochter in den ersten beiden Lebensjahren hat St. der Kinderpsychologie fördernde Anregungen gegeben. S c h r i f t e n : Erläuterungen zu H e r b a r t s Philosophie, 1834. — Die H a u p t p u n k t e der H e r b a r t s c h e n Metaphysik, kritisch beleuchtet, 1840. — Die Pädagogik der Philosophen Kant, Fichte, Herbart, 1843. — Vorschule der Ethik, 1844. — Der Begriff vom Individuum, herausgehoben aus dem Netze der p r a k t i s c h e n Begriffe, welche d e r Pädagog zu erzeugen hat, 1845. — Entwurf der Logik, 1846. — Die Universität und das Universitätsstudium, 1848. — Gesch. der griechischen Philosophie, 2 Bde., 1854 u. 1861. — Die Verschiedenheit der Kindernaturen, Vortrag, 1854; Neudruck 1894. — Der Vortrag der Logik, 1858. — Erziehungsfragen, 1869. — Der Kausalitätsbegriff und sein metaphys. Gebrauch in der Naturwissenschaft, 1871. — Die zeitliche Aufeinanderfolge der Gedanken, 1872. — Die N a t u r u. Entstehung der Träume, 1874. — Die G e i s t e s k r ä f t e d e r Menschen, verglichen mit denen der Tiere, 1878. — Psychologische Pädagogik, 1880; 2. A. 1909. — Grundriß der Logik, 1881. — Grundriß der Psychologie, 1884. — Einleitung in die Philos. vom Standp u n k t e der Gesch. der Philos., 1886. — G e d a n k e n über Religion u. religiöse Probleme, 1888. — Die pädagogische Pathologie oder die Lehre von den Fehlern der Kinder, 1890; 4. A. 1910. — Pädagogische Abhandlungen, 1894. — Abhandlungen aus dem Gebiete d e r Ethik, d e r Staatswissenschaft, der Ästhetik u. der Theologie, 1895. — Abhandlungen zur Gesch. d e r Metaphysik, Psychologie u. Religionsphilos. in Deutschland seit Leibniz, 1896, — Vermischte Abhandlungen aus der theoretischen u. praktischen Philos., 1897. — Die U n t e r schiede d e r W a h r h e i t e n u. der Irrtümer, 1897. L i t e r a t u r : L. Credaro, Gli scritti e la filosofia di L. Str., in: Rivista italiana di filos., II, 1887. — Moritz Brasch, Leipziger Philosophen, 1894. — Wilhelm Kahl, A r t . St., in: Allg. Dte. Biographie, Bd. 54 (1908), S. 623—630. — Rud. Anger, Die kinderpsycholog. Bestrebungen L. St.s, Diss., Leipzig 1912.
Strunz, Franz, geb. 15. November 1875 in Eger (Böhmen). 1904 Pd. an der Technischen Hochschule in Brünn, 1906 an der Technischen Hochschule in Wien, 1914 a. o. Professor dort. — St. betreibt als philosophische Hauptarbeit die Erforschung von Leben und Werk des Paracelsus und die Herausgabe seiner Werke. Als Kenner der Geschichte der Naturwissenschaften und der Geschichte der Technik unternimmt er auch die Aufhellung ihrer Beziehungen zur Philosophie und widmet sich der Naturphilosophie. S c h r i f t e n : Th. Paracelsus, 1903. — N a t u r b e t r a c h t u n g u. Naturerkenntnis im Altertum, 1903. — Das W e r d e n u. die L e h r e Friedrich Nietzsches, 1904. — Uber antiken Dämonenglauben, 1905, — Die Chemie im klassischen Altertum, 1905, — Die Vorgeschichte der Chemie im Altertum, 1905, — J . B. van Helmont, 1907, — Paracelsus in Österreich, 1907. — Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften, 1908. — Geschichte der Naturwissenschaften im Mittelalter, 1910. — Paracelsus, 1924, in: Die Schweiz im deutschen Geistesleben, Bd. 27. — Albertus Magnus, Weisheit u. Naturforschung im Mittelalter, 1926. — Theophrastus Paracelsus, Idee u. Problem seiner Weltanschauung, 1937; 2. A. 1937. — Albertus Magnus, Theophrastus Paracelsus, Bildung u. Schulwesen im Mittelalter, 1930, in: Das Mittelalter in Einzeldarstellungen. — Religionsphilosophische Stellung des Theophrast von Hohenheim gen. Paracelsus. Zugleich eine Kritik seines gedruckten u. ungedruckten Schrifttums, in: Wissenschaftl. J a h r e s b e r i c h t e der philos.
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Struve, Heinrich von—Strzygowski
Gesellschaft der Universität Wien für die Jahre 1929/30 u. 1930/31. — Paracelsus zwischen den Zeiten, in: Archiv für Papyrusforschung, 1930, — Mensch u, Natur in der Weltanschauung des Paracelsus, in: Archiv für Papyrusforschung, 1932. — Beda Venerabiiis in der Gesch. der Naturbetrachtung, in: Scientia, 1929. — Hrsg.: Klassiker der Naturwissenschaften u. Technik.
Struve, Heinrich von, geb. 1840 bei Kalisz in Polen, gest. 1912 in London Studium in Tübingen, Promotion in Jena, Schüler von Baur und J. H. Fichte. 1863—1903 Prof. für Philosophie in Warschau. Danach als Schriftsteller in London. St. vertritt in einer Zeit positivistischer Strömungen in Polen den spekulativen Theismus. Erkenntnistheoretisch ist er Idealrealist. In der materiellen äußeren wie in der idealen inneren Welt herrscht göttliche Ordnung, vom einzelnen Menschen unabhängig, aber für ihn erkennbar. S c h r i f t e n : Synthese zweier Welten (poln.), 1876. — Kritische Einleitung in die Philos. (poln.), 3. A. 1903. — Die philos. Literatur der Polen, in: Philos. Monatshefte, Bd. X, 1874. — Die polnische Lit. zur Gesch. der Philos., in: Archiv für Gesch. der Philos., Bd. VIII, 1895. — Die polnische Philos. der letzten zehn Jahre, ebenda. Bd. XVIII u. XIX, 1905 u. 1906. — Gesch. der Philosophie in Polen (poln.), 1900. — Epikureizm i altruizm, Warschau 1907. L i t e r a t u r : W. Lutoslawski, St., Warschau, Ateneum, 1896. — K. Kaszewski, H. St. (Bibliogr.), Warschau 1898. — J. Zulawski, H. St., in: Zeitschr, für Philos. u. philos. Kritik, Bd. 112, 1898. — Adam Zielenczyk, H. St., Warschau 1913.
Struve, Peter, geb. 1870. Der Philosoph und Kritiker St., zeitweilig Führer des Marxismus in Rußland, wandte sich gegen die Aufnahme der hegelschen Dialektik und ihre Weiterentwicklung in der marxistischen Lehre, wie er überhaupt das dynamische Denken zugunsten eines statischen ablehnt. „In der Starrheit des ,Denkens' liegt nicht sowohl seine Stärke als die Bedingung seiner Möglichkeit eingeschlossen; ohne diese kann es eben selbst nicht gedacht werden. Das Veränderliche sowohl wie das Unveränderliche der Welt wird durch konstante Begriffe der menschlichen Erkenntnis einverleibt." St. verwirft jedes Streben, „praktisch-politische Postulate in theoretische Begriffe im Dienst einer geschichtlichen, d. h. kausalgenetischen Betrachtung umzuprägen". Daraus entstehen Diskrepanzen. „Der dem Marxismus eigene Begriffsabsolutismus (und das revolutionäre Wunder des Umschlagens dieser Begriffe) ist in gewissem Sinne das Gegenteil der Dialektik." S c h r i f t e n : Kritische Bemerkungen zur Frage der 5konomischen Bewegung Rußlands (russ.), 1894. — Die Marxsche Theorie der sozialen Entwicklung, in: Braunsches Archiv, Bd. XIV, 1899. — Umrisse zu einer pluralistischen Philosophie (russ.), 1922. L i t e r a t u r : Sammlung von Aufsätzen zu Ehren Struves (russ.), 1925.
Strzygowski, Joseph, geb. 7. März 1862 in Biala-Bielitz (österr.), gest. 2. Jan. 1941 in Wien. 1887 Pd. in Wien, 1892 Prof. der Kunstgeschichte in Graz, 1909 in Wien, auch Leiter des Kunsthistorischen Instituts dort. 1933 emeritiert. Umfassende Kenntnis der Kunst des Orients, vor allem Kleinasiens, eröffnete St. neue Einsichten in die Art, den Umfang und die Tiefe ihrer Einwirkung auf die abendländische Kunst. Seine Umwertung der Beziehungen zwischen Orient und Okzident steht unter dem Einfluß der Psychologie Nietzsches. Zu seinen besonderen Forschungsgebieten gehört die Kunst-des beginnenden Mittelalters. St. .ordnet die Kunstprobleme ein in große geistesgeschichtliche Zusammenhänge. Auch an dem Ringen um Herausarbeitung einer neuen, zuverlässigen Methode der Geisteswissenschaft allgemein und der Kunstwissenschaft besonders hat St. sich beteiligt.
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S c h r i f t e n : Cimabue und Rom, 1888. — Orient oder Rom, 1901. — Kleinasien, ein Neuland der Kunstgeschichte, 1903. — Der Dom zu Aachen, 1904. — Altai-Iran u, Völkerwanderung, 1917. — Die Baukunst der Armenier u, Europa, 2 Bde., 1918. — Ursprung der christl. Kirchenkunst, 1920. — System u. Methode der Kunstwissenschaft, 1921. — Kunde, Wesen u. Entwicklung, 1922. — Die Krisis der Geisteswissenschaften, 1923. — Der Norden in der bildenden Kunst Westeuropas. Heidnisches u. Christliches um das Jahr Tausend, 1926. — Forschungen zur Entwicklung der altkroatischen Kunst (kroat.), 1927. — Forschung u. Erziehung, 1928. — Die altslavische Kunst, 1929. — Asiens bildende Kunst, 1930. — L'art chrétien de Syrie, 1931. — Asiatische Miniaturmalerei, 1932. — Asien, 1932. — Drei Kunstströme aus nordischen Zwischeneiszeiten, 1935, — Geistige Umkehr, I. Dürer u. der nordische Schicksalsgarten, II. Indogermanische Gegenwartsstreifzüge, 1935. — Spuren indogermanischen Glaubens in der bildenden Kunst, 1935. — Aufgang des Nordens, 1937. — Geistige Umkehr, 1938. — Nordischer Heilbringer u. bildende Kunst, 1939. — Selbstdarstellung in: Die Kunstwiss. der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. J . Jahn, 1924. — Hrsg.: Arbeiten des Ersten Kunsthistorischen Instituts der Univ. Wien; und: Beiträge zur vergleichenden Kunstgeschichte. L i t e r a t u r : A. Karasek-Langer, Gesamtverzeichnis der Arbeiten Josef St.s, in: Deutsche Wissenschaftl. Zeitschrift für Polen, Jg. 1932. — K. Ginhart, Josef St. zum 70. Geburtstag, in: Belvedere, 11. Jg., 1932. — Festschrift zum 70. Geburtstag J . St.s, Klagenfurt 1932.
Study, Eduard, geb. 23. März 1862 in Coburg, gest. 6, Januar 1930 in Bonn. 1893 a. o. Prof. an der Universität Marburg, 1894 in Bonn, 1897 o. Professor in Greifswald, ab 1904 wieder in Bonn. — Der Mathematiker St. tritt bei seiner Erforschung der Raumprobleme als Kritiker der philosophischen Raumtheorien hervor und vertritt selber eine realistische Raumauffassung. S c h r i f t e n : Geometrie der Dynamen, 1903. — Die realistische Weltansicht u. die Lehre vom Raum, 1914; 1. Tl., 2, A. 1923. — Denken u. Darstellung, Logik u. Worte, Dingliches u. Menschliches in Mathematik u. Naturwissenschaften, 1921; 2. A. 1928. L i t e r a t u r : Gottfried Wawer, Das Realismusproblem im mathematisch-philosophischen Denken E. St.s, Diss., Bonn 1933.
Stumpf, Carl, geb. 21. April 1848 in Wiesentheid (Bayern), gest. 25. Dez. 1936 in München. Arztsohn; brachte aus dem Elternhause die Liebe zur Medizin und den Naturwissenschaften und die Liebe zur Musik mit. Besuchte 1859—63 das Gymnasium in Bamberg, 1864—65 in Aschaffenburg. Studierte in Würzburg zunächst Jura, dann unter dem Einfluß Franz Brentanos Philosophie und Naturwissenschaften. Promotion 1868 in Göttingen bei Lotze mit einer Dissertation über das „Verhältnis des Platonischen Gottes zur Idee des Guten". Im Jahre 1869 Eintritt ins Würzburger Priesterseminar: dort scholastische und Thomas-Studien. Nach Zerfall mit der christlichen Weltanschauung und unter der Einwirkung Brentanos 1870 Verlassen des Priesterseminars. Habilitation in Göttingen mit einer Schrift über die mathematischen Axiome; Bekanntschaft mit E. H. Weber und mit Fechner. 1873 ordentl. Prof. in Würzburg, 1879 in Prag, dort Zusammenwirken mit Marty, Bekanntschaft mit Mach, Freundschaft mit Hering; 1882 Beginn der Freundschaft mit William James. Im Jahre 1884 nach Halle neben Haym und Johann Eduard Erdmann; dort Husserl sein Hörer, später Dozent; 1889 nach München als Nachfolger Prantls; 1894 nach Berlin. Begründer des dortigen Psychologischen Instituts und des Phonogramm-Archivs. Zeitweise Leiter der Kant- und Leibniz-Kommission bei der Akademie der Wissenschaften. Als Philosoph ist St., dessen größte Leistungen auf dem Gebiete der Psychologie und der Erkenntnistheorie liegen, von Brentano und Lotze stark beeinflußt. Auch den Physiker Wilhelm Weber rechnet St. zu den Bildnern seines wissenschaftlichen Denkens; Physik erscheint ihm als das Ideal einer induktiven Wissenschaft, und das Verfahren der Naturwissenschaften als vorbildlich auch für die philoPhilosophen-Lexikon
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sophische Forschungsweise. „Brentanos Habilitationsthese, daß die wahre philosophische Methode keine andere sei als die naturwissenschaftliche, war und blieb mir ein Leitstern" (Selbstdarstellung S. 4). Der Philosophie fällt nach St.s Überzeugung die Aufgabe zu, das Gemeinsame zwischen Natur und Geist zu finden. Sie ist in erster Linie „allgemeinste Wissenschaft oder Metaphysik, zu welcher Erkenntnistheorie die Eingangspforte bildet" (S. 28). Nur wenn man Philosophie als „Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen des Psychischen und des Wirklichen überhaupt" faßt, „läßt sich auch die Einordnung der Logik, Ethik, Ästhetik, Rechtsphilosophie, Pädagogik und anderer Zweige in den Kreis der philosophischen Wissenschaften rechtfertigen: das Bindeglied ist überall wesentlich Psychologie." Für die Erkenntnistheorie und Logik ist sie unentbehrlich, wenn auch nicht grundlegend. Die Erkenntnistheorie hat es mit dem Theoretischen, die Logik mit dem Praktischen zu tun, mit den „Anweisungen zur Prüfung und Auffindung der Erkenntnisse" (S. 31). Um den Ursprung der Grundbegriffe oder Kategorien festzustellen, muß man versuchen, „die Urphänomene zu finden, die ihre Wahrnehmungsgrundlage bilden". St. zeigt das am Beispiel der Substanz als eines Ganzen von Eigenschaften oder Zuständen, durch den Hinweis auf bestimmte Anschauungen, in denen wir die innige Durchdringung von Teilen eines Ganzen unmittelbar wahrnehmen; das Ganze der Attribute in jeder Sinnesempfindung kann als Beleg dienen. Als wahr betrachtet St., was unmittelbar einleuchtet; Evidenz und Wahrheit sind korrelative Begriffe. Der Evidenzbegriff läßt sich nicht weiter reduzieren. Wirklichkeit oder Realität heißt Wirkensfähigkeit. „Darum sind uns in erster Linie als wirklich gegeben die eigenen Seelenzustände." — „In zweiter Linie statuieren wir äußere Dinge (psychische wie physische) als wirklich, sofern wir Wirkungen von ihnen auf uns beobachten." (S. 33). Erkenntnisse erfolgen auf zwei Wegen, durch reine Vernunft und durch Erfahrung. A priori werden „Gesetzlichkeiten aus bloßen Begriffen und selbstverständlichen Sätzen" erkannt; a posteriori „sowohl Tatsachen als Gesetze", nämlich sowohl Kausalgesetze als auch „empirische Struktur* oder Substanzgesetze" (S. 35). In seiner Einteilung der Wissenschaften will St. die alte Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wieder zu Ehren bringen. Für die Einteilung sind verschiedene Prinzipien maßgebend: 1) Einteilung nach dem Gegenstande, 2) nach dem Gegensatz von Individuellem und Allgemeinem, Tatsache und Gesetz; 3) nach dem Unterschiede homogener und nicht-homogener Gegenstände; 4) nach dem Gegensatz von Seiendem und Seinsollendem. Als Wurzel der Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sieht St. den Unterschied zwischen sinnlichen Erscheinungen und psychischen Funktionen an. „Erscheinungen und Funktionen sind uns in engstem Zusammenhang unmittelbar gegeben, aber ihrem Wesen nach heterogen". (S. 39). Die Wissenschaft, die die sinnlichen Erscheinungen untersucht, „ist im Grunde nicht Psychologie, sondern . . Phänomenologie, eine von Physikern, Physiologen und Psychologen gemeinsam betriebene Vorwissenschaft". Phänomenologie in seinem Sinne hat St. besonders betrieben für das Reich der Töne; auch seine psychologischen Untersuchungen im engeren Sinne gelten vor allem der Tonwelt. Der Psychologe St. bestreitet, daß die elementaren psychischen Funktionen sich auf eine Grundfunktion zurückführen lassen, wie Sensualismus und Voluntarismus es erstreben. Er schreibt ihnen drei Eigenschaften zu: Verhältnis von Akt und Inhalt, Mangel an räumlichen Eigenschaften für die Selbstbeobachtung, spezifische Strukturgesetze. Es gibt intellektuelle und emotionelle Funktionen, und innerhalb jeder Gattung bestimmte Funktionsarten; im Intellektuellen: Bemerken (Unterscheiden), Zusammenfassen, Begriffsbildung, Urteilen; im Emotionellen: passive
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und aktive Emotionen. Eine Trennung zwischen höheren und niederen Funktionen im menschlichen Seelenleben wird herbeigeführt durch das Auftreten allgemeiner Begriffe. Sie sind Voraussetzung für das logische Denken wie für Gemütsbewegungen und Willensvorgänge. Unbewußte Funktionen hält St. nicht für erwiesen. Die spezifischen Inhalte der psychischen Funktionen bezeichnet er als psychische Gebilde. „So beim Zusammenfassen den Inbegriff, beim Urteilen den Sachverhalt, beim begrifflichen Denken den Begriffsinhalt, beim Fühlen und Begehren den passiven und aktiven Wert" (S, 48). Das Ganze der psychischen Funktionen und Dispositionen ist die Seele. Der Raum ist ein Attribut der Erscheinung; er ist „dasjenige an der realen Welt, was Veränderungen und Maßbeziehungen nach Art der geometrischen ermöglicht." Die Zeit ist das, „was Veränderungen und Maßbeziehungen zwischen Veränderungen als solchen ermöglicht" (S. 37). Als Ethiker lehrt St., daß sich gewisse Inhalte als an sich gut oder wertvoll darstellen in der Gefühlsevidenz, so Wahrheit, positive Gemütsbewegungen, Herzensgüte. Rein formale Bestimmungen nach Art der kantischen lehnt St. zugunsten einer solchen Güter- oder Wertethik ab. „Ethisches Handeln ist rein sachliches Handeln, wie wissenschaftliche Erkenntnis rein sachliches Urteilen ist" (S. 50). Die metaphysische Frage nach dem Ursprung des Übels hält St. für unlösbar. Als Historiker der Philosophie übernimmt St. aus Zweckmäßigkeitsgründen Brentanos Lehre von den vier Phasen: „aufsteigende Entwicklung mit vorwiegend theoretischem Interesse und empirischer Methode, Verfall durch Überwuchern einer populären Lebensphilosophie, gefolgt von einer skeptischen und zuletzt mystischen Reaktion" (S. 28). Hyperkritisches philosophisches Denken wie bei Hume, und spekulativ-dogmatisches Philosophieren wie in der Zeit nach Kant erscheinen St. wenig nachahmungs würdig; für mustergültig in methodischer Hinsicht hält er die Werke von Locke, Leibniz, Berkeley. Einen wesentlichen Beitrag zur Spinozaforschung hat St. durch seine „SpinozaStudien" geleistet. Ihr Hauptertrag liegt in seiner Deutung der Lehre vom Parallelismus der Attribute. „Ich meine gezeigt zu haben, daß diese Lehre sowohl in der Fassung wie in der Begründung von dem modernen psychophysischen Parallelismus grundverschieden und nur ein Ausfluß der alten aristotelisch-scholastischen Lehre vom Parallelismus der Akte und Inhalte des Bewußtseins ist" (S. 29). Für seine Stellung zu Kant ist St.s Äußerung bezeichnend: „Kants intellektuelle und ethische Größe sehe ich vor allem darin, daß er den Notwendigkeitsgedanken und sein ethisches Seitenstück, den Pflichtbegriff wieder in voller Strenge durchgeführt hat" (S. 30). Als Experimentalpsychologe hat St. bahnbrechende Arbeit geleistet für das Gebiet der Tonpsychologie. Zwar sieht er im äußeren Experiment „keineswegs das Allheilmittel der Psychologie", doch handhabt er es meisterhaft. In von Hornbostel, von Allesch, Pfungst u. a. hat er einen Stab von Mitarbeitern auf diesem Gebiet herangebildet. Er selbst begann mit einer Prüfung der Klangquellen auf Obertöne, unternahm die Herstellung einfacher Töne nach dem Interferenzverfahren, untersuchte die Kombinationstöne und erforschte die Natur der Vokale und Sprachlaute. Er widerlegte die Lehre von der Raumlosigkeit der Tonempfindungen. Als Grundphänomen der Musik sieht er die Konsonanz an, im Unterschied von der Konkordanz. St.s philosophisches Schaffen ist getragen von dem Glauben, auch innerhalb der Philosophie müsse der „geordnete Fortschritt wahrer Wissenschaft" zu erreichen sein. Zum Schülerkreis St.s gehören die Begründer der „Gestaltpsychologie", Max Wertheimer und Wolfgang Köhler. 42*
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Sturm, August—Sturm, Johann
S c h r i f t e n : Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung. Lpz. 1873. — Tonpsychologie, Bd. I 1883; Bd. II 1890. — Psychologie u. Erkenntnistheorie, Abh. der Bayrischen Akademie, 1891. — Uber den Begriff der mathematischen Wahrscheinlichkeit, Sitzungsberichte der Bayr. Akad. 1892. — Tafeln zur Geschichte der Philosophie, 1896, 4. A. 1924. — Über den Begriff der Gemütsbewegung, Zeitschr. f. Psychologie 21, 1899. — Der Entwicklungsgedanke in der gegenwärtigen Philosophie, 1900. — Erscheinungen und psychische Funktionen, Abh. Berliner Akad., 1907. — Zur Einteilung der Wissenschaften, Abh. Berliner Akad., 1906. — Die Wiedergeburt der Philosophie, Rektoratsrede, Berlin 1907. — Vom ethischen Skeptizismus, Rektoratsrede, Berlin 1908. — Philosophische Reden u. Vorträge, Lpz. 1910. — Die Anfänge der Musik, 1911. — Empfindung u. Vorstellung, Abh. Berliner Akad., 1918. — Die Struktur der Vokale, S. B. A., 1918. — Spinozastudien I. II., Abh. Berliner Akad., 1919. — William J a m e s nach seinen Briefen, Bln. 1928. — Gefühl und Gefühlsempfindung, Lpz. 1928. — Untersuchung über die Natur der Vokale und Sprachlaute, 1926. — Selbstdarstellung, in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. V, 1924. L i t e r a t u r : E. Becher, C. St., zu seinem 70. Geburtstag, in: Die Naturwissenschaften, 1918. — Johann Nalbach, Empfindung u. Gefühl bei Kant, Herbart, Th. Lipps u. C. St., Diss., Bonn 1913. •—Festschrift zum 75. Geburtstag, Berlin 1923, in: Psychologische Forschung, Bd. 4. — Wolfgang Köhler, Carl St. zum 21. April 1928, in: Kantstudien, Bd. 33, 1928. — Nicolai Hartmann, Gedächtnisrede auf C. St., Berlin 1937, S. B. der Akad. d. Wiss. — Kurt Lewin, C. St., in: Psychological Review, Vol. 44, Nr. 3 (May 1937), 5. 189—194.
Sturm, August, geb. 14. J a n u a r 1852 in Göschitz, gest. 20. November 1923 in Naumburg (Saale), Dr. jur., Rechtsanwalt und freier Schriftsteller. — St. ist Rechtsphilosoph und Rechtspsycholog. S c h r i f t e n : Die psychologischen Grundlagen des Rechts, 1910. — Die Reaktion des Rechts. Eine psycholog, Abhandlung, 1914. L i t e r a t u r : Bernhard Rost, August St., der Dichter u. Rechtsphilosoph, 1922.
Sturm, Johann, geb. 1. Oktober 1507 in Schleiden (Eifel), gest. 3. März 1589 bei Straßburg. 1522 bis 1524 mit den Grafen von Manderscheid in der Schule der Hieronymianer in Lüttich. 1524 zum Collegium Trilingue (Buslidianum) in Löwen, wo Conrad Goclenius Latein und Rutgerus Rescius Griechisch lehrt. 1527 Lehrer in Löwen, Beginn des juristischen Studiums. Aus wirtschaftlichen Gründen Einrichtung einer Druckerei zusammen mit Rescius. 1529 nach Paris, Besuch medizinischer Vorlesungen und des Collège de France, wo er selbst humanistische Kollegs (Cicero, Demosthenes) hält. Seine Logik-Vorlesung wird von Petrus Ramus besucht. Durch einen Schüler mit protestantischen Schriften vertraut und mit Bucer und Melanchthon bekannt gemacht, schließt er sich dem Protestantismus an. 1537 Prof. der Rhetorik und Dialektik in Straßburg. Ablehnung von Berufungen nach Basel und Wittenberg. 1567 Rektor auf Lebenszeit der Straßburger Akademie. Weitspannende diplomatische Tätigkeit zum Ausgleich politischer und kirchlicher Gegensätze zwischen Frankreich und Deutschland, Katholizismus und Protestantismus, Lutheranern und Reformierten. Von Gegnern und Neidern unter dem Vorwand kirchlicher Zänkereien abgesetzt, zieht St. sich zu schriftstellerischer Tätigkeit zurück. Ablehnung eines Rufs nach Heidelberg. Der Humanist St. gilt als Begründer des protestantischen Schulwesens in Deutschland. Das Ziel des Unterrichts sieht er in einer von Weisheit und Kraft der Rede begleiteten Frömmigkeit: propositum a nobis est, sapientem atque eloquentem pietatem finem esse studiorum. Seine Kritiker werfen St. eine Uberbetonung des rhetorischen Formalismus unter Vernachlässigung der realen Fächer vor, im Gegensatz zu den älteren deutschen Humanisten. St. nahm die logischen Lehren des Petrus Ramus an, der seine Pariser Vorlesungen gehört hatte.
Sturm, J o h a n n Christopherus—Stutzmann
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S c h r i f t e n : De literarum ludis r e c t e aperiendis liber, Straßburg 1538. — Epistolae classicae, 1565. — De universa ratione elocutionis rhetoricae. — Über die Vertreibung d e r T ü r k e n aus Europa, 1599. — Pädagogische Schriften, hrsg. u. gesammelt von Heinrich Stroband. L i t e r a t u r : Charles Schmidt, La vie et les t r a v a u x de J . St., Paris 1855. — L. Kückelhahn, J . St., 1872. — E. Laas, Die Pädagogik des J . St., 1872. — Theobald Ziegler, J . St., Art. in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894), S. 21—38. — C. Schmidt, A r t . St., in: Realenzykl. f. p r o t . Theol. u. Kirche, 3. A., Bd. 19 (1907), S. 109 bis 113. — W a l t e r Sohm, Die Schule J . St.s, 1912.
Sturm, Johann Christopherus, geb. 3. November 1635 in Hilpoltstein (Pfalz), gest. 26. Oktober 1703 in Altorf. 1656 Studium in Jena; dort 1658 Magister und facultas docendi; hält philos. und mathemat. Vorlesungen. 1660 Studium der Theol. in Leiden, 1664—1669 Pfarrtätigkeit. 1669 Prof. der Mathematik und Physik in Altorf. — St. ist Vertreter des Cartesianismus und ausgezeichnet durch genaue Kenntnis der aristotelischen und scholastischen Überlieferung. Aus der Naturbetrachtung leitet er Beweise für das Dasein Gottes her, lehnt aber die Erklärung der Natur als Mittelwesen zwischen Gott und Welt ab und nimmt eine den Dingen immanente göttliche Kraft an. S c h r i f t e n : Physicae conciliatricis conamina, Nürnberg 1685. — Collegium curiosum experimentale, 2 Teile, Nürnberg 1676 u. 1685. — De natura sibi in incassum vindicata, 1698. — De n a t u r a agentis idolo, 1692. — Philosophia eclectica, 2 Bde., 1686 u. 1698. — De Cartesianis et Cartesianismo, 1677. — De mathematis et mathematicis, 1678. — Orationes, epistolae e t tractatus varii, 25 Schriften, ca. 1690; darin: Scientia cosmica, 1670. L i t e r a t u r : Richard Falckenberg, Art. St. in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894), S. 39 f.
Shirt, Henry, Prof. für Philosophie an der Universität Oxford. Der englische Philosoph St. hat mit Herausgabe der Essay-Sammlung „Personal Idealism" (1902) die erste Programmschrift des Pragmatismus veröffentlicht. Neben ihm haben sieben Kollegen, darunter F. C. S. Schiller, G. F. Stout, Hastings Rashdall Aufsätze beigesteuert. Als philosophische Gegner betrachtet S. wie sein Kreis die naturalistischen Richtungen und den „Absolutismus" Bradleys und Bosanquets, überhaupt jede germanisierende, das heißt in der Hauptsache jede hegelianisierende Tendenz, von Green angefangen. Die Geistigkeit der Welt und die Realität und Aktivität des Individuums wird betont. S c h r i f t e n : A r t and Personality, in: Personal Idealism, hrsg. von Sturt, 1902. — Idola theatri. A Criticism of Oxford thought and thinkers from the standpoint of Personal Idealism, London 1906. — T h e principles of understanding, Cambridge 1915. — Socialism and character, London 1922. — Human value, An ethical essay, Cambridge 1923, — Moral Experience, 1928.
Stutzmann, Johann Josua, geb, 17. April 1777 in Friolsheim (Württ.), gest. 18. Dezember 1816 in Erlangen. Habilitation in Göttingen, 1804 Pd. in Heidelberg, 1806 in Erlangen; dort auch Gymnasiallehrer. — St. ist als Metaphysiker Anhänger von Schellings Identitätssystem und steht auch unter dem Einfluß des späten Fichte. S c h r i f t e n : Philosophie des Universums, 1806; 2, A. 1818. — Grundzüge des Standpunktes, Geistes und Gesetzes d e r universellen Philosophie, 1811. — Betrachtungen über Religion u. Christentum, 1804. — Systematische Einleitung in die Religionsphilosophie, 1804. — System der Politik u. des Handels von Europa, 1806. — Plato de republica, 1807; 2. A . 1818. — Philosophie d e r Geschichte der Menschheit, 1808. — Methodologie, Manuskript von 1809. L i t e r a t u r : Richard Falckenberg, Art, St., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894), S. 81 f.
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Suabedissen—Suarez
Suabedissen, David Theodor August, geb. 1773 in Melsungen (Hessen), gest. 1835 in Marburg. 1822 Philosophie-Prof. in Marburg. S. steht unter dem Einfluß von Kant, Reinhold und Jacobi, aber auch von Schelling. Er betrachtet die Philosophie als Wissenschaft vom Leben des Menschen und als ihr Zentrum die Selbsterkenntnis oder das „Sichselbstklarwerden". S. versteht darunter vor allem das allgemeine Selbstbewußtsein, wie es geschichtlich und sozial geworden ist. Der Mensch ist Leben. Das Leben weiß von sich selbst, es ist Kraft, Wille und Trieb. Das Grundgesetz der Lebendigkeit des Menschen wie die Urforderung des Lebens überhaupt ist das Einheitsbedürfnis, das Verlangen „einstimmig zu sein", die Suche nach Einheit in der Mannigfaltigkeit, sei es nun Einheit des Individuums, Einheit der Gesellschaft, oder Einheit des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt. Die Natur ist das unendliche werdende Sein, beherrscht vom Werdenstrieb, mit Raum und Zeit als Formen; sie ist eine gesetzliche Ordnung. Die „innere Einheit eines Lebendigen" oder „der in einem Leibe wirkliche Geist" ist die Seele. S c h r i f t e n : Resultate der philosophischen Forschungen über die Natur der menschlichen Erkenntnis von Platon bis Kant, 1808. — Über die innere Wahrnehmung, 1808. — Die Betrachtung des Menschen, 1815—1818. — Philosophie der Geschichte, 1821. — Zur Einleitung in die Philos., 1827. —• Vom Begriffe der Psychologie u. ihrem Verhältnis zu den verwandten Wissenschaften, 1829. — Grundzüge der Lehre vom Menschen, 1829. — Grundzüge der philos. Religionslehre, 1831. — Grundzüge der Metaphysik, 1836. L i t e r a t u r ; S. E. Platner, Zur Erinnerung an D. Th. S., 1835. — Gustav Spaeth, D. Th. S., Diss., Tübingen 1939.
Suarès, André, Ps. für Félix André Yves Scantrel, geb. 1866 in Vallon d'Oriol, gest. am 7. September 1948 in Paris. — Der französische Kulturkritiker und Biograph S. ist als Philosoph Anhänger Bergsons. Er vertritt einen ästhetischen Individualismus mit dem Ziel der Ausgestaltung unserer Persönlichkeit durch Erleben und bekämpft den Rationalismus, Mit seiner Deutung Dostojewskis als eines erlösten Nietzsche hat S. erheblich beigetragen zur Wiederbelebung des Interesses für den Dichter. S c h r i f t e n : Le livre de l'émeraude, 1901. — Sur la mort de mon frère, Essays, 1904. — Voici l'homme, 1905, — Sur la vie, 3 Bde., 1909—1912. — Idées et visions, 1913. — Trois hommes. Pascal, Ibsen, Dostojewski, 1913, — Essais, 1914, — Voyage du Condottiere, 1911; dt. von Franz Blei, 1914. — Porträts, dt. von Otto Flake, 1922. — Debussy, 1922. — Présences, 1926. — Croyances, 1935.
Suarez, Franz, S. J., (doctor eximius), geb. 5. Januar 1548 in Granada, gest. 25. September 1617 in Lissabon, Studium der Rechtswissenschaft in Salamanca, 1564 Eintritt in den Jesuitenorden. 1567 Philosophie-Studium. 1572 akademischer Lehrer in Segovia und Avila. 1576 theolog. Vorlesungen in Valladolid, danach Lehrstuhl in Rom für sieben Jahre. Rückkehr nach Spanien; acht Jahre lang Lehrer in Alcala de Henares und ein J a h r in Salamanca. D. theol, in Evora, 1597 Ruf auf den theol. Lehrstuhl in Coimbra. Der Spätscholastiker S. hat als Lehrer und Schriftsteller vor allem die aristotelische Philosophie interpretiert und kommentiert. Seine „Metaphysischen Disputationen" mit Index zur Metaphysik des Aristoteles wurden auch von den Protestanten als Lehrbuch verwendet. Sie handeln selbständig über das Seiende, seine Kategorien und seine Ursachen, und geben ebenso wie die übrigen Werke des S, eine Überschau über die Ansichten der verschiedenen Scholastiker zu jedem behandelten Problem. Dadurch sind sie zu einer Hauptquelle für die Kenntnis scholastischer Philosophie bis in die Gegenwart hinein geworden; aus ihnen hat unter anderen Leibniz geschöpft.
Suhrawardi — Sully James
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S. will als der treue K o m m e n t a t o r des T h o m a s von Aquino gelten, weicht aber doch in einer Anzahl einzelner Lehren in M e t a p h y s i k und in P s y c h o l o g i e von ihm ab. S o bestreitet er das Vorhandensein eines realen Unterschiedes zwischen W e s e n heit und E x i s t e n z und nimmt nur eine rationale Distinktion zwischen ihnen an. E r glaubt ferner, daß die E x i s t e n z sich ebenso wie die Essenz aus Elementen zusammensetzen kann, und schließlich, daß die prima materia in den natürlichen Substanzen eine eigne E x i s t e n z besitzt — ohne den A k t der F o r m — , die G o t t gesondert erhalten könnte (de W u l f f ) . Auch in der P s y c h o l o g i e greift S . im Gegensatz zu T h o m a s auf die Frühscholastik zurück, wenn er mit Duns S c o t u s lehrt, daß der Intellekt zur unmittelbaren Erkenntnis des Individuellen imstande ist. In seiner S c h r i f t „De legibus" beschäftigt sich S . mit der F r a g e nach dem U r sprung der Gewalt. E r bekämpft die protestantische Überzeugung vom göttlichen R e c h t der K ö n i g e und stellt die T h e s e von der Volkssouveränität auf. Der R e c h t s anspruch der Könige stammt von der Anerkennung des Volkes, das einen unwürdigen Regierenden absetzen darf. S c h r i f t e n : Gesamtausgabe der Werke, 23 Foliobände, Lyon u. Mainz, 1630; Venedig 1740—1751; Paris 1856—1861 in 28 Quart-Bden., mit Ergänzungsband, Brüssel 1859. — Auszug aus den Werken, hrsg. v. Noël, S. J., 2 Folio-Bde., Köln 1732; neu hrsg. v. Migne, Paris 1858. — Disputationes metaphysicae, 1597, 1600 und oft. — De anima. — De legibus ac deo legislatore. — De divina gratia. — De vera intelligentia auxilii efficacis eiusque concordia cum libero arbitrio. — Defensio fidei catholicae et apostolicae, contra anglicanae sectae errores, Coimbra 1613. L i t e r a t u r : Karl Werner, S. u. die Scholastik der letzten Jahrhunderte, 2 Bde., Regensburg 1861. — P. Franz Suarez, Gedenkblätter zu seinem 300jähr. Todestag, Innsbruck 1917. — L. Mahieu, François S., sa philosophie et les rapports qu'elle a avec sa théologie, 1921. — M. Grabmann, Die Disputationes metaphysicae des F. S., 1926. — Josef Ludwig, Das akausale Zusammenwirken (sympathia) der Seelenvermögen in der Erkenntnislehre des S., Diss., München 1926. — Rommen, Heinrich, Die Staatslehre des F. S., 1927. •—• Siegmund, Georg, Die Lehre vom Individuationsprinzip bei S., Diss., Breslau 1927. — Conze, Eberhard, Der Begriff der Metaphysik bei F, S., Diss., Köln 1937 (?), in: Forschungen zur Gesch. der Philos., Bd. 3, Heft 3, — Breuer, Alcuin, Die Gottesbeweise bei Thomas u. S., Diss., Freiburg (Schweiz), 1929. — Stegmüller, Friedrich, Zur Gnadenlehre des jungen Suarez, Freiburg 1933. — Franz Suarez, Addresses in commémoration of his contribution to international law and politics, hrsg. v. Herbert Wright, Washington 1933. — Kipp, Heinz, Moderne Probleme des Kriegsrechts in der Spätscholastik, Eine rechtsphilos. Studie über die Voraussetzungen des Rechts zum Kriege bei Vittoria u. Suarez, 1935, in: Veröff. der Görresges., Sektion für Rechts- u. Staatswiss,, H. 68. — Seiler, Julius, Der Zweck in der Philos, des Franz S., Innsbruck 1936, in: Philos, u. Grenzwiss., Bd. 6, Heft 5, — J . Leiwesmeier, Die Gotteslehre bei F. S., 1938. — Junk, Nikolaus, Die Bewegungslehre des F. S,, Innsbruck 1938, in: Philos, u. Grenzwiss., Bd. 7, H. 1. — Deuringer, Karl, Die Lehre vom Glauben beim jungen F, S., Freiburg i. Br., 1941. — Klasmeier, Wilhelm, Die Transzendentalienlehre des F. S., Diss., Würzburg 1939. — Kolter, Wilhelm, Die Universalienlehre des F. S., Diss., Freiburg i. Br., 1942. — P. Dumont, Liberté humaine et Concours divin d'après S., Paris 1936. Suhrawardi, gest. 1191. Islamischer Philosoph, in dessen L i c h t - und M a n i festationslehren persische E l e m e n t e weiterleben. L i t e r a t u r : Max Horten, Die Philosophie nach S., übers, u. erläutert, Halle 1912, in: Abhandlungen zur Philos, u. ihrer Gesch., hrsg. v. Benno Erdmann, H, 38. Sullivan, J o h n W i l l i a m Navin, geb. 22. J a n u a r 1886, gest. 11. August 1937. Sully, J a m e s , geb. 3. M ä r z 1842 in Bridgewater, gest. 31. Oktober 1923 in R i c h mond, Surrey. A l s P r o f . der Philosophie in London von 1892 bis 1903, nach einem Studium in Göttingen und B e r l i n .
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Sully-Prudhomme—Sulzer, Johann Anton
Der Engländer S. ist als theoretischer und als Experimental-Psychologe sowie als Ästhetiker hervorgetreten. Als psychische Elemente betrachtet er Empfindungen, einfache Gefühle, reflektorische und Triebvorgänge. An den Empfindungen unterscheidet er eine intellektuelle und eine emotionelle Seite. Die aktive Seite des Seelischen liegt im Streben. Die Emotionen bergen ein Willenselement in sich. S. hat die Bedeutung der Aufmerksamkeit für die geistige Entwicklung betont. — Als Ästhetiker ist S. Gegner jeder Metaphysik des Schönen. Er bemüht sich um eine Ordnung der ästhetischen Genüsse und sucht allgemeine Gesetze für gefällige Eindrücke. Anzahl und Mannigfaltigkeit der ästhetischen Genüsse hat sich im Lauf der geschichtlichen Entwicklung vermehrt. Entsprechend der Theorie des Utilitarismus ist der höchste Grad der ästhetischen Gefühle erreicht mit dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl. S c h r i f t e n : Sensation and intuition, 1874. — Pessimista, a history and a criticism, 1877. — Illusions, 1881; 4. A. 1895. — The human mind, 1892, 2 Bde. — Outlines of psychology, 1884; 1892. — The teacher's handbook of psychology, 1886; 5. A, 1909; dt. 1898. — Studies of childhood, 1895; dt. 1897; 2. A. 1905. — A n essay on laughter, 1902; franz. 1904. — The illusions, 1881. — My life and friends, 1918. — Zahlreiche Artikel in: Mind, u. a. Physiological psychology in Germany, Jg. I, 1876; Versatility, Jg. VII, 1882; Comparison, Jg. X, 1885; Mental Elaboration, Jg. XV, 1890; Artikel: Aesthetics, Encyclop. Britannica, Bd. I, 9. A., 1875, und Evolution, ebda., Bd. VIII, 1878.
Sully-Prudhomme, René François Armand, geb. 16. März 1839 in Paris, gest. 7. September 1907 bei Paris. Studium der Mathematik und Naturwissenschaften, dann der Philosophie, Literatur und Rechtswissenschaft, 1881 Mitglied der Académie Française, 1901 Nobelpreis für Literatur.
Der französische Dichter und Philosoph S.-P. ist Idealist. Er geht religionsphilosophischen Problemen nach. Die Frage nach der Existenz Gottes und nach dem Grund unseres Glaubens an einen höheren Zweck beantwortet er dahin, daß weder Theismus noch Atheismus das Problem lösen, der Weise aber so handeln muß, als ob das Vorhandensein Gottes und die Geltung des kategorischen Imperativs in der Ethik sicher verbürgt seien. Der Grund jenes Glaubens liege in der tatsächlichen Entwicklung der Natur zum Besseren. S c h r i f t e n : L'expression dans les beaux-arts, 1883. — Psychologie du libre arbitre, in: Revue de mét. et de morale, 1906. — La vraie religion selon Pascal, 1905. — Que sais-je? 1895. —• Le problème des causes finales, zus. mit Charles Richet, 1902; 4. A. 1907. — Testament poétique, 1901, 1904. — Le lien sociale, 1909. — Les destins, 1872. — Le zénith, 1876. — La justice, 1878. — Le bonheur, 1888. L i t e r a t u r : Coquelin, Un poète philosophe S., Paris 1882. -— C. Hémon, La philos, de S.-P., P. 1906. — H. Schoen, S.-P. als Philosoph, in: Zeitschrift für Philos., Bd. 15, 1907. — A. Baudler, S.-P.s philos. Anschauungen, Programm, Ohligs 1908. — E. Zyromski, S. P., Paris 1908. — A. Faggi, Un poeta della scienza, in: Rivista d'Italia, 1908. — C. Spieß, Le penseur chez S. P., Paris 1909. — H. Poincaré, Savants et écrivains, Paris 1910. — Walter Brangsch, Philosophie u. Dichtung bei S. P., Berlin 1912. — L. Karl, 5.-P., 1907. — H. Morice, La poésie de S. L'esthétique de S., Diss., Rennes 1920. — E. Estève, S. poète sentimental et poète philosophique, 1925, — P. Flottes, S. et sa pensée, Paris 1930.
Sulzer, Johann Anton, geb. 18. September 1752 in Rheinfelden, gest. 8. März 1828 in Konstanz. Besuch des Gymnasiums der Jesuiten in Solothurn. 1772—1774 Studium der Theol. in Freiburg (Schweiz), der Rechte in Freiburg i. Br. 1798 Prof. für Kirchenrecht in Konstanz, 1807 Prof. für praktische Philosophie. S c h r i f t e n : Fragmente zur Kultur der Religion u. Bildung der Bürger, 1783. — Wahrheit in Liebe, in Briefen über Katholizismus u. Protestantismus an Herrn H. J . Jung gen. Stilling, 1810; 3. A. 1840, — Einleitung in die Moralphilos., 1824. — Zwei moral-
Sulzer, Johann Georg—Sumner
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philos. Abhandlungen, 1. von der Sittlichkeit der Verstellung, 2, von der sittl. Verbindlichkeit erpreßter Versprechungen, 1825. L i t e r a t u r : Reusch, Art. S„ in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894), S. 150 f.
Sulzer, Johann Georg, geb. 16. Oktober 1720 in Winterthur (Kanton Zürich), gest. 27. Februar 1797 in Berlin. Studium der Theol., Philosophie, Mathematik und Botanik; seine Lehrer sind Bodmer und Breitinger. 1741 Vikar, 1743 Hauslehrer in Magdeburg. Reise nach Berlin, Bekanntschaft mit Euler, Maupertuis und Gleim. 1747 Prof. für Mathematik am Joachimsthalschen Gymnasium. 1750 ord. Mitglied der Akademie der Wissenschaften. 1763 Niederlegung der Professur in Berlin, wird dort Prof. an der neugegründeten Ritterakademie. S. erhält den Auftrag zur Neuordnung der Akademie der Wissenschaften, deren philos. Klasse er seit 1775 leitete. Der Aufklärungsphilosoph S. entwickelt eine „Theorie der schönen Künste" auf der Grundlage seiner Psychologie. Sie soll als Wissenschaft von der Seele die gesamte Philosophie umfassen und findet Anknüpfungspunkte in Leibniz' Monadenlehre. S. lenkt als einer der Ersten die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Gefühle, die sich in der alten Zweiteilung in theoretische und praktische Seelentätigkeiten, in Erkennen und Wollen nicht unterbringen lassen. Sie stehen zwischen beiden, den klaren Vorstellungen und den Begehrungen, und gehen zurück auf die dunklen Urzustände der Monade. Zu den Gefühlen gehören alle Arten von Empfindungen, auch die moralischen und die ästhetischen. Die Empfindung des Schönen hat ihre Stelle zwischen dem sinnlich Angenehmen und dem Guten. Schönheit ist das Gefühl harmonischer Einheit der sinnlich empfundenen Mannigfaltigkeit; ihr Wert ruht in der Förderung, die sie dem moralischen Sinn erteilt. Die moralisierende Tendenz seiner Ästhetik zeigt S. abhängig von seinen Lehrern Bodmer und Breitinger und bringt ihn in Gegensatz zu Lessing und Mendelssohn. Einfluß auf S. hat auch der französische Ästhetiker Batteux ausgeübt. S c h r i f t e n : Versuch einiger moralischer Betrachtungen über die Werke der Natur, 1741; 2. A. hrsg. v. A. F. W. Sack, 1750. — Kritische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, 1750, zus. mit Ramler hrsg. — Gedanken über den Ursprung der Wissenschaften u. schönen Künste, 1762. — Theorie der angenehmen Empfindungen, 1762. — Vorübungen zur Erweckung der Aufmerkamkeit u. des Nachdenkens, 3 Bde., 1768; 4. A., 4 Bde., 1816—1825. — Allg. Theorie der schönen Künste, 1771—1774, 2. A., 4 Bde., 1792—1794; mit Zusätzen von Blankenburg, 1796—1798, 3 Bde.; dazu: Nachträge, oder Charakteristik der vornehmsten Dichter aller Nationen, 8 Bde., 1792—1808, hrsg. v. Dyk u. Schütz. — Vermischte philos. Schriften, 2 Bde., 1773—1785. — Lebensbeschreibung von ihm selbst aufgesetzt, mit Anmerkgen. hrsg. v. Joh. B. Merian u. Friedrich Nicolai, Berlin 1809. L i t e r a t u r : O. Liebmann, Art. S., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894), S. 144—147. — L. Heym, Darstellung u. Kritik der ästhetischen Ansichten S.s, Diss., Lpz. 1894. — A. Palme, J. G. S.s Psychologie u. die Anhänger der Dreivermögenslehre, Diss., Berlin 1905. — K. Groß, S.s Allg. Theorie der schönen Künste, 1905. — Joh. Leo, Zur Entstehungsgesch. der „Allg. Theorie der schönen Künste" J. G. S.s, Tl. I, Diss., Heidelberg 1906; J. G. S. u. die Entstehung seiner allg. Theorie der schönen Künste, 1907. — F. Rose, J. G. S. als Ästhetiker, in: Archiv für die gesamte Psychol, Bd. X, 1907, S. 197—263. — Anna Tumarkin, Der Ästhetiker J. G. S., 1933, in: Die Schweiz im dten. Geistesleben, Bd. 79/80. — G. Lobmeier, S., Diss., Erlangen 1907.
Sumner, William Graham, geb. 30. Oktober 1840 in Paterson, N. J., gest. 12. April 1910 in Eaglewood, N. J . Promotion 1863 an Yale, 1863—1864 Studium in Genf, 1864—1866 Studium der Theol. und Gesch. in Göttingen. 1866—1869 Tutor an Yale. 1869 protestantischer Pfarrer. Seit 1872 Prof. für politische und Sozialwissenschaften an der Yale-Universität. — Der amerikanische Philosoph S.
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Sun Yat Sen—Siissmilch
ist Kritiker der überlieferten wirtschaftlichen und sozialen Theorien. Da S. nur von den wissenschaftlichen Bemühungen Sachkundiger eine Besserung der sozialen Zustände erwartet, so legt er das Hauptgewicht auf die richtige Bildung und Erziehung. Er ist ein Feind des „empiricism", der unkundigen und ungeschulten Anwendung und Auswertung von „Erfahrungen". S c h r i f t e n ; History of American currency, 1874, — History of protection in the United States, 1875. — What social classes owe to each other, 1883, — Economic Problems, 1884. — Essays in political and social science, 1885. — Protectionsm, 1885. —• Folkways, 1907. — Science and society, zus. mit A. G. Keller, Bd. 4, 1927; Abriß, hrsg. v. A. G. Keller: Man's rough road, 1932. — Essays, hrsg. v. A. G. Keller u. M. R. Davie, 1934. L i t e r a t u r : H. E. Starr, W. G. S., 1925. — A. G. Keller, W. G. S„ 1933.
Sun Yat Sen, geb. 12. November 1868 in Tsui heng, gest. 12. März 1925 in Peking. — Chinesischer Staatsmann, Staatsrechtler und Sozialreformer. S c h r i f t e n : Drei Grundsätze der Volksherrschaft, 1924; engl. 1927; frz. 1930. — Dreißig Jahre chinesische Revolution, dt. 1927. L i t e r a t u r : P. Linebarger, S. Y. S, and the Chinese Republic, 1925; S. Y. S., Memoirs of a Chinese Revolutionary, 1927. — Wilhelm Chan, Der Einfluß der Gedankengänge von Dr. S. Y. S. auf die Entwicklung der Sozialpolitik Chinas, Diss., Berlin 1931. — Tai-Tschi-Tao, Die geistigen Grundlagen des Sun Yat Senismus, mit Vorwort von Richard Wilhelm, Berlin 1931.
Sundar Singh, Sadhu, geb. 1889 in Rampur (Indien); seit 1929 in Tibet verschollen. — Neben praktischer Evangelisationstätigkeit erstrebte S. S. eine theoretische Verschmelzung indischer Mystik mit christlichen Lehren. Literatur: Leipzig 1937.
Heiler, Sadhu S. S., 4. A. 1926. — Paul Gäbler, S. S. S., Diss.,
Supinski, Jozef, geb. 1804, gest. 1890. Lebte in Frankreich. — Der polnische Philosoph und Soziologe S. ist Gegner des spekulativen Idealismus und Vertreter des Positivismus unter dem Einfluß Comtes. Er entwickelt eine Sozialphilosophie auf naturwissenschaftlicher Grundlage. S c h r i f t e n : Physiologie des Weltalls (poln.), 1883. L i t e r a t u r : St. A. Kempner, J. S. (poln.), Warschau 1904.
Susemihl, Franz, geb. 10. Dezember 1826 in Laage (Mecklenburg), gest. 1901. Studium der klassischen Philologie in Leipzig und Berlin. 1852 Habilitation an der Universität Greifswald, 1856 a. o., 1863 o. Prof, dort. — Erforscher der platonischen und der aristotelischen Philosophie und Herausgeber der aristotelischen Schriften. S c h r i f t e n : Prodromus Platonischer Forschungen, 1852. — Die genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie, 2 Bde., 1855—1860. — Platonische Forschungen, in: Philologus, 1863. — De Politicis Aristoteleis quaestiones criticae, 1886. — Gesch. der griech. Literatur in der Alexandrinerzeit, 2 Bde., 1892.
Suso, siehe Seuse. Süssmilch, Johann Peter, geb. 3. September 1707 in Berlin, gest. 22. März 1767 ebenda. Besuch der Schule zum Grauen Kloster in Berlin, 1724 Studium der Medizin, Botanik, Chemie, danach der Jurisprudenz in Halle. Übergang zur Theologie und den orientalischen Sprachen. In Jena bei Zimmermann Studium der Philosophie. 1732 Diss. physica de cohaesione et attractione corporum. Hauslehrer, Feldprediger, Konsistorialrat. 1745 Mitglied der Akademie. Der Mediziner und Theologe S. ist in seinem Hauptwerk „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechtes" (1741) wegweisend für die Entwicklung der Sozialwissenschaft. Ob man seine Leistung als Grundlegung einer
Sutherland—Swedenborg
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sozialen Biologie bezeichnet wie Rümelin oder seine realistische Behandlung der sozialwissenschaftlichen Fragen in den Vordergrund rückt (Knapp) oder auch seine Ausarbeitung der ersten ausführlichen Bevölkerungstheorie betont, die ihren Gegenstand als Selbstzweck betrachtet (Roscher) oder schließlich mit den Medizinern S, als Begründer ihrer fachwissenschaftlichen Statistik rühmt, immer kommt seine Stellung als Vorläufer auf entscheidendem Gebiet wissenschaftlicher Erkenntnis zum Ausdruck. Der Grundgedanke der Bevölkerungstheorie von Malthus ist bei S. vorweggenommen und eine Moralstatistik vorgebildet. S. bedient sich auch in der Philosophie der mathematischen Methode. Die Anregung zu seinem Werk hat er nach eigener Aussage durch die Schrift des Engländers Derham: PhysicoTheology, or a démonstration of being and attributes of God from his works of création (6. A. 1723) erhalten, der seinerseits auf der neubegründeten Wissenschaft der politischen Arithmetik fußt. S. hat sein reiches statistisches Material systematisch bearbeitet, ausgehend von dem Gedanken! „Die Beobachtung großer Massen ist der Weg zur Erkenntnis der Regelmäßigkeit in den scheinbar zufälligen Erscheinungen." Entsprechend seiner religiösen Überzeugung sieht S. alle Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft und die Regeln, denen sie unterstehen, als „Ausfluß der göttlichen Weisheit und des göttlichen Willens" an. Gott ist der „unendliche und genaue Arithmetiker", der „alles Zeitliche und Natürliche nach Maß, Zahl und Gewicht bestimmt" (Göttliche Ordnung, 2. A., I, § 17). Das Fehlen einer von theologischen Erwägungen nicht getrübten fachwissenschaftlichen Betrachtung hat der unmittelbaren Wirkung von S. im Wege gestanden. S c h r i f t e n : Die göttliche Ordnung in den Verhältnissen des menschlichen Geschlechtes, aus der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben erwiesen, 1741 j 2. erweiterte A. 1761 j 6, A, 1798. — Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern vom Schöpfer erhalten hat, Akademie-Schrift von 1756; umgearb. 1766. — Essai sur le nombre des habitans de Londres et de Paris, Mémoires der Berliner Akademie, 1759, — Diss., daß die Menschen nach einer gewissen Regel sterben, Akademie-Rede, Berlin 1755. L i t e r a t u r : Christian Förster, Nachricht von dem Leben u. den Verdiensten des J. P. S., 1768, — V. John, Art. S„ in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894), S. 188—195. — Crum, The Statistical work of S„ in: Quarterly Publications of the American Statistical Association, Boston 1901. — Karl Schulze, S.s Anschauungen über die Bevölkerung. Diss., Halle 1921. — H. L. Stoltenberg, Geschichte der deutschen Gruppwissenschaft, Bd. I, 1937, S. 178 ff.
Sutherland, Alexander, englischer Philosoph des 19. Jahrhunderts. S. ist Evolutionist. Sein Interessengebiet ist die Ethik, Er untersucht die Entwicklung des moralischen Instinkts von seinen Anfängen im Tierreich zu seinen höchsten Formen beim Kulturmenschen. Als Quelle sittlichen Lebens gilt ihm die Sympathie, die ihre Urform in der Mutterliebe hat und sich schon in primitiven Gemeinschaften durch Gesetze allgemeine Anerkennung verschafft. Allmählich entwickelt sich durch Gewöhnung die Pflichtidee. Sie verinnerlicht sich zur Achtung des Menschen vor sich selbst. Auch die Entstehung der öffentlichen Meinung wird von S. erforscht, S c h r i f t e n : The origin and growth of the moral instinct, London 1898.
Swami Vivekananda, siehe Vivekananda. Swedenborg, Emanuel, geb. 29. Januar 1688 in Stockholm, gest. 29. März 1772 auf einer Reise nach London. Sohn des Bischofs Dr. Jesper Swedberg, 1719 von der Königin Ulrike Eleonore von Schweden unter dem Namen Swedenborg geadelt. Als lebenslängliches Mitglied des Adelshauses im schwedischen Reichstag. Studiert Physik und Mathematik. 1716 Assessor im Bergwerkskollegium. Zahlreiche Reisen in das Ausland, 1718 Erfindung mechanischer Apparate, die im Kriege zwischen
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Swedenborg
Schweden und Norwegen entscheidende Bedeutung gewinnen. 1724 Aufforderung durch das akademische Konsistorium, sich um die freigewordene Professur von Celsius zu bewerben, was S. ablehnt. 1729 Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Uppsala. 1734 korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg. Briefwechsel mit Christian Wolff. Nach 1736 wieder zahlreiche Auslandsreisen. Seit 1743 wachsende Zweifel an der Lösung der großen Probleme durch die Wissenschaften. 1747 nimmt S. seine Entlassung aus dem Bergwerkskollegium, um sich seiner Aufgabe des rein geistigen Schauens zu widmen. Kant berichtet in einem Brief vom 10. August 1758 an Charlotte von Knobloch aus Königsberg über die ihm bekannt gewordenen Visionen Swedenborgs, mit dessen Philosophie er sich in der Schrift: „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik", Königsberg 1766; auseinandersetzt. Die Visionen S.s beziehen sich auf Gegenstände, die grundsätzlich außerhalb des Bereichs der Philosophie im engeren Sinne liegen, und seine Visionen entziehen sich ihrem Wesen nach nicht nur der erfahrungsmäßigen Nachprüfung durch jedermann, sondern sie fallen auch ihrer gedanklichen Fassung nach aus dem Rahmen des philosophischen Denkens heraus. Swedenborg behauptet, eine genaue Kenntnis der Geisterwelt zu besitzen, die er im einzelnen in seinen Schriften darlegt, wie er auch häufigen Umgang mit der Geisterwelt zu haben versichert. Kant, dessen Schrift „Träume eines Geistersehers" keineswegs nur ironisch gemeint ist und dessen letzte Meinung über diesen Gegenstand nicht leicht zu erschließen ist, erklärt zu der Frage der Existenz der immateriellen Geister Swedenborgs: „Man kann . . . die Möglichkeit immaterieller Wesen annehmen ohne Besorgnis widerlegt zu werden, wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit durch Vernunftgründe beweisen zu können" (Ausg. Reclam, S. 9). Wenn auch die Bewertung der Visionen S.s von den Erfahrungstatsachen mehr, als von Gründen abhängt, versucht Kant doch, sie in eine gewisse systematische Ordnung zu bringen. Auf das weltanschauliche Denken, beispielweise Strindbergs und Balzacs, hat S. einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Insbesondere ist er eine Autorität für den Spiritismus. Der Mensch ist seinem wahren und eigentlichen Wesen nach Geist. Als geistiges Wesen befindet er sich, schon während er körperlich lebt, in Gemeinschaft mit Geistern. Diese sind Engel, wenn er gut, aber höllische Geister, wenn er böse ist. Der menschliche Geist bleibt in seinem Körper, solange die Bewegung seines Herzens andauert, die eins.ist mit seiner Liebesneigung. Die Liebe und der Wille sind die eigentliche Seele seiner Taten, sie formen auch den Leib des Menschen nach Maßgabe seiner Taten. Der geistige Leib des Menschen gestaltet sich durch das, was der Mensch aus Liebe oder mit Willen tut. Nach dem Tode ist der Mensch weiter ein Geschöpf seiner Liebe und seines Willens. Diese bestimmen ihm auch den Raum und die Gemeinschaft, in die er im Geisterreich eingeht. Die in ihm herrschende Liebe gestaltet Wesen und Schicksal des Geistes, wie sein Antlitz. Wenn auch der Mensch nach dem Tode aus einem Leben in ein anderes geht, so soll er darum die irdische Existenz und seine Pflichten in ihr nicht vernachlässigen. Nur durch ein bürgerliches und moralisches Leben vermag er sich angemessen auf eine künftige neue Existenz vorzubereiten. Ein trauriges Leben, entfernt von der tätigen Liebe, trennt ihn im künftigen Dasein vom Reich der Engel, denn deren Leben ist fröhlich aus Seligkeit und besteht aus Werken des Guten und der Liebe. Die Verbindung zwischen der Geisterwelt und der irdischen Existenz drückt sich in der Lehre von den Entsprechungen aus. Das Ganze der himmlischen Gemeinschaften findet in seinen Teilen seine Entsprechungen und ist aus diesen zu erkennen. Die ganze natürliche Welt entspricht der geistigen, die zugleich ihre Ursache ist. Der Mensch ist Himmel und Welt in kleinster Gestalt und hat sowohl die
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geistige, wie die natürliche Welt in sich. An ihm sind sämtliche Vorgänge des Körpers in Gesicht, Rede und Gebärden Entsprechungen, Es ist schließlich alles, was die Natur hervorbringt, vom kleinsten bis zum größten, eine Entsprechung, da die natürliche Welt mit ihrem ganzen Inhalt aus der geistigen entsteht und besteht, und beide aus dem Göttlichen entspringen. Die Lehre von den Entsprechungen wird von S. bis in eine weitgesponnene Symbolistik hinein ausgeführt, ebenso wie seine Schilderungen aus dem Dasein der Engel und seine Visionen von Himmel und Hölle. S c h r i f t e n : Opera Philosophica et Mineralia, 3 Bde., Dresden und Leipzig 1734. — De Cultu et Amore Dei, London 1744—45. — Arcana coelestica, 8 Bde., London 1749 bis 1756. — De Coelo et eius Mirabilibus, et de Inferno, ex Auditis & Visis, London 1758. — Deutsche Auswahl und Nachdichtung aus dem lateinischen Text von Walter Hasenclever, Berlin 1925. — Auszug, v. J. M. Vorherr herausg., Lorch 1937. L i t e r a t u r ; Tafel, Sammlung von Urkunden, betr. das Leben u. den Charakter S.s, 3 Bde., 1839—1842; Abriß des Lebens u. Wirkens E. S.s, 1845. — H. Schlieper, E. S.s System der Naturphilosophie, Diss., Berlin 1901. — R. A. Hoffmann, Kant u. S., 1909, — Fr. Sewall, S. and the Sapientia angelica, 1910. — C. Byse, S., 5 Bde., Paris 1911 ff. — G. A. Trobridge, Life of E. S„ 1912. — E. A. G. Kleen, S„ 2 Tie., 1917—1920 (schwed.). — Pauline Bernheim, Berlin 1914; in: Roman. Studien, H. 16. —• Martin Lamm, S., deutsch 1923. — M. B. Block, The new church in the new World, a study of Swedenborgianism in America, 1933. — Mattiessen, Das persönliche Überleben des Todes, Berlin und Leipzig 1936. —• Herbert Fritsche, A. Strindbergs Erweckung durch S., Leipzig 1940. •— Harro Maitzahn, S.s Wissenschaft der Entsprechungen, Leipzig 1940. — Erich Reissner, S, über die christl. Kirche, Leipzig 1940. — Ernst Benz, S. als geistiger Wegbereiter der deutschen Romantik u. des deutschen Idealismus, Leipzig 1940. — H, Geymüller, S. u. die übersinnl, Welt, deutsch v, Sallmann, Stuttg. 1936. •— Harro Maitzahn, E. S., sein Werk, sein Weg, sein Weltbild, Leipzig 1939. — J. G, Mittnacht, E. S., Lorch 1936. — Hugo Schoeppl, Der Geisterseher E. S., Wien 1928. — Hyde, A bibliography of the works of E. S., 1909.
Swiatkowski, Martin, gest. 1790. Prof. für Philosophie an der Universität Krakau. — Der polnische Philosoph S. ist Schüler Wolfis. Als Erster hält er in seiner Heimat Vorlesungen über die Lehren von Leibniz und Wolff. S c h r i f t e n : Prodromus polonus, Berlin 1765.
Swilt, Jonathan, geb. 30. November 1667 in Dublin, gest. 19, Oktober 1745 dort. 1682 Baccalaureus am Trinity-College in Dublin, 1692 Promotion in Oxford, Pfarrer in Irland, 1713 Dechant von St. Patrick in Dublin. Der Satiriker S. kämpft für Menschlichkeit und für sein irisches Volk, bleibt sich aber auch seiner geistigen Zugehörigkeit zur englischen Kultur bewußt. Seine Haltung ist die des Rationalismus und des Individualismus: „Es mag klug sein, manchmal nach der Vernunft anderer Menschen zu handeln, denken aber kann ich nur mit meiner eigenen" (Gedanken u, Essays, S, 56), und: „Fast zu allen Zeiten hat man feststellen können, daß die großen Taten zum Wohle des Ganzen durch die Weisheit oder den Mut, durch die planvolle Einsicht oder die geschickte Energie einzelner Männer und nicht durch die große Masse ausgeführt werden" (S. 37), In „Gullivers Reisen" hat S. ein klassisches Werk satirischer Betrachtung der Menschheit und der menschlichen Natur geschaffen. S c h r i f t e n : Tale of a tub, 1704. — Gulliver's travels, 1726. — Battie of the books, 1704. — Sentiments of a Church-of-England man in respect to religion and government, 1708. — The public spirit of the Whigs, 1740. — Works, hrsg. v. Hawkesworth, London 1755, 14 Bde. Quart u. 24 Bde. Oktav; hrsg. v. Thomas Sheridan, 17 Bde., L. 1784; v. Walter Scott, 19 Bde., L. 1814; v. Roscoe, 2 Bde., L. 1853. — Prose Works, 2 Bde., L. 1908. — Poetical Works, 2 Bde., L. 1910. — Correspondence, 6 Bde., L. 1910—14. — Tagebuch in Briefen an Stella, dt. v. Ciaire von Glümer, 1866. — Gedanken u. Essays, dt. v, W, Freisburger, 1940. — Prosaschriften, dt., hrsg. v. F. P. Greve, 4 Bde., 1922. —
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Switalski—Symeon
Gullivers Reisen, zahlreiche dte. Ausgaben; vollständige Übertragung v. Carl Seelig, Berlin 1935, in: Epikon. L i t e r a t u r : Leslie Stephen, J . S., London 1882. — Simon, S., étude psychologique et littéraire, Paris 1893. — E. Pons, S., Les années de jeunesse et le Comte de Tonneau, Straßburg 1925, — Charlotte Dege, Utopie u. Satire in S.s Gullivers Travels, Diss., J e n a 1933. —• Adolf Heidenhain, Über den Menschenhaß, Stuttgart 1934. — Hans Remers, J . S., Hamburg 1935. — Josef Sewald, S.s Entwicklung zum Satiriker, Diss., München 1936. — Lilli Handro, S., Gullivers Travels, eine Interpretation in Zus.hang mit den geistesgeschichtlichen Beziehungen, Diss., Hamburg 1936, und: Britannica, Heft 12. — Newman, J . S., London 1937. — Hans Hauswald, Die Meinungen über S.s Parteienwechsel, Diss., Leipzig 1940. — Herbert Roch, Richter ihrer Zeit, Berlin 1940. — Monty Jacobs, Jonathan S.. Berlin 1948.
Switalski, Wladislaus, geb. 27, Juni 1875 in Kankel (Kreis Lissa). Dr. phil,, Dr. theol. h. c. Studium in München; Schüler von Graf Hertling, Lipps und Cornelius. Seit 1903 Prof. für Philosophie an der Akademie in Braunsberg. S c h r i f t e n : Des Chalcidius Kommentar zu Piatos Timaios, Diss., München 1899; erweitert 1902, — Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Zitats, 1902, — Das Leben der Seele, 1907. — Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus nach William James, 1910. — Vom Denken u. Erkennen, 1914, — Zur Analyse des Subjektsbegriffs, 1914. — Der Wahrheitssinn, 1917. — Die Idee als Gebilde u. Gestaltungsprinzip des geistigen Lebens, 1918. — Probleme der Erkenntnis, Ges. Abh., 2 Bde., 1923. — Kant u, der Katholizismus, 1925. — Die Philosophie, ihr Sinn u. ihre Bedingtheit, 1927. — Deuten u. Erkennen, 1928. — Geist u. Gesinnung, 1933.
Swoboda, Hermann, geb. 23. November 1873 in Wien. Privatdozent an der Universität Wien, — S. lehrt im Gegensatz zur atomistischen eine organische Psychologie, Die von W. Fließ vertretene Annahme einer Periodizität des Lebens dehnt er auch auf das psychische Erleben aus. Der nach Ablauf einer rhythmischen Periode wiederkehrende gleiche körperliche Zustand führt die gleichen seelischen Erlebnisse wieder herauf. Auch die von Herbart als „freisteigend" bezeichneten Vorstellungen haben eine organische Grundlage. S c h r i f t e n : Die Perioden des menschlichen Organismus, 1904. — Studien zur Grundlegung der Psychologie, 1905. — Die gemeinnützige Forschung u. der gemeinnützige Forscher, 1906. — Harmonia animae, 1907. — Otto Weininger, 1910. — Das Siebenjahr, Untersuchungen über die zeitliche Gesetzmäßigkeit des menschlichen Lebens, Bd. I, 1917. — Verstehen u. Begreifen, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philosophie, Bd. 27. — Zur Beurteilung der griechischen Tyrannis, in: Klio, Bd. 12, S, 341 ff.
Symeon, „der neue Theologe", geb. nach 960 n. Chr. im Dorf Galate in Paphlagonien, gest. um 1040 in Chrysopolis. Abneigung gegen philosophische und rhetorische Studien in Konstantinopel. Eintritt in das Kloster Studion dort. Entwicklung seiner mystischen Gabe. Übergang ins Mamaskloster in Konstantinopel. Dort zum Priester geweiht und zum Abt erwählt. Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Angriffe gegen seine Trinitätslehre und Verbannung nach Chrysopolis, wo er nach Rehabilitierung bleibt und ein Kloster baut. S. ist der bedeutendste Mystiker der griechischen Kirche. E r betrachtet es als Ziel des religiösen Erlebens, zum „Licht" zu gelangen. An sich selbst erfährt er das Aufleuchten des Lichts als persönliche Offenbarung Gottes, die ihn mit neuer Kraft stärkt und ihm das Verständnis des Neuen Testaments öffnet. Nur die persönliche Berührung mit der Gottheit verleiht Gewißheit des Vorhandenseins einer unsichtbaren Welt und eröffnet das Verständnis der geistigen und sittlichen Probleme, Die Gnadenerfahrung des „Lichts"' kann jedem Christen zuteil werden, wie jeder zum Wandel im Licht verpflichtet ist. S. stellt den Grundsatz auf, daß nur das persönlich Erlebte wirklichen Wert in der Religion besitzt. Die Gnade allein kann dem Menschen das Erlebnis der Erleuchtung schenken. Der das Licht schaut,
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weiß, daß Religion Freiheit in Gott und nicht Knechtsdienst ist. S.s mystische Methode hat starke Wirkung auf die Entwicklung der späteren Mystik geübt. S c h r i f t e n : W e r k e bei Migne, Series Graeca, Bd. 120 und Bd. 95, S. 283 ff.; griech, Ausgabe, Smyrna 1886. L i t e r a t u r : Karl Holl, Enthusiasmus u. Bußgewalt. Eine Studie zu S. dem neuen Theologen, Lpz. 1898; A r t i k e l S., in: Realenz. f ü r prot. Theol. und Kirche, Bd. 19 (1907), S. 215 ff.
Synesios von Kyrene, geb. um 370 n. Chr. in Kyrene, gest. 415 in Ptolemais. Aus hellenischem Adelsgeschlecht. Studium der Rhetorik und der Philosophie in Alexandria. Schüler Hypatias. 398—400 in Konstantinopel. 401 in Athen, 402—404 in Alexandrien. 403 Heirat mit einer Christin. 409 Taufe und Bischofsweihe in Alexandrien, 410 Bischof in Ptolemais. S. von K. ist neuplatonischer Philosoph der alexandrinischen Richtung und verschmilzt dieses Gedankengut mit dem Christentum. Er erhebt die Forderung nach einer philosophischen Kultur, die durch ihre Beschäftigung mit den Wissenschaften einen stufenweisen Aufstieg zum Nous gewähre. Bloßer Kontemplation in Religion und Philosophie ist S. abgeneigt. Gott gilt ihm als die Einheit der Einheiten, die monas monadum, und die Indifferenz der Gegensätze, als Ein und Alles. Die Gottheit legt sich auseinander in eine Dreiheit göttlicher Kräfte. In Übereinstimmung mit der hellenischen Tradition, nicht mit der christlichen Überzeugung, lehrt S., daß nur wenige die reine, nicht in Bilder gefaßte Wahrheit erkennen können. Für die schwachen Geistesaugen der Menge ist sie unerträglich; ihnen muß sie durch Mythen verhüllt nahegebracht werden. Die (an den Kaiser Arkadios gerichtete) Rede „Über die Königsherrschaft" irept ßaadeTas schildert das Ideal des von der Philosophie geleiteten Herrschers, der zuerst die Unvernunft in sich selbst überwindet, im Gegensatz zum Tyrannen. S c h r i f t e n : Gesamtausgabe bei Migne, Series Graeca, Bd. 66, O p e r a omnia, Bd. I, hrsg. v. J . G. Krabinger, 1850. — Rede über das Königtum, hrsg. v. J . G. Krabinger, München 1825. — Calvitii encomium (Lob der Kahlköpfigkeit), auch dt., hrsg. v. J . G. Krabinger, 1834. — Die ägyptische Erzählung oder über die Vorsehung, auch dt., hrsg. v. J . G. Krabinger, 1835. — Über, die Träume. — Episteln, in: R. Hercher, Epistolographi Graeci, Paris 1873, S. 638—739. — Hymnen, in: Christ u. Paranikas, Anthologia G r a e c a carminum Christianorum, S. 3—23, 1871; hrsg. v. Flach, 1875. — Homilien, L i t e r a t u r : A . Th. Clausen, De Synesio philosopho, Kopenhagen 1831. — B, Kolbe, D e r Bischof S. v. C. als Physiker u. Astronom, Berlin 1850, — Dryon, E t u d e s sur Ia vie et les Oeuvres de S., Paris 1859. — Fr. Xaver Kraus, Studium über S. v. K., in: Theolog. Quartalsschrift, 47 (1865), S. 381—148, und 537—600; 48 (1866) S, 85—129. — Richard Volkmann, S. v. K., 1869. — E. R. Schneider, De vita Synesii, Diss., Leipzig 1876. — C. Schmidt, Synesii philosophoumena eclectica, Diss., Halle 1889. — O. Seeck, Studien zu S., in: Philologus, Bd. 52 (1893), S. 442—483. — W. Fritz, Die Briefe des Bischof S. v. K. Ein Beitrag zur Gesch. des Atticismus im 4. u. 5. Jh., 1898. — W. S. Crawford, S. the Hellen, London 1911. — U. v, Wilamowitz-Möllendorff, Die Hymnen des Proklos u. S., in: Sitzg.-Ber. der Berliner Ak., 1907, S. 272—295. — G. Grützmacher, S. v. K., 1913. — A. Ludwig, Die Schrift irspi ivj-\Uov des S, v. K., in: Theol. u. Glaube, Jg. 7, P a d e r b o r n 1915. — W . Lang, Das Traumbuch des S. v. K., Übers, u. Analyse der philos. Grundlagen, 1926. — Xaver Simeon, Untersuchungen zu den Briefen des Bisch. S. v, K., P a d e r b o r n 1933, in: Rhetorische Studien, H. 8. — Ingeborg Hermelin, Zu den Briefen des Bischofs S., Diss., Uppsala 1934. — W . Möller u. G. Krüger, Art. S. v. C., in: Realenc. f ü r prot. Theol. u. Kirche, Bd. 19 (1907), S. 235—239.
Syrbius, Johann Jakob, geb. 16. Juni 1674 in Wegmar (Thüringen), gest. 8. November 1738 in Jena. 1693 Studium der Theol., Philosophie und Gesch. in Jena. 1696 Dr. phil., 1704—1707 Leiter des theol. Seminars in Eisenach. 1707
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Syrianos aus Alexandrien—Szontágh
o. Prof. der Logik u. Metaphysik in Jena. 1730 a. o. Prof., 1734 o. Prof. der Theologie. — Der lutherische Theologe S. ist in der Philosophie Gegner Christian Wolfis. S c h r i f t e n : Dissertatio de cultu Bacchi ínter gentiles, Jena 1698. — De numero et serie categoriarum, Jena 1699. — De sabbato gentili, 1699 u. 1726. — De Pythagora inter syndonem noscendo, 1701/02. — Epístola de methodo humanioris doctrinae, 1703. — De discrimine affectuum spiritualium et naturalium, 1706, — De definitione sapientiae, 1707. — De re scholastica recte instituenda, 1711. — Synopsis philosophiae rationalis, 1716; u. d. T.: Institutiones philosophiae rationalis eclecticae, 1717 u. 1723, — Synopsis philosophiae primae, 1716, 1720, 1726; zuletzt als: Institutiones philosophiae primae novae et electivae. — Conspectus philosophiae naturalis eclecticae, 1717. — De origine Atheismi, 1720. — Kurze Anweisung zur Weisheit, 1724. — Bericht wegen der Wolfschen Philosophie, 1725. — De desiderio hominis infinito, 1726. — 24 Punkte, die S. an der Wolfschen Philos. auszusetzen hatte, 1727. — De determinata futurorum contingentium veritate, 1738. L i t e r a t u r : P. Tschackert, Art. S., in: Allg, Dte. Biogr., Bd. 37 (1894), S. 290 f. Syrianos aus Alexandrien, gest. um 450 n. Chr. Schüler des Plutarch und sein Nachfolger in der Leitung der Akademie seit 431 n. Chr. Lehrer des Proklos. — S. gehört zur athenischen Schule des Neuplatonismus. E r kommentiert platonische und aristotelische Schriften. In Umkehrung des geschichtlichen Verhältnisses sieht er die Werke des Aristoteles als Vorstufen zu einer Versenkung in Plato an. Doch unternimmt er keinen Versuch, beide zu harmonisieren. Einen solchen führt er durch für Plato einerseits und Pythagoras, die orphische Literatur, die chaldäische Theologie andererseits. S. unterscheidet zwischen dem Einen und dem Geist, der die Ideen mitumschließt. Ideen sind intellektuelle Zahlen. S c h r i f t e n : Commentarii in libros III., XIII., XIV. metaphysicae Aristotelis, lat. interpret. v. H. Bagolino, Venedig 1558; griech. hrsg. v. W. Kroll, in: Griech, AristotelesKommentare, hrsg. v. der Berliner Ak., Bd. VI, 1, Berlin 1902; griech. hrsg. v. H. Usener, Aristotelis Opera, hrsg. v. der Berliner Ak., Bd. V, Berlin 1870, als Supplement zu Bd. IV, S, 835—946, — In Hermogenem commentaria, hrsg. v. H. Rabe, 2 Bde., Lpz. 1892/93. L i t e r a t u r : Bach, De S. philosopho neoplatonico, I, Programm Lauban 1862. Szaniawski, Jozef Kalasanty, lebte 1764 bis 1843. Studium in Königsberg bei Kant. — Der polnische katholische Philosoph Sz. ist Kantianer, mit Hinneigung zum Idealismus, in Annäherung an Schelling. S c h r i f t e n : Weis ist Philosophie? (poln.), Warschau 1802. — Das System des Christentums, (poln.), Warschau 1803. — Freundschaftl, Ratschläge, einem jungen Verehrer der Wissenschaften u, der Philosophie erteilt, (poln,), Warschau 1805. L i t e r a t u r : M. Smolarski, J . K. Sz., in: Bibl. Warszawska 1910, Heft 11 Szilasi, Wilhelm, geb. 19. Januar 1889 in Budapest. W i r d Budapest. Lebt 1932 bis 1947 in Brissago, Schweiz. 1947 o. sophie in Freiburg i. Br. S c h r i f t e n : Wissenschaft als Philosophie, 1945. — Macht u. 1946. — Mithrsg. der Reihe: Überlieferung und Auftrag, zus. mit
1918 o. Professor in Professor für PhiloOhnmacht des Geistes, Ernesto Grassi,
Szontágh, G., lebte 1793 bis 1858. — Der ungarische Philosoph Sz. lehrt eine harmonistische Philosophie. Die Gesetze des Denkens sind zugleich die Gesetze des Seins. Auch die Natur besitzt Vernunft, aber unbewußt wirkende. Von Befolgung der Gebote des Wahren, Guten, Schönen hängt unser Wohlergehen ab. S c h r i f t e n : Prinzipien u. Charakter der ungarischen Philosophie, 1840. — Propyläen zur ungarischen Philos., 1839. L i t e r a t u r : Al. Magda, Die ungarische harmonische Philosophie, 1915.
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Szujski —• McTaggart
Szujski, Jozef, geb. 1835 in Tarnow, gest. 7. Februar 1883 in Krakau. Studium in Krakau und Wien. 1869 Prof. der polnischen Gesch. an der Univ. Krakau; Generalsekretär der Krakauer Akademie der Wiss. Daneben politische Tätigkeit. Der polnische Historiker und Dichter Sz. ist Positivist nach der konservativen Art der Krakauer historischen Schule. Er teilt ihre Abneigung gegen jede Spekulation und ihre Überschätzung der Naturwissenschaften. S c h r i f t e n : Gesammelte W e r k e , 13 Bde., Lemberg 1886—1892. — Gesch. Polens auf Grund der letzten Forschungen, 4 Bde., Lemberg 1862—1866. — Gesch. Polens, W a r s c h a u 1880.
T. Tafel, Immanuel, geb. 17. Februar 1796 in Sulzbach, gest. 29. August 1863 in Ragaz. Studium der Philologie, Philosophie und Theologie. Bibliothekar an der Tübinger Universität, später Professor dort. Die frühe Bekanntschaft mit den Werken Swedenborgs entscheidet über die Richtung von T.s philosophischer Arbeit. Er sieht fortan die Verbreitung und Festigung der Lehren Swedenborgs in Deutschland als seine Lebensaufgabe an und wird Vorsteher der deutschen Gemeinde von Swedenborgianern. In seinen selbständigen philosophischen Werken vertritt er die Überzeugung, „daß unser Denken und Erkennen keineswegs bloß durch die materiellen Organe, sondern auch und hauptsächlich durch ein von ihnen abhängiges geistiges Auge und ein auf dasselbe einwirkendes göttliches Licht und Leben bedingt ist" (Fundamentalphilosophie, Bd. I gegen Schluß). S c h r i f t e n : Herausgeber der lateinischen Originale Swedenborgs (21 W e r k e ) u. Übersetzer von 15 seiner Schriften. — Herausgeber des Magazins für die „Neue Kirche in Deutschland u. in der Schweiz" (Aktensammlung). — Sammlung von Urkunden, betreffend das Leben u. den C h a r a k t e r Emanuel Swedenborgs, Tübingen 1839. — Abriß des Lebens u. W i r k e n s Em. Swedenborgs, v e r b u n d e n mit e. Würdigung der Berichte u. Urteile Stillings, Klopstocks, Kants, Wielands u. a., 1845. — Swedenborg u. seine Gegner, Tübingen 1856. — Gesch. u. Kritik des Skeptizismus u. Irrationalismus in ihrer Bezg. zur n e u e r e n Philos., mit bes. Rücksicht auf Hegel. — Fundamentalphilosophie in genetischer Entwicklung, Bd. I. — Supplement zu Kants Biographie u. zu den Gesamtausgaben seiner W e r k e , 1845. L i t e r a t u r : Ch. Düberg, Leben u. W i r k e n von J , Fr. Imm. Tafel, Wismar 1864; 2. A., hrsg. v. Th. Müllensiefen, Basel 1868. — H. Spitta, A r t . T., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894,), S. 346 ff.
McTaggart, J. M. Ellis, lebte 1866 bis 1925. Fellow des Trinity College, Cambridge. — McT. steht unter dem Einfluß der Philosophie Hegels und hat die empfangenen Anregungen zu einem selbständigen System weiterentwickelt. S c h r i f t e n : Studies in Hegelian dialectic, 1896. — Studies in Hegelian Cosmology, 1901. — Some dogmas of religion, 1906, — A commentary on Hegel's logic, 1910. — T h e n a t u r e of existence, Bd. I, 1921, — A n ontological idealism, in: Contemporary British Philos., Vol. I, 1924. — T h e conception of society as an organism, in: International J o u r n a l of Ethics, VII, 1897. — Zahlreiche Aufsätze in: Mind, N. S. L i t e r a t u r : M. Glosner, Ein kritischer Anhänger Hegels in England, in: J b . Philos. u. spekulative Theol., XII, 1898, S. 383 ff. — G. E. Moore, McT.s Studies Hegelian cosmology, in: Proceedings of the Arist. Soc., N. S., II, 1902; McT.s Ethics, International J o u r n a l of Ethics, Bd. XIII, 1903. — H. Rasdall, McT.s dogmas of religion, Mind, N. S., XV, 1906. Philosophen-Lexikon
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Szujski —• McTaggart
Szujski, Jozef, geb. 1835 in Tarnow, gest. 7. Februar 1883 in Krakau. Studium in Krakau und Wien. 1869 Prof. der polnischen Gesch. an der Univ. Krakau; Generalsekretär der Krakauer Akademie der Wiss. Daneben politische Tätigkeit. Der polnische Historiker und Dichter Sz. ist Positivist nach der konservativen Art der Krakauer historischen Schule. Er teilt ihre Abneigung gegen jede Spekulation und ihre Überschätzung der Naturwissenschaften. S c h r i f t e n : Gesammelte W e r k e , 13 Bde., Lemberg 1886—1892. — Gesch. Polens auf Grund der letzten Forschungen, 4 Bde., Lemberg 1862—1866. — Gesch. Polens, W a r s c h a u 1880.
T. Tafel, Immanuel, geb. 17. Februar 1796 in Sulzbach, gest. 29. August 1863 in Ragaz. Studium der Philologie, Philosophie und Theologie. Bibliothekar an der Tübinger Universität, später Professor dort. Die frühe Bekanntschaft mit den Werken Swedenborgs entscheidet über die Richtung von T.s philosophischer Arbeit. Er sieht fortan die Verbreitung und Festigung der Lehren Swedenborgs in Deutschland als seine Lebensaufgabe an und wird Vorsteher der deutschen Gemeinde von Swedenborgianern. In seinen selbständigen philosophischen Werken vertritt er die Überzeugung, „daß unser Denken und Erkennen keineswegs bloß durch die materiellen Organe, sondern auch und hauptsächlich durch ein von ihnen abhängiges geistiges Auge und ein auf dasselbe einwirkendes göttliches Licht und Leben bedingt ist" (Fundamentalphilosophie, Bd. I gegen Schluß). S c h r i f t e n : Herausgeber der lateinischen Originale Swedenborgs (21 W e r k e ) u. Übersetzer von 15 seiner Schriften. — Herausgeber des Magazins für die „Neue Kirche in Deutschland u. in der Schweiz" (Aktensammlung). — Sammlung von Urkunden, betreffend das Leben u. den C h a r a k t e r Emanuel Swedenborgs, Tübingen 1839. — Abriß des Lebens u. W i r k e n s Em. Swedenborgs, v e r b u n d e n mit e. Würdigung der Berichte u. Urteile Stillings, Klopstocks, Kants, Wielands u. a., 1845. — Swedenborg u. seine Gegner, Tübingen 1856. — Gesch. u. Kritik des Skeptizismus u. Irrationalismus in ihrer Bezg. zur n e u e r e n Philos., mit bes. Rücksicht auf Hegel. — Fundamentalphilosophie in genetischer Entwicklung, Bd. I. — Supplement zu Kants Biographie u. zu den Gesamtausgaben seiner W e r k e , 1845. L i t e r a t u r : Ch. Düberg, Leben u. W i r k e n von J , Fr. Imm. Tafel, Wismar 1864; 2. A., hrsg. v. Th. Müllensiefen, Basel 1868. — H. Spitta, A r t . T., in: Allg. Dte. Biogr., Bd. 37 (1894,), S. 346 ff.
McTaggart, J. M. Ellis, lebte 1866 bis 1925. Fellow des Trinity College, Cambridge. — McT. steht unter dem Einfluß der Philosophie Hegels und hat die empfangenen Anregungen zu einem selbständigen System weiterentwickelt. S c h r i f t e n : Studies in Hegelian dialectic, 1896. — Studies in Hegelian Cosmology, 1901. — Some dogmas of religion, 1906, — A commentary on Hegel's logic, 1910. — T h e n a t u r e of existence, Bd. I, 1921, — A n ontological idealism, in: Contemporary British Philos., Vol. I, 1924. — T h e conception of society as an organism, in: International J o u r n a l of Ethics, VII, 1897. — Zahlreiche Aufsätze in: Mind, N. S. L i t e r a t u r : M. Glosner, Ein kritischer Anhänger Hegels in England, in: J b . Philos. u. spekulative Theol., XII, 1898, S. 383 ff. — G. E. Moore, McT.s Studies Hegelian cosmology, in: Proceedings of the Arist. Soc., N. S., II, 1902; McT.s Ethics, International J o u r n a l of Ethics, Bd. XIII, 1903. — H. Rasdall, McT.s dogmas of religion, Mind, N. S., XV, 1906. Philosophen-Lexikon
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Tagore, Debendranath — Taine
Tagore, Debendranath, geb. Mai 1817 in Kalkutta, gest. 19. Januar 1905 ebenda. Vater von Rabindranath T. Indischer Religionsphilosoph und religiöser Führer (Brahmane). S c h r i f t e n : Brahma-dharma (rei. Lehrbuch). — Autobiography, 1915.
Tagore, Rabindranath (Thâkur), geb. 7. Juni 1861 in Kalkutta, gest. dort 7. Aug. 1941. 1901 Begründung einer Philosophen-Schule in Shantiniketan bei Bolpur (Bengalen), die sich zu dem internationalen Institut Visva-Bharati entwickelt. 1912 (und 1878) Besuch Englands. Reisen nach Japan, Rußland, China, USA, Südamerika, Persien, Canada und nach den Ländern Europas. 1913 Nobelpreis für Literatur. — Der indische Dichter T. hat in der praktischen Tätigkeit an seiner Schule, die er als Lebensaufgabe betrachtete, wie in Vortragstätigkeit und philosophischen Werken, die Gedanken seines Volkes der westlichen Welt zugänglich zu machen versucht. Er ist tief durchdrungen von dem Bewußtsein Gottes, von Liebe zum Universum und Liebe zur Schönheit der Welt, von Liebe zum jungen, entwicklungsfähigen Menschen und seinem einfachen, natürlichen Wesen und von Liebe zum Frieden. S c h r i f t e n : Gesammelte Werke, dt., 8 Bde., 1921; engl., 5 Bde., 1921/22. — Erinnerungen, 1912; dt. 1923 (reichen bis 1885). — Das Heim u. die Welt, 1915; dt. 1919. — Sadhana. Der Weg zur Vollendung, 1913; dt. 1921. — Nationalismus, 1917; dt. 1919. — Persönlichkeit, 1917; dt. 1921. —• Thoughts, London 1921. — The religion of man, London 1931. — Letters to a friend, L. 1931. L i t e r a t u r : Pearson, Shantiniketan. The Bolpur School of R. T., 1917. — H. MeyerBenfey, R. T., 1921. — Paul Natorp, Stunden mit R. T., 1921. — E. Thompson, R. T„ poet and dramatist, Oxford 1926. — Sushil Chandra Mitter, La pensée de R. T., Diss., Paris 1930. — Walter Graefe, Die Weltanschauung R. T.s, 1930. — Rudolf Otto, R. T.s Bekenntnis, 1931. — E. Engelhardt, R. T. als Mensch, Dichter u. Philosoph, 1921. — M. Winternitz, R. T., Religion u, Weltanschauung des Dichters, Prag 1936. — Festschrift zum 70. Geb.: The Golden Book of T., an homage to R. T. from India and the World, Kalkutta 1931.
Taine, Hippolyte, geb. 21. April 1828 in Vouziers, Dpt. Ardennes, gest. 5. März 1893 in Paris. 1851 Lehrer der Philos, am Collège in Nevers, 1852 Lehrer der Rhetorik in Poitiers, 1853 Dr. phil,, 1864 Prof. der Kunstgeschichte und Ästhetik an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Bekanntschaft mit Renan und SainteBeuve. 1878 in die Académie Française gewählt. Der französische Kunst- und Kulturhistoriker T. ist Positivist unter dem Einfluß von Comte und John Stuart Mill. Er ist von der Gesetzlichkeit alles Geschehens und der Determiniertheit der physischen und psychischen Vorgänge überzeugt und von dem Glauben getragen, daß die Wissenschaft zur Auffindung der Gesetze imstande ist, denen das wirkliche Geschehen unterliegt. Diese Aufgabe kann nur eine naturwissenschaftliche Methode auf Grund exakter Beobachtung erfüllen, wie Comte erkannte, der „das Wesen der Wissenschaft nicht wie die anderen Philosophen im allgemeinen nach einer spekulativen Idee, sozusagen in der Luft, sondern auf Grund der existierenden, effektiven Wissenschaften untersuchte." Wie Comte selber sieht daher T. die Entstehung und Entwicklung der positiven Wissenschaften in den letzten drei Jahrhunderten als das wichtigste Ereignis der Geschichte an. Dennoch folgt er Comtes Vorbild nicht kritiklos. Fühlt er sich auch von der ihm voraufgehenden Periode der Romantik und von ihren Spekulationen durch sein Fußen auf wissenschaftlichen Tatsachen getrennt, lehnt er auch jede Art von idealistischen geisteswissenschaftlichen Konstruktionen ab, so vermißt er doch im Positivismus eine Zusammenschau der Tatsachen, eine Betrachtungsweise, die alle Gesetze und Typen auf eine Gesamtformel zurückführt. Eben dieses Zurückgehen auf eine universelle Formel für die von der Wissenschaft
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getrennt betrachteten Gesetze und Typen nennt T. Metaphysik, Sie hat das Ziel, das Uraxiom der Bewegung zu entdecken. So verbindet T. eine positivistische Grundauffassung des geistigen Lebens mit Zügen idealistischer Metaphysik, die ihn der Romantik und Hegel verbunden zeigen. Das eigenste Schaffensgebiet T.s ist die Welt des Geistes in Literatur, Kunst, Psychologie und Geschichte. Wie alle Wissenschaften, so haben auch die geistiggeschichtlichen ihr Material in den ,,ganz kleinen bedeutungsvollen Tatsachen" (de tout petits faits significatifs), die in die Gesamtheit des Geschehens einzuordnen sind. Jedes Geschehnis, jede Institution, jedes Werk geistigen Schaffens hat seinen Ort in dem System der voraufgehenden und der gleichzeitigen Umstände und wird aus dieser Beziehung heraus verständlich. Drei Faktoren — von T. als forces primordiales bezeichnet — bestimmen jedes Ereignis und jede geistige Gestaltung: Rasse, Milieu (die Gesamtheit der äußeren Umstände), gegenwärtige Zeitlage (le moment). T.s Lehre von dem überragenden Einfluß der physischen, geistigen und sozialen Umwelt, seine „Milieutheorie", hat tiefgreifende und weitgehende Wirkung geübt. Sie gab einen ersten Anstoß zur Erforschung sozialer Faktoren in ihrer Auswirkung auf individuelles Schaffen. T. sieht im Künstler die Persönlichkeit, die den Charakter ihres ganzen Volkes am vollendetsten repräsentiert. In seinem Studium des Menschen gelangt T., der Physisches und Psychisches als zwei Auffassungsweisen eines Identischen ansieht und die physiologische Seite des menschlichen Wesens mit dem Blick des medizinisch Geschulten betrachtet, zu Pessimismus und völliger Resignation. Auch in seiner negativen Beurteilung der menschlichen Natur und ihrer Möglichkeiten hat T., der Meister der Menschenschilderung unter den Kulturphilosophen, Schule gemacht. S c h r i f t e n : De personis platonicis, 1853. — Les philosophes français du 19e siècle, Paris 1856; 11. A. 1913. — Essais de critique et d'histoire, 3 Bde., Paris 1858; 6. A. 1905; dt. 1898. — Le positivisme anglais, Etude sur St. Mill, P. 1864. — Histoire de la lit. anglaise, 4 Bde., 1864; 12. A., 5 Bde., 1905/06; dt. 3 Bde., 1878—1880. — Philos, de l'art, P. 1865; 10. A. 1905; dt. 2 Bde., 1902; 2. A. 1907. — De l'idéal dans l'art, P. 1867. — De l'intelligence, 2 Bde., P. 1870; dt. 1886; 7. A, 1885. — Les origines de la France contemporaine, 6 Bde., 1876—1893; dt. v. Katscher, 3 Bde,, 1877—1894. — Notes posthumes, in: Revue philosophique, 1895. — T., Sa vie et. sa correspondance, hrsg. v. T.s Witwe, 4 Bde., P. 1902—1907; dt. v. Gustav v. Mendelssohn-Bartholdy, 2 Bde., 1911. — Pages choisies, mit Einl. u. Anm. v. V. Giraud, P. 1909. L i t e r a t u r : Durand de Gros, L'ontologie de T., in: Variétés philosophiques, P. 1900. — E. Boutmy, Taine, Scherer, Laboulaye, Paris 1901. — H. Th. Lindemann, T.s Philosophie der Kunst, in: Zeitschr. für Philos., Bd. 127, 1905, — Péladan, Réfutation esthétique de T., P. 1906. — Victor Giraud, Bibliographie critique de T., Paris 1902. — G. Monod, Renan, Taine, Michelet, 1894. — Barzellotti, I. T. (it.), 1895; franz. als: La philosophie de T., 1900. — Victor Giraud, Essai sur T., son œuvre et son influence, d'après des documents inédits, 1900; 6. A. 1923. — J. Zeitler, Die Kunstphilos. v. H. T., 1901. — Friedrich Kuntze, T.s Geschichtsphilos., in: Preuß. Jahrbücher, Bd. 118, 1904. — J. Schlaf, Kritik der T.schen Kunsttheorie, 1906. — P. Lacombe, La psychologie des individúes et des sociétés chez T., 1906; T, historien et sociologue, 1909, — P. Nève, La philosophie de T., 1908. — A. Laborde-Milaà, H. T., Essai d'une biographie intellectuelle, P. 1909. — Ch. Picard, Discours sur H. T., P. 1909. — Kurt Macard, T.s Milieutheorie im Zusammenhang mit ihren erk.theoretischen Grundlagen, Diss,, Kiel 1910, — Karl Fritzsche, Die Darstellung des Individuums bei T., 1910. — Otto Engel, Der Einfluß Hegels auf die Bildung der Gedankenwelt H. T.s, 1920. — M. Barrés, T. et Renan, 1922. — F. C. Roe, T, et l'Angleterre, 1923, — Victor Giraud, H. T. études et documents, P, 1928. — P. V. Rubow, H. T., étapes de son œuvre, Kopenhagen 1930. — M. Leroy, T., 1933. — R. Gibaudan, Les idées sociales de T., P. 1928, — André Chevrillon, T., formation de sa pensée, 43*
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Tait — Tarde
P. 1932. — Hermann Gmelin, Französ, Geistesform in . .. Taine, 1934, in: Gedanken u. Gestalten, H. 5. —• Otto A. Schmidt, H, T.s Theorie des Verstehens, Halle 1936, in; Junge Forschung, H. 3. — Hintze, Bürgerliche u. sozialistische Geschichtsschreiber der französ. Revolution: Taine, Aulard, Jaurès, Mathiez, 1929. — H. See, Science et philosophie de l'histoire, P., 2. A., 1933, S. 383—421. Tait, Peter Guthrie, geb. 28. A p r i l 1831 in Dalkeith, gest. 4. Juli 1901 in Edinburgh. Studium in Edinburgh. 1854 Mathematik-Prof. in Belfast. 1860 P r o f . für Naturphilos. an der Univ. Edinburgh. — Der schottische Physiker und Naturphilosoph T . ist Anhänger des Evolutionismus, aber gleichzeitig Theist. In Zusammenarbeit mit Balfour Stewart bemüht er sich um wissenschaftliche Ableitung der Unsterblichkeitslehre aus dem Prinzip der Erhaltung der K r a f t in Verbindung mit der Theorie der Wirbelatome. S c h r i f t e n : Properties of matter, 1885. — Dynamics, 1895. — Newton's laws of motion, 1899. — Treatise on natural philos., zus. mit William Thomson, 1867; dt, 1874. — Elementary treatise of natural philos., zus. mit William Thomson, 1873. — The unseen universe, zus. mit Balfour Stewart, 1875. — Paradoxical philosophy, 1878. — Scientific papers, 3 Bde., Cambridge 1898, 1900. Tannery, Paul, geb. 1843 in Mantes, gest. 1904 in Pantin. Ingenieur, später P r o f , am C o l l è g e de France. •— Seine Kenntnis der Geschichte der Mathematik und der Philosophie der Wissenschaften hat T . außer in selbständigen W e r k e n auch für die Mitherausgabe der W e r k e Descartes nutzbar gemacht, S c h r i f t e n : Pour l'histoire de la science hellène, Paris 1887. — La géométrie grecque, P. 1887. — La correspondance de Descartes dans les Inédits du fonds Libri, P. 1893. — Recherches sur l'histoire de l'astronomie ancienne, P. 1893. — Mémoires scientifiques, 2 Bde., 1912/13. — Hrsg.: Fermât, Oeuvres, 3 Bde., P. 1891—1896. — Descartes, Oeuvres, zus. m. Adam, 1897 ff. — Artikel in: Revue philosophique u. in: Archiv für die Gesch. der Philos. L i t e r a t u r : G. Milhaud, P. T., in: Revue des idées, 1906. — P. Duhem, P. T., historien de la science antique, in: Revue de Mét., 1913. — F. Enriques, La signification et l'importance de l'hist. de la science et l'œuvre de P, T., in: Revue de Mét., 1924. Tarde, Gabriel, geb. 12. M ä r z 1843 in Sarlat (Dordogne), gest. 12. M a i 1904 in Paris. Richter. 1899 P r o f . für neuere Philosophie am Collège de France, 1900 Mitglied des Institut de France. Der Soziologe T . erklärt die sozialen Erscheinungen mit H i l f e psychologischer Gesetze. E r nimmt ein allgemeines Gesetz der Wiederholung an, das im Individuum Gewohnheit bewirkt und in der Gattung als Vererbung auftritt, und das seine Entsprechung im physikalischen Geschehen hat. Ein Sonderfall dieses Gesetzes ist die Nachahmung. Sie ist d a s soziale Phänomen, auch in zwei Formen erscheinend: als Tradition von einer Generation zur andern, als M o d e unter Zeitgenossen. Die gesellschaftsbildende Funktion der Nachahmung — ,,Die Gesellschaft ist die Nachahmung" (la société c'est l'imitation) — w i r d unterstützt durch das individuelle Phänomen der Erfindung (invention), mit der ein genialer Mensch auf alle Schwierigkeiten antwortet. V o n dem Erfinder geht eine Suggestion aus, die zur Nachahmung anreizt, und nur durch Nachahmung w i r d die Erfindung sozial wirksam. Im Zusammenspiel beider, in der Wechselwirkung zwischen individuellen erfindenden Geistern und nachahmender Masse entstehen soziale Gebilde, w i e z. B. die Sprache, und gestalten sich die W e r t e heraus. Endziel des geistigen Geschehens, als welches das gesellschaftliche Leben sich darstellt, ist. die soziale Harmonie, die in der natürlichen Harmonie ihr Gegenstück besitzt. S c h r i f t e n : La criminalité comparée, 1886; 5. A. 1902. — Les lois de l'imitation, 1890; 5. A . 1907. — La philosophie pénale, 1890; 5. A. 1900. — Les transformations du droit, 1883; 8. A . 1922. — Logique sociale, 1894; 4. A. 1913. — L'opposition universelle,
Tari — T a t a r i n - T a r n h e y d e n
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Essai d'une théorie des contraires, 1897. — E t u d e s de psychologie sociale, 1898. •— Les lois sociales, 1898; 8. A. 1921; dt. 1908. — Les transformations du pouvoir, 1899; 2. A. 1902. — L'opinion et la foule, 1901; 2. A. 1904. — Psychologie économique, 2 Bde., 1902. — Introduction et pages choisies, hrsg. v. A. u. G. T a r d e (den Söhnen), mit V o r w o r t von H.Bergson, 1909, — F r a g m e n t s d'histoire future, 1904. — Essais et mélanges sociologiques, 1895. — Sur l'idée de l'organisme social, 1896. — Sociologie élémentaire, in: Annales de l'Institut International de Sociologie, I, 1898. L i t e r a t u r ; Eveline Wrobleska, Die gegenwärtige soziolog, Bewegung in F r a n k r . mit b e s o n d e r e r Rücksicht auf G. T., in; Archiv f ü r Gesch. der Phil., Bd. XI, 1896. — D. Gusti, G. T,, in; Schmollers J a h r b u c h , 1898, S. 91 ff. — L. Dauriac, La philosophie de G. T., in; A n n é e philosophique, Bd. 16, 1906. — A. Matagrin, La philos. sociale de G. T,, P. 1909. — A. Dupont, G. T. et l'economie politique, P. 1910. — Roche-Agussol, T. et l'économie psychologique, 1926. — J . Benrubi, Philosophische Strömungen der G e g e n w a r t in Frankreich, 1928. — H. E. Barnes, T h e sociological and politicai theory of G. T., in: An introduction to the history of sociology, Chicago 1948. — C. Bouglé, G. T. Un sociologue individualiste, in: Revue de Paris, 1905.
Tari, Antonio, geb. 1. Juli 1809, gest. 15. März 1888 in Neapel. Dort Prof. an der Univ. — Anhänger des Hegelianismus in Italien, vor allem auf ästhetischem Gebiet. S c h r i f t e n : Confessioni filosofiche, 1872. — Estetica ideale, 1863. — Estetica esistenziale, posthum, 1923/26. L i t e r a t u r : B e n e d e t t o Croce, A. T., in: La Critica, Neapel 1907; L e t t e r e inedite di A. T. su argomenti filosofici e letterari, ebenda, 1910. — C. Dentice di Accadia, Il bello nella n a t u r a (Estetica esistenziale) di A. T., ebenda, 1923 ff.
Tarozzi, Giuseppe, geb. 24. März 1866 in Turin. Prof. der Philos. in Palermo, später in Bologna. — T. ist Schüler des Positivisten Ardigò und vertritt selber evolutionistische Gedanken. Die positivistische Kritik des Determinismus führt ihn auf die Idee der Freiheit. Als Ethiker bekennt er sich zum Gesetz der Humanität. S c h r i f t e n : L'evoluzione monist. e le idee forze secondo A, Fouillée, Mailand 1890. — Della necessità nel fatto n a t u r a l e ed umano, Turin 1896/97. — Lezioni di filos., 1896. — La coltura intellettuale contemporanea e il suo avviamento morale, Palermo 1897. — Ricerche intorno ai fondamenti della certezza razionale, Turin 1899. — La virtù contemp., Turin 1900. — Idea di una scienza del bene, Florenz 1901. — Il concetto dell' umanità e la tendenza filantropica, Palermo 1905. — La varietà infinita dei fatti e la libertà morale, Palermo 1906. —• Cenni di storia dell'etica e delle principali idee filosofiche, Bologna 1924. — Filosofia e pedagogia, 1924. — Problemi filosofici, 1924, — Apologia del positivismo, 1927. — Hrsg. der Rivista di Filosofia.
Tatarin-Tarnheyden, Edgar, geb. 4. Februar 1882 in Riga. 1919 Promotion Dr. jur., 1922 Hab. in Marburg und Prof. des öffentl. Rechts in Rostock. 1926 Direktor und Studienleiter der Verwaltungsakademie in Mecklenburg. T.-T. lehrt, daß der Staat zwar eine Erscheinung des Gesellschaftslebens, jedoch begrifflich kein Rechtsphänomen, sondern Kultur- und Machtgestaltung ist. In den Kreis der Rechtsbetrachtung rückt der Staat erst sekundär kraft seiner Selbstbindung an das Recht. Aber der Staat hat zugleich eine Naturseite, die naturwissenschaftlicher Untersuchung zugänglich ist. Wesentlich ist dem Staat die zum großen Teil auf geistiger Grundlage beruhende Machtgestaltung. S c h r i f t e n : Die Berufsstände, ihre Stellung im Staatsrecht u. die deutsche W i r t schaftsverfassung, 1922. — Staat u. Recht in ihrem begrifflichen Verhältnis, 1926. — F e s t gabe f ü r Rudolf Stammler zum 70. Geburtstag, 1926. — Rechtspositivismus u. modernes Naturrecht, in: Zeitschr. für öffentl. Recht, 1927. — Rudolf Stammler u. das Völkerrecht, in: Zeitschrift f ü r das Völkerrecht, 1927. — Integrationslehre u. Staatsrecht, in: Zeitschrift f ü r die gesamte Staatswiss., 1928. — Staat u. Sittlichkeit, in: Kantstudien 1930. — Volksstaat oder P a r t e i e n s t a a t ? 1931. — W e r d e n d e s Staatsrecht, 1934. — Völkerrecht u. organische Staatsauffassung, 1936.—Der Einfluß des J u d e n t u m s in Staatsrecht u. Staatslehre, 1937.
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Tatarkiewicz — Taubner
Tatarkiewicz, Wladyslaw, geb. 1886. Studium in Zürich, Berlin, Marburg, Paris, Lemberg. Professor in Warschau. — Der polnische Philosoph T. beschäftigt sich überwiegend mit Wertproblemen auf dem Gebiete der Ethik und der Ästhetik. Er nimmt das Vorhandensein objektiver und absoluter Werte an, die systematisch abgestuft sind. T. ist Schüler und Anhänger von Cohen und Natorp. S c h r i f t e n : Die Disposition der aristotelischen Prinzipien, Diss., Marburg 1910, u. in: Philos. Arbeiten, hrsg. von H. Cohen u. P. Natorp, IV, 2. — Über die natürliche W e l t ansicht, Berlin 1912. — Eine Anzahl polnischer Werke,
Tatianus (Tatian), syrischer Herkunft, lebte im 2. Jahrh. n, Chr. Gute Erziehung, ausgedehnte Reisen. Erhält die Weihen zu den Mysterien. Langer Aufenthalt in Rom, dort Schüler Justins; Eröffnung einer eigenen christlichen Schule. Durch Justins Feinde auch selbst aus Rom vertrieben. Wahrscheinlich Aufenthalt in Griechenland, Schulgründung in Mesopotamien, missionarische Tätigkeit in Syrien. Vielleicht Berührung mit Gnostikern. T. soll seine Wirksamkeit vor Übertritt zum Christentum als Philosophielehrer und Rhetoriker begonnen haben. Danach aber richtet er in seiner „Rede an die Griechen" (lipo? "EXXrjva?) den heftigsten Angriff gegen die griechische Kultur auf allen Gebieten einschließlich der Sprache, besonders aber gegen die griechische Philosophie und ihre Vertreter, auch Plato und Aristoteles. Von diesem dunklen Hintergrund hebt sich die christliche Lehre umso leuchtender ab. T.s Christentum ist Geist- und Logoslehre, streng monotheistischer Art. Gott ist Pneuma. Er war vor der Schöpfung allein, trug sie aber potentiell in sich und verwirklichte sie durch seine ouvocju? Xo^ix^. Der Logos „sprang" aus Gott hervor und erschuf die Materie, aus der die Welt gebildet ist. Sie ist von der Weltseele, dem TTVS'JUGI 6Xixóv, durchwaltet, das alles zu einer Einheit zusammenfaßt, Engelmächte und Dämonen, Mensch, Tier und Pflanze. Das -vsüij.a uXixóv ist mit dem göttlichen Pneuma weder identisch noch verwandt. Es bildet im Menschen die Psyche. Doch der Logos, selbst göttliches Pneuma, hat den Menschen auch zum Bild der Unsterblichkeit geschaffen. Auch nach dem Sündenfall bleibt ihm eine schwache Erinnerung an Gott, und dank seiner Freiheit kann er sich Gott wieder zuwenden. Wer den göttlichen Geist besitzt, hat ewiges Leben und ewige Seligkeit. S c h r i f t e n : Oratio ad Graecos (Ao'-pj 7:pò; " EXXr,va;)f 1546; hrsg. v, Maranus, Paris 1742; neu hrsg. v, Eduard Schwartz, 1888; dt. v. Ziegler, W e r k e der Kirchenväter II, Kempten 1830; 2. A. 1913. — Diatessaron (Evangelienharmonie), rekonstruiert von Theodor Zahn, 1881, in: Forschungen zur Gesch. des neutestamentl. Kanons, II, 2, 530 ff. — Diatessaron, aus dem Arab. übers, von E. Preuschen, hg. v. A. Pott, 1926. — Verlorene Schriften: Ospi £({;