Philosophen-Lexikon: Band 2 L - Z [Reprint 2020 ed.] 9783112327227, 9783112327210


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Philosophen-Lexikon: Band 2 L - Z [Reprint 2020 ed.]
 9783112327227, 9783112327210

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Philosophen-Lexikon

PHILOSOPHEN-LEXIKON Handwörterbuch der Philosophie nach P e r s o n e n

V e r f a ß t und h e r a u s g e g e b e n v o n

WERNER Z I E G E N F U S S und

GERTRUD JUNG

Z W E I T E R BAND

L-Z

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO • B E R L I N 1 9 5 0 vormals G. J . Göschensche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp.

Unveränderter photomechanischer Nachdruck 1978

ISBN 3 1 0 4 2 4 6 7 0 1 © 1950/78 by W a l t e r de G r u y t e r & C o . , vormals G . J . G ö s c h c n ' s c h c Vcrlagshandlung • J . G u t t e n t a g , Verlagsbuchhandlung • G e o r g R e i m e r • K a r l J . T r ü b n e r • Veit & C o m p . , Berlin 3 0 Printed in G e r m a n y Alle R c c h t c des N a c h d r u c k s , der p h o t o m c c h a n i s c h c n W i e d e r g a b e , der Ü b e r s e t z u n g , d e r Herstellung v o n Mikrofilmen und P h o t o k o p i e n , auch auszugsweise, vorbehalten.

L. Laas, Ernst, geb. 16. Juni 1837 in Fürstenwalde (Spree), gest. 25. Juli 1885 in Straßburg. 1872 Prof. in Straßburg. L. ist ein klarer und entschiedener Verfechter des Positivismus, den er im Gegensatz zu der platonisierenden Philosophie entwickelt. Für den Piatonismus in der Philosophie sind charakteristisch: seine mathematisierende und ontologische Denkweise, der Drang, ein Absolutes zu erfassen, sein Rationalismus, der außerhalb der sinnlichen Erfahrung Normen und Gesetze erkennen will, der Glaube an menschliche Spontaneität und schöpferische geistige Freiheit, die Annahme eines Übersinnlichen. Demgegenüber beschränkt sich die positivistische Lehre streng auf die sinnliche Erfahrung. Von der Gegebenheit der sinnlichen Empfindung kann weder ein Bewußtsein, noch ein Ding zu selbständiger Existenz abgelöst werden. Wahrnehmungsinhalt und Bewußtsein sind untrennbar eins. Entsprechend der unablässigen Wandelbarkeit der Empfindungen sind auch die Wahrnehmungsobjekte, unter ihnen das Ich, in ständiger Wandlung begriffen. Nur die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den elementaren Agentien, die eine Projektion des Ich nach außen sind, sind konstant. Die Erkenntnisse bleiben nichts als umgeformte Wahrnehmungen. Um nun die Erkenntnis sich nicht in die jeweiligen Inhalte der Einzelbewußtseins-Iche auflösen zu lassen, nimmt L. die Beziehung aller Wahrnehmungsobjekte auf ein einziges mögliches Gesamtbewußtsein an. Das ideale Weltbild, das diesem entspricht, die Welt als die Summe der möglichen Wahrnehmungsinhalte für ein Einzelbewußtsein, will die Erkenntnis herausgestalten. S c h r i f t e n : Kants Analogien der Erfahrung, 1876. — Idealismus u. Positivismus, I: D. Prinzipien des Idealismus u. Positivismus, histor. Grundlegung, 1879. II: Idealist. u. positivist. Ethik, 1882. III: Idealist, u. positivist. Erkenntnistheorie, 1884. Russ. Übers. 1909. — Kants Stellung in d. Gesch. des Konflikts zwischen Glauben u. Wissen, 1882. — Literar, Nachlaß, hrsg. v. B. Kerry, 1887. L i t e r a t u r : Hanisch, Rudolf, D. Positivism. v. E. L., Diss., Leipzig 1902. — Gjurits, Dragischa, D. Erkenntnistheorie des E. L., Diss., Leipzig 1902. — Grunicke, D. Begriff der Tatsache in der positivist. Philos. des 19. Jhdts., 1930. — Katharina Awakowa-Skijéwa, D. Erkenntnisth. v. E. L., Diss., Zürich 1916. — Nikolaus Koch, D. Verh. d. Erkenntnisth. v. E. L. zu Kant, Würzburg 1940. — Ludwig Salamonowicz, Die Ethik des Positivismus nach E. L., Diss., Berlin 1935.

La Boétie, Étienne de, geb. 1. September 1530 in Sarlat (Dordogne), gest. 18. August 1563 in Germignan bei Bordeaux. Französischer Staatswissenschaftler und Philosoph, befreundet mit Montaigne, der L. B.s Nachlaß herausgab.

S c h r i f t e n : Opuscules, hrsg. v. M. Montaigne, Paris 1570. — Discours de la servitude volontaire, 1548; Introduction et notes de Paul Bonnefon, Paris 1922; in: Collection des chefs-d'oeuvres méconnus. L i t e r a t u r : Bonnefon, Paul, E. d. 1. B., Bordeaux 1888; Montaigne et ses amis, 2 Bde., Paris 1898. — Barrére, Joseph, L'humanisme et la politique dans le „Discours de la serv. vol.", Étude sur E. d. L. B., Paris 1923.

Labriola, Antonio, geb. 2. Juli 1843 in Cassino, gest. 2. Februar 1904 in Rom, 1871 Habilitation an der Univers. Neapel, 1874 Prof. an der Univers. Rom. — Die philosophische Entwicklung L.s führte von der Schülerschaft zu Hegel über die Anhängerschaft an Herbart zu moderner soziologischer Forschung und Geschichtsphilosophie. Er unternahm es, das Werden und Entstehen der sokraPhilosophen-Lexikon

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tischen Schule zu Athen von ihren sozialen und ökonomischen Voraussetzungen aus zu verstehen, und war damit einer der ersten, die das geistige Leben in seinen „materialistischen" Voraussetzungen untersuchten. Seit 1878 wandte er sich nach kritischer Auseinandersetzung mit Herbart ganz den Studien der Geschichte und der sozialen Welt zu, wurde Sozialist und bekannte sich in gewisser Weise seit 1887 zum Marxismus. Sein Programm war, die „Philosophie der Ideen" durch die „Philosophie der Dinge" zu ersetzen. S c h r i f t e n : Difesa della dialettica di Hegel, Nap. 1862. — Espos. crit. della dottrina delle passioni sec. Spinoza, Nap. 1865. — La dottrina di Socrate secondo Senofonte, Platone ed Aristotele, Nap. 1871; neu hrsg. v. B. Croce, Bari 1909. — Della libertà morale, Nap. 1873. — Dell'insegnamento della storia, Roma 1876 — Morale e religione, 1873. — Del concetto della libertà, 1878. — I problemi della filosofìa della storia, 1887. — Del socialismo, 1889. — In memoria del manifesto dei Comunisti, Roma 1895. — Saggi intorno alla concezione materialistica della storia, 3 Bde., 1896/97, franz. Umarbeit., in 2 Bdn., Paris 1897/98. — Socialismo et philosophie, Paris 1899. — A proposito della crisi del Marxismo (contro Masaryk) in: Riv. ital. di Sociol., Roma 1899. — Del mat. storico, 2. ed. Roma 1902. — Discorrendo di socialismo e di filos., 2. ed. Roma 1902. — Scritti vari di filosofia e politica (racc. e pubblicati da B. Croce), Bari 1906. — Da un secolo all'altro, hrsg. v. L. Dal Pane, Bologna 1925. — Briefwechsel mit Engels, in: Nuova riv. stor., Bd. XI u. XII, 1927/28, hrsg. v. L. Dal Pane. L i t e r a t u r : Andler, La conception materialiste de l'histoire d'après Labriola, in: Rev. de Mét., 1897. — P. Orano, L., in: Riv. Libri ed Autori, Roma 1904. — Torre, A., Le idee filosofiche di A. L., in: Riv. ital. di sociologia, Bd. 10, 1906; S. 278—293. — Diambrini-Palazzi, S., Il pensiero filosofico di A. L., Bologna 1923.

Lachelier, Jules, geb. 27. Mai 1832 in Fontainebleau, gest. 16. Januar 1918 ebda. 1858 Prof. am Lycée de Caen, 1864 an der École normale supérieure in Paris. — Von der Metaphysik I,.s nimmt der spiritualistische Positivismus in Frankreich seinen Ausgang. L. verbindet den kantischen Idealismus mit dem spiritualistischen Realismus (réalisme spiritualiste) von Biran und Ravaisson. Auch durch Leibniz ist seine Gedankenbildung entscheidend beeinflußt. Das Wesen des Wirklichen ist Geist. Die Wissenschaft ist ein Werk des Geistes, durch apriorische Elemente bestimmt, nicht auf die Tatsachen der Erfahrung allein zu begründen. Ziel der Wissenschaft ist die Erkenntnis der Gesetze für Tatsachen, ihr Verfahren ist die Induktion. Diese muß gegründet werden auf die geistige Tätigkeit, das Denken (pensée) und seine Beziehung zu den Erscheinungen. Das menschliche Denken ruht auf dem Prinzip der Wirk- und der Zweckursachen. Dem Gesetz der Wirkursachen (causes efficientes) sind alle Erscheinungen unterworfen; es gibt die einzige Begründung für die Einheit des Universums, die unser Denken voraussetzt. Alles Geschehen in der Natur muß sich mechanisch erklären lassen und ist notwendig vorherbestimmt. „Das Prinzip der Wirkursachen führt zu einem idealistischen Materialismus. Der Spontaneität des Lebens und der Freiheit der menschlichen Handlungen gerecht zu werden, ermöglicht uns das Gesetz der Zweckursachen, das zum spiritualistischen Realismus hinleitet. So besitzt die Natur zwei Existenzweisen, gegründet auf die beiden Gesetze, die das Denken den Erscheinungen auferlegt: eine abstrakte Existenz, die identisch ist mit der Wissenschaft, deren Gegenstand sie bildet, die auf dem notwendigen Gesetz der Wirkursachen beruht, und eine konkrete Existenz, identisch mit dem, was man die ästhetische Funktion des Denkens nennen könnte, die auf dem zufälligen Gesetz der Zweckursachen beruht" (Fondement de l'induction, S. 81). Die Zufälligkeit, die das Zweckgeschehen kennzeichnet, ist eine „Wahlnotwendigkeit" (nécessité de convenance et de choix). So unterwirft die wahre Philosophie das mechanische Geschehen der Zweckdeutung, den Mecha-

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nismus der Finalität. „Die wahre Philosophie der Natur i s t . . . ein spiritualistischer Realismus, vor dessen Augen jedes Sein eine Kraft und jede Kraft ein Gedanke ist, der zu einem immer vollständigeren Bewußtsein seiner selbst strebt" (S. 101/2). Unter dem Einfluß Schopenhauers gewinnt L.s Spiritualismus eine voluntaristische Färbung. „Wir sind frei in unserm Sein und bestimmt in unsern Seinsweisen" (Psychologie und Metaphysik, S. 415). — „Die letzte Stütze für jede Wahrheit und jedes Dasein ist die absolute Spontaneität des Geistes" (S. 158). Um das Wesen des Gedankens, seine Ganzheit (totalité) zu erkennen, genügt nicht die psychologische Analyse; sie muß durch metaphysische Synthese ersetzt werden. „Die Wissenschaft des Gedankens in sich selbst, des Lichtes an seiner Quelle, ist die Metaphysik" (S. 172/3), während die Psychologie nur das Licht erkennt, das das Denken auf die Empfindung wirft. In seiner Annahme, daß zielstrebige Kräfte die Einheit des Seins erklären, in seiner Betonung des Zweckgeschehens, in seiner Hervorhebung des Willensmoments, in seiner Lehre von einer intellektuellen Formung des Gegebenen und in seinem Glauben an Freiheit des Handelns liegen die Hauptpunkte seiner Wirkung. Boutroux und Bergson betrachten sich als Schüler L.s. S c h r i f t e n : Du Fondement de l'induction, Thèse de doctorat, 1871 ; 9. A. 1907. — Psychologie et métaphysique, in Revue philosophique, t. XIX, 1885, deutsch von Rudolf Eisler, 1906; mit Appendices: Études sur le syllogisme, suivies de l'observation de Platner, et d'une note sur le Philèbe, Paris 1907 L i t e r a t u r : G. Noel, La phii. de L., in Revue de Mét. et de Morale, 1898. — Séailles, Gabriel, La phil. de L., Paris 1920. — Boutrouz, Émile, Jules L., in Revue de Mét. et de Morale, 1921, p. 1—20. — Brunschvicg, Marcel, La Littérature française contemp,, étudiée dans les textes (1850—1925), Bd. I, Paris 1925. — Benrubi, J., Les sources et les courants de la phil. contemporaine en France, Paris 1933, Bd. II, S. 594—604

Lacombe, Paul, geb. 1833 in Paris, gest. 17. Juli 1919 in Lanzerte. Unter dem Einfluß von Comte und Stuart Mill erstrebt L. eine wissenschaftliche Grundlegung der Geschichtswissenschaft von der Soziologie aus. Er betont die Bedeutung der Institutionen. S c h r i f t e n : De l'histoire considérée comme science, Paris 1894; 2. Aufl. 1930. — Introduction à l'histoire littéraire, Paris 1898. — La guerre et l'honneur, Paris 1900. — L'appropriation du sol, Paris 1912. — La psychologie des individus et des sociétés chez Taine, Paris 1906. — Taine, historien et sociologue, Paris 1909. — La première commune révolutionnaire de Paris et des assemblées nationales, Paris 1911. L i t e r a t u r : Berr, Henri, P. L., l'homme et l'oeuvre, in: Revue et synthèse historique, Bd. 30, 1920; S. 97—143. — La sociologie, hrsg. v. D. Essertier, in: Philosophes et savants français du XXe siècle, Bd. 5, Paris 1930; S. 386—394.

Lactantius, Lucius Caecilius Firmianus, gest. in hohem Alter nach 317 n. Chr. Rhetor zu Nikomedien in Bithynien, soll später in Gallien Lehrer von Crispus, dem Sohn Konstantins des Großen gewesen sein. L. war vielleicht Schüler des Arnobius und gehört mit diesem und Minucius Felix zu den sogenannten christlichen Popularphilosophen. L., der vor seinem Ubertritt zum Christentum der Stoa nahestand, erwarb sich das Verdienst, daß er als erster im Abendland aus den christlichen Dogmen und der christlichen Lebensbetrachtung ein einheitliches System zu entwickeln versuchte. Er beweist die Einheit und Einzigkeit Gottes aus seiner Vollkommenheit, die ihm als ewigem Geist eignet. Die Welt würde nicht sein können, wenn die Vorsehung nicht das Werk eines einheitlichen Wesens wäre. Dieses Wesen Gottes wird von den Propheten bestätigt. L. wendet sich, ähnlich wie Tertullian, entschieden gegen die heidnisch-griechische Philo-

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sophie, die nach ihm der Wahrheit und den Geboten Gottes zuwiderläuft; alle menschliche Weisheit erklärt er gemäß der Bibel für Torheit vor Gott. Durch die mangelnde Übereinstimmung der philosophischen Lehrmeinungen sieht L. die Irrtümlichkeit des philosophischen Denkens und damit die Notwendigkeit einer Offenbarung der Wahrheit bewiesen. Die Tugend ist darum auch nicht um ihrer selbst willen vorhanden und erstrebenswert, wie die Philosophen, vor allem Piaton und Aristoteles lehrten, sondern die Tugend besteht in der Erfüllung der Gebote Gottes gegen ihn selbst und gegen die Menschen; Gottesdienst ist wichtiger als der Dienst am Menschen. Ohne Reinheit der Gesinnung kann nicht von Tugend gesprochen werden. Die Affekte sollen nicht unterdrückt oder auf ein bestimmtes Maß gebracht, sondern in richtiger Weise gebraucht werden. Die Haupttugend ist die Gerechtigkeit, die in der Frömmigkeit wurzelt und die Billigkeit zum Maßstab hat, welche gleiche Einschätzung aller Menschen fordert. Den Zweck der Welt sieht L. in einem ewigen Gottesdienst, der den Menschen und seine Unsterblichkeit verlangt. Die Seele ist in ihrer Existenz unabhängig vom Körper und von Gott selbst erschaffen; die Möglichkeit der Erkenntnis und der Verehrung Gottes bürgt für ihre Unsterblichkeit. S c h r i f t e n : Werke bei J . P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 6—7, Paris; übers, v. Hartl u. Knappitsch, in: Bibl. d. Kirchvät., 1911, Bd. 36. — De mortibus persecutorum, dt. Luzern 1946. — Werke, hrsg. v. S. Brandt u. G. Laubmann, 2 Bde., 1890 ff. L i t e r a t u r : P. G. Frotscher, Des Apologeten L. Verhält, zur griech. Philos., Leipzig 1895, Diss. — R. Pichon, L., Paris 1901. — F. Fessier, Benutzung der philosophischen Schriften Ciceros durch L„ 1913. — J . Sigert, Die Theologie des Apologeten L, in ihrem Verhältnis zur Stoa, 1919. — K. E. Hartwell, L. and Milton, London 1929.

Ladd, George Trumbull, geb. 19. Januar 1834 in Painesville (Ohio),- gest. 8, August 1921 in New Haven (Connecticut). Prof. der Philosophie am Bowdoin College 1879 bis 1881, am Yale College seit 1881. — L. will im Anschluß an die Lehren der deutschen Philosophie, besonders ein Lotze, eine erfahrungsmäßige Begründung des philosophischen Denkens geben. Er will die Ergebnisse der Wissenschaften synthetisch in einem Gesamtbild vereinigen, für das die Geisteswissenschaften besondere Bedeutung haben. Seine letzte Deutung des Weltsinns findet er von der Persönlichkeit aus: ,,Das Wirkliche ist der persönliche Geist Gottes und die Welt persönlicher Geister, die er geschaffen hat." S c h r i f t e n : The Principles of Church Policy, 1882. — The Doctr. of Sacr. Scripture, 1884. — Elements of Physiological Psychology, 1887. — What is the Duble, 1888. — Outlines of Phys. Psychol., 1890. — Psychology, Descriptive and Explanatory, 1894. — Outlines of Desc. Ps., 1898. — Philos, of the Mind, 1895. — Philos, of Knowledge, New York 1897. — A Theory of Reality, 1899. — Essays on the Higher Education, New York 1899. — Philos, of Conduct, New York 1902. — Philos, of Rei., 2 vols, New York 1905. — In Korea with Marquis Ito, New York 1908, — Knowledge, Life and Reality, 1909. L i t e r a t u r : Fochtman, Vicent A., Das Leib-Seele-Problem bei G. T. L., München 1928, Diss.

La&tte, Pierre, 1823 bis 1903. Schüler und Nachfolger Comtes in der kultischen Fortführung seiner Religion. S c h r i f t e n : Les grands types de l'humanité, 2 vol., Par. 1875. — Cours de philos, première, Paris 1889 f.

Lagalla, Julius Caesar. 1571 bis 1624. Prof. der Philos, am Collegium Romanum in Rom. Jesuit.

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S c h r i f t e n : De phaenomenis in orbe lunae, 1612. — De Immortalitate animorum ex Aristotelis sententia, 1621. L i t e r a t u r : Allatius, Leo, J. C. L. philosophi romani vita, ed. Gabriel Naudaeus, Paris 1644. Lagarde, Paul Anton de (Bötticher), geb. 2. November 1827 in Berlin, ¿est. 22. Dezember 1891 in Göttingen. Sohn von Joh. Friedr. Wilhelm Bötticher, Prof. am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin. 1844 in Berlin Studium der Theol. bei Hengstenberg, des Persischen und Arabischen bei Friedrich Rückert, der philologischen Methode bei Karl Lachmann. 1846 Theologiestudent in Halle bei Tholuck. 1849 Dr. phil. mit einer Diss. „Initia Chromatologiae Arabicae", 1851 Hab. für orientalische Sprachen in Halle mit den „Arica". Reisestipendium für London und Paris durch Bunsens Vermittlung 1852. Durch seine Gegnerschaft gegen kirchliche, politische und wissenschaftliche Machthaber verbaut L, sich die akademische Laufbahn. 1854—1866 Lehrer an Berliner Gymnasien und Mädchenschulen; erwirbt sich mit Privatunterricht die Mittel für den Druck seiner Bücher. 1866—1869 ermöglichte ihm ein Stipendium von Friedrich Wilhelm IV. freie Forschung an der Septuaginta. 1868 D. theol. von Halle. 1869 als Prof. der orientalischen Sprachen an Ewalds Stelle nach Göttingen berufen; Gegner von Ritschis Theologie. Die philosophische Hauptleistung L.s liegt auf ethischem Gebiet, Ethos in seinem eignen weiten Sinne als gleichbedeutend mit Religion gefaßt. „Mir steht . . . fest, daß Religion ursprünglich Ethos — ich sage nicht Ethik —, nicht Physik war, wie sie jetzt Ethos — ich sage abermals nicht Ethik — und nicht Dogmatik ist. Daher suche ich in allem Ältesten ethischen Sinn" (Ausgewählte Schriften I, S. 180). Von religiösem Ethos war L.s wissenschaftliche Arbeit und sein praktisches Wirken getragen. Er empfand beides als Einheit. „Ich (bin) auch mit meinen gelehrten Studien ganz und gar Praktiker, der auf sein Volk wirken wollte" (S. 26). — „Ich habe schlechterdings keinen Sinn für theoretische Wahrheit. Ich will mein Volk binden und befreien; jeder Gedanke, den ich denke, zielt darauf ab, dies in der richtigen Weise zu tun" (S. 133). — „Darum will ich für den Menschen fechten gegen die Tatsachen, für die Kraft zu schaffen gegen das Geschaffene" (S. 144). Als einzig wertvoller Gegenstand der Wissenschaft, des Studiums, erscheint L. der Mensch. Er ist die „lebendigste Kraft in der Geschichte", und Geschichte ist „nur die Zwiesprache, welche er über Tod und Ewigkeit hinüber mit Gott, und welche Gott über Sünde und Irrtum hinüber mit ihm hält" (S. 143). Daß mit einer theologischen Betrachtung das Wesen der Geschichte erfaßt wird, ist selbstverständliche Voraussetzung für L. „Meine Neigungen gelten der Geschichte des Reiches Gottes, die ich ab und an auch Philosophie der Geschichte nannte, und zeitig bin ich auf die jetzt oft von mir wiederholte Definition der Theologie gekommen, sie sei das Wissen um die Geschichte des Reiches Gottes" (S. 166). Aus der gleichen Wurzel wachsen daher bei ihm wissenschaftliches Forschen und verantwortungsbewußter Dienst am Volk. „Etwas anderes bin ich nicht als Theologe, und mein Interesse für alle Dinge hat seinen Mittelpunkt in meiner Theologie" (S. 26). Sie umschließt seine philologische Arbeit, sein Studium zahlreicher orientalischer Sprachen, seine Schaffung von Textausgaben, seine Septuaginta-Forschung, seine Bibelkritik, seine Beschäftigung mit philosophischen Urkunden, wie seine Gegenwartskritik und seine Zukunftsmahnung, seinen Kampf um die Bildung einer deutschen Volksgemeinschaft und um Beseitigung ihrer vermeintlichen „Gegner"; Protestantismus, Humanismus, Liberalismus, Rationalismus, Spießertum und Judentum.

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L.s Philosophie der Geschichte, theologisch gedeutet und religiös empfunden, will den Gang der Geschichte vom Instinkt zum vollbewußten Leben widerspiegeln, will dem stetigen Fortschritt des Menschen von leichteren zu schwereren Aulgaben folgen. Sie will aber auch, als Theologie und Ethos, das Dunkel der Gegenwart erhellen und eine lichte Zukunft vorbereiten. Sie empfängt ihr Gepräge durch L.s Überzeugung, daß wir „entweder vor einer neuen Zeit oder vor dem Untergang stehn" (S. 279). So düster ihm seine Gegenwart erscheint, sie beschattet nicht L.s Gesamtbild von der Geschichte. „Die Freude allein ist es, welche die Räder der Welt treibt" (S. 144), vom Menschen erlebte Freude. Beseeltheit und Lebendigkeit sind die Wesenszüge des Menschen. Der voll-lebendige Mensch ist der mit Gott lebende. Er ist auch der glückerfüllte. „Ich erkläre, daß ich nach wie vor das Leben des Menschen mit Gott und vor Gott — so sage ich jetzt statt Religion — als die Grundlage auch alles Erdenglücks betrachte" (S. 200). Die „Urzeit" menschlichen Lebens und menschlicher Gesittung stand kulturell hoch. „Das Koptische zeigt noch vielfach die Art der Urzeit: höchste Kraft, die sich der geringsten Mittel bedient, feinste Beobachtung nicht des Sinnlichen, sondern des Geistigen; . . . Wenn eine uralte Sprache so tiefe Einsicht in das Wesen des Wahren und Rechten ausdrückt, dann ist nicht die Nacht, sondern der Morgen die Wurzel des Tages" (S. 184). Die Sprachen bilden einen unmittelbaren Zugang zum menschlichen Seelenleben. „Für mich ist die Sprache Ausdruck einer Psyche, jede Sprache der Ausdruck einer andern Psyche, und jede Psyche der Gegenstand einer Erziehung durch Gott, also eines Werdens, also einer Geschichte" (166). Aus der Kenntnis ihrer Sprachen glaubt L. auch mit dem Seelenleben der Semiten vertraut zu sein. Andererseits reicht Bekanntschaft mit der Sprache und den Sprachdenkmälern nicht aus zum Eindringen in fremdes Seelenleben. Nur aus dem Leben können wir es erkennen, „von dem die Literaturen nur einen, und nicht den echtesten, Teil zum Ausdrucke bringen" (197). W e r das Leben selbst zur Erkenntnisquelle macht, wie L., der darf nicht bei der Herzählung von Einzeltatsachen stehenbleiben, sondern muß sich auf seinen Blick für das Ganze, auf seine Fähigkeit zum Erwerb einer Gesamtanschauung verlassen. L. bekennt: „Ich registriere nicht tote Fakta, sondern ich beschreibe ein Leben, ein Werden, und darum auch ein Vergehn". — „So etwas lerne ich nicht Stück für Stück, sondern ich sehe es auf Einen Blick ganz oder ich sehe es nie" (S. 167). — „Nichts ist dem sogenannten Gebildeten schwerer, als ein Ganzes zu verstehn. Der Liberale unserer Tage haftet stets am Einzelnen" (S. 135). Bloße Einzelheiten dürfen nicht der Erkenntnisgewinnung dienen; auf sie darf auch kein Urteil über lebendige Wesen und ihr Tun gegründet werden. „Ich verwahre mich dagegen, daß Einzelheiten irgendwelchen Lebens und irgendwelcher Arbeiten als Einzelheiten vor Gericht gezogen werden. Wer nicht alles in Einem sehen will, der bleibe wenigstens mir mit seinem Urteile vom Halse." Auch das Urteil über die eigne Zeit darf nicht aus Einzelheiten gewonnen werden. An einer Gesamtanschauung muß man sie messen und fragen, ob eine Tatsache oder Anschauung den Totaleindruck der Geschichte stört, die Harmonie unterbricht; So urteilt das Gewissen. „Ein Gewissen gibt es nur, wo es eine Gesamtanschauung vom Leben, d. h. wo es eine Religion gibt". So ist Religion der Anfang und das Ende, der Maßstab für gegenwärtiges Geschehen und das Ziel, auf das hin es gerichtet sein soll. Auch von hier aus bestimmt sich der Sinn jeder Einzelarbeit. „Meine Schüler wissen . . . , daß ich jede Einzelarbeit nur als ein Mittel zu dem Zwecke ansehe, eine Gesamtanschauung des um die ganze Men-

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scheiiwelt werbenden Reiches Gottes zu finden, und daß ich diese Ansicht auch als Patriot gewonnen wissen will" (S. 59). In seiner Reich-Gottes-Arbeit, in seiner Religiosität ist auch L.s Glaube an das Deutschtum verankert. Nach seinem Bekenntnis ist „Deutschland das Herz der Menschheit". Es muß die Aufgabe sehen lernen, die ihm damit gesetzt ist, muß den Weg zu seiner Höhe finden. „Denn im Völkerleben gelten dieselben Gesetze der Entwicklung wie im Leben der Individuen, und im Leben der Individuen ist ein Sinken überall da festzustellen, wo nicht ein Steigen stattfindet" (S. 183). L. sieht es als seine Berufung an, das Verantwortungsbewußtsein des Deutschen für die Reinheit seines Wesens und für die Herausgestaltung seines Volkstums zu wecken, und ihn stark im Kampf gegen seine Widersacher zu machen. „Katholizismus, Protestantismus, Judentum, Naturalismus müssen vor einer neuen Weltanschauung das Feld räumen, ganz räumen, so daß ihrer nicht mehr gedacht werde, wie der Nachtlampen nicht mehr gedacht wird, wenn die Morgensonne über die Berge scheint — oder aber die Einheit Deutschlands wird von Jahr zu Jahr fraglicher" (S. 278). Es ist falsch, wenn Deutschland Humanismus und Kosmopolitismus als Ideal vorgegaukelt wird. „Nicht Humanität zu entwickeln, ist die Aufgabe der Geschichte. Jeder Mensch soll als ein von andren Menschen verschiedener neben andren, deren eigenartige Tüchtigkeit er anzuerkennen hat, etwas sein und leisten; und wie der Mensch neben den Mitmenschen, so soll das Volk neben den Mitvölkern stehn" (S. 216). — „Ich kenne keine Wissenschaft, die nicht Wissenschaft einem bestimmten Volke gerne angehörender Personen wäre; denn so lange es eine Geschichte gibt, sind bedeutende Menschen nie Kosmopoliten gewesen" (S. 59). — Auch die Religion muß das Gepräge des Volkstums tragen, muß national gestaltet sein. Von diesem Ziel hat der Protestantismus weit weggeführt. Die zukünftige Kirche muß über ihn hinwegschreiten. „Ich bin gewiß nicht orthodoxer Christ, . . . aber ich stehe mit voller Überzeugung in der durch Photius wie durch die Reformation und deren Gegner unterbrochenen Entwicklung der Kirche" (S. 192). L.s herbes Urteil über Christentum, Deutschtum und Kultur seiner Zeit, das er auf Durchforschung der christlichen Vergangenheit und auf Zukunftsahnen gründete, haben die Zeitgenossen nicht verstanden. Daß die Liebe zu Deutschland und das Gefühl der Verantwortlichkeit für sein Volk vor Gott auch seine Wissenschaft leitete, daß ihm seine eigene Person als Träger dieser Aufgabe wichtig sein mußte, wurde lange bei der Leidenschaftlichkeit seiner Kampfführung übersehen. „Ungerecht bin ich meines Wissens gegen niemanden gewesen; aber der Sache, welcher ich durch Nichtverschweigen des in meinen Augen besonders Tadelnswerten dienen wollte, habe ich vielleicht auch durch gerechten Tadel ihrer anderen Diener mehr geschadet als genützt" (S. 13). Als Vorkämpfer für Entwicklung und Aufstieg seines Volkes mußte L. den Wagemut zu vollem Einsatz seiner Persönlichkeit besitzen. Gegenangriff und die Gefahr eignen Irrens schreckten ihn nicht. „Ich habe ohne Leitung meinen Pfad finden müssen und trage die Schmarren der Dornen, die mich versehrt, im Gesichte, die Schwielen der Urwaldaxt an den Händen; ich werde niemandem vorwerfen, der ein Pionier ist, daß er nicht wie ein maitre de plaisir aussieht. Ich werde auch niemandem vorwerfen, daß er irrt: denn ich habe selbst oft geirrt und werde bis an meines Lebens Ende irren" (S. 254). Nie dient L. sich selbst, stets seiner Aufgabe. Mit Stolz bekennt er: „sein Weg war Arbeit, Mut und Verleugnung seines Ichs, letzteres auch da, ja da am meisten, wo er sein Ich am deutlichsten in den Vordergrund stellte. Nur euer Bestes suchte er, als er sich selbst verteidigte und der Lüge wie dem Hasse die Maske der Wissenschaftlich-

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Lakydes aus Kyrene — Lalande

keit vom Gesichte riß" (S. 280). Für sein Handeln wie für sein Forschen macht er die Wahrheit seines Satzes geltend: „In jeder taugenden Arbeit der Wissenschaft steckt irgendwelche Liebe, heiße, Herzensliebe", die Liebe zu Gott und die Liebe zum eignen Volk. S c h r i f t e n : Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theol., Kirche u. Religion, 1873. — Politische Aufsätze, 1874. — ÜBer die gegenwärtige Lage des Deutschen Reichs, 1876. — Deutsche Schriften, 2 Bde., 1878—81; Gesamtausgabe, 2. Abdruck, 1891. — Symmicta, 2 Bde., 1877—80. — Mitteilungen, 4 Bde., 1884—91. — Opere italiane des Giordano Bruno, hrsg. in 2 Bdn., 1888—89. — Septuagintastudien, 1891—92. — Philolog. u. theolog. Abhandlungen der Frühzeit, in: Gesammelte Abhandlungen, 1866, Neudruck 1896. — Für die späteren theolog.-philolog. W e r k e vergi, Realenzyklopädie für prot. Theol. u. Kirche, 3. Aufl., Bd. 11, S. 212 ff. — Auswahl: Schriften für das Deutsche Volk, Bd. I: Deutsche Schriften, Bd. II: Ausgewählte Schriften, herausgeg. v. K, A. u. Paul Fischer, 1924. L i t e r a t u r : Bibliographie von R. Gottheil in: Proceedings of the American Oriental Society, 1892. — L a g a r d e , Anna de, Erinnerungen aus L.s Leben, 1894; 2. A. 1918. — Julius Wellhausen, Gedächtnisrede auf P. d, L., Gött.Gel.Nachr., 1894. — Schemann, Ludwig, P. d. L., 2. Aufl. 1920. — R. Breitling, P. d. L. u. d. Großdeutsche Gedanke, 1927. — Mommsen, Wilhelm, P. d. L. als Politiker, in: Göttinger Beiträge z. Kulturgesch., 1927. — Klamroth, Kurt, Staat u. Nation bei P. d. L., Abh. d. Rechts- u. Staatswiss. Fakultät Göttingen, Bd. 8, 1928. — Hollmann, Rudolf, L. als Pädagoge, in: Pädagog. Magaz., Nr. 602; 1915. — Platz, Hermann, P. d. L.s Flucht ins Altgermanische, in: Großstadt u. Menschentum, 1924; Kap. 5. — Alfred Rahlfs, L.s wissenschaftl. Lebenswerk, 1928 (mit Übersicht über die wiss. Schriften). — O. Conrad, L., ein Prophet deutscher Bildung u. deutschen Volkstums, 1928. — Krog, Fritz, L. u. d. deutsche Staat, 1930. — Hippler, Fritz, Staat u. Gesellschaft bei Mill, Marx, Lagarde, 1934. — Käte Schiffmann, L.s Kulturanschauung, Münster 1938. — Lothar Schmidt, L.s Kritik an Kirche, Theologie u. Christentum, Stuttg. 1935. — Hans Wittig, D. geistige Welt P. L.s, Diss., Hamburg 1937. — C. Tiltack, L. im Lichte der Rassenseelenkunde, Diss., Kiel 1942.

Lakydes aus Kyrene, von etwa 240 bis etwa 222 v. Chr. Scholarch der zweiten Akademie, Nachfolger des Arkesilaos. L i t e r a t u r : Diog. Laert. 4,59—61. — R. Hirzel, Hermes 18 (1883), 1—16.

Lalande, André, geb. 19. Juli 1867 in Dijon. Seit 1904 Prof. an der Sorbonne; 1922 Mitglied der Akademie. — L. ist Gegner des Evolutionismus, wie Spencer ihn entwickelt, und Vertreter eines spiritualistischen Positivismus. Als allgemeinstes Gesetz in der Natur und Grundlage für den menschlichen Fortschritt betrachtet er die Dissolution oder Involution, den Weg vom Verschiedenartigen zum Gleichartigen, der viele Bezeichnungen trägt (unification, identification, désindividualisation, marche à l'égalité, dédifférenciation). Die vier Hauptarten der Involution sind: mechanische, physiologische, psychologische, soziale. Überall herscht Dualismus, in der Natur und im Innern des Menschen. Zwei Strebungen wirken im Menschen, die eine auf Individualisierung, die andre auf Dissolution, Auflösung der eignen Person in die ganze Welt. Der Weg vom Heterogenen zum Homogenen ist auch die Grundrichtung des Gedankens. In der Involution siegt der Geist über die Natur oder das Leben; sie leitet das menschliche Handeln. Die Vernunft ist die Fähigkeit, alle Dinge zur Einheit zu bringen. S c h r i f t e n : L'idée directrice de la Dissolution opposée à celle de l'Évolution, Paris 1898; 2. Aufl. u. d. Titel: Les illusions évolutionistes (La Dissolution), Paris 1931. — Lectures sur la phil. des sciences, Paris 1893; letzte Aufl. Paris 1932. — Les principes universels de l'éducation morale, in: Revue de Mét. et de Morale, 1901. — Sur une fausse exigence de la Raison dans la méthode dzs sciences morales, in: Revue de Mét. et de Morale, 1907. — Précis raisonné de morale pratique, Extrait revisé du Bulletin de

Lalo — Larabert von Auxerre

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la Soc. Française de PhiL, 1907. — Raison constituante et raison constituée, in: Revues des Cours et Conférences à la Sorbonne, 1925. — Vocabulaire de la phil., 2 vol., Paris 1926; 4. éd., 3 Bde., 1932. — Les Théories de l'induction et de l'expérimentation, in: Bibl. de la Revue des Cours et Conférences, Paris 1929. — Hrsgbr.: Revue Philosophique, seit 1890. L i t e r a t u r : J . Benrubi, Les sources et les courants de la phil. française contemporaine en France, Paris 1933, Bd. II, S. 639—659.

Lalo, Charles, geb 1877 in Périgueux. L. entwickelt eine Ästhetik von positivistischer Färbung und auf soziologischer Grundlage, als exakte Wissenschaft. Dies macht ihn zum Gegner des „ästhetischen Vitalismus" von Guyau, Séailles, Bergson. Von Fechner ist er zwar beeinflußt, doch übt er an seiner empirischen und experimentellen Ästhetik Kritik, auf Dürkheim gestützt. Das ästhetische Phänomen ist für ihn eine soziale Tatsache, und die Ästhetik ist nicht ein Teil der Psychologie oder einer Lustlehre, sondern wird vollständig als Zweig der Soziologie. „Die vollkommene Ästhetik (esthétique intégrale) wäre das wissenschaftliche Studium aller Bedingungen für Schönheit, fortschreitend von den abstraktesten zu den konkretesten unter Erschöpfung aller Möglichkeiten: sie wäre also ganz und gar oder eins nach dem andern Mathematik, Physiologie, Psychologie, Soziologie" (Les sentiments esthétiques, S. 14). S c h r i f t e n : L'Esthétique expérimentale contemporaine, Paris 1908. — Esquisse d'une esthétique musicale scientifique, Paris 1908. — Les sentiments esthétiques, Paris 1910. — Introduction à l'esthétique, 1912; 2. Aufl. 1925. — L'art et la vie sociale, 1921. — Aristote, Paris 1922. — La beauté et l'instinct sexuel, Paris 1922. — Notions d'esthétique, 1925. — L'expression de la vie dans l'art, Paris 1933. L i t e r a t u r : J. Benrubi, Les sources et les courants de la phil. contemporaine en France, Paris 1933, S. 189—193.

Lamarck, Jean Baptiste de Monet de, geb. 1. August 1744 in Bazentin (Picardie), gest. 18. Dezember 1829 in Paris. Prof. am Jardin des Plantes zu Paris. — L. gibt bereits vor Darwin die Konstanz der Arten als Erklärungsgrundsatz auf. Er nimmt an, daß mit dem Auftauchen neuer äußerer Lebensbedingungen und damit neuer Ansprüche an die organischen Funktionen sich die Organismen selbst ändern. Die Organe passen sich den neuen Lebensbedingungen allmählich an. Die neu erworbenen Eigenschaften sind vererbbar, während die Organe, die nicht gebraucht werden, sich zurückbilden. S c h r i f t e n : Système des animaux sans vertèbres, Paris 1801. — Philos, zoologique, 1809, Paris 2 Bde., deutsch 1909. — Histoire naturelle des animaux sans vertèbres, 7 Bde., Paris 1815—22; neu hrsg. in 11 Bdn. von G. H. Deshayes u. H. Milne-Edwards, 1835—45. — Système analytique des connaissances positives de l'homme, Paris 1820. Li t e r a t u r : G. Wolff, Beiträge z. Kritik d. Darwinschen Lehre, 1898; D. Begründung d. Abstammungslehre, 1907. — A. S. Pachard, L. the Founder of Evolution, New York 1901. — K. Detto, D. Theorie der direkten Anpassung u. ihre Bedeutung f. das Anpassungs- u. Deszendenzproblem, 1904. — M. Landrien, L., le fondateur du transformisme, in: Mémoires de la Société Zoologique de France, 1908, Bd. 21; Paris 1909. — Leiber, L., 1910. — Kühne, Friedr., L., 1913; in: Klassiker der Naturw. — Perrier, Edmond, L., Paris 1925; in: Les grands hommes de France. — Le Roy, É., L'exigence' idéaliste et le fait de l'évolution, Paris 1927. — H. Daudin, Cuvier et L„ Paris 1926; De Linné à L., Paris 1926. — S. Tschulok, L., 1937.

Lambert Ton Auxerre, um 1250, Logiker, vgl. Wilhelm Shyreswood. L i t e r a t u r : C. Prantl, Gesch. d. Logik III 25—32, 1858—1870. — B. Hauréau, Hist de la philos, scol. II, 1, S. 188—190, Paris 1880.

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Lambert

Lambert, Johann Heinrich, geb. 26. August 1728 in Mühlhausen (Elsaß), gest. 25. September 1777 in Berlin. Mitglied der Berliner Akademie. Mathematiker, Astronom und Physiker. Im Briefwechsel mit Kant. Die Bedeutung L.s für die Physik liegt in der Anwendung der Mathematik; er schuf u. a. eine Photometrie, eine Hygrometrie und eine Pyrometrie und entwarf ein Bild des Fixsternsystems. Seine Erkenntnislehre stellt L. in dem „neuen Organon" und der „Architektonik" dar. Er unterscheidet vier Hauptgebiete innerhalb der Erkenntnis: die Dianoiologie, die Alethiologie, die Semiotik und die Phänomenologie. Die Dianoiologie behandelt die Disziplin der Logik, die L. in Anlehnung an die Wolffsche Philosophie entwickelt. Die logischen Formen werden dabei von ihm durch geometrische Symbole veranschaulicht, z. B. der Begriff durch eine Linie und seine Merkmale durch unter dieser Linie stehende Punkte, ähnlich in der Schlußlehre. — In der Alethiologie werden die einfachen Grundbegriffe und ihre Verbindungen, das „Reich der Wahrheit" behandelt. Die einfachen Begriffe werden durch das Verfahren der „anatomischen" Analyse gewonnen, indem Begriffe daraufhin untersucht werden, ob und wieweit sie sich in einfachere zerlegen lassen. Sie können nicht in eine Definition gefaßt, sondern nur bezeichnet und durch ein anderes veranschaulicht werden. Sie enthalten keinen Widerspruch in sich, weil zu diesem eine Zweiheit des sich Widersprechenden gehört, die in einem Einfachen nicht vorhanden sein kann. Das Kennzeichen der einfachen Begriffe ist ihre unmittelbare „Gedenkbarkeit". Auf diese müssen die zusammengesetzten Begriffe in ihrer Gedenkbarkeit zurückgeführt werden. Die Grundbegriffe sind solche Begriffe, „deren Möglichkeit und Richtigkeit unmittelbar einleuchtet, sobald man sie sich vorstellt". Sie treten uns durch die Erfahrung und in ihr in das Bewußtsein. L. nennt Solidität, Existenz, Dauer, Ausdehnung, Kraft, Bewußtsein, Wollen, Beweglichkeit, Einheit, auch Licht, Farbe, Schall, Wärme usw. Bestimmte zu diesem Zwecke geeignete Grundbegriffe lassen eine Kombination zu, durch welche die einzelnen Gebiete der Wissenschaften sich gliedern und aufbauen. Auswahl- und Aufbauprinzipien sind dabei die Grundsätze und Postulate. Zehn einfache Begriffe erweisen sich für die Zusammensetzung als tauglich: Solidität, Existenz, Dauer, Ausdehnung, Kraft, Bewußtsein, Wollen, Beweglichkeit, Einheit und Identität. Die Grundbegriffe wie auch die auf ihnen aufgebauten Wissenschaften gelten a priori und bilden das „Reich der Wahrheit". Die Apriorität definiert L. so, „daß man absolute und im strengsten Verstände nur das a priori heißen könne, wobei wir der Erfahrung vollends nichts zu danken haben" (Organ. § 639), die ewigen Wahrheiten, wie sie in Arithmetik, Geometrie, Chronometrie, Phoronomie, Logik usw. vorliegen, sind „priores non tempore, sed ratione". — Der Gegenstand der Semiotik ist der Ausdruck und sein Verhältnis zum Gedachten. L. betont, daß die natürliche Repräsentation des Gedachten in der gewöhnlichen Sprache nicht erreicht werden kann, da die Sprachen unter mannigfachen zufälligen Bestimmungen sich entwickelt haben. An ihre Stelle muß eine metaphysische Sprache treten, die erst den natürlichen Ausdruck gewährleisten kann. Es wäre ein Zeichensystem für die Zwecke dieser natürlichen Sprache zu schaffen, eine Forderung, die L. selbst zu erfüllen gesucht hat. — Die Phänomenologie soll lehren, den Schein in den Erscheinungen zu erkennen und das Wahre und den Schein voneinander zu sondern; dabei wird in dem Subjekt-Objektverhältnis, das dem Schein zugrunde liegt, alles das als subjektiv aufzufassen sein, dessen angenommene Objektivität einen Widerspruch in der Wissenschaft ergeben würde.

Lamennais

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In der Architektonik wird zunächst die Alethiologie fortgeführt (erster Teil), sodann die Ontologie entwickelt (zweiter und dritter Teil), endlich die Methodologie dargestellt, die „Mathesis", die das Problem der Übertragung der mathematischen Methode auf die Erfahrungswelt zu ihrem Mittelpunkt hat (vierter Teil). Die „logische Wahrheit" des Gedenkbaren, so lehrt L. in der Architektonik, bedeutet allein noch nichts, das Gedenkbare stellt nur Möglichkeiten dar, zu denen die Möglichkeit des Existierens notwendig hinzukommen muß, wenn eine Erkenntnis erreicht werden soll. Dies kann geschehen durch den Inbegriff des Gedenkbaren, dem die Möglichkeit der Existenz zukommt, und hier ist das Reich der „metaphysischen Wahrheit". In das Gedenkbare aber strömt als das, wodurch es zur metaphysischen Wahrheit wird, das Solide und die Kraft in ihrer Gegenständlichkeit ein, und es ergibt sich eine genaue Zuordenbarkeit des Wahren im logischen und im metaphysischen Sinne. Die metaphysische Wahrheit erfordert einen ersten Anfang, wie das Reich des logisch Wahren im für sich Gedenkbaren ihn besitzt, ein Wesen, das durch sich und für sich ist und infolge des inneren denkmäßigen Zusammenhanges der beiden Reiche denkend ist: Gott. Die Kraft und das Solide haben in ihm die notwendige Möglichkeit ihrer Existenz. Der göttliche Wille, diese Kraft des Wollens, die das auf der Kraft des Denkens beruhende Gedenkbare aus seiner der Kraft des Könnens entspringenden Existenzmöglichkeit in die Existeinzwirklichkeit überführt, ist gut und will das Gute; daher denn auch die bestehende Welt unter den denkbaren möglichen die beste ist. S c h r i f t e n : Kosmolog. Briefe üb, d. Einrichtg. d, Weltbaues, 1761. — Neues Organon oder Gedanken üb. d. Erforschung u. Bezeichnung d. Wahren u. dessen Unterscheidg. v, Irrtum u. Schein, 2 Bde., 1764. — Anlage zur Architektonik od. Theorie d. Einfachen u. Ersten in d. phil. u. mathemat. Erkenntnis, 2 Bde., 1771. — Logische u. philos. Abhdlgen., hrsg. v. Joh. Bernoulli, 2 Bde., 1782. — L.s „Deutscher gelehrter Briefwechsel", hrsg. v. Joh. Bernoulli, 1781 f. — J. H. L.s Monatsbuch mit den zugehörigen Kommentaren wie mit einem Vorwort über den Stand der Lambertforschung, hrsg. v. K. Bopp, Abhdl. d. bayr. Akad., math.-phys. Kl., Bd. 27, Nr. 6, 1915. — Critérium veritatis, hrsg. v. K. Bopp, Erg.-Heft Nr. 36 d. Kant-Stud., 1915. — Üb. die Methode, die Metaphysik, Theologie u. Moral richtiger zu beweisen, hrsg. v. K. Bopp, Erg.-Heft Nr. 42 d. Kant-Stud., 1918. — Opera mathematica, hrsg. v. A, Speiser, Bd. I, 1946. — Briefwechsel zwischen L. Euler u. J. H, L., hrsg. v. K. Bopp, 1924. L i t e r a t u r : O. Baensch, J. H, L.s Philos, u. seine Stellung zu Kant, 1902. — Krienelke, L.s Philos, d. Mathematik, 1909. — K. Bopp, L.s Stellung zum Raumproblem u. seine Parallelentheorie in d. Beurteilung seiner Zeitgenossen, Sitz.-Ber. d. bayr. Akad., 1914. — Sterkman, P., De plaats van J. H. L. in de ontwikkeling van het idealisme voor Kant, Diss., Utrecht 1928. — Barthel, Ernst, Elsäss. Geistesschicksale, 1928; S. 27—80. — Max E. Eisenring, J. H, L. u. d. wiss. Philos, d. Gegenw., Diss., Zürich 1942, — J. H. L., Leistung u. Leben, herausg. v. Fr Löwenhaupt, Mühlhausen 1943. — M. Steck, J. H. L., Schriften zur Perspektive, 1943, mit Schriftenverzeichnis u. Bibliographie.

Lamennais, Hugues Félicité Robert de, geb. 19. Juni 1782 in St. Malo (Bretagne), gest. 27. Februar 1854 in Paris. 1834 von der katholischen Kirche wegen der „Paroles d'un Croyant" verurteilt. 1848 Mitglied der Constituante. L. gehört zur theokratischen Schule. L. ist der Philosoph der an sich selbst enttäuschten Vernunft. Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die Trugschlüsse der philosophischen Lehren, während er einen Glauben an die an sich unfehlbare Kraft der natürlichen Intuition festhält. Diese stellt das gemeinsame Element der Religionen dar und wird von der katholischen Kirche in besonders hohem Maße ausgedrückt. — L.s Philosophie ist im Gegensatz zum Sensualismus am Seienden selbst orientiert,

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Lamettrie

dessen Wesenszüge der Endlichkeit und Unendlichkeit er für vereinbar hält. Gott oder die Substanz hat drei wesentliche Eigenschaften, Macht, geistige Form und Liebe. In der Sprache der christlichen Religion ist der Vater die Macht, der Sohn die durch die Macht erzeugte Intelligenz, der Geist die Liebe. S c h r i f t e n : Essai sur l'Indifférence en matière de Religion, 4 Bde., Paris 1817—23. — Paroles d'un Croyant, Paris 1834, deutsch 1834 u. 1843. — Esquisse d'une Philosophie, 4 Bde., Paris 1841—46, dtsch. 3 Bde., 1843. — Oeuvres inédites et corresp., hrsg. v. A. Blaize, 2 Bde., Paris 1866. — Oeuvres compl., 10 Bde., Paris 1836—37; 2. A. 1844—1847. — Ges. Werke, deutsch v. G. Rudolphi, 2 Bde., 1844. — Corresp. inéd. entre L. et le Baron de Vitrolles, hrsg. v. E. Forgues, Paris 1898. — Confidences de L., lettres inédites à Marion, hrsg. v. A. Dubois de Villerabel, Nantes u. Paris 1886. —A. Laveille, Un L. inconnu, lettres inéd. à Bénoit d'Azy, Paris 1898. — Lettres inéd. de L. à Montalembert, hrsg. v. E. Forgues, Par. 1898. — Un fragment inédit de l'Esquisse d'une Philosophie, hrsg. v. Chr. Maréchal, Rev. de Mét. 1898 f. — Essai d'un Système de philos, cathol., (1830 f.), hrsg. v. Chr. Maréchal, Paris 1906. — Lettres de Montalembert à L., Paris 1933. L i t e r a t u r : Paganel, Examen critique des Opinions de l'abbé de L., 2 Bde., 1825. Lacordaire, Considérations sur le Syst. philos, de M. d. L., 1834. — Paul Janet, La Philos, d. L., Paris 1890. — O. Bordage, La Philos, de L., 1869. — A. Ricard, L., 2. Aufl., Paris 1883. — Roussel, L. d'après des Documents inédits, 2 Bde., Rennes 1893. — Ch. Boutard, L., sa vie et ses doctrines, 2 Bde., Paris 1905—08. — Chr. Maréchal, La Métaph. sociale de L., Ann. de philos, chrétienne, 1906. — Ders., L. et Lamartine, Paris 1997, — Ders., L., La dispute de l'Essai sur l'Indiff., Paris 1925. — Duine, F., Essai de bibliographie de F. R. d. L., Paris 1923. — Ahrens, Liselotte, L. u. Deutschland, 1930; in: Universitas Archiv Bd, 32. — Giraud, Victor, La vie tragique de L., Paris 1933, in: Les énigmes de l'histoire. — R. Vallery-Radot, L., Paris 1931.

Lamettrie, Julien Ofiray de, geb. 25. Dezember 1709 in St. Malo, gest. 11. Nov. 1751 in Berlin. Vertreter des biologischen Materialismus, ursprünglich Arzt, wurde durch Verfolgungen gezwungen, nach den Niederlanden zu gehen, wo er in Leiden seine Hauptschrift ,,L'homme machine" verfaßte, und folgte 1748 einer Einladung Friedrichs des Großen nach Berlin; er wurde Mitglied der Akademie und blieb bis zu seinem Tode in Berlin. — L. versucht, das Denken aus den körperlichen Funktionen abzuleiten. Die Empfindungen sind Ursprung des Denkens und des Wollens. Ohne Empfindungen würde der Mensch keine Ideen haben, ihre Entwicklung aber ist so sehr von Erziehung und Unterricht abhängig, daß ein Mensch, der von allen Menschen getrennt aufwachsen würde, geistig leer bliebe. Die Materie hat Bewegungskraft und Empfindungsfähigkeit als ihre wesentlichen Eigenschaften. Auch die Tiere besitzen Empfindung und vermögen zu denken. Der Zusammenhang innerhalb der nur materialistisch aufzufassenden Natur ist vollkommen, so daß es in ihr Gegensätze nicht geben kann. Alle Spekulationen lehnt L. ab und hebt jede Verbindung zwischen Religion und Sittlichkeit auf. Seine Moralanschauungen führen zu einem sinnlichhedonistischen Lebensideal, mit der Einschränkung, daß das öffentliche Interesse dem privaten voranzugehen habe. Eine Handlung, die in dieser Weise bestimmt ist, ist ,,gut". Der metaphysische Sinn des Lebens ist zweifelhaft. L. nennt das Leben ein Possenspiel. Eine Gesellschaftsverfassung ohne Religion würde zum größten Glück ihrer Mitglieder führen. S c h r i f t e n : Histoire naturelle de l'âme, La Haye 1745. — L'homme machine, Leiden 1748, Paris 1921, deutsch v. Brahn, 1909. — L'homme plante, 1748. — Réflexions philosophiques sur l'origine des animaux, 1750. — L'art de jouir ou l'école de la volupté, 1751, deutsch v. Dedekind: Die Kirnst, die Wollust zu empfinden, 1751. — Venus métaphysique ou essai sur l'origine de l'âme humaine, 1751. — Oeuvres philosophiques, 2 Bde., London 1751; neu hrsg. in 3 Bdn., 1796.

La Motte — Lanfrank

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L i t e r a t u r : Picavet, L. et la critique allemande, Paris 1«89. — J . E. Poritzky, L., s. Leb. u. s. Werke, 1900. — Bergmann, Ernst, Die Satiren des Herrn Maschine, 1913. — R. Boissier, L. M., médecin, pamphlétaire et philosophe, Paris 1931.

La Motte, Antoine Houdar de, geb. 18. Januar 1672 in París, gest. 26. Dezember 1731 ebda. Französischer Dichter und Philosoph. S c h r i f t e n : Discours sur la poésie, 1707. — Réflexions sur la critique, 1716. — Oeuvres complètes, 11 Bde., Paris 1754. L i t e r a t u r : Dupont, Paul, Un poète philosophe au commencement du 18e siècle, H. d. L. M., Paris 1898, Thèse. — Dost, Gerhard, H. d. L. M., Diss., Leipz. 1909. — Gillot, L., 1914.

Lamprecht, Karl, geb. 25. Februar 1856 in Jessen, gest. 10. Mai 1915 in Leipzig. Habilitation in Bonn 1880, 1890 o. Prof. in Marburg, 1891 in Leipzig. — L. vertritt eine universale Geschichtsauffassung in kollektivistischem Sinn. Er läßt alle geschichtliche Forschung von sozialpsychologischen Anschauungen begründet sein. Aufgabe der Geschichtserforschung im besonderen ist die Gewinnung von Gesetzen. L. selbst hat typische Perioden des Geschichtsverlaufes am Beispiel der deutschen Geschichte entwickelt, die nach seiner Meinung generelle Gültigkeit haben. Er unterscheidet: Symbolismus (älteste Zeit), Typismus (3. bis 11. Jahrh.), Konventionalismus (12. bis 14. Jahrh.), Individualismus (15. Jahrh. bis Mitte 18. Jahrh.) und Subjektivismus (seit Mitte 18. Jahrh.). S c h r i f t e n : Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter, 3 Bde., 1885—86. — Deutsche Gesch., 12 Bde., 1891—1909; neueste Ausg. 19 Bde., 1920—1922. — Alte u. neue Richtung in der Geschichtswiss., 1896. — Was ist Kulturgesch.7 1897. — Zwei Streitschriften, den H. H. Oncken, Delbrück u. Lenz zugeeignet, 1897. — D. hist. Methode d. Herrn von Below, 1899. — D. kulturhist. Methode, 1900. — Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, 2 Bde., 1901—04. — Moderne Gesch.wissanschaft, 1905. — Einf, in d. histor. Denken, 1912. — Deutscher Aufstieg 1750 bis 1914, 1914. L i t e r a t u r : B, Weiss, L.s Gesch.philos., Arch. f. syst. Philos., Bd. 12, 1906. — E, Rothacker, Üb. d. Mögl. u. d. Ertrag e. genet. Gesch.auffassung im Sinne K. L.s, 1912. — W. Wundt u. M. Klinger, K. L., ein Gedenkblatt, 1915. — R. Kötzschke, Verzeichnis der Schriften K. L.s, in: Sachs. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Verh., Bd. 67, 1905; S. 105—119. — E. J . Spieß, D. Geschichtsphilos. v. K. L., Diss., Freiburg (Schweiz) 1921. — Seifert, Friedrich, D. Streit um K, L.s Geschichtsphilos., 1925; in: Sozialphilos. Vortr. 2. — J . Hohlfeld, K. L., 1930.

Lamy, Dom François, 1636 bis 1711. Benediktiner. Bekämpft die Lehre des Leibniz von der prästabilierten Harmonie. Anhäniger von Malebranche, Gegner Spinozas. S c h r i f t e n : De la connaissance de soi-même, 6 Bde., 1694—98, 2. Aufl. 1699. — Premiers éléments ou entrée aux connaissances solides, Paris 1706. — Lettres philosophiques, Paris 1703. — L'incrédule amené à la religion par la raison, Paris 1710. — Nouvel athéisme renversé, anonym, 1696. L i t e r a t u r : Malebranche, Nicolas de, Traité de l'amour de Dieu . . ., suivi des trois lettres au P. Lamy, introductions et notes de Désiré Roustan, Paris 1922; in: Collection des chefs-d'œuvres méconnus.

Land, Jan Pieter Nicolaas, geb. 23. April 1834 in Delft, gest. 30. April 1897 in Arnheim. Professor in Leiden. S c h r i f t e n : De wijsbegeerte in de Nederlanden. Met Levensbericht van den schrijver door C. B. Spruyt, s'Gravenhage 1899. — Hrsg. v, Spinozas Werken, mit J . van Vloten, 1882—83, u. von Geulincx Werken, 1891—93.

Lanlrank, geb. um 1010 zu Pavia, gest. 24. Mai 1089 in Canterbury. Rechtsgelehrter in Pavia. 1070 Erzbischof von Canterbury. Lehrer des Anselm von

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Langbehn— Lange, Friedrich Albert

Canterbury. Gegen den Rationalismus des Berengar von Tours fordert er das Fernhalten dialektischer Methodik von der Theologie, die er auf die von den heiligen Autoritäten vermittelte göttliche Wahrheit ausschließlich begründen will. S c h r i f t e n : Opera omnia, hrsg. v. J. A. Giles, 2 Bde., Oxford 1844. — Monumenta gregoriana, hrsg. v. P. Jaffe, in: Bibliotheca Rerum Germanicarum, Bd. 60, 1865. — J. P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 150, Paris 1851. L i t e r a t u r : Boehmer, Heinrich, Kirche u. Staat in England u. in der Normandie, 1899, S. 79—126. — A. J. Macdonald, L., Oxford 1926. — E. Hora, Zur Ehrenrettung L.s, in: Theolog. Quartalsschrift, 1930.

Langbehn, Julius, „der Rembrandtdeutsche", 1851 bis 1907. Gab anonym die kulturphilosophische Schrift „Rembrandt als Erzieher" heraus. L. trat 1900 zum Katholizismus über. S c h r i f t e n : Rembrandt als Erzieher, 1890, häufig aufgelegt (84 Auflagen bis 1946). L i t e r a t u r : C. Gurlitt, L. der Rembrandtdeutsche, 1927. — Hans Bürger-Prinz, J. L., Leipz. 1940. — Liselotte Ilschner, R. a. E., Danzig 1928. — Walther Kerstiens, Gestalt u. Geschichte nach L., Diss., Münster 1941. — Benedict Momme Nissen, J. L. Auswahl, Freiburg 1930. — Ders., Der Rembrandtdeutsche J. L„ Freiburg 1926; 2. A. 1929; zuletzt 1937; Die Kunst Rembrandts, Bilderbuch zu Rembrandt als Erzieher, 1929; Der Geist des Ganzen, 1932. — Hans Strobel, Die Begriffe v. Kunst u. Erziehung bei J. L., Würzburg 1941.

Lange, Carl Georg, 1834 bis 1900. 1877 Prof. der Med. in Kopenhagen. — L. gestaltet 1885 die auch von James 1884 vertretene Theorie, daß seelische Erregungen das Ergebnis körperlicher Reaktionen sind. Die seelische Erregung bleibt gebunden an körperliche Zustände und ist nichts als die Perzeption ihres Wechsels. S c h r i f t e n : über Gemütsbewegungen, 1885, deutsch 1887. — Sinnesgenüsse u. Kunstgenuß, Kopenhagen 1893, deutsch 1903.

Lange, Friedrich Albert, geb. 28. September 1828 in Wald bei Solingen, gest. 21. Nov. 1875 in Marburg. Als Student in Zürich hörte L. den Herbartianer Bobrik. Er promovierte in Bonn 1851 mit Quaestiones metricae. 1855 habilitierte er sich dort mit einer Antrittsvorlesung „Über den Zusammenhang der Erziehungssysteme mit den herrschenden Weltanschauungen verschiedener Zeitalter." Auf Grund einer politischen Maßregelung wegen „Mangel an gereiftem Urteil und leidenschaftsloser Besonnenheit" nahm L. Herbst 1862 seine Entlassung. Er blieb in Duisburg als Redakteur und als Sekretär der Handelskammer und trieb statistische und volkswirtschaftliche Studien. Im Nov. 1866 ging er nach der Schweiz, habilitierte sich in Zürich, und erhielt 1870 als Erster die Professur für „induktive Philosophie". 1873 wurde er nach Marburg berufen. L.s Stellung in der Geschichte der Philosophie wird bestimmt durch sein Werk „Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart". Es ist eins der einflußreichsten philosophischen Bücher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh.; denn es hatte erheblichen Anteil an der Überwindung des Materialismus durch seine kritische Darstellung und Widerlegung, wie mittelbar durch Förderung des Neukantianismus. L. hat, wie Helmholtz, als einer seiner ersten Vertreter zu gelten, und wie dieser erklärte er Kant aus den neuen Ergebnissen des Sinnesphysiologie heraus. Neben Kritik des Materialismus und Wiederbelebung Kants ist es L.s Ablehnung aller Metaphysik, die historisch wirksam wurde. L. wirft den spekulativen Systemen und den materialistischen Weltdeutungen eine Überschreitung ihrer Grenzen vor, wenn sie als eine oder gar als die Philosophie gelten wollen. Die Aufgabe, die die Spekulation des deutschen Idealismus sich setzte, die Welt als Ganzes zu verstehen, ist für eine Wissenschaft unlösbar.

Lange, Friedrich Albert

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Zu begreifen vermag der Mensch immer nur Einzelnes oder Bruchstücke; ein Ganzes muß er — dichten! Dabei ist „Dichtung" in dem umfassenden Sinn wie bei Schiller genommen, den L. aufs höchste verehrte: als ein „notwendiges und aus den innersten Lebenswurzeln der Gattung hervorbrechendes Gebiet des Geistes." So gehört spekulative Philosophie, wie alle Metaphysik, in eine Gruppe mit Religion und Kunst, also ins Gebiet der Begriffsdichtung. Aber auch der Materialismus begibt sich auf ein seinem Wesen fremdes Gebiet, wenn er Philosophie sein will. Er darf lediglich mit dem Anspruch hervortreten, als Maxime der naturwissenschaftlichen Einzelforschung zu dienen. Nur als Methode hält L. den Materialismus für berechtigt und brauchbar, und als Methode wendet er ihn selbst auf allen seinen Arbeitsgebieten an. Er bekennt: „Meine Logik ist die Wahrscheinlichkeitsrechnung, meine Ethik die Moralstatistik, meine Psychologie ruht durchaus auf der Physiologie, mit einem Wort: ich suche mich nur in exakten Wissenschaften zu bewegen." (Brief vom 27. Sept. 1858.) Materialismus aber als philosophische Weltansicht ist nach L.s Meinung längst widerlegt: durch die Physiologie und durch Kant. Zerstört doch die Physiologie der Sinnesorgane den Glauben, daß die Welt so ist, wie wir sie sehen, hören, fühlen. Endgültig überwunden aber ist der Materialismus durch Kant, der gezeigt hat, daß nicht unsere Vorstellungen sich nach den Gegenständen richten, sondern die Gegenstände nach unsern Vorstellungen. Die Grundbegriffe des naturwissenschaftlichen Materialismus, Materie, Atom, Kraft, Ding sind nicht „an sich". Es sind vielmehr wissenschaftliche Hilfsbegriffe, von uns erdacht, um uns die Welt verständlich zu machen. Die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens wird von L. im Sinne Kants behandelt. Den kantischen Begriff des a priori erkennt L. zwar an, sieht es aber in unserer geistig-körperlichen Organisation begründet. Gegen die methodischen Grundlagen der kantischen Ethik erhebt L. die stärksten Einwendungen. Er verweist die Ethik, wie Religion und Kunst, in eine Welt der Werte. Als Aufgabe setzt er ihr eine Umgestaltung der Lebensverhältnisse zum Idealen. L.s „Standpunkt des Ideals" hat stark auf die Ausbildung der „Philosophie des Als-Ob" durch Vaihinger gewirkt, der selber in L.s Lehre die grundlegende Vorbereitung für seinen Fiktionalismus sieht. Die nähere Begründung für seine Ablehnung der Metaphysik leitet L, aus deren Anspruch her, objektive Erkenntnis einer objektiv bestehenden Welt zu sein. Alle Erkenntnis ist nach L. getragen von subjektiv geltenden Verstandessätzen und erfüllt von Sinneseindrücken, die gleichfalls nur für das Subjekt Geltung besitzen. So ist das Streben der Metaphysik Selbsttäuschung. Ihre Unhaltbarkeit zeigt sich auch in der Art ihrer Lösungen, die allen Erfahrungswissenschaften widersprechen und bloße Scheingebilde sind. Auch bei Kant ist noch ein metaphysischer Rückstand vorhanden, den L. ihm sehr verdenkt: in der Lehre vom mundus intelligibilis. Diese Ablehnung der Metaphysik machte auf Nietzsche starken Eindruck. In den geschichtlichen Teilen seines Hauptwerkes zeigt L., daß jede Lockerung der Verknüpfung zwischen philosophischer Forschung und positiver Wissenschaft zu einem Abstieg der Philosophie geführt hat. L., der als praktischer Pädagoge gerühmt wurde, hat sich auch mit der Pädagogik als Wissenschaft befaßt. Schon seine Bonner Antrittsvorlesung will den Nachweis führen, daß die Pädagogik als vollendete Erziehungswissenschaft erst mit der Philosophie entstehen kann, aber mit dieser auch notwendig entstehen muß, wenn das System nicht unvollständig bleiben soll. S c h r i f t e n : D. Grundlagen der mathemat. Psychologie, ein Versuch z. Nachweisung des fundamentalen Fehlers bei Herbart u. Drobisch, 1865. — D. Arbeiterfrage, 1865, zul.

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Lange, Joh. Joachim — Languet

1910. — D. Gesch. des Materialismus u. Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, 2 Bde., 1866; 10. Aufl. mit Vorwort u. Einl. von H. Cohen, 2 Bde., 1921; hrsg. v. Wilhelm Bölsche, 1920. — Neue Beiträge z. Gesch. des Materialismus, Heft 1, 1867, — Logische Studien, ein Beitrag zur Neubegründung der formalen Logik u. der Erkenntnistheorie, hrsg. v. H. Cohen, 1877, 2. Aufl. 1894, — Artikel in Schmids Enzyklopädie f. d. ges. Unterrichtswesen, unter: Leibesübungen, Seelenlehre, Vives, — Biographie Überwegs, 1871. L i t e r a t u r : H. Vaihinger, Hartmann, Dühring u. Lange, 1876. — O. A. Ellissen, F. A. L., 1891. — Bosch, F. A. L. u. s. Standpunkt des Ideals, 1890. — M. Heinze, D. Idealismus F. A. L.s, Vierteljahrsschrift 1, 1877. — O. A. Ellissen, F. A. L. als Philosoph u. Pädagog, Monatshefte d. Comeniusges. III, 1894. — S. H. Braun, F. A. L. als Sozialökonom, Halle 1884, Diss. — Genz, Der Agnostizismus Herbert Spencers mit Rücksicht auf A. Comte und F. A. Lange, Diss., Greifswald 1902. — R. Stölzle, Franz Hoffmann u. F. A, L., Phil. Jahrb. 30, 1917. — Erich Becher, Deutsche Philosophen, 1929. — P, Grebe, Die Arbeiterfrage bei L., Ketteier, Jörg, Schaffte, 1935. Lange, J o h . J o a c h i m , geb. 26. O k t o b e r 1670 in G a r d e l e g e n , gest. 7. M a i 1744 in Halle. 1709 P r o f . d e r T h e o l o g i e in Halle. — L. w a r G e g n e r d e r W ö l f i s c h e n Philosophie, d e r e n D e t e r m i n i s m u s e r b e k ä m p f t e . Sie ist n a c h s e i n e m U r t e i l religionsgefährlich, weil a t h e i s t i s c h u n d spinozistisch. L. b e t r i e b d a h e r die L a n d e s v e r w e i s u n g W o l f f s (1723). S c h r i f t e n : Causa Dei et religionis naturalis adv. atheism., 1723. — Modesta disquis. novi philos. syst, de Deo, mundo et homine, 1723. — Selbstbiographie, 1744. L i t e r a t u r : Wolf, Christian, Sammlung aller Schriften, die in d. L.sehen u. Wolffischen Streitigkeit abgesetzt werden, 1737. Lange, J u l i u s , geb. 19. J u n i 1838 in V o r d i n g b o r g (Seeland), gest. 20. S e p t e m b e r 1896 in K o p e n h a g e n . 1875 U n i v e r s i t ä t s p r o f . in K o p e n h a g e n . S k a n d i n a v i s c h e r K u n s t h i s t o r i k e r u n d Ä s t h e t i k e r . B r u d e r v o n K o n r a d L. — I m G e g e n s a t z zur s p e k u l a t i v - p h i l o s o p h i s c h e n Ä s t h e t i k v e r t r i t t L. einen realistisch-positivistischen Standpunkt gegenüber den ästhetischen Problemen. S c h r i f t e n : Darstellung des Menschen in der älteren griech. Kunst, hrsg. v. A, Furtwängler, 1899. — Die menschliche Gestalt in der Gesch. der Kunst, hrsg. v. P, Köbke, 1903. — Om Kunstvaerdi, 1876. — Ausgewählte Schriften, hrsg. von P. Köbke u. G. Brandes, 3 Bde., 1900—1903. — Briefe, hrsg. v. P. Köbke, 1903. — Streftog i Verdens-Kunstudstillingen i Wien, 1873. — Vom Kunstwerk, zwei Vorträge (1874 u. 1876), dtsch. hrsg. von J. von Schlosser, o. J. L i t e r a t u r : Kainz, Friedrich, in: Zeitschrift für Ästh-, Bd. 22, 1928, S. 449—453. Lange, K o n r a d v., geb. 15. M ä r z 1855 in G ö t t i n g e n , gest. 30. J u l i 1921 in T ü b i n g e n , 1885 P r o f e s s o r in G ö t t i n g e n , 1892 in Königsberg, 1894 in T ü b i n g e n . L. b e g r ü n d e t die Illusionstheorie d e r K u n s t u n d d e s Ä s t h e t i s c h e n . D a s Ä s t h e t i s c h e ist Illusion, d e r Z w e c k d e r K u n s t ist es, eine b e w u ß t e S e l b s t t ä u s c h u n g u n d d e n G e n u ß d e r Illusion, im S c h w a n k e n z w i s c h e n W i r k l i c h k e i t u n d T ä u s c h u n g , h e r vorzurufen. S c h r i f t e n : Die künstlerische Erziehung der dtsch. Jugend, 1893. — Die bew. Selbsttäuschung, 1895, — Gedanken zu e. Ästhetik auf entwicklungsgesch. Gründl., Z. f. Psychol., 1897. — D. Wesen deV Kunst, 2 Bde., 1901, 2. Aufl. in 1 Bd., 1907. — D. Wesen d. künstler. Erziehung, 1902. — Üb. d, Methode d. Kunstphilos., Z, f. Psychol., 1904. — Schön u. praktisch, e. Einführung in die Ästh. der angewandten Künste, 1908. — Üb. d. Zweck der Kunst, 1912. — Krieg u. Kunst, 1915. — Nationale Kinoreform, 1918. — D. ästh. Illusion u. ihre Kritiker, in: Ann. d. Philos., 1919. — D. Kino in Gegenwart u. Zukunft, 1920. Languet, H u b e r t , geb. 1518 in V i t t e a u x (Cöte-d'Or), gest. 30. S e p t e m b e r 1581 in A n t w e r p e n . F r e u n d d e s M e l a n c h t h o n . F r a n z ö s i s c h e r D i p l o m a t . G a l t als V e r f a s s e r d e r u n t e r d e m N a m e n J u n i u s B r u t u s e r s c h i e n e n e n Vindiciae c o n t r a t y r a i m o s (1579).

Laotse — Larenz

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S c h r i f t e n : Briefe, 2 Bde., 1699. L i t e r a t u r : Lamare, Philibert de, Biographie L.s, 1700. — Blaset, J., H. L „ 1872. L a o t s e , chinesischer Weiser, lebte nach älterer Annahm« im 6. J h . v. Chr., nach neueren Vermutungen im 4, J h . v. Chr. als Staatsarchivar cum kaiserlichen Hofe. L. schrieb seine Lehre nieder im „ T a o T e King", dem Buch vom T a o und von seinem Wirken, „ T a o " (Weg) ist bei L. kosmisches, ethisches, logisches Prinzip. Eis ist Urwesen der Welt, Urgrund alles Seins und Lebens, sittliche Weltordnung und ihr Wirken im Menschen. Wer im Sinne des T a o sein Leben führt, ist wunschlos, frei von Begehrlichkeit, im Einklang mit dem waltenden Wesen. Im Grundzug ist L.s Lehre dem mystischen Pantheismus der europäischen Philosophie vergleichbar. Im Gegensatz zu L.s Weisheit steht die Lehre des Kungfutse. S c h r i f t e n : Buch vom höchsten Wesen und vom höchsten Gut (Tao-te-king), aus dem Chines, übers., mit Einl. vers. u. erläutert von Julius Grill, 1910. L i t e r a t u r : R. Wilhelm, L., Das Buch vom Sinn u. Leben, 1911; L. u. der Taoismus, 1925. — H. Haas, Das Spruchgut Kungtses u. L.s, 1920. — Henri Borei, Wu-Wei, übers, v. W. Zimmermann, Bern 1933. — Carl Dallago, L., Innsbruck 1927. — Otto Folberth, Meister Eckehart u. L., Mainz 1925. — Heinrich Stadelmann, Die Biologie des L., Kampen 1936. — Ders., L. u. d. Biologie, Genf 1935. Laplace, Pierre Simon, geb. 28. März 1749 in Beaumont-en-Auge, gest. 5. März 1827 in Paris. Französischer Mathematiker und Astronom. — L. gestaltet eine Theorie, nach der die Welt aus der Ballung von Nebelmassen entstanden ist. E r bildet die Fiktion eines Geistes, der von einer ihm bekannten Weltformel aus alle künftigen Zustände des Weltalls vorauswissen kann („Laplacescher Geist"). Die Wahrscheinlichkeit definiert L, als subjektive Ansicht von den Erscheinungen, beruhend auf unserer Mischung von Wissen und Nichtwissen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung kann zur Methode positiv-wissenschaftlicher Forschung werden. S c h r i f t e n : Mécanique céleste, 5 Bde., 1799—1825. — Essai philos, sur les probabilités, 1814, deutsch 1819 u. 1886. — Exposition du système du monde, 2 Bde., 1796; deutsch 1797. — Oeuvres compi., 7 Bde., Paris 1843—1848; hrsg. v. d. Académie des Sciences Morales et Politiques, 14 Bde., Paris 1878—1912. — Immanuel Kant u. Pierre Laplace, Die Kant-Laplacesche Theorie, eingel. u. hrsg. v. Heinrich Schmidt, 1925; in: Kröners Taschenausg., Bd. 46. L i t e r a t u r : Kaufmann, L., Paris 1841. — J . Bertrand, La théorie des probabilités de L., Journal des savants, 1887, p. 686. — Mises, R. v., Wahrscheinlichkeit, Statistik u. Wahrheit, 1928. Lapouge, Georges Vacher de, geb. 12. Dezember 1854 in Neuville de Poitou (Vienne) verstorben. — Der französische Anthropologe L. ist vor Gobineau Vertreter des Rassegedankens und zugleich Vertreter des sozialen Darwinismus. Geschichte ist beherrscht vom Kampf verschiedener Rassen, die nach dem Schädelindex zu unterscheiden sind. S c h r i f t e n : Les Sélections sociales, Paris 1896. — L'Aryen, son rôle social, Paris 1899; deutsch Frankfurt a. M. 1939. — Race et milieu social, Paris 1909. — Les lois fondamentales de l'anthroposociologie, in: Journ. of polit, economy, VI, 1897, Chicago. Larenz, Karl, geb. 23. April 1903 in Wesel. 1926 Dr. jur.; 1929 Privatdoz. in der rechts- und staatswiss. Fakultät Göttingen, o. Prof. Kiel 1933. S c h r i f t e n : Hegels Zurechnungslehre u. der Begriff der objekt. Zurechnung, 1927. — D. Problem der Rechtsgeltung, 1929. — Rechts- u. Staatsphilos. d. Gegenwart, 1931, 2. Aufl. 1935. — Hegels Dialektik des Willens u. d. Problem der jurist. Persönlichkeit, in: Logos, 1931. — Einführung in Hegels Rechtsphilos., zus. mit Jul. Binder und M. Busse, 1931. — Hegel u. d. Privatrecht, in: Verh. d. 2. Hegelkongr., 1932. — Rechts- u. StaatsPhilotopKtn-Lexikon

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Larochefoucauld — Lask

philos, des deutschen Idealismus, in: Handbuch d. Philos., Abt. 4, 1933. — Deutsche Rechtserneuerung u. Rechtsphilos., 1934. — Über Gegenstand u. Methode des völk. Rechtsdenkens, Berlin 1938. — Hegelianismus u. preuß. Staatsidee, Hamburg 1940. — Vertrag u. Unrecht, 2 Tie., Hamburg 1936/37. — Rechtsperson u. subjektives Recht, 1935. — Rechtsidee u. Staatsgedanke, in: Festschrift f. J . Binder, 1930. Larochefoucauld, Herzog François VI. von, geb. 15. Dezember 1613 in Paris, gest. 17. März 1680 ebda. — Ethiker, lehrte, daß alle unsere Handlungen aus der Selbstliebe entspringen. S c h r i f t e n : Réflexions ou sentences et maximes morales, 1665; dtsch.v. E. Hardt, 1906, v. F. Hörlek, Reclams Univers.-Bibl., Lpz. — Oeuvres, hrsg. v. D. L. Gilbert u. L. Gourdault, 4 Bde., Paris 1868—1881. L i t e r a t u r : H. G. Rahstede, Stud. zu L.s Leb. u. W., 1888. — Jovy, Deux inspirateurs peu connus des Maximes de L., Daniel Dywe et Jean Verneuil, Vitry-le-François 1910. — G. Tinivella, L. e le sue massime, Sondrio 1910. — R. Grandsaignes d'Hauterive, Le pessimisme de L., Paris 1914. — Gabriel de Larochefoucauld, Un homme d'église, F. d. L., Paris 1926. — Hess, Gerhard, L. Die Maximen, in: Dtsche. Vierteljahrschr. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch., Bd. 13, S. 456—489. — J Calvet, Hist. de la littérature française, Paris 1934, enthält Bibliographie L.s. Laromiguière, Pierre, geb. 3. November 1756 in Livignac-le-Haut (Aveyron), gest. 12. August 1837 in Paris. 1811 bis 1813 Professor der Philosophie an der Faculté des L e t t r e s in Paris. — L. lehrte, daß neben der Empfindung durch die Sinne eine besondere Aktivität der S e e l e angenommen werden müsse, mit deren Hilfe der Mensch das durch die Empfindung zuströmende Material b e a r b e i t e t . Das Bewußtsein hiervon ist von dem bloß Sinnlichen deutlich abtrennbar. Die fundamentale Leistung der S e e l e ist die Aufmerksamkeit. S c h r i f t e n : Leçons de philosophie ou essai sur les facultés de l'âme, 2 Bde., Paris 1815—18. — Projet d'eléments de métaphysique, 1793. — Sur les paradoxes de Condillac, 1805. L i t e r a t u r : Maine de Biran, Examen des leçons de philos, de L., 1817. — Lami, La Philos, de L., Paris 1887. — Alfarie, Prosper, L. et l'école, Paris 1929; in: Publications de la faculté des lettres de Straßbourg, II, 5. Lasaulx, Ernst v., geb. 16. März 1805 in Koblenz, gest. 10. Mai 1861 in München. 1835 Prof. der Philologie in Würzburg, 1844 Prof. der Philologie und Ästhetik in München. 1847 bis 1849 des Amtes enthoben. — Geschichtsphilosoph, für den die Menschheit ein organisches Ganzes ist und einen Gesamtwillen besitzt. S c h r i f t e n : Der Untergang des Hellenismus, 1854. — Üb. die theolog. Grundlage aller philos. Systeme, 1856. — Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philos, der Gesch., 1856. — Des Sokrates Leben, Lehre u. Tod, 1857. — Die prophetische Kraft der menschlichen Seele in Dichtern u. Denkern, 1857. — Die Philos, der schönen Künste, 1860. L i t e r a t u r : Holland, Erinnerungen an E. v. L., 1861. — R. Stölzle, E, v. L., 1904. — Alfons Koether, E. v. L. Geschichtsphilos. u. ihr Einfl. auf Jacob Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen", Diss., Münster 1937. Lask, Emil, geb. 25. S e p t e m b e r 1875 in Wadowice (Österr.), gefallen am 26. M a j 1915 in Galizien. In Freiburg Studium der Jurisprudenz und der Philosophie bei R i c k e r t . 1902 Dr. phil. mit einer Diss. über „Fichtes Idealismus und die G e s c h i c h t e " . In Heidelberg 1905 Habilitation bei Windelband mit einer Schrift über „Rechtsphilosophie" und mit einer Antrittsrede „Hegel in seinem Verhältnis zur Weltanschauung der Aufklärung". Erhielt Kuno Fischers lange unbesetzte Professur. D e r S y s t e m a t i k e r L., der vom Neukantianismus in R i c k e r t s Prägung seinen Ausgang nimmt, entwickelt eine Logik der Philosophie mit dem Ziel der Aus-

Lask

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Gestaltung einer Weltanschauung. Die erste, bis 1913 reichende und allein klar überschaubare Periode seines Philosophierens konnte man als einen durch Kant hindurchgegangenen Piatonismus (Herrigel), als eine Synthese zwischen der platonisch-aristotelischen Philosophie und dem modernen Kantianismus (Rickert), als einen Ansatz zur Überwindung des Neukantianismus in Richtung auf augustinische Metaphysik des Geistes deuten. D e r Nachdruck liegt auf dem gegenständlichen Sein, der objektiven Welt, so wie sie in Wahrheit ist; das erkennende S u b j e k t verhält sich demgegenüber „dienend", auch im unmittelbar-urbildlichen Erkennen. L.s Philosophieren nach 1913, das in seinem Nachlaß unabgeschlossen vorliegt, nähert sich einer A r t von Subjektivismus. Die Aussöhnung zwischen objektivistischer und subjektivistischer Deutung ist L. nicht mehr gelungen. D e r entscheidende Begriff nicht nur in der Logik, sondern für die Philosophie überhaupt ist der Begriff der Form, den L. mehr im antiken als im kantischen Sinne gebraucht. Urform, Urgestalt ist die Kategorie. „Indem die Kategorien sich als ein .Material' zur Gegenständlichkeit erhöhende .Formen' erweisen, so ist in der kategorialen F o r m das logische Urphänomen . . . zu erblicken" (Lehre vom Urteil, 1912, S. 2). Die Kategorie als Form und der Inhalt, der von ihr umschlossen wird, das Kategorienmaterial, sind also voneinander zu trennen. Durch das Material erst wird auch das reine mannigfaltigkeitslose Gelten, das in der Urform auf den Plan tritt, in eine Vielheit von urbildlichen Formen zerlegt; ihr Sinn, ihr Bedeutungsgehalt wird gleichfalls nur durch das Material verständlich. L, spricht hier von einem Differenzierungsprinzip. Soviel verschiedengeartetes Material vorhanden ist, so viele Formen des Materials gibt es. Mit dieser an sich bestehenden Entsprechung zwischen Seiendem und Geltendem hat das Subjekt nichts zu tun. Die Gegenstandsform, der urbildliche Formbegriff, die Kategorie wird vom erkennenden Subjekt völlig gelöst. Erkennen heißt, das All der Gegenstände ohne subjektive Zutat „so belassen, wie es in Wahrheit dasteht". Das Subjekt ist die „Erlebensrealität", die „Erlebenstatsächlichkeit", die Erlebensstätte für unsinnlichen Sachgehalt, Um dies im Rahmen seiner systematischen Voraussetzungen begreiflich zu machen, unterscheidet L. das leibhaft Seiende 1. als Material und 2. als Substrat des Geltungsgehalts. Von dieser Trennung, die das Problem der Subjektivität ihm aufgibt, geht der Umschwung in L.s philosophischem Denken aus. Der Bereich des Wirklichen im mundus sensibilis, wo das leibhaftig Seiende „ S u b s t r a t " des Geltungsgehalts ist, der Bezirk der lebendigen Subjektivität, wird gekennzeichnet durch Beriihrbarkeit von entgegengeltendem theoretischem Wertgehalt, von dem werthaften Gegenüber. Das Erleben erhält also seinen W e r t c h a r a k t e r vom transsubjektiven W e r t ; durch ihn wird es als „kontemplativt h e o r e t i s c h e " Subjektivität gestempelt. Kontemplativ sind ästhetisches und religiöses Verhalten, im Gegensatz zum praktischen Willensverhalten. Die kontemplativen W e r t e sind transpersonal, die praktischen personal. Sinnerfülltes L e b e n kann nur von den W e r t e n her verständlich gemacht werden. Alle Philosophie, die sich selbst versteht, muß Wertphilosophie sein. Das Differenzierungsprinzip, das L. anfänglich nur auf die theoretische Sphäre anwendet, wird schließlich über alle „ S i n n - " und „ W e r t " - G e b i e t e ausgedehnt. S c h r i f t e n : Fichtes Idealismus und die Geschichte, 1902. — Rechtsphilos., 1905. — Gibt es einen „Primat der prakt. Vernunft" in der Logik? Vortrag auf dem 3. Internat. Kongreß in Heidelberg, 1908. — Die Logik der Philos. u. d. Kategorienlehre, 1910: — Die Lehre vom Urteil, 1911. — Gesammelte Schriften, 3 Bde., hrsg. v. Eugen Herrigel, mit Geleitwort v. Heinr. Rickert, 1923—24, in Bd. III: Nachlaß-Schriften. L i t e r a t u r : Georg Pick, Die Übergegensätzlichkeit der W e r t e , Gedanken über das rel. Moment in E. L.s Log. Schriften vom Standpunkt des transzendentalen Idealismus, 2*

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Lassalle

1921. — Friedrich Kreis, Zu L.s Logik der Philos-, in Logos X, 1921—22, S. 227—243. — Eugen Herrigel, E. L.s Wertsystem, Versuch einer Darstellung aus seinem Nachlaß, in Logos XII, 1923—24, S. 100—122.

Lassalle, Ferdinand, geb. 11. April 1825 in Breslau von jüdischen Eltern, ¿est. 31. August 1864 in Genf. Studierte an den Universitäten Breslau und Berlin Philosophie, wurde in Berlin mit Humboldt, Savigny, Böckh bekannt, unterbrach aber seine erfolgreich begonnene Gelehrtenlaufbahn, um für die Gräfin Hatzfeld acht Jahre hindurch ihren Scheidungsprozeß zu führen. Er verlegte im Laufe des Prozesses seinen Wohnsitz nach Düsseldorf, wurde 1848 mit rheinischen Demokraten bekannt, forderte das Volk zu bewaffnetem Widerstand auf, als die Regierung die Nationalversammlung gewaltsam auflöste, und wurde verhaftet. Er verteidigte sich, wurde freigesprochen, aber wegen eines verwandten Deliktes zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Diese büßte er ab, nachdem er es abgelehnt hatte, ein Gnadengesuch einzureichen. Damit begann seine politische Laufbahn. Sie führte ihn in leidenschaftliche Kämpfe für die Arbeiterschaft gegen den bürgerlichen Liberalismus (Fortschrittspartei, Schultze-Delitzsch), zugleich aber mit dem Bürgertum gemeinsam gegen die Reaktion. Ein Höhepunkt seiner politischen Tätigkeit war der 12. April 1862 mit dem Vortrag über den „Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes", dem sogenannten „Arbeiterprogramm". Dieser Vortrag brachte ihn wieder vor die Schranken des Gerichts. Er verteidigte sich stolz: sein Leben sei der freien Wissenschaft und dem Arbeiter geweiht, und ließ seine Verteidigungsrede unter dem Titel drucken: „Die Wissenschaft und die Arbeiter". Er bekämpfte den Staatsanwalt, einen Sohn Schellings, mit Zitaten aus den Werken seines Vaters, betreffend die Freiheit des Geistes, und wurde zu Gefängnis verurteilt. Dieses Schicksal traf ihn noch häufiger. Den ersten organisatorischen Ansatz zur Realisierung seiner Ideen fand er im Jahre 1863. Ein Zentralkomitee für Arbeiterinteressen in Leipzig wandte sich an ihn und fragte um seinen Rat. Sein offenes Antwortschreiben an dieses Komitee vom 1. März 1863 begründete die sozialistische Bewegung in Deutschland. Es forderte die Arbeiter auf zum Zusammentritt in einer selbständigen politischen Arbeiterpartei. Heftige Kämpfe gegen den Liberalismus und sein Streben zum Einheitsstaat, das ebenso gegen den Föderalismus wie gegen die Dynastien gerichtet war, führten ihn in die Nähe Bismarcks, der ihn einige Male empfing, seine Agitation auch im Interesse der eigenen antiliberalen Politik zu gebrauchen wußte, ohne ihn jedoch zu unterstützen. Der eigentlich große Erfolg für Lassalle blieb aus. Seine Agitation, die schweres gelehrtes Rüstzeug mit leidenschaftlichem Pathos vereinigte, weckte zuerst das Klassenbewußtsein der Arbeiter, indem er von dem Prinzip der Arbeit, als der schlechthinigen Grundlage der Wirtschaft, ausgeht und die Besitzordnung angreift, die im Lohn dem Arbeiter nicht den Gegenwert seiner tatsächlichen Leistung garantiere. Äußerlich erreichte L. nichts. Immer neue Verfolgung und Inhaftierung zerstörten seine Nervenkraft. Er fiel im Duell wegen einer Liebesangelegenheit von der Kugel eines Rumänen. In seinen stark erlebten philosophischen Überzeugungen ist L. vor allem von Hegel und Fichte aus zu verstehen, während seine nationalökonomischen Theorien westlich orientiert sind. Ganz unter dem Einfluß Hegels steht die Erforschung der Philosophie „Heraklits des Dunklen", die in Berlin abgeschlossen wird, wo er durch Vermittlung A, von Humboldts beim König von Preußen die Erlaubnis zur Niederlassung erhält, und die 1857 erscheint. Das Werk, mit eindringlicher Spezialkenntnis verfaßt, erläutert die Begriffe und überlieferten Fragmente aus dem Geiste Hegels heraus. So heißt es z. B.: „Die Welt ist somit die beständige

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Einheit der beiden entgegengesetzten Momente des Sein und Nichts, des zur Genesis (Geburt) und des zur Ekpyrosis (Aufhebung, Negation) führenden. Sie besteht also nur dadurch, daß sie die yéveatí wie die éxitópoxjtí und das Umschlagen beider Seiten ineinander beständig in sich hat. Beide Momente sind ihr gleich wesentlich. Die Welt ist so Einheit des Entstehens und Vergehens oder immer werdendes Werden" (I, 129). Die Hegeische Dialektik behält indessen keine entscheidende Macht über sein Denken, und sein Sozialismus hält sich wesentlich an Fichte. Die charakteristische Verschiedenheit, die ihn von dem an Hegel orientierten Marxismus trennt, formuliert L. einmal bei Gelegenheit der Verteidigung seines SickingenDramas gegen die Kritik von Marx und Engels in einem Brief an diese beiden Freunde: „Geht man von der Hegeischen konstruktiven Geschichtsauffassung aus, der ich ja selbst so wesentlich anhänge, so weiß man sich freilich mit euch zu antworten, daß in letzter Instanz der Untergang dort notwendig eingetreten wäre und eintreten mußte, weil Sickingen, wie ihr sagt, ein au fond reaktionäres Interesse vertrat, und daß er dies wieder notwendig mußte, weil ihm Zeitgeist und Klasse das konsequente Einnehmen einer anderen Stellung unmöglich machten. Aber diese kritisch-philosophische Geschichtsanschauung, in der sich eherne Notwendigkeit an Notwendigkeit knüpft, und die eben deshalb auslöschend über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinwegführt, ist eben darum kein Boden weder für das praktische revolutionäre Handeln noch für die vorgestellte dramatische Aktion. Für beide Elemente ist vielmehr die Voraussetzung von der umgestaltenden und entscheidenden Wirksamkeit individuellen Entschließens und Handelns der unerläßliche Boden" (Briefwechsel, Ausg. Mehring, S. 156). In der damit bezeugten Geistesart Lassalles liegen der innere Grund und die tiefere Rechtfertigung dafür, daß er Fichte als seinen politischen Kronzeugen anruft und von ihm 1860 Fragmente über deutsche Einheit herausgibt. Einige J a h r e später feiert er ihn in der Berliner Philosophischen Gesellschaft mit dem Vortrag über ,,Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgeistes", der mit den Worten schließt: „An dem Tag, wo alle Glocken läutend die Fleischwerdung dieses Geistes, das Geburtsfest des deutschen Staates verkünden werden, — an diesem Tage werden wir auch das wahre Fest Fichtes, die Vermählung seines Geistes mit der Wirklichkeit feiern". In L.s begleitendem T e x t zu den Fragmenten heißt es: „Ist ein noch so großer überallher versammelter Haufe von Leuten ein V o l k ? Gewiß nicht. Zu einem Volke ist vielmehr noch erforderlich, daß dieser Haufe in ursprünglicher Weise von demselben identischen und bestimmten Geiste beseelt sei, der einem Volke eben durch Rassenabstammung, Tradition und Geschichte vermittelt wird. Dies ist ein Volk, aber nur erst an sich. Das Volk ist dann zu vollendeter Wirklichkeit gelangt, oder das Volksein ist dann, wie Fichte sagt, in sein Bewußtsein und sein wahrhaftes Sein übergegangen, wenn es diesen gemeinschaftlichen eigenen ursprünglichen Geist nun auch selbst heraussetzt und entwickelt. Alle Geschichte und aller Drang eines Volkes besteht in nichts, als in der Verwirklichung dieses Geistes. E i n Volk ist frei, wenn es diese Selbstverwirklichung seiner bewußt ausführen kann. Ein solches Volk läßt sich daher nie erobern oder zu dem Anhängsel eines anderen machen, weil es dann statt wie bisher sich selbst zu verwirklichen, einem anderen und fremden Geist und Willen hingegeben ist, und somit jetzt wahrhaft beherrscht, aus Freien in Sklaven verwandelt wäre" (3. Aufl., 1871, 6). L. erinnert gegen die „Hohlheit und Leerheit des nur auf der persönlichen Willkür beruhenden Liberalismus" an Fichtes Freiheitsidee, die auch den Zwang zur Freiheit und die Befreiung von diesem Zwang durch die Einsicht des

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Rechts kennt (10 f.), und wendet sich gegen den Föderalismus: „Neben diesem großen Gegensatz von Föderation und Volkseinheit sinkt sogar der Gegensatz zwischen Monarchie und Republik zu einem relativ unbedeutenden herab" (14); „die größten Gegensätze lassen sich daher unter einer vernünftigen Staatseinheit zusammenfassen, wenn sie nur dabei auch wieder irgendeinen gemeinschaftlichen Grundcharakter haben, wie er bei uns in Abstammung, Bedürfnis, literarisch und wissenschaftlicher Einheit usw. vorliegt" (18). Damit ist L.s philosophisch begründete staatspolitische Grundanschauung gegeben. Im übrigen erklärt er Lessing und Friedrich II. von Preußen für die Hauptfiguren in der literarischen Epoche des vorigen Jahrhunderts. Die Bearbeitung des Hatzfeldschen Prozesses führt ihn in juristische Studien, deren Ergebnis ein „System der erworbenen R e c h t e " (1861, 2 Bde.) ist. Das historische Denken Hegels wirkt nach, die Formalistik des dialektischen Schemas fällt fort. Die Geschichte wird wesentlich als Prozeß gesehen, in dem die Entwicklung der Institutionen mit der Entwicklung der Ideen zusammenfällt. Die einzelnen Rechtsinstitute sind entsprechend historische, nicht dogmatische Kategorien. Sogar das Naturrecht selbst ist „historisches Recht, eine Kategorie historischer Natur und Entwicklung; denn der Geist selbst ist nur ein Werden in der Historie" (I, 70). Wesentlich ist die daraus von L. gezogene Folgerung, daß zwischen dem germanischen und römischen Eigentumsbegriff, wie auch zwischen den übrigen Grundbegriffen beider Rechte, scharf unterschieden werden muß. Trotz dieses Historismus in der Grundanschauung bleibt L. dogmatisch konstruktiv, wenn er etwa aus dem alten Naturrecht den Satz übernimmt, das Privatrecht sei die Realisation der Freiheit des Individuums (I, 57). So kommt er zu einer Definition der erworbenen als der Rechte, welche durch freie Willensaktionen vermittelt sind (I, 85) — Fichtes Denken scheint wieder durch! — und die das Individuum ganz zu seiner T a t gemacht, „vereinigt" hat (I, 142). Dies bleibt die eigentliche Leistung Lassalles: deutschen Idealismus, verbunden mit sozialistischer und nationaler Gesinnung im Geiste Fichtes, übergeführt zu haben in unmittelbare, politische Aktion des deutschen Arbeiters, den er zuerst in weiterem Maße zum Bewußtsein seiner eigenen Stellung im Staat und damit seines Anrechts auf Unterstützung von seiten des Staates gebracht hat. In diesem Sinne gibt er im J a h r e 1861 zwei entscheidenden Eigentumsfragen ihre politische Formulierung: ob der öffentliche Wille einer Nation Eigentum einer Familie sei, d. i. ob in Frankreich sich eine Dynastie erhalten könne und ob in Deutschland sich der Volksgeist zerteilen und Eigentum der deutschen Fürsten bleiben könne; und ob andererseits in Hinsicht auf die soziale Problematik die freie Betätigung und Entwicklung der Arbeitskraft ausschließlich Privateigentum des Besitzes von Arbeitssubstrat und Arbeitsverhältnis (Kapital) sein, und ob ferner infolgedessen dem Unternehmer als solchem und abgesehen von der Remuneration seiner geistigen Arbeit ein Eigentum an fremdem Arbeitswert zustehen solle als Kapitalprämie, Kapitalprofit, der sich bildet durch die Differenz zwischen dem Verkaufspreis des Produktes und der Summe der Löhne und Vergütungen sämtlicher, auch geistiger Arbeiten, die in irgendwelcher Weise zum Zustandekommen der Produkte beigetragen haben (I, 264). Die geschichtsphilosophische Antwort auf diese Fragen liegt im „Arbeiterprogramm". Sie ist abgefaßt in grundsätzlich idealistischem Sinn: eine neue Idee in der Geschichte bedingt allein eine neue Periode, sie allein bewirkt eine Revolution. Diese Idee muß aber bereits in der Wirklichkeit vorgestaltet sein. Hierin wirkt Hegels Theorie vom Geist in seinem „Ansichsein" nach, ohne daß dieser aber, wie bei Marx, im Begriff der Produktionsverhältnisse und Produk-

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tionsfaktoren zu einem materialistisch genannten „Unterbau" verhärtet wird. Die neue Idee ist die des Arbeiterstandes, sie allein hebt das bisher noch geltende Prinzip der Klassen auf, das zur Unterdrückung des Volkes durch wenige Besitzende führte, und mit der Freiheit des Arbeiterstandes beginnt die Freiheit aller — denn alle sind Arbeiter! Dieses Prinzip wird wesentlich ethisch gefaßt. Seine Verwirklichung soll erfolgen durch das allgemeine Wahlrecht und den Staat. S c h r i f t e n : Vollständige Ausgabe in 12 Bänden, hrsg. von Eduard Bernstein, 1919—20. — Nachlaß in 6 Bdn., hrsg. von Gustav Mayer, 1921—25. L i t e r a t u r : E. Bernstein, L, u. seine Bedeutung für die dte. Arbeiterklasse, 1904; 2. A. 1919. — Hermann Oncken, L., 4. Aufl. 1923. — Karl Vorländer, Marx, Engels und L. als Philosophen, 3. A. 1926. — Thier, Erich, Rodbertus, L., Adolf Wagner, Diss., Leipzig 1930. — Ebeling, Hans, Der Kampf der Frankfurter Zeitung gegen F. L., 1931; in Arch. für die Gesch. d. Sozialismus, Beiheft 4. — Paul Grebe, D. Arbeiterfrage bei . . . Aufgezeigt an ihrer Auseinanders. mit Lassalle, Berlin 1935. — Gustav Mayer, L., 1925; Bismarck und L., 1928. — D. Footman, L., London 1946. — W. Ziegenfuß Die Genossenschaften, 1948.

Lasson, Adolf, geb. am 12. März 1832 zu Altstrelitz als Sohn eines jüdischen Kaufmanns, gest. 19. Dezember 1917 zu Berlin. Studierte von Frühjahr 1848 bis 1852 in Berlin Philosophie, klassische Philologie und Rechtswissenschaft. Seit 1860 Lehrer, von 1873 an Prof. am Luisenstädtischen Real-Gymnasium in Berlin. 1861 in Leipzig Promotion zum Dr. phil. 1877 habilitierte L, sich in Berlin für Philosophie, 1897 wurde e r dort o. Hon. Prof., 1910 und 1912 Ehrendoktor der theologischen und der juristischen Fakultät. — L.s philologische Studien standen im Zeichen Böckhs, Lachmanns, Trendelenburgs. Für die Vertiefung in die Philosophie fand er einen Gefährten an dem etwas älteren Friedrich Überweg; gemeinsam mit ihm las L. die theologischen Werke von David Friedrich Strauß. Während der Studienzeit schlössen sich beide an die Lehren Friedrich Benekes an; sie waren sich einig in einer besonderen Verehrung Schillers. Auch als die ehemaligen Studienfreunde sich längst nach verschiedenen philosophischen Denkrichtungen entwickelt hatten, zog Überweg L. zur Mitarbeit heran; er übertrug ihm den Abschnitt über die deutschen Mystiker des 14. und 15. Jhs, in seinem „Grundriß der Gesch. der Philosophie" (1862—66). In Berlin hat L. längere Zeit neben Michelet gewirkt. Er führte Jahre hindurch den Vorsitz der Berliner „Philosophischen Gesellschaft". Mit der für ihn üblichen Kennzeichnung ajs Hegelianer ist L.s Stellung innerhalb der philosophischen Entwicklung nicht genügend charakterisiert. Er war der Hüter des philosophischen Gedankenguts des deutschen Idealismus, ein Verkünder der schöpferischen Macht des Geistes in einem von den Naturwissenschaften beherrschten, dem Positivismus verfallenen und von dem schrankenlosen Vermögen der Psychologie durchdrungenen Zeitalter. Die Philosophie von dieser Knechtschaft zu befreien und an ihren Urquell zur Überzeugung von der Schöpferkraft der Vernunft zurückzuführen, sah L. als seine Aufgabe an. Systemschöpferisch ist L. nicht gewesen, und auch die Philosophie als Fachwissenschaft hat von ihm keine wesentliche Bereicherung erfahren. Aber die Kraft und Überzeugungstreue, mit der er seine metaphysischen Ansichten verfocht und begründete, seine rhetorische und stilistische Begabung sicherten ihm starke Lehrwirkung in Wort und Schrift. Aufgabe der Philosophie ist es nach L., im Seienden die Vernunft zu erkennen, die ihm innewohnt (immanent ist). Nur der ist vom Geist der Philosophie ergriffen, der die Idee in ihrer schöpferischen Gestaltungskraft erfaßt hat, und nicht derjenige, der sich allein an die Verwirklichung der Idee in einem Einzelnen hält, wie viele Zeitgenossen L.s mit ihrer Versklavung an Kant. Das All-

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gemeine ist die schöpferisch gestaltende Macht der Vernunft, in der und durch die die einzelnen Dinge sind. Die konkreten geschichtlichen Erscheinungen sind Träger dieser vernünftigen Kraft. Wie alle weltgeschichtlich bedeutungsvollen Persönlichkeiten, so hat man auch die großen Philosophen anzusehen als Selbstoffenbarungen des einen schöpferischen Geistes. Die Entwicklungsbahn des Geistes führt in der Geschichte der Philosophie von Aristoteles zu Hegel. Die griechische Philosophie und ihre Gipfelerscheinung Aristoteles haben die entscheidende philosophische Frage gestellt: die Frage nach dem Denken, das sich selbst zum Objekt hat, oder nach dem sich selbst denkenden Denken. Eine erste Lösung haben erst zweitausend Jahre später Kant und in seinem Gefolge Fichte, Schelling und Hegel gefunden. Von einer solchen Betrachtung der philosophiegeschichtlichen Entwicklung aus erklärt es sich, daß L. den Einklang zwischen Aristoteles und Hegel behauptet hat. Er sieht den Gang der Philosophie als klare systematische Entwicklung, in der sich im dialektischen Spiel die Entfaltung der Vernunft vollzieht. Seine Auffassung der Geschichte der Philosophie ist verwandt mit der Kuno Fischers und Wilhelm Windelbands. In seinem Glauben an die Schöpferkraft und an die absolute Spontaneität des Geistes, der Vernunft, hält L, unbedingt an Hegel fest. Vernunft ist nach ihm erzeugende Kraft, organisch-schöpferisches und zweckbestimmtes Vermögen. Der Gedanke, der Begriff ist lebendige Wirklichkeit. Leben und Denken, Begriff und Anschauung, Gefühl und Gedanke sind innerlich verbunden. Vom Rationalismus und von der Mystik ist L.s Standpunkt gleich weit entfernt. Mit Hegel einig ist L. auch in seiner Auffassung des Verhältnisses von Religion und Philosophie: beide haben die lebendige Erfassung des Unbedingten zu ihrem Gegenstand; verschieden ist nur die Form. Was die Griechen auf dem Weg des philosophischen Denkens fanden, das haben die Vertreter des Christentums in der Form der Religion erfaßt. So ist L. der Meinung, Paulus habe Aristoteles gegenüber nichts Neues ausgedrückt, und der schöpferische Geist des Christentums sei im Grunde hellenischen Ursprungs. Das Prinzip des Christentums ist die Freiheit. Als Repräsentant des universellen, des Weltgeistes ist der Einzelne frei, autonom (selbstbestimmt). Diese Freiheit gibt sich Gestalt, objektiviert sich in der kirchlichen Glaubensgemeinschaft. Luther ist das Bindeglied zwischen dem paulinischen Christentum und dem deutschen Idealismus. Er erhebt die Freiheit zum Prinzip der Theologie, der deutsche Idealismus erhebt sie zu dem der Philosophie. L. war zwar auf die systematische Zusammenfassung des Einzelwissens aus, jedoch keineswegs ein Verächter einzelwissenschaftlicher Forschung. Ihn beseelte ein enzyklopädischer Drang, und sein eigenes Wissen umspannte viele Gebiete: Religion (L., eine stark religiöse Natur, war in jüngeren Jahren zum evangelischen Christentum übergetreten), Rechtswissenschaft, Pädagogik, Volkswirtschaft. Seine Sprachfähigkeit machte ihn zum ausgezeichneten Übersetzer (Aristoteles, Giordano Bruno) und fand ihren Niederschlag in lyrischen Versuchen. Der Ethik setzte L. als Ziel, zu zeigen, wie bei wirklicher Willensbetätigung die Vernunft sich ausdrückt; der Rechtsphilosophie hat er als Aufgabe bestimmt, das vorhandene Recht in seinem vernünftigen inneren Zusammenhang und in seiner Verbindung mit den übrigen Erscheinungen des Lebens zu begreifen. S c h r i f t e n : Baco von Verulams wissensch. Prinzipien, 1860. — Joh. Gottl. Fichte im Verhältnis zu Kirche u. Staat, 1863. — Meister Eckhart der Mystiker, 1868. — Das Kulturideal u, der Krieg, 1868 (begründet die Notwendigkeit des Krieges als eines sittlichen Faktors der Menschheitsgeschichte). — Prinzip u. Zukunft des Völkerrechts, 1871.

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— Giordano Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip u. dem Einen, 1872, Phil. Bibl., Bd. 21; 4. Aufl. 1923. — De causis finalibus, 1876. — Üb. Gegenstand u. Behandlungsart der Religionsphilos., 1879. — System d. Rechtsphilos., 1882. — Entw. des religiösen Bewußtseins der Menschheit, 1883. — Der Satz vom Widerspruch, 1886. — Armenwesen u. Armenrecht, 1887. — Zeitliches u. Zeitloses, 8 Vortr., 1890. — Das unendlich Kleine im wirtschaftl. Leben, 1891. — Das Gedächtnis, 1894. — Der Leib, 1898. — Üb. den Zufall, Vortr. d. Kantges. Nr. 18, 1918. — Übersetzungen von Aristoteles, Metaphysik, 1907; Nikomachische Ethik, 1909; Über die Seele. L i t e r a t u r : Killinger, Philipp, A. L.s Religionsphilos., Diss., Erlangen 1913. — A. Liebert u. F. J. Schmidt, A, L. z. Gedächtnis, Kantstudien, Bd. 23 (1918), Heft 1, S. 101 ff. — F. J. Schmidt, Gedenkblatt, Kantstudien 37 (1932), Heft 1/2, S. 220 ff.

Lasson, Georg, geb. 13. Juli 1862 in Berlin, gest. 2. Dez. 1932. Sohn Adolf Lassons, evangelischer Pfarrer an der Bartholomäuskirche in Berlin. 1921 Ehrendoktor der philos. Fakultät an der Universität Kiel. Von seinem Vater Adolf Lasson übernahm L. die Aufgabe, das Erbe des deutschen Idealismus lebendig zu halten und weiterzugeben. Es war sein Hauptanliegen, dem System Hegels durch Veranstaltung einer vorzüglichen Gesamtausgabe erneut zu umfassender Wirkung zu verhelfen. L. hat damit der Wiederbelebung Hegels vorgearbeitet und ihren Anstieg unterstüzt. Bei seinem Tode war das Herausgeberwerk fast abgeschlossen; nur die Vorlesungen über Geschichte der Philosophie und Teile der Ästhetik fehlten noch. Einzelne Bände hat L. mit ausführlichen Einleitungen versehen, die tief in die Philosophie Hegels eindringen, so die „Logik", die er 1922 nach achtzig Jahren zum ersten Male wieder herausgab. Was er von dieser Schrift Hegels sagt (Phil. Bibl. Bd. 56, S. XI, 1923), könnte als Motto für die ganze Ausgabe dienen; „Wenn sie jetzt aus ihrer Verborgenheit wieder hervortritt, so handelt es sich nicht um die künstliche Auffrischung eines endgültig Verstorbenen, sondern um die Auferstehung eines vorschnell zu den Toten Geworfenen." L. will das Werk Hegels geschichtlich verstehen, und auf Grund dieses Verständnisses seinen bleibenden Wert ermitteln. Der Philosophie seiner eigenen Zeit, besonders der letzten Jahrzehnte, ist L. abgeneigt. Er vermißt in ihr die Einsicht, „daß nicht Intuition und nicht Divination, sondern allein Begriff und Methode der Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis der Wahrheit und des Lebens, zum begreifenden Selbstbewußtsein des Geistes bereiten können" (Einl. z. Logik, S. XIII). — „Nie war uns die Wiedergeburt des vernünftigen Selbstbewußtseins nötiger denn heut", im Jahre 1923 (S. CVI). — Als protestantischer Theologe hat L. sich bemüht, den Spuren der spekulativen Dogmatik zu folgen und den Glaubensinhalt in philosophische Begriffe zu fassen, um so dem philosophischen Idealismus eine religiöse Grundlage zu geben. L. kämpft auch hier für eine „absolute Philosophie". S c h r i f t e n : Gottes Sohn im Fleisch, 1892; 2, Aufl. 1899. — Zur Theorie des christl. Dogmas, 1897. — Zinzendorf, 1900. — J. G. Fichte u. s. Schrift üb. d. Bestimmung des Menschen, 1908. — Beitr. z. Hegelforschung, 2 Bde., 1909. — Grundfragen der Glaubenslehre, 1913. — Was heißt Hegelianismus? 1916. — Hegel als Geschichtsphilosoph, 1920; 2. Aufl. 1922. — Krit. u. spekulativer Idealismus, Kantstud. 27, H. 1/2, S. 1—58 (1922). — Hegel u. d. Gegenwart, Kantstud. 36, H. 3/4, S. 226—276 (1932). — Hrsg.: G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke, Philos. Bibl., 18 Bde. L i t e r a t u r : Zum 70. Geburtstag G. L.s, Kantstudien 37, H. 3/4, p. 314 (1932).

Lasswitz, Kurd, geb. 20. April 1848 in Breslau, gest. 17. Oktober 1910 in Gotha. — L. steht dem kritischen Idealismus von Hermann Cohen nahe und verbindet diesen mit dem metaphysischen Standpunkt von Fechner. S c h r i f t e n : Atomistik u. Kritizismus, 1878. — Die Lehre Kants von d. Idealität des Raumes u. d. Zeit, 1883. — Gesch. d. Atomistik v. Mittelalter bis Newton, 2 Bde., 1889

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Laue — Laurie

bis 1890; 2. Aufl. 1926. — G. Th. Fechner, 1896; 3. Aufl. 1910. — Wirklichkeiten. Beiträge zum Weltverständnis, 1900; 4. Aufl, 1921. — Religion u. Naturwiss., 1904. — Seelen u. Ziele, 1908. — Auf zwei Planeten (Marsroman), 1897. L i t e r a t u r : Friedr. Dittes, Eine Verjüngung des absoluten Idealismus, Pädagogium, 1884. — Vorländer, in: Z. f. Philos., Bd. 120, 1902. — Hans Lindau, in: Kantstudien, Bd. 16, 1911.

Laue, Max v., geb. 3. Oktober 1879 in Pfaffendorf bei Koblenz. Physiker, Dr. phil. Dr. med. h. c. Dr.-ing. e. h. Privatdoz. in Berlin 1906, München 1909. A. o. Prof. in Zürich 1912, o. Prof. in Frankfurt 1914, in Berlin 1919, nach 1945 in Göttingen. Nobelpreisträger 1914.

S c h r i f t e n : Das Relativitätsprinzip, 1911; 2. Aufl. 1913. — Die Relativitätstheorie, I, 4. Aufl. 1921; II, 2. Aufl. 1923 f. — Üb. d. Auffindung d. Röntgenstrahlinterferenzen, 1920. — Das Elektron . . . , Berlin 1934. — Energiesatz u. neuere Physik, 1943. — (Mit F. Möglich) Über das magnetische Feld, 1933. — Die Interferenzen v. Röntgen- u. Elektronenstrahlen, 1935. — Korpuscular- u. Wellentheorie, 1933. — Materiewellen, 1944. — Röntgenstrahlinterferenzen, 1941. — Gesch. d. Physik, 1946. — Theorie d. Supraleitung, 1947. L i t e r a t u r : Zehn Jahre Laue-Diagramm, 1923; in: Die Naturwiss., Jg. 10. — Kraus, Oskar, Offene Briefe an . . . M. v. L. üb. d. gedankl. Grundlagen der speziellen u. allg. Relativitätstheorie, 1925.

Laarie, Simon Somerville, 1829 bis 1909. Prof. der Pädagogik zu Edinburg. L. entwickelt seine Theorie des Erkennens von dem Wesensunterschied her, den er zwischen dem Bewußtsein des Tiers und des Menschen findet. Das Bewußtsein des Tiers ist wesentlich objektgebunden und kennt keine eigene Aktivität. Es entfaltet sich in drei Stufen. Auf der ersten lebt das Tier in der bloßen Zuständlichkeit eines subjektiven Gefühls. Auf der zweiten beginnt sich ihm im Empfinden eine Dualität von Objekt und Subjekt aufzutun. Auf der dritten hat es (in der „Attuition") ein klares Bewußtsein der Gegenständlichkeit, die es jedoch nicht verdeutlicht. Als Subjekt besitzt es von sich kein eigenes Selbstbewußtsein, sondern hängt in seinem Leben von dem Objekt völlig ab. Mit dem Menschen erst beginnt das Subjekt ein Bewußtsein seiner selbst im Unterschied vom Objekt zu entfalten. Es tritt dem Objekt in freier Aktivität entgegen. Ein Ausdruck dieser Aktivität ist seine Fähigkeit, zu erkennen. Schon in seiner Wahrnehmung drückt es Spontaneität aus. In der Wahrnehmung ist es zugleich sich seiner selbst bewußt. Eine absolute Trennung besteht nicht zwischen dem Subjektiven und dem Objekt. Beide, aufgefaßt als Inneres und Außeres, sind Beziehungsbegriffe, und L. hegt letzten Endes die Uberzeugung, das die Welt und den Menschen schaffende Wesen könne nicht im Menschen die hohe Kraft der Erkenntnis geschaffen haben, wenn diese Erkenntnis nicht in der Lage sei, die Wirklichkeit als solche einheitlich zu erkennen. Eine Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen und den wirklichen Dingen muß festgehalten werden. L. geht weiter zu der metaphysischen These, daß ein Vernunftwille (will-reason) in gleicher Weise der Wirklichkeit, wie der Erkenntnis zugrunde liegt. Diese Vernunft zu realisieren, ist auch im Ethischen die Aufgabe des Menschen. Die letzte Fassung seiner Philosophie gestaltet L. als Ontologie und Religionsphilosophie. Die Ontologie beruht auf der vernünftigen Intuition als der höchsten Stufe menschlicher Erkenntnis. Gott selbst ergibt sich ihr, vom menschlichen Standpunkt aus gesehen, als die Totalität unserer Erfahrung und gegenständlich als die Kontinuität unseres Lebens mit dem Sein. Für das einzelne menschliche Wesen erscheint er als transzendent. An und für sich ist er dem Sein immanent. Durch diesen doppelten Charakter seiner Immanenz und Transzendenz entsteht

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eine Spannung der Individuen gegen Gott, die in ihrer Besonderheit sich gegen ihn als Negationen verhalten können. Diese Negativität des Einzelwesens erscheint, wenn man das Übel in der Welt betrachtet, so stark, daß sie Gott selbst in Schwierigkeit zu bringen vermag. Nur indem die Einzelwesen sich zu seinen Mitwirkenden machen, gelingt eine Aussöhnung des Einzelwesens in seiner Negativität mit dem Ganzen des Universums. S c h r i f t e n : Philosophy of Ethics, Edinb. 1866. — Metaphysica, Nova et Vetusta, A Return to Dualism, 1884; 2. Aufl. 1889. — Ethica or the Ethics of Reason, 1885; 2. Aufl. 1891. — Institutes of Education, Edinb. 1892; 2. Aufl. 1899. — Synthetica, being Meditations Epistemológica! and Ontological, 2 vols., Lond. 1906. L i t e r a t u r : J. B. Baillie, L.s Natural Realifcm., in: Mind, 1908—09. — G. Remacle, La Philos. de S. S. L., Paris 1910. — Munker, Friedr., Wissenschaft. Strömungen in der mod. engl. Pädagogik im Anschluß an A. Bain u. S. S. L., Diss., Jena 1912.

Lavater, Johann Caspar, geb. 15. November 1741 in Zürich, gest 2. Januar 1801 ebda. Der Pfarrer L. vertritt als religiöser Schriftsteller den Sturm und Drang. Das Suchen nach einer theoretischen Grundlage für sein religiöses Erleben treibt ihn zur Philosophie. L. ist ein unsystematischer, gefühlsbestimmter Denker, der in sprunghaftem, lebendigem Stil dem fühlend Erkannten Ausdruck gibt, und sich zu der Art seines Philosophierens durch große Vorbilder berechtigt glaubt: „Wer verlangt, daß man bei Betrachtungen über die zukünftige Glückseligkeit immer kalt bleiben, auch da, wo man nur untersucht, immer mit der Ängstlichkeit eines gefühllosen Pedanten alle Bilder entfernen soll, der scheint nicht billig zu sein; scheint zu vergessen, daß sogar die größten philosophischen Genies, sogar da, wo sie metaphysizierten, die Sprache der Einbildungskraft liebten und mit Nutzen brauchten, Baco, Cartes, Kepler, Leibniz sind Beispiele davon" (Aussichten in die Ewigkeit II, S. CXVI f.). In den Gedankengängen der Aufklärung, besonders der Wolffischen Philosophie aufgewachsen, gerät L, in den sechziger Jahren unter den Einfluß von Charles Bonnet, der als Naturforscher Wirklichkeitssinn und Offenbarungsgläubigkeit verbindet. L. übersetzt seine „Philosophische Palingenesie" (um 1770). Im Jahre 1773 steht er in den Reihen der Stürmer und Dränger und bekennt sich zu Rousseaus Verkündigung der Gefühlsunmittelbarkeit. Empfinden, Fühlen, unmittelbares Erfahren, innerliches Erleben sind nun für ihn eins. Herder und Goethe gewinnen ihn für die Geniebewegung. Ihren Niederschlag findet seine Philosophie der Genialität in den „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe". Die Physiognomik ist ein neues Auge, die Ausdrücke der göttlichen Weisheit und Güte zu bemerken. Nur der Kenner des menschlichen Gesichts versteht die Natursprache des Genies, die Natursprache der Weisheit und Tugend. Diese Menschenkenntnis schadet der Menschenliebe nicht. Unter Physiognomik versteht L. den Schluß vom Äußeren auf den Charakter des Menschen, die „Fertigkeit, durch das Äußerliche eines Menschen sein Inneres zu erkennen, das, was nicht unmittelbar in die Sinne fällt, vermittelst irgendeines natürlichen Ausdrucks wahrzunehmen". Als Physiognomie bezeichnet L. „alle unmittelbaren Äußerungen des Menschen". „Im engern Verstand ist Physiognomie die Gesichtsbildung, und Physiognomik Kenntnis der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung" (Physiogn. Fragm. I, S. 13). Die Seele der Physiognomik ist Beobachtung, das heißt „Wahrnehmen mit Unterscheiden". Viele Menschen fühlen physiognomisch, aber wenige denken physiognomisch. Wissenschaftlicher Physiognomist ist nur der, „wer bestimmt die Züge, die Äußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die dem Menschen Charakter sind". Wer „die Gründe

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von diesen so Und so bestimmten Zügen und Ausdrücken, die inneren Ursachen dieser äußeren Wirkungen zu bestimmen imstande ist", steht auf dem Gipfel physiognomischer Forschung, ist philosophischer Physiognomist. L. versucht nun die Grundlagen der Physiognomik als Wissenschaft herauszuarbeiten. Dies erfordert drei Voraussetzungen: 1. nichts in der Welt geschieht ohne zureichenden Grund, 2. der Mensch hat, wie jedes Ding, zwei Seiten, eine innere und eine äußere; 3. jedes Ding muß etwas an sich haben, wodurch sein Unterschied von jedem andern erkannt werden kann. „Alle Gesichter der Menschen, alle Gestalten, alle Geschöpfe sind nicht nur nach ihren Klassen, Geschlechtern, Arten, sondern auch nach ihrer Individualität verschieden." — „Es ist dies . . . der erste, tiefste, sicherste, unzerstörbarste Grundstein der Physiognomik, daß bei aller Analogie und Gleichförmigkeit der unzähligen menschlichen Gestalten nicht zwei gefunden werden können, die, nebeneinander gestellt und genau verglichen, nicht merkbar unterschieden wären." „Nicht weniger unwidersprechlich ist's, daß eben so wenig zwei vollkommen ähnliche Gemütscharaktere als zwei vollkommen ähnliche Gesichter zu finden sind" (I, S. 45; 1. Vorl. S. 23). Es steht nun die äußere Verschiedenheit des Gesichts und der Gestalt mit der innern Verschiedenheit des Geistes und 'Herzens in einer natürlichen Analogie. Zwischen Körper und Geist besteht eine reale Wechselwirkung, ein Kausalzusammenhang, der bis ins Einzelne und Kleinste reicht. „Das Kleinste muß seinen Grund haben wie das Größte. Alles hat seinen Grund, oder gar nichts. Wenn du das nicht ohne weitere Beweise erkennst, Physiognome, weg vom Studium der Physiognomik!" Alle Menschen sind von der Natur nach einer Grundform gebildet; aber die Verschiedenheit der geistigen Individualitäten bringt eine Verschiedenheit der äußeren Erscheinungen hervor. Für das innere Erleben des Menschen bildet eine Beobachtung des Körperlichen den einzigen Zugang. L. vertritt eine Lehre vom Keimkörper, der den menschlichen Körper überall erfüllt und der Seele den Antrieb gibt. Für das physiognomische Verfahren hat L. die Grundlinien entworfen. Der physiognomische Sinn wird am besten an der Silhouette geübt und entwickelt. In J a k o b Böhme, den L. im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen sehr hoch schätzt, findet er Spuren eines tiefen physiognomischen Sinns Als einzige Quelle aller Wahrheit, als Quelle auch für das Genie betrachtet L. die individuelle Natur. Auf seiner Individualität ruht auch die Berechtigung für seinen Glauben, der ihm das Einwirken einer transzendenten Welt gewiß macht. Seine innere Erfahrung stützt sich auf äußere Offenbarung. In dieser Grundstimmung seines Philosophierens fühlt L. sich dem Glaubensphilosophen Friedrich Heinrich J a c o b i verwandt. Eine erkenntnistheoretische Grundlegung seines Glaubens geben L.s „Drei Gespräche über Wahrheit und Irrtum, Sein und Schein". Maßstab für die Wahrheit, die mit Existenz gleichbedeutend ist, wird eine Affektion des Ich; das Ich ist ein „Gedanken- und Empfindungssystem". „Wir selbst sind der einzige Maßstab zu allem, was wir wahr, existent, Objekt oder Dinge außer uns nennen. W a s mit uns übereinkommt, mit uns harmoniert, uns gleichförmig, ein Teil unseres Selbst ist, das ist für uns, ist existent, wahr für uns". — „Wahrheit ist uns jede Größe, oder jede Existenz, die dem gleich zu sein scheint, was wir eigne Existenz nennen." Es gibt Gradabstufungen der Wahrheit und der Existenz: je mehr Sinne, um so mehr Existenz, durch Steigerung der Wahrheitsempfänglichkeit. Existenz und Wahrheit kommen und vergehen mit unsern Sinnen. Daraus folgt, daß es „für uns keine absolute, innerlich objektive, abstrakte, absonderliche, selbständige Wahrheit oder Existenz"

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gibt. Nur in unseren subjektiv-seelischen Vorgängen, nur in unsern inneren Bewußtseinszuständen werden uns Wirklichkeit und Wahrheit greifbar. „Jede Erkenntnis, insofern sie rein ist, ist Gefühl, Berührtheit auf eine gewisse Weise, eine gewisse neue Seinsart." J e weniger die Fachphilosophie von L.s Schaffen Kenntnis nahm, um so stärker wurde seine Wirkung auf das Geistesleben seiner Zeit. Sein „Sensualismus der gefühlsmäßigen Erfahrung", seine Philosophie des Genies, seine Gefühlsinnerlichkeit wurden zu starken Gegenkräften gegen den Intellektualismus der Aufklärung. Sein Gefühlsglaube trägt mit dazu bei, dem Emotionalen einen Platz neben der Ratio zu erkämpfen. S c h r i f t e n : Aussichten in die Ewigkeit, 4 Bde., 1768—78. — Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst, 2 Tie., 1772—73. — Pontius Pilatus oder d. Mensch in allen Gestalten, 4 Bde., 1782—85. — Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß u. Menschenliebe, 1775—78. — Vermischte Schriften, 2 Bde., 1774—81. — Sämtl. kleinere prosaische Schriften, 3 Bde., 1784—85. — Nachgel. Schriften, hrsg. v. Gessner, 5 Bde., 1801—02. — Ausgew. Schriften, hrsg. v. Orelli, 8 Bdchen., 1841—44. — Ausgewählte Werke, hrsg. v. E. Stähelin, 4 Bde., 1943, — Briefwechsel mit Hamann, hrsg. v. H. Funck, 1894. — Goethe u. L., Briefe u. Tagebücher, hrsg. v, Funck, 1901; Schriften d. Goethe-Ges., Bd. 16. L i t e r a t u r : Maier, Heinrich, An der Grenze d. Philos., Melanchthon, Lavater, D. Fr. Strauß, 1909. — Janentzky, J . C. L.s Sturm u. Drang im Zushg. s. religiösen Bewußtseins, 1916. — Vömel, Alexander, J . C. L., 1923. — Guinaudeau, Olivier, J.-G. L. Études sur sa vie et sa pensée jusqu'en 1786; Paris 1924. — v. Bracken, Ernst, Die Selbstbeobachtung bei L., 1932. — Giering, Karl, L. u. der junge Pestalozzi, Diss., Berlin 1932. — J . Forssmann, L. u. die rel. Strömungen des 18, Jhs., 1934. — Th. Hasler, L., 1942.

Law, Edmund, 1703 bis 1787. — Der anglikanische Bischof L. bildet im Anschluß an Locke die Lehre von Raum und Zeit weiter. S c h r i f t e n : An Enquiry into the ideas of space, time, immensity and eternity, 1734. — An Essay in ethics, 1777.

Lawrence, David Herbert, geb. 11. September 1885 in Eastwood (Nottingham), gest. 3. März 1930 in Bandol bei Toulon. Englischer Dichter. S c h r i f t e n : Lady Chatterley's Lover, 1928, deutsch v. H. Herlitschka, 1931. — Psycho-analysis and the Unconscious, 1921. — Ges. Briefe, hrsg. v. A. Huxley, 1932. L i t e r a t u r : Wesslau, Werner, Der Pessimismus bei D. H. L., Greifswald 193J; Diss. — Lawrence, Frieda, geb. Freiin v. Richthofen, Not I, but the wind. Memoirs of her Husband, with letters, poems and other hitherto unpublished material by D. H. L., London 1935. — D. H. L., A personal record by E. T., Lond. 1935. — E. Seilliére, D. H. L. et les récentes idéologies allemandes, Paris 1936. — E. D, MacDonald, L., London 1936 (enthält nachgelassene Schriften).

Lawrow, Peter Lawrowitsch, geb. 14. Juni 1823 in Melechow (Pskow), gest. 6. Februar 1900 in Paris. — L. begründet im Anschluß an die Philosophie von Kant, Comte, Hegel, Feuerbach, Proudhon und Marx eine von ihm Anthropologismus genannte Weltanschauung. Im Mittelpunkt seines Systems steht die menschliche Individualität, die zugleich die treibende Kraft der geschichtlichen Bewegung ist. Die geschichtliche Entwicklung beruht auf dem persönlichen Willen, wie der Fortschritt in der physischen und moralischen Entwicklung der Persönlichkeit besteht. Der moderne Sozialismus umfaßt die Zusammenarbeit der Intelligenz als Führerschicht mit der breiten Masse der Arbeiter und Bauern. Wie die primitive Gesellschaft auf der Tradition und die kapitalistische auf den Interessen, so wird die kommende Gesellschaft auf Solidarität begründet sein.

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Lay — Lechner

S c h r i f t e n : Histor. Briefe, 1870; deutsch von S. Dawidow, 1901; 5. A. 1917. — Russisch: Versuch über die Gesch. des modernen Gedankens, Genf 1888—94. — D. Probleme des histor. Verstehens, Moskau 1898. — H a u p t p e r i o d e n in der Gesch. des G e d a n k e n s , Moskau 1903. L i t e r a t u r : Tscheskis, L. A., La philos, sociale de P. L., in: Revue de synthèse historique, Bd. 15 u. 16, 1912—13.

Lay, August, geb. 30. Juli 1862 in Bötzingen (Breisgau), gest. 9. Mai 1926 in Karlsruhe. Dr. phil., Prof. Mitbegründer der Experimentalpädagogik. S c h r i f t e n : Grundlegung der experimentellen Didaktik, I, 1903; 4. Aufl. 1920. — Experimentelle Pädagogik, m. b e s . Rücksicht auf die Erziehung durch d. Tat, 1908; 3. Aufl. 1918. — Die Tatschule, 1911; 2. Aufl. 1921. — Psychologie nebst Logik u. Erkenntnislehre, 1912; 2. Aufl. 1914. — Lebensgemeinschaftsschule, 1927. — Selbstdarstellung in: Die Pädagogik der G e g e n w a r t in Selbstdarstellungen, Bd. II, 1927.

Lazarus, Moritz, geb. 15. September 1824 in Filehne (Posen), gest. 13. April 1903 in Meran. 1860 Prof. der Philosophie in Bern. 1873—96 Prof. in Berlin. — L. begründet mit Steinthal zusammen die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Indem er das „allen Einzelnen Gemeinsame der inneren Tätigkeit" erfaßt, will L. das Wesen des „Volksgeistes" klären. „So ist auch der Volksgeist gerade das, was die bloße Vielheit der Individuen erst zu einem Volke macht, er ist das Band, das Prinzip, die Idee des Volkes und bildet seine Einheit" (Gedanken über Völkerpsychologie, 1860). S c h r i f t e n : Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen u. Gesetze, 1856—57; 3. Aufl., 3 Bde., 1883—97. — Üb. d. Ideen in der Gesch., 1865; 2. Aufl. 1872. — Ideale Fragen, 1878; 3. Aufl. 1885. — Die Ethik des J u d e n t u m s , F r a n k f u r t 1898; 2. Bd. aus d. Nachlaß, 1911. — Aus meiner J u g e n d , Autobiographie, hrsg. v. N. Lazarus, 1913. L i t e r a t u r : C. Th. Achelis, M. L., Hamburg 1899, — Sganzini, Carlo, Die Fortschritte der Völkerpsychologie von L. bis Wundt, 1913; in: Neue Berner Abhandlgn., H. 2. — Leicht, Alfred, L., Der Begründer der Völkerpsychologie, 1904. — Lewkowitz, A., M. L, z. 100. Geburtstag, in: Monatsschrift f. Gesch. u. Wissenschaft d. J u d e n t u m s , Bd. 68, 1924; S. 185—192.

Le Bon, Gustave, geb. 7. Mai 1841 in Nogent-le-Rotrou, gest. 15. Dezember 1931 in Paris. — L. B. vertritt in seiner Massenpsychologie den Gedanken, daß in der Masse das Denken des Einzelnen aufgehoben wird zugunsten einer meist primitiveren Denkweise. Er unterscheidet fünf Arten der Logik; die biologische, die das unbewußte Instinktleben regelt, die affektive, die kollektive, die mystische des religiösen und politischen Glaubens, und die rationale. S c h r i f t e n : L'homme et les sociétés, 1886. — Les monuments de l'Inde, 1894. — Les lois psychologiques de l'évolution des peuples, 1894. — La psychologie des foules, Paris 1895; deutsch 1922. — Psychol. du socialisme, 1898; 8. Aufl. 1917. — Psychologie de l'éducation, 1902; 13. Aufl. 1910. — Les opinions et les croyances, Paris 1911. — La psychol, politique, Paris 1911. — La Révolution française et la psycholog. des révolutions, 1912. — Aphorismes du temps présent, Paris 1913. — Bases scientifiques d'une philos, de l'histoire, Paris 1931. — Begründer der Bibliothèque de philos, scientifique. L i t e r a t u r : Schwalenberg, W., G. L. B. u. seine Psychologie des foules, Bonn 1919, Diss. — Rageot, Gaston, Portraits d'écrivains: G. L. B., in: Revue politique et littéraire, Bd. 59, 1921; S. 307—311.

Lechner, Matthias, geb. 22. Februar 1882 in Anglberg (Oberbayern). Dr. phil. Pfarrer; Dozent an der philos.-theol. Hochschule in Dillingen a. D. 1926, S c h r i f t e n : Die Erkenntnislehre des Suarez, 1911. — Die Religiosität u. Sexualität des Kindes, 1929. — Erziehung u. Bildg. in der griech.-röm. Antike, 1933. — Hrsg. des Pharus.

Leconte — Lehmann-Issel

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Leconte, J o s e f , geb. 26. F e b r u a r 1823 in L i b e r t y (Georgia), gest. 1901. 1869 Prof. f ü r Geologie u n d N a t u r p h i l o s o p h i e in B e r k e l e y (Calif.). A m e r i k a n i s c h e r Evolutionist. S c h r i f t e n : Religion and Science, 1873. — Evol. in Relig. Thought, N. Y. 1887. Leese, K u r t , geb. 6. J u l i 1887 in G o l l n o w (Hinterpomm.). Lie. theol. Kiel 1912. Dr. phil. H a m b u r g 1926. H a b i l i t i e r t f ü r Philosophie in H a m b u r g 1928, a. o. P r o f e s s o r 1935. S c h r i f t e n : Die Prinzipienlehre der neuen systemat. Theologie im Lichte d. Kritik Ludwig Feuerbachs, 1912. — Moderne Theosophie, 1921. — Die Geschichtsphilos. Hegels, 1922. — Philos, u. Theologie im Spätidealismus, Forsch, zur Auseinandersetzung von Christentum u. idealist. Philos, im 19. Jhdt., 1929. — Die Krisis u. Wende des christl. Geistes, Studien zum anthropolog. u, theolog. Problem d. Lebensphilos., 1932. — Rasse, Religion, Ethos, 1934. — Die Mutter als religiöses Symbol, 1934. — Das Probi, d. Arteigenen, Tübingen 1935. — Die Rei. d. protest. Menschen, Berlin 1938. — Natürl. Rei., Berlin 1938. — Herausg. Der Protestantismus , . . , Stuttgart 1941. Le Grand, A n t o i n e , gest. 1699. F r a n z i s k a n e r , t r u g den C a r t e s i a n i s m u s n a c h England. S c h r i f t e n : Philosophia vetus e mente R. des Cartes, London 1671. — Institutiones philos, secundum principia R. de C. nova methodo adornatae, London 1672. — Apologia pro Cartesio, London 1679, Nürnberg 1681. Le Roy, E d o u a r d , geb. 1870. P r o f . a m Collège de F r a n c e . — F r a n z ö s i s c h e r Religionsphilosoph, dessen M e t a p h y s i k B e r g s o n n a h e s t e h t . S c h r i f t e n : La logique de l'invention, 1905, — Le problème de Dieu, 1907. — Dogme et critique, 1907. — Une philos, nouvelle: M. Bergson, 1912. Lehmann, A l f r e d , 1858 bis 1921, Prof. d e r Psychologie in K o p e n h a g e n . S c h ü l e r von W . W u n d t , V e r t r e t e r d e r e x a k t e n Psychologie. S c h r i f t e n : Aberglaube u. Zauberei, Kopenh. 1893—96; 2. Aufl. 1920; deutsch 3. Aufl. 1925. — Grafologien, Kop. 1920. — Hauptges. d. menschl. Gefühlslebens, Kop. 1892; deutsch Leipz. 1892; 2. Aufl. 1914. — Die körperlich. Äußerungen psych. Zustände, 1899—1905. — Grundzüge d. Psychophysiologie, 1912. — Pädagogische Psychologie, 1913. L i t e r a t u r : H. Krarup, Die Metaphysiologie A. L.s krit. erläutert, 1907. — A. Aall, A. L. in memoriam, Scand. scientifical Review, vol. 1, 1922. Lehmann, G e r h a r d , geb. 10. J u l i 1900 in Berlin. P r o m o t i o n 1922. P d . Univ. B e r l i n 1940. H e r a u s g e b e r der K a n t a u s g a b e n ( A k a d e m i e ) . S c h r i f t e n : Üb. d. Setzung Individualitätskonstante, 1922. — Psychologie des Selbstbewußtseins, 1923. — Eros im modernen Denken: Versuch einer Met, der Geschlechtsliebe, 1923. — Die Grundprobleme der Naturphil., 1923, — Üb. Einzigkeit u. Individualität, 1926. — Das rei. Erkennen, 1926. — Vorschule d. Metaphysik, 1927, — Psychologie der Individualitäten. Ein Beitr. zur Theorie des Char,, 1928. — Das Kollektivbewußtsein, 1928, — Zur Grundlegung der Kulturpädagogik, 1929. — Gesch. d. nachkant. Philos,, 1931. — Sozialphilos., in: Lehrbuch der Soziologie u. Sozialphilos. von Dunkmann, 1931, — Die Ontologie d, Gegenwart in ihren Grundgestalten, 1933. — Kants Nachlaßwerk u. die Kritik der Urteilskraft, 1939. — Die deutsche Philos, d. Gegenw., 1943. — Mithrsg. „Archiv f. angewandte Soziologie", 1932/33. — Hrsg.: Kant, Ausgabe der Berliner Ak„ Bd. XX, 1931; XXI, 1936; XXII, 1938. Lehmann-Issel, K u r t , geb. 19. A p r i l 1892 in D o s s e n b a c h (Baden). P r o m o t i o n 1920, Lie. theol., P f a r r e r . S c h r i f t e n : Die Grenzen des objektiven Erkennens in der Theologie, 1921, — Anthropologie oder relig. Erneuerung, 1922. — Theosophie nebst Anthroposophie u. Christengemeinschaft, 1927. — Der Glaube, Eine Unters, der Grundlagen der evangel Religiosität, 1928, — Deutschtum u. posit, Christentum, Berlin 1939.

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Lehmen — Leibniz

Lehmen, Alfons, geb. 5. Febr. 1847 in Höxter i. W., gest. 1910. S. J . Prof. in Valkenburg (Holl. Limburg), S c h r i f t e n : Lehrbuch der Philos. auf aristotel.-scholast. Grundlage, 4 Bde., Freibg. 1899 f.

Leibniz, Gottfried Wilhelm, Frhr. v. (Leibnüz, Leibnüzius, Leibnuzius, Leibnitius, niemals Leibnitz), geb. 1. Juli 1646" (21. Juni a. St.) zu Leipzig, gest. 14. November 1716 in Hannover. Sein Vater, Friedrich Leibnüz, zuletzt Professor der Moralphilosophie an der Universität Leipzig, starb 1652. In der Leipziger Nicolaischule genoß L. den ersten Unterricht, studierte darauf, seit 1661, in Leipzig und Jena die philosophischen Wissenschaften und Ius. 1663 Baccalaureusdisputation über seine erste akademische Schrift: De principio individui, 1664 Magister, 1666 bei der Bewerbung um die juristische Doktorwürde angewiesen, darauf in Altdorf 1667 mit der Dissertation ,,de casibus perplexis in jure" promoviert. Eine in Altdorf ihm angebotene Professur schlug er aus, ging nach Nürnberg, wo er mit Alchemistenkreisen in Verbindung trat. In Nürnberg lernte er den Kanzler des Kurfürsten von Mainz, des Johann Philipp von Schönborn, den Frhrn. v. Boyneburg kennen, der ihn zur Übersiedlung nach Frankfurt bestimmte. Er kam 1667 dorthin und vollendete eine bereits auf der Reise nach Altdorf begonnene Schrift, die Nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae, durch die er in den kurmainzischen Dienst Zutritt fand. Er hatte die Schrift dem Kurfürsten Johann Philipp gewidmet, der ihn dem mit der Bearbeitung des Corpus iuris beschäftigten Hofrat Dr. Lasser zur Mitarbeit beiordnete. Das sehr weitgesteckte Ziel der Arbeit, das in einem von beiden veröffentlichten Programm dargelegt wurde, konnte freilich nicht in der gedachten Weise erreicht werden, da für eine so große Aufgabe — das zu schaffende Gesetzbuch sollte für alle christlichen Nationen Geltung haben — die notwendigen Vorarbeiten fehlten. Im Sommer 1670 wurde L. Rat beim Kurfürstlichen Revisionsgericht und trat in eine nähere Beziehung zu seinem Gönner, dem Frhrn. v. Boyneburg. Boyneburg war vom Protestantismus zum Katholizismus übergetreten, und auf seinen Einfluß vor allem gehen die Arbeiten zurück, die L. der Wiedervereinigung der beiden christlichen Konfessionen widmete. L. selbst hat den Übertritt zum Katholizismus abgelehnt, zu dem er auch später, als er Mitglied der Pariser Akademie werden sollte, angeregt wurde. Er unterstützte Boyneburg in seiner Kontroverse mit dem Unitarier A. Wissowatius, der das Dogma der Trinität bekämpfte, durch die Schrift Sacrosancta Trinitas per nova inventa logica defensa, die er 1671 verfaßte, ohne freilich das im Titel gesetzte wissenschaftliche Ziel zu erreichen; bereits 1667 hatte er in der Abhandlung Confessio naturae contra Atheistas gegen den Atheismus Stellung genommen. An den Reunionsbestrebungen des Protestantismus mit dem Katholizismus wirkte L. in dem späteren Stadium der Verhandlungen mit dem Bischof Spinola tätig mit. Vor allem infolge des aus politischen Gründen einsetzenden Widerstandes Frankreichs scheiterten die Pläne, ebenso wie die Einigungsarbeiten für einen Zusammenschluß der Lutherischen und Reformierten, an denen unter Mitwirkung L.s Hannover und Berlin beteiligt waren (zwischen 1697 und 1706). Boyneburgs Einfluß machte sich auch auf dem Gebiete der Politik geltend; er veranlaßte 1669 L. zur Abfassung des Specimen demonstrationum politicarum pro eligendo rege Polonorum, auctore Georgio Ulicovio Lithuano, das bereits vor der Ethik des Spinoza den Mos geometricus auf eine Frage der Politik anwendet, sowie 1670 zu der Schrift „Bedenken, welchergestalt Securitas publica

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interna et externa im Reich auf festen Fuß zu stellen", die den Kurfürsten vor der Gegnerschaft gegen Frankreich warnen sollte. Aber auch philosophische Arbeiten L.s regte Boyneburg an. L. wurde von ihm auf die Schrift des Marius Nizolius, De veris principiis et vera ratione philosophandi, aufmerksam gemacht, die 1553 in Parma erschienen war, und gab sie mit Anmerkungen und einer Einleitung neu heraus (Francof. 1670). Bei dieser Arbeit mußte sich L. eingehend mit Descartes befassen, Studien, aus denen vor allem die Abhandlungen Theoria motus concreti und Theoria motus abstracti (Mainz 1671) hervorgingen. Die in diesen Schriften ausgesprochene Anerkennung des leeren Raumes und der Indifferenz des Stoffes gegen Bewegung und Ruhe hat L. später zurückgenommen. 1672 ging L. im Auftrage Boyneburgs nach Paris, wo er sich bemühte, Ludwig XIV. das Consilium Aegyptiacum vorlegen zu lassen, das diesen von Holland und vor allem Deutschland ablenken und Ägypten in seinen Blickkreis bringen sollte. Das Vorhaben schlug fehl, weder Ludwig XIV. noch die ihm Nahestehenden haben das Schriftwerk gelesen. In Paris und während seines Zwischenaufenthaltes in London, der in den Anfang des Jahres 1673 fällt, kam L. mit den berühmtesten Gelehrten in Berührung, so mit Huygens, Arnauld, Malebranche, Huet, in London mit Newton, Collins, Boyle. Er wurde Mitglied der Royal Society. Als L. nach dem Tode Boyneburgs und Johann Philipps 1676 nach Deutschland zurückkehrte, lernte er auf dieser Reise Spinoza im Haag persönlich kennen. Die Mehrzahl dieser persönlichen Beziehungen pflegte L. durch einen umfangreichen und weitverzweigten Briefwechsel. L. hatte nach seiner Entlassung aus dem mainzischen Dienste das Amt eines Rates und Bibliothekars bei Herzog Johann Friedrich in Hannover angenommen, nachdem die Pläne, die sich auf die Schaffung einer festen Bindung mit der französischen Akademie richteten, gescheitert waren. J e t z t trat er 1676 dieses A m t an. Er blieb mit Unterbrechungen vierzig J a h r e hindurch, bis zu seinem Tode, in Hannover. — 1684 und 1686 erschienen von ihm die beiden Abhandlungen Nova methodus pro maximis et minimis und De geometria recondita et analysi indivisibilium et infinitorum in den Acta Eruditorum zu Leipzig, in denen er die Grundlagen der Differential- und Integralrechnung erörterte. 1687 gab Newton sein W e r k Principia mathematica philosophiae naturalis heraus. In ihm wurde ein Verfahren mathematischer Rechnung, die sogenann+e Fluxionenarithmetik, angewandt, die der Mathematik, wie L. sie gestaltete, ähnlich war. Hieraus ergab sich eine Auseinandersetzung über die Priorität der wichtigen Erfindung, die zu einem sehr heftigen Streite sich auswuchs; er wurde zunächst 1712 durch Urteil der von den Parteien angerufenen Royal Society zugunsten Newtons entschieden. Das Urteil ist von den namhaftesten Mathematikern des 18, und 19. Jahrhunderts insofern richtiggestellt worden, als man feststellte, daß trotz der offenbaren Ähnlichkeit beider Erfindungen L. doch in seiner Lehre wichtiges Neues zur Darstellung brachte, das ihm zweifellos allein zugehört, und daß infolge der größeren Klarheit und der zweckmäßigeren Form der Bezeichnungen der mathematischen Begriffe die L.sche der Newtonischen Fassung nicht unerheblich überlegen ist. Wichtiger aber ist es, L.s Rechenweise auf die umfassendere Lehre von der Characteristica universalis zu beziehen, die dasselbe Problem in noch größeren Zusammenhängen abhandelt und sich mit der Frage allgemeingültiger und eindeutiger Bezeichnung von Gegenständen überhaupt befaßt, von der ein besonderer Fall die quantitative Verhältnisse ausdrückende Algebra ist. Von dieser allgemeinen Lehre der Universalmathematik aus erhält die Rechnungsmethode L.s erst ihren besonderen Sinn. Philosophen-Lexikon 1

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Herzog Johann Friedrich starb bereits drei Jahre nach L.s Übersiedelung nach Hannover, und die Nachfolger lockerten die Verbindung mit ihm merklich, zumal ein Projekt der Lösung der Wasserwirtschaftsfrage in den Harzbergwerken, für das er den auf Johann Friedrich folgenden Ernst August interessiert hatte, sich in der Durchführung nicht bewährte. Um sich aus dieser ungünstigen Situation zu befreien, übernahm er die Abfassung der Geschichte des Weifenhauses (1685), die ihn in ständig sich mehrende Schwierigkeiten brachte, so daß er schließlich ernstlich von Hannover fortstrebte. Aber seine Bemühungen, sich einen anderen Wirkungskreis in einem der Zentren Europas zu schaffen, blieben erfolglos. Er hat dann mit manchen Änderungen am ursprünglichen Plan das Werk durchgeführt, das neben zahlreichen, in der Hauptsache von seinen Mitarbeitern redigierten Quellenschriften die von ihm selbst verfaßte Geschichte des Deutschen Reiches von der Zeit Karls des Großen bis zu der des Ausganges des sächsischen Kaisergeschlechtes, allerdings nur bis 1005, darbietet; die bis zum Ende dieser Periode noch ausstehenden 19 Jahre bis 1024 hat er nicht mehr dargestellt. Als Methode zur Aufhellung von solchen Geschichtsperioden, über die keine schriftlichen Zeugnisse vorliegen, betrachtete L. die vergleichende Sprachforschung, die er auch selbst in seinen Arbeiten angewandt hat. Er fixierte diese Untersuchungsweise in der Abhandlung Brevis designatio meditationum de originibus gentium ductis potissimum ex iudicium linguarum, Mise. Berol. 1710. Weiter forderte er die Berücksichtigung der natürlichen Bodenverhältnisse und schrieb selbst die Protogaea, eine Urgeschichte der Erde, die er seinem Geschichtswerk vorangehen lassen wollte. Von 1687 bis 1690 unternahm L., auch zum Zwecke der Materialsammlung für die Weifengeschichte, eine Reise nach Bayern, Österreich und Italien, die ihm wichtige Beziehungen schuf in Wien und Italien, hier mit den Jesuiten. 1691 wurde ihm auch die Leitung der Bibliothek von Wolfenbüttel übertragen, 1696 erhielt er die Ernennung zum Geheimen Justizrat. Seine zunehmende persönliche Vereinsamung wurde nur durch den Umgang mit der Herzogin, späteren Kurfürstin Sophie und ihrer Tochter, der Königin Sophie Charlotte, sowie mit dem Herzog Anton Ulrich in Wolfenbüttel gemildert. Dem Einfluß der Königin Sophie Charlotte verdankte L. die Verwirklichung seines Planes, in Berlin nach dem Pariser und Londoner Vorbild eine Sozietät der Wissenschaften zu begründen; sie wurde 1700 unter ihm als ihrem ersten Präsidenten ins Leben gerufen. Mehrere gleichlaufende Pläne entsprechender Gründungen in Dresden, Petersburg — L. hatte Gelegenheit, dreimal, 1711, 1712 und 1716 mit Peter dem Großen persönlich über diese wissenschaftlichen, wie über wichtige politische und wirtschaftliche Pläne zu verhandeln — und Wien erhielten zwar grundsätzlich Zustimmung, gelangten aber nicht zur Ausführung; in Dresden wurde diese durch die Sorgen des Nordischen Krieges, in Wien durch finanzielle Schwierigkeiten des Kaisers verhindert. Während seines letzten längeren Aufenthaltes in Wien, der vornehmlich diesen wissenschaftlichen Bestrebungen galt (1712—1714), gewann er den Prinzen Eugen zum Freunde; seine Erfolge dort wurden 1713 durch die Ernennung zum Reichshofrat anerkannt. — L. starb zu Hannover. Seine Bestattung in der Neustädter Kirche fand unter offizieller Beteiligung der Kirche statt, der Hannoversche Hof war nicht vertreten. Die wichtigsten philosophischen Schriften L.s sind der Discours de métaphysique (1686), das Système nouveau (1695), die Nouveaux Essais (1704), die Theodizee (1710) und die Monadologie (1714),

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In dem Discours de métaphysique entwickelt L. erstmalig in zusammenhängender Abhandlung seine Metaphysik. In ihrer Mitte steht der Begriff Gottes, der von L. als das vollkommenste Wesen im Sein und im Handeln definiert wird. Im göttlichen Intellekt sind die metaphysischen und mathematischen ewigen Wahrheiten und die Regeln der Güte, der Gerechtigkeit und der Vollkommenheit. Damit ist in den göttlichen Entscheidungen jede Willkür unmöglich, die R a tionalität herrscht auch in ihnen: Gott ist selbst die Rationalität. Die Vollkommenheit bestimmt L. als einen Zustand, in welchem mit dem geringsten Aufwand eine größtmögliche Mannigfaltigkeit von Wirkungen und Zwecken erreicht wird, und dementsprechend ist die vollkommene Ordnung der Welt die umfassendste Mannigfaltigkeit des Erscheinenden auf Grund möglichst einfacher Voraussetzungen. Am besten entspricht solchem Vollkommenheitsbegriff eine Vorstellung der Welt, nach der eine Vielzahl von individuellen, voneinander völlig unabhängigen, unvergleichbaren, unzerlegbaren, einmaligen Substanzen existiert. Sie sind von dem göttlichen Prinzip unterschieden, stehen aber als geschaffene Substanzen nur durch das göttliche Zentrum, in dem alle zusammenhängen, miteinander in Verbindung, ohne daß irgendeine unmittelbare Einwirkung einer Monade auf eine andere stattfinden könnte; die Monade ist fensterlos, wie L. später in seiner Monadologie sagt. Eine jede dieser individuellen Substanzen, deren Wesen in der Vollkommenheit ihres Begriffes besteht, ist ein Spiegel des Universums oder Gottes; er gelangt in jeder individuellen Substanz in der ihr entsprechenden Weise zur Wiedergabe. J e d e einzelne dieser substanziellen Monaden spiegelt mit verschiedenem Grade der Klarheit das gesamte Geschehen des Universums; in ihren Zuständen sind sowohl die Vergangenheit wie auch die Gegenwart und die Zukunft enthalten. Die damit zugleich ausgesprochene Determiniertheit der individuellen Substanzen führt nicht zu einer absoluten Aufhebung jedes Fortschritts des Menschen in seiner inneren Entwicklung. Eine Stelle aus einem Briefe L.s an Coste aus dem J a h r e 1707 lautet: „Das Universum hat keinen Mittelpunkt, und seine Teile sind von unendlicher Mannigfaltigkeit — also wird nie der Fall eintreten, wo alles auf beiden Seiten vollkommen gleich ist und gleichen Eindruck auf uns macht, und wenn wir auch nicht imstande sind, alle der kleinen Eindrücke inne zu werden, die zur B e stimmung unseres Willens beitragen, so ist doch immer etwas vorhanden, das unsere Wahl zwischen zwei Widersprüchen bestimmt, ohne daß der Fall je auf beiden Seiten vollkommen gleich wäre. Wenn aber auch unsere Wahl ex datis immer nach allen inneren Umständen zusammengenommen bestimmt ist und es für die Gegenwart nicht von uns abhängt, den Willen zu ändern, so bleibt doch nichtsdestoweniger wahr, daß wir über unser zukünftiges Wollen eine große Gewalt haben, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Gegenstände richten und uns an gewisse Denkweisen gewöhnen. Auf diesem Wege vermögen wir uns daran zu gewöhnen, den Eindrücken besser zu widerstehen und die Vernunft mehr zur Geltung zu bringen, kurzum, können wir dazu beitragen, uns das wollen zu lassen, was sich gehört" (Philos. Schriften, hrsg. v. R. Habs, Lpzg. 1883, S. 272). Der damit ausgesprochenen Möglichkeit der Entwicklung zu größerer Rationalität entspricht eine Unterscheidung der möglichen Wahrheiten. L. trennt die Vérités nécessaires, die dem Satz des Widerspruchs unterliegen und vor allem in der Geometrie gegeben sind, von den Vérités contingentes, die die Dinge in ihrer Tatsächlichkeit betreffen und also sich auf Erfahrung beziehen; hier gilt der Satz des Widerspruches nicht; denn das Gegenteil eines empirischen F a k tums ist nicht an sich widerspruchsvoll. — Die metaphysische Bestimmtheit der 3*

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Substanzen hindert nicht ein Erfassen des Erfahrungsgeschehens mit Hilfe der mechanischen Gesetzlichkeit; es ist möglich, das Geschehen in solcher Art aufzufassen und zu wahren Urteilszusammenhängen zu gelangen. Als ein Naturgesetz nennt L. die Erhaltung der Kraft, ein Gesetz, das nach ihm an die Stelle des Gesetzes des Descartes von der Unveränderlichkeit der Quantität der Bewegung treten muß. Diese These trug ihm die offene Feindschaft der Cartesianer ein. Auf solche Weise versucht L. zu einer Aussöhnung des Mechanismus und des Teleologismus zu gelangen: die Causae finales stehen nicht in einem ausschließenden Gegensatz zu den Causae efficientes; für seine Teleologie beruft sich L. auf den Phädon Piatons. — Entsprechend und analog einer Abhängigkeit des Körperlichen von der metaphysischen Verursachung Gottes entstammen auch die immateriellen Naturen, die Geister, die Ideen, dem göttlichen Prinzip. In der Seele sind die Ideen verworren enthalten, sie werden von dem Geist zur Klarheit und Deutlichkeit erhoben (Meditationes de cognitione, veritate et ideis). L. zieht die platonische Theorie der Anamnesis heran. Die Ideen können nicht auf äußerer, sondern müssen auf innerer Erfahrung beruhen, sie sind entsprechend unserer Herkunft aus Gott uns unmittelbar auch von ihm eingegeben; hierdurch wird Gott zum unmittelbaren äußeren Objekt unseres Denkens. Der Wille steht folgerichtig mit dem Willen Gottes in Zusammenhang und vermag ihn nachzuahmen. Gott hilft durch seine Gnade den Kreaturen in ihrer Endlichkeit, aus der allein das Übel in der Welt entspringt. — Leib und Seele stehen nicht durch Wechselwirkung miteinander in Verbindung, sie sind voneinander gänzlich unabhängig. Die Perzeptionen der Seele entstehen in ihr selbst und haben ihren Grund in ihr, aber dieses Entstehen unterliegt einer Gesetzlichkeit, nach der die Perzeptionen dem Geschehen in der Welt und vor allen Dingen auch dem Geschehen in dem zugehörigen Leibe entsprechen müssen. Vollkommenheit und Glückseligkeit sind die Prinzipien der gegenständlichen Welt und der immateriellen Welt der Geister. Die physische Welt ist nach vollkommenem Plane eingerichtet, die moralische Welt zur größtmöglichen Glückseligkeit bestimmt. Die Abhandlung Système nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l'union, qu'il y a entre l'âme et le corps (1695) beginnt mit der Erklärung, daß eine Einheit im Materiellen aus dem Materiellen nicht geschaffen werden könne, weil das Materielle immer nur aus Teilen und ihren Aggregaten bestehe. Er verlegt darum die Einheit in formelle Atome oder „metaphysische Punkte" im Gegensatz zu den materiellen Atomen des Demokrit und seiner Anhänger, die es als unteilbare nicht geben kann. Die einfachen Substanzen sind realiter existierende Punkte, ihr Wesen sind seelenartig vorstellbare Forces primitives oder erste Entelechien in einer Stufenordnung, deren Spitze die Geister oder Esprits bilden. Diese Substanzen bewirken als erste und absolute Prinzipien die Aggregierung des Einzelnen und alle Tätigkeit; in uns entspricht ihnen unser Ich. Vermittels der mathematischen Punkte als ihrer points de vue stellen sie die Welt dar. Neben den substantiellen oder metaphysischen und den mathematischen, modalen Punkten nennt L. noch die physischen Punkte, die durch das Zusammentreffen körperlicher Substanzen entstehen. Im weiteren Verlauf der Abhandlung betont L. die Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Abgeschlossenheit der Substanzen, die in einem von vornherein geregelten Reiche der Harmonie mit den anderen Substanzen existieren. Er weist darauf hin, daß die Hypothese der inneren Übereinstimmung der Vernunft am meisten entspricht und der Vollkommenheit der Werke Gottes in be-

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sonderem Maße gerecht zu werden vermag. — Als Foucher gegen die Theorie des Système nouveau Bedenken geltend machte, benutzte L. zur Bezeichnung des entscheidenden Grundsatzes seines Systems den von ihm geprägten Terminus Prästabilierte Harmonie, zu dessen Verdeutlichung er in zwei Aufsätzen das schon von Geulincx verwandte Uhrengleichnis weiter ausführte. Eine dreifache Möglichkeit, so lehrt L., besteht, um die volle Übereinstimmung zweier Uhren in ihrem Gange zu erklären. Die erste ergibt sich, wenn die beiden Uhren durch eine mechanische Vorrichtung in der Weise miteinander in Verbindung gesetzt worden sind, daß der Gang der einen sich auf den Gang der anderen mechanisch überträgt; die zweite, wenn jemand fortwährend die eine Uhr nach der anderen stellt und beide so in Übereinstimmung hält; die dritte, wenn die beiden Uhren bei ihrer Anfertigung bereits so gleichmäßig konstruiert und aufeinander abgestimmt worden sind, daß eine Differenz des Ganges hernach gar nicht eintreten kann. Die erste Möglichkeit nimmt die psychophysische Wechselwirkungslehre an, die L. wegen der Unmöglichkeit der Einwirkung von Substanzen aufeinander und der Einwirkung des Körperlichen auf das Geistige und umgekehrt ablehnt, die zweite wird vom Occasionalismus gelehrt, dem L. nicht zustimmen zu können glaubt, weil die Vorstellung seines jedesmaligen Eingreifens der Würde Gottes nicht entspricht; sie wird in besserer Weise durch die Vorstellung des Zusammenhanges nach der letzten Möglichkeit, des Consentement préétabli gewahrt; auch ist nach L. ein Zusammenhang dieser Art naturgemäßer. Die Nouveaux essais sur l'entendement humain (1704) enthalten die Auseinandersetzung L.s mit dem Sensualismus und Empirismus Lockes, die auf jedes Kapitel des Lockeschen Werkes "An essay concerning human understanding" eingeht; sie entsprechen dieser Abhandlung auch in der Anlage. Die Schrift erschien erst 1765, da L. sie wegen des gerade in der Zeit ihres Abschlusses erfolgenden Todes von John Locke (1704) nicht veröffentlichte. — Es ist vorzüglich die Verkennung der Notwendigen Wahrheiten, die L. in dieser Schrift Locke zum Vorwurf macht, die Verkennung des Sachverhaltes, daß für den Beweis der Notwendigen Wahrheiten eingeborene Ideen erforderlich sind, „weil die Sinne zwar lehren, was geschieht, aber nicht, was notwendig geschieht" (Brief an Bierling v. 19, Nov. 1709). Sodann weist L, darauf hin, daß der Geist auch sich selbst, und zwar durch die aus ihm stammenden Grundbegriffe wie Substanz, das Wahre, das Seiende usw., gegeben ist; ,,Nempe nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, nisi ipse intellectus" (ebd.). Im Verlaufe der Auseinandersetzung nun entwickelt L. im Gegensatz zu Locke seine eigene Psychologie und Erkenntnistheorie. Dabei bemerkt er, daß die Lockeschen Lehren im ganzen mehr Ähnlichkeit mit denen des Aristoteles haben, während sein eigener Standort mehr dem des Piaton entspricht. Er lehrt im Anschluß an die platonische Anammesislehre den ursprünglichen Besitz der Seele an Grundsätzen und Grundbegriffen, die bei entsprechender Gelegenheit wiedererweckt ins Bewußtsein treten. Ihr Vorhandensein in der Seele muß als eine Disposition, als eine Anlage vorgestellt werden, so und nicht anders zu denken. Die Ideen sind virtuelle Fähigkeiten, die den Beweis gewisser Wahrheiten zu leisten vermögen und diese dadurch — in den Gebieten der Ethik, Metaphysik, Logik usw. — zu Notwendigen Wahrheiten machen, im Gegensatz oder Unterschied zu den Individuellen Wahrheiten, die, aus der sinnlichen Erfahrung gewonnen, die aktuelle Erkenntnis zwar ermöglichen, aber nicht vollkommen und hinreichend, und darum nur Beispiele darstellen. Die Seele, die alle eigentliche Erkenntnis erst möglich macht, hat — entgegen Lockes Meinung — keine Zeiten, in denen sie nicht

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denkt; sie denkt auch im Schlafe; denn eine Substanz ist nie in völliger Ruhe; auch im Schlafe finden dauernd Perzeptionen statt, die nur wegen ihrer geringen Intensität nicht ins Bewußtsein treten; denn eine wenn auch verworrene Empfindung hat man auch im Schlafe. Die räumliche und zeitliche Einordnung eines jeden Wesens in seine Umgebung und sein Verbleiben darin wird bewirkt durch die Petites perceptions, durch die unendlich .vielen, unendlich kleinen und daher unbemerkten Eindrücke, die, in kontinuierlicher Folge verstärkt, bewußt werden und in Stufen die merklichen Perzeptionen bilden; die Eindrücke der Gleichheit zweier oder mehrerer gegenständlicher Einheiten sind nicht sachlich begründet, denn es gibt in Wirklichkeit nicht zwei Dinge, die völlig einander gleich wären. Die Dinge unterscheiden sich nicht bloß numerisch, sondern qualitativ. Das Gesetz der Kontinuität verbietet die Annahme eines leeren Raumes und einer atomistisch aufgefaßten Materie. L. lehrt, daß der Raum von einer ursprünglich flüssigen und unendlich teilbaren Materie erfüllt sei. Die Materie, die den Bereich des Wirklichen ausmacht, unterscheidet er in metaphysische und physische; die metaphysische ist die allgemeine, die physische die den Körpern zugrunde liegende. Beiden steht der Bereich des Logischen oder Idealen gegenüber. Durch Beschränkung einer ursprünglichen Natur oder einer realen Gattung entstehen die Modifikationen der Dinge, in deren Bestand oder Zusammenhang Gott nicht willkürlich einzugreifen vermag: die Natur der Dinge und ihre natürliche Ordnung sind die sich selbständig auswirkenden Gesetze, denen sie gehorchen. L. bemerkt, daß die Veränderungen, die mit der Materie vor sich gehen, damit sie zum Denken gelangt, nicht begreiflich seien; es bestände jedoch die Möglichkeit einer Verbindung der Materie mit der unsterblichen Seele. Im ersten Buch handelt L. von den eingeborenen Ideen, den Notwendigen Wahrheiten oder Vernunftwahrheiten, den Vérités nécessaires ou de raison, die er den von Locke allein anerkannten Tatsachenwahrheiten, den Vérités de fait, gegenüberstellt. Die Vernunftwahrheiten entstammen dem Geiste selbst, so daß also dispositionell oder präformativ, nicht aktuell, die gesamte Mathematik im Geiste vorhanden ist. Die eingeborenen Wahrheiten, die Vérités innées, werden zu einem Teil instinktiv, „par instinct", und entsprechend verworren erkannt, andere in deutlicher und klarer Erkenntnis durch das natürliche Licht, das Licht der Vernunft, die Lumière naturelle, das heißt mit Hilfe der durch richtige Definitionen erfolgenden Rückführung auf die ersten Prinzipien. Als solche Notions innées nennt L. die Ideen des Seins, des Möglichen, Gottes, der Tugend usw. — Das zweite Buch befaßt sich mit der Klassifikation der Ideen, wie sie von Locke vertreten wird. Dabei stellt L. fest, daß die Idee das unmittelbare innere Objekt des Denkens ist, während Gott das unmittelbare äußere Objekt ist. Alle äußeren sinnlich gegebenen Gegenstände sind nur mittelbare Objekte, weil ihre Einwirkung unmittelbar auf die Seele unmöglich ist. Daher ist die Seele eine kleine Welt, ,,un petit monde, où les idées distinctes sont une représentation de Dieu et où les confuses sont une représentation de l'univers", keine Tabula rasa. Raum und Zeit sind ewige Wahrheiten, die metaphysisch unmittelbar aus Gott hergeleitet werden müssen, sie beziehen sich auf das Mögliche und auf das Existierende und sind Relationen, nicht, wie Newton meint, etwas Reales und Absolutes. Infolge dieses ihres Wesens können sie auch nicht das Principium individuationis sein oder enthalten. Dieses formuliert sich als das Gesetz des Nichtzuunterscheidenden (Principium identitatis indiscernibilium). In dem sprachphilosophische Fragen behandelnden dritten Buch nimmt L. bei Erörterung der Erkenntnisbedeutung der Termini gegen den Nomi-

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nalismus Stellung, weil die bloßen Worte noch nicht Geltung bei sich zu führen brauchen; ewige Geltung besitzen allein die Ideen. Das vierte Buch handelt von der Erkenntnis. Es gibt ursprüngliche, durch Intuition erfaßbare Wahrheiten, die Vérités primitives, und abgeleitete Wahrheiten, Vérités dérivatives, die beide wieder notwendig oder zufällig sein können; im ersten Falle handelt es sich dann um die Vérités de raison, im zweiten um die Vérités de fait. Der Satz der Identität und der Satz des Widerspruchs sind das Prinzip für die bejahende oder die verneinende Bestimmung der apriorischen Vérités primitives, die dritte Möglichkeit, die der disparaten Sätze, ergibt sich entsprechend. Beide, die apriorischen und aposteriorischen Vérités primitives besitzen den höchsten Grad der Gewißheit, so daß also ihre Geltung nicht von einem noch Gewisseren abhängen kann. Unter den Beweisverfahren gibt L. dem analytischen gegenüber dem synthetischen, auch durch die Methode der Ausschließungen unterstützten Verfahren den Vorzug. — L. fordert eine Wahrscheinlichkeitslehre, die viele der demonstrativ-verfahrenden Wissenschaften ersetzen könnte und müßte. Die Erkenntnis im Bereiche des Sinnlichen ergibt sich durch die raumzeitliche Kohärenz der Phänomene. Die Wahrheit der Erkenntnis im Sinne eines begreifbaren klaren Zusammenhanges entspringt der Vernunft. — In der Frage der Beweisbarkeit Gottes hält L. Descartes entgegen, daß, wenn der ontologische Gottesbeweis sein Ziel erreichen solle, zunächst die Möglichkeit der Idee Gottes bewiesen werden müßte, und er will seinerseits den Existenzbeweis Gottes in der Weise führen, daß er auf das Vorhandensein des gesamten Universums in jeder Seele verweist, die ohne Einwirkung von außen zu diesem Besitz gelangt ist. Daraus folgt, daß hierfür eine allgemeine Ursache vorliegt, welche die einzelnen Seelen mit der entsprechenden Natur begabt hat und von welcher die Harmonie der einzelnen Wesen untereinander abhängt. Diese allgemeine Ursache enthält die allgemeinen Gesetze des Universums und verleiht den höchsten Vernunfturteilen ihre Notwendigkeit, die ihnen gegenüber den Urteilen über empirische Gegenstände höhere Dignität gibt. — Das Werk erörtert auch die Einteilung der Wissenschaften. Die Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal erschienen 1710, sind aber bereits früher verfaßt worden; sie gehen auf Gespräche L.s mit der Königin Charlotte zurück. Die drei Arten des Übels, das metaphysische, das physische und das moralische Übel, entspringen, das ist das Beweisziel der Essais, nicht Gott als ihrem freien Urheber, sondern sind nach den Gesetzen, die unsere Welt möglich machen, notwendig. Eine bessere Welt als die unsere ist nicht möglich; denn sonst bestände sie durch Gottes Weisheit, Güte und Allmacht. Darum muß die Welt notwendig aus endlichen Wesen bestehen. Aus diesem Begriff der Endlichkeit leitet nun L. die drei Übel ab: das metaphysische Übel ist eine bloße Privation, ein bloßes Fehlen des Vollkommenen, und infolge der mannigfaltigen Abstufung des Seins sind die Unvollkommenheiten mannigfaltig und ungleich; das physische Übel, das sich im Schmerz äußert, entspringt dieser Ordnung des Seins und dient als Erziehungsmittel zur Erringung größerer Güter und als Strafe für Sünden. Jedenfalls hängt das Maß des den einzelnen Wesen zugeteilten Übels von ihrer Stellung im Zusammenhange des Ganzen ab und dient stets ihrem und der Welt Besten; das moralische Übel oder das Böse entspringt der freien Entscheidungsmöglichkeit der geistigen Wesen gegenüber dem von ihnen erkannten Gesetz. Es hat einen weiteren Grund in der Unvollkommenheit, die mit allem Endlichen verbunden ist und in einem Mangel an Deutlichkeit der Vorstellungen zum Ausdruck ge-

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langt, so daß schon aus diesem Grunde die freie Entscheidung des Menschen fehlgehen kann. Die Harmonie des Ganzen erfordert das Böse ebenso wie jede andere Unvollkommenheit, weil sonst das Gute nicht vorhanden wäre. Immer dient es dem Geiste zu seinem Besten; das Reich der Natur und das Reich der G n a d e stehen in Harmonie miteinander. Die erst nach L.s Tode veröffentlichte, für Nicolaus Remond und seine F r e u n d e bestimmte Monadologie, mit der die im gleichen Jadire (1714) verfaßte Abhandlung Principes de la nature et de la grâce vielfach wörtlich übereinstimmt, faßt noch einmal die Lehren L.s über die Substanz und ihren Elementcharakter, über ihre Tätigkeit und die Harmonie der vielen einzelnen geschaffenen Substanzen, über ihr Verhältnis zur Gottheit und ihre Unterschiede untereinander zusammen. Nach der Bestimmung des Wesens der einfachen Substanz bem e r k t L., daß mit den Monaden fortdauernd Veränderungen vor sich gehen, die sämtlich einem inneren Prinzip entspringen. Die Tätigkeiten, die diese Veränderungen bewirken, sind Strebungen, die den Übergang von einer Perzeption der Monade zur andern Perzeption herbeiführen. Die Perzeptionen stellen das Zusammengesetzte dar, das eine Vielheit im Einfachen ist, und werden in der Apperzeption bewußt erfaßt. J e d e bewußte Vorstellung ist ein reflexives Erfassen der vielen unbewußten Vorstellungen d e r Petites perceptions, die in ihrer Gesamtheit den inneren Zustand d e r Monade ausmachen. Das Brausen des Meeres, das wir vernehmen, entsteht aus den vielen einzelnen kleinen Geräuschen der einzelnen Wellen, die wir nicht in ihrer Einzelheit bemerken, sondern eben nur in ihrem Zusammentreffen in sehr großer Zahl. Die Apperzeption ist das Ziel der perzipierenden Tätigkeit der Monade, und ihre Vollkommenheit ist von dem Grade der Deutlichkeit der Bewußtheit abhängig. Die Monaden stehen in einer Stufenfolge mit unendlich vielen Abstufungen, deren hauptsächliche sind: die Stufe, auf welcher die Monade in einem Zustande der Betäubung sich befindet und nur einfache verworrene Vorstellungen hat (monades nues); es folgt die Stufe der (tierischen) Seelen, denen unterschiedene Perzeptionen und Erinnerung eignen (animaux); die höchste irdische Stufe hat der Mensch mit seiner vernünftigen Seele, die von gottähnlichem Geist erfüllt ist und auf sich selbst zu reflektieren vermag (esprits). Darauf erörtert L. die beiden Prinzipien der Vernunfterkenntnisse, das Prinzip des Widerspruchs und das des zureichenden Grundes; anschließend die Unterscheidung von Notwendigen Vernunftwahrheiten und Zufälligen Tatsachenwahrheiten. Diese letzten führen, da ihre Analyse ins Unendliche geht, zur Annahme einer umfassenden Substanz, aus d e r allein die Existenz des mannigfachen Tatsächlichen hergeleitet und verstanden werden kann. Die vielen Einzelmonaden werden von der göttlichen Urmonade durch kontinuierliche Ausstrahlung erzeugt, und Gott ist, wie der Ursprung des Tatsächlichen, auch der des Vernünftigen, der ewigen Wahrheiten, aus denen die notwendigen Wahrheiten ihr (logisches) Sein ableiten. Diese Wahrheiten sind nicht, wie die Tatsachenwahrheiten, von dem göttlichen Willen abhängig, sondern unterstehen allein dem göttlichen Verstände. Gott ist „die Macht, die die Quelle von allem ist, dann das Wissen, welches das Einzelne der Ideen enthält, und endlich der Wille, der nach dem Prinzip des Besten die Veränderungen oder Hervorbringungen b e w i r k t " (Monadol. 48). In ihm sind diese Attribute vollkommen, während sie in den geschaffenen Substanzen Nachahmungen sind. Die geschaffenen Substanzen oder geschaffenen Monaden unterscheiden sich voneinander nach dem Maß ihrer Vollkommenheit, das dem Maß ihrer Tätigkeit entspricht; diese aber ist abhängig von ihrem Besitz an deutlichen Vorstellungen;

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soweit die geschaffene Monade verworrene Vorstellungen hat, ist sie passiv, leidend. Jede der Monaden hat eine besondere Ansicht des Universums infolge ihrer von den anderen jeweils verschiedenen Natur, und so gibt es entsprechend der unendlichen Anzahl der geschaffenen Monaden gleichsam unendlich viele Universa: „Dies ist das Mittel, um init der größtmöglichen Ordnung so viel Mannigfaltigkeit zu erlangen, als möglich ist, d. h. das Mittel, so viel Vollkommenheit zu erlangen, als nur erlangt werden kann" (ebd. 58). In den folgenden Ausführungen wird die Seele als die Entelechie des Körpers, als die zentrale Monade und das Prinzip der Einheit des Organismus bezeichnet. Die Körper befinden sich in einem beständigen Umwandlungsprozeß, der genauer nur als ein dauerndes Fließen verstanden werden kann; denn die Teile des Körpers vergehen und andere kommen neu. Die Seele aber bleibt. Es gibt daher keine Seelenwanderung und keine von einem Körper gänzlich abgesonderte Seele; nur Gott kann als vollkommen körperlos vorgestellt werden. Tod und Neuzeugung sind aus diesem Grunde ebenfalls unmöglich, es gibt nur Développements und Accroissements, Entwicklungen und Vergrößerungen, und Enveloppements und Diminutions, Schrumpfungen und Verkleinerungen. „Man darf also behaupten, daß nicht allein die Seele (der Spiegel eines unzerstörbaren Universums), sondern auch das Tier selbst unzerstörbar ist, wenngleich seine Maschine oftmals teilweise untergeht und organische Stücke annimmt oder abstößt" (ebd. 77). Wenn so auch die Seele und der Körper je ihren eigenen Gesetzen unterworfen sind, so stimmen sie doch auf Grund der zwischen allen Substanzen waltenden prästabilierten Harmonie zusammen; denn sie bringen das gleiche Universum zur Darstellung. Das Gesetz der Seele ist die Zweckursächlichkeit. Sie verwirklicht sich durch die Begehrungstriebe einerseits, die Mittel und Zwecke andererseits; das Gesetz der Körper ist die kausale Ursächlichkeit, die sich in der Bewegung darstellt. Neben dieser Harmonie in den Reichen des Teleologischen und des Kausalen besteht die andere zwischen dem physischen Reiche der Natur und dem moralischen der Gnade: alle Geister bilden in der Vereinigung den Gottesstaat, die allumfassende Monarchie der moralischen Welt unter der Herrschaft Gottes, der der vollkommenste Herrscher des vollkommensten Staates ist. Die Harmonie, in der sich dieses wahrhafte Reich Gottes befindet, bewirkt, daß „die Dinge durch die eigenen Wege der Natur zur Gnade führen, und daß z. B. der Erdball auf natürlichem Wege genau zu den Zeitpunkten zerstört und wiederhergestellt werden muß, wo die Regierung der Geister es der Züchtigung der einen und der Belohnung der anderen wegen erfordert" (ebd. 88). Aus der Liebe zum Herrscher, dem Urheber alles Guten, folgt das Streben aller weisen und tugendhaften Menschen, die Gebote dieses göttlichen Herrschers zu erforschen und zu befolgen; denn sie haben begriffen, daß nichts besser hätte eingerichtet werden können, als es eingerichtet worden ist, wenn sie auch in ihrem gegenwärtigen Zustande nicht alles klar zu verstehen vermögen, und sie sind überzeugt, daß nur ein solches Verhalten und Tun „unser Glück bewirken kann" (ebd. 90). Damit schließt die Monadologie. In den Meditationes de cognitione, veritate et ideis, einer 1684 in den Acta Eruditorum erschienenen Abhandlung, trifft L. grundlegende erkenntnistheoretische Bestimmungen, und im Specium dynamicum pro admirandis naturae legibus circa corporum vires et rnutuas actiones detegendis et ad suas causas revocandis, das ebenda im Jahre 1695 veröffentlicht wurde, wendet er seine metaphysische Theorie auf die Phänomene der Physik an.

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In den Meditationes de cognitione knüpft L. an das cartesische Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit der Cogitationes an und lehrt: „Das Wissen ist . . . entweder dunkel oder klar, das klare entweder verworren oder deutlich, das deutliche aber entweder inadäquat oder adäquat, das adäquate entweder symbolisch oder intuitiv: das vollkommenste aber ist das, welches gleichzeitig adäquat intuitiv ist" (Übers, v. Habs b. Reclam, „Kleinere philos. Sehr.", Lpz. 1883, S. 245). Der dunkle Begriff reicht zur vollständigen Erkenntnis eines Vorgestellten und zu seiner zweifelsfreien Unterscheidung von einem anderen nicht aus. Er macht die Erkenntnis dunkel, die sich auf ihn gründet. Klar wird sie, wenn sie das Vorgestellte wiedererkennt und von anderem unterscheidet. Die klare Erkenntnis ist verworren, wenn die der Unterscheidung von anderem dienenden und hinreichenden Merkmale nicht einzeln aufgezählt werden können, wie z. B. beim Erkennen von Farben, Gerüchen usw. Deutlich wird der Begriff durch vollständige Angabe aller das Vorgestellte von einem anderen unterscheidenden Merkmale, z. B. in den Nominaldefinitionen. Deutliche Erkenntnis ist auch bei einem undefinierbaren Begriffe möglich, wenn er entweder ursprünglich oder Merkmal von sich selbst ist, so daß er nur durch sich selbst erfaßt werden kann. Bei dem inadäquaten Wissen sind von zusammengesetzten Begriffen die einzelnen Merkmale zwar klar, aber nur verworren bekannt; wird alles deutlich erkannt oder die Analyse des Begriffes vollständig durchgeführt, so ist damit die Erkenntnis adäquat. Es ist aber zweifelhaft, ob dem Menschen ein solches Wissen erreichbar ist. Die Begrifflichkeit der Zahlen nähert sich ihm. In den Fällen, in denen ein vollständiger Überblick über die Sache schwer zu gewinnen ist, ersetzen wir die Dinge durch Zeichen, ohne jedesmal ihre genaue Erklärung zu wiederholen: solche Erkenntnis ist eine blinde oder symbolische. Beispiele für sie bieten besonders die Algebra und die Arithmetik. Bei sehr zusammengesetzten Begriffen ist die gleichzeitige Vorstellung aller in ihnen enthaltenen Vorstellungen nicht möglich; gelingt solche Erkenntnis dennoch, so ist sie intuitiv. Nur die intuitive Erkenntnis der deutlich erkannten Dinge führt zum Erlangen der Ideen. Irrtümer entstehen dadurch, daß wir die Analyse eines Begriffes nicht weit genug durchführen, uns also mit einer blinden Erkenntnis begnügen; ein Beispiel hierfür ist der ontologische Gottesbeweis der Scholastiker und des Descartes; man versäumte hier den Nachweis der Möglichkeit der Idee Gottes. Es muß zwischen den Nominaldefinitionen, welche die unterscheidenden Merkmale angeben, und den Realdefinitionen, welche die Möglichkeit der Sache dartun, unterschieden werden. Daraus ergibt sich, daß eine Idee dann wahr ist, wenn der Begriff möglich ist, falsch, wenn er einen Widerspruch enthält. Die Möglichkeit eines jeden Begriffes, der an einem zusammengesetzten Begriffe beteiligt ist, vermag die Möglichkeit eines In diesem zusammengesetzten Begriffe gemeinten Dinges a priori darzutun, wenn sich die zusammensetzenden Begriffe nur nicht untereinander widersprechen; ein solcher Sachverhalt liegt besonders in den kausalen Definitionen vor, durch die man weiß, wie der Gegenstand erzeugt werden kann. Die adäquate Erkenntnis ist auch die Erkenntnis der Möglichkeit der Sache; denn der Begriff ist möglich, wenn die vollständige Analysis widerspruchsfrei durchgeführt ist. Freilich wird es dem Menschen kaum jemals gelingen, analytisch bis auf die ersten Möglichkeiten der Dinge und die unauflösbaren Begriffe, als die unbedingten Eigenschaften Gottes, zurückzugehen; man wird sich mit der erfahrenen Wirklichkeit gewisser Begriffe begnügen und nach ihnen andere bilden. — Erst wenn alle diese angegebenen Erfordernisse für eine Erkenntnis erfüllt sindt neben das cartesische Axiom von der Klarheit und

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Deutlichkeit die Leibnizschen Kriterien des Wahren und Deutlichen getreten sind, und ferner die Wahrheit der Ideen in streng logischer Weise bewiesen ist, kann von wahrer und hinreichender Erkenntnis gesprochen werden. Auch wenn wir mit Malebranche glaubten, daß wir alle Dinge in Gott schauen, so müßten wir dennoch uns eigene Ideen annehmen, die das uns von Gott dispositionell Gegebene aktualisieren, wenn auch unser Geist nicht in allen Fällen ausreicht, die Einzelheiten sich klar bewußt zu machen. Im Specimen dynamicum führt L. aus, daß das Charakteristikum der Substanz nicht die Ausdehnung, sondern das Wirken ist. E r unterscheidet aktive und passive Kraft. Beide können ursprünglich (primitiv) oder abgeleitet (derivativ) sein. Die ursprüngliche aktive Kraft ist die Entelechie oder die allgemeine metaphysische Ursache, die abgeleitete aktive Kraft ist die Einschränkung der ursprünglichen aktiven Kraft in der Welt der gegenständlichen Erscheinung; die ursprüngliche passive Kraft ist das Prinzip des Widerstandes, durch das die Materia prima entsteht, die abgeleitete passive Kraft äußert sich in der Materia secunda, in der körperlichen Masse. E s folgt die Erörterung und Ableitung des Gesetzes der Erhaltung der Kraft und des Gesetzes der Kontinuität, sowie die Ablehnung der Atomtheorie. L, betont, daß die Erscheinungen in der körperlichen Welt nur durch mechanisch wirkende Ursachen erklärt werden dürfen, erst die allgemeinen Gründe für diese Gesetzlichkeit liegen in der höheren Ursache, letztlich der göttlichen Substanz. Die beiden Erklärungsarten der E r scheinungen durch die wirkenden Ursachen (Reich der Kraft) und durch die Zweckursachen (Reich der Weisheit) vermögen sich zu durchdringen, ohne sich zu stören; im Reich der Kraft hat dabei immer das Größte, im Reich der Weisheit das Beste statt. S c h r i f t e n : L. deutsche Schriften, hrsg. v. G. E. Guhrauer, 2 Bde,, 1838—1840, — Geisamtausg. der philos. Schriften v. Joh. Ed, Erdmann; 1840. — Die philos. Schriften v. G. W. L., hrsg. v. C. J . Gerhardt, 7 Bde., 1875—90 (vgl. W. Kabitz in der Deutschen Liter. Zeitg. 1907, Nr. 34 f.; B. Erdmann, im Arch. f. Gesch. d. Philos. IV, 320—323, vgl. hier Stückeverzeichnis d. Erdmannschen u. d. Gerhardtschen Ausg.). — G. W. L., Deutsche Schriften, hrsg. v. W. Schmied-Kowarzik, Bd. 1—2, 1916, — Kl. philos. Aufs, in deutscher Übers., m. Einl., v. Gustav Schilling: L. als Denker, 1846; ferner v. Kirchmann in der Philos, Bibl. u. v. R. Habs in Reclams Universalbibl. — G. W, L., Hauptschriften z. Gründl, d. Philos., übers, v. A. Buchenau, hrsg. v. E. Cassirer, 5 Bde., Philos. Bibl., 1904—06; 2. Aufl. 1924. — Sämtliche Schriften i*. Briefe, hrsg. v. d. preuß. Akad. d. Wissensch, unter Leitg. v. Paul Ritter u. Erich Hochstetter, seit 1924 (etwa 40 Bde. geplant). L i t e r a t u r : C. G. Ludovici, Ausf. Entwurff einer vollst. Historie d. L.schen Philos., 2 Teile, 1737 (ausgezeichnete Sammig. des damals vorlieg, bio- u. bibliograph. Materials). — E. Troeltsch, L., 1908, Dtsche. Gedenkhalle. — P. Ritter, L. u. die dt. Kultur, Gedächtnisrede, gedr. in: Zeitschr. d. hist. Vereins f. Niedersachs. 81 (1916) 165 ff. — W. Wundt, L. zu seinem 200jähr. Todestag, 1917. — W. Kabitz, L.-Biogr., in: K. Fischers Gesch. d. neuer. Philos. III, 5. Aufl., 1920, — B. Erdmann, L. in s. Stelig. zur Mathem. u. Naturwissensch., in: Die Naturwissenschaften, 4. Jahrgang, 1916, 673 ff. — M. Cantor, Vöries, üb. Gesch. d. Mathem., 3. Bd., 2. Aufl. — E. Cassirer, L.' System in s. wissensch. Grundlagen, 1902. — H. Schmalenbach, L., 1921. — H. Heimsoeth, L.' Weltansch. als Urspr. s. Gedankenwelt, Kant-Studien XXI (1917) 365 ff. — B, Jansen, Streiflichter auf d. philos. System L.\ Stimmen d. Zeit 92 (1917) 526 ff. — D. Mahnke, D. Neubeleb, d. L.schen Weltanschauung, Logos 9 (1920) 363 ff.; Leibnizens Synthese von Universalmathematik u. Individualmetaphysik, Sonderdruck aus: Jahrbuch f. Phänomenol. 47, 1925; L., 1927. — R. Hönigswald, G. W. L., Ein Beitr. zur Frage seiner problemgeschichtl. Stellg., 1928. — Hagemeister, Emma, D. ethischen Probleme d. L.schen Theodic6e u. ihre haupts. Vorarb. in der Gesch. d. Ethik, Münster 1929, Diss. — Stieler, Georg, L. u. Male-

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Leicht — Leisegang

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Leicht, Alfred, geb. 4. November 1861 in Schwarzenberg. Promotion Leipzig 1882. Professor, Schulmann.

S c h r i f t e n : Lazarus, d. Begründer der Völkerpsychologie, 1904. — Lazarusstudien, 1912. — Lazarusgedenkschrift am 100. Geburtstage, 1903. — Hrsg.: Pädagog. Briefe von Prof. Dr. M. Lazarus, 1903: Moritz Lazarus' Lebenserinnerungen (mit Nahida Lazarus), 1906.

Leighton, Joseph Alexander, geb. 1870 in Orangeville. Prof. am Hobart College, New York. — Der amerikanische Philosoph L. ist Vertreter eines idealistischen Standpunktes.

S c h r i f t e n : Typical modern conceptions of God or the Absolute of German romantic idealism and of English evolutionary agnosticism with a constructive essay, New York 1901. — Man and the cosmos, an introd. to metaphysics, New York 1922. — Religion and the mind of to-day, New York 1924. — The Individual and the social order, an introd. to ethics and social phil., N. Y. 1926. — Individuality and education, a democratic phil. of education, N. Y. 1928. — Fichte's conception of God, in: Philosophical Review, V, 1896.

Leisegang, Hans, geb. 13. März 1890 in Blankenburg. Promotion in Philosophie bei Clemens Bäumker und Theobald Ziegler in Straßburg 1911. Habilitation für

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Philosophie in Leipzig 1920, a. o. Professor ebda. 1925, o. Professor in Jena 1930, kam 1934 wegen Opposition gegen den Nationalsozialismus ins Gefängnis, verlor seine Professur, studierte Mathematik und Physik, promovierte 1941 zum Dr. rer. nat., arbeitete als technischer Physiker in der Industrie, wurde 1945 wieder o. Professor der Philosophie in Jena, 1948 an der Freien Universität Berlin. Forschungen auf dem Gebiete der hellenistischen Religion, unterstützt durch Studien klassischer Philologie und orientalischer Religionen ergaben für L. die Einsicht, daß die Griechen das Orientalische in seinem Wesen nie verstanden haben, sondern die orientalischen Motive in rein griechische Formen, Weltanschauungen und Weltbilder einfügten. L. bemüht sich, das andersartige Denken zu erschließen, das die hellenistische Weltanschauung, aus der das Christentum erwuchs, im Gegensatz zu unserer Logik auszeichnet. Von hier aus kam L. zu der allgemeineren Feststellung verschiedener Typen des Denkens, die er durch die Geschichte der Philosophie verfolgte und als „Denkformen" systematisch am historischen Material entwickelte. Eine Bestätigung seiner Methode und seiner Theorie fand er in der Deutung der Weltanschauung Lessings, der Denkform Goethes, Hegels und anderer Persönlichkeiten der Literatur- und Philosophiegeschichte. Bezüglich der Systematik der Philosophie ergibt sich für L., daß alles logische Denken nicht durch Logik allein geschaffen wird, vielmehr in seinen besonderen Formen durch die Gegenstandsbereiche mitbestimmt ist, an denen sich das Denken orientiert. Die Gegenstände, die dem Denken in verschiedener Weise vorliegen, z. B. im Verhalten toter Körper zueinander, als Organismen, als Artefakte, aber auch als ideelle Gegenstände, wie Zahlen, Gattungsbegriffe usw., konstituieren jeweils in bestimmter Gruppierung und Auswahl eine bestimmte Wirklichkeitswelt, in der ein Denker lebt. Die von allem Psychologischen absehende Phänomenologie des Denkens, wie sie L. pflegt, deckt nun die Abhängigkeit des Denkens und seiner logischen Formen von dieser jeweils eigentümlichen Gegenstandswelt auf und führt von da zu einer Methaphysik der Erkenntnis und Ontologie. L. will zeigen, daß die Ergebnisse des Denkens nur so weit richtig sind, wie die Denkform der Struktur der Gegenstände entspricht, von denen ein solches Denken gleichsam abgelesen wurde, daß sie aber falsch sind, wenn die an einem Gegenstandsbereich gebildete Denkform dazu verwendet wird, um mit ihr alle Gegenstände zu bearbeiten, wie dies durch die Systematiker der Philosophie meist geschah. S c h r i f t e n : Die Begriffe der Zeit u. Ewigkeit im späteren Piatonismus, 1913. — Der Heilige Geist; das Wesen und Werden der mystisch-intuitiven Erkenntnis in der Philos, u. Religion der Griechen, 1919. — Pneuma Hagion, Der Ursprung des Geistbegriffs d. synopt. Evangelien aus d. griech. Mystik, 1922. — Griech. Phil. v. Thaies bis Piaton, 1922. — Hellenist. Philos., 1923. — Die Gnosis, 1924, 3. Aufl. 1942. — Indices ad Philonis Alexandrini Opera, 2 Bde., 1926—30. — Weltanschauung; philos. Lesebuch, 2 Bde., 1926 (zus. mit Ernst Bergmann). — Deutsche Philos, im 20. Jhdt., 1928. — Denkformen, 1928, 2. Aufl. 1949. — Die Piatondeutung d. Gegenwart, 1929. — Religionsphilos. d. Gegenwart, 1930. — Lessings Weltanschauung, 1931. — Goethes Denken, 1932. — Dante u. das christliche Weltbild, 1941. — Hegel, Marx, Kierkegaard, 1948. — Artikel Logos, Sophia, Physik, Physis, Philon, Platon u. a. in der Realenzyklopädie der klass. Altertumswissenschaften. L i t e r a t u r : Erich Unger, D. Philos, des letzten Jahrzehnts, 1932. — Hans Meyer, Weltanschauung der Gegenwart, 1949, S. 299 f.

Lemoine, J . Albert Felix, 1824 bis 1874. Prof. in Nancy, Bordeaux, seit 1862 an der École Normale in Paris.

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S c h r i f t e n : Quid sit materia apud Leibnitium, 1847. — Charles Bonnet de Genève, philosophe et naturaliste, 1850. — L'àme et le corps, 1862. — Le vitalisme et l'animisme de Stahl, 1864. — De la physiognomie et de la parole, 1865, — L'habitude et l'instinct, 1875. Lenin, Vladimir Iljitch (Uljanov), geb. 18. 4. 1870 in Simbirsk, gest. 21. 1. 1923. Der Vater Lenins war in seinen späteren J a h r e n Staatsrat in Simbirsk. Nach juristischen und staatswissenschaftlichen Studien an der Universität zu Kasan wurde Lenin wegen Teilnahme an revolutionären Kundgebungen der Studentenschaft relegiert und verbannt. Später wurde es ihm wieder möglich, seine Studien fortzusetzen; 1889 legte er das juristische Staatsexamen ab. Nachdem er sich zunächst in Petersburg als Rechtsanwalt niedergelassen hatte, wandte er seine Interessen in wachsendem M a ß e den Aufgaben der politischen Tätigkeit zu. E r traf sich mit Plechanow im Ausland. 1897 wurde er als Urheber eines Streiks in Petersburg verhaftet und für drei J a h r e nach Sibirien verbannt. Von nun an lebte er an verschiedenen Orten im Ausland. Mit Plechanow gründete er die revolutionäre Zeitschrift „ I s k r a " . Nach dem Scheitern der Revolution von 1905 verfaßte er die philosophische Schrift: „Materialismus und Empiriokritizismus". Nach dem Ausbruch der russischen Revolution von 1917 kehrte er nach Rußland zurück und stürzte im Oktober 1917 die Kerenski-Regierung. Von diesem Zeitpunkt an war Lenin bis zu seinem Tode als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare der Führer des russischen Volkes. A l s Philosoph reiht sich Lenin in die Entwicklung des „historischen Materialismus" ein, die in seiner Zeit vor allem durch die Schriften Plechanows vertreten wird. E r kennzeichnet das Werden dieser Philosophie mit folgenden Worten: „Sowohl M a r x und Engels, als auch J , Dietzgen betraten die philosophische Arena zu einer Zeit, als bei den fortschrittlichen Intellektuellen im allgemeinen und in den Arbeiterkreisen im besonderen der Materialismus vorherrschte. E s ist daher ganz natürlich, daß M a r x und Engels ihr ganzes Augenmerk nicht auf die Wiederholung des Alten richteten, sondern auf eine ernsthafte theoretische E n t w i c k l u n g des Materialismus, auf seine Anwendung auf die Geschichte, d. h. auf die V o l l e n d u n g des Gebäudes der materialistischen Philosophie b i s o b e n . E s ist ganz natürlich, daß sie sich auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie darauf b e s c h r ä n k t e n , die Irrtümer Feuerbachs zu korrigieren, die Trivialitäten des Materialisten Dühring zu verlachen, die F e h l e r Büchners zu kritisieren . , . und das zu unterstreichen, was diesen in den Arbeiterkreisen am meisten verbreiteten und populären Schriftstellern b e s o n d e r s fehlte, nämlich die Dialektik. Um die A B C - W a h r h e i t e n des Materialismus, die die Hausierer in Dutzenden von Auflagen in die W e l t hinausschrien, machten sich Marx, Engels und J . Dietzgen keine Sorge, sie richteten ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, daß diese A B C Wahrheiten nicht vulgarisiert, nicht zu sehr vereinfacht werden, nicht zu einer Gedankenstagnation führen (Materialismus unten, Idealismus oben), nicht dazu, daß die w e r t v o l l e Frucht der idealistischen Systeme, die Hegeische Dialektik, vergessen wird — diese echte Perle, die die Hähne Büchner, Dühring u. Co. (samt Leclair, Mach, Avenarius usw.) aus dem Misthaufen des absoluten Idealismus nicht auszusondern vermochten" (Materialismus und Empiriokritizismus, sämtl. W e r k e deutsch, Bd. X I I I , Wien-Berlin, 1927, S. 241). E i n e erkenntnistheoretische Auslegung der materialistischen Dialektik, die Lenin durchführt, nachdem die erkenntnistheoretischen Probleme in seiner Zeit eine besondere B e deutung gewonnen haben, zeigt eine Vereinigung des Relativismus und der Objektivität als für sie charakteristisch. Bereits „die materialistische Dialektik von M a r x und Engels schließt unbedingt den Relativismus ein, reduziert sich aber

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nicht auf ihn, d. h. sie gibt die Relativität aller unserer Erkenntnisse zu, aber nicht im Sinne der Verneinung der objektiven Wahrheit, sondern im Sinne der geschichtlichen Bedingtheit der Grenzen der Annäherung unserer Kenntnisse an die Wahrheit" (a. a. O. S. 125). Ebenso wie die Dialektik ist auch das Moment des Materialismus innerhalb des Ganzen der materialistischen Geschichtsauffassung vor der Aufhebung der Objektivität durch einen Relativismus oder Idealismus, wie sie auch im Philosophieren der „empiriokritizistischen" Schule Machs vorliegt, zu bewahren. Der Politiker Lenin verteidigt hier eine nach seiner Auffassung fundamentale geistige Position des Denkens der Arbeiterschaft. „Auf dem Wege über den Machismus werden direkte philosophische Reaktionäre und Prediger des Fideismus als Lehrer der Arbeiter eingeschmuggelt" (a. a. 0 . S. 216), und „die neueste Philosophie ist genau so parteilich, wie die vor zweitausend Jahren. Die kämpfenden Parteien sind dem Wesen der Sache nach, das durch gelahrtquacksalberische neue Namen oder durch schwachsinnige Parteilosigkeit verhüllt wird, der Materialismus und der Idealismus. Letzterer ist nur eine verfeinerte raffiniertere Form des Fideismus, der in voller Rüstung gewappnet dasteht, über große Organisationen verfügt, und nach wie vor unausgesetzt auf die Massen einwirkt, indem er das geringste Schwanken des philosophischen Gedankens sich zunutze macht. Die objektive Klassenrolle des Empiriokritizismus läuft ganz hinaus auf Handlangerdienste für die Fideisten in ihrem Kampf gegen den Materialismus überhaupt und gegen den historischen Materialismus insbesondere" (a. a. 0 . S. 367). Hier liegt das Interesse begründet, das Lenin an der Erkenntnistheorie nimmt, und hier liegen die Motive für seine entschiedene Stellungnahme für einen materialistischen Standpunkt auch in der Auffassung der Erkenntnis. Er handelt damit auch im Sinne seiner eigenen These: „Leben und Praxis müssen der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein" (a. a. 0 . S. 131). Die Stellung gegenüber dem Problem „Idealismus" oder „Materialismus" ist entscheidend für die philosophische Eigenart der Denker überhaupt. „Die erkenntnistheoretisch wirklich wichtige Frage, die die philosophischen Richtungen scheidet, besteht nicht darin, welchen Grad von Genauigkeit unsere Beschreibungen der kausalen Zusammenhänge erreicht haben und ob diese Angaben in einer exakten mathematischen Formel ausdrückbar sind, sondern darin, ob die Quelle unserer Erkenntnis dieser Zusammenhänge eine objektive Gesetzmäßigkeit der Natur ist, oder die Beschaffenheit unseres .Geistes, das diesem eignende Vermögen, bestimmte apriorische Wahrheiten zu erkennen usw." (a.a.O. S. 150). So gibt es eine breite Front, die sich in immerwährendem Angriff gegen den Materialismus richtet: „Wer ein wenig mit der philosophischen Literatur vertraut ist, wird wissen, daß es kaum einen modernen Professor der Philosophie (und auch der Theologie) geben dürfte, der sich nicht direkt oder indirekt mit der Widerlegung des Materialismus befaßt hätte. Hundertmal, tausendmal wurde verkündet, daß der Materialismus widerlegt sei, und bis heute fährt man fort, ihn zum hundertundersten oder tausendundersten Male zu widerlegen" (a. a. 0 . S. 3). Eine solche scheinbare Widerlegung sieht Lenin im Empiriokritizismus von Mach und seiner Schule, der lehrt, daß nur Empfindungen uns gegeben und nur Verhältnisse von Empfindungen erkennbar sind. Lenin will dagegen die Objektivität der Erkenntnis der Materie in Einklang bringen mit der Tatsache, daß die Sinnesorgane und die durch diese vermittelten Empfindungen am Erkenntnisvorgang beteiligt sind. „Materialist sein, heißt die objektive Wahrheit, die uns durch die Sinnesorgane zugänglich wird, anerkennen" (a. a. O. S. 120), und „eben das ist Materialismus: die Materie wirkt auf unsere Sinnesorgane und erzeugt die Empfindung. Die

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Empfindung ist abhängig vom Gehirn, von den Nerven, der Netzhaut usw., d. h. von in bestimmter Weise organisierter Materie. Die Existenz der Materie ist unabhängig von der Empfindung. Die Materie ist das Primäre. Die Empfindung, der Gedanke, das Bewußtsein sind die höchsten Produkte der in bestimmter Weise organisierten Materie. Dies ist die materialistische Auffassung überhaupt und die Auffassung von Marx und Engels im besonderen" (a. a. O. S. 37). Der Grund für diese Überzeugung liegt in der Erfahrung. „Dieselbe Erfahrung . . d i e in uns die festeste Uberzeugung bewirkt, daß u n a b h ä n g i g von uns andere Menschen und nicht bloß Komplexe meiner Empfindungen des Hohen, Niedrigen, Gelben, Harten usw. existieren, dieselbe E r f a h r u n g bewirkt bei uns die Überzeugung, daß Dinge, Welt und Umgebung unabhängig von uns existieren. Unsere Empfindungen, unser Bewußtsein sind nur das A b b i l d der Außenwelt, und es ist selbstverständlich, daß ein Abbild nicht ohne das Abgebildete existieren kann, das Abgebildete aber unabhängig von dem Abbildenden existiert. Die » n a i v e « Ü b e r z e u g u n g der Menschen wird vom Materialismus b e w u ß t zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht" (a. a. O. S. 53). Neben die naive Überzeugung tritt das Bewußtsein des Naturwissenschaftlers: „Für jeden Naturwissenschaftler, der sich durch die'Professorenphilosophie nicht verwirren läßt, sowie für jeden Materialisten ist die Empfindung tatsächlich die unmittelbare Verbindung des Bewußtseins mit der Außenwelt, die Verwandlung der Energie des äußeren Reizes in eine Bewußtseinstatsache. Diese Verwandlung beobachtet jeder Mensch millionenmal und beobachtet sie wirklich auf Schritt und Tritt. Das Sophistische der idealistischen Philosophie liegt gerade darin, daß die Empfindung nicht für die Verbindung des Bewußtseins mit der Außenwelt gehalten wird, sondern für eine Scheidewand, für eine Mauer, die das Bewußtsein von der Außenwelt trennt, nicht für das Abbild einer der Empfindung entsprechenden äußeren Erscheinung, sondern für das »einzig Seiende«" (a. a. O. S. 33). Im Gegensatz zum Empiriokritizismus wie zu jedem Idealismus usw. ergibt sich also: „Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen kopiert, photographiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert" (a. a. O. S. 117). Analog dem Einbezogensein eines Momentes der Relativierung in die im ganzen die Objektivität nicht aufhebende Dialektik verbindet der historische Materialismus ebenfalls eine geschichtliche Relativierung des jeweiligen Standes der Erkenntnis mit der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis als Erkenntnis einer absoluten Wahrheit. „Vom Standpunkt des modernen Materialismus, d. h. des Marxismus, sind nur die Grenzen der Annäherung unserer Erkenntnisse an die objektive, absolute Wahrheit geschichtlich bedingt, die Existenz dieser Wahrheit selbst ist u n b e d i n g t , unbedingt ist, daß wir uns ihr nähern. Geschichtlich bedingt sind die Konturen eines Bildes, aber unbedingt ist, daß dieses Bild ein objektiv existierendes Modell wiedergibt. Geschichtlich bedingt ist, zu welcher Zeit und unter welchen Umständen wir in unserer Erkenntnis des Wesens der Dinge bis zu der Entdeckung des Alizarins im Kohlenteer kamen oder bis zu der Entdeckung der Elektronen im Atom, aber unbedingt ist, daß jede solche Entdeckung ein Vorwärtsschreiten der »unbedingt objektiven Erkenntnis« ist. Kurz gesagt, geschichtlich bedingt ist jede Ideologie, aber unbedingt ist, daß jeder wissenschaftlichen Ideologie (im Unterschied z. B. zur religiösen Ideologie) eine objektive Wahrheit entspricht, eine absolute Natur" (a. a. 0 . S. 124). Lenin erklärt es ,,für eine spezifisch kantische und Humesche Schrulle, zwischen der E r s c h e i n u n g und dem D i n g a n s i c h eine p r i n z i p i e l l e Grenze zu ziehen" (a. a. O. S. 102), aber seine letzte Überzeugung hebt auch die relative

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Grenze zwischen beiden auf zugunsten einer Überzeugung, für die die Realität an sich zuletzt eine rein naturhafte ist: „Die Gegenstände unserer Vorstellungen unterscheiden sich von unseren Vorstellungen, das Ding an sich unterscheidet sich von dem Ding für uns, denn letzteres ist nur ein Teil oder eine Seite des ersteren, so wie der Mensch selbst nur ein Teil der in seinen Vorstellungen abgebildeten Natur ist" ( a . a . O . S , 10). Wie Lenin in entschiedener Weise gegen jedes Eindringen eines „idealistischen" Moments in die Auffassung vom Wesen der Erkenntnis kämpft, so wendet er sich scharf gegen jedes „idealistische", „opportunistische" oder „volkstümlerische" Element in der Auslegung des Sozialismus. Er will den Marxismus als konsequente Theorie des Klassenkampfes in Theorie und Praxis von jedem Kompromiß freihalten. Dabei spricht er aber der Intelligenz nicht nur eine Bedeutung als einem Exponenten einer aus sich heraus geschehenden ökonomischen Entwicklung zu, sondern er betont ihren aktiven Charakter und ihre wesentliche Leistung nicht allein für das Entstehen der modernen sozialistischen Gedankenwelt, sondern auch für die Revolution und für die Neugestaltung der Gesellschaft. So wenig eine bloße Spontaneität der Arbeiterschaft im rein wirtschaftlichen Kampf in einer geschichtlichen Entwicklung oder ein Terrorismus einzelner die gesellschaftlichen Fortschritte heraufführen können, so wenig vermag die Arbeiterklasse auf eine politische Theorie und auf eine Erkenntnis ihrer Situation im Ganzen der Gesellschaft, also auf eine wissenschaftliche Soziologie zu verzichten. Dabei ist jeder Versuch einer Anpassung des wissenschaftlichen Niveaus an die Fassungskraft der niedrigsten Schichten, statt energischer Bemühung, diese auch geistig zu heben, eine Gefahr für die Interessen des Sozialismus. Jede Selbstpreisgabe der eigenen Aktivität der Intelligenz gegenüber der Spontaneität der wirtschaftlichen Aktion der Arbeiterschaft liefert diese in Wahrheit nur den Einflüssen jener „bürgerlich" gesonnenen Sozialisten, wie Kautsky und Bernstein aus, gegen deren „Revision" der marxistischen Thesen und Programmatik sich Lenin entschieden absetzt. Die selbständige Aktivität der Intelligenz ist aber von Willkürfreiheit zu unterscheiden. Wie schon Hegel die Freiheit zuletzt in der selbstentschlossenen Erfüllung historischer Notwendigkeiten sieht und Plechanow diesem Gedanken eine materialistische Wendung gibt, indem er betont, daß gerade das Bewußtsein, der Notwendigkeit eines historischen Prozesses zur Verwirklichung zu verhelfen, der geistigen Aktivität und der Freiheit der Persönlichkeit einen starken Rückhalt gibt, so bildet auch für Lenins Auffassung eine Notwendigkeit den Hintergrund des Bewußtseins auch von der Gültigkeit des Wissens. Wir wissen von der Existenz dieser Notwendigkeit „aus derselben Quelle, aus der wir wissen, daß die Dinge außerhalb unseres Bewußtseins und unabhängig von diesem existieren, nämlich aus der Entwicklung unserer Kenntnisse, die jedem Menschen millionenfach zeigt, daß sich Nichtwissen in Wissen verwandelt, sobald der Gegenstand auf unsere Sinnesorgane wirkt, und daß umgekehrt Wissen sich in Nichtwissen verwandelt, wenn die Möglichkeit solcher Wirkung aufgehoben wird" (a. a. O. S. 183). Die Erkenntnis selbst unterliegt somit auch dem Entwicklungsgedanken, wie er dem Naturalismus und der Dialektik eigentümlich ist, deren Verbindung im Ganzen der Philosophie Lenins den historischen Materialismus charakterisiert. S c h r i f t e n : Sämtliche Werke, Wien-Berlin 1928—1930. — Ausgewählte Werke in 12 Bänden, Wien-Berlin 1932. — Ausgewählte Werke in 2 Bänden, Bd. I Moskau 1946, Bd. II Moskau 1947 (in deutscher Sprache). — Briefe an Maxim Gorki 1903—1913, Wien 192. L i t e r a t u r : Heinz Horn, L. als Philosoph, Dresden 1933. — Piaton Michajlowiö Kerzencev, Das Leben Lenins, übers, a, d. Russ., Moskau 1937. — Georg Lukács, Lenin, Studie über den Zushg. d. Gedanken, Berlin 1924. — Josef Stalin, Lenin, Moskau 1939. — Philosophen-Lexikon

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Lennerz — Leone Ebreo

Ernst Drahn, Lenin. Eine Bio-Bibliographie, Berlin 1924. — N. K. Krupskaja, Erinnerungen an Lenin, Wien-Berlin 1929. — Josef Stalin, Fragen des Leninismus, deutsch 1948. — Lenin, Wladimir Iljitsch. Ein kurzer Abriß seines Lebens und Wirkens (ohne Verfasser), Moskau 1947. •—• W. Ziegenfuß, Lenin. Soziologie und revolutionäre Aktion im politischen Geschehen, Berlin 1948.

Lennerz, Heinrich, geb. 24. Juni 1880 in Kempen (Rheinl.). S. J. Prof. an der Gregorianischen Universität Rom, S c h r i f t e n : Schelers Konformitätssystem u. die Lehre d. kath. Kirche, 1924. — Natürl. Gotteserkenntnis, 1926. — Hrsg. v. Lehmen, Lehrb. d. Philos., III, 4./5. Aufl. 1923. — Salva illorum substantia, in: Greg, 3 u. 4, 1922,

Lenz, Joseph, geb. 19. März 1892 in Heckhuscheid. Dr. phil. Innsbruck* 1916 und Bonn 1921. Doz. für Philosophie am Priesterseminar in Trier 1919, Prof. ebda. 1921. S c h r i f t e n : Die docta ignorantia oder mystische Gotteserkenntnis des Nikolaus Cusanus in ihren philos. Grundlagen, 1923. — Vorschule d. Weisheit, Würzburg 1941; 2. A. 1948.

Léon, Xavier, geb. 21. Mai 1868, gest. 21. Okt. 1935. Schüler von Darlu am Lycée Condorcet und Schüler von Boutroux. Prof. an der Sorbonne. Organisator der philosophischen Arbeit in Frankreich. Mit Darlu und Ravaisson gründet er 1893 die Revue de Métaphysique et de Morale, um die spiritualistische Philosophie gegen den empirischen Positivismus durchzusetzen. Er ruft die Internationalen Kongresse für Philosophie ins Leben; der erste wird 1900 in Paris von Boutroux geleitet. L. ist auch Gründer der Société Française de Philosophie (1901). Seine eigene philosophische Arbeit gilt Fichte. S c h r i f t e n : La philosophie de Fichte, 1902. — Fichte et son temps, 2 Bde. in 3 Tien., Paris 1922, 24, 27,

Leonardo da Vinci, geb. 1452 in Vinci bei Empoli, gest. 2, Mai 1519 in Schloß Cloux bei Amboise. Der Maler L. war auch als Mathematiker, Physiker und Philosoph genial, ein Vorläufer des Galileo Galilei, beeinflußt von der Pariser Schule der Occamisten. Die Mathematik ist nach L. die einzige wahrhaft erkennende Wissenschaft. Daher ist in dem Gebiet der Physik die Mechanik die vollkommenste Disziplin; denn sie vermag sich am vollkommensten der Mathematik zu bedienen. Das Geschehen in der Natur verläuft mit Notwendigkeit, wie Mathematik und mathematische Naturwissenschaften zeigen, sie weicht von den ihr eigenen Gesetzen niemals ab. Andererseits gibt L. die Erklärung, daß die Bewegung, die das Fundament des Naturgeschehens bildet, auf einer spirituellen Macht beruht, die er als die Naturkraft für das Naturgeschehen in Anspruch nimmt. Auch sonst durchbricht er die konsequente kausalwissenschaftliche und mathematische Erklärungsweise, wenn er davon spricht, daß der Teil von sich aus die Tendenz zum Ganzen habe, weil die Aufnahme ins Ganze seiner eigenen Erhaltung zugute komme. Denn sein Teilcharakter bedeute seine Unvollkommenheit, und diese wolle er überwinden. Wie denn überhaupt bei L. die gesamte Natur ein beseeltes Ganzes und auf oberste Zwecke hingeordnet ist. S c h r i f t e n : Schriften, hrsg. v, M. Ch, Ravaisson-Mollieu, 6 Bde., Paris 1881—91. L i t e r a t u r : Marie Herzfeld, L. d. V., Der Denker, Forscher u. Poet, 1906, 3. A., Jena 1911 (enthält deutsche Übersetzungen). — P . Duhem, Étude sur L. d. V,, Paris 1906; seconde série, Paris 1908: troisième série, Paris 1913. — G. Gentile, Bruno e il pensiero del rinascimento, Florenz 1920 (auch über L. d, V.).

Leone Ebreo (Leo Hebraeus, eig. Name; Abrabanel, Juda), geb. zwischen 1460 und 1463 zu Lissabon, gest. zwischen 1520 und 1535. Jüdischer Arzt und Philosoph. In seinem „Dialog über die Liebe" verbindet L. E. den Neupiatonis-

Leonhardi — Leroux

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m u s des I b n G e b i r o l m i t d e m A r i s t o t e l i s m u s des M a i m o n i d e s u n d m i t e c h t p l a t o n i s c h e n G e d a n k e n . D e r W i r k u n g s g r a d L . E . s auf S p i n o z a ist s t r i t t i g . S c h r i f t e n : Dialoghi dell' amore, Roma 1535, Venedig 1541, Bari 1929. L i t e r a t u r : Pflaum, Heinz, Die Idee der Liebe. Leone Ebreo, 2 Abhandlungen z. Gesch. d. Philos, in der Renaissance, 1926. — Zimmels, L. Hebräus, 1886. — E. Solmi, Benedetto Spinoza e L. E., 1903. — Carl Gebhardt, Spinoza u. der Platonismus, in: Chron. Spinozanum, I, 1921, S, 178 ff. — G. Gentile, L. E. e Spinoza, in: Studii sul Rinascimento, 1923, S. 96 ff. L e o n h a r d i , H e r m a n n K a r l F r h r . v., g e b . 12. M ä r z 1 8 0 9 in F r a n k f u r t a. M . , g e s t . 2 1 . A u g . 1 8 7 5 in P r a g . S e i t 1 8 4 9 P r o f . in P r a g . A n h ä n g e r K . C h r . F r . K r a u s e s , S c h w i e g e r s o h n v o n ihm. L . b e r i e f u n d l e i t e t e den e r s t e n P h i l o s o p h e n k o n g r e ß , d e r im J a h r e 1 8 6 8 in P r a g .stattfand. S c h r i f t e n : Der Philosophenkongreß als Versöhnungsrat, 1869. — Sätze aus d. theoret. u. prakt. Philos. Erneute Vernunftkritik, 1869. — L. gab zahlreiche Schriften Krauses u. die Ztschr. „Die neue Zeit, freie Hefte f. vereinte Höherbildung der Wissensch, u. des L e b e n s " 1869—75 heraus. L e o n t i u s v o n B y z a n z , g e b . um 4 8 5 in K o n s t a n t i n o p e l , g e s t . u m 5 4 3 e b d a . N e u p l a t o n i k e r , in d e s s e n s y n k r e t i s t i s c h e n S c h r i f t e n e i n V o r d r i n g e n d e r a r i s t o t e l i s c h e n D e n k w e i s e in d e r P a t r i s t i k z u e r s t d e u t l i c h b e m e r k b a r w i r d . S c h r i f t e n : Zeugnisse bei J . P. Migne, Sériés G r a e c a , Bd. 86, 1. L i t e r a t u r : F . Loofs, L. v. B., 1887, T e x t e u. Untersuchgn. III, 1 u. 2; ders., Realenzyklop. f. protesl. Theol. u. Kirche, XI, 3. Aufl. 1902, 394 ff. L e o n t j e w , K o n s t a n t i n N i k o l a j e w i t s c h , g e b . 1 8 3 1 im G o u v . K a l u g a , g e s t . 2 4 . N o v . 1891 b e i M o s k a u , R u s s i s c h e r A r z t und P h i l o s o p h . — F u r c h t ist d e r A n fang aller W e i s h e i t und L i e b e allein ihre F r u c h t . Die V ö l k e r durchlaufen eine E n t w i c k l u n g v o n j u g e n d l i c h e r E i n f a c h h e i t zu e n t f a l t e t e r K o m p l e x h e i t . K o m p l e x e G e s e l l s c h a f t s f o r m e n m ü s s e n mit G e w a l t b e h e r r s c h t w e r d e n , S c h r i f t e n : Ges. Sehr., hrsg. v. I. Fudel, 9 Bde., Moskau 1912—13. L i t e r a t u r : Erinnerungsschrift für L., Petersburg 1911 (m. Bibliogr.). — Berdjajeff, N., K. L. (russ.), Paris 1926; 2. A. 1938. — Masaryk, T. G., Zur russ. Gesch.- und R e ligionsphilos.; 2 Bde., 1913. — Miliukov, P. N., Le mouvement intellectuel russe, franz. Übers., Paris 1918; Kap. 8. L e o p a r d i , G i a c o m o , G r a f , g e b . 2 9 . J u n i 1 7 9 8 in R e c a n a t i , g e s t . 14. J u n i 1837 in N e a p e l . I t a l i e n i s c h e r D i c h t e r , V e r t r e t e r p e s s i m i s t i s c h e r W e l t a n s c h a u u n g , v o n weltschmerzlicher Grundstimmung. S c h r i f t e n : Pensieri, 1845, deutsch 1928. — Pensieri di varia filosofia e di bella letteratura, 7 Bde., m. Einl. v. Carducci, 1898—1900. — Scritti vari inediti di G. L., 1906. — Il testamento letterario di G. L., 1921. — Briefwechsel, hrsg. v. Viani u. Piergili, 5. Aufl., 3 Bde., 1892. — Epistolario, hrsg. v. F . Moroncini, 7 Bde., Florenz 1934/42. — Opere, hrsg. v. Ranieri, 2 Bde., 1845—46; hrsg. v. De Robertis, 3 Bde., Mailand 1937 f. — Gesamtausgabe, hrsg. v, F . Flora, Mailand, seit 1937. L i t e r a t u r : Vossler, Karl, L., 1923; 2. Aufl. 1930. — Zottoli, L., 1927. — MazzatiniMenghini, Bibliografia Leopardiana, 1931. — F . L. Mannucci, L., Turin 1934, — A. Momigliano, I „Pensieri" die G. L., Bari 1938. — G. Gentile, Poesia e filosofia di G. L., Florenz 1939. — A. Tilgher, G. L., Rom 1940. L e r o u x , P i e r r e , g e b . 17. A p r i l 1797 in B e r c y b e i P a r i s , g e s t . 11. A p r i l 1 8 7 1 in P a r i s . L . ist s t a r k b e e i n f l u ß t v o n C o n d o r c e t und d e r b e d e u t e n d s t e P h i l o s o p h d e s S a i n t - S i m o n i s m u s . D i e M e n s c h h e i t h ä l t e r für r e a l e r als d a s I n d i v i d u u m . D i e s e s s t e l l t für s i c h b e t r a c h t e t n u r e i n e A b s t r a k t i o n d a r . S c h r i f t e n : Zus. mit L. Reynaud: Encyclopédie nouvelle, Paris, 8 vol., 1838—41. — Réfutation de l'éclecticisme, Paris 1839; 2. Aufl. 1841. — De l'Humanité, de son

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Le Roy — Lessing, Gotthold Ephraim

principe et de son avenir, 2 Bde., Paris 1840; 2. éd. 1847. — D'une religion nationale, Boussac 1846, — Du Christianisme et de son origine démocratique, Paris 1848. — La grève de Samarez, Paris 1863. — Job, Paris 1866. — Hrsgbr. von ,,Le Globe". L i t e r a t u r : Mirecourt, Eugène de, Les contemporains, Pierre Leroux, Paris 1896. — P. F. Thomas, P. L„ Paris 1904. — H. Mougin, P. L., Paris 1938. Le Roy, Edouard, geb. 1870 in Paris. Prof. am Collège de France. — L. R. vertritt eine Verbindung von Pragmatismus und moralischem Dogmatismus. A l l e s Wissen hat nur praktischen W e r t . Die Dogmen schreiben vor zu handeln, als ob ein persönlicher Gott wäre. In seinem Kampf gegen den Thomismus stützt L. R. sich auf Bergsons Spiritualismus, dem er auch sonst anhängt. S c h r i f t e n : Science positive et philos, de la liberté, in: Congr. intern, de Philos., Par. 1900. — Dogme et critique, Paris 1906; 4. éd. 1907. — Science et philos., in: Rev. de Mét., Paris 1899—1900. — Une philos, nouvelle: H. Bergson, Paris 1912. — L'exigence idéaliste et le fait de l'évolution, Paris 1927. — Les origines humaines et l'évolution de l'intelligence, Paris 1928. — Le problème de Dieu, 1929; 10. éd. 1930. — La pensée intuitive, 1 u. 2, Paris 1929—30. — Introduction à l'étude du problème religieux, 1944. Leroy, Georges, 1723 bis 1789. Schüler Condillacs, Verteidiger des Helvetius, lieferte in seinen Lettres philosophiques sur l'intelligence et la perfectibilité des animaux (Paris 1768) Ansätze zu einer vergleichenden Psychologie. S c h r i f t e n : Außer den Lettres: Examen des critiques du livre intitulé: de l'esprit, Paris 1760 (gegen Voltaire). — Réflexions sur la jalousie, Paris 1772. L i t e r a t u r : M. Marx, Ch. G. L. u. s. Lettres philosophiques, Ein Beitr. zur Gesch. der vergleich. Psychologie des 18. Jhdts., 1898, Lersch, Philipp, geb. 4. A p r i l 1898 in München. Dr. phil. Pd. für Philosophie und Psychologie, T. H. Dresden 1929, a. o. Prof. dort 1936, o. Prof. Breslau 1937, Leipzig 1939, jetzt in München. S c h r i f t e n : D. Traum in der deutschen Romantik, 1923. — Die Lebensphilos. der Gegenwart, 1932. — Gesicht u. Seele, Grundlinien einer mimischen Diagnostik, 1932. — Der Aufbau d. Charakters, Leipzig 1938 und 1942. — Das Probl. der Vererb, des Seelischen, Leipzig 1942. — Seele u. Welt, Leipzig 1941. — Vom Wesen der Geschlechter, München 1947. — Hrsg.: Zeitschrift für angewandte Psychol, u. Charakterkunde. Lesage, Georges Louis, 1724 bis 1803. Schweizer Naturwissenschaftler, lebte in Genf. L. lehrte, daß die Gravitation auf der sehr schnellen Bewegung äußerst kleiner im Räume befindlicher Körper, der corpuscules ultramondains, beruhe, die in allen Richtungen stattfinde. Diese Theorie verband er mit dem Newtonischen Gravitationsgesetz. S c h r i f t e n : Abhdlg. im Journal des Savants, 1764; in den Berliner Memoiren, 1782. — Physique mécanique, z. Tl. veröff. von Prévost, 1818. — Handschriften in der Bibl. publique, Genf. Leser, Hermann, geb. 1. Juli 1873 in Weimar, gest. Juni 1937. Privatdoz. an der Universität Erlangen 1901, a. o. Prof. ebda. 1908, o. Prof. ebda. 1921. S c h r i f t e n : Zur Methode d. krit. Erkenntnistheorie, 1900. — D. Wahrheitsproblem unter kulturphilos. Gesichtspunkt., 1901. — Grundcharakter u. Grundprobleme der Euckenschen Philos., 1907. — J . H. Pestalozzi, 1908. — Einf. in die Grundprobleme d. Erkenntnistheorie, 1911. — Der Idealismus des Deutschen, 1918. — Die pädagog. Probleme in der Geistesgesch. der Neuzeit, 3 Bde., 1925—28. Lessing, Gotthold Ephraim, geb. 22. Jan. 1729 in Kamenz (Lausitz), gest. 15. Febr. 1781 in Braunschweig. — L., der deutsche Schriftsteller und Dichter der Aufklärung, ist durch seine Stellungnahme zu den Problemen der Religion, der Moral, der Kunst und der Geschichte auch für die Philosophie von be-

Leasing, Gotthold Ephraim

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sonderer Bedeutung. Das Denken L.s steht unter mannigfachem Einfluß: unter dem der Patristik, Spinozas, Leibniz', Shaftesburys, Wolfis, Diderots und Herders; er hat seine Anschauungen nicht zu einem System vereinigt; aber seine Weltanschauung ist einheitlich und geschlossen. Sie entspringt einem zur Haltung gewordenen Rationalismus, der in fast leidenschaftlicher Weise nur die Vernunft und ihre kritische Kraft anerkennt. L. nahm seinen Ausgang von einer sich ständig vertiefenden Kritik des theologischen Glaubens und besonders der christlichen Religion. Das Ziel, zu dem er hinstrebt, ist die Schaffung eines Ideals, das dem Leben die Norm gibt und weder von der Religion noch von der Metaphysik abhängig ist. Es soll seine Kraft allein aus der rationalen Idee der Humanität gewinnen, soll die Menschlichkeit des Menschen, seine Würde, seine Unabhängigkeit in einem von äußerem Zwange freien Handeln verwirklichen und zur Entfaltung bringen, damit ihm sein Glück in der Gemeinschaft der gleichgesinnten Mitmenschen wird. Durch seine schöpferische Kritik wird L. zum Lehrer und Beginn der deutschen klassizistischen Kultur. Seine Gesellschaftslehre führt bis zu einer bewußt kosmopolitischen und internationalen Kulturauffassung, die er am zureichendsten in der Freimaurerei verwirklicht findet. In seiner Schrift über die „Erziehung des Menschengeschlechts" spricht L. seine geschichtsphilosophischen Ansichten aus. Die Entwicklung der Menschheit in der Geschichte verläuft entsprechend der Entwicklung des Einzelnen. Ei* unterscheidet die drei Stufen des Kindes, des Jünglings und des Mannes. Das Kind strebt nach unmittelbar gegenwärtigem Genuß, der Jüngling nach zukünftiger Ehre und Wohlstand, deren Vorstellung sein Tun in der Gegenwart bestimmt. Der Mann handelt, auch wenn eine Aussicht auf gegenwärtigen oder künftigen Genuß nicht bestehen sollte, nur in Erfüllung einer sittlichen Pflicht. Auf die Menschheit übertragen entspricht in diesem Schema dem Kindesalter das Zeitalter des Alten Testaments, der Jünglingsstufe das des Neuen Testaments, während die Mannesstufe dem Menschengeschlechte noch vorbehalten ist. Dies wird die Zeit des Neuen ewigen Evangeliums sein, wo das, was jetzt erst wie in einer Spiegelung vorgestellt und als geoffenbart geglaubt wird, in seiner Verbundenheit mit den anderen Grundwahrheiten der Vernunft klar erkannt wird. Mit dieser Konstruktion verbindet L. den Gedanken der individuellen Palingenese; danach hat jeder Mensch in Parallele zur Entwicklung der Menschheit alle Grade der Vervollkommnung zu durchlaufen, wozu eine häufigere Wiederholung seines Lebens notwendig sein kann. Die Möglichkeit einer solchen Palingenese muß nicht vom Vorhandensein der Erinnerung an eine frühere Existenz abhängen. Es kann ein zeitweiliges Vergessen eintreten. Die Ästhetik, durch die er großen Einfluß gewann, behandelt L. in seinem „Laokoon" und in der „Hamburgischen Dramaturgie". Die fundamentale Bedeutung dieser Werke liegt darin, daß sie eine Anerkennung der Kunst als eines autonomen Kulturgebietes herbeiführen. L. betont den Unterschied der Poesie als einer Zeitkunst von den Raumkünsten und befestigt ihn im kunstwissenschaftlichen Bewußtsein. Die Poesie hat die Aufgabe, das Seelenleben des Menschen darzustellen. Insbesondere für das Drama, das er von den übrigen Arten der Dichtung abgrenzt, entwickelt L. diese Theorie. Vorbild ist für ihn Aristoteles; er übernimmt seine Definition der Kunst als Nachahmung. Das Drama hat die Aufgabe, die Handlungen der Menschen wiederzugeben. Für die Durchführung dieser Aufgabe im einzelnen der dramatischen Handlung stellt L. die Forderung der Einheit der Handlung; sie wird erfüllt, wenn alles Geschehen im Drama als streng unter dem Gesetz der Kausalität verlaufend dargestellt wird, damit durch die Geschlossenheit der Motivierung das ablaufende Geschehen einsichtig werden

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Lessing, Theodor

kann. Einheit von Zeit und Ort ist dieser Forderung der Einheit der Handlung gegenüber von geringerer Bedeutung. Der Inhalt des Dramas bestimmt dessen Wirkung; die tiefste und nachhaltigste Wirkung wird erzielt, wenn das Drama einen tragischen Gehalt hat, wenn in ihm alle großen menschlichen Leidenschaften sichtbar werden. Die Wirkung des Tragischen liegt, wie L. in Übereinstimmung mit Aristoteles lehrt, im Erregen von Furcht und Mitleid, um eine Reinigung von diesen Affekten im Teilnehmenden zu erzielen. Über L.s Stellung zum Spinozismus, über die Frage, ob L. „Spinozist" ist, sind, seit Jacobi nach L.s Tode ein Gespräch darüber mitteilte, zahlreiche Streitigkeiten entstanden. Unbestreitbar strebte L. eine monistische Weltanschauung an, andererseits jedoch wollte er sich die Welt nicht als Mechanismus, sondern als Organismus vorstellen; deshalb konnte ihm die Gottheit die Seele des Alls sein. Über das Verhältnis Gottes zur Welt sagt er in dem Aufsatz „Über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott", daß die Begriffe, die Gott von den wirklichen Dingen hat, mit den wirklichen Dingen eins und identisch sein könnten; denn wenn man annehme, daß die Dinge in der empirischen Wirklichkeit und als Urbild in Gott existieren, dann verdoppele man dieses Urbild unnötig und in unsinniger Weise. Einige Stellen in seinen Schriften scheinen zu erweisen, daß L. sich Gott auch als den Genius vorstellte, der analog dem Künstler schafft. S c h r i f t e n : Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1780. — Lessings Philos. (Auswahl aus Lessing); hrsg. v. P. Lorentz, 1909. — L. gab die sogen. Wolfenbüttler Fragmente (cf. Reimarus) heraus. — Hamburgische Dramaturgie, 1767—1769. — Ernst u. Falk, Gespräche für Freimaurer, 1778—80. — Werke, Vollständige Ausgabe in 25 Bänden u. zwei Registerbäuden, hrsg. v. Julius Petersen u. W. v. Olshausen, 1925—35. — Sämtl. Sehr., Berlin 1825—1828. — Ausw. v. Bruno Markwardt, Breslau 1939. — L. Heldentum der Vernunft. Ausw. v. Rudolf K. Goldschmitt-Jentner, Stuttgart 1941. L i t e r a t u r : Kuno Fischer, L. als Reformator d. deutschen Literatur, 2 Tie., 1881. — A. Frey, Die Kunstform des L.sehen Laokoon, 1905. — P. Wernle, L. u. d. Christentum, 1912. — H. Scholz, Zum Streit um die Erziehung d. Menschengeschlechts, Preuß. Jahrbb. 155 (1914) 71 ff. — D. Hauptschriften z. Pantheismusstreit zwischen Jacobi u. Mendelssohn, Neudr. d. Kant-Gesellsch., 1916. — Th. C. van Stockum, Spinoza—Jacobi—L., Groningen 1916. — Rosenthal, Der Schönheitsbegriff b. Kant u. L., Kant-Stud. 20 (1915) 174 ff. _ W. Oehlke, L. u. s. Zeit, 2 Bde., 1920; 2. A. 1929. — G. Witkowski, L., 1920. — Chr. Schrempf, L. als Philosoph, 2. A. 1921. — G. Fittbogen, Die Religion L.s, 1923. — Erich Schmidt, L., 4. A, 1923. — K. Vorländer, Philos. unserer Klassiker L., Herder, Schiller, Goethe, 1923. — W. Dilthey, D. Erlebnis u. d. Dichtg. L„ Goethe usw.; 10. Aufl., 1929. — Tonelli, Luigi, L'anima moderna da L, a Nietzsche, Milano 1925. — J. Clivio, L. u. das Problem der Tragödie, 1928. — K. Aner, Die Theologie der Lessing-Zeit, 1929. — Wiese, Benno v., Dichtg., Ästhetik, Philos., 1931; in: D. wissensch. Weltbild. — B. Rosenthal, Der Geniebegriff des Aufklärungszeitalters (L. und die Popularphilosophen), 1933; in: German. Studien, H. 138. — Wagner, Albert Malte, L., D. Erwachen d. deutschen Geistes, 1931. — Fr. Klein, L.s Weltanschauung, 1931. — Leisegang, Hans, L.s Weltanschauung, 1931. — Gent, Werner, Weltanschauung, . . . Erl. am Beisp. d. Weltansch. L.s, 1931. — Waller, Martha, L.s Erz. des Menschengeschlechts. E. Auseinandersetzung mit der L.-Forschung, German. Studien 160, 1936. — Georg Eichholz, Die Geschichte als theolog. Problem bei L., Gotha 1937. — Harald Henry, H. u. L., Würzburg 1941. — Max Kommereil, L, u. Aristoteles, Frankfurt 1940. — Folke Leander, L. als ästhetischer Denker, Göteborg 1942. — Helmut Thielicke, Vernunft u. Offenbarung. E, Studie über d. Religionsphilos. L-s, Gütersloh 1936. — Arthur v. Arx, L. u. d. geschichtl. Welt, Frankfurt 1944. Lessing, Theodor, geb. 8. Februar 1872 in Hannover, gest. 30. August 1933 in Marienbad. Dr. phil. et med., Prof. Stellte 1926 seine Vorlesungen ein. S c h r i f t e n : Schopenhauer — Wagner — Nietzsche, 1908, — Wertaxiomatische Studien, 1908; 2. Aufl. 1914. — Philosophie der Tat, 1914. — Europa und Asien (Unter-

Leukippos — Lévy-Brûhl

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gang der Erde am Geist), 1916; 5. Aufl. 1931. — Gesch. als Sinngebung des Sinnlosen, 1919; 5. Aufl. 1929. — Naturtrilogie (Tiere, Blumen, Dämonen), 1920—30. — Die verfluchte Kultur, 1921. — Prinzipien der Charakterologie, 1926. — Gesammelte Schriften, I, 1935. L i t e r a t u r : August Messer, Der Fall Lessing, 1926. — Wolf Goetze, D. Gegensätzlichkeit d. Geschichtsphilosophie Oswald Spenglers u. Th, L.s, Diss., Leipzig 1930.

Leukippos von Milet, lebte um 450 v. Chr., vermutlich Schüler des Parmenides aus Elea, Lehrer Demokrits, begründete die Atomistik. Seine Schriften fanden sich wahrscheinlich unter denen Demokrits, so daß Epikur behaupten konnte, ein Philosoph Leukippos habe gar nicht gelebt. Jedoch berichten dem entgegen Aristoteles und Theophrast von ihm. S c h r i f t e n : Diels, Vorsokr., c. 54; Nachtr. Vors., 4. Aufl. L i t e r a t u r : E. Zeller, Zu Leukippos, im Archiv f. Gesch. d. Philos., Bd. 15, 1902, S. 137—140. — P. Bokownew, Die L.-Frage, Dorpat 1911. — Ernst Howald, Noch einmal L., in: Festschr. f. Karl Joël, Basel 1934.

Leyi ben Gerson (Gersonides), 1288 bis 1344. Jüdischer Religionsphilosoph, Averroist, übernahm die Lehre des Aristoteles von der göttlichen Erschaffung der Welt aus einem Urstoffe, der nach ihm freilich infolge seiner absoluten Formlosigkeit dem Nichts gleich ist. Ferner lehrte er, daß die Unsterblichkeit der Seele aus ihrer Vereinigung mit dem aktiven Intellekt folgt, mit dem sie sich in verschiedenem Grade der Vollkommenheit verbindet. S c h r i f t e n : Milhamot Adonai, hrsg. Riva di Trento, 1560; neue Ausg. (hebr.) 1866. — B. Kellermann, Die Kämpfe Gottes von Levi b, G., übers, u. erkl. Tl. I 1914, Tl. II 1916 (Schriften d. Lehranst. für d. Wissenschaft d. Judent. III 1—2; V 1—3). L i t e r a t u r : A. Franck, Moralistes et philosophes, Paris 1872, 47—70. — C. Prantl, Gesch. d. Logik II; 2. Aufl. 1885, 399 f. — Jakob Karo, Krit. Unters, zu L. b. G., Diss., Würzburg 1935.

Lévy-Brûhl, Lucien, geb. 10. April 1857 in Paris, gest. 13. März 1939 in Paris. École Normale 1876. Seit 1885 Professor an Lyzeen, 1885 Docteur ès lettres. Dozent für Ideengeschichte des modernen Deutschland an der École des Sciences politiques. Prof. an der Sorbonne 1899. 1902 Nachf. von Boutroux. O. Prof. 1908. Leiter der Revue philosophique seit 1916. — Unter dem Einfluß Dürkheims beschäftigte L.-B. sich in seinen Anfängen mit soziologischen Fragen. Haiuptgegenstand seiner späteren Forschung ist das Seelenleben des Primitiven. Das primitive Denken unterstellt sich nicht der Erfahrung und vollzieht sich nicht gemäß dem Gesetz des Widerspruchs. Dieselben Dinge können ihm sie selbst sein und auch anderes als sie selbst; „sie senden aus und empfangen Kräfte, Vorzüge, Eigenschaften, mystische Tätigkeiten, die sich außerhalb ihrer bemerkbar machen, ohne daß sie aufhören zu bleiben, wo sie sind" (Les Fonctions mentales, p. 77). Das primitive Denken ist daher „prälogisch" auf Grund seiner kollektiven Gebundenheit. S c h r i f t e n : L'Idée de responsabilité, 1884. — L'Allemagne depuis Leibniz, Essai sur le développement de la conscience nationale en Allemagne, 1890. — La Philos, de Jacobi, 1894. — La Philos. d'Auguste Comte, 1900. — La Morale et la science des moeurs, 1903. — Les Fonctions mentales dans les sociétés inférieures, 1910; deutsch: Das Denken der Naturvölker, 2. Aufl. 1926. — La Mentalité primitive, 1922; deutsch: Die geistige Welt der Primitiven, 1927. — L'Ame primitive, 1927; deutsch, 1930. — Le Surnaturel et la nature dans la mentalité primitive, 1931. — La Mentalité primitive, Conférence, Oxford 1931. — La Mythologie primitive, 1935. — Hrsg. v. Lettres inédites de John Stuart Mill à Auguste Comte. L i t e r a t u r : J. Benrubi, Les sources et les courants de la philos, contemp. en France, 1933, S. 204—229. — D. Essertier, Les Savants français du XX« siècle, Bd. 4 u. 5, Paris 1930.

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Lewes — Lichtenberg

Lewes, George Henry, geb. 18. April 1817 in London, gest. 28. November 1878 ebda. — L. verficht zunächst den Positivismus von Comte und wendet sich dann später zu einer Evolutionstheorie, die auch die Anwendung positiv empirischer Methoden auf metaphysische Probleme gestattet. Er erklärt die apriorischen Elemente der Erkenntnis als ererbte Erfahrungen (Instinkt). S c h r i f t e n : A Biographical History of Philosophy, 4 Bde., 1845—46; 5. Aufl. in 2 Bdn., als: T h e History of Philosophy from Thaies to Comte, 2 Bde., 1866, 5. Aufl. 1878; deutsch, 2. Aufl. 1873—76. — Comte's Philosophy of the Positive Sciences, 1853. — Life and W o r k s of Goethe, 2 Bde., 1855; deutsch, 1856—57. — Aristotle, 1864; deutsch, 1865. — Problems of Life and Mind, 3 Bde., 1873—79. — The Physical Basis of Mind, 1877; neu 1893. — On A c t o r s and the A r t of Acting, 1875; deutsch 1878. — T h e Study of Psychology, 1879. — Dramatic Essays, 1896. L i t e r a t u r : Green, T. H., W o r k s , Bd. 1, London 1885; 2. Aufl. 1890.

Lewin, Kurt, geb. 9. November 1890 in Mogilno (Posen), gest. 12. Februar 1947 in Newton, Mass., U.S.A. Dr. phil. Habilitation in Berlin 1921, a. o. Prof. ebda. 1927, seit 1933 in U.S.A. Psychologe. S c h r i f t e n : Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie u. Physik u. die Darstellung vollständiger Stammbäume, in: Abh. z. theoret. Biologie, hrsg. v. H. Schaxel, H e f t 5, 1920. — D. Begriff d. Genese in Physik, Biologie u. Entwicklungsgesch., Unters, z. vergi. Wissenschaftslehre, 1922. — Vorsatz, Wille u. Bedürfnis 1926. — Idee u. A u f g a b e der vergleichenden Wissenschaftslehre, 1926. — Gesetz u. Experiment in der Psychologie, 1927. — Die Entwicklung der exp. Willenspsychol. u. die Psychotherapie, 1929. — Die psycholog. Situation bei Lohn u. Strafe, 1931. — Dynamical Theory of Personality, 1933. — Hrsg. v. Symposion, philos. Zeitschrift f. Forschung u. Aussprache.

Lewkowitz, Albert, geb. 6. April 1883 in Georgenberg (Oberschlesien). Promotion 1910. Doz. a. d. Hochschule für jüdische Theologie in Breslau 1914. S c h r i f t e n : Zur Philos, d. jüd. Religion, 1916. — Religiöse Denker d. Gegenwart, 1923. — Mechanismus u. Idealismus, 1924. — Das J u d e n t u m u. d. geistigen Strömungen d. Neuzeit, 1928—29. — Das J u d e n t u m u. d. geistigen Strömungen d. 19. Jhdts., 1934.

Liard, Louis, geb. 22, August 1846 in Falaise (Calvados), gest. 21. September 1917 in Paris. 1876 Prof. in Bordeaux, 1884 Rektor in Caen, 1902 Vizerektor der Akademie zu Paris. — L. vertritt im Anschluß an Renouvier und Lachelier einen idealistischen Kritizismus. S c h r i f t e n : Les Définitions géométriques et les définitions empiriques, 1873. — La Science positive et la métaphysique, Paris 1879; deutsch 1910. — Les Logiciens anglais contemporains, 1878; deutsch 1880; 2. Aufl. 1883. — Descartes, 1881; 2. Aufl. 1903. — Morale et enseignement civique, 1883. — Logique, 1884. — L'enseignement supérieur en France, 1789—1893; 2 Bde., 1888—94, — L'université de Paris; 2 Bde., 1902. L i t e r a t u r : J . Benrubi, Les sources et les courants de la philos, contemporaine en France, 1933, S. 468 bis 471.

Lichtenberg, Georg Christoph, geb. 1. Juli 1742 in Oberramstadt bei Darmstadt, gest. 24. Februar 1799 bei Göttingen. 1769 a. o. Prof. der Physik in Göttingen. Vertreter der Naturphilosophie und Erkenntnistheorie der Aufklärungszeit. Die Außenwelt ist in ihrer Realität gewiß. Über unsere Vorstellungen von den in ihr existierenden Dingen hinaus vermögen wir aber über diese Dinge nichts auszusagen, wenn auch unsere Erkenntnis nur in Gegenwirkung auf sie zustande kommt. Da der Schluß von den Vorstellungen und Empfindungen, die uns allein vorliegen, auf äußere Dinge durchaus nicht notwendig ist, so ist es unmöglich, im Erkennen von solchen Dingen auszugehen. Wir kommen aus uns selbst niemals heraus. Auch das Ich ist nur ein Postulat, das praktischem Bedürfnis entspringt. Darum ist es besser, zu sagen, daß es denkt, als: ich denke.

Lichtenberger — Lieber

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S c h r i f t e n : Üb. die Physiognomik wider die Physiognomen, 1778. — Vermischte Schriften, 9 Bde., 1800 bis 1805. — Alb. Leitzmann, Aus L.s Nachlaß, 1899. — Ausgew. Schriften, hrsg. v. A. Messer, 1925; von Vincent, 1932. — Briefe, hrsg. v. Leitzmann u. Schüddekopf, 3 Bde., 1901—04. — Briefe aus L.s englischem Freundeskreis, hrsg. von H. Hecht, 1925. — W e r k e in 1 Bde., herausg. v. Rudolf K. Goldschmitt, Stuttgart 1935. — Unsterblicher L., Ausw. v. Hanns Witte, Berlin 1939. — L., Aphorismen u Schriften, Ausw, v. Ernst Vincent, Leipzig 1931. — Auswahl von Paul Requadt, Stuttgart 1939. — Auswahl von W. Schumann: Der Herr Hofrat, Goslar 1947. L i t e r a t u r : E. Friedeil, L., 1910. — H. Kluge, Die pädagog. Gedanken L.s, Jahrb. d. Ver. f. wiss. Pädag., Bd. 44, 1912, 49 ff. — P. H. Magin, Üb. G. Chr. L. u. seine noch unveröffentl. Handschriften, Progr., 1913. — V. Bouillier, G. Chr. L., Paris 1914. — F. Kleineibst, G. Chr. L. u. s. Stelig. zur dtschn. Lit., Freie Forschg. zur dtschn. Lit.gesch. 4, 1915. — Dostal-Winkler, Josef, L. u. Kant, 1924; in: Baust, zu e. Philos, d. Als-ob, Bd. 10. — Hahn, Paul, G. Chr. L. u. d. exakten Wissenschaften. Materialien zu s. Biogr., 1927; in: Vorarb. zur Gesch. d. Göttinger Univ., H. 4. — M, Domke, Goethe und L., 1935. — Georg Seider, Vers, über d. Bemerkungen L.s, Stuttgart 1937. — Otto Deneke, L.s Leben, I, München 1944. — Herbert Schöffler, L., Göttingen 1944. Lichtenberger, Henri, geb. 12. M ä r z 1864 in M ü l h a u s e n , gest. 16. N o v e m b e r 1941 in B i a r i t z . 1905 P r o f . a n der Sorbonne zu P a r i s . 1929 b e g r ü n d e t e L. d a s Institut g e r m a n i q u e an d e r S o r b o n n e . S c h r i f t e n : Wagner poète et penseur, 1898; 5. Aufl. 1910, deutsch 1899. — Heine penseur, 1905; deutsch 1905. — La philos, de Nietzsche, 1898; deutsch 1899. — F. Nietzsche, 4. éd. 1908. — L'Allemagne moderne, 1907. — Novalis, 1912. — La sagesse de Goethe, 1921. — L'Allemagne d'aujourd'hui, 1922. — Faust, 3 Bde., 1932 f. — Übers. Faust, 2. Tl., 1933. Lieb, Fritz, geb. 10. J u n i 1892. 1923 L i e . theol. in B a s e l , 1924 H a b i l i t a t i o n e b d a . 1930 U m h a b i l i t i e r u n g n a c h Bonn für ö s t l i c h e s C h r i s t e n t u m in d e r e v . theol. F a k u l t ä t , 1931 a. o. Prof., D. theol. B a s e l . S c h r i f t e n : Die Jugendgeschichte Franz Baaders, 1926. — Glaube u. Offenbarung bei J . G. Hamann, 1926. — Die Beurteilung des westeuropäischen Geisteslebens in der russ. Religionsphilos., 1929. — D. Problem des Menschen bei Dostojewski; in: Orient u. Okzident, Heft 3. — Christ u. Antichrist im Dritten Reich, Paris 1936. — Das geistige Gesicht d. Bolschewism., Bern 1936. Liebeck, Adolf, geb. 1. A u g u s t 1886. Dr. m e d . — L. sucht e i n e n E w i g k e i t s s t a n d p u n k t , w i e ihn d e r m i t t e l a l t e r l i c h e M e n s c h b e s a ß , u m a u s d e r U n r a s t d e r M o d e r n e h i n a u s z u g e l a n g e n , u n d findet ihn durch e i n e A u f l ö s u n g d e s S i n n e n scheins. S e i n S t a n d p u n k t ist d e r e i n e s k r i t i s c h e n R e a l i s t e n , s t ä r k e r zu Hegel, a l s zu K a n t h i n n e i g e n d . S c h r i f t e n : Welterwachen. Der Weg z. einer neuen Kultur des Abendlandes, Bd. 1, 1928. — Einf. in eine Kritik d. Sinne; in: Philos, u. Leben, 1926. Lieber, F r a n z , geb. 18. M ä r z 1800 in B e r l i n , gest. 2. O k t o b e r 1872 in N e w Y o r k . 1835 bis 1856 Prof. d e r G e s c h i c h t e u n d p o l i t i s c h e n Ökonomie a m S o u t h - C a r o l i n a C o l l e g e , 1857 bis 1865 Prof. für G e s c h i c h t e und P o l i t i k an d e r C o l u m b i a - U n i v e r s i t ä t , 1865 bis 1872 Prof. d e r V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e u n d d e s öffentlichen R e c h t s . — L. ist d e u t s c h - a m e r i k a n i s c h e r P h i l o s o p h der P o l i t i k ; s e i n e S c h r i f t e n l e g t e n in A m e r i k a m i t den G r u n d für d i e b e w u ß t n a t i o n a l e P o l i t i k der Union. S c h r i f t e n : Manual of Politicai Ethics, 2 Bde., Boston 1838; 2. Aufl. hrsg. v. T. D. Woolsey, Philadelphia 1875. — Legal and Politicai Hermeneutics, Boston 1839; 3. Aufl. St. Louis 1880. — On Civil Liberty and Seif Government, Philadelphia 1853; 3. Aufl. hrsg. v. T. D, Woolsey, Philadelphia 1874. — Miscellaneous Writings, hrsg. v. D. C. Gilman, 2 Bde., Philadelphia 1881. L i t e r a t u r : Life .. -,d Letters of Fr. L., hrsg. v. Thomas Perry, Boston 1882. — Harley, Lewis R., Fr. L., riis Life and Politicai Philosophy, New York 1899.

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Liebert — Lilienfeld

Liebert, Arthur, geb. 10. November 1878 in Berlin, gest. 5. November 1946 in Berlin. Dr. phil., Habilitation in Berlin 1925. A. o. Prof. ebda, 1928 bis 1933. 0 . Prof. an der Universität Belgrad 1934. — Neukantischer Standpunkt mit Hinwendung zur Dialektik. S c h r i f t e n : Pico von Mirandula, 1905. — Monismus u. Renaissance, 1909. — Der Anthropomorphismus d. Wissenschaft, 1909..— D. Problem der Geltung, 1914; 2. Aufl. 1920. — D. Geltungswert der Metaphysik, 1920. — Wie ist krit. Philos. überhaupt möglich? 1919; 2. Aufl. 1923. — Vom Geist d. Revolution, 1919; 3. Aufl. 1923. — August Strindberg, s. Weltanschauung u. s. Kunst, 1920; 3. Aufl. 1923. —Ethik, 1923. — Die geistige Krisis d. Gegenwart; 3. Aufl. 1925. — Mythus u. Kultur, 1925. — Philos. u. Schule, 1927. — Zur Kritik der Gegenwart, 1927. — Geist u. Welt d. Dialektik, 1929. — D. Bestimmung des philos. Unterrichts, 1930. — Erkenntnistheorie, 2 Bde., 1930 f. — Wilhelm Dilthey, 1933. — Philos. des Unterrichts, 1934. — Hrsg. v. G. E. Schulze, Änesidem, 1911; Spinoza-Brevier, m. Nachwort, 1912; Fichte, Reden, m. Einl., 1912. — Der universale Humanismus, Zürich 1946. — Die Pflicht der Philosophie in unserer Zeit, Zürich 1946. — Die Kritik des Idealismus, Zürich 1946. Liebmann, Otto, geb. 25. Februar 1840 in Löwenberg (Schlesien), gest. 14. Januar 1912 in Jena. 1865 Habilitation in Tübingen, 1872 a. o. Prof. in Straßburg, 1882 o. Prof. in Jena. — L. steht ursprünglich in der G e d a n k e n w e l t des Neukantianismus. Er entwickelt sich weiter zur Forderung nach einer kritischen Metaphysik, die eine hypothetische Auffassung v o m W e s e n der Dinge gestaltet. A l l e Philosophie muß indessen innerhalb der Sphäre des menschlichen Bewußtseins bleiben, denn dieses Bewußtsein ist die Urtatsache. S c h r i f t e n : Kant u. die Epigonen. E. kritische Abhandl., 1865; Neudr. 1912. — Üb. d. individuellen Beweis für d. Freiheit d. Willens, 1866. — Üb. d. obj. Anblick, 1869. — Zur Analysis d. Wirklichkeit, 1876; 4. Aufl. 1911. — Üb. philos. Tradition, 1883. — Die Klimax d. Theorien, 1884; Neudr. 1914. — Gedanken u. Tatsachen, 2 Bde., 1882—1904. — Psychol. Aphorismen, 1892. — Weltwanderung (Gedichte), 1899. — I. Kant, 1904. — Vier Monate vor Paris, 1870—71; 2. Aufl. 1895. L i t e r a t u r : Festschrift d. Kantstudien z. 70. Geb., hrsg. v. H. Vaihinger u. B. Bauch, 1910. — Meyer, Adolf, Üb. L.s Erkenntnislehre u. ihr Verh. z. Kant. Philos., Diss., Jena 1916. Lienhard, Fritz, geb. 7. Oktober 1871 in Biel (Kt. Bern). Dr. phil. Lic. theol. Privatdoz. in- Bern 1923, a. o. Prof. ebda. 1928. S c h r i f t e n : D. Gottesbegriff bei G. Th. Fechner, 1920. — D. Gottesidee in Kants opus posthumum, 1923. — Ist Kant der Philosoph d. Protestantismus? 1923. Lietz, Hermann, geb. 28. April 1868 in Dumgenewitz auf Rügen, gest. 12. Juni 1919 in Haubinda (Thüringen). Pädagoge. Schüler von Eucken und Rein. S c h r i f t e n : Lebenserinnerungen, hrsg. v. E. Meissner, 1920. — D. deutsche Nationalschule 1911; 2. Aufl. 1920, — Unterricht u. Kunst in deutschen Landeserziehungsheimen, 1903. — Deutsche Landeserziehungsheime, 1910. L i t e r a t u r : Andreesen, Alfred u. a., in: Pädagog. Zentralblatt, Bd. 8, 1928; S. 137 bis 170; H. L., 1934. — Tischendorf, Arno, Hermann L. u. die neue Erziehung, Diss., Jena 1934. Lilienfeld, Paul v., 1829 bis 1903. Senator in Petersburg. 1897 bis 1898 Präsident des internationalen Instituts für Soziologie. L. vertritt die OrganismusTheorie des sozialen Lebens und faßt die menschliche Gesellschaft real als Organismus auf. S c h r i f t e n : Gedanken üb. d. Sozialwissenschaft d. Zukunft, 5 Bde., 1873—81. — La pathologie sociale, Paris 1896. — Zur Verteidigung d. organ. Methode in der Soziologie, 1898. L i t e r a t u r : Henne am Rhyn, Otto, P. v. L., 1890; in: Deutsche Denker, Bd. 6.

Liljequist — Lindner, Ernst Otto Timotheus

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Liljequist, P. Efraim, geb. 24. September 1865 in örebro (Mittelschweden). Studiert im ersten Semester in Leipzig bei Drobisch, Heinze und Wundt, dann in Uppsala 1885 bis 93. Seine Lehrer sind der Kantforscher Burmann und der Schüler von Boström, C. Y, Sahlin. Später führt er seine Studien in Deutschland fort, und zwar in Göttingen bei G. E. Müller. Seine Dissertation über Bacon ermöglicht ihm 1893 eine Habilitation in Uppsala; 1894 kommt er als Vertreter Norströms nach Göteborg, 1906 wird er ord. Prof. in Lund. Die innere Spannweite der Problematik von L. reicht von der Kantischen Philosophie zum schwedischen Persönlichkeitsidealismus (Boström), wobei festzuhalten ist, daß starke innere Verwandtschaft zwischen beiden besteht. Als fester Grundsatz, auf dem die Gedanklichkeit L.s ruht, gilt, „daß das Subjekt unserer Erfahrungen ein endliches, unvollkommenes, relatives Subjekt ist und für seine vollständige Erklärbarkeit ein unendliches, vollkommenes, absolutes Subjekt voraussetzt". Die unvollkommenen, relativen Subjekte, d. h. die Menschen, haben prinzipiell als Ideen des absoluten und vollkommenen Subjekts zu gelten. Insofern, d. h. als Ideen des absoluten Subjekts, haben sie auch Anteil an dessen Vollkommenheit. Andererseits können sie selbst wesensmäßig nie vollkommen im totalen Sinn werden, eben weil sie nur Momente sind. Nur als Momente sind sie miteinander im absoluten Subjekt möglich. Die Unvollkommenheit erstreckt sich auch auf die Fähigkeiten des Erkennens. Das einzelne Subjekt hat nicht die Fähigkeit zu vollkommener Perzeption. Das absolute Subjekt hingegen, dem die Fähigkeit zu vollkommener Perzeption allein eignet, erfaßt durch diese zugleich das Ansich eines jeden Etwas. Während Raum und Zeit nur Eigentümlichkeiten unserer unvollkommenen menschlichen Erfahrung bleiben, sollen die Kantischen drei Vernunftideen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit) eine über die bloße Glaubensgeltung hinausreichende Bedeutung erhalten. Dazu ist es notwendig, den Dualismus zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu überbrücken. In Gott ist das Zusammenfallen dieser Gegensätze erreicht. S c h r i f t e n : Von der Philos. Francis Bacoas, mit bes. Berücksichtigung des ethischen Problems, 2 Bde., Uppsala 1893—94. — Antike u. moderne Sophistik, 1896. — Von den ältesten Schriften Boströms, 1897. — Einf. in die Psychologie, 1899. — Von spezifischen Sinnesenergien, I. Prolegomena, 1899. — Meinongs allgemeine Werttheorie, 1904. — Boströms älteste lat. Diss. ins Schwed. übersetzt, 1915. — Erik Gustaf Geijer, ein schwedischer Geschichtsphil., in: Die Akademie, H. I, Erlangen 1924. — Selbstdarstellung, in: Die Phil, der Gegenwart in Selbstdarst., Bd. VI, 1927, S. 37—64. L i t e r a t u r : Studier tillägnade E. L., den 24. Sept. 1930 utgivna av Gunnar Aspelin och Elof Akesson, Lund 1930, 2 Bde., (Festschrift zum 65. Geb.).

Lindau, Hans, geb. 12. Aug. 1875 in Berlin. Dr. phil. Leipzig 1899. Bibliotheksrat i. R. S c h r i f t e n : Johann Gottlieb Fichte u. d. neuere Sozialismus, 1899.

Lindemann, Heinrich Simon, 1807 bis 1855. Prof. in München. Anhänger K. Chr. Fr. Krauses. S c h r i f t e n : D. Lehre vom Menschen oder Anthropologie, Zürich 1844, Erlangen 1848. — Denklehre oder Logik, Solothurn 1846.

Lindner, Ernst Otto Timotheus, 1820 bis 1867. Journalist. Anhänger Schopenhauers. L i t e r a t u r : Gruber, Robert, D. Briefwechsel zw. Arthur Schopenhauer u. O. L., 1913.

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Lindner, Gustav Adolf — Lipmann

Lindner, G u s t a v Adolf, geb. 11. M ä r z 1828 in Rozdalowitz (Böhmen), gest. 16. Okt. 1887 in P r a g . 1881 Prof. an der böhmischen Universität in Prag. Anhänger H e r b a r t s . S c h r i f t e n : Lehrb. d. empir. Psychologie als indukt. Wissenschaft, 1858; 12. Aufl. 1898. — Lehrbuch d. formalen Logik nach genet. Methode, 1861; 6. Aufl. 1885. — Einl. in das Studium d. Philos., 1866. — D. Problem des Glücks, psycholog. Untersuchungen üb. d. menschl. Glückseligkeit, 1868. — Ideen z. Psychologie d. Gesellschaft als Grundlage d. Sozialwissenschaft, 1871. — Üb. latente Vorstellungen, 1875. — Allgem. Erziehungslehre 1877, 19. Aufl. 1917. — Allgem. Unterrichtslehre, 1879; 10. Aufl. 1915. — Arnos Comenius, 4. Aufl. 1897. Lindner, Theodor, geb. 29. M â i 1843 in Breslau, gest. 27. N o v e m b e r 1919 in Halle. 1874 Prof. in Breslau, 1876 in Münster, 1888 bis 1913 in Halle. Historiker. S c h r i f t e n : Geschichtsphilos., D. Wesen der gesch. Entwicklung. Einl. zu einer Weltgesch. seit d. Völkerwanderung, 1901; 3. Aufl. 1912. — Gesch. d. deutschen Volkes, 2 Bde., 1894. — Weltgesch. seit d. Völkerwanderung, 9 Bde., 1901—16; 2. Aufl. in 10 Bdn., 1920—21. L i t e r a t u r : Werminghoff, Albert, Th. L. zum Gedächtnis, 1920. — Sommerlad, Theo, Th. L., in: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 5, 1930. Lindworsky, J o h a n n e s , S . J . , geb. 21. J a n u a r 1875 in F r a n k f u r t a. M., gest. 9. S e p t e m b e r 1939 in E s s e n . Dr. phil. Priviatdoz. in Köln 1920. A . o. Professor e b d a . 1923, o. Prof. in P r a g 1928. — Theoretischer und experimenteller Psychologe. S c h r i f t e n : Das schlußfolgernde Denken, 1916. — D. Wille, 1919; 3. Aufl. 1923. — Experimentelle Psychologie, 1921; 5, Aufl. 1931. — Willensschule, 1922, 3. Aufl. 1927. — Umrißskizze einer theoret. Psychologie, 1922, 2. Aufl. 1923. — Theoret. Psychologie, 1926. — Zum Problem d. falschen Wiedererkennens (déjà vu); in: Arch. f. d. ges. Psychol., 15, 1909. —Fordern die Reproduktionserscheinungen ein psych. Gedächtnis? in: Phil.'Jb., 1920. — Vorzüge u. Mängel bei d. Lösung von Denkaufgaben, Z. f. angew. Psychol., 18, 1921. — Revision einer Relativitätstheorie, in: Arch. f. d. ges. Psychol., 48, 1924. — Versuche üb. höhere Gefühle, ebenda, 1928. — Gedankenkraft, Versuch einer Theorie des Couéismus, in: Stimmen der Zeit, 1928. — Erfolgreiche Erziehung, 1933. — Das Seelenleben d. Menschen, 1934; in: D. Philosophie, Abt. 9. — Psychologie d. Aszese, Freiburg 1935. — Des werktätigen Kath. Lebenskunst, 1938. Linke, Paul Ferdinand, geb. 15. M ä r z 1876 in Staßfurt. Promotion 1901 Leipzig. Privatdoz. 1908 in J e n a , a. o. Prof. 1918, o. Prof. 1946 ebda — L.s Bemühungen gelten der Lehre von der Intentionalität des Bewußtseins. E r will die Husserlsche A k t a n a l y s e durch eine G e g e n s t a n d s a n a l y s e ersetzen. Die Phänomenologie, soweit sie nicht verstehende Psychologie sein will, wird bei dieser A u f f a s s u n g zur methodisch betriebenen Kategorienlehre, Denn Kategorien gibt es nicht in einer reinen Vernunft, sondern in einer primären Region des gegenständlich Gegebenen, die bei A b s t r a k t i o n vom aller b e o b a c h t b a r e n Wirklichkeit zum Vorschein kommt. S i e sind als zeitlos ebensosehr allem W e c h s e l des G e s c h e h e n s entrückt, wie d a s eine, mit sich selbst identisch bleibende Wirkliche der Gesamtwirklichkeit. S c h r i f t e n : Humes Lehre vom Wissen, 1901. — D. stereoskop. Täuschungen u. d. Problem des Sehens von Bewegungen, 1908. — Die phänomenale Sphäre u. d. reale Bewußtsein, 1912. — Grundfragen d. Wahrnehmungslehre, 1, Aufl. 1918, 2. Aufl. 1929. — Bild u. Erkenntnis, in: Philos. Anzeiger, Halbbd. 2, 1926. — Gegenstandsphänomenologie, in: Philos. Hefte, H. 2, 1930. — Das Absolute u. s. Erkenntnis, 1935. — Verstehen, Erkennen u. Geist, Leipzig 1936. — Hrsg.: Abhandlungen z. begründenden Philosophie, seit 1939. Lipmann, Otto, geb. 6. M ä r z 1880, gest. 7. Oktober 1933 in N e u b a b e l s b e r g . Promotion 1904. Psychologe.

Lippert — Lipps, Hans

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S c h r i f t e n : Grundriß d. Psychol. f. Juristen, Vorwort v, Franz Liszt, 1908; 3. Aufl. 1925. — Psychol. f. Lehrer, 1920; 2. Aufl. 1928; spanisch 1924. — Psychol. d, Berufe, in: Kafka, Handb. d. vergleich. Psychol., 1922. — Üb. Begriff u. Formen d. Intelligenz, 1924. — Die Lüge. In psychol., philos., jurist., pädagog., hislor., soziolog., sprach- u. literaturwissenschaftl. u. entwicklungsgesch. Betrachtung. Zus. m. Paul Plaut, 1927. — Lehrbuch d. Arbeitswissenschaft, 1932. — Bibliographie in: Ztschr. f. angew. Psychol., Bd. 36, 1930. L i t e r a t u r : Festschrift O. L. z. 50. Geb., hrsg. v. Paul Plaut, 1930; in: Zeitschr. f. angew. Psychol., Bd. 36, H. 1 u. 2.

Lippert, Julius, geb. 12. April 1839 in Braunau (Böhmen), gest. 12. November 1909 in Prag. Kulturhistoriker. L. betont die Bedeutung des historischen und geographischen Faktors für die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft und zeigt die Rolle der religiösen Gedanken im Kulturleben auf. S c h r i f t e n : Der Seelenkult in s. Beziehungen zur althebräischen Religion, 1881. — D. Religionen d. europäischen Kulturvölker, 1881. — Christentum, Volksglaube u. Volksbrauch, 1882. — Allg. Gesch. d. Priestertums, 2 Bde., 1883—84. — D. Gesch. d. Familie, 1884. — Kulturgesch. d Mensohheit in ihrem organ. Aufbau, 2 Bde., 1886—87. — Deutsche Sittengesch., 3 Tie., 1889. — Sozialgesch. Böhmens, 2 Bde., 1896—98. L i t e r a t u r : Autobiograph. Skizze, in: Deutsche Arbeit, Nr. 5, 1905—06; S. 25—34.

Lipps, Gottlob Friedrich, geb. 6. August 1865 in Albersweiler, gest. 9. März 1931 in Zürich. Bruder von Theodor Lipps. Oberlehrer, Privatdoz, und Prof. in Lpz., Prof. in Zürich 1911. — Der Philosoph und Psychophysiker L. ist ein Schüler Wilh. Wundts. Er widmete sich besonders der Erforschung der mathematischen Probleme, die sich für die experimental-psychologische Methode ergeben. Als Forschungsgegenstand diente ihm daneben vor allem die Bildung von Mythen, wobei er an seine zahlenphilosophischen Untersuchungen anknüpft. Nicht die Beseelung der Natur führt zum Mythus, sondern die Annahme, daß die Gegenstände unabhängig vom wahrnehmenden Menschen existieren. Erst wenn sie als Erzeugnis des Denkens erkannt werden, ist der Weg frei für die Entstehung der Philosophie überhaupt und die Entwicklung einer kritischen Weltanschauung. S c h r i f t e n : Die log. Grundlagen des mathemat. Funktionsbegriffs, Diss., Zweibrücken 1888. — Grundr. d. Psychophysik, 1899; 3. Aufl. 1908. — Unters, üb. d. Grundlagen d. Mathematik, Philos. Studien, Bd. 9—12. — Die Theorie d. Kollektivgegenstände, 1902. — Die psych. Maßmethoden, 1906. — Mythenbildung u. Erkenntnis, 1907. — Weltanschauung u. Bildungsideal, 1911. — Das Probletn d. Willensfreiheit, 1912; 3. Aufl. 1919.

Lipps, Hans, geb. 22. November 1889 in Pirna, gest. 1942. Dr. phil. 1912. Dr. med. 1919. Privatdoz. in Göttingen 1921, a. o. Prof. ebda. 1928, in Frankfurt 1935. — L. gehört zu den Philosophen, die die Phänomenologie Husserls in Richtung auf eine philosophische Anthropologie weiterentwickeln. Dabei kommt die Philosophie Diltheys, speziell als Hermeneutik, wieder zur Geltung. L. lehrt: „Die Erkenntnistheorie ist recht verstanden tatsächlich weiter nichts als Interpretation, sofern sie ein bestimmtes Wissen zum Ausgang nimmt" (Phänomenol. d. Erk. I, 51). Dabei teilt er auch den Apriorismus, der dieser Richtung naheliegt, wenn er ausführt: ,,Das Apriorische liegt an anderer Stelle als im Bewußtsein, bzw. in dessen Gesetzmäßigkeit. Es ist greifbar in den Antizipationen der Einstellung. Kurz formuliert nämlich darin, daß man schon da ist, wenn man sucht, fragt, beobachtet, die Sinne etwas tun l ä ß t . . . Die Erkenntnis ist etwas, was mich angeht." Ihre Konzeption ist „anthropologisch" zu begreifen (a. a. O. 49/50). S c h r i f t e n : Untersuch. 7. Phänomenologie d. Erkenntnis, I, 1927, II 1928. — Beispiel, Exempel, Fall u. d. Verhältnis d. Rechtsfalles z. Gesetz, 1931. — Die Paradoxien d. Mengenlehre, in: Husserls Jahrb., VI, 1923. — D. Urteil, in: Husserl-Festschrift, 1929.

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Lipps, Theodor

— D. menschl. Natur, Frankfurt 1941. — Unters, zu einer hermeneutischen Logik, Frankfurt 1938. — D. Verbindlichkeit d. Sprache, herausg. v. E. v. Busse, Frankfurt 1944.

Lipps, Theodor, geb. 28. Juli 1851 in Wallhalben (Pfalz), gest. 17. Oktober 1914 in München. 1877 Privatdoz. der Philosophie in Bonn, 1884 a. o. Prof., 1890 o. Prof. in Breslau, 1894 in München, Begründer des Münchener Psychologischen Instituts. L. stellt die Philosophie als auf der inneren Erfahrung beruhend dem naturwissenschaftlichen Denken entgegen. Die innere Erfahrung bildet die Grundlage aller „Geisteswissenschaften", also auch der Logik, Ästhetik usw. Sie entfaltet sich in der Psychologie und ,,die Psychologie ist die philosophische Wissenschaft oder die Philosophie als Wissenschaft, das ist die Psychologie". Ihr Gegenstand ist das Bewußtseinsleben, das Bewußtseinswirkliche, ihre Methode ist die psychologische Analyse in der Retrospektion, im Zurückblicken auf Erlebtes. Eine eigentliche Selbstbeobachtung gibt es nicht. Am Gegenstand der psychologischen Analyse unterscheidet L. zwischen Inhalt und Akt. Das Vorstellen, Denken usw. selbst ist der Akt, der sich auf das Vorgestellte, Gedachte als seinen Inhalt richtet. Das Seelenleben ist sehr stark an das Ich gebunden, es ist immer Erleben eines Ich. Hinter dem Erlebnis-Ich, in dem die Bewußtseinserlebnisse in einem Motivationszusammenhang verknüpft erscheinen, steht ein reales Ich, das selbst nicht bewußt wird und das dem Bewußtseins-Ich transzendent bleibt. Die Erlebnisse sind Begleitvorgänge für dieses reale Ich. Neben dem stark ichgebundenen Erleben innerhalb des Bewußtseins, und in ihm zur Erscheinung kommend, stehen die Gegenständlichkeiten. Zwar bleibt das Erleben die einzige Quelle, aus der der Logiker schöpfen kann, aber was er als Gegenständlichkeiten etwa in Form von Urteilen aus dem seelischen Verlauf des Urteilens herausnimmt, hat seinen eigenen Bestand und nimmt dem Erleben gegenüber den Charakter der Forderung an. Diese Forderungen der Gegenstände selbst herauszuarbeiten ist Aufgabe der philosophischen Disziplinen. Letztlich werden auch diese gegenständlichen Forderungen auf Wesenszüge des Bewußtseins, sofern es von dem einzelnen Ich unabhängig ist, zurückgeführt: „Die Logik redet allein von den Gesetzen des Denkens, Damit meint sie nicht die Gesetzmäßigkeit, nach welcher das Denken in einem Individuum tatsächlich verläuft, sondern die Gesetze, die im Denken als Denken, abgesehen von allen denkenden Individuen liegen". In diesen Gesetzen erschließt sich die Eigenart eines „reinen Bewußtseins". Während man in der Behandlung der Logik durch L. stark den Einfluß Husserls spürt, hat er von den eigentlich philosophischen Disziplinen die Ästhetik selbständig und charakteristisch ausgebildet. Die Kunst ist ihm die „geflissentliche Hervorbringung des Schönen" (Grundleg. der Ästhetik, 1903). Das Schöne oder ästhetisch Wertvolle verweist weiter auf das Lustvolle, „Vom »ästhetisch Wertvollen« nun wissen wir von vornherein Eines: Es ist, wie alles Wertvolle, lustvoll. Dies liegt im Sinn des Wortes »wertvoll«. Etwas ist wertvoll, dies heißt: Es ist geeignet, in bestimmter Art zu erfreuen, Befriedigung zu erzeugen, kurz, Lust zu erwecken. Das Wort »wertvoll« wäre ein leeres Wort, ohne diese Beziehung auf die Freude, die Befriedigung, die Lust des fühlenden Wesens" (a. a. 0., S. 6). Für das Erfassen des Wesens der Lust gilt „der allgemeine Satz: Ein Grund zur Lust ist gegeben in dem Maße, als psychische Vorgänge — oder Komplexe von solchen — also Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken und Zusammenhänge von solchen, der Seele »natürlich« sind. Lust begleitet die «psychischen Vprgänge» in dem Maße, als ihr Vollzug in der Seele

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oder ihrer Natur günstige Bedingungen findet. Lust ist der Ausdruck oder das unmittelbare Bewußtseinssymptom dieses Sachverhaltes, der Reflex oder Widerschein desselben im Bewußtsein. Ebenso ist Unlust das unmittelbare Bewußtseinssymptom dafür, daß psychische Vorgänge zur Natur der Seele in Gegensatz treten, für sie einen Zwang oder eine Zumutung bedeuten, daß ihr Vollzug ungünstige oder minder günstige Bedingungen in der Seele oder der Natur der Seele findet" (10). Auf diese Weise bleibt das Ästhetische auf das engste an das Subjekt, an das Ich gebunden. „Ästhetische Werte entstehen . . , nicht an sich, aber für mich, d. h. es entsteht meine Wertung der Werte, indem solches mir objektiv geboten wird, das allgemeiner psychologischer Gesetzmäßigkeit zufolge im Inhalte meines Geistes einen bestimmten »Widerhall« finden kann. Dazu ist aber zweierlei erforderlich: das Objektive einerseits und das Subjektive, der Inhalt meines Geistes, und die Erziehung zu jener »Hingabe« andererseits. Und die Geschichte der Wertungen oder die Geschichte des Geschmacks in der Menschheit, ist die Geschichte des subjektiven Eintretens von Objekten in den Gesichtskreis der Menschen, des Auftauchens von Formen und Ausdrucksmitteln, wodurch nach psychologischen Gesetzen ein »Widerhall« im Inhalt des Geistes der Menschen geweckt werden kann; und sie ist die Geschichte des menschlichen Geistes, seiner Inhalte und seiner »ästhetischen Erziehung«, d. h. seiner Erziehung zu jener »Hingabe«, geschehe dieselbe nun durch Menschen oder durch Umstände. Sie ist dagegen nicht die Geschichte jener psychologischen Gesetze, also auch nicht die Geschichte psychologischer Prinzipien, da diese nichts sind, als die psychologischen Gesetze. Diese, also auch die ästhetischen Prinzipien haben keine Geschichte. Sie können für uns keine haben. Wesen, deren psychische Gesetzmäßigkeit eine andere wäre als die unsrige, sind für uns unvorstellbar" (a. a. 0 . 94]. Neben die Hingabe an den Gegenstand tritt zur Charakteristik des Wesens ästhetischer Erlebnisse die Einfühlung als der innere Mitvollzug der Dynamik des Gegenstandes in seiner besonderen Gestalt. Auf diese verweist auch zuletzt die Lust: ,,... in der Lust . . . , die mir quillt aus . . . freiem inneren Mitmachen eines inneren Verhaltens, das in einer Ausdrucksbewegung für mich unmittelbar liegt, besteht die ästhetische Lust an der Ausdrucksbewegung . . . Sie ist mit einem Wort Lust aus der »Einfühlung«" (112). Ihren letzten Hintergrand hat die auf der Psychologie beruhende Philosophie von L. in einer Philosophie des Lebens. „Gegenstand unserer positiven Wertung ist jedes Leben und jede Lebensmöglichkeit, nämlich genau soweit dies Leben wirkliches, d. h. positives Leben ist, nicht Negation des Lebens oder der Lebensmöglichkeiten, Mangel, Schwäche oder Zeichen derselben. Und wir können gleich hinzufügen; Unwert ist uns jede solche Negation. Und damit ist nun zugleich der Sinn alles Schönen bezeichnet. Aller Genuß der Schönheit ist Eindruck der in einem Objekt liegenden Lebendigkeit und Lebensmöglichkeit; und alle Häßlichkeit ist ihrem letzten Wesen nach Lebensnegation, Mangel des Lebens, Hemmung, Verkümmerung, Zerstörung, Tod" (102). S c h r i f t e n : Herbarts Ontologie, Diss., Bonn 1874. — Grundtatsachen d. Seelenlebens, Bonn 1883; Neudr. 1912. — Psycholog. Studien, 1885; 2. Aufl. 1905. — D. Streit um d. Tragödie, 1890. — Ästhet. Faktoren d. Raumanschauung, 1891. — Grundzüge d. Logik, 1893; Neudr. 1911; 3. Aufl. 1923. — Raumästhetik u, geom.-opt. Täuschungen, 1897. — Komik u. Humor, 1898. — Ethische Grundfragen, 1899; 4. Aufl. 1922. — Selbstbewußtsein, Empfindung u. Gefühl, 1901. — Einheiten u. Relationen, 1902, — Leitf. d, Psychologie, 1903. — Vom Fühlen, Wollen u. Denken, 1902; 3. Aufl. 1926. — Ästhetik, 2 Bde., 1903—06; 2. Aufl. 1906. — Ästhetik, in: Kultur d. Gegenwart, I, 6, Systematische Philos., 1905; 2. Aufl. 1908. — Inhalt u. Gegenstand, Psychol. u. Logik, in: Sitz.ber. der Münchener

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Lipsius — Litt

Akad. d. Wiss., Philos. Kl., 1905. — Naturwissenschaft u. Weltanschauung, 1907. — Psychol. Unters., 2 Bde., 1907—12. — Philos. u. Wirklichkeit, 1908. — Ps. Wiss. u. Leben, Münch. Akad., Philos. Kl., 1901. — Naturphilos., in: Philos. d.» 20. Jahrh., hrsg. v. Windelband, 2. Aufl. 1907. — Übersetzer v. Humes T r a k t a t üb. d. menschl. Natur, 1906 f. L i t e r a t u r : M. Ahrem, D. Problem d. Tragischen bei Th. L. u. J o h . Volkelt, Diss., Bonn 1908. — J . Pikler, Üb. Th. L.s Vers, einer Theorie d. Willens, 1908. — W. Wirth, D. Probleme der psychol. Studien v. Th. L., in: Arch. f. d. ges. Psychol., 1908. — Ose. Schuster, D. Einfühlungstheorie v. Th. L. u. Schopenhauers Ästhet., in: Arch. f. Gesch. d. Philos., 1912. — Konr. Müller, Th. L.s Lehre vom Ich im Verhältnis zur Kantischen, 1912. — 0 . Külpe, in: J a h r b . d. Münch. Akad., 1915. — Münchner philos. Abh., Th. L. z. 60. Geb., 1911. — Anschütz, Georg, Th. L., 1915; aus: Arch. f. d. ges. Psychol., Bd. 34, H. 1. — Alfred Petzold, Hume u. L., Diss., Erlangen 1921. — Heinrich Gothot, D. Grundbestimmungen über die Psychol. d. Gefühls bei Th. L., Diss., Bonn 1921. — Otto Hassenpflug, Üb. d. Tragische. Unters, im Anschluß an J o h . Volkelt u. Th. L., Langensalza 1916.

Lipsius, Justus, geb. 18. Oktober 1547 bei Brüssel, gest. 23. März 1606 in Löwen. Prof. in Löwen 1592. Knüpft an den Stoizismus an. S c h r i f t e n : De constantia, 1584; deutsch 1802. — Manuductio ad Stoicam philosophiam, 1604. — Physiologiae Stoicae libri III, 1610. — Opera omnia, 8 Bde., 1585; 2. Aufl. 4 Bde., 1637; 4 Bde. 1675. — Briefe, hrsg. v. G. H. M. Delprat, 1858. L i t e r a t u r : A. Steuer, Die Philos. d. J . L., Diss., Münster 1901. — V. A. Nordmann, J . L. als Geschichtsforscher u. Geschichtslehrer, Helsinki 1932; in: Suomalaisen Tiedekatemian Toimituksia, Ser. B. T. 28, 2.

Liszt, Franz v., geb. 2. März 1851 in Wien, gest. 21. Juni 1919 in Seeheim a. d. Bergstraße. 1899 Prof. des Strafrechts in Berlin. — Der Jurist L. vertritt eine soziologische Deutung der Funktionen des Rechts. S c h r i f t e n : Lehrbuch d. deutschen Strafrechts, 1881; 26. Aufl. hrsg. v. Eberhard Schmidt, 1932. — D. Zweckgedanke im Strafrecht, 1882. — Strafgesetzgebung d. Gegenwart, in: Rechtsvergleich. Darst., 2 Bde., 1894—99. — Strafrechtl. Aufs. u. Vorträge, 2 Bde., 1905. — Vergleich. Darst. d. deutschen u. ausländ. Strafrechts, 16 Bde., 1905—09. — Das Völkerrecht, systemat. dargest., 1898; 12. Aufl. hrsg. v. Max Fleischmann, 1925. L i t e r a t u r : Dahl, Frantz, F. v. L., Kopenhagen 1919. — Jaanis A. Georgakis, Geistesgesch. Studien z. Kriminalpol. u. Dogmatik F. v. L.s, Leipzig 1940. — Heinz Specht, D. Strafzweck bei Feuerbach u. L., Diss., Hamburg 1933. — Otto Knetsch, D. Täterpersönlichkeit bei F. v. L., Diss., Giessen 1936.

Litt, Theodor, geb. 27, Dezember 1880 in Düsseldorf. Dr. phil., a. o. Prof. in Bonn 1918, o. Prof. in Leipzig 1920, in Bonn 1947. Das philosophische Bemühen L.s wendet sich vor allem den Geisteswissenschaften, ihrer methodischen Grundlegung, ihrer Stellung im Ganzen der Wissenschaft, sowie ihrer begrifflichen Bearbeitung der kulturellen Erfahrungen zu. In seinen methodologischen Ansichten fühlt L. sich Husserls „Phänomenologie des Bewußtseins", Natorps „rekonstruktiver Psychologie", und Hönigswalds „Denkpsychologie" verwandt. Als das grundlegende Problem aller Wissenschaftstheorie sieht L. die Antithese: Erkenntnis und Leben an, der er eine eingehende Untersuchung widmet. Von Hegel, Fichte und Schelling an gerechnet, gehen dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft drei Entwicklungsphasen voraus. In der ersten glaubt die Wissenschaft mit dem Ganzen der Wirklichkeit auch das Leben ihrem Richterspruch unterworfen; in der zweiten bildet eine „positive" Wissenschaft das Ideal zweckfreier Forschung, bloßer Erklärung von Tatsächlichem aus. Erst in der dritten, einer Zeit der „Selbsterforschung der Wissenschaft", tritt das Leben mit seinen Forderungen an die Wissenschaft heran. „Jetzt erst wird die Wissenschaft

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als Funktion des geistigen Lebens zum Forschungsobjekt der Wissenschaft", sie reiht sich nun ein in den Kreis der übrigen Leistung«- und Ausdrucksformen der Kultur. Den Problemen, die hier entstehen, kann nur geisteswissenschaftliches Denken gerecht werden; es ist gekennzeichnet durch den Spannungsreichtum der Dialektik, während naturwissenschaftliche« Denken nur geradlinigen Fortschritt kennt, und sich nur um Sachzusammenhänge bewegt. Innerhalb der Naturwissenschaften erscheint die Antithese Erkenntnis und Leben in der Form „Naturerkenntnis" und „Zwecksetzung und -erfüllung"; Leben ist hier „zweckgerichtetes Sinnen und Tun". Anders in der Funktionslehre oder Strukturlehre, die eine „Lehre von den Grundfunktionen des Geistes" ist. „Geistig" aber nennt L. „eben dasjenige seelische Geschehen, dem die Intention auf einen Sinngehalt innewohnt". Durch den hindeutenden Charakter ihrer Begriffe verweist die Funktionslehre auf das Leben, das hier erscheint als „das Ganze der sinngerichteten Funktionen des Geistes", die „Fülle der konkreten Inhaltlichkeit, in welcher jene Funktionen allein Wirklichkeit sind", und als „der besondere seelische Gehalt des konkreten Subjekts, das sein Erkenntnisbemühen auf irgendeinen Teil jener Fülle hinwendet". Die Aufgaben, die nun erwachsen, werden von den Geisteswissenschaften mit Hilfe des „Verstehens" gelöst. Verstehen ist „Hineinstellen eines inhaltlich, sinnhaft bestimmten Aktes in das Ganze eines konkreten Erlebniszusammenhangs". Die Quelle^ aus der das Verstehen sich nährt, ist das Erleben. Seine Beziehungen zum Leben verschließen dem geisteswissenschaftlichen Denken Erkenntnisse von der Gültigkeit und Abgelöstheit, wie sie in den Naturwissenschaften erreicht werden können. Für das Verhältnis von Wissenschaft und Leben ergibt sich aus der Strukturlehre: „Die Wissenschaft entsagt dem Unternehmen, selbst Zwecke setzen zu wollen, um die Welt menschlicher Zwecksetzungen mit dem hier erreichbaren Höchstmaß von vorurteilsloser Sachlichkeit und Treue spiegeln zu können. Das Leben andererseits gibt den Anspruch preis, daß die Wissenschaft ihm das Geschäft der Zielbestimmung abnehme, um nicht der inneren Erhöhung und Ausweitung verlustig zu gehen, die einzig eine von solchen Ansprüchen entlastete Wissenschaft ihm geben kann." Die Strukturlehre steht im Wechselverhältnis zu einer zweiten „PrinzipienWissenschaft", der Wertlehre. Voraussetzung dafür ist, daß jede geistige Betätigung in Bewegung gesetzt wird durch ein leitendes „Interesse", dessen Richtung gedanklich bestimmt ist „durch ein Aufweisen der Werte, die das Subjekt durch die Betätigung dieses Interesses tatsächlich anerkennt". Für die Beziehung zwischen Struktur- und Wertlehre gilt: „Das Letzte und Grundsätzlichste, das ausgesagt werden kann, sobald das Denken auf der Funktionsseite verweilt, ist in der Strukturlehre niedergelegt; das Letzte und Grundsätzlichste, was die Inhaltseite angeht, kommt in der Wertlehre zu Wort." In der Sphäre des Sinns entfaltet sich der ideelle Gehalt der Strukturlehre, in der Sphäre des Erlebens ergreift die denkende Betrachtung der Wertlehre ihren Gegenstand. Dies wird wichtig für die Betrachtung „der Gesamtwirklichkeit, die wir als »Kultur« bezeichnen". Sie muß „im Ganzen wie im Einzelnen, die doppelte Richtung einerseits auf die Struktur des kulturellen Lebensprozesises, andererseits auf das Wertreich der kulturellen Sinngehalte einschlagen, um schließlich beide Betrachtungsweisen in dieselbe gegliederte Einheit zurückzuführen, als welche »Kultur« erlebte Wirklichkeit ist". Die Sätze der Strukturlehre haben Gültigkeit für alle Überlegungen über das Sollen. Sie stehen daher in besonderem Verhältnis zur Ethik als einer Wissenschaft vom Sollen. „Alles, was irgend über Aufbau und Zusammenhang der Philosophen-Lexikon

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geistigen Welt in allgemeiner Form, sich ausmachen läßt, gehört in das Fundament jeder nur denkbaren Ethik hinein". Den strukturellen Aufbau der geistigsittlichen Welt bezeichnet L. auch mit dem Begriff sozial. „Soziale Theorie" und „soziale Ethik" stehen in engster Verbindung in seinem Versuch, eine Grundlegung der Kultur zu entwickeln, dem sein Werk „Individuum und Gemeinschaft" dient. S c h r i f t e n : Gesch. u. Leben, 1918;-3. Aufl. 1930. — Individuum u. Gemeinschaft, 1919; 3. Aufl. 1926. — Erkenntnis u. Leben, 1923. — D. Philos, d. G e g e n w a r t u. ihr Einfluß auf d. Bildungsideal, 1925; 2. Aufl. 1927. — Ethik d. Neuzeit, 1926. — Möglichkeiten u. Grenzen d. Pädagogik, 1926. — „Führen" oder „Wachsen l a s s e n " ? 1927, — Wissenschaft, Bildung u. Weltanschauung, 1928. — Kant u. Herder, 1930. — Einl. in die Philos., 1933. — Philos, u. Zeitgeist, 1934. — D. Allgemeine im A u f b a u der geisteswiss. E r k e n n t nis, 1941. — D. Befreiung d. geschichtl. Bewußtseins durch Herder, 1943. — D. deutsche Geist u. d. Christentum, 1938. — Protestantisches Geschichtsbewußts., 1939. — D. Selbsterkenntnis des Menschen, 1938. — D. Stelig. d. Geisteswiss. im nationalsoz. Staate, Leipzig 1933. L i t e r a t u r : Pixberg, Hermann, Soziologie u. Pädagogik bei Willmann, Barth, L. u. Krieck, Langensalza 1927; Diss., Köln. — Vanselow, Max, Kulturpädagogik u. Sozialpädagogik bei Kerschensteiner, Spranger u. L., 1927. — Barth, Reinhold, Das method. Problem u. d. Problem d. „Grenze" in der gegenw. päd. Lit., Diss., J e n a 1932.

Littré, Émile, geb. 1. Februar 1801 in Paris, gest. 2. Juni 1881 ebda. Schüler von Comte. L, verharrt bei dem reinen Positivismus und wendet sich von der mystischen Philosophie in Comtes Endepoche ab, S c h r i f t e n : Histoire de la langue française, 2 Bde., Paris 1862; 2. Aufl, 1863. — Dictionnaire de la langue française, 4 Bde., Paris 1863—77. — Analyse raisonnée du cours de philosophie positive, Paris 1845. — Application de la philosophie positive au gouvernement des sociétés, Paris 1850. — Conservation, révolution et positivisme, Paris 1852, 2. Aufl. 1879. — Paroles de la Philos, positive, Paris 1859, 2. Aufl. 1863. — Auguste Comte et la Philos, positive, Paris 1863. — A. Comte et St. Mill, 1866. — La science au point de vue philos., Paris 1873, 5. Aufl. 1884. — Études sur les b a r b a r e s et le moyenâge, Paris 1867; 3. Aufl. 1874. — F r a g m e n t s de philos, positive et de sociologie contemp., Paris 1876. — De l'établissement de la Troisième République, Paris 1880. L i t e r a t u r : E, M. Caro, L. et le positivisme, Paris 1883. — A. Poëy, M. L. et Auguste Comte, Paris 1877; 2. Aufl. 1880. — Brennecke, Adolf, in: Deutsche Rundschau, Bd. 39, 1884: S. 82—94.

Locke, John, geb. am 29. August 1632 als Sohn des Juristen John Locke zu Wrington bei Bristol, gest. am 28. Oktober 1704 in Oates (Essex). Eigentlicher Begründer der Philosophie der Aufklärung und Hauptvertreter des metaphysikfeindlichen Empirismus, den er als erster in einem System der von ihm zuerst als selbständige Wissenschaft behandelten Erkenntnistheorie zur Darstellung brachte. Seine erste Ausbildung genoß er auf der Westminster-Schule zu London und studierte dann seit 1652 in Oxford hauptsächlich Medizin und Naturwissenschaften; daneben beschäftigte ihn vor allem die Philosophie Wilhelms von Occam; die Lehre des Descartes übte auf ihn eine starke Anziehungskraft aus. In diese erste Studienzeit fällt L.s Bekanntschaft mit dem Physiker und Chemiker Robert Boyle, 1665 besuchte er in Begleitung des englischen Gesandten Brandenburg und lebte zwei Monate in Cleve. Von 1667 bis 1675 war er Arzt im Hause des Lord Anthony Ashley, des späteren Earl of Shaftesbury, mit dem er befreundet war. Er erzog dessen Sohn und später auch dessen Enkel, den nachmals berühmten Philosophen. Die ersten Entwürfe zu L.s Essay concerning human understanding fallen in die Jahre 1670 und 1671, Nach vorübergehender Wahrnehmung des Amtes eines

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Secretary of the presentation of benefices begab sich L. 1675 nach Frankreich, von wo er 1679 nach England zurückkehrte, nachdem Shaftesbury, der vorübergehend in Ungnade gefallen war, wieder am englischen Hof aufgenommen wurde. Kurz darauf wunde Shaftesbury ein Prozeß gemacht, der allerdings mit Freispruch endete. Um sich den auch gegen ihn gerichteten Verfolgungen zu entziehen, ging L. 1683 nach Holland, konnte aber, als 1689 durch die Revolution Wilhelm von Oranien englischer Herrscher wurde, nach England zurückkehren. Er erhielt wiederum ein öffentliches Amt, veröffentlichte 1689 seinen ersten Brief über Toleranz (lateinisch), dem er in den folgenden Jahren drei weitere Briefe über den gleichen Gegenstand folgen ließ; 1689 bis 1690 gab er den Essay concerning human understanding heraus, 1690 die Two treatises of government, 1692 die geldtheoretische Schrift Some considerations of the consequences of the lowering of interest and raising the value of money, 1695 seine Further considerations of the ratsing the value of money. 1693 erschien seine Schrift: Some Thoughts concerning education, die unter anderem auf Rousseau einen starken Einfluß ausübte, 1695 die Abhandlung The Reasonableness of Christianity as delivered in the Scriptures, Die Philosophie L.s geht von der Frage der Lebensgestaltung aus, die er im empirischen Sinne beantwortet. Und da nach ihm überall „die Vernunft . . . unser letzter Richter und Führer sein" muß, so interessieren ihn vor allem die Leistungsfähigkeit, Ursprung, Gewißheit und Umfang der menschlichen Erkenntnis und die Grundsätze, „nach welchen wir in Dingen, wo keine gewisse Erkenntnis stattfindet, unsern Beifall und unsere Überzeugung bestimmen sollten". Diesen Fragen ist L.s Hauptwerk, der Essay concerning human understanding, gewidmet. Das erste Buch wendet sich gegen die Annahme von angeborenen Ideen, wie sie etwa Descartes vertritt. Den Ausdruck „Idee" will L. in der gleichen Bedeutung wie Vorstellung, Begriff und Phantasiebild verwenden. Es erhebt sich die Frage, woher die Ideen in unserm Verstände stammen, deren Vorhandensein uns die Erfahrung zeigt. Die Lehre vom Angeborensein der Ideen, die der Seele ursprüngliche Begriffe vor ihrem Wirken in der Welt zuschreibt, stützt sich vor allem auf die Behauptung einer allgemeinen Übereinstimmung über gewisse theoretische und praktische Grundsätze. L, will dagegen den Nachweis führen, daß weder diese behauptete Übereinstimmung besteht, noch daß sie, wäre sie vorhanden, ein Angeborensein der Ideen erforderte. Denn theoretische Grundsätze, wie der Satz der Identität und der des Widerspruchs, sind beispielsweise Kindern, aber auch Menschen ohne wissenschaftliche Bildung unbekannt, und es erscheint andererseits als kaum angängig, einen Besitz der Seele an solchen Grundwahrheiten zu behaupten, der ihr nicht bewußt ist und nicht erkannt werden kann. Analog verhält es sich mit den Grundsätzen der Sittlichkeit, die an Evidenz hinter den theoretischen Grundsätzen zurückstehen, aber deshalb nicht weniger wahr sind als diese. Alle Moralgesetze, nach denen wir uns in unserem Handeln richten sollen, müssen begründet werden, und können deshalb nicht angeboren sein. Nur von den beiden Grundmotiven unseres Handelns, von dem Wunsche nach Glückseligkeit und dem Widerstreben gegen das Elend können wir aussagen, daß sie angeboren sind; sie aber sind Tendenzen unseres Wollens und gehören nicht zum Bereich des Verstandes. Und wenn in den moralischen Grundsätzen, die, wie wir sehen, von Person zu Person und von Volk zu Volk wechseln, dennoch Übereinstimmung erzielt wird, so liegt die Ursache in dem Zwang, daß die Gesellschaft nur durch die Gleichheit der moralischen Gesetze 5*

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sich erhalten und den Zustand allgemeiner Glückseligkeit hervorbringen k a m . Erziehung und Sitte erzeugen diese Übereinstimmung, und es ist einleuchtend, daß der kindliche Verstand, der ein unbeschriebenes Blatt ist, durch die Erziehung zum Heilighalten solcher gemeinsamer Moralverpflichtungen bestimmt werden kann. In dem zweiten Buche, das von der positiven Bestimmung des Ursprungs der Ideen handelt, bezeichnet L. die Seele als ein weißes und unbeschriebenes Blatt Papier (White Paper, Tabula rasa), auf das die einzelnen Erkenntnisse, wie sie aus der Erfahrung herkommen, aufgetragen werden; das der Seele angeborene Vermögen zu Erkenntnissen will L. damit nicht bezweifeln. Es muß nun die innere und die äußere Erfahrung unterschieden werden. Handelt es sich um äußere, den Sinnen zugängliche Gegenstände, so haben wir es mit einer Sensation zu tun, betrifft die Erfahrung die inneren Wirkungen unseres Geistes, mit einer Reflexion. Die Vorstellungen der Farben, des Warmen und Kalten, des Harten und Weichen usw. stammen von den äußerlich wahrnehmbaren Gegenständen, wie sie durch die Sinne aufgenommen werden, auf sie richtet sich das Gemüt und verhält sich ihnen gegenüber teils passiv, teils aktiv. Wenn sich diesen Vorgängen im Gemüt die Seele zuwendet und sie zum Objekt einer reflektiven Betrachtung macht, dann bilden sich im Verstände Vorstellungen, die von den Außendingen unabhängig sind. Die zwei Quellen der Ideen (Vorstellungen, Begriffe) sind also die durch die Sinne vermittelte äußere Wahrnehmung (sensation), und die innere Wahrnehmung der Gemütstätigkeit (reflexion), die in Wahrnehmung, Denken, Zweifeln, Glauben, Erkennen, Wollen usw. besteht. Die Seele vermag erst dann zu denken, wenn der Mensch sinnliche Eindrücke hat. Die Vorstellungen (Ideen) müssen in einfache und in zusammengesetzte eingeteilt werden. Die einfachen Vorstellungen bedürfen keiner Erklärung, die zusammengesetzten werden auf Denken und Wollen zurückgeführt. Einfache Vorstellungen können durch einzelne Sinne (Warm, Kalt, Weich, Dicht usw.), wie durch das Zusammenwirken mehrerer Sinne (Raum oder Ausdehnung, Gestalt, Bewegung usw.), wie durch die Reflexion (Vorstellen oder Denken, Wollen), wie endlich durch die Sinne und die Reflexion (Lust, Unlust, Existenz, Einheit, Zeitverlauf usw.) hervorgerufen werden. Nicht allen durch die Sinne vermittelten Ideen entsprechen Eigenschaften der Dinge selbst. Es ist zwischen den ursprünglichen und den abgeleiteten Eigenschaften oder den primären und sekundären Qualitäten zu unterscheiden. Primäre Qualitäten gehören unabtrennbar zu den Gegenständen und ihrer Existenz. L. nennt Ausdehnung, Gestalt, Undurchdringlichkeit, Bewegung, Ruhe, Zahl, Lage. Die sekundären Qualitäten der Gegenstände beruhen nicht, wie die primären Qualitäten, auf gleichartigen Eigenschaften der Gegenstände, sondern werden in subjektiver Gegenwirkung auf entsprechende physikalische Einwirkungen seitens der Körper in unserer Seele erzeugt. Solche sekundären Qualitäten sind Töne, Gerüche, Geschmacks- und Wärmeempfindungen, Farben. Eine dritte Klasse von Eigenschaften sind die Kräfte (Powers), die Veränderungen in anderen Körpern verursachen, so daß sie unsere sinnlichen Wahrnehmungen modifizieren (z. B. die Kraft des Feuers, Blei zum Schmelzen zu bringen). Die reflektive Tätigkeit der Seele umfaßt mehrere Vermögen: das Vorstellungsvermögen (Perception), das Behaltungsvermögen (Retention), das Vorstellungen gegenwärtig erhält oder wieder vergegenwärtigt, das Unterscheidungs- (Discerning and distinguishing), das Vergleichs- (Comparing), das Zusammensetzungs- (Composition), das Benennungs- (Naming) und das Abstraktionsvermögen (Abstraction). Sie sind die fundamentalen Erkenntnisver-

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mögen des Geistes. Rein menschlich unter ihnen ist allein das Vermögen der Abstraktion, die anderen sind beim Tiere höchstens dem Grade nach verschieden. B e i einfachen Vorstellungen verhält sich die Seele gänzlich passiv. Ihre Selbsttätigkeit wird erst wirksam, wenn sie diese einfachen Vorstellungen zur Bildung neuer, komplexer Ideen (Complex ideas) heranzieht; hierbei wirken besonders Vergleichung, Zusammensetzung und Abstraktion. Auch in den Akten der Erinnerung verfährt das Erkenntnisvermögen aktiv. Durch diese Annahme einer Eigentätigkeit des Geistes bei der Bearbeitung der einfachen Vorstellungen geht L. tatsächlich über den einseitigen Sensualismus und Empirismus hinaus. — Die komplexen Ideen sind entweder Modi (Modes) oder Relationen (Relations) oder Substanzen (Substances). Die modalen Vorstellungen gehen auf Eigenschaften von Substanzen zurück, nicht auf etwas selbständig Existierendes, und sind zusammengesetzte Begriffe: Dankbarkeit, Dreieck usw.; sie sind rein (Simple modes), wenn sie Gleichartiges betreffen (z. B, Dutzend), gemischt (Mixed modes), wenn sie Ungleichartiges betreffen (z. B. die aus der Zusammensetzung von Farbe, Gestalt usw. hervorgegangene Schönheit). Die Substanzideen stellen Verbindungen der Elementarideen dar, die zur Vorstellung eines unabhängig von anderen existierenden Dinges notwendig sind. L. unterscheidet zwischen den Ideen von Einzelsubstanzen, wie ein Mann, und solchen, die eine Vielheit enthalten, wie Armee usw. Die Ideen der Relation entspringen beim Vergleichen von Vorstellungen untereinander. Sie sind als zusammengesetzte Vorstellungen im Bewußtsein und haben eine „Foundation of relation". — Unter den einfachen Modi nennt L. die Modi der Raumvorstellung, die aus den einfachen sinnlichen Vorstellungen der drei Dimensionen entspringt, die Modi der Zeitvorstellung, die aus verschiedenen Vorstellungen bestimmter Zeitlängen besteht (Stunde, Tag usw.); ferner die Modi der Zahlidee und des Denkens sowie die der Idee der Kraft. Die Idee der Kraft entspricht dem kontinuierlichen Bestand der Erfahrungswelt bei dauerndem Wechsel der Erscheinungen als das Vermögen, das sie bewirkt. Die Substanz ist die Annahme eines Substrats, das von den miteinander in Verknüpfung auftretenden Vorstellungen verschieden ist, und dessen Existenz sowohl im Körperlichen wie im Geistigen nicht bezweifelt werden kann; eine eigentliche Vorstellung dieses Substrats besitzen wir nicht. L. hält an der Zweiteilung der Substanzen fest. Als dritte Substanz bezeichnet er Gott; die Vorstellung Gottes entsteht durch Steigerung der Begriffe von Kraft, Dauer, Verstand und Willen über jedes endliche Maß hinaus, aber wir haben auch in diesem Falle nur eine verworrene, undeutliche Vorstellung der Substanz. Den Begriff der Kausalität erwerben wir ebenfalls aus der Erfahrung, indem wir die Beobachtung machen, daß in dem Relationszusammenhang von Qualitäten und Substanzen die einen eine Einwirkung von anderem erleiden. In seiner Lehre von der Sprache, der das dritte Buch gewidmet ist, führt L. aus, daß die Worte Zeichen zunächst unserer eigenen, dann auch fremder Vorstellung, endlich der Dinge selbst sind. Die Species und Genera sind Bildungen unseres Geistes, der sich bestrebt, eine Vielheit von einander ähnlichen Dingen unter einem einheitlichen Namen zusammenzufassen, da es unmöglich ist, einem jeden Einzelding seinen besonderen Namen zu erteilen. Zu dem Zwecke dieser Bildung von Species und Genus handhabt der Verstand die Abstraktion, d, h. er faßt die als wesentlich betrachteten Merkmale unter Weglassung von nebensächlichen Merkmalen zu Hauptvorstellungen zusammen, unter denen er die ähnlichen Einzeldinge sammelt. Der Begriff des Seins ist der höchste der auf diese abstraktive Weise gewonnenen Allgemeinbegriffe.

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L.s Erkenntnistheorie wird im vierten Buche abgehandelt. Erkenntnis ist die Perzeption einer Verbindung und Übereinstimmung oder eines Widerstreites unter den Vorstellungen; er unterscheidet vier Arten, die Identität und Verschiedenheit, die Relation, die Koexistenz oder notwendige Verknüpfung, das reale Dasein. Entsprechend der Art der Perzeption ist die Erkenntnis von verschiedener Evidenz. Diese ist am höchsten in der intuitiven Erkenntnis, geringer in der demonstrativen und am geringsten in der sinnlichen Erkenntnis, obwohl auch sie noch als ein Wissen bezeichnet werden kann: "Of real existence we have an intuitive knowledge of our own, demonstrative of God's, sensitive of some or other things" (IV 3 § 21). Die Wahrheit besteht nur für die Sätze und in ihnen. Die Verbindung oder Trennung von Zeichen im Satz ist dann wahr, wenn ihnen der Sachverhalt auf seiten der Dinge entspricht. Die Wahrheit ist real oder verbal, je nachdem den durch die Zeichen ausgedrückten Verbindungen der Ideen in der natürlichen Welt Existierendes zugeordnet werden kann oder nicht. In allen Fragen, in denen wir eine klare Erkenntnis mit Hilfe unseres Verstandes nicht erwerben können, dürfen wir hypothetische Urteile heranziehen; es stellt sich dann die Aufgabe, ihre Brauchbarkeit an Hand der Erfahrung zu erweisen. — Weder aus der Erfahrung noch mittels des Verstandes gebildete Urteile sind die Sätze der Offenbarung, auf die in allen den Fällen zurückgegangen werden muß, in welchen ein Urteil aus Erfahrung und Verstand nicht gebildet werden kann; die Offenbarung darf allerdings niemals den Erkenntnissen der Vernunft widersprechen; denn die Vernunft ist selbst bereits Offenbarung, Offenbarung im Bereiche des Natürlichen. Sie wird durch die übernatürliche Offenbarung, in der Gott Wahrheiten unmittelbar mitteilt, erweitert und ergänzt. Diese unmittelbaren göttlichen Offenbarungen können nicht bezweifelt werden, denn entweder sind sie mit den Mitteln der natürlichen Vernunft als wahr erweisbar, oder die Vernunft trifft in ihnen doch auf Hinweise, die sie als göttliche bestätigen. Fehlt auch dies, so ist das vorgeblich Geoffenbarte zu verwerfen; denn die Vernunft bildet für uns stets das letzte und entscheidende Instrument der Prüfung, wenn schon keine Erfahrung in der natürlichen Welt zu Gebote steht. Im letzten Kapitel der Schrift nimmt L, zur Frage der Einteilung der Wissenschaften Stellung. Die drei Hauptgebiete des Wissens und der Erkenntnis sind die utJ'xi; oder Natural philosophy, die Wpiv.zv/:^ und drittens die 2irüj.st(DTt/-q oder Aofiz-fj. Die erste hat es mit den körperlichen und geistigen Gegenständen zu tun, die zweite mit der Frage der richtigen und zweckentsprechenden Verwendung unserer Kräfte — ist also vornehmlich auf Moral und Ethik gerichtet —, die dritte mit den Zeichen und insbesondere mit den Wörtern; sie gibt dem Geist Anleitung und Anweisung für die Erkenntnis. Über die Ethik handelt L. im 21. und 28. Kapitel des Zweiten Buches seines Essays. Er führt das sittlich Gute nicht auf eine Beschaffenheit der Gesinnung zurück, sondern verlegt es in die Übereinstimmung unseres freiwilligen Handelns mit dem göttlichen, dem bürgerlichen und dem Gesetz der öffentlichen Meinung; das göttliche Gesetz bezeichnet Sünde und Pflicht, das bürgerliche Verbrechen und Unschuld, das Gesetz der öffentlichen Meinung Tugend und Laster. Dieses Gesetz der öffentlichen Meinung genießt bei den Menschen ein hervorragendes Ansehen, seine Befolgung und Nichtbefolgung zieht Achtung und Verachtung nach sich. In seiner Staatsphilosophie lehrt L. im Gegensatz zu Hobbes, daß der Staat von den Menschen errichtet wurde, um den ihnen eigentümlichen natürlichen Zustand der Freiheit und der Gleichheit zu erhalten, indem sie sich bewußt

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gegenseitig Schranken auferlegten und einer gemeinsamen Regierungsgewalt sich unterzuordnen beschlossen. Damit ist Aufgabe und Rahmen der Befugnisse des Staats bestimmt; w e d e r die patriarchalische Regierungsform (gegen Robert Filmer, 1604—1647) noch der Absolutismus kann von L. gebilligt werden. Die legislative, die e x e k u t i v e und die föderative G e w a l t sollen getrennt werden. G e g e n den verfassungswidrig regierenden Herrscher, d e n König, hat das Volk das Recht d e s Widerstandes und der Revolution. Einen Zwang zu bestimmten Glaubensbekenntnissen lehnt L. ab; er fordert Toleranz für jede religiöse Überzeugung. Seinen pädagogischen Erörterungen, Some Thoughts concerning education (1693), liegt ein individualistisches Bildunigsideal zugrunde. L. fordert die Entwicklung d e s Zöglings nach seinen natürlichen Anlagen und den Bedingungen seines Milieus. Dabei ist weniger Wert auf die Übermittlung v o n W i s s e n und Kenntnissen zu legen, obwohl auch sie gepflegt w e r d e n müssen, als auf die A u s bildung der körperlichen und charakterlichen Tüchtigkeit. Die Erziehung selbst soll in der Hand eines einzigen Erziehers liegen (Hofmeistererziehung), der am b e s t e n der individuellen Anlage des Zöglings gerecht zu w e r d e n vermag. L. glaubt, daß d i e s e aristokratische Art der Erziehung dem ganzen V o l k e zugute kommt, w e n n sich die Auswirkungen einer besseren Erziehung der oberen Klassen erst einmal im niederen Volke bemerkbar zu machen beginnen. S c h r i f t e n : Briefe über Toleranz, 1. Brief (lat., anonym), 1685; mit 2. u. 3. Brief (anonym), 1689. — An essay concerning human understanding, zuerst London 1690; mit Einl. u. Anm. v. A. C. Fraser, 2 vols. Oxford 1894; deutsche Übers, v. W. G, Tennemann, 1795—1797; v. J . H. v. Kirchmann in d. philos. Bibl.., 2 Tie., 1872, 1873; neu übers, v. H. Winckler, 2 Bde., 1911 u. 1913; Th. Schultze in Reclams Univ.bibl. — Some Thoughts concerning education, London 1693; deutsch v. E. Sallwürk, 2. Aufl. 1897; von Th. Fritzsch in Reclams Univ.-Bibl. — The reasonableness of Christianity as delivered in the Scriptures, 1695; deutsch von C. Winkler, 1914. — Two treatises on government, 1690; deutsch: „D. Kunst wohl zu regieren", 1718; neu 1906. — Gesamtausg. d. Werke, London 1714, in 3 Bdn. 1723, in 4 Bdn. v. Bischof Edm. Law, 1777; in 9 Bdn., London 1853; in 2 Bdn. mit Anm. u. Erläut. v. St. John, London 1854. L i t e r a t u r : H, R. Fox Bourne, The life of J. L., 2 vols., London 1876. — G. Hertling, John L. u. d. Schule v. Cambridge, 1892. — S. Alexander, L., London 1908. — J. Didier, J . L., Paris 1911. — A. Carlini, La filosofia di G. L., 2 Bde., Firenze 1920. — E, v. Aster, Große Denker, Bd. 2, 1923. — G. Hartenstein, L.s Lehre v. d. menschl. Erkenntnis im Vergl. mit Leibniz' Kritik ders., 1870 (in Hartensteins hist, philos. Abhandig.). — G. v. Benoit, Darstellg. d. L.schen Erkenntnislehre, vgl. m. d. Leibnizschen Kritik ders., Bern 1869. — E. Krakowski, Les sources médiévales de la philos, de L., Paris 1915. — C. Baumker, Üb. d. L.sche Lehre v. d. primären u. sekundären Qualitäten, in: Philos. Jahrb. XXI; Primäre u. sekundäre Qualitäten, Arch. f. Gesch. d. Philos. 1909, 380. — M. Meier, L. u. d. Lehre v. d. eingebor. Ideen, Philos. Jahrb, d. Görresges. 32 (1919) H. 1. — A. Messer, D. Behandlung d. Freiheitsprobl. d. J. L., Arch. f. Gesch. d. Philos. XI (1898) 132—149, 404—432, 466—490. — Sterling Power Lamprecht, The moral and political philosophy of J. L., New York 1918. — Ed. Fechtner, J. L.s Gedanken üb. Erziehung, 2. Aufl. 1908. — G. Stark, Natur u. Naturgemäßheit in d. Pädagogik J . L.s, 1920. — Christophersen, H. O., A bibliographical introduction to the study of J. L., Oslo 1930; in: Skriftes . .. Norske Videnskaps Akademi Oslo, Hist.-fil. Kl. 1930, Nr. 8. — Reininger, Robert, L., Berkeley, Hume, 1922. — A. Tellkamp, D. Verhältnis J . L.s z. Scholastik, 1927; in: Veröff. d. Albert. Magn. Akad., Bd. 2, 2. — Wiedemann, Albert, Geistesgesch. Querschnitt durch Justus Mosers Erziehungsideen orientiert a. d. Philos. J. L.s u. Shaftesbury, Erlangen 1922, Diss. — Dahrendorf, Walter, L.s Kontroverse m. Stillingfleet u. i. Bed. f. s. Stellung z. anglikan. Kirche, 1932. — Emrich, Ignaz, D. geldtheor. u. geldpol. Ansch. J. L.s, Erlangen 1927; Diss. — Hefelbower, S. G., The Relation of J . L. to English Deism, Chicago 1918. — Gibson, James, L.s Theory of Knowledge and its

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Juli 1890 in D o r s t e n (Westf.). Dr. phil. Dr. theol. h. c. Priv.doz. in Heidelberg 1918, a. o. Prof. in Breslau 1920, o. Prof. ebda. 1921, in G r e i f s w a l d 1936. S c h r i f t e n : Diatheke, 1913. — D. Lehre v. Willen bei Anselm v. Canterbury, 1914. — Christuskult u. Kaiserkult, 1919. — V. göttl. Wohlgeruch, 1919. — Soziale Fragen im Urchristentum, 1921. — J a k o b Böhme, 1924. — V. Begriff d. relig. Gemeinschaft, 1925. — D. Offenbarung Johannis, 1926. — X p i t m » , 1927. — Kyrios Jesus, in: Abh. d. Heidelb. Akad., 1928. — Grundlagen Paulinischer Theologie, 1929. — Glaube u. Gesch. in vorderoriental. Religionen, 1931. — Das Urchristentum, I, 1932. — Galiläa u. Jerusalem, Göttingen 1936. — Kultus u. Evangelium, Göttingen 1942. — Gottesknecht u. Davidssohn, 1945. L o m b r o s o , Cesare, geb. 18. N o v e m b e r 1836 in Verona, gest. 19. Okt. 1910 in Turin. Prof. in Turin seit 1876. — Der Psychiater L. vertritt eine s o z i a l p s y c h o l o g i s c h e A u f f a s s u n g des Rechts und betrachtet den geborenen Verbrecher a l s entarteten M e n s c h e n mit atavistischer A n l a g e . D a s Genie bringt er in Zusammenhang mit p a t h o l o g i s c h e n Naturanlagen, mit Wahnsinn. S c h r i f t e n : Genio e follia, 1864; 4. Aufl. 1882; deutsch: Genie u. Irrsinn, 1920. — L'uomo delinquente, 5. ed. Turin 1896; deutsch: D. Verbrecher, 3 Bde., 1887 f. — L'uomo di genio in rapporto alla psichiatria, Tor. 1889; 6. Aufl. 1894; deutsch: D. geniale Mensch, 1890. — Il delitto politico (mit R. Laschi), 2 Bde., Turin 1890; deutsch: D. polit. Verbrecher, 1891 f. — La donna delinquente (zus. mit Ferrerò), Turin 1893; deutsch: Das Weib als Verbrecherin, 1894. — Genio e degenerazione, 1897; deutsch: Genie u. Entartung, 1910. — Nuovi studii sul genio, 1902; deutsch: Entartung und Genie, Neue Studien, 1904. L i t e r a t u r : A. Gemelli, C. 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N a c h d e m Urteil des Porphyrios w a r er einer der größten Kritiker s e i n e r Zeit. — D i e b e d e u t u n g s v o l l e Schrift „Vom E r h a b e n e n " (Ilspl tfyouc) w u r d e L. jahrhundertelang fälschlich zugeschrieben, gehört aber wahrscheinlich einer früheren Zeit an. S c h r i f t e n : Ilepl oipyminister und bemüht, die idealistische Philosophie als öffentliche Lehre zur Anerkennung zu bringen. — M. schließt sich zunächst an die Erfahrungsphilosophie Galuppis an, vertritt aber seit 1850 einen Idealismus in Anlehnung an Rosmini und Gioberti. Er behauptet die Möglichkeit einer Intuition, die das absolut Reale erfaßt und darin das Fundament der Wahrheit findet. Er gründete, um seine Philosophie zu verbreiten, 1870 die Zeitschrift Filosofia delle scuole italiane, die in 23 Bänden erschien. S c h r i f t e n : Del rinnovamento della filosofia italiana, Paris 1834 u. Florenz 1836. — Sei lettere all'ab. Rosmini, Paris 1838 u. Florenz 1842. — Dell' ontologia e del metodo, Paris 1841 u. Florenz 1843. — Dialoghi di scienza prima, Paris 1846. — Fondamento della filosofia del diritto e principalmente del diritto penale, 1853. — Discorsi e dissertazioni, 1852—55. — Scritti politici, Florenz 1853. — Il nuovo europeo, Torino 1859. — La rinascenza cattolica, Florenz 1862. — Confessioni di un metafisico, Florenz 1865, 2 vol. — Teoria della religione e dello stato, 1868. — Le meditazioni cartesiani rinnovati nel secolo XIX, 1869. — Kant e l'ontologia, 1870. — Compendio e sintesi della propria filo«.,

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Man — Mani

ossia nuovi prolegomeni ad ogni presente e futura metal., Turin 1876. — Della psicologia di Kant, Rom 1877. — La religione dell'avvenire, ovvero della religione positiva e perpetua del genere umano, Mailand 1880, — Delle questoni sociali e particolarmente dei proletari e del capitale, Rom 1882. — Del papato nei tre ultimi secoli, Mailand 1885. L i t e r a t u r : L. Ferri, Commemorazione di T. M., in: Rend. Ac. Lincei, 1885—86; Sulla vita e le opere di T. M., in: Riv. it. filos., 1866. — L. Saint-Ours, T, M. et son oeuvre, in: Revue intern. 1885. — Viterbo, Ettore, T. M. Lettere dall'esilio, 2 vol., Rom 1899. — G. Gentile, I Platonici, T. M., in: La Criticà, Neapel 1904.

Man, Hendrik de, geb. 17. November 1885 in Antwerpen. 1933 Doz. an der Universität Brüssel. Sozialist und Sozialpsychologe. S c h r i f t e n : Zur Psychologie des Sozialismus, 1926; 2, Aufl. 1927. — Der Kampf um d. Arbeitsfreude, 1927. — Massen u. Führer, 1932. — Die Sozialist. Idee, 1933, L i t e r a t u r : Kähler, Otto Heinrich, Determinismus u. Voluntarismus in der „Psychologie des Sozialismus" H. de M,s, Diss., Heidelberg 1929.

Mancini, Celso, 1542 bis 1612 od. 1618. Italienischer Politiker und Philosoph. L i t e r a t u r : Rava, Luigi, C. M., Filosofo e politico del secolo XVI,, Bologna 1888.

Mandeyille, Bernard de, geb. 1670 in Dordrecht (Niederlande), gest. 21. Januar 1733 in Hackney. Arzt in London. — In seiner „Bienenfabel" nimmt M. im Gegensatz zu den ethischen Ansichten Shaftesburys an, daß durch die Tugend die Gesellschaft zum Untergang getrieben wird. Nur die egoistischen Triebe können sie am Leben erhalten, Es besteht grundsätzlich in der Gesellschaft Interessengegensatz, nicht Interessengemeinschaft. Die gesellschaftliche Grundtatsache ist die Überwältigung des Schwächeren durch den Stärkeren. S c h r i f t e n : Treatise of the hypochondriac and hysteric passions, 1711. — The grumbling hive or knaves turned honest, 1705 anonym als Flugblatt erschienen; erweit. Ausgabe u. d. Titel: The fable of the bees or private vices public benefits, 1714, 1723; deutsch v. O. Bobertag, 1914; neu hrsg. v. F. B. Kaye, 2 Bde., Oxford 1924. — F r e e thoughts on religion, the church and national happiness, London 1720, deutsch 1726. — An inquiry into the origin of honour, London 1732. — A letter of Dion, 1732. L i t e r a t u r : P. Sakmann, B, de M. u. die Bienenfabel-Kontroverse, 1897. — N. Wilde, M.s place in English thought, in: Mind, 1896. — Rud. Stammler, M.s Bienenfabel, 1918. — Lamprecht, S. P,, The Fable of the Bees, in: Journal of Philosophy, Bd. 23, 1926; S. 561—579. — Deckelmann, Werner, Unters, zur Bienenfabel M.s, 1933; in: Britannica, 7.

Manegold von Lautenbach, geb. etwa 1060, gest. nach 1103. Seit 1094 Propst des Augustinerklosters Marbach i. Els. — M. ist literarisch vielfach abhängig von Petrus Damiani. M. bekämpft die Profanwissenschaften und die Dialektik und bezeichnet die Philosophie als Dienerin der Theologie. Staatstheoretisch lehrt er die Abhängigkeit des Königs und seiner Gewalt von dem Vertrag des Volkes. S c h r i f t e n : Ad Gebehardum Liber, hrsg. v, Kuno Francke, in: Monumenta Germaniae Historica, Libelli de Lite, Bd. 1, 1891; S. 300—430, L i t e r a t u r : Mirbt, Carl, D, Publizistik im Zeitalter Gregors VII., 1894. — Carlyle, A. J . and R. W., A History of Mediaeval Political Theory in the West, 5 Bde., Edinburgh 1903—28; Bd. 3/4. — Stead, M. T., Manegold of Lautenbach, in: English Histor. Review, Bd. 29, 1914; S. 1—15.

Mani (Manes), geb. etwa 216 n. Chr. in Mardinu in Babylonien, 276 ermordet. Stifter der häretischen Sekte der Manichäer. — M., ein Perser, suchte den Parsismus mit deih Christentum zu verschmelzen und begründete seine Religion auf dem 8*

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Manilius — Mannheim

dualistischen Prinzip des Gegensatzes zwischen einem guten und einem bösen Urwesen; dieses beherrscht das Reich der Finsternis, jenes das des Lichtes. Entsprechend hat auch der Mensch zwei Seelen, Leibseele und Lichtseele, zwischen denen Kampf stattfindet wie zwischen den Urwesen. Zur Befreiung von der Körpermaterie war den Vollkommenen eine asketische Lebensweise vorgeschrieben. L i t e r a t u r : C. Salemann, Manich. Stud". I, Petersb. 1908. — J . Scheftelowitz, Die Entsteh, der manich. Religion, 1922. — O. G. v. Wesendonk, Die Lehre des M., 1922. — F. C. Burkitt, The religion of the Manichees, Cambridge 1925. — Steffen, Albert, M., 1930. — O. G. v. Wesendonk, Bardesanes u. M. 1931; in: Acta Orientalia, Vol. 10. — Jackson, Researches in Manichaeism, N. Y. 1932 (mit Bibliographie).

Manilius, Astronom aus der spätstoischen Schule, abhängig besonders von dem Mittelstoiker Poseidonius aus Apameia. Mann, Thomas, geb. 6. J u n i 1875 in Lübeck. 1929 Nobelpreis für Literatur. Lebte 1933 bis 1938 in der Schweiz, seitdem in U.S.A. — Deutscher Dichter und Schriftsteller, der das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft an typischen Einzelvertretern zu erfassen versucht, ihr«; Gipfelpunkte in der klassischen Zeit und ihre Verfallserscheinungen seit der Jahrhundertwende dichterisch gestaltet und von dem Neuerwachen humanistischer Gesinnung ihren Wiederaufstieg erhofft. S c h r i f t e n : Die Buddenbrooks, 2 Bde., 1901. — Tod in Venedig, 1913. — Tonio Kröger, 1914. — Betrachtungen eines Unpolitischen, 1918. — Rede und Antwort, 1922. — Der Zauberberg, 2 Bde., 1924. — Unordnung u. frühes Leid, 1926. — Drei Essays, 1929. — Josef u. seine Brüder, 3 Bde., 1933—1936. — Nietzsche's philosophy, engl. 1947; deutsch 1948 u. d. T.: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. — Neue Studien, dt. 1948 (u, a.: Goethe, Dostojewski). — Essays of three decades, New York 1947 (u. a.: Goethe, Tolstoj, Richard Wagner, Freud, Kleist, Platen, Cervantes). — Doktor Faustus, Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freund, Stockholm 1947; Berlin 1948. — Leiden u. Größe der Meister, Berlin 1946. — Lotte in Weimar, 1947. L i t e r a t u r : Wilhelm Alberts, Th. M., 1913. — Franz Leppmann, Th. M., Berlin 1916. — Carl Helbling, Die Gestalt des Künstlers in der neueren Dichtung, Bern 1922; Th. M. u. der Naturalismus, Diss., Zürich 1922. — Oswald Brüll, Th. M., 1923. — Hanne Baek, Th. M., Wien 1925. — A. Eloesser, Th. M., Berlin 1925. — Jacob, Gerhard, Th. M. u. Nietzsche, Diss., Leipzig 1926; Das W e r k Th. M.s, Bibliographie, Berlin 1925. — Martin Havenstein, Th, M., Berlin 1927. — K. P. Biltz, Das Problem der Ironie in der neueren deutschen Literatur, Diss., Frankfurt 1932. — Käthe Hamburger, Th. M. u. die Romantik, Berlin 1932. — Hans Kasdorf, Der Todesgedanke im W e r k e Th. M.s, Leipzig 1932, Form u. Geist, Bd. 26. — Fritz Nolte, Der Todesbegriff bei Th. M., Diss., Heidelberg 1934. — Ferdinand Lion, Th. M. in seiner Zeit, Zürich 1935. — Josef Turoczi-Trostler, Th. M.s Bild zum Mythos, Budapest 1936. — Mally Untermann, Das Groteske bei Th. M., Diss., Königsberg 1929.

Mannheim, Karl, geb. 27. März 1893 in Budapest, gest. J a n u a r 1947 in London. Promotion 1918. Priv.-Doz. in Heidelberg 1926. 0 . ö. Prof. für Soziologie in Frankfurt 1930, seit 1933 Doz. an der London School of Economics (University of London). — M.s zentrales Forschungsgebiet ist die Wissenssoziologie, die er in ihrer gegenwärtigen Gestalt im Anschluß an Theoreme der materialistischen Geschichtsauffassung und ihrer Deutung des Denkens, wie an Schelers Arbeiten, mitbegründete, Sie macht es sich zur Aufgabe, systematisch alle jene Faktoren zu klären, die das Denken der sozialen Gruppen bestimmen. M. geht von der Auffassung aus, daß es, genau wie in der Kunstgeschichte, so auch in der Geschichte des Denkens „Stile" gibt, die man in ihrer Verschiedenheit charakterisieren, in ihrem Werden und ihren Verflechtungen verfolgen und von den sie

Mansel

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tragenden Gruppen her erklären kann. Zwar ist die Wissenssoziologie nach M.s Auffassung eine empirische Tatsachenwissenschaft, die das wirkliche Denken der Menschengruppen zum Forschungsthema hat, aiber dennoch folgen bestimmte Einsichten aus ihr, an denen eine neue Erkenntnistheorie nicht vorbeigehen kann. S c h r i f t e n : Ideologie und Utopie, Bonn, 2. Aufl. 1929; englisch London 1936; New York 1936. — Man and Society in an Age of Reconstruction: Studies in Modern Social Structure, London 1940, New York 1940. — Diagnosis of our Time, London 1943; New York 1944, — Strukturanalyse der Erkenntnistheorie, Ergänzungsheft der Kant-Studien, Nr. 57, Berlin 1922. — Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte, Bd. I, 1921/22. — Historismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 52, 1924. — Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 53, 1925. — Ideologische und soziologische Interpretation der geistigen Gebilde, in: Jahrbuch für Soziologie, Bd. II, Hrsg. v. G. Salomon, Karlsruhe 1926. — Das konservative Denken; Soziologische Beiträge zum Werden des politisch-historischen Denkens in Deutschland (The Development of Political and Historical Thinking in Germany), Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 57, 1927. — Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, in Bd. 6 der Schriften der deutschen Gesellschaft für Soziologie, 1929. — Über das Wesen und die Bedeutung des wirtschaftlichen Erfolgsstrebens, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 63, 1930. — Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie. Bd. 7, 1928, 2—3. — Die Gegenwartsaufgaben der Soziologie. Ihre Lehrgestalt, Tübingen 1932. — Wissenssoziologie, in: Handwörterbuch der Soziologie, herausg. v. Alfred Vierkandt, Stuttgart 1931. — Mannheim's Sociology of Knowledge, in d. Chines, übers, v. An-She Li, in: The Sociological World, herausg. v. d. Yenching Univers. 1938. — German Sociology 1918—33; chines. Übers, in: The Sociological World, herausg. v. d. Yenching Univers. 1936; La Sociologia Alemana (1918—1933), Span. Übers, in: Tierra Firme No. 1. Madrid 1935. — Sociologia Wiedzy (Wissenssoziologie), poln., Warszawa 1937. — Les Sciences Sociales et la Sociologie, in: Les Convergences des Sciences Sociales et l'Esprit International. Centre d'Etudes de Politique Étrangère, Paris 1937. — German Sociology (1918—1933), in: Politica, February 1934. — Symposium on Methods in Social Science, ed. by Stuart A. Rice, in: American Journal of Sociology, vol. 38, No. 2, Sept. 1932. — The Place of Sociology, in: The Social Sciences, their Relations in Theory and Teaching. London 1937. — The Sociology of Human Valuations. The Psychological and Sociological Approach; in: The Social Sciences, their Relations in Theory and Teaching. London 1937. — Adult Education and the Social Sciences, in; Tutor's Bulletin of Adult Education, Febr. 1938. — Sociology for the Educator and the Sociology of Education, in: Sociology and Education, The Playhouse Press, 1945. — Democratic Planning and the New Science of Society, in: This Changing World. Ed. by G. J . R. Brumwell, London 1944. — The Meaning of Popularisation in a Mass Society, Supplement, in: The Christian Newsletter, Feb. 7th 1945. Mansel, Henry Longueville, geb. 6. Oktober 1820 in Cosgrove (Northamptonshire), gest. 31. Juli 1871 in Oxford. 1866 Prof. der Kirchengeschichte in Oxford; 1868 Dean of St. Paul's. — M. geht aus von der Philosophie Hamiltons. E r sieht das fundamentale Problem der Metaphysik darin, den Unterschied vor Wirklichkeit und bloßer Bewußtseinserscheinung festzustellen. Unser Verstand besitzt keinen positiven Begriff von Existenz oder Wesen im allgemeinen. Der Versuch der Philosophie, eine unbedingte Realität zu erfassen, führt notwendig zum Atheismus, wie sich ebenso eine rationalistische Theologie in Pantheismus auflöst; beide können die menschliche Natur nicht befriedigen. Ausgehend vor den Erfahrungen der menschlichen Natur lehrt M., daß der Glaube an die Existenz einer äußeren materiellen Welt aus der Erfahrung des Widerstandes entspringt, den äußere Dinge unserer Bewegung entgegenstellen. Gott hingegen kennen wir nur glauben. Das Gefühl der Abhängigkeit des Menschen, seiner moralischen Verpflichtung und seiner Beschränktheit führt dakin, daß Gott als

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Manser — Marbe

persönliches W e s e n empfunden wird. D a s eigene persönliche W e s e n des M e n s c h e n ist die e i n z i g e S u b s t a n z , die e r f a ß b a r ist, und die als s o l c h e im B e w u ß t sein als solchem dem M e n s c h e n unmittelbar erscheint. S c h r i f t e n : Artis Logicae Rudimenta, from the T e x t of Aldrich, with Notes and Introd., 1849. •— Prolegomena Logica, 1851. — Man's Conception of Eternity, 1854. — Psychology, the T e s t of Moral and Metaphysical Philosophy, 1855. — Metaphysics or the Philos. of Consciousness, 1860. — T h e Limits of Religious Thought, 1858, 3. Aufl. 1867. — Philosophy of the Conditioned, 1866. — Philosophy and Theology, in: Cont. Rev. XI, 1. — Letters, Lectures and Reviews, hrsg. v. Chandler, 1873. — T h e Gnostic Heresies, ed. by J . B . Lightfoot, 1875. L i t e r a t u r : J . Martineau, A. L. M., in: Essays, III, 1891. — Sir Leslie Stephen, Art. M., in: Diet, of National Biogr., X X X V I , 1893. — T. H. Green, The Logic of the Formal Logicians, in: Works, Vol. II, London 1886, S. 158—194. M a n s e r , G a l l u s , 0 , P . , geb. 2 7 . J u l i 1 8 6 6 in B r ü s i l a u ( A p p e n z e l l ) . D r . t h e o l . 1894 P r o f . d e r P h i l o s o p h i e a m S t . J o h n ' s S e m i n a r y W o n e r s h . ( S u r r e y ) . O . P r o f , d e r P h i l o s o p h i e a n der U n i v e r s i t ä t F r e i b u r g ( S c h w e i z ) s e i t 1900. S c h r i f t e n : Possibilitas praemotionis Thomisticae, 1895. — De natura philosophiae, 1903. — Das Verhältnis von Glaube u. Wissen bei Averroes, 1908. — J o h a n n v. Rupella, 1912. — Roger B a c o n u. s. Gewährsmänner, 1912. — D. Zweifler am Kausalprinzip im 14. Jhdt., 1913. — Die Geisteskrise d. XIV. Jhdts., 1915. — Die Frauenfrage nach Thomas v. Aquin, 1919. — Das Wesen des Thomismus, 1932. L i t e r a t u r : Festgabe, P. G. M. zum 70. Geb. dargebracht v. Schülern u. Freunden, Freiburg i. Ue. 1936. M a n t o v a n i , G i u s e p p e , 1 8 6 0 b i s 1917. L e b t e in P a v i a . S c h ü l e r v o n W i l h e l m Wundt. S c h r i f t e n : La psicol. come scienza sperimentale, in: Riv. filos. it. 1893. — Manuale di psicol. fisiologica, Mil. 1896. M a n z o n i , A l e s s a n d r o , g e b . 7. M ä r z 1 7 8 5 in M a i l a n d , g e s t . 2 2 . M a i 1 8 7 3 e b d a . Italienischer Dichter. S e i t 1826 S c h ü l e r und A n h ä n g e r von Rosmini. V e r f a s s e r d e r „ P r o m e s s i s p o s i " (1821). S c h r i f t e n : Dialogo dell'invenzione, Osservazioni sulla morale cattolica, Parte edita, Mail. 1819. — Parte inedita e pensieri religiosi. Studi introduttivi. Note e Appendice di A. Cojazzi, Tor. 1910. — Ges. Ausg. v. M. selbst, 6 Bde., 1845; 4 Bde., Mailand 1912—21; v. G. Lesca, Florenz 1928; Bari 1933, Bd. I, — Nachlaß, 5 Bde., 1883—1898. — Sämtl, W e r k e , deutsch hrsg. v. Bahr u. Camnitzer, 4 Bde., 1923—27, — Erinnerungen u. Briefe, 3 Bde., 1923. — Schriften zur Philos. u. Ästh., dt. v. F. Arens, 1923 ( W e r k e Bd. 5). L i t e r a t u r : A. Martinazzoli, La pedag. e la morale nei promessi sposi di A. M., Rend. Ist. Lomb., 1896. — G. Bonola, Carteggio fra M. e Rosmini, Milano 1900. — Vgl. auch Rivista Rosminiana, seit 1906. — O. Bulle, Die italien. Einheitsidee in ihrer literar. Entw. v. Parini bis M., 1893; S. 205—345. — Sanctis, F . de, M., hrsg. v. G. Gentile, Bari 1922. — G. Gentile, Dante e M., Florenz 1923. — A. Gaietti, A. M. il pensatore e il poeta, 2 Bde., Mailand 1927. — F . Ruffini, La vita religiosa di A. M.; 2 Bde., Bari 1931, — B. Croce, A. M„ Bari 1930. — A. Momigliano, M., 3. A. Mailand 1933. — F . Crispolti, Indagini sopra A. M., Mailand 1940. — E. Fiori, M. e Goethe, Mailand 1942. — D. Christesco, La fortune d'A. M. en France, Paris 1944. — A. Parenti, Bibliographie, Florenz 1937. M a r b e , K a r l , g e b . 31. A u g u s t 1 8 6 9 in P a r i s . P r o m o t i o n 1 8 9 3 in B o n n . P r i v . D o z . in W ü r z b u r g 1896, a. o. P r o f . e b d a . 1902, F r a n k f u r t a . M . 1905, o. P r o f , in W ü r z b u r g 1 9 0 9 . — M , v e r t r i t t d i e A n s i c h t , d a ß die P h i l o s o p h i e n u r im e n g s t e n Z u sammenhang mit der positiven W i s s e n s c h a f t und der Erfahrung erfolgreich b e trieben werden kann, und hat auch selbst vielfach versucht, die positive W i s s e n s c h a f t , i n s b e s o n d e r e die t h e o r e t i s c h e u n d p r a k t i s c h e P s y c h o l o g i e zu f ö r d e r n .

Marchesini — Marcus Aurelius

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S c h r i f t e n : Naturphilos. Unters, zur Wahrscheinlichkeitslehre, 1899. — Experimentell-psycholog. Unters, üb. d. Urteil, e. Einl. in die Logik, 1901. — Über den Rhythmus d. Prosa, 1904. — Beiträge z. Logik u. ihren Grenzwissenschaften, in: Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos., Bd. 30—36, 1906—12. — Grundzüge der forens. Psychologie, 1913. — Die Gleichförmigkeit in der Welt, 2 Bde., 1916—1919. — Die okkultist. Bewegung in der Gegenwart, in: Preuß. Jahrb. 1924. — Prakt. Psychologie d. Unfälle u. Betriebsschäden, 1926. — Die Psycholog, als Gerichtsgutachter, 1926. — Psychologie der Werbung, 1927. — Psychologie der Wertreklame, 1930. — D. Strafprozeß gegen Philipp Halsmann, 1932. — Grundfragen d. angewandten Wahrscheinlichkeitsrechnung u. theoret. Statistik, 1934. —• Das Ausgleichsprinzip in der Statistik, 1938, — Neue Unters, zur Psychol., Leipzig 1940. L i t e r a t u r : R. v. Mises, Marbes Gleichförmigkeit in der Welt und die Wahrscheinlichkeitsrechnung, in: D. Naturwiss., 1919. — M. Schorn, K. M. u. d. Anwendung d, Psychologie im Wirtschaftsleben, in: Industr, Psychotechnik, 1929. — H. Reis, Unters, zur philos, Werttheorie, 1927. Marchesini, Giovanni, geb. 28. Sept. 1868 in Noventa-Vincenzina. Prof. in Padua. Anhänger von Ardigò. Positivist. S c h r i f t e n : Elementi di morale, Firenze 1897. — Saggio sulla naturale unità del pensiero, Fir. 1895. — La crisis del posit. e il problema filos., Tor. 1898. — La teoria dell'utile, Tor. 1900. — Il simbolismo nella conoscenza e nella morale, Tor. 1901. — Il dominio dello spirito, Torino 1902, — Le finzioni dell'anima, Bari 1905, — Elementi di logica, Fir. 1905. — La vita e il pensiero di Roberto Ardigò, Milano 1907. — L'intolleranza, Torino 1909. — Nel campo dell'educazione, Roma 1909. — La dottrina positiva della idealità, Roma 1913. — Disegno stor. della dottf. pedag., Roma 1913. — R. Ardigò, L'uomo e l'umanista, Fir. 1922. — La finzione nell'educazione, Torino 1925. L i t e r a t u r : G. C. Paoli, Fatti e concetti come principi a proposito del pensiero di R. Ardigò e di G. M., Palermo 1909. Marcion von Sinope (Pontus). Lebte von etwa 85 bis etwa 165/70 n. Chr. Christlicher Gnostiker. — M. war der Sohn eines Bischofs, von dem er wegen Irrlehre aus der Kirche ausgeschlossen wurde. Er ging nach Rom und gründete um 144 eine eigene Kirche auf der Grundlage eines orthodoxen Paulinismus. M. steht in seiner Lehre stark unter dem Einfluß des Cerdon aus Syrien, mit dem er den guten Gott des Neuen Testamentes, den V a t e r Jesu Christi, von dem nur gerechten Gott der Juden, der die W e l t erschuf, trennte. Auch den Doketismus, der sich bereits bei Saturnilus aus Antiochia findet, vertritt er in seiner Lehre, Jesus sei von dem wahren Gott in dem Scheinleib eines erwachsenen Mannes nach J u d ä a gesandt worden. Den Dualismus zwischen dem bloß gerechten und dem guten Gott treibt er so weit, daß er zum Kampfe gegen den weltschaffenden Gott des Judentums auffordert und vom Gläubigen Abwendung von allem Weltlichen verlangt, um dem Gotte der Liebe zu dienen. L i t e r a t u r : Bardenhewer, Altkirchl, Lit. I, 2. Aufl., 343—376. — A. Hilgenfeld, Die Ketzergesch. d. Urchristent., 1884, S. 316—341. — A. Harnack, Marcion, Das Evg. vom fremden Gott, 1921; 2. Aufl. 1924; Neue Studien zu Marcion, 1923. — E. Walder, M. and the Roman Church, 1929. Marek, Siegfried, geb. 9. März 1889. Promotion 1911, Habilitation 1917, a. o. Prof. in Breslau 1924, o. ö. Prof. 1930 bis 1933. S c h r i f t e n : Die piaton. Ideenlehre in ihren Motiven, 1912. — Imperialismus u. Pazifismus als Weltanschauungen, 1918. — Kant u. Hegel, 1918. — Das Jhdt. der Aufklärung, 1922. — Substanz- u. Funktionsbegriff in der Rechtsphilos., 1924. — Die Dialektik in der Philos. der Gegenwart, 1929—31, 2 Bde. Marcus Aurelius Antoninus (Mark Aurel}, geb. 26. April 121 n. Chr. in Rom, gest. 17. März 180 n. Chr. in Vindobona. W a r 161 n. Chr. bis 180 n. Chr. römischer Kaiser. M. A. ist als Stoiker von Seneca und Epiktet beeinflußt. Seine

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Marcus, Ernst — Marcus Marci von Kronland

philosophische, das heißt bei ihm: ethische Überzeugung sprach er in den „Selbstbetrachtungen" aus. M. A. stellt den Nouc über die materielle Seele; der Mensch reicht hinein in die drei Sphären des 2|ia, der Vvyr und des Nouc. Den Nous bezeichnet M. A. auch mit dem altstoischen Begriff 'H^sixovixov (Führendes). Der Mensch in seinen einzelnen Teilen gilt ihm als die Auswirkung und Darstellung der Elemente des Kosmos; so wird also auch das Geistige im Menschen zu einer Darstellung der Gottheit: der Nous eines Menschen ist der Aaijxajv, der von Zeus jedem Einzelnen verliehen ist, um ihn zu führen. Unter Verwendung epiktetischer Denkelemente betont M. A., daß allein der Nous in unserer Gewalt steht, nicht aber Sorna und Psyche. Allen diesen Ansichten liegt die Überzeugung von der göttlichen Fürsorge für die Welt und von ihrer gerechten und weisen Ordnung zugrunde; der Gedanke einer Verwandtschaft alles Menschlichen in Gott beherrscht M. A.s ethisches Denken. Da er annimmt, daß der Nous der göttliche Führer des Menschen ist, so muß ein Verstoß gegen die von dem Daimon gegebenen Pflichtgebote zugleich auch einen Frevel gegen die Gottheit bedeuten; Unsittlichkeit ist Gottlosigkeit. Menschenliebe, Milde und Nachsicht gegenüber Verfehlungen gelten als sittliche Forderungen. Die Grundüberzeugung von der Verwandtschaft alles Menschlichen in Gott führt zu dem kosmopolitischen Ideal, dem Wunschbild einer Menschengemeinschaft, die vor einzelstaatlichen und Völkergrenzen nicht haltmacht. Der Tod ist die Befreiung der Seele aus ihrem körperlichen Gefängnis; ihre Unsterblichkeit als Einzelseele ist nicht unbegrenzt; denn es ist möglich, daß sie durch eine der periodisch eintretenden Weltverbrennungen oder infolge des dauernden Wechsels im Dasein in die göttliche Weltvernunft aufgenommen wird. Gegen die unbeschränkte Fortexistenz wendet M. A. ein, daß der Luftraum die Menge aller Seelen, die ja materiell sind, nicht zu fassen vermöchte, wenn sie unbeschränkt fortexistierten. Der heraklitische Gedanke des Flusses alles Bestehenden und seiner Unbeständigkeit begründet die Überzeugung M. A.s von der Wertlosigkeit der äußeren Dinge. S c h r i f t e n : In semet ipsum libri XII, recogn. Henr. Schenkl, 1913 (Bibl. Teubn.); übers, von A. v. Gleichen-Rußwurm, 1913; O. Kiefer, 2. Aufl. 1906; H. Stich, 1906; Heinr. Schmidt, 1909. L i t e r a t u r : H. Stich, M. A., Der Philosoph auf dem röm. Kaiserthron, 1904. — H. D. Sedgwick, M. A., A Biography, New-Haven 1921. — U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Kaiser Marcus, 1931.

Marcus, Ernst, geb. 3. Sept. 1856 in Kamen, gest. 30. Oktober 1928 in Essen (Ruhr). Vertritt die Kantische Lehre.

S c h r i f t e n : D. exakte Autdeckung d. Fundaments d. Sittlichkeit u. Religion u. d. Konstruktion d. Welt aus d. Elementen Kants, 1899. — Kants Revolutionsprinzip, 1902. — Das Erkenntnisproblem, 1905. — Logik, Einf. in Kants Kategorienlehre, 1906, 2. Aufl. 1911. — D. Elementarlehre zur allg. Logik u. d. Grundzüge der transzendentalen Logik, 1906; 2. Aufl. 1913. — H. Cohens Theorie d. Erfahrung, in: Altpreuß. Monatshefte, Bd. 47. — Gesetz der Vernunft u. d. ethischen Strömungen d. Gegenwart, 1907. — Kants Weltgebäude, 1917, 2. Aufl. 1920. — Theorie d. natürlichen Magie, 1924. — Aus d. Tiefen d. Erkennens, 1925. — Kritik d. Aufbaus (Syllogismus) d. speziellen Relativitätstheorie, 1926. — D. Zeit- u. Raumlehre Kants in Anwend. auf Mathematik u. Logik, 1927. L i t e r a t u r : S. Friedlaender, Der Philos. E. M. als Nachfolger Kants, 1930; Kant gegen Einstein, 1932.

Marcus Marci von Kroniand, geb. 1595 in Landskron (Böhmen), gest. um 1667 ebda. M. M. lehrte im Anschluß an Paracelsus und an Aristoteles, daß

Maréchal — Marheineke

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Ideae seminales, denen er schöpferische Kraft beilegte, in den Dingen wirken, und daß die Entwicklung der Natur eine dauernde Verwandlung ist, die auf den ideellen vorstellenden Kräften beruht.

S c h r i f t e n : De proportione motus, Prag 1639. — De proportione figurarum rectilinearum, Prag 1648. — Otho-sophia, hrsg. v. Dobrzensky, Prag 1680; dtsch. v. Emil Lehmann, Landskron 1928. — Thaumantias sive Liber de arcu coelesti, Prag 1648. — Labyrinthus in quo via ad circuli quadraturam . . . exhibetur, Prag 1654. — Philosophia yetus restituta, Prag 1662. — Liturgia mentis . . . , Ratisbonae 1678. L i t e r a t u r : Guhrauer, in: Fichtes Zeitschr. f. Philos., Bd. 21, S. 241—259, 1852.

Maréchal, Joseph, geb. 1. Juli 1878 in Charleroi, gest. 11. Dezember 1944 in Löwen. S. J., Prof. in Löwen seit 1904. — M. bemüht sich, die Erkenntnislehre Kants in den Thomismus einzuschmelzen. S c h r i f t e n : Le point de départ de la métaphysique, 5 Bde., 1923 S.; 2. A. 1927 fi. — Étude sur la psychologie des mystiques, 2 Bde., 1924—33. — Précis d'histoire de la philos, moderne, Löwen 1933.

Mares, Franz, geb. 20. Oktober 1857 in Opatovice (Böhmen), gest. 6. Februar 1942 ebda. 1895 bis 1928 Prof. der Physiologie in Prag. — M. kämpft vom Kantischen Kritizismus aus gegen den naturwissenschaftlichen Dogmatismus. Er steht unter dem Einfluß von Driesch.

S c h r i f t e n : Idealismus u. Realismus in der Naturwiss., 1901. — Prinzipien d. theoret. Erkenntnis u. d. sittl. Handelns nach Kant, 1902. — Der Ausgang des Streites üb. Idealismus und Realismus in der Naturwiss., 1903. — D. Naturalismus u. d. Willensfreiheit, 1904. — D. Leben als schöpfer. Kraft, 1914. — D. Lebenszweckmäßigkeit, 1917. — Die Wahrheit üb. d. Wirklichkeit, 1918. — D. Wahrheit im Gefühle, 1922. — D. philos., nat. u. soz. Fragen in der Politik, 1923. — Physiologische Psychologie, 1926. — Handbuch der Physiologie, 4 Bde., 190fr—20.

Margolius, Hans, geb. 12. September 1902 in Krotoschin (Posen). Promotion Hamburg 1928. — Alles Gute ist Hingabe an persönliche Werte, an ein persönlich als Wert geglaubtes Leben oder an eine persönliche als Wert geglaubte Idee. Es ist ausschließlich Sache der Gesinnung. Mit der Mannigfaltigkeit des Wertglaubens wandelt sich die Gestalt des Guten von Zeit zu Zeit, von Volk zu Volk, von Person zu Person. Alles Gute ist ein Ja-sagen zur Welt, ein Sich-zuHause-finden im Leben. Es ist ein gesteigertes Leben, nicht Aufhebung, sondern Vollendung der Natur. Der Gegensatz des Guten ist Indifferenz. Diese ist immer nur in einzelnen Handlungen gegeben. Ein Leben als Ganzes ist nicht zu denken ohne irgendwelchen Bezug auf persönliche Werte, ist also immer im Stande des Guten. Als Gesinnung der Hingabe ist Gut-sein nicht zu erzwingen und nicht zu gebieten. Es gibt keinen Imperativ des Guten. Aber es gibt ein Gebot, das Wachstum des Guten in uns und in anderen zu fördern. Dieses Gebot geht nicht auf Gesinnung, sondern auf rechte Handlungen. In diesem Sinne sind Achtung alles Lebens, Arbeit am Wohle aller und Bemühung um verstehendes Wissen als Wegbereiter des Guten gefordert.

S c h r i f t e n : Die Ethik Franz Brentanos, 1929. — Ethische Studien, 1932. — Vom Wesen d. Guten, 1934. — Grundlegung zur Ethik, 1936. — Ideal u. Leben, Philos. Gespräche, 1936.

Marheineke (bis 1823: Marheinecke), Philipp Konrad, geb. 1. Mai 1780 in Hildesheim, gest. 31. Mai 1846 in Berlin. Spekulativer Theologe. Von 1798 an Theologiestudent in Göttingen, 1804 Repetent, 1805 in Erlangen a. o, Prof., 1807 Prof. in Heidelberg, 1811 in Berlin, dort seit 1820 Prediger an der Dreifaltigkeitskirche.

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Marheineke

M. hat mit Daub zusammen als Begründer der spekulativen Theologie und als V e r t r e t e r d e r Hegeischen Rechten zu gelten. Anfangs neigte er der Philosophie Schellings in seiner theosophischen Periode zu. Die „Grundlehren der christlichen Dogmatik" 1819 legen Zeugnis davon ab. A b e r bald geriet er völlig in den Bann von Hegels System. In ihm sah er die Prinzipien aller Philosophie und die ganze Geschichte der Philosophie enthalten. Daß das Denken von Einseitigkeit befreit and daß es d e r logischen Notwendigkeit unterworfen wird, sind nach M. die Vorzüge des Hegelianismus. Im Sinne Hegels stellt M. der Theologie die Aufgabe, die Religion zu begreifen als Wissen des göttlichen Wesens von sich selbst. Alle Dogmatik hat daher auszugehen vom unmittelbaren Bewußtsein von Gott, wie es der göttliche Geist wirkt, oder von der Vernunft, die sich Gottes als ihres Urhebers — ihrer ursprünglichen Einheit mit der Idee — bewußt ist. Der w a h r e Gott ist in seinem absoluten Sein nicht verschieden vom absoluten Wissen. Gottes Dasein wird bewiesen aus der urprünglichen Einheit der menschlichen Vernunft mit d e m Gottesbewußtsein. Die Religion h a t sich in der Geschichte in drei Stufen dargestellt, 1. als Religion der Phantasie oder Meinung im Heidentum, 2. als Religion der Reflexion oder des Gedächtnisses im Judentum, 3. als offenbare Religion oder Religion des Geistes im Christentum. Als eine Dreiheit d e n k t sich auch Gott in uns: als das Wesen, das sin sich, aus sich, für sich besteht. Die Idee der Gottheit ist die Idee der Gottmenschheit. Im Gottmenschen wird die aufgehobene Ichheit als Absolutheit gesetzt, und die aufgehobene Absolutheit als Ichheit. Eine Gleichsetzung von Gottmensch und Menschheit, wie D. Fr. Strauß sie vornimmt, lehnt M. ab. Die christliche Religion unterscheidet sich von allen übrigen dadurch, daß sich in ihr der absolute Geist in einer Einheit mit dem menschlichen Geist offenbart. J e d e r einzelne Mensch trägt in sich alle W u n d e r k r ä f t e Christi; diese durchbrechen die Schranken von Raum und Zeit. Die Ethik des Christentums geht auf Offenbarung zurück. Das spekulative Denken lehrt uns erkennen, daß alle sittlichen Vorschriften des Christentums zugleich den Forderungen der Vernunft entsprechen oder das Vernünftige sind. Auch kirchliches Dogma und spekulativer Begriff decken sich nach der Ansicht M.s; darin unterscheidet er sich von D. Fr. Strauß, mit dem er den Ausgangspunkt: das Denken in der Idee, gemeinsam hat. F ü r das Verhältnis von Kirche und Staat hat M. den Satz geprägt: „Die Kirche ist die Wahrheit des Staats, der Staat die Wirklichkeit der Kirche." In seiner Beschäftigung mit der Theologie und mit ihrer Geschichte in den Einzelgebieten Dogmatik, Symbolik, Ethik läßt M. sich leiten von der Überzeugung: „Es ist die innerste Natur der positiven Wahrheit, daß sie, um zu sich selbst zu kommen, in der Wissenschaft sich durch alle ihre Negationen hindurchbewegt." M. bildete in seinem menschlichen und priesterlichen Gebaren den Gegenpol zu Schleiermacher, seinem Kollegen an der Dreifaltigkeitskirche. Das Urteil der Zeitgenossen über ihn und seine Leistung schwankt zwischen Bewunderung, Spott und Mißbilligung- Vor allem die Dunkelheit und Verworrenheit seiner Gedankenführung und die Unlebendigkeit seiner Begriffswelt finden scharfen Tadel. „Alles von oben herunter aus metaphysischer Höhe, nirgends der Stoff durchdrungen, ein klobiger, gestiefelter Formalismus, eine klappernde Begriffsmühle, bei der Einem Hören und Sehen vergeht" (Vischer); und eine Rüstung Hegelscher Kategorien, hinter der mehr trockenes Gebein als lebendiges Fleisch und Blut zu gewahren sind (Gerok), so spiegelt sich seine philosophisch-theologische Arbeit in den Köpfen seiner Hörer und Leser wider.

Mariano — Maritain

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S c h r i f t e n : Christi. Predigten z. Belebung d. Gefühls fürs Schöne u. Heilige, 1805. — Universalkirchenhistorie, 1806. — Christi. Symbolik, 3 Bde., Bd. 3: System d. Katholizismus in seiner symbol. Entw., 1810—13. — Institutiones symbolicae, 1812. — Üb. d. religiösen Wert d. deutschen Bibelübersetzung Luthers, 1815. — Gesch. d. deutschen Reformation, 2 Bde., 1816; 2. Aufl., 4 Bde., 1831—34. — Grundlehren d. christl. Dogmatik, 1. Aufl. (unter Schellings Einfluß) 1819; 2. Aufl. (unter Hegels Einfluß) 1827. — Lehrbuch d. christl. Glaubens u. Lebens, 1823. — Einl. in die öfientl. Vöries, üb. d. Bedeutung d. Hegeischen Philos, in der christl. Theologie, 1842. — Zur Kritik der Schellingschen Ofienbarungsphilos. 1843. — Theol. Vöries., 4 Bde.: 1. System d. theolog. Moral, 2. System d. christl. Dogmatik, 3. Christi. Symbolik, 4. Christi. Dogmengeschichte; hrsg. v. Matthies u. Vatke, 1847—49. — Mitarbeiter an Bruno Bauers „Zeitschr. f. spekulative Theologie", u. an den v. Daub u. Creuzer seit 1805 hrsg. „Studien". L i t e r a t u r : Weber, Alfred, Le système dogmatique de M., 1857. — Elise Ihle, Ph. K. M,, Der Einfl. d. Philos, auf sein theol. System, Diss., Leipzig 1938. M a r i a n o , Raffaele, geb. 5. September 1840 in Capua, gest. 1. Dezember 1912 in Florenz. Prof. in Neapel 1885. — Hegelianer. S c h r i f t e n : La pena di morte, Nap, 1864. — Il risorgimento ital., sec. i principii della filosofia della storia, Fir. 1866. — La philos, contemp. en Italie, Paris 1868. — Il problema relig. in Italia, Fir. 1872. — La libertà di coscienza, Mil. 1875, — L'individuo e lo Stato nel rapporto economico e sociale, 1876. — Cristianesimo, cattolicismo e civiltà, Boi. 1879. — Giordano Bruno, 1882. — Fra libri e cose di storia, arte, religione e filos. Studi e Saggi, Fir. 1904. — Uomini e idee: Saggi biografico-critici, Fir. 1905. — Dall'idealismo nuovo a quello di Hegel, Fir. 1908. — Scritti varii, 12 Bde., Florenz 1900—1911. M a r i á t e g u i , J o s é Carlos, 1891 bis 1930. Peruanischer Soziologe. S c h r i f t e n : La escena contemporánea, Lima 1925. — Siete ensayos de la realidad peruana, Lima 1928. L i t e r a t u r : Ulloa, Alberto, in: Nueva revista peruana, Bd. 2, 1930, S. 261—279. M a r i n o s aus Sichern in Samaria. Lebte im 5. Jahrh. n. Chr. Schüler des Neuplatonikers Proklos und sein Nachfolger in der Leitung der Akademie. — M . arbeitete vor allem als Mathematiker. In s e i n e n Platokommentaren schließt er sich der Erläuterungsart des Proklos an, ist aber nüchterner. Dagegen überwiegt in seiner Proklosbiographie das rhetorische Element und die Neigung zu unkritischer Verherrlichung. S c h r i f t e n : Vita Prodi, ed. I, F. Boissonade, 1814. L i t e r a t u r : J. L. Heiberg, Literargesch. Stud. üb. Euklid, 1882, 173. M a r i t a i n , Jacques, geb. 18. November 1882 in Paris. 1906 zum Katholizismus übergetreten. — M. stand ursprünglich dem Neovitalismus nahe, wurde dann als Katholik Vertreter des Thomismus an der Universität Paris. S e i n e philosophische Hauptwirkung geht von seiner Ästhetik aus. S c h r i f t e n : La Philos. Bergsonnienne, 1913; 2. A. 1930. — Art et scolastique, 1920; neu hrsg. 1927; dt, 1930. — St. Thomas, 1921. — Antimoderne, 1922; dt. 1930. — Réflexions sur l'intelligence, 1924; 2, A. 1930. — Éléments de philosophie, 2 Tie., 1923/26. — Trois réformateurs, 1925, neu hrsg. 1931. — Une opinion sur Maurras, 1926. — Réponse à Jean Cocteau, 1926; deutsch: D, Künstler u. d. Weise, 1927. — Primauté du spirituel, 1927, — Le Docteur Angélique, 1930. — Religion et culture, 1930; 2, A. 1932, — Descartes, 1931. — Mit Raissa Maritain: La vie d'oraison, 1925; deutsch 1928. — Science et sagesse, Paris 1936. — Les degrés du savoir, 1932. — Humanisme intégral, 1936; dt. 1938 unter dem Titel: Die Zuk. der Christenheit. — Quéstions de conscience, 1938. — Scholasticism and Politics, New York 1940. — De Bergson à Th. d'Aquin, 1944. — Principes d'une politique humaniste, 1945. L i t e r a t u r : Lefèvre, Frédéric, Une heure avec .. ., 2e série, . . . J. M. et Henri Massis, Paris 1924; in: Les documents bleus, Nr. 13.

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Marius — Martianus

Marius Victorinus, gest. um 363 n. Chr. Neuplatonischer Grammatiker und Rhetor. Um das Jahr 355 trat er zum Christentum über. — Zur Kategorienlehre erklärt M., daß unter den aristotelischen zehn Kategorien die Substanz die hauptsächliche und eigentliche sei; die übrigen neun ordnet er ihr als Akzidentien nach. Gott als Inhaber der Fülle des Seins und Nichtseins zeugt den Logos, den Demiurgen, dem vornehmlich Leben, Bewegung, Wille und Intelligenz eignen. Das Erkennen aber wendet sich zu Gott zurück und bekundet damit den heiligen Geist, den M. als die Copula Gottes bezeichnet. Wie in der neuplatonischen Emanationslehre überhaupt, so haben auch nach M. die Einzeldinge nicht am Wesen, sondern nur an der Wirksamkeit Gottes teil. M., von dem Augustinus in seiner Entwicklung mitbestimmt wurde, läßt in seinen Schriften Ansätze zu einer Prädestinationslehre erkennen. S c h r i f t e n : De definitionibus, ed. Thom. Stangl, in: Tulliana et Mario-Victoriniana 1888, 17—47; Cic. de invent. in: Halms Rhet. Lat. min., 1863, 153 ff. — Migne, Patrol. latina, Bd. 8, 1844. L i t e r a t u r : G. Geiger, C. M. V. Afer, Ein neuplat. Philos. I. II., 1887—89, Progr.; dazu: P. Wendland, in: Arch. f. Gesch. d. Philos., 7 (1894), 422 f.

Mark Aurel, s. Marcus Aurelius. Marsilius von Inghen, geb. um 1330 bei Nimwegen, gest. 20. August 1396 in Heidelberg. 1362 bis 1378 Mitglied der Artistenfakultät zu Paris. Schüler Buridans. Infolge des Schismas vertrieben, ging er in die Rheinpfalz, wurde von Ruprecht I. zum Rektor der neuen Universität Heidelberg ernannt, lehrte Philosophie und Theologie und wurde der erste Doktor der Universität. — Die Logik bearbeitete M. nach dem Vorgang Occams. Als Physiker vertrat er Buridans Impetustheorie, in der Geometrie die Lehren des Nicolaus von Oresme, dessen Theorie des Falles er übernahm. Seine Theologie ist abhängig von Thomas von Aquino.

S c h r i f t e n : Quaestiones in IV libros Sententiarum, Straßburg 1501. — Kommentare zu Arist., 1. Analytik, Venedig 1516; De generatione, 1518; Abbrevationes libri Physicorum, 1521. L i t e r a t u r : A. Jellinek, M. ab J., 1859 — Schrift.-Verz. b. G. Ritter, Studien z. Spätscholastik, I, Mars. v. I. u. die occamist. Schule in Deutschland, 1921, S. 185—195.

Marsilius von Padua. Lebte etwa von 1275 bis 1343. Politischer und religiöser Reformator. S c h r i f t e n : Defensor pacis, Basel 1522; neu hrsg. v. C. W . Pr6vit6-Orton, Cambridge 1928. — Auswahl v. Richard Scholz, 1914. — Tractatus de translatione imperii; Tractatus de iurisdictione imperatoris in causis matrimonialibus, in: Goldast, Melchior, Monarchia S. Romani Imperii, 3 Bde. 1611—14, Bd. 2, S. 147—153, 1383—91. — Defensor minor, hrsg. v. C. K. Brampton, Birmingham 1922. L i t e r a t u r : Stieglitz, Leopold, D. Staatstheorie d. M. v. P., 1914; in: Beitr. z. Kulturgesch. d. Mittelalt. u. d. Renaissance, Bd. 19. — Geissei, Bettina, D. kirchenpolit. Lehre d. M. v. P. Ein Beitrag z. Kenntnis s. Staatskirchentums, Diss., Köln 1926. — Battaglia, Feiice, M. d. P. e la filosofia politica del medio evo, Florenz 1928, in: Studi filosofici, N. S., Bd. IV. — W . Schneider-Windmüller, Staat u. Kirche im Defensor pacis des M. v. P., Bonn 1934. — J . Hashagen, M. von P. (1290—1342) im Lichte der neueren Forschung, in: Hist. Jb., Bd. 61 (1941), S. 274 ff.

Martianus Capella. Neuplatonisierender Gelehrter, der für die Pädagogik, vor allem für den Unterricht, Bedeutung erlangte. Verfaßte um 430 n. Chr. die Schrift De nuptiis Mercurii et Philologiae. Von M. C. stammt die ausführliche Einteilung des Wissensstoffes in die sieben Disziplinen der Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik, die als Trivium und Quadrivium für die Einrichtung und Durchführung des mittelalterlichen gelehrten Unterrichts maßgebend wurden.

Martin — Martineau

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S c h r i f t e n : Werke, rec. F. Eyßenhardt, 1866; ed. A. Dick, 1925 (Bibl. Teubn.). L i t e r a t u r : C. Prantl, Gesch. d. Logik I, 672—679, 1858.

Martin von Bracara (Braga), geb. um 515, gest. 580 in Braga, Bischof von Dumio, Metropolit von Bracara. — M. hat Bedeutung für die Erhaltung des platonischen und stoischen philosophischen Lehrgutes in Spanien. S c h r i f t e n : Werke bei Migne, Patrologia Latina, Bd. 72; Bd. 73, S. 1025—1062; Bd. 74, S. 381—394; Bd. 84 u. 130. — De correction? rusticorum, hrsg. v, C. P. Caspari, Kristiania 1883. L i t e r a t u r : R. Seeberg, M. v. B. in: Realencycl. f. prot. Theol. u. K., Bd. 12. 3. Aufl., 1903.

Martinak, Eduard, geb. 5. September 1859 in Warasdin (Kroat.). Priv.-Doz. in Graz 1895, a. o. Prof. ebda. 1904, o. Prof. der Philosophie und Pädagogik ebda. 1909; 1930 i. R. — Anhänger Meinongs und seiner Gegenstandstheorie; bemüht sich um Anwendung seiner Lehre von den Dispositionen auf die Pädagogik. S c h r i f t e n : Lockes Lehre v. d. Vorstellungen, 1887. — D. Logik Lockes, 1894. — Z. Begriffsbestimmung d. intellektuellen Gefühle, 1895. — Psychol. Unters, z. Bedeutungslehre, 1901. — Meinong als Mensch u. als Lehrer, 1925. — Wesen u. Aufgabe der Erziehtingswiss., 1928. — Psychol, u. päd. Abhandlungen, ges. u. hrsg. zum 70. Geb. v. E. Mally u. O. Tumlirz, Prag 1929. L i t e r a t u r : Beiträge z. Pädagogik u. Dispositionstheorie, Martinak-Festschr. 1919, hrsg. v. A. v. Meinong, mit Bibliographie.

Martineau, Harriet, geb. 12. Juni 1802 in Norwich, gest. 27. Juni 1876 in Ambleside (Westmoreland). Engl. Schriftstellerin. Positivistischer Standpunkt. S c h r i f t e n : Letters on the laws of man's nature and development, mit H. G. Atkinson, 1851. — The positive philosophy of Aug. Comte, 2 Bde., 1853. — Health, husbandry and handicraft, 1861. — Biogr. Sketches, 1869. — Autobiogr., 3 Bde., 1877. L i t e r a t u r : Mrs. Fenwick Miller, H. M., Lond. 1864. — Sir Leslie Stephen, Art. H. M. in: Diet, of Nat. Biogr., 1893. — Escher, Elisabeth, H. M.s sozialpolit. Novellen, Diss. Zürich 1925. — Bosanquet, Theodora, H. M., 1927.

Martineau, James, geb. 21. April 1805 in Norwich, gest. 11. Januar 1900 in London. Bruder der Harriet M. 1840 Prof. der Philosophie und Nationalökonomie im Manchester New College zu Manchester, später in London. 1869 bis 1884 Principal. — M. unterscheidet in seiner Erkenntnistheorie das Subjekt als das Hier und Jetzt von dem Objekt als dem Dort und Damals. Raum und Zeit sind als apriorische Formen des apperzipierenden Bewußtseins zugleich von transsubjektiver Bedeutung und die Bedingungen der Objektivität, damit auch des Denkens. Der Wahrnehmungsvorgang ist keine Synthese, sondern die Analyse eines gegebenen Ganzen. Der Glaube an eine wirkliche Welt, die der gedachten Welt entspricht, ist ursprünglich und daher berechtigt. — Die Analyse des Kausalbegriffs hat eine besondere Bedeutung in der Philosophie M.s; er unterscheidet zwei Faktoren am Kausalbegriff. Der erste ist ein Noumenon, ein ens rationis, das M. zuletzt in Analogie zum Wirken der menschlichen Persönlichkeit als Willen deutet, und der zweite stellt ein Phänomen dar. — Als Metaphysiker vertritt M. eine idealistische Moralphilosophie, gegründet auf Analyse des Einzelbewußtseins. S c h r i f t e n : The Rational of Religious Inquiry, 1836. — Lectures in the Liverpool Controversy, 1839. — Endeavours after Christian Life, Bd. I, 1843, Bd. II, 1847. — Miscellanies, 1852. — Studies of Christianity, 1858. — Essays, 2 Bde., 1868. — Religion as affected by Mod. Materialism, 1874. — Mod. Materialism; its Attitude towards Theology, 1876. — Ideal Substitutes for God Considered, 1879. — The Relations betw. Ethics and Religion, 1881. — Hours of Thought on Sacred Things, 2 Bde., 1876. — A Study of Spinoza, 1882. — Types of Ethical Theory, 2 Bde., Oxford 1885, 3. Aufl. 1889. — A Study of Religion, 2 Bde., Oxford 1888, 2. Aufl. 1889. — The Seat of Authority in

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Martinovics — Martius

Religion, London 1890, 5. Aufl 1905. — Essays, Reviews and Addresses, 4 Bde., 1890—91. — Faith the Beginning, Seifsurrender the Fulfilment, of the Spiritual Life, 1897. — National Duties and other Sermons, 1903. L i t e r a t u r : H. Herta, The Ethical System of J . M., New York 1895. — J . J . Wilkinson, J . M.s Ethik, Diss., Leipzig 1898. — Wilh. J a c k , Einige Hauptfragen in M.s Ethik, 1900. — A. W . Jackson, J . M., a Biography and a Study, Boston 1901. — W . Knight, Inter Amicos, Letters between J . M. and W . Knight, London 1901. — J . Drummond and Ch. B. Upton, The Life and Letters of J . M., London 2 Bde., 1902. — O. Price, J . M.s Religionsphilos., Diss., Leipzig 1902. — H. Sidgwick, Lectures on the Ethics of T. H. Green, H. Spencer and J . M., London 1902. — A. M. Fairbairn, J . M., Cont. Review, 1903. — J . Estlin Carpenter, J . M., Theologian and Teacher, 2. A., London 1905. — H. Jones, The Philos, of M„ London 1905. — Ch. B. Upton, M.s Philos., London 1905. — R. A. Armstrong, M.s Study of Religion, London 1906. — L. J , Walter, M. and the Humanists, in: Mind, N. S. XVII u. XVIII, 1908/09.

Martinovics, Ignaz Josef, geb. 20. Juli 1755 in Pest, gest. 20. Mai 1795 in Ofen. 1784 Dozent für Physik an der Universität Lemberg. — M. ist der erste Vertreter freiheitlicher Ideen des Westens in Ungarn. S c h r i f t e n : Catéchisme de l'hopime et du citoyen, 1794. — Oratio ad proceres et nobiles regni Hungariae, 1790, ung. Ausg. 1791. — Testament politique de l'empereur Joseph II., 2 Bde., 1791. — Oratio pro Leopoldo II., 1792. — Status regni Hungariae anno 1792. — Systema universae philosophiae, 1781. Literatur:

Fraknöi, Vilmos, M. élete, Budapest 1921, mit Bibliographie.

Martius, Goetz, geb. 7. März 1853 in Erxleben (Prov. Sachsen), gest. 27. Mai 1927 in Kiel. In Bonn Studium der klassischen Philologie bei Usener, der Philosophie bei Jürgen Bona Meyer, der Anatomie, Physiologie und Physik bei Pflüger, Clausius und Hertz. Promotion mit einer Dissertation zur Lehre vom Urteil, 1893 Habilitation mit einer Arbeit über die Induktionslehre des Aristoteles. Arbeit an Wundts Institut in Leipzig, Gründung eines psychologischen Laboratoriums in Bonn. 1895 a. o., 1898 o. Prof. der Philosophie in Kiel als Nachfolger Riehls. M.s früheste Arbeiten gelten der Iniduktionslehre. Er unterscheidet zwischen Denken im Sinne der Begriffsbildung und Denken im Sinne der Begriffsanwendung. Kants Kategorienlehre sieht er als Induktionslehre an, seine Kategorie der Kausalität als „Ausdruck für die induktionsbegründende Form des Denkens selbst". Denken ist urteilendes Denken; daher hat auch das Urteilen einen Doppelsinn. „Das Urteilen als Anwendung der Begriffe untersteht den formalen Denkgesetzen, das Urteilen im Sinne der Begriffsbildung drückt sich aus in den Methoden der einzelnen Wissenschaften und ist im letzten Sinne nichts als ein Auffassen von Tatsachen und Auffinden oder Herstellen von Relationen." Eine vollkommene Induktionslehre hat den „Werdeprozeß der Erkenntnis" zu beschreiben. Sie setzt Kenntnis der psychologischen Vorgänge beim Denken voraus. „Die Psychologie ist allgemein als Grundlage aller Geisteswissenschaften, auch der Philosophie, anzusehen." Ein philosophisches System ist erst dann möglich, wenn die Einzelgebiete der Philosophie, Logik, Ethik, Metaphysik und Psychologie in Einklang sind. M. ist überzeugt von der Unmöglichkeit der Psychophysik im Sinne Fechners und Wundts, weil er die Anwendung des Größenbegriffs und der Mathematik auf die Empfindungen für unerlaubt hält. „Die einfachen quantitativen Unterschiede der physikalischen Reize führen zu sehr verschiedenen physiologischen Wirkungen, von denen die Empfindungserlebnisse wieder in jeder Beziehung abweichen." Zwischen Empfindungen gibt es nur qualitative Unterschiede.

Marty

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Unsere Wahrnehmungswelt ist etwas Eigenartiges und Selbständiges und nicht zurückführbar auf die Begriffswelt. „Wahrgenommen werden ist gegeben werden; . . . wir analysieren diese gegebene Welt nach unseren logischen Kräften, wir gestalten sie für uns um, gelangen damit aber nicht über sie hinaus, selbst nicht in der Transzendenz, denn diese bleibt eine Transzendenz des Gegebenen. Es gibt nur ein gegebenes Sein in der doppelten Form des Empfundenen und Gedachten." Seine Untersuchung der Denkvorgänge lehrt M., den Aufmerksamkeits- und Beobachtungsvorgang als primär anzusehen. Er ist affektiver Art, Affekt mit physiologischer Unterlage. So ist der Zustand der geistigen Aktivität zugleich physiologischer Erregungszustand. Auf ihm beruht die Entwicklungsmöglichkeit des Individuums. ,,Aus den primären Erlebnissen der Wahrnehmung und der Affekte erbaut sich unsere geistige Welt, sowohl die des Willens wie die des Intellekts, und das vollentwickelte geistige Individuum ist mit seinen höchsten Leistungen zugleich die vollendete psychophysische Persönlichkeit." Zwischen Körper und Seele besteht ein Funktionsverhältnis. Ein solches liegt auch in der „Abhängigkeit der Formen der geistigen historischen Wirklichkeit von der geistigen Wesenheit der Einzelnen" vor. Der objektive Geist ist „die über sich selbst hinausweisende Darstellung der individuellen Geistesart." Die Beziehung des Einzelnen auf die Idee des Ganzen ermöglicht erst die Einheit des Systems. Aufgabe der Metaphysik ist es, die analytischen Grundbegriffe der gegebenen Erfahrungswelt aufzuzeigen und aus ihnen ein Gesamtbild zu gewinnen. Dies ist systematisch gedacht. Höchster Systembegriff ist dabei die Idee des absoluten Grundes für die Welt. M. setzt sie gleich mit der reinen Gottesidee. S c h r i f t e n : Z. Lehre v. Urteil, 1877. — Die Ziele u. Ergebnisse d. experiment. Psychol., 1888. — Kant, Akad. Rede, 1904. — Üb. d. Freiheit, Akad. Rede, 1906. — J . G. Fichte, Rede, 1909. — Leib u. Seele, Akad. Rede, 1910. — Psycholog. Aufsätze in: Psychol. Studien, Bd. 5 u. 6; Beiträge f. Psychol. u. Philos., H. 1—4; Bericht üb. d. 5. Kongreß f. experim. Psychol., 1912. — Selbstdarstellung in: D. Philos. d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 3, 1922, S. 99—120.

Marty, Anton, geb. 18. Oktober 1847 in Schwyz, gest. 1. Oktober 1914 in Prag. Besuch der Stiftsschule in Einsiedeln und des Seminars in Mainz. M. empfängt die niederen und die höheren Weihen. Studium in Würzburg bei Franz Brentano; Freundschaft mit diesem und mit Carl Stumpf. 1869 Prof. amSchwyzer Lyzeum. Wie Brentano entsagt M. dem katholischen Glauben, gibt sein Amt auf und verläßt seine Heimat. 1875 Promotion bei Lotze in Göttingen mit einer Arbeit über den Ursprung der Sprache. Ruf nach Czernowitz, 1880 nach Prag. 1913 Rücktritt von seinem Lehramt. M. geriet menschlich und sachlich in den Bann Franz Brentanos. Das enge wissenschaftliche Abhängigkeitsverhältnis lockerte sich erst gegen Ende seines Schaffens. Sein Sondergebiet ist die Philosophie der Sprache. Er ist erklärter Gegner der Theorien von Steinthal, Lazarus und besonders von Wilhelm Wundt. Den Begriff der Sprachphilosophie faßt M. sehr weit; er rechnet dazu „alle auf das Allgemeine und Gesetzmäßige gerichteten sprachlichen Untersuchungen und Fragen, bei denen die Hauptschwierigkeit und der vornehmste Anteil bei der Antwortfindung auf psychologischem Gebiete liegt und es also nach den Gesetzen praktischer Teilung der Arbeit geboten erscheint, daß sie vornehmlich der Psychologe in Angriff nimmt" (Oskar Kraus, A. M., S. 29). Die Sprache leitet M. her aus dem Drang nach Verständigung, aus dem Mitteilungsbedürfnis, das zur Bildung von Mitteln zur Bezeichnung führte. Diese Bildung erfolgt zwar ab-

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Marx

sichtlich, aber planlos. M. bestreitet, daß die Laute der Sprache unseren Gedanken und Gemütsbewegungen durch einen natürlichen Mechanismus als Zeichen zugeordnet sind. Die Wahl des Zeichens erfolgte so, daß es die gewünschte Bedeutung zu erwecken versprach, und zwar entweder wegen seiner Ähnlichkeit mit dem Bezeichneten, oder weil Zufall und Gewohnheit eine Assoziation zwischen Zeichen und Bezeichnetem hergestellt hatte. Als Band der Assoziation zwischen Laut und Bedeutung hat die innere Sprachform, das Etymon, zu dienen. Unter der von W. von Humboldt stammenden Bezeichnung „innere Sprachform" faßt M. alle die Besonderheiten eines Ausdrucksmittels zusammen, die nur innerlich erfahren werden können. Die empiristische These, die M. für den Ursprung der Sprache aufstellt, soll ihm auch die Entstehung von Staat, Recht, Wirtschaft, Geldwesen usw. erklären. Auch hier haben viele planlos dazu beigetragen, Abhilfe zu schaffen für ein augenblickliches Bedürfnis, ohne Rücksicht auf das Ganze der Aufgabe. Daß das Ganze des Staates, des Rechts usw. trotzdem zweckmäßig und einheitlich erscheint, soll Ergebnis eines natürlichen Kampfes ums Dasein und einer ständigen Auslese des Brauchbaren sein. Macht der Gewohnheit und Analogiebedürfnis binden an das einmal als tauglich Erprobte. In seinem Hauptwerk „Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie" verfolgt M. in einem genetischen Teil das Problem der Sprachentwicklung, besonders des Bedeutungswandels, und behandelt als die eigentlich philosophische Grammatik die deskriptive Semasiologie oder Bedeutungslehre. In der Einteilung der semantischen Sprachmittel hält M. an Brentanos Dreiteilung in Vorstellungen, Urteile, Gemütsbewegungen fest. Der Name ist ein Vorstellungssuggestiv, die Aussagen sind Urteilssuggestive; grundlegend verschieden von den Aussagen sind die interesseheischenden Äußerungen oder Emotive (Ausruf, Frage, Wunsch, Befehl). M. hat sich mit den Problemen von Raum und Zeit auseinandergesetzt. Das Reale bestimmt er als das Wirkungsfähige. Da der Raum nicht wirkungsfähig ist, ist er nicht real. Die objektive Zeit ist apriori gewiß. Die nachgelassene Schrift M.s „Über Raum und Zeit" enthält auch Untersuchungen zum Ursachenbegriff, zum Kausalgesetz, zur Axiomatik. S c h r i f t e n : Üb. d. Ursprung d. Sprache, 1875. — Was ist Philos.? 1897. — Unters, z. Grundlegung d. allg. Grammatik u. Sprachphilos., Bd. I, 1908. — Raum u. Zeit, 1916. — Gesamm. Schriften, hrsg. v. Josef Eisenmeier, Alfred Kastil, Oskar Kraus, 4 Teile in 2 Bdn., 1916—20. — Nachgelassene Schriften, hrsg. v. O. Funke, 1940 ff. L i t e r a t u r : Otto Broens, Darstellung u. Würdigung des sprachphilos. Gegensatzes zw. Paul, Wundt u. M.; Diss., Bonn 1913. — Oskar Kraus, A. M., 1916. — O. Funke, Innere Sprachform, Einf. in A. M.s Sprachphilos., 1924; Wege und Ziele, 1944.

Marx, Karl, geb. 5. Mai 1818 in Trier, gest. 14. März 1883 in London. Sohn des 1842 getauften Juden Heinrich Marx, der als Rechtsanwalt und später Justizrat in Trier lebte. Er widmete sich zunächst dem Studium der Rechtswissenschaft, dann dem der Geschichtswissenschaft und Philosophie. Promovierte 1841 zum Dr. phil. mit einer Dissertation über die Philosophie Epikurs. Er wollte sich 1842 in Bonn für Philosophie habilitieren, gab aber diesen Plan auf, als man seinem Freund Bruno Bauer, der in Bonn als Dozent für Theologie wirkte, die venia legendi entzog. Er wurde Redakteur der Rheinischen Zeitung in Köln, bis diese 1843 verboten wurde. M. verleugnete seine Liebe zur Philosophie auch als Journalist nicht. In einem Artikel aus dieser Zeit beißt es, bezeichnend für die Geisteisart von M.: „Weil jede Philosophie die geistige Quintessenz ihrer Zeit ist, so muß die Zeit kommen, wo die Philosophie nicht nur innerlich durch ihren

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Gehalt, sondern auch äußerlich durch ihre Erscheinung mit der wirklichen Welt ihrer Zeit in Berührung und Wechselwirkung t r i t t . . . ; auch die Philosophen wachsen nicht wie die Pilze aus der Erde, sie sind die Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste, kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren" (Nachlaß, I, 2. Aufl., Stuttgart 1913, 260). Im Herbst des gleichen Jahres ging M. zu Arnold Rüge nach Paris, gab mit ihm zusammen das einzige erschienene Heft der Deutsch-französischen Jahrbücher heraus und steuerte zwei eigene Arbeiten bei: die „Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" und den Aufsatz „Zur Judenfrage". Die philosophische Stimmung von M. in dieser Zeit und zugleich der innere Zusammenhang seiner Philosophie mit der Politik zeigen sich in den Sätzen: „die Emanzipation der Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann nicht verwirklicht werden ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne Verwirklichung der Philosophie" (Nachlaß I, 298). Im September 1844 lernte M. Friedrich Engels in Paris kennen, den er vorher flüchtig gesehen hatte, und es begann ein Zusammenwirken der beiden Männer, das erst mit dem Tode von M. endete. M. verfaßte in Paris eine philosophische Streitschrift gegen Bruno Bauer: „Die heilige Familie. Gegen Bruno Bauer und Konsorten", Frankfurt a. M. 1845, Auf Veranlassung der preußischen Regierung, die an seiner redaktionellen Mitarbeit an der Wochenschrift „Vorwärts" Anstoß nahm, wurde M. 1845 von Guizot aus Paris ausgewiesen. Er siedelte nach Brüssel über und veröffentlichte „Misère de la philosophie, réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon", Brüssel und Paris 1872. Im Januar 1848 arbeitete er mit Engels das „Manifest der kommunistischen Partei" aus, im Auftrage des „Bundes der Kommunisten", dem M. und Engels im Frühjahr 1847 beigetreten waren. Zur Zeit der Februarrevolution 1848 wurde M. verhaftet und aus Belgien ausgewiesen. Ein Angebot des französischen Ehrenbürgerrechts schlug er aus, kehrte aber nach Paris zurück, ging dann nach Köln, wo er die „Neue Rheinische Zeitung" herausgab, dann wieder nach Paris, nahm endlich für den Rest seines Lebens Aufenthalt in London und widmete sich journalistischer und geschichtswissenschaftlicher Arbeit. 1859 erschien von ihm „Zur Kritik der politischen Ökonomie", Berlin; 1860 „Herr Vogt", London; 1867 „Das Kapitel", Bd. I. Im J a h r e 1864 begann in der Mitwirkung an der Gründung J e r internationalen Arbeiterassoziation die im engeren Sinn politische Tätigkeit von M,, die sich nach 1872 auf persönliche Beratung beschränkte. Seine Philosophie faßt sich in dem nicht erschöpfenden Ausdruck des „historischen Materialismus" zusammen. Charakteristisch ist für sie die enge Gebundenheit an das Werk Hegels, innerhalb deren sich die eigene Position von Marx entwickelt. M. kehrt die erkenntnistheoretische Grundthese Hegels um, nach der alles Seiende in der Substanz Geist ist, und behält die Dialektik als metaphysisches Prinzip der Wandlung im Seienden bei. Nur projiziert er in die Zukunft hinaus, während Hegel mit Hilfe der dialektischen Methode ein in sich gerundetes Gesamtbild der Vergangenheit mit der Gegenwart als vorläufigem Endpunkt geben wollte. Endlich schließt er sich auch in der Entwicklung seiner Begriffe von bürgerlicher Gesellschaft und Produktion an Hegel unmittelbar und eng an, während seine ökonomischen Lehren u. a. von Ricardo ausgehen. Seine erkenntnistheoretische Grundthese, die freilich nicht durchweg beibehalten wird, formuliert M. in dem Satz: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr BePhilosophen-Lexikon

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wußtsein bestimmt" (Zur Kritik der politischen Ökonomie, 1859, LVf.). Ursprünglich gemeint ist sie im Hinblick auf das soziale Selbstbewußtsein, auf das Bewußtsein der eigenen sozialen Lage, das in der Tat von dieser sozialen Lage abhängt, im Gegensatz zum rein geistigen Bewußtsein etwa in Wissenschaft, Kunst und Religion, das Hegel vor allem zum Ausgangspunkt nahm. Diese Interpretation des Verhältnisses von Sein und Bewußtsein, zu der bereits Feuerbachs anthropologische Polemik gegen Hegel einen Anstoß bedeutete, wird ausgeweitet zu einer Theorie des Verhältnisses von Geist und „realer" Produktionswelt überhaupt und formuliert sich in folgenden Sätzen (a. a. O.), in denen M., nach seinen eigenen Worten, das „allgemeine Resultat" seiner Überlegungen und den „Leitfaden" seiner Studien fixiert: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte, gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt." Dieser als Realität primäre Produktionsprozeß ist in sich dialektisch. Hegel hatte in seiner Rechtsphilosophie (1821) gelehrt: „Der Geist hat seine Wirklichkeit nur dadurch, daß er sich in sich selbst entzweit, in den Naturbedürfnissen und in dem Zusammenhange dieser äußeren Notwendigkeit sich diese Schranke und Endlichkeit gibt, und eben damit, daß er sich in sie hineinbildet, sie überwindet und darin sein objektives Dasein gewinnt." M. läßt die Dialektik gleichsam vom anderen Ende her beginnen, im „objektiven Dasein", das nun nicht als Geist, sondern als Produktionsverhältnisse, die in sich für sich zur Schranke werden, und in der Überwindung dieser Schranke dialektisch ist: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um." Dies ist der Ursprung der „realen" Dialektik bei M., die unter der Einwirkung von Feuerbach durch Engels in einem Aufsatz vom 6. August 1859 in der Londoner deutschen Wochenschrift „Das Volk" den unangemessenen Namen „Materialismus" erhielt. Feuerbach hatte die für das Hegeische System grundbedingende Theologie aufzulösen begonnen und nur dem Menschen, wie Engels sagte, noch einen „theologischen Heiligenschein" gelassen. In dem Bedürfnis, auch diesen zu zerstören und auf eine möglichst untheologische Weise den Menschen, seine Geistigkeit und Geschichte zu verstehen, strich M. wie Engels aus Hegels Geschichtsphilosophie und ihrer Dialektik alle „Begriffsmystik", alle Hypostasierung eines substantiellen Bewußtseins, und behielt nur die ebenfalls Hegeischen Begriffe der „bürgerlichen Gesellschaft" und ihrer „materiellen Interessen" übrig. M. erklärt später ausdrücklich: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegeischen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle" (Nachwort zur 2. Aufl. des Kapitals, 1873). Das ist die extremste Formulierung der „materialistischen"

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Denkabsicht von M., der freilich die Durchführung nicht entspricht. Daß M. seine Methode als das „direkte Gegenteil" der Hegeischen bezeichnet, bedeutet eine viel stärkere Abhängigkeit von dieser, als sie in einer bloßen Verschiedenheit liegen würde. Nicht nur ihr Realitätscharakter, auch die Ebene, in der die Dialektik nach M. spielt, ist ebensosehr an Hegel orientiert, wie ihm bewußt entgegengesetzt. Für Hegel war die „bürgerliche Gesellschaft", als die er die industrielle Erwerbsgesellschaft des aufkommenden Liberalismus zeichnete, nur Mittelglied in der Dialektik, deren erste Stufe die Familie, deren Ziel der Staat ist (Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 188, 158, 257). Für M. ist sie die bleibende Ebene, in der sich die ganze Dialektik abspielt, und zugleich auch die erste Stufe des dialektischen Ganges. Hegel hatte gelehrt: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet, so ist sie innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen. — Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhanges der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer, — denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen, — auf der einen "Seite, wie auf der anderen Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Fähigkeiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt." Diese Stelle aus Hegel ist grundlegend für M. Während aber Hegel die in solcher Weise charakterisierte bürgerliche Gesellschaft auf dem Gang von der Familie zum Staat gleichsam nur mit einem Fuß berührt, springt M, mit beiden Füßen in sie hinein und nimmt in ihr Stand. Während sie für Hegel im Ganzen der Dialektik nur die Antithese zur Familie ist, ist sie für Marx die erste These und entfaltet aus sich selbst heraus eine eigene Antithese, um durch diese hindurch zu einer wiederum ihr selbst zugehörenden Synthese hinzudrängen- Diese immanente Dialektik in der so charakterisierten bürgerlichen Gesellschaft ist bereits im Ansatz bei Hegel formuliert, wie die angeführte Stelle zeigt, aber Hegel interessiert sich nicht für sie — er läßt diesen Faden fallen und springt im weiteren Gang seiner Gesamtdialektik über sie hinaus zum eigentlichen Ziel seiner Dialektik, zum Staat. M. vermeidet diesen Sprung. Er denkt die innerhalb der zweiten Stufe der Hegeischen Dialektik liegende Eigendialektik zu Ende. Die besondere Fassung, die er über Hegel hinaus ihr gibt, ist ebenfalls im Gedanken bei Hegel angelegt. Denn schon Hegel spricht von der Anhäufung der Reichtümer auf der einen, von der geistigen Verarmung der abhängigen Klasse auf der anderen Seite. M. ersetzt die Anhäufung der Reichtümer durch die „Akkumulation des Kapitals". Hegel spricht von der „Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse", Marx faßt diese unter dem Kampfbegriff des „Proletariats" zusammen, und er fügt dieser „anderen Seite" unter dem Einfluß der Bevölkerungslehren seiner Zeit (Malthus) die Bestimmung hinzu, daß sie sich ständig und stark vermehrt, während bei Hegel der Ausdruck der „fortschreitenden Bevölkerung" noch nicht diesen biologischen Unterton zu haben braucht. Damit hat man Ursprung und Entwicklung der Dialektik bei M. angedeutet. Innerhalb der Produktionsverhältnisse, als der eigentlichen Realität der bürgerlichen Gesellschaft, bildet sich als „Thesis" die „Akkumulation des Kapitals", als „Antithesis" die ebenfalls ständig wachsende Abhängigkeit der proletarischen Klasse mit schwindenden menschlich-geistigen Lebensmöglichkeiten.

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Während nach Hegel von der Familie der welthistorische Akzent dialektisch über die bürgerliche Gesellschaft hinweg auf den Staat übergeht, hat die Dialektik bei M a r x einen anderen Sinn, außer daß sie nur im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft als Struktur sich vollzieht: sie ist kein Gang über die Stufe der Antithesis hinaus, sondern eine Entladung und Umstülpung innerhalb dieser selbst. Denn es kann, sieht man genau zu, aus der geschilderten Spannung der Kräfte gegeneinander (Akkumulation des .Kapitals in der Hand weniger — ständige Vermehrung des Proletariats) kein Fortschreiten in ein Drittes, in eine Synthese hinaus geben, wie bei Hegel zum „Staat". Marx hat seine Dialektik von vornherein auf die eine Stufe der bürgerlichen Gesellschaft festgelegt! Die „Synthese", d. h. die Aufhebung des Gegeneinander von „Thesis" und „Antithesis" ist nur möglich auf der Ebene der „bürgerlichen Gesellschaft" selbst; ein „Höheres", zu dem die Dialektik in ihren von anderen Philosophen, wie Hegel, gedachten Formen hinführt, gibt es für M. nicht. Das heißt: die Dialektik ist bei M. in ihrem innersten Sinn gebrochen. So kann sie also nur dadurch „fortschreiten", daß die äußerste Spannung von Kapital gegen Proletariat sich zu einer „Epoche sozialer Revolution" ballt und sich darin entlädt, daß das Proletariat, nach M. die ausgebeutete und entmenschte Klasse, sich selbst jenes Kapital aneignet, das ihr bisher immer mehr entzogen wurde und fremd gegenüber steht. Eine Synthese im ursprünglichen Sinn der Dialektik ist dies nicht, und das Ergebnis dieses revolutionären Aktes als eines „Schrittes" der Dialektik ist keine Synthese auf neuer Stufe, wie, ebenfalls im traditionellen Sinne von Dialektik, zwischen Kapital und Proletariat selbst kein dialektisches Fortschreiten von Thesis zu Antithesis besteht, da vielmehr beide polar und korrelativ zueinander stehen. Das Ziel der somit unechten Dialektik von M. ist die „klassenlose Gesellschaft", in der der ursprüngliche Gegensatz von Kapital und Proletariat und daher das Prinzip der Klassenbildung selbst negiert ist. Der typische Sinn, den das „Aufgehobensein" der vorangehenden Stufen in der Synthese bei Hegel hat, und der darin besteht, daß die Eigenart der Thesis und Antithesis erhalten bleibt in der Synthese, fällt bei M. wesensnotwendig fort: der bewegende Gegensatz, der kein Fortschreiten, sondern nur ein Wachsen der Spannung bedeutet, ist in der „Synthese", der klassenlosen Gesellschaft zerstört und verneint, nicht auf höherer Stufe zur Versöhnung gebracht und vollendet. So sehr also M. in seiner erkenntnistheoretischen Grundthese, in seiner dialektischen Grundauffassung, in seinem Gesamtbild des dialektisch-historischen Verlaufes und seinen soziologischen Grundbegriffen an Hegel gebunden und orientiert ist, so total verändert er doch in seiner Realdialektik sowohl die Gesamtauffassung, wie den besonderen Sinn und die Gestalt der Hegeischen Philosophie. Der dargestellten Wandlung in Begriff und Wesen der Dialektik, die diese verengt und zur bloßen korrelativen Antithetik mit explosiv-revolutionärer Auflösung werden läßt, statt zu versöhnender Erfüllung in einem Höheren, also zu einer wahrhaften Synthese, fügen sich vier Einzelzüge ein, die Troeltsch (Historismus, 1922, S. 333) hervorgehoben hat: „Die dialektisch-realistische Kontemplation ist verkoppelt mit einem revolutionären Naturrecht. Die Dialektik ist entgeistet und naturalisiert. Die Dialektik ist ökonomisiert. Die dialektischen Gegensätze formallogischer Bestimmtheiten sind in reale Klassengegensätze verwandelt." Es war das Schicksal von M., daß gerade diese Einzelbestimmungen der Dialektik, aus- und umgebildet zum Kampfmittel politischer Ideologie, als „Marxismus" in die Geschichte eingegangen sind. Dahinter ist zurückgetreten der For-

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scher nnd Gelehrte M., und darüber ist vergessen worden, was im Hintergrund seines Denkens auch den in letzter Instanz so völlig falsch als Materialist bezeichneten M. bestimmt und mit dem Gedankengut der deutschen Philosophie, vor allem mit seinem Meister Hegel verbindet: das Pathos der Freiheit, in dessen Dienst erst M. im Einzelnen „materialistisch" und von „Produktionsverhältnissen" aus philosophierte. Hegel hatte die gesamte historische Vergangenheit als den Weg des Geistes zur Freiheit konstruiert. Das geschichtsphilosophische Gesamtbild, das M., nicht ohne einen Unterton jüdischer Eschatologie, in die Zukunft hinaus projiziert, will sein ein Bild von dem Weg des Menschen zur Freiheit, auch und gerade jenes Menschen, der in der für M. (im 19. Jhdt. in England!) nach Arbeits- und Lebensverhältnissen ausweglosen Lage des Proletariers stand. S c h r i f t e n : Deutsch-franz. J a h r b ü c h e r v, A. Rüge u. K, M., Paris 1844. — K. M. und Fr. Engels, D. heilige Familie. Gegen Bruno Bauer u. Konsorten, 1845. — Misère de la philosophie, réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon, Bruxelles et Paris 1847; deutsch: Stuttgart, 2. Aufl. 1892. — Das Kapital, Kritik d. polit. Ökonomie, 1. Buch 1867, 2. Buch 1885, 3. Buch 1893. (Nur Buch I von M. selbst veröffentlicht, Buch 2 u. 3 aus d. Nachlaß.) — Historisch-kritische Gesamtausgabe. Im A u f t r . d. Marx-Engels-Instituts Moskau, hrsg. v. D. Rjazanow, F r a n k f u r t 1927 f. L i t e r a t u r : Ernst Drahn, M.-Bibliographie, 1923; 2. Aufl. — G. Sorel, La décomposition du marxisme, 2. Aufl., Paris 1910. — Karl Vorländer, K. M., s. Leben u. s. W e r k , 1929; Kant u. M., e. Beitrag z. Philos, d. Sozialismus, 1911; M.. Engels u. Lassalle als Philosophen, 1926; 3. Aufl. — J o h a n n e s Plenge, M. u. Hegel, 1911. — K. M. als Denker, hrsg. v. D. Rjazanow, 1927. — Korsch, Karl, Marxismus u. Philos.; 2. Aufl. 1930. — Fischer, Hugo, K. M. u. s. Verhältnis z. Staat u. Wirtschaft, 1932. — Mehring, Franz, K. M., 1933; in: Mehring, Ges. Sehr., 12. — Heider, W e r n e r , D. Geschichtslehre von K. M., 1931, in: Forsch, z. Gesch.- u. Gesellschaftslehre, H. 3. — Hook, Sidney, Towards the understanding of K. M., New York 1933. — Hippler, Fritz, S t a a t u. Gesellschaft bei Mill, M., Lagarde, 1934. — Sens, W a l t e r , Die irreligiöse Entw. v. K. M., Theol. Diss., Halle 1934. — Lenin, K. M., dt. Moskau 1932. — Heinz Lunau, K. M. u. d. Wirklichkeit, Brüssel 1937. — K. M., Chronik s. Lebens in Einzeldaten. Zsgst. vom Marx-Engels-LeninInst., Moskau 1934. — Konrad Bekker, M a r x ' philosophische Entwicklung, s. Verh. zu Hegel, Zürich 1940. — Heinrich Cunow, D. M.sche Geschichts-, Gesellschafts- u. Staatstheorie, Berlin, 2 Bde., 1. Aufl. 1921, 4. Aufl. 1923. — J o . Ejduk, F e r d i n a n d Freiligrath u. K. M., Moskau 1936. — Ottokar Lorenz, K. M. u. d. Kapitalism., Hamburg 1937. — Helmut Schneider, D. oekon. Geschichtsauffassung u. d. „Kapital", Diss., München 1937. — Erwin Schuler, P a r e t o s Marx-Kritik, Diss., Tübingen 1935. — Wolf-Joachim Tiburtius, D. Kapitalismus-Kritik v. M. u. Keynes, Diss., Freiburg 1942. — F r a n k Zint, K. M. u. d. großen europ. Mächte, Frankf. 1937. — J . K. Turner, K. M., New York 1941.

Marx, Rudolf, geb. 16. November 1899 in Bernburg. S c h r i f t e n : Strauss u. Voltaire, 1934. — Hrsgb. v. J . J . Bachofen, M u t t e r r e c h t u. Urreligion, 1927; J . Burckhardt, Weltgesch. Betrachtungen, 1928; Griech, Kulturgesch., 3 Bde., 1929; Kulturgesch. Vorträge, 1929; C. G. Carus, Psyche, 1931; C. G. Carus, Goethe, 1931; D. F. Strauss, Voltaire, 1934; Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, 1936. — Übers, v. S. Kierkegaard, Religion d. Tat (m. E. Geisler), 1930; G. Le Bon, Psychologie de? foules, 1932.

Masaryk, Thomas Garrigue, geb. 7. März 1850 in Göding (Mähren), gest. 14. September 1937 in Schloß Lana bei Prag. 1879 Priv.-Doz. Univ. Wien, 1882. a. o. Prof. der Philosophie und Soziologie an der tschech. Universität Prag. 0 . Prof 1897, Präsident der tschechoslowakischen Republik 1918 bis 1935. — M. will den westlichen Positivismus mit der Glaubenswelt des Ostens vereinigen. Von seiner bewußt theistischen Grundhaltung aus bekämpft er die materialistische Geschichtsdeutung und setzt ihr einen sachlichen Realismus entgegen, der die Bedeutung des Geistigen stark betont.

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S c h r i f t e n : Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung, 1881; böhm. 1904. — Üb. d. Hypnot., 1881. — Die Wahrscheinlichkeitsrechn. u. d. Humesche Skepsis, 1883, deutsch 1884. — D. Humes Prinzipien der Moral; deutsch 1883. — Die Theorie d. Gesch. n. d. Grundsatz v. Th. Buckle, 1884. — Das Studium d. dicht. Werke, I, 1884; II, 1886. — Grundzüge einer konkreten Logik, 1885; deutsch 1887. — Philos, u. soziol. Grundlagen d. Marxismus, 1898; deutsch 1899. — Ideale d. Humanität, 1901; 2. Aufl. 1919. — Philos, d. Nationalität in der neuesten Zeit, 1905; 2. Aufl. 1919. — Im Kampfe um d. Religion, 1904. — Politik als Wissenschaft u. Kunst, in: Ceska Politica, I, 1906. — Rußland u. Europa, Studien üb. d. geistigen Strömungen in Rußland, 2 Bde.; deutsch 1913; böhm. Ausg., 3 Bde., 1919—21. — Soziolog. Skizzen, deutsch, 2 Bde., 1913. — Das Problem d. kleinen Völker in der europ. Krisis; deutsch 1922. — Das neue Europa, 1922. — Die Weltrevolution 1914—18, 1925; deutsch 1927. — W e r k e (tschechisch), Prag 1930 ff. L i t e r a t u r : A. Blâha, Les Théories philos, d. M., in: Revue intern, de Sociol., 18, 1913. — J. Pekaf, M. böhm. Philos., 1912. — Fr. Krejòi, Ö. Mysl, M.s Philos., 1910. — J a n Thon, T. G. M., 1925. — J . Herben, T. G. M. (tschech.), 2 Bde., 1926. — M., Staatsmann u. Denker, Prag 1930. — Festschr. z. 80. Geb., 2 Bde., hrsg. v. B. Jakowenko, Bonn 1930. — Boris Jakowenko, D. Bibliogr. über T. G. M., Bonn 1930. — K. Krofta, M. u. sein wissenschaftl. W e r k , 1930. — E. Utitz, T. G. M. als Volkserzieher, Prag 1935. — E. Benesch, M. Weg u. Vermächtnis, 1937. — Werner, Arthur, T. G. M., 1934. — Oskar Kraus, D. Grundzüge d. Welt- u. Lebensanschauung T. G. M.s, Prag 1937. — E. Rade, La philosophie de T. G. M., Prag 1938. — Gottfr. Zarnow, Masaryk-Benesch, Philosophen, Abenteurer, Staatsgründer, Dortmund 1939.

Masci, Filippo, 1844 bis 1923. Prof. der Philosophie in Neapel. Verbindet einen kritischen Realismus mit evolutionistischen Gedankengängen. S c h r i f t e n : La dialettica del limite nella logica di Hegel, Boi. 1869. — Le categorie del finito e dell'infinito di Hegel, ebda. — Una polemica su Kant, l'Estetica trascend. e le Antinomie, Nap. 1872. — Le forme dell'intuizione, 1881. — Coscienza, volontà, libertà; Studii di psicologia morale, Lanciano 1884. — Pessimismo, Pad. 1884. — La famiglia, Lanciano 1885. — Sulla natura logica delle conoscenze matematiche, Roma 1885. — Psicol. religiosa, L'animismo primitivo, Nap. 1886. — Un metafisico antievoluzionista. Gustavo Teichmüller, Nap. 1887. — Sul senso del tempo, Nap. 1890. — Sul concetto del movimento, 1892. — Le teorie sulla formacione naturale dell'istinto, Nap. 1893. — La psicologia del duello, Nap. 1898. — Dei principali indirizzi della filos. contemp., Nap. 1898. — Logica, Nap. 1899. — L'idealismo indeterminista, Nap. 1899. — Ï1 sogno, Nap. 1899. — Questioni logiche, Boi. 1900. — Il material, psicofis. e la dottrina del parali, in psicol., Nap. 1901. — Filos., scienza, storia della filos., Nap. 1902. — La libertà nel diritto e nella storia secondo Kant ed Hegel, Nap. 1903. — E. Kant, discorso, Nap. 1904. — Psicol., Nap. 1904. — Pensiero e conoscenza, Turin 1922. — Introd. generale alla psicologia, Opera postuma, hrsg. v. M. Maresca, Mailand 1926.

Maeterlinck, Maurice, geb. 29. August 1862 in Gent, gest. 6. Mai 1949 in Nizza. Belgischer Dichter, Vertreter des Symbolismus. S c h r i f t e n : Le trésor des humbles, 1896; deutsch 2. Aufl. 1902. — La sagesse et la destinée, 1898; deutsch: Weisheit u. Schicksal, 1899, 4. Aufl. 1902. — D. Leben der Bienen, 1901. — D. Intelligenz d. Blumen, 2. Aufl. 1907. — V. d. inneren Schönheit, Auszüge u. Essays, hersg. v. M. Kühn, 1909. — La mort, 1913. — Le grand secret, 1921. — La vie de l'espace, 1927. — La grande féerie, 1929. — La vie des fourmis, 1930; deutsch: Das Leben der Ameisen. — Vor dem großen Schweigen, 1935. — Deutsche Ges.Ausg. von F. v. Oppeln-Bronikowski, 9 Bde., 1924—29. L i t e r a t u r : Harry, Gerard, M. M., mit Bibliographie, Bruxelles 1909. — Hager, Wilh., Bergson als Neuromantiker, mit bes. Ber. v. M. M., Diss., München 1916. — Meyer-Benfey, Heinr., Das M.-Buch, 1923. — Depenheuer, Kurt, Nietzsche—M., Diss., Köln 1930. — Bailly, Auguste, M., mit Bibliogr., Paris 1931. — Harry, Gerard, La vie et l'oeuvre de M. M., Paris 1932. — Mikuika, Viktor, M. M. als psychischer Forscher u. Philos., 1933. — Françoise Dony Cartwright, M. M. u. Amerika, Berlin 1935. — M. Lecat, Le Maeterlinckisme, I. u. II. Bd., Brüssel 1939 ff.

Matthaeus — Mattiesen

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Matthaeus ab Aquasparta (Umbrien); lebte etwa 1237 bis 1302. Schüler Bonaventuras. M. war Anhänger des Franziskanerordens, 1287 Ordensgeneral, 1288 Kardinal, 1291 Kardinalbischof von Porto und Rufina. M.s wissenschaftliche Arbeit erstreckte sich auf die Kommentierung verschiedener Stellen der Heiligen Schrift sowie der Sentenzen des Petrus Lombardus, vor allem aber auf die Erkenntnislehre. Hier führte seine Anhängerschaft an Bonaventura zu einer Bekämpfung des Thomas von Aquino und des von ihm vertretenen Aristotelismus. Die Erkenntnis vollzieht sich in der Verbindung aposteriorischer und apriorischer Elemente. Sie ist ohne ständige und wesentliche Berührung mit der göttlichen Intelligenz ebensowenig möglich wie ohne Erfahrung durch die Sinnlichkeit, da in dieser erst die wesenhaft überempirische Erkenntnis entstehen kann. Die Wahrheit ist unmittelbar abhängig von der höchsten Wahrheit in Gott, und sie ist wirksam in den Rationes aeternae. Außer der Sinnlichkeit ist auf der Seite der aposteriorischen Komponente der Erkenntnis das Gedächtnis wirksam, es muß für das Zustandekommen der Abstraktion der Spezies an den Dingen notwendig in Funktion sein. Der Gegenstand des Erkennens ist seiner Qualität nach das relative Nichts; ferner die Quidditas der Dinge, die in den Begriffen (Conceptus) erkannt wird. Die Begriffe aber werden an den Spezies durch die Formung der Rationes aeternae gewonnen. Damit ist die höchste Stufe der Erkenntnis, das wahrhaft Notwendige, das wahrhaft Unveränderliche oder das wahrhaft Ewige erreicht. In diesem ist die eigentliche und erste Wahrheit. Wie in der Lehre von den Rationes aeternae, so bekämpft M. die Ansicht des Thomas von Aquino auch in seiner Theorie der Erkenntnis des Einzelnen. Ließ Thomas das Individuum durch eine gewisse Reflexion (per quandam reflexionem) erkannt werden, so behauptet M. demgegenüber die Erkenntnis des Singularen durch besondere Spezies, per species singulares, wie die Universalien per species universales erkannt werden. Als weiterer Differenzpunkt erscheint die Theorie des Selbstbewußtseins bei beiden Denkern. Thomas hatte die Erkenntnis des Selbst durch einen Schlußprozeß gelehrt; im Gegensatz dazu behauptet M. mit Augustin den intuitiven und objektiven Charakter der Erkenntnis der Seele aus ihrer Wesenheit und in der Form der von ihr seihst erzeugten Spezies der Erkenntnis. Endlich unterscheiden sich beide in der Frage der Gottesbeweise. Während Thomas den ontologischen Gottesbeweis des Anselm von Canterbury ablehnt und den kosmologischen Beweis für überzeugend hält, vertritt Bonaventura und nach seinem Vorgange M. allein den ontologischen: „Quando autem intellectus apprehendit significatum huius nominis Deus, quod est quo maius cogitari non potest, nullo modo contingit dubitare nec cogitare non esse. Et rationes hoc probantes concedendae sunt." S c h r i f t e n : Ausgabe von 5 der Quaestiones disputatae des M.; in: De humanae cognitionis ratione Anecdota quaedam Seraphici Doctoris Sancti Bonaventurae, 1882. — Quaestiones disputatae selectae t. I, Quaestiones de fide et cognitione, in: Bibl. Francisc. Scholast. medii aevi, Bd. I, 1903; t. II. Quaestiones de Christo, 1914. L i t e r a t u r : M. Grabmann, D. philos. u. theol. Erkenntnislehre d. M. ab A., 1906.

Mattiesen, Emil, geb. 24. Januar 1875 in Dorpat. Promotion Dr. phil.; 1929 Lektor für Kirchenmusik an der Universität Rostock. — M. sucht die Unzulänglichkeit der üblichen naturalistisch-psychologischen, auch psychopathologischen Deutungen des religiösen und mystischen Lebens zu erweisen und über eine Theorie der metaphysischen oder okkulten Tatsachen zu einem vertieften Verständnis des Lebens vorzudringen.

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Maudsley — Maupertuis

S c h r i f t e n : Üb. philos. Kritik bei Berkeley u. Locke, 1897. — Der jenseitige Mensch, Einf. in die Metapsychologie der myst. Erfahrung, 1925. — Das persönliche Überleben des Todes, 3 Bde., Berlin 1936—1939.

Maudsley, Henry, 1835 bis 1918. 1857 Dr. med. an der Universität London. 1869 bis 1879 Prof. der Rechte. — Der englische Psychologe M. erforschte vor allem das Problem der Verantwortung vom psychologischen und soziologischen Gesichtspunkt aus. S c h r i f t e n : Physiology and Pathology of Mind, London 1867; Neuaufl. als: Physiology of Mind, London 1876; Pathology of Mind, London 1895. — Responsibility in Mental Disease, London 1874; 5. Aufl. 1892. — Body and Mind, London 1870; Neuaufl. 1873. — Natural Causes and Supernatural Seemings, London 1886, 3. Aufl. 1897. — Life in Mind and Conduct, London, 1902. — Heredity, Variation and Genius, London 1908. L i t e r a t u r : G. H. Savage u. a., H. M., in: Journal of Mental Science, Bd. 64, 1918; S. 118—129.

Mauerhoier, Hugo, geb. 24. März 1904 in Bern. Dr. phil., Psychologe. S c h r i f t e n : D. Introversion. Mit spez. Berücksichtigung d. Dichters Hermann Hesse, 1929. — D. schizoid-dämonische Charakter. E. persönlichkeitspsycholog. Untersuchung z. Charakterologie u. Problematik d. modernen Menschen, 1930. — Individualität als Schuld. E. Beitrag zur Psychol. der Vereinsamung, in: Psychol. Rundschau, 5. — Charakterol. Grundrichtungen, Syntonie u. Idiotonie, ebda. I, 9. — Oxfordbewegung u. Psychoanalyse, Bern 1939.

Maupertuis, Pierre Louis Moreau de, geb. 28. September 1698 in Saint-Malo, gest. 27. Juli 1759 in Basel. Mathematiker, Physiker, Geograph und Philosoph; 1723 Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1736 Leiter einer Expedition zur genauen Gradmessung in Lappland, die die Behauptung Newtons von der Abplattung d e r E r d e an den Polen bestätigte. 1746 von Friedrich d. Großen zum Präsidenten der Preußischen Akademie ernannt. — M. w a r Anhänger der Physik Newtons und verteidigte sein Prinzip d e r , A t t r a k t i o n gegen die Wirbeltheorie des Descartes. Er nimmt an, daß bei Veränderungen in der Natur stets nur die kleinstmögliche Kraftmenge aufgewendet wird, und formuliert dieses Prinzip in seiner Loi de la moindre quantité d'action. Der Streit um die Priorität dieses Gesetzes, den der Leibnizianer S. König zugunsten von Leibniz erregte, verleidete M. den Aufenthalt in Berlin; er übersiedelte 1758 nach Basel. In der Erkenntnistheorie schließt sich M. an Hume an und überträgt dessen Lehre auf die Mathematik. Auch die mathematischen und mechanischen Begriffe gehen auf Sensationen zurück. Die mathematischen Begriffe zeichnen sich dadurch aus, daß ihnen gleichartige und leicht wiederholbare Sinnesempfindungen zugrunde liegen. Der Begriff der Kraft entspringt aus d e r Empfindung, die bei der Überwindung eines Widerstandes auftritt, und nur die Gewohnheit bewirkt, daß wir die regelmäßige Aufeinanderfolge von natürlichen Erscheinungen auf ein notwendig geltendes Prinzip zurückführen. Nur eine Lehre von den Maßbestimmungen kann Anspruch darauf erheben, eine strenge Wissenschaft zu sein, daher bedeuten selbst die primären Qualitäten der sinnlichen Empfindung für die Erkenntnis einer gegenständlichen Welt nicht mehr als die sekundären. Auch sie sind nur Phänomene. — Religionsphilosophisch entschied M. sich für den Deismus. S c h r i f t e n : Essai de philosophie morale, 1749; deutsch: Versuch d. moralischen Weltweisheit, 1750. — Essai de cosmologie, 1750; deutsch 1751. — Oeuvres, 4 Bde., 1752 ff., Lyon 1756, 1768, Dresden 1782. L i t e r a t u r : H. Helmholtz, Z. Gesch. d. Prinzips d. kleinsten Aktion, Sitz.Ber. d. Berl. Akad., 1887. — B. Erdmann, in: Arch. f. d. Gesch. d. Philos. IV (1889), 326 ff. — Du Bois-Reymond, M., Sitz.-Ber. d. Berl. Akad., 1892. — Le Sueur, M. et ses correspondants,

Maurras — Mauthner

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1897. — W. Kabitz, Üb. eine im Gotha aufgef. Abschr. des v. König in s. Streit mit M. u. der Akad. veröff., seinerzeit f. unecht erkl. Leibnizbr., Sitz.-Ber. d. Berl. Akad., 1913. — F. Prunier, Newton, Maupertuis, Paris 1929. — Brunet, M., Paris 1930. Maurras, C h a r l e s M a r i e Photius, geb. 20. A p r i l 1868 in M a r t i g u e s (Bouchesd u - R h ô n e ) . F r a n z ö s i s c h e r S c h r i f t s t e l l e r u n d Politiker. B e g r ü n d e r d e r nationalistischen A c t i o n française. Der N a t i o n a l i s m u s u n d T r a d i t i o n a l i s m u s des M . r u h e n auf den positivistischen L e h r e n C o m t e s ; er n e n n t sich: „ T r a d i t i o n a l i s t d u r c h Positivisa mus. S c h r i f t e n : L'avenir de l'intelligence, 1905. — Enquête sur la monarchie, 1909. — La politique religieuse, 1921. — Le Romantisme féminin, 1905. — Athènes antiques, 1918. L i t e r a t u r : L. Laberthonnière, Positivisme et Catholicisme, Paris 1911. — A. Thibaudet, Les idées de Ch. M., 1920. — Maritain, Jacques, Une opinion sur M., 1926. — L'oeuvre de Ch. M., Essai de bibliogr., 1930. — Gurian, Waldemar, D, integrale Nationalismus in Frankreich. Ch. M., Frankfurt a. M. 1931. — J. Benrubi, Les sources et les courants de la philos, contemp. en France, 1933, p. 280 f. — Hans Naumann, Ch. M. und d. Weltansch. der Action française (mit e. Bibliogr.), Leipzig 1935. Mausbach, J o s e p h , geb. 7. F e b r u a r 1861 in W i p p e r f e l d (Rheinland), gest. 31. J a n u a r 1931 in A h r w e i l e r . Seit 1892 P r o f . in M ü n s t e r (Westf.). — K a t h o lischer Theologe, M o r a l p h i l o s o p h u n d K u l t u r p o l i t i k e r . S c h r i f t e n : Kathol. Moral, 1901; 5. Aufl. 1921: D. kath. Moral u. ihre Gegner.— Ethik d. hl. Augustinus, 2 Bde., 1909; 2. Aufl. 1929. — Grundlage u. Ausbildung d. Charakters nach d. hl. Thomas v. Aquin, 1911; 3. Aufl. 1920. — Religion, Christentum, Kirche, m. Esser, 3 Bde., 1911—13. — Kath. Moraltheologie, 3 Bde., 1915—18; 4. Aufl. 1921—23. — Naturrecht u. Völkerrecht, 1918. — Kulturfragen in der deutschen Verfassung, 1920. — F. Hitze, 1921. — Thomas v. Aquin als Meister christl. Sittenlehre, 1925. — Dasein u. Wesen Gottes, 2 Bde., 1929—30. — Selbstbiogr. in: Religionswiss. d. Gegenwart in Selbstdarst., Bd. III, 1927. L i t e r a t u r : Aus Ethik u. Leben. Festschrift, hrsg. v. M. Meinertz u. A. Donders, 1931. — G. Schreiber, J. M., 1931; mit Bibliogr. Mauss, M a r c e l , geb. 10. M a i 1872 in Epinal. A g r é g é d e philos. 1895. S t u d i e n r e i s e n in Holland, England, D e u t s c h l a n d . D o z e n t a n der École d e s H a u t e s - É t u d e s 1900. P r o f . am ethnologischen Institut der Universität P a r i s . H e r a u s g e b e r der A n n é e sociologique, 2e série. — Schüler von D ü r k h e i m . S c h r i f t e n : In L'Année sociologique: Essai sur la nature et la fonction du sacrifice (zus. mit H. Hubert), II, 1903. — De quelques formes primitives de classification (zus. mit Dürkheim), II, 1903. — Esquisse d'une théorie générale de la magie, III, 1904 (zus. mit Hubert). — Essai sur les variations saisonnières des sociétés eskimos. Étude de morphologie sociale, IX (zus. mit Beuchat). — Essai sur le don, forme archaïque de l'échange, Ann. sociol., N. F., I, 1923—24. — Divisions et proportions des divisions de la sociologie, II, 1924—25. — Sociologie, in: Grande Encyclopédie (zus. mit Fauconnet). — L'Origine des pouvoirs magiques dans les sociétés australiennes, Paris 1904. — Mélanges d'histoire des religions (zus. mit H. Hubert), 1909, 2. A. 1929. L i t e r a t u r : J. Benrubi, Les sources et les courants de la philos, contemp., Paris 1933, S. 180 ff. M a u t h n e r , F r i t z , geb. 22. November 1849 in H ö r i t z (Böhmen), gest. 29. J u n i 1923 in M e e r s b u r g am B o d e n s e e . S t u d i u m des R e c h t s und d e r P h i l o s o p h i e in P r a g 1869 bis 1873 bei d e m G ü n t h e r i a n e r J . H. L ö w e u n d d e m H e r b a r t i a n e r Volkmann. Schriftsteller und Kritiker. Die f r ü h g e w o n n e n e Überzeugung, „ d a ß die S p r a c h e ein H a n d w e r k s z e u g ist, mit d e m wir an nichts W i r k l i c h e s h e r a n k o m m e n k ö n n e n , w e d e r a n die N a t u r n o c h an u n s e r e eigenen E m p f i n d u n g e n " , t r e i b t M . zu einer K r i t i k d e r S p r a c h e , die auf a u s g e d e h n t e n philosophiegeschichtlichen u n d philologischen K e n n t n i s s e n

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Mauthner

ruht. Durch vier Männer fühlt M. sich in der Entwicklung seines nominalistischen Standpunktes gefördert, vom „Wortaberglauben" befreit, „vom metaphysischen Wortaberglauben durch Mach, vom wortabergläubischen Historismus durch Nietzsche, von dem Wortaberglauben an die »schöne Sprache« des Dichters durch Otto Ludwig, vom politischen und juristischen Wortaberglauben durch den Fürsten Bismarck". In seiner Skepsis weiß er sich mit Hume verwandt, in der Betonung des Tatwillens mit Schopenhauer. Mit seiner Leugnung des Erkenntniswerts der Sprache stellt er sich in die Reihe der Nominalisten des Mittelalters und der englischen Philosophen von Bacon bis Hume. Die Philosophie gilt M. als „kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache", und „alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache". Denn es besteht ein Parallelismus zwischen Denken und Sprechen. „Eins und das andere eine Ordnung von Bewegungen oder Handlungen, von zwei verschiedenen Standpunkten aus gesehen"; wirklich sind beide immer nur in einzelnen Akten. „Sprache und Vernunft sind zwischen den Menschen, sind soziale Erscheinungen, sind eine und dieselbe soziale Erscheinung als wie die Sitte. Vielleicht auch nur: als wie eine Spielregel". In den Begriffen unserer Sprache ist nichts, was nicht zuvor in den Sinnen war. Die Sinne aber sind veränderlich, sind etwas Gewordenes, sind „Zufallssinne"; folglich ist auch das, was die Sprache von ihnen aufnimmt und widerspiegelt, der Veränderung unterworfen, subjektiv, ,,hominis tisch". „Die menschliche Sprache, von den Zufallssinnen abhängig, kann zur Natur, die sie zu erforschen vorgibt, überhaupt niemals einen andern Standpunkt gewinnen als den beschränkt hoministischen. Wir können mit Hilfe der Sprache immer nur erfahren, was die sogenannten Dinge für den Menschen sind"; was sie an sich sein mögen, können wir sprachlich nicht erfassen. Auch die Regeln für die Verknüpfung der Dinge, wie Grammatik und Logik sie aufstellen, sind spielerisch. Den Redeteilen entsprechen keine Wirklichkeiten. „Und in der Logik steckt der Schluß bereits hinter der Prämisse, das Urteil hinter dem Begriff." Diese nominalistische Grundüberzeugung M.s nimmt den abstrakten Begriffen innerhalb der Wissenschaften gleichfalls allen Wirklichkeitswert. Die naturwissenschaftlichen „Gesetze" entspringen menschlicher Ordnungsliebe, die Begriffe umwandelt und verfestigt, und nicht einer Ordnung in der Natur. Der Begriff des „Zweckes" in der Natur ist ein Analogon zur menschlichen Absicht, wie schon Spinoza lehrte. Die Täuschung, die hier entsteht: daß vergangene Vorstellungen zu Zukunftszielen werden, verdanken wir dem Gedächtnis. Es bewirkt, daß wir die sprachlichen Bezeichnungen für ein Abbild des Wirklichen halten. Es ist „als Gedächtnis des Volkes die Gemeinsprache", als individuelles Gedächtnis wirkt es „sprachähnlich" bis in Tier- und Pflanzenwelt hinein. Als Hypostasierung, als Vergottung eines abstrakten Worts, als „Wortfetisch" sieht M. auch die „Wahrheit" an. Die Mängel, die Widersprüche der Sprache fallen nicht dem Weltganzen zur Last, eben weil wir in der Sprache Welt und Natur nicht erfassen. „Die Natur, wie sie nur einmal da ist, ist auch einheitlich. Diese Einheit können wir nicht entdecken, wenn wir denken oder sprechen, diese Einheit können wir fühlen, wenn wir leben, ungetrennt von der Natur, wie Kinder im Mutterleibe der Natur." Diesen Standpunkt bezeichnet M. selbst als erkenntniskritische, sprachkritische Mystik. In seinem Kampf gegen Scheinbegriffe stößt M. sogleich auf die Beweise für das Dasein Gottes. J a er nimmt an, daß der Gottesbegriff seine sprachliche Skepsis überhaupt erst weckte. Auch er steht für M. im Rang eines Wortfetischs, dessen Wandlungen seine „Geschichte des Atheismus" verfolgt. Die Religions-

Mauxion — Máximos von Tyros

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kritik M.s läuft in Mystik aus, aber in einer „¿ottlosen Mystik". Am Gottesbegriff verdeutlicht M. seine Annahme von „drei Bildern der Einen Welt", für die er eine Parallele in Laurentius Vallas drei Kategorien: substantia, qualitas, actio entdeckt. Es sind 1. die substantivische Welt, dem metaphysischen Bedürfnis des Menschen entspringend. Alles Erscheinende wird hier Symbol einer unbekannten Wirklichkeit, und Götter und Geister sind Mythen. Erster philosophischer Bearbeiter dieses Bildes der Welt ist Plato mit seiner Ideenlehre. „Die substantivische Welt ist die unwirkliche Welt des Raums, die Welt des Seins, bei welcher wir von dem Werden in der Zeit willkürlich absehen." 2. Das adjektivische Bild der Welt wird eingefangen von der sensualistischen Weltanschauung; es ist „die Welt der menschlichen Gemeinsprachen, die Welt des naiven Materialismus". Adjektivischer Art sind alle Sinneseindrücke und Sinneswirkungen, alle seelischen Empfindungen und ursprünglichen Werturteile. „Nur daß das Adjektiv, in der Geschichte der Vernunft der älteste Redeteil, in der Geschichte der Grammatik einer der jüngsten ist." Die Täuschungen der adjektivischen Welt, die die Symbole von Sinneswirkungen als Dinge, als Gegenstände erscheinen lassen, werden durch den substantivischen, mystischen Instinkt oder Idealismus in die Täuschungen der Kunst umgewandelt. 3. Die verbale Welt ist die Welt unserer wissenschaftlichen Erklärungen, der Naturerkenntnis. „Da gibt es kein Sein, da gibt es nur ein Werden." Unid begreifen können wir die Welt überhaupt nur im Geschehen. Heraklit und die Renaissance waren dieser Einsicht auf der Spur. Nur eine Vereinigung der drei Gesichtspunkte, eine Deckung der drei Bildersprachen würde Erkenntnis ergeben; „was wir ausdenken, aber nicht ausführen können." Denn „für das Bild der Welt, das eine ähnliche, ist unser Gesicht, ist unsere Sprache nicht geeignet." S c h r i f t e n : Beiträge zu e. Kritik d. Sprache, 3 Bde., 1901—03; 3. Aufl. 1923. — Aristoteles, 1904. — Wörterbuch d. Philos., 2 Bde., 1910; 2. Aufl., 3 Bde., 1923—24. — Spinoza, e. Monographie, 1921. — D. Atheismus u. s. Gesch. im Abendlande, 4 Bde., 1920—23. — D. drei Bilder d. Welt, e. sprachkrit. Versuch, aus d, Nachlaß hrsg. v. Monty Jacobs, 1925. — Ausgew. Schriften, 6 Bde., 1919. L i t e r a t u r : Landauer, Gustav, Skepsis u. Mystik, aus Anlaß v. M.s Sprachkritik, 1903. — Kühtmann, Alfred, Z. Gesch. d. Terminismus, 1911. — Krieg, Max, F. M.s Kritik d. Sprache, e. Revolution d. Philos., 1914. — Kappstein, Theodor, F. M., Der Mann u. s. Werk, 1926. — Eisen, Walter, F. M.s Kritik der Sprache, Wien 1929.

Mauxion, Marcellus, geb. 1855. Französischer Pädagoge und Philosoph. Prof. an der Universität in Poitiers. S c h r i f t e n : La métaphysique de Herbart et la critique de Kant, Paris 1894. — L'éducation par l'instruction et les théories pédagogiques de Herbart, Paris 1901. L i t e r a t u r : H. Schoen, D. Wesen d. Sittlichkeit u. d. Entw. des sittl. Ideals bei d. versch. Völkern nach M. Mauxion, 1909; in: Pädag. Magazin, H. 380.

Máximos von Alexandreia, lebte in der 2. Hälfte des 4. Jahrh. n. Chr., um 380 Bischof von Konstantinopei. Christlicher Kyniker. L i t e r a t u r : Joh. Dräseke, M. philosophus? in: Zeitschr. f. wiss. Theol., Bd. 36, 1893, S. 290—315. — loa. Sajdak, Quaest. Nazianzenicae, I, Eos 15 (1909), 18-^18.

Máximos von Tyros. Um 180 n. Chr. — Die Grundlage seiner popularphilosophischen Darstellungen entnimmt M. v. T. der Platonik, die er in der akademischen Form kennengelernt hatte. Unter diesem Einfluß trennt er die Gottheit gänzlich von der Welt und nimmt zwischen der Gottheit und den Menschen Dämonen als vermittelnde Wesen an. Das Böse entstammt allein dem Stofflichen. Die Moralansichten des M. v. T. sind vom Kynismus beeinflußt.

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Maximus — Mayrhofer

S c h r i f t e n : Philosophumena, ed. H. Hobein, 1910. L i t e r a t u r : H. Hobein, De M. T., 1895, Diss., Göttingen. — K. Meiser, Stud. zu M. T., Sitz.-Ber. Münch. Ak., philos.-philol. u. hist. Kl., 1909, 6. Abhdlg.

Maximus Confessor, geb. um 580 in Konstantinopel, gest. 13. Aug. 662. — Die Bedeutung des M. C. liegt in seinen Arbeiten zur Christologie — er ist Vertreter der Zweiwillenlehre — und zur Mystik. M. steht hauptsächlich auf neuplatonischem Boden. Die aristotelischen Elemente, die bei ihm erscheinen, waren bereits in den Neuplatonismus übergegangen. Die Offenbarung Gottes liegt in der Natur und im Wort. Der Logos ist der Ursprung der wahrnehmbaren Welt, in ihn kehrt alles zurück. Der Logos wind in Christus Mensch. So vollzieht sich die Theosis. die Vergottung des Menschen. Mit dem Menschen zugleich, der die gesamte Welt im Kleinen in sich darstellt, wird alles Weltliche erlöst und mit Gott wieder vereinigt. — M. C. kommentierte die Werke des Pseudo-Dionysius. Seinen Arbeiten ist in der Hauptsache das Ansehen zuzuschreiben, das die pseudo-dionysischen Schriften in den folgenden Jahrhunderten gewannen. S c h r i f t e n : Migne, Patrologia Graeca, Bd. 90 u. 91. — Ausg. v. Franz Combefis, 2 Bde., Paris 1675. — Auszug a. d. Werken, dt. v. Basilius Hermann, Würzburg 1941. L i t e r a t u r : Wagenmann, M. C., in: Realenzykl. f. prot. Theol. u. K., 3. Aufl., 1903, Bd. 12, S. 457—470. — Straubinger, Christologie des M. C., 1906. — W. Peitz, Martin I. u. M. C., Hist. Jahrb. 38 (1917) 213—236. — Hans Urs von Balthasar, Kosmische Liturgie. M. der Bekenner, Höhe u. Krise d. griech. Weltbildes, Freiburg 1941. — Josef Loosen, Logos u. Pneuma im begnadeten Menschen bei M. C., Münster 1941.

Mayer, Adolf E., geb. 9. August 1843 in Oldenburg, gest. 25. Dez. 1942 in Heidelberg. Priv.-Doz. in Heidelberg 1868, a. o. Prof. ebda. 1875, o. Prof. für Agrikulturchemie in Wageningen (Holland) 1876, em. 1904. — Monist. S c h r i f t e n : Zur Seelenfrage, 1865. —• Die Lehre v. d. Erkenntnis, 1875, — D. Kampf um d. Dasein d. Seele, 1879. — D. monist. Erkenntnislehre, 1882. — Los vom Materialismus, 1906. — Nietzsche, 1907. — Erziehg. u. Erbsünde im Lichte der modernen Biologie. 1913. — Naturwissenschaftl. Ästhetik, 1927, Sitz.-Ber. d. Heidelberger Ak., Nr. 6. — Die Grundbegriffe d. Volkswirtschaftslehre, 1934. — D. Lösung des Rätsels d. Arbeitslosigkeit, 1933.

Mayer, Julius Robert, geb. 25. November 1814 in Heilbronn, gest- 20. März 1878 ebda. — M. greift in die Philosophie der Naturwissenschaften tief ein durch seine Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie und die Auffindung der Tatsache, daß Energie sich in Wärme umsetzt, wenn sie als zur Ruhe kommende Bewegung verlorenzugehen scheint (mechanisches Wärmeäquivalent).

S c h r i f t e n : Die organ. Bewegung, 1845. — D. Mechanik d. Wärme, 1867; 3. Aufl. 1893. — Naturwissenschaftl. Vorträge, 1871. — Kleinere Schriften u. Briefe, 1893. — Üb. d. Erhaltung d. Energie, 1889. — Üb. d. Erhaltung d. Kraft, hrsg. v. A. Neuburger, 1911. L i t e r a t u r : Dühring, Eugen, R. M., Der Galilei des 19. Jhdts., 2 Bde., 1895—1904. — Riehl, Alois, R. M., in: Führende Denker u. Forscher, 2. Aufl. 1924. — Hell, Bernhard, J, R. M. u. d. Gesetz der Erhaltung d. Energie, 1925. — Fr. Engels, Naturdialektik, Moskau 1925. — Timerding, Heinr., R. M. u. d. Entdeckung d. Energiesatzes, 1925; in: Sehr, z. angew. Seelenkunde, H. 20. — Finckh, Ludw., D. Göttliche Ruf. Leben u. Werk v. R. M., 1932. — Schreber, Carl, D. Gründe u. Grundbegriffe d. Physik d. Vorgänge, 1933. — Alwin Mittasch, J . R. M.s Kausalbegriff. S. geschichtl. Stelig., Auswirkg. u. Bedeutg., Berlin 1940. — Emil Abderhalden (Hrsg.), Kraft, Leben, Geist. Festgabe zur Hunderjahrf. der Entd. d, Energiegesetzes, Halle 1942.

Mayrhofer, Johannes, geb. 3. Nov. 1877 in Hamburg. Schriftsteller, lebt in Regensburg. S c h r i f t e n : Moderne Irrlichter, I. Immanuel Kant, 1911; II. Arthur Schopenhauer, 1912. — Henrik Ibsen, E, literarisches Charakterbild, 1911. — Meine Weltanschauung,. 1913.

Mead — Medicus

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Mead, George Herbert, 1863 bis 1931. M. wirkte seit 1894 an der Universität Chicago, vor allem als Sozialphilosoph. S c h r i f t e n : The Philosophy of the present, Chicago 1932. — Mind, seil and society. From the Standpoint of a social behaviorist, hrsg. v. Ch. W . Morris, Chicago 1934. — Artikel in: Internat. Journal of Ethics, und in: Journal of Philos. L i t e r a t u r : T. V. Smith, The Social Philos. of G. H. M., in: American Journal of Sociology, Bd. 37, 1931—32; S. 368—385; G. H. M. and the Philos. of Philanthropy, in: Social Science Review, Bd. 6, 1932; S. 37—54. — C. J . Bittner, G. H. M.s Social Concept of the Seif, in: Sociology and Social Research, Bd. 16, Nr. 1, 1931—32; S. 6—22. — Dewey, John, G. H. M., in: Journal of Philos., Bd. 28, Nr. 12, 1931; S. 309—314.

Medicus, Fritz, geb 23. April 1876 in Stadtlauringen (Bayern). Promotion Dr. phil. J e n a 1898. Priv.-Doz. in Halle 1901. O. Prof. a. d. Techn. Hochsch. Zürich 1911, emeritiert 1946. Ein philosophischer Satz wird nach M. in seinem philosophischen Sinne dann erfaßt, wenn er als Versuch, die Problematik der jeweiligen kulturellen Lage bewußt zu machen, begriffen wird. Er ist nie Dogma, das geglaubt sein will, sondern — nicht seiner Formulierung, sondern seinem Sinne nach — Behauptung und Frage zugleich. Die Problematik des menschlichen Lebens hält nicht still. Nicht nur die einzelnen Kulturgebiete, sondern auch ihre Beziehungen zueinander sind in unaufhörlichen Bewegungen, und in diesen werden die Probleme der Philosophie immer wieder neu. Das Verlangen nach einem zeitlos gültigen System der Philosophie entspringt naturalistischer Befangenheit. Probleme haben heißt in der Geschichte stehen. Aber obwohl sich die Humanität nur in der Geschichte gestaltet, bedeutet der Eintritt in sie einen Verlust, den Verlust unbeschränkter Möglichkeiten: jede bestimmte Kultur zwingt das Leben in eine bestimmte irgendwie zufällig und fragwürdig bleibende Richtung; in der Tiefe bleibt dem Menschen eine Trauer wie über ein verlorenes Paradies der Freiheit. In Worten (einem begrifflich vorgeformten Material) läßt sich von jenem Paradies nicht Rechenschaft geben; ihren Ausdruck sucht die Gewißheit jenes Grundes, aus dem alles das aufsteigt, was den Menschen menschlich macht, in der Musik. J e d e Kunst hat ihre in besonderer Weise begrenzten Mittel, das Leben zu offenbaren. Im Wechsel der Zeiten ist bald diese, bald jene Kunst zur Offenbarung dessen berufen, was den geschichtlichen Charakter der Epoche am tiefsten, am umfassendsten bezeichnet. Solcher Vorzug, dem Wesentlichen der Zeit den überzeugenden Ausdruck geben zu können, wird dieser Kunst ein Übergewicht über die anderen Künste geben und sie in ihren Bann ziehen. Die geschichtliche Erforschung einer Kunst — und Entsprechendes gilt von jeder Gestalt des Kulturlebens — verlangt, daß die ästhetischen Probleme im Zusammenhang mit den beherrschenden Aufgaben ihrer Zeit gesehen werden. Es sind Zeiten möglich, in denen über beherrschende Aufgaben nur verzweifelte Unklarheit besteht. In ihnen versucht das überdurchschnittliche Individuum, seine Zufälligkeit interessant zu machen. Die einzelnen Funktionen des Geistes treten auseinander (Intellektualismus, Ästhetizismus, Moralismus) und werden zu würdelosen Dienern dumpfer Gewalten. Solange die menschlichen Wertmaßstäbe ihr Ziel in der Bejahung des geschichtlich gestalteten Daseins haben, gehören sie einem Leben an, dessen Verhältnis zum Geist fragwürdig ist. Die Vollendung der Humanität ist dort zu suchen, wo nicht Weltbejahung angestrebt wird, aber auch nicht Weltverneinung,

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sondern wo die Orientierung von der Welt des gestalteten Daseins unabhängig ist: die letzte übergeschichtliche Tiefe des Menschen ist Gott. Ohne ihn ist der Mensch nur abstrakt gedacht: seine Tiefe gehört zu ihm und er zu ihr. Humanität meint Pflege der Verantwortlichkeit. Wer mit ihr bedingungslos Ernst macht, wird überlegen über Bejahung und Verneinung der Welt. Das Bewußtsein der Verantwortlichkeit ist das Gewissen. Wohl steht dieses selbst in den Bedingungen der Geschichte: es ist nicht unverfälschte „Stimme Gottes". Aber es ist auch nicht Produkt der Geschichte. Mit seinem Gewissen hat der Einzelne teil an der Aufgabe der Gemeinschaft, über sich hinauszukommen. Die deterministische Theorie, die den Menschen zum ohnmächtigen Produkt übergreifender Zusammenhänge macht, ihm also keinen ihm selbst eigenen Willen zugesteht, wird, wo sie Strafen — auf Erden oder nach dem Tode — gutheißt, absurd. Ihre lange für fest angesehene Stütze, die mechanische Kausaltheorie, war an eine heute überwundene Auffassung von der Materie geknüpft. Freiheit ist keine Eigenschaft des Individuums. Subjekt der Freiheit ist die Gemeinschaft — Aufgabe und Wirklichkeit zugleich. Der Einzelne trägt von seiner Stelle aus Verantwortlichkeit, die aus unabgrenzbaren Zusammenhängen kommt und ins Unabgrenzbare reicht; er handelt nie als in sich geschlossenes Ich. W a s an Unfreiheit in der Gesellschaft liegt, belastet ihn; aber diese Unfreiheit hat kein starres Maß, und sie belastet den Einzelnen um so weniger, je rückhaltloser er sich als Glied des gemeinschaftlichen Seins (und nicht als bloßes Individuum) erlebt. (Für das Lexikon verfaßt von F. Medicus.) S c h r i f t e n : Kants transzendentale Ästhetik u. d. nichteuklidische Geometrie, 1898. — Kants Philos. d. Gesch., 1902. — J . G. Fichte, 13 Vorlesungen, 1905 (ins Japan, übersetzt). — Fichtes Leben, 1914; 2. Aufl. 1922. — Grundfragen d. Ästhetik, 1917. — Cuno Amiets „Jungbrunnen" in der Loggia des Züricher Kunsthauses, 1921. — D. Freiheit des Willens u. ihre Grenzen, 1926. — Pestalozzis Leben, 1927, — D. Problem einer vergleich. Gesch. d. Künste, in: Philos. d. Literaturwissenschaft, hrsg. v. E. Ermatinger, 1930. — Macht and Gerechtigkeit, 1934. — V. d. doppelten Basis d. menschlichen Dinge, Zürich 1943. — D. Mythologische in der Religion, Erlenbach-Zürich 1944. — Vom Wahren, Guten u. Schönen, 1943, — Hrsg.: Grundriß d. philos. Wissenschaften; Fichtes W e r k e in 6 Bden., 1908—12, 2. Aufl. 1922. L i t e r a t u r : Karl Joel, Ein Fortschritt im Streit um d. Willensfreiheit, in: Der Gerichtssaal, Bd. XCIII. — Natur u. Geist. Festschrift F. M., 1946.

Mehlis, Georg, geb. 8. März 1878 in Hannover, gest. 1942. Promotion 1906 in Heidelberg. Priv.-Doz. 1910 in Freiburg i. Br. A. o. Prof. ebda. 1915. Dann in Chiavari (Oberitalien). — M. ist Wert- und Geschichtsphilosoph im Sinne Windelbands. Als solcher macht er den Versuch, den rationalen Faktor der Geschichte mit dem irrationalen zu versöhnen. Er geht vom Sinn des historischen Geschehens aus und unternimmt eine allgemeine Konstruktion des historischen Prozesses, der sich in die religiöse, ästhetische, philosophische und sittlichstaatliche Entwicklung zerlegt. S c h r i f t e n : Schellings Gesch.philos., 1907, — Die Gesch.philos. Auguste Comtes, 1909. — Lehrbuch d. Gesch.philos., 1915. — Gestalten des Krieges, 1915. — Einf. in ein System d. Religionsphilos., 1917. — Probleme d, Ethik, 1918. — D. deutsche Romantik, 1922. — Formen d. Lyrik, 1922. — Spinoza, 1923. — Plotin, 1924. — D. Problem des Bösen in Sittlichkeit u. Religion, 1926. — Die Mystik, 1926. — Die Idee Mussolinis, 1928. — Der Staat Mussolinis, 1929. — Italien. Philos. d. Gegenwart, 1932. — Freiheit u. Faschismus, 1934. — Hrsgeber von: Logos, Internat. Ztschr. f. Philos. der Kultur, 1910—1933.

Mehmel — Meinong

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Mehmel, Gottlieb Ernst August, geb. 21. Januar 1761 in Winzingerode bei Erfurt, gest- 7. Juni 1840 in Erlangen. Stud. in Halle; 1792 a. o. Prof. für Philos, und schöne Wissenschaften in Erlangen; 1799 o. Prof. ebda. Anhänger der Philosophie Fichtes. S c h r i f t e n : Versuch einer vollständ. analytischen Denklehre als Vorphilos., 1803. — Üb. d. Verhältnis d. Philos, zur Religion, 1805. — Lehrb. d. Sittenlehre, 1811. — Reine Rechtslehre, 1814. L i t e r a t u r : Johannes Richter, D. Religionsphilos. d. Fichteschen Schule, 1931.

Meier, Georg Friedrich, 1718 bis 1777. Schüler A. G. Baumgartens. M. hat neben Baumgarten Verdienste um die Begründung der deutschen Ästhetik. Er bemühte sich um eine philosophische „Auslegekunst" (Hermeneutik). S c h r i f t e n : Beweis d. vorherbestimmten Harmonie, 1743. — Gedanken vom Zustande d. Seele nach d. Tode, 1746, — Theoretische Lehre v. d. Gemütsbewegungen, 1744. — Anfangsgründe aller schönen Künste u. Wissenschaften, 1748, — Vernunftlehre, 1752. — Metaphysik, 1755—1759. — Philos. Sittenlehre, 1753—61. — Versuch eines Lehrgebäudes v. d. Seelen d. Tiere, 1749. — Versuch einer allgem. Auslegekunst, 1756. L i t e r a t u r : E. Bergmann, D. Begründung d. dtschen Ästhetik durch A, G. Baumgarten u. G. F. Meier, 1911, — Hans Böhm, D. Schönheitsproblem bei G. F. M., in: Archiv f. d. ges. Psychol., Bd. 56, 1926. — Josef Schaffrath, D. Philos, d. G. F. M., Diss,, Freiburg 1940.

Meier, Matthias, geb. 12. Februar 1880 in Vilsheim (Bayern). Dr. Doz. in München 1914. A. o. Prof. ebda. 1920, o. Prof. in Dillingen Darmstadt 1927. — Der Philosophiehistoriker und Metaphysiker M. von Georg Freiherrn von Hertling und Theodor Lipps. Er vertritt punkt des theistischen Idealismus.

phil. Priv.a. D. 1925, ist Schüler den Stand-

S c h r i f t e n : D. Lehre des Thomas v. Aquino: De passionibus animae in quellenanalyt. Darstellung, 1912. — Descartes u, d. Renaissance, 1914. — Locke u. d. Lehre v. d. eingeborenen Ideen, 1919. — D. Seelenbegriff in der mod. Psychol., 1921. — Hrsgbr.: G. v. Hertling, Vöries, üb. Metaphysik, 1922. — Descartes Stellung z, d. Alten in s. Traktat: Les passions de l'âme, in: Festschrift f. Hertling, 1913. — Gott u. Geist bei Marsiglio Ficino, in: Festschr, Schlecht, 1917. — Immanuel Kant, zu s. 200. Geb., in: Ak. Monatsbl., 36, 1924. — Thomas v. Aquino, z. Feier s. 600jähr. Kanonisationsjubiläums, ebda. 37, 1924. — Aristoteles als Historiker, in: Festschr. f. Geyser, 1930.

Meiners, Christoph, 1747 bis 1810. Prof. in Göttingen. — M., ein Gegner Kants wie sein Lehrer und Freund Feder, vertrat eine psychologistische Auffassung der Philosophie; zusammen mit Feder gab er die „Philosophische Bibliothek" (1788 bis 1791) heraus. S c h r i f t e n : Grundriß d. Seelenlehre, 1786. — Grundriß d. Ethik, 1801. — Untersuchungen üb. d. Denk- u. Willenskräfte, 1806. L i t e r a t u r : Ihle, Alexander, Ch. M. u. d. Völkerkunde, 1931; in: Vorarbeiten z. Gesch. d. Gött. Univ., H. 9.

Meinong, Alexius, Ritter v. Handschuchsheim, geb. 17. Juli 1853 in Lemberg, gest. 27. November 1920 in Graz. Gymnasialbesuch und Studium in Wien. 1874 Promotion in Geschichte. 1875 Hinwendung zur Philosophie; Franz Brentano wird M.s Lehrer. 1878 Habilitation mit Hume-Studien. 1882 a. o. Prof. in Graz. Dort veranstaltet M. 1886/87 die ersten experimentalpsychologischen Übungen in Österreich. 1889 Ordinarius in Graz. M. hat sich von der Philosophie Franz Brentanos aus weiterentwickelt zum Begründer der Gegenstandstheorie, der „Wissenschaft vom Gegenstande als solchem oder vom reinen Gegenstande", ohne Rücksicht auf sein Dasein oder

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Nichtdascin. „Was zunächst Gegenstand ist, formgerecht zu definieren, dazu fehlt es an genus wie an differentia; denn alles ist Gegenstand." Er kann nur mittelbar gekennzeichnet werden durch den Hinweis auf die Erlebnisse, in denen er erfaßt wird. Die Gegenstandstheorie bevorzugt nicht einseitig das Wirkliche, wie die überlieferten Wissenschaften und wie die Metaphysik, die die Gesamtheit alles Wirklichen umspannen will. Sie hat es auch mit dem seienden Unwirklichen, dem Nichtseienden, dem Möglichen, dem Unmöglichen zu tun, und ist daher in gewisser Weise daseinsfrei. Es gehört also der Gegenstandstheorie „alles an, was von Gegenständen ohne Rücksicht auf deren Existenz ausgemacht werden kann, alles also, was Sache apriorischen Erkennens ist". Da M. den Begriff des Gegenstandes vom erfassenden Erlebnis aus bestimmt, so gewinnt er seine Einteilung von Gegenständen durch eine Klassifizierung der Elementarerlebnisse. „Dem Vorstellen, Denken, Fühlen und Begehren stehen sonach die Gegenstandsklassen der Objekte, Objektive, Dignitative und Desiderative gegenüber." Objekt hat also in M.s Terminologie einen engeren Sinn als Gegenstand. Die Objekte sind als Gegenstandsklasse am leichtesten zugänglich; ihre Untersuchung läßt Schlüsse auf die übrigen Gegenstandsigebiete zu. Es zeigt sich, daß Gegenstände niederer Ordnung von Gegenständen höherer Ordnung unterschieden werden müssen, die auf ihnen aufgebaut sind; nach oben hin sind diese Ordnungsreihen unabgeschlossen. Objekte sind entweder vollständig oder unvollständig. Die Objektive „zeigen sich im Unterschiede von allen übrigen Gegenständen ausnahmslos durch die Zugehörigkeit zu einem der beiden Glieder des durchaus eigenartigen, unüberbrückbaren Gegensatzes von Position und Negation bestimmt oder bestimmbar". Im Objekt hat man entweder „Sein" (A ist) oder „Sosein" (A ist B) oder „Mitsein" (wenn A, so B) vor sich. Was M. als Objektiv bezeichnet, den Urteilsgegenstand, hat nach seiner Ansicht die logische Überlieferung fälschlich Urteil genannt. Beim Sein im engeren Sinne wird von M. Existenz und Bestand unterschieden. Existenz selbst existiert nicht, sondern kann bloß bestehen. Die Dignitative und Desiderative sind Gegenstände höherer Ordnung; zu den Dignitàtiven gehört die Dreiheit von wahr, schön, gut, zu den Desiderativen das Sollen und der Zweck. Die Gegenstandstheorie muß ergänzt werden durch die Lehre vom Erfassen. „Was aber das Erfassen anlangt, so besteht dieses aus einem Vorerlebnis, durch das der Gegenstand dem Denken präsentiert, und aus einem Haupterlebnis, vermöge dessen er gemeint wird", überlieferungsgemäß ausgedrückt: aus Vorstellen, und aus Urteilen sowie Annehmen. Innere Erlebnisse bedürfen des Vorstellens nicht, sie präsentieren sich selbst. Es ist dementsprechend die Selbstpräsentation von der Fremdpräsentation zu unterscheiden; bei Gefühlen und Begehrungen handelt es sich um emotionale Präsentation. Als die beiden Erlebnisse des Meinens unterscheidet M. Urteil und Annahme; es ist sein Verdienst, eine Untersuchung der Annahmen angebahnt zu haben, denen er einen Platz zwischen Vorstellen und Urteilen zuweist. Die Urteile, „in deren Natur es . . liegt, die Wahrheit zu treffen", sind evidente Urteile oder Erkenntnisse, und Erkenntnistheorie kann insofern bezeichnet werden als „die Theorie des evidenten Urteils". Apriorische ist von aposteriorischer Evidenz zu unterscheiden; a priori evidente Urteile „haben jene Eigenart des Einsehens an sich, die man Verstehen im eigentlichen Sinne zu nennen pflegt". Was wir mit Verständnis einsehen, nennen wir notwendig. Das Treffen der Wahrheit kann nun auch ohne Evidenz eintreten. „Wahrheit ohne Evidenz bedeutet für den Urteilenden den Tatbestand äußerer, Wahrheit mit Evidenz zugleich den innerer Berechtigung." Das Analogon zur Wahr-

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heit ist die Wahrscheinlichkeit; nicht um Tatsächlichkeit, sondern um Möglichkeit handelt es sich dabei, und nicht um evidente Gewißheit, sondern um evidente Vermutung. Die psychischen oder inneren Erlebnisse sind Gegenstand der Psychologie. M. glaubt ihr mit seiner Lehre von den Annahmen ein neues Erlebnisgebiet eröffnet zu haben. Bei den psychischen Elementarerlebnissen unterscheidet M. intellektuelle und emotionale, „je nachdem sie ihrem Wesen nach geradezu Erfassungserlebnisse sind oder dem Erfassen nur etwa nebenbei zugewendet werden können". Passiv sind die Vorstellungen, die in Wahrnehmungs- oder Ernstvorstellungen und in Einbildungs- oder Phantasievorstellungen zerfallen. Aktive intellektuelle Elementarerlebnisse sind die Urteile. „Sie erfassen unmittelbar ihr Objektiv, mittelbar dessen Material." Aktiv sind aber auch die Annahmen, denen eine beherrschende Funktion zukommt beim Verstehen von Rede und Schrift, in Spiel und Kunst und bei der Begehrungsmotivation. „Zu den Urteilen verhalten sich die Annahmen wie Phantasie- zu Ernstvorstellungen, können daher auch Phantasieurteile heißen." „Urteile und Annahmen aber schließen sich so zu einer Gesamtklasse psychischen Elementargeschehens zusammen . . . Als Gesamtname eignet sich wohl am besten ,Denkerlebnis' oder ,Gedanke'." — Passive emotionale Elementarerlebnisse sind die Gefühle, in denen der Gegensatz von Lust und Unlust herrscht. Nach ihren Gegenstandsvoraussetzungen teilen sie sich in Vorstellungs- und Denkgefühle. Ferner müssen Ernstgefühle und Phantasiegefühle anerkannt werden. „So ist unser Anteil an künstlerisch dargestellten Vorgängen, an deren Wirklichkeit wir nicht glauben, weder bloß vorgestellt noch ernstgefühlt." — Aktive emotionale Elementarerlebnisise sind die Begehrmigen, ihre Eigengegenstände: Sollen und Zweck. Wie beim Vorstellen und Denken intellektuelle, so gibt es beim Fühlen und Begehren emotionale Phantasie. Begehrbar ist nur das Mögliche. Es gibt Wissensbegehrungen, Wertbegehrungen, ästhetische und hedonische Begehrungen. M. hat mit Intensität werttheoretische Untersuchungen getrieben. Die besonderen Werttheorien, etwa die nationalökonomische und die ethische, müssen zu einer allgemeinen Werttheorie erweitert werden. „Ihr Ausgangspunkt ist das Hauptwerterlebnis, das Seins-, insbesondere Existenzgefühl (also ein Urteilsgefühl)." Dem unpersönlichen oder absoluten Wert steht ein relativer oder persönlicher gegenüber. Ethisches Sollen ist unpersönliches Sollen; es „ist der Eigengegenstand des auf ethisch Wertvolles gerichteten Begehrens". M. ist Vertreter eines Dualismus; er meint „sich in der Metaphysik der realistischen, in der Gegenstandstheorie der idealistischen Betrachtungsweise annähern zu können". Metaphysik ist ihrem Wesen nach Wirklichkeitswissenschaft. Was seine Stellung zur überlieferten und zur zeitgenössischen Philosophie angeht, so ist M. der Ansicht, Kants grundlegende Intentionen waren auf Gegenstandstheorie gerichtet. Er stellt fest, daß seine eigenen gegenstandstheoretischen Untersuchungen sich mehrfach mit den Neukantianern der Marburger Richtung und mit den Vertretern des werttheoretischen Kritizismus berühren. Zu dem Kreis seiner Schüler und Anhänger gehören: Alois Höfler, Christian v. Ehrenfels, A. Oelzelt-Newin, Stephan Witasek, V. Benussi, E. Martinak, E. Mally, 0 . Tumlirz, K. Zindler, J . Klemens Kreibig und Hans Pichler. S c h r i f t e n : Hume-Studien I. u. II., Sitz.Ber. Wiener Akad. 1877 u. 82. — Üb. philos. Wissensch, u. ihre Propädeutik, 1885. — Z. erkenntnistheoret. Würdigung d. Gedächtnisses, in: Vierteljahrsschr. f. wiss. Phil., 1886. — Psychol.-ethische Untersuchungen z. Werttheorie, 1894. — Üb. Gegenstände höherer Ordnung, in: Zeitschr. f. Psychol., Bd. 21, 1899. — Üb. Annahmen, 1902; 3. Aufl. 1928. — Untersuchungen z. GegenstandsPhilosophen-Lexikoo

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theorie u. Psychol., 1904. — Üb. Urteilsgefühle, in: Arch. f. d. gesamte Psychol., Bd. 6, 1905. — Üb. d. Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens, 1906. — Üb, d. Stellung d. Gegenstandstheorie im System d. Wissenschaften, 1907. — Gesam. Abhandlungen, 2 Bde., 1913 bis 1914. — Üb. Möglichkeit u. Wahrscheinlichkeit, Beiträge z. Gegenstandstheorie u. Erkenntnistheorie, 1915. — Üb. emotionale Präsentation, Sitz.-Ber. Wiener Akad., 1917. — Z. Grundlegung d. allgem. Werttheorie, hrsg. v. Ernst Mally, 1923. — Selbstdarstellung, in: Philos. d. Gegenwart, Bd. 1, 1921; 2. Aufl. 1923. L i t e r a t u r : D. H. Kerler, Üb. Annahmen, Streitschrift gegen A. M.s gleichnamige Arbeit, 1910. — Hicks, G. Dawes, The philosophical researches of M., in: Mind, N. S. Bd. 31, 1922, S. 1—30. — Eduard Martinak, M. als Mensch u. als Lehrer, 1925. — E. Tegen, A. v. M„ Lund 1935.

Meissinger, Karl August, geb. 30. April 1883 in Gießen. Lic. theol. Gießen 1911. Dr. phil. Straßburg 1918. S c h r i f t e n : Kant u. die deutsche Aufgabe, 1924. — Vergeistigung der Politik, 1924. — Friedrich List, d. trag. Deutsche, 1930. — Befreiung der Technik, gemeinsam mit Fr. Dessauer, 1932. — Helena, Schillers Anteil am Faust, 1935. — Friedrich List, der Pionier des Reichs, 6.—8. Aufl., 1935. — Abenteurer Gottes, Roman, Leipzig 1935. — Erasmus v. Rotterdam, Wien 1942. — D. verborgene Stern, München 1941.

Melanchthon, Philipp, geb. 16. Februar 1497 in Bretten, gest. 19. April 1560 in Wittenberg. Großneffe Reuchlins und Schüler des Agricola, 1518 Professor der griechischen Sprache in Wittenberg. M. wurde von der Persönlichkeit Luthers so nachhaltig beeinflußt, daß er sich gänzlich seinen religiösen Reformen anschloß und die Begründung der protestantischen Dogmatik zur Aufgabe nahm. Von einem bedingungslosen Anschluß an Luther gelangte er allmählich zu einer freieren humanistischen Anschauung. Er wandte sich Aristoteles zu, den er vorher mit der gleichen Strenge wie Luther abigelehnt hatte. Die Aussöhnung des Protestantismus mit der Philosophie schien M. nur durch den Aristotelismus möglich. Wie die Scholastik bezeichnet er die Philosophie als die Magd der Theologie (ancilla theologiae). Er hat erreicht, daß zu der neuen religiösen Bewegung des Protestantismus der Humanismus Zugang fand. Die Lehre, die M. in der Humanisierung des Protestantismus gab, eignete sich zum Unterricht an den Bildungsanstalten Deutschlands und bewährte sich als Erziehungsmittel. M. wurde der „praeceptor Germaniae". Der Grundgedanke M.s, der Religion und Vernunft miteinander in Einklang zu bringen sucht, ist die Auffassung von Gottes Beziehung zur Welt und zum Menschen als Gesetz. Das Gesetz, das von Gott dem Menschen geoffeabart wird, ist nur zu einem gewissen Teile dem menschlichen Erkennen begreiflich, und dieser Teil bildet den Inhalt des rationalen Erkennens; die Vernunft wird von dem allumfassenden göttlichen Gesetz als einem ihr eingeborenen Wissen sowie in der Form des Sittengesetzes bestimmt. So wird das Moralgesetz der unmittelbare Ausdruck des Willens Gottes und die Ethik das Hauptanliegen der Philosophie M.s. Die Schwierigkeit, die in Luthers Willenslehre durch die Annahme der absoluten Prädestination einerseits und durch die Behauptung einer Möglichkeit des Nichtvollzuges der Bekehrung andererseits entstand, — sie wiederholt sich in der Anerkennung eines Vorhandenseins des Bösen in der Welt trotz ihrer durchgängigen Determiniertheit durch einen guten Gott, — sucht M. zu lösen. Er betont, die Prädestination betreffe nur die Errettung der Bekehrten, so daß also bei der Bekehiung selbst der freie Wille als Ursache in Wirksamkeit treten muß; er nimmt weiter an, daß das Böse in der Welt auf Grund einer dem Menschen möglichen, von Gott abweichenden Willensentscheidung entsteht. So behauptet M. die Willensfreiheit, um den Klippen der

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lutherischen Willenslehre zu entgehen. Durch die Möglichsetzung eines Abweichens von dem natürlichen Moralgesetz der Vernunft, das mit dem Dekalog identisch ist, gewinnt M- auch eine Bestimmung des Begriffes der Tugend. Sie ist eine Willensbeschaffenheit, die die natürlichen sittlichen Normen der Vernunft beobachtet, und zwar deshalb, weil sie von Gott dem Menschen gegeben sind; Tugend ist also der Dienst Gottes um Gottes willen. Sie äußert sich außer im Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten auch in der Verehrung Gottes, sowie in der bürgerlichen Gerechtigkeit, das heißt im Beobachten der Gesellschaftsordnung und im Zuteilen dessen, was jedem zukommt. Weitere Tugenden sind: Veracitas, Beneficentia, Gratitudo und Amicitia. Alles jedoch, was auf menschlichen Einrichtungen beruht, ist sittlich neutral oder mit stoischem Begriff Adiaphoron. Das Recht gründet ebenfalls in dem natürlichen Sittengesetz; denn die Gerechtigkeit folgt aus den göttlichen Moralvorschriften. Gerechtigkeit darf nicht zum Kommunismus führen, weil das Privateigentum um der Sündhaftigkeit des Menschen willen bestehen muß und nicht ohne Verstoß gegen die natürliche Ordnung beseitigt werden kann. Auch die staatliche Ordnung ruht im Willen Gottes, so daß mit vollem Recht das Evangelium für den Nachweis der Notwendigkeit einer Unterwerfung unter die Staatsgewalt herangezogen werden kann. Dem Staat verleiht seine Abkunft aus Gott eine sittliche Aufgabe. Sie besteht darin, durch Erziehung ein friedliches Zusammenleben der Menschen zu gewährleisten. Wenn die Obrigkeit diese Aufgabe erfüllt, ist ihr Amt zugleich ein geistliches, ohne daß darum der Staat in Abhängigkeit von der Kirche geraten müßte. Der doppelte Gehorsam gegen Gott und gegen die von ihm gesetzte Obrigkeit führt zur Trennung zweier Arten der Gerechtigkeit, der Iustitia civilis und der Iustitia spiritualis, der religiös-sittlichen Erneuerung des Menschen. Die Philosophie M.s wurde in engster Anlehnung an Aristoteles gestaltet, und seine Stellung zum mittelalterlichen Lehrbetrieb machte ihn zum Begründer einer protestantischen Scholastik, die das Forschungs- und Unterrichtsverfahren im Protestantismus noch im 17. Jahrhundert beherrschte. M. teilt die Philosophie ein in Dialektik, Physik und Ethik. In der Dialektik kommt es auf die Begründung der Didaktik an, für deren Zwecke die logischen Unterscheidungen eigentlich vorgenommen werden. In nominalistischer Weise setzt er als existierend das Einzelne, das Singulare; die Spezies ist die Zusammenfassung gemeinsamer Merkmale der Singularien, das Genus faßt die gemeinsamen Merkmale der Spezies zusammen usw. Die Richtigkeit des Denkens wird gewährleistet durch die allgemeine Erfahrung, in der alle Verständigen übereinstimmen, durch die uns eingeborenen Gesetz« des Denkens und der Sittlichkeit, durch die metaphysischen Vorstellungen, und schließlich durch den logisch-systematischen Zusammenhang des Denkens. Dieses natürliche Erkennen endet bei der Offenbarung, die selber nicht mehr mit Hilfe der drei genannten Kriterien beurteilt werden kann. — In der Physik folgt M. gänzlich Aristoteles. Wo dieser jedoch dem christlichen Glauben widerspricht, ist er zu berichtigen. Es gelingt M., die Hauptteile der paulinisch-lutherischen Lehre in 'die aristotelische Philosophie einzubauen. Die Gottesbeweise sind nur infolge der menschlichen Sünde erforderlich; diese hat die Kraft der Vernunft vermindert. Denn das Wissen von Gott als dem Schöpfer, dem Lenker und dem Richter der Welt ist eingeboren. Gott kann teleologisch durch die Argumente des geregelten Verlaufs des Naturgeschehens, des Angelegtseins der Erde auf den Menschen usw. bewiesen werden, 10«

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Meleagros — Melito

ethisch vor allem durch unser Gewissen, durch das er seine Forderung auf ein sittliches Verhalten des Menschen erhebt. M. ist der Auffassung, daß die Welt für den Menschen und der Mensch für Gott geschaffen ist. Er hält, wie Luther, gegen Coppernicus an der ptolemäischen Weltansicht fest. Als Grund geben beide an, daß die Lehre des Coppernicus mit der Bibel nicht übereinstimmt. — Als Psychologe unterscheidet M. mit Aristoteles die vegetative, die sensitive und die rationale Seele; die letztere allein ist unsterblich, ihr gehören Intellectus, Memoria und Voluntas zu. Die Seele ist, wie M. gegen Amerbach festhält, die „Endelechie" (statt „Entelechie") des Leibes. Er definiert sie als einen intelligenten substanzhaften Geist, dess«n Existenz vom Körper abhängig ist. S c h r i f t e n : Opera, Wittbg. 1562—1564; in: Corpus reformatorum, hrsg. v. C. G. Bretschneider u. H. E, Bindseil, Bd. 1—28, 1834—60. — Ergänzung: Suppl. Melanchthoniana, hrsg. v. Verein f. Reformationsgesch., Melanchthon-Komm., Bd .1—2, 5—6, 1910—26. — Briefwechsel, hrsg. v. O. Clemen, I, 1926. L i t e r a t u r : K. Hartfelder, P* M. als Praeceptor Germaniae, Monum. Germ. paed. VII, Berl. 1889. — J. W. Richard, Ph. M., in: Heroes of the Reformation, Bd. 2; New York 1848. — E. Troeltsch, Vernunft u. Offenbarung bei J. Gerhard und M., 1891. — G. Krüger, Ph. M., 1906. — Heinr. Maier, An der Grenze der Philos., Melanchthon-Lavater-D. F. Strauß, 1909. — H. Busch, Der Kirchenbegriff M.s, 1918. — P. Petersen, Gesch. der aristotel. Philos. im prot. Deutschland, 1921. — W. Sohm, Die Soziallehren M.s, in: Histor. Zeitschr., Bd. 115. — Sartorius v. Waltershausen, M. u. d. spekulat. Denken, in: Deutsche Vierteljahrsschr. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch., V, 1927, — Engelland, Hans, M., Glauben u. Handeln, 1931; in: Forsch, z. Gesch. u. Lehre d. Protestantismus, Reihe 4, Bd. 1. — Beneszewicz, Melanchthoniana, 1934; in: Sitz.Ber. d. Bayer. Akad. d. Wiss.; Philos.-hist. Abt., Jg. 1934. — Friedrich Hübner, Natürliche Theologie u. theokratische Schwärmerei bei M., Gütersloh 1936. — Manfred Köhler, M. u. d. Islam, Leipzig 1938. — Richard Nürnberger, Kirche u. weltl. Obrigkeit bei M., Würzburg 1937. — Henning Lindström, Schöpfung u. Erlösung in M.s Theologie, (schwed.), Stockholm 1944. — F. Hildebrandt, M„ Cambridge 1946.

Meleagros von Gadara, lebte im Anfang des ersten Jahrhunderts v. Chr., Kyniker. M. betrachtete die von dem Sophisten Prodikos behandelten ethischen Entscheidungen, z. B. im Mythos von Herakles am Scheidewege, und ihre Grundlagen als unwesentlich. Melissos von Samos, um 444/1 v. Chr.; Schüler des Eleaten Parmenides. — M, vermeidet in seiner Darstellung der Philosophie des Parmenides alle Inkonsequenzen, die dieser in seiner Lehre vom Sein der Welt, wie sie den Sinnen erscheint, begangen hatte, und trägt sie zu besserer Verteidigung gegen Empedokles und Leukippos in möglichster Reinheit vor. Er sucht die Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Seienden zu beweisen, folgert daraus seine räumliche Unbegrenztheit und bestreitet das Vorhandensein des leeren Raumes. Das Seiende ist bei ihm wie bei Parmenides Eines, ungeteilt und unbewegt, und seine qualitative oder quantitative Veränderung ist unmöglich. L i t e r a t u r : Diels, Vorsokr., c. 20 (Nachtr. Vors., 4. Aufl.). — M. Offner, Zur Beurteilung d. M., in: Arch. f. d. Gesch. d. Philos. 3 (1890), 12—33. — W. Nestle, bei PaulyWissowa, Real-Enzyklop. der klass. Altertumswiss., Bd. 15, 1931.

Melito von Sardes, gest. vor 194 n. Chr. Bischof von Sardes. — M. verfaßte eine Verteidigungsschrift des Christentums gegen das Heidentum, die an den Kaiser Mark Aurel gerichtet war. Er verfocht als erster die Lehre von den zwei Naturen Christi. Christus vereinigt in sich die wahre Gottheit und die wahre Menschheit. S c h r i f t e n : Apologie, deutsch v. B. Welte, in: Theol. Quartalschr., Tüb. 1862, 384 bis 410.

Mellin — Mendelssohn

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L i t e r a t u r : Routh, Reliqu. sacrae, 2. ed. 1, 111—153. — C. Thomas, M. v. S., 1893. — C. Bonner, The Homily on the Passion by M., London 1940.

Mellin, George Samuel Albert, geb. 13. Juni 1755 in Halle, gest. 11. Februar 1825 in Magdeburg. — Kantianer. S c h r i f t e n : Marginalien u. Register zu Kants Kritik des Erkenntnisvermögens, 1794—95, hrsg. v. Goldschmidt, 2 Bde., 1900—02. — Enzyklopäd. Wörterbuch d. krit. Philos., 6 Bde., 1797—1803. — D. Kunstsprache d. krit. Philos., 1798; Anhang 1800. — Allgem. Wörterbuch d. Philos., 2 Bde., 1805—07.

Melzer, Ernst, 1835 bis 1899. — Anhänger der Philosophie Anton Günthers. S c h r i f t e n : Histor.-krit. Beiträge z. Lehre v. d. Autonomie d. Vernunft, 1879; 2. Aufl. 1882. — Goethes philos. Entwickelung, 1884. — Die theist. Gottes- u. Weltanschauung als Grundlage d. Gesch.philos., 1888. — D. Unsterblichkeit auf Grundlage d. Schöpfungslehre, 1896. — Hervorragende Momente aus dem Leben und Wirken Döllingers, 1899. — Der B e w e i s für das Dasein Gottes, 1910.

Mencius (Meng-tse, Meng Tzu, Möngtse, latinisiert Mencius), 372 bis 288 v. Chr. — Chinesischer Philosoph, Schüler und Anhänger des Confucius, beeinflußt vom Taoismus. S c h r i f t e n : Werke, übersetzt v. R. Wilhelm, dt., 1916; v. Leonard A. Lyall, engl., London 1932. L i t e r a t u r : Legge, James, Life and Works of M.; in: Chinese Classics, Bd. 2, London 1875. — Suzuki, D. T., A Brief History of Early Chinese Philosophy, London 1914. — R. Wilhelm, Mong Dsi, 1916. — Thomas, E. D., Chinese Political Thought, N e w York 1927. — Yuan, La philos. morale et politique de Mencius, 1927. — Liang Chi-Chao, History of Chinese Political Thought during the Early Tsin Period, üDers. v. L. T. Chen, London 1930; Kap. 3. — A. Lyall, Mencius, London 1932. — J. A. Richards, M, on the Mind, N. Y. 1932. — Erich Haenisch, M. u. Liu Hiang, Leipzig 1942.

Mendelssohn, Moses, geb. 6. September 1729 In Dessau, gest. 4. Januar 1786 in Berlin. Popularphilosoph der deutschen Aulklärung, wesentlich beeinflußt durch Locke, Leibniz, Wolff, auch durch Spinoza und Shaftesbury; Freund Lessings, korrespondierte mit Kant. Die beiden hauptsächlichen Probleme M.s waren die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele; er glaubte beide positiv lösen und die Richtigkeit der Lösung streng beweisen zu können, die Existenz Gottes mit dem ontologischen Argument. Die bloße Möglichkeit würde mit dem Begriff des vollkommensten Wesens in Widerspruch stehen. Auch die Unsterblichkeit der Seele scheint M. gesichert. Hält er doch die plötzliche oder allmähliche Vernichtung der Seele für unmöglich, weil sie als das denkende Wesen nicht nichtseiend sein kann, ohne daß unvorstellbare und undenkbare Konsequenzen, ein undenkbarer Sprung ins Nichts sich ergeben. Ferner betont er, daß Gott in seiner Weisheit und Güte nicht den nach Vollkommenheit strebenden Wesen, auf die die Welt angelegt ist, jede Möglichkeit zur Vervollkommnung versagen kann, — M. führt mit Sulzer in die Psychologie die Dreiteilung der Seelenvermögen nach Denken, Wollen, Empfinden oder Billigen ein. Die Seele besitzt nicht nur die Fähigkeit, über die Objekte überhaupt zu urteilen, sondern auch die, sie billigend oder mißbilligen^ zu beurteilen. M. sucht auch die Ästhetik psychologisch zu begründen. In seiner Stellung zum Staate ist M. durch seine Sorge um die Freiheit des Denkens und der Gesinnung bestimmt. Der Staat darf nicht fordern, daß das Denken und die Geisinnung völlig ihm und seinem Geiste angepaßt werden. Das religiöse Postulat M.s ist Glaubensfreiheit und Toleranz.

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Menedemos — Menéndez y Pelayo

S c h r i f t e n : Sämtliche Werke, hrsg. v. s. Enkel Georg Benjamin M., 7 Bde., 1843—44. — Ges. Sehr., Jubiläumsausg., hrsg. v. J. Elbogen, J. Guttmann, E. Mittwoch, Bd. 1 fi., Berlin 1929 fi. — Philosoph. Gespräche, 1755. — Briefe üb. d. Empfindungen, 1755. — Betracht, üb. d. Quellen u. d. Verbindungen d. schön. Künst. u. Wissenschaften, 1757. — Abhandl. üb. d. Evidenz in d. metaphys. Wissenschaften, 1764. — Phädon oder üb. d. Unsterblichkeit d. Seele, 1767. — Jerusalem od, üb. religiöse Macht u. Judentum, 1783. — Morgenstunden od. üb. d. Dasein Gottes, 1785. — M. M. an d. Freunde Lessings, 1786. — D. Hauptschr. zum Pantheismusstreit zw. Jacobi u. M., neu hrsg. v. H. Scholz, Bd. VI d. Neudrucke seltener philo*. Werke, hrsg. v. d. Kant-Gesellsch., 1916. L i t e r a t u r : Heinr. Kornfeld, M. M. u. d. Aufg. d. Philos., 1896. — L. Goldstein, M. u. die deutsche Ästhetik, 1900. — Beate Berwin, M. M. im Urteil seiner Zeitgenossen, Kant-Stud., Erg.H. 49, 1919. — Cohen, B., Üb. d. Erkenntnislehre M. M.s, Diss., Gießen 1921. — N. Cahn, M. M.s Moralphilos., Diss., Gießen 1921. — Fr. Bamberger, D. geistige Gestalt M. M.s, 1929. — Gedenkbuch für M. M„ 1929. — M. M. d. Mensch u. d. Werk, hrsg. u. eingel. v. Bertha Badt-Strauß, 1929. — M. M., hrsg. v. d. Encyclop. Jud., 1929. — Freudenthal, M., Zum 200. Geb., 1929. — D. Baumgardt, Spinoza u. M., 1932. — Heinrich Lemle, M. u. d. Toleranz, Augsburg 1932. — Hans Hölters, Der spinozistische Gottesbegr. b. M. M. u. F. H, Jacobi u. d. Gottesbegriff Spinozas, Diss., Bonn 1938. — M. Susmann, M. M. u. seine Entscheidung, in: Neue Wege, 1946.

Menedemos aus Eretria, um 350—278 v. Chr. — M. gehörte zunächst der platonischen Schule an, wandte sich aber dann dem Megariker Stilpon, schließlich den Phaidonschülern Anchipylos und Moschos zu. Er verpflanzte die elische Schule nach Eretria, woher sie den Namen eretrische Schule führt. Die Stärke des M. war die eristisch-dialektische Auflösung des gegnerischen Standpunktes. Er soll die Möglichkeit der Verbindung eines Prädikats mit einem Subjekt bestritten haben. Als Ethiker lehrte er, daß alle Tugend nur eine sei, nämlich die vernünftige Einsicht. M. hat sich als Politiker und Staatsmann um seine Vaterstadt Eretria Verdienste erworben. L i t e r a t u r : Diog. Laert. 2, 125—144. — v. Wilamowitz, Antigonos von Karystos, 1881, 86 ff. — W. Crönert, Kolotes u. M., 1906.

Menedemos, Kyniker. Lebte in der zweiten Hälfte des dritten Jhdts. v. Chr. Er hatte vor dem Kyniker Echekles den Epikureer Kolotes zum Lehrer. Menéndez y Pelayo, Marcelino, geb. 3. November 1856 in Santander, gest. 19. Mai 1912 ebda. Seit 1878 Prof. in Madrid. Direktor der Biblioteca Nacional in Madrid. Der spanische Literarhistoriker, Kulturhistoriker und Ästhetiker M. y P. bringt die geisteswissenschaftliche, auch die philosophische Überlieferung seines Vaterlandes zur Darstellung und organisiert den spanischen Wissenschaftsbetrieb. Er weist der Ästhetik eine Stellung im Mittelpunkt der Wissenschaften an unid verleiht jeder Einzelwissenschaft ästhetisches Gewicht. An der Geschichte der spanischen Literatur will er die Offenbarung der Idee der Schönheit in Zeit und Sprache verfolgen. Als Kern der spanischen Philosophie betrachtet M. y P. den „realismo"; er geht der Entwicklung des spanischen Realismus von Seneca bis zur Gegenwart nach. Zu der großen Zahl seiner Schüler gehören die Philosophen Miguel Artigas, Adolfo Bonilla y San Martin, José Urries y Azara. S c h r i f t e n : Obras, 22 Bde., Madrid 1883—1908. — Obras completas, 13 Bde., Madrid 1911—24; 1940 ff. — Historia de las ideas estéticas en España, 6 Bde., 1883—91; 2. Aufl. 1904. — La ciencia española, 3 Bde., 1887—88. — Historia de los heterodoxos españoles, 3 Bde., 1880—81. — Hrsgb.: Raimundus Lullus, Blanquerua, Madrid 1883; Ibn Tofail, Philosophus autodídactus, Zaragoza 1900. L i t e r a t u r : A. Bonilla y San Martín, M. M. y P. (1856—1912), Madrid 1914; M. M. y P., in: Orígenes de la Novela, T. IV, por M. Menéndez y Pelayo, Madrid 1915, S. 1—151. — R. Blanco y Sánchez, M. M. y P., 1925. — Artigas, Miguel, M. y P., San-

Menippos — Mercier

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tander 1927, mit Bibliographie; 2. A. 1939. — Araquistâin, Luis, M. M. y P. y la cultura alemana, 1932, in: Vom Leben u. Wirken d. Romanen, Span. Reihe, H. 1. — Pastor, José F., M.y P. u. s. Bezgn. zur deutschen Geisteswelt, in: Die Neueren Sprachen, Bd. 41, 1933, S. 77—82. — A. Sandoval, M. y P., Madrid 1944. — Maria Schlüter-Hermkes, M. M. y P., in: Künder des Abendlandes, 1949, S. 251 ff. — Seit 1918: Boletin de la Biblioteca M. y P., hrsg. v. Miguel Artigas.

Menippos von Gadara, um 270 v. Chr., griechischer Kyniker. Er schrieb Satiren, in denen er die Naturphilosophie und die Fachwissenschaft bekämpfte und die stoische Weltbrandlehre verhöhnte. L i t e r a t u r : R. Helm, Lucian u. M., 1906.

Mennicken, Peter, geb. 10. April 1894 in Aachen. Promotion Köln 1921, Priv.Doz. Aachen 1926, a. o. Prof. ebda. 1934. S c h r i f t e n : D. Philos. H. Bergsons u. d. Geist d. neuen Kunst. — D. Seele des Aachener Münsters, 1923. — Antiford oder v. d. Würde d. Menschheit, 1924. — D. Philosophie des Nikolaus Malebranche, 1927. — Nikolaus von Kues, 1932. — Die Technik im Werden der Kultur, 1947.

Menzel, Adolf, geb. 9. Juli 1857 in Reichenberg (Böhmen). Promotion 1879, Priv.-Doz. in Wien 1882, a. o. Prof. ebda. 1889, o. Prof. ebda. 1893, em. 1927. S c h r i f t e n : Wandlungen in der Staatslehre Spinozas, 1898. — Natur- u. Kulturwissensch., 1903. — Spinoza u. d. Völkerrecht, 1907. — Spinoza u. d. deutsche Staatslehre, 1907. — Protagoras als Theoretiker der Demokratie, 1909. — Naturrecht u. Soziologie, 1912. — Z. Psychol. des Staates, 1915. — Üb. soziale Wertmaßstäbe, 1916. — Kallikles, 1922. — Üb, Spencers Staatslehre, 1922. — Umwelt u. Persönlichkeit in der Staatslehre, 1926. — Friedrich Wieser als Soziologe, 1927. — Beiträge zur Geschichte der Staatslehre, 1929, Sitzungsber. der Wiener Ak. d. Wiss. — Die energetische Staatstheorie, in: Arch. f. Soz. Wiss., 1931. — Goethe u. d. griech. Philos., 1932. — P. J. Proudhon als Soziologe, 1932. — Griech. Soziologie, 1933. — Grundriß d. Soziologie, Leipzig 1938. — Hellenika, Baden b. Wien 1938.

Menzer, Paul, geb. 3. März 1873 in Berlin. Promotion Berlin 1897, Priv.-Doz. ebda. 1900. A. o. Prof. in Marburg 1906, o. Prof. in Halle 1908. — M., der fünfundzwanzig Jahre hindurch als Mitarbeiter von W, Dilthey die Kantausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften geleitet hat, versucht die Entwicklungsidee in Kants System nachzuweisen und zeigt, wie Kant unter ihrem Einfluß zu einer neuen Metaphysik gelangt. Auch erkenntnistheoretisch schließt er sich an Kant an, glaubt allerdings, daß die Kantische Lehre in realistischer Hinsicht ergänzt werden muß, und bekennt sich daher zu einem kritischen Realismus. In seinen späteren Schriften beschäftigt sich M. mit Problemen der Metaphysik, die er aus der Eigenart ihrer Begriffsbildung zu verstehen sucht, um so ihren Geltungswert bestimmen zu können. S c h r i f t e n : D. Entwicklungsgang d. Kantischen Ethik, 1897—98. — Kants Lehre v. d. Entwicklung in Natur u. Gesch., 1911. — Einl. in die Philos., 3. Aufl. 1922. — Weltanschauungsfragen, 1918. — Lebenswerte, 1919. — Persönlichkeit u. Philos., 1920. — Natur u. Gesch. im Weltbild Kants, 1924. — Eine Vorlesung Kants üb. Ethik, 1924. — D. Wesen des deutschen Geistes, 1925. — Leitende Ideen in der Pädagogik d. Gegenwart, 1926. — Deutsche Metaphysik d. Gegenwart, 1931. — Metaphysik, 1932.

Mercier, Désiré, geb. 21. November 1851 in Braine-l'Alleud (Brabant), gest. 23. Januar 1926 in Brüssel. 1882 Philosophieprof. in Löwen, Erzbischof von Mecheln 1906 bis 1926; 1907 Kardinal. — Ak Vertreter der neuscholastischen Philosophie strebt M. eine Verbindung scholastischen Erbguts mit den Ergebnissen neuzeitlicher Wissenschaft an, vor allem mit der psychologischen Forschung. S c h r i f t e n : Psychologie, 2 Bde., 1892; 11. Aufl. 1923; deutsch: 1906—07. — Les origines de la psychol. contemporaine, 1897; 3. Aufl. 1925. — Logique, 1894; 7. Aufl. 1922.

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Merian — Mersenne

— Metaphysique générale ou Ontologie, 1894; 7. Aufl. 1923. — Critériologie générale, 1899; 8. Aufl. 1923. — La vie intérieure, 1918; 4. A. 1927. — Oeuvres pastorales, 7 Bde., 1906—1929. — Hrsgbr.: Revue néoscolastique de philosophie (zus. mit M. de Wulf); seit 1894. L i t e r a t u r : Lenzlinger, Josef, Kardinal M., St. Gallen 1929. — Goyau, Georges, Le Cardinal M., Paris 1930. — Herrmann, Carl, Von Pater Philippart, von Kardinal M., 1932. — J . A. Gade, M., New York 1934. Merian, Hans Bernard, 1723 bis 1807. Mitglied der Berliner Akademie und deren S e k r e t ä r . M. war Gegner der Wölfischen Philosophie und vertrat einen Eklektizismus psychologisch-empiristischen Charakters. S c h r i f t e n : In den Mémoires de l'académie, Berlin 1749—1797, u. a.: Sur l'apperception de la propre existence, 1749. — Sur l'apperception considérée relativement aux idées, 1749. — Sur l'action, la puissance et la liberté, 1750. — Sur le principe des indiscernables, 1754. — Sur le sens moral, 1758, — Sur le désir, 1760. — Sur le phénoménisme de D. Hume, 1793. Merkel, Adolf, geb. 11. J a n u a r 1836 in Mainz, gest. 30. März 1896 in S t r a ß burg. Rechtsphilosoph und Kriminalist, V e r t r e t e r des Positivismus. M . versucht, den Vergeltungsgedanken mit der Lehre von der Unfreiheit des Willens in Einklang zu bringen. S c h r i f t e n : Kriminalist. Abhdlgn., 2 Bde., 1867. — Jurist. Enzyklopädie, 1885; 7. Aufl. hrsg. v. Rudolf Merkel, 1922. — Hinterlassene Fragmente u. gesam. Abhdlgn., 2 Bde., 1898—99. — D. Lehre von Verbrechen u. Strafe, hrsg. v. Moritz Liepmann, 1912. L i t e r a t u r : Adams, Alfons, D. Lehre von Verbrechen u. Strafe im System A. M.s, Diss. Bonn 1929. Merkel, F r a n z Rudolf, geb. 3. Dezember 1881 in Landsberg a. L. Dr. phil. Straßburg 1910. Lic. theol. Göttingen 1919. Priv.-Doz. in Halle 1920, in München 1922, a. o. Prof. ibda. 1933. S c h r i f t e n : Der Naturphilos. Gotthilf Heinrich v. Schubert u. d. deutsche Romantik, 1913. —• G. W. v. Leibniz u. d. China-Mission, 1920. — Mission u. Wissenschaft, 1921. — Dichtung u. Religion in der Gegenwart, 1929. — Religiöse Außenseiter, 1930. — W. Geiger als Religionshistoriker, 1931. — Sexualethik u. Christentum, 1932. — Die Mystik im Kulturleben der Völker, 1940. — Hrsgbr. d. Mystiker des Abendlandes, 4 Bde., 1931—1940, u. der Gesch. der Religionswissenschaft, I, 1935. Mersenne, Marin, geb. 8. September 1588 in Soultiere bei Bourg-d'Oizé, gest. 1. September 1648 in Paris. Schüler des Jesuitenkollegs zu L a F l e c h e , 1611 F r a n ziskaner. M. war mit Descartes eng befreundet. Seine Weltanschauung, ein metaphysischer Idealismus, hat viele Berührungspunkte mit der kartesianischen. D e r Wissenschaft setzt er das Ziel einer Erklärung der W e l t möglichst rein aus mechanischen Prinzipien. E r wendet sich gegen den Dogmatismus und die zeitgenössischen naturphilosophischen Anschauungen, besonders gegen den Skeptizismus. Gegen ihn macht er geltend, daß es T a t s a c h e n gibt, die nicht wohl bestritten werden können: z. B. daß die Erde größer ist als ein auf ihr liegender Stein. Auch ist es dem Zweifelnden unmöglich, das Wissen um seinen Zweifel zu bezweifeln. Sodann ist es ein Irrtum, zu behaupten, jeder Schluß beruhe auf einem Zirkel; denn die Maior ist in ihrer Aussage anabhängig von der subsumierten einzelnen Feststellung. E s ist kein Zirkelschluß, wenn man aus dem allgemeinen Urteil: jeder Mensch ist ein vernünftiges Wesen, folgert, daß zum Beispiel P e t e r vernünftig sei. Schließlich gibt es Wahrheit in der mathematischen Erkenntnis, denn diese ist unabhängig von der Unsicherheit der sinnlichen W a h r nehmung. M . entwickelt eine Theorie der Subjektivität der Sinnesqualitäten und geht hierin Descartes, Hobbes und Gassendi voran.

Merten — Messer

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S c h r i f t e n : L'impiété des Déistes et 'des plus subtils libertins découverte et réfutée par raison de théologie et de philosophie, Paris 1624. — La vérité des sciences contre les sceptiques ou Pyrrhoniens, Paris 1625. — Harmonicorum libri 12, 2 Bde, 1635, vermehrt 1648; franz.: Harmonie universelle, Paris, I 1636, II 1637. — Cogitata physicomathematica, 3 Bde., 1644. — Correspondance, hrsg. v. Madame Tannery, Bd. I, 1617 bis 1627, 1932. L i t e r a t u r : Hilarion de Coste, La vie du rév. père M. M., 1649; neu hrsg. 1 8 9 2 . — M. Frischeisen-Köhler, in: Arch. f. Gesch. d. Philos. X V (1902), 394 ff. — Hellmut Ludwig, M. M. u. s. Musiklehre, Halle 1935.

Merten, Jacob, Philosoph des 19. Jhdts., Professor am Priesterseminar zu Trier. Anhänger der Philosophie Anton Günthers. S c h r i f t e n : Hauptfragen d. Metaphysik, 1840. — Grundriß d. Metaphysik, 1848. — Üb. die Bedeutg. d. Erk.lehren v. Augustinus u. Thomas v. A., Programm Trier 1865.

Messer, August Wilhelm, geb. 11. Februar 1867 in Mainz, gest. 11. Juli 1937 in Rostock. Von 1885 ab in Gießen, Straßburg und Heidelberg Studium der klassischen Philologie, der Geschichte und des Deutschen. 1890 Oberlehrerprüfung, 1893 Promotion in Gießen bei Hermann Siebeck mit einer Dissertation „Über das Verhältnis von Sittengesetz und Staatsgesetz bei Hobbes". 1899 Habilitation an der Universität Gießen für Philosophie und Pädagogik; 1910 o. Prof. ebenda bis 1933. Im Jahre 1910 Austritt aus der katholischen Kirche. Der Philosoph und Pädagoge M. wurde durch Külpe für experimentell-psychologische Arbeit zur Aufhellung der Denkvorgänge gewonnen. Er ist Gegner des psychologischen Sensualismus; zwar ist in allen Erlebnissen der Empfindungsbestand festzustellen, aber ihre Auflösung in Empfindungen kann nicht gelingen. Für die Pädagogik vermag experimentelle Psychologie nur in geringem Umfang Hilfsarbeit zu leisten; denn ihr werden „die zentraleren und intimeren Gebiete des Seelenlebens um so weniger zugänglich sein, je inniger sie mit dem Ich verschmolzen sind. Jede wirkliche Erziehung will aber das Ich in seinem Innersten beeinflussen." Auch als Erkenntnistheoretiker schließt M. sich an Külpe an. Er ist kritischer Realist, das heißt, er faßt die anschaulich gegebene Welt nicht lediglich als Bewußtseinsinhalt, sondern „als die Erscheinung eines auch unabhängig von dem erkennenden Bewußtsein der Einzelsubjekte existierenden Realen". M. betrachtet seinen kritischen Realismus als den Weg „nicht zu einer a priori spekulierenden, sondern einer auf dem festen Boden der Erfahrungswissenschaften sich aufbauenden empirisch-induktiven Metaphysik". Die Grenze für unser Erkennen zieht M. nicht zwischen Einzelwissenschaft und Metaphysik, „sondern schon da, wo die Einzelwissenschaft über das anschaulich Gegebene hinausgeht und es als »Erscheinung« vom Realen auffaßt". Das Metaphysische beginnt also bereits „mit der Annahme von Realitäten innerhalb der Einzelwissenschaften". In seinem Wesen ist das metaphysische Denken mit dem wissenschaftlichen Denken identisch, „nur daß es an umfassendere, weiter zurückliegende Fragen herantritt und infolgedessen in höherem Maße mit bloßen Wahrscheinlichkeiten oder gar Vermutungen sich begnügen muß". Grundsätzlich ist mit der Eröffnung des Weges zur Metaphysik auch die Bahn für den Glauben frei gemacht. S c h r i f t e n : Üb. d. Verhältnis v. Sittengesetz u. Staatsgesetz bei Hobbes, Diss., Gießen 1893. — Quintilian als Didaktiker, 1897. — D. Behandlung des Freiheitsproblems bei John Locke, in: Archiv f. Gesch. d. Philos., Bd. I, 1898. — D. Wirksamkeit der Apperzeption in den persönl. Beziehungen d. Schullebens, 1899; dasselbe bearbeitet u. d. Titel: D. Apperzeption, 1915; 3. Aufl. 1928. — Krit. Untersuchungen üb. Denken, Sprechen u. Sprachunterricht, 1900. — Kants Ethik, 1904. — Experimentell-psycholog. Unter-

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Methodios — Meumann

suchungen üb. d. Denken, in: Archiv f. d, ges, Psychol., Bd. VIII, S. 1—224, 1906. — Empfindung u. Denken, 1908; 3. Aufl. 1928. — Einf. in die Erkenntnistheorie, 1909; 3. Aufl. 1927. — D. Problem d. Willensfreiheit, 1911; 3. Aufl. 1922. — D. Problem d. staatsbürgerlichen Erziehung, 1912. — Gesch. d. Philos,, 3 Bde., 1912, 8./9. Aufl. 1932. — Philos. d. Gegenwart, 1916; 3. Aufl. 1921. — Psychol., 1914; 4. Aufl. 1928. — Ethik, 1918; 2. Aufl. 1925. — Glauben u. Wissen, Gesch. e. inneren Entw., 1919; 2. Aufl. 1920. — Sittenlehre, 1920. — Fichte, s. Persönlichkeit u. s. Philos., 1920. — Natur u. Geist, 1920. — Weltanschauung u. Erziehung, 1921. — Erläuterung z. Nietzsches Zarathustra, 1922. — Kant als Erzieher, 1924. — Deutsche Wertphilos. der Gegenwart, 1926. — Gesch. d. Pädagogik, 1926; 2. Aufl. 1931. — Selbstdarstellung in: D. Philos. d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 3, 1922. — Hrsg. der Zeitschrift „Philos. u. Leben".

Methodios, starb etwa 311 als Märtyrer. Kirchenvater, Bischof von Olympus in Lycien. In seinen Schriften polemisiert M. gegen Piaton, den Neuplatoniker Porphyrius und auch gegen Orígenes. Er lehnt die platonische Lehre von der Präexistenz ab, ebenso die Behauptung, daß der Körper das Gefängnis der Seele sei. Der Mensch ist als ein geistleibliches und als das vollkommenste Geschöpf von Gott erschaffen, das Böse ist wesenlos und entspringt aus dem freien Willen des Menschen. Körperlosigkeit kommt allein Gott zu, nicht der menschlichen Seele, die M. für körperlich hält. S c h r i f t e n : Migne, Patrología Graeca, Bd. 18. — Werke, Textausg. v. A. Jahn, 1865. L i t e r a t u r : G. Fritschel, M. v. Olympus u. s. Philos., Diss. Lpz. 1879. — A. Pankow, M., Bisch, v. Olympus, 1888. — Bonwetsch, M., in: Realenzykl. f. Protestant. Theol. u. K., 3. Aufl., Bd. 13 (1903), S. 25 fi.

Mé Ti, s. Mo Ti. Metrodoros aus Chios, lebte im 4. Jhdt. v. Chr., Schüler Demokrits oder des Nessos. M. stimmt in seiner Naturerklärung mit Demokrit in der Hauptsache fiberein. Er zieht aus seinem sensualistischen Materialismus skeptische Folgerungen, ohne die Möglichkeit des Wissens ganz zu leugnen. L i t e r a t u r : Diels, Vorsokr., c. 56 ff. (Nachtr. in Vors., 4. Aufl.).

Metrodoros aus Lampsakos, geb. um 330 v. Chr., einer der bedeutendsten Schüler Epikurs. M. führt in seinen Schriften eine scharfe Polemik vor allem gegen die Lehrmeinung des Demokriteers Nausiphanes. S c h r i f t e n : Fragmenta, hrsg. v. A. Körte, im Jb. f. Philol., Suppl.-Bd. 17, 1890, S. 529—597. — H. Usener, Epicúrea, 1887, S. 368 f. L i t e r a t u r : S. Pellini, Problema di Metrodoro, Classici e Neolatini, 1,1, 1905.

Metrokies, Schüler des Diogenes von Sinope und Anhänger des Kynismus. Er sammelte paradoxe und witzige Aussprüche, vor allem von Diogenes, und begründete dadurch die literarische Gattung der Chrien. Metz, Rudolf, geb. 22. April 1891 in Wies. Dr. phil. Direktor d. Oberrealschule in Heidelberg, danach in Freiburg i. Br. S c h r i f t e n : George Berkeley, Leben u. Lehre, 1925. — David Hume, Leben u. Philos., 1929. — D. philos. Strömungen d. Gegenwart in Großbritannien, 2 Bde., 1935, englisch 1938, — England u. d. deutsche Philos., Stuttgart 1941.

Meumann, Ernst, geb. 29. August 1862 in Ürdingen, gest. 26. April 1915 in Hamburg. Nach Studium der Philologie, Medizin und Naturwissenschaften wendet M. sich der Psychologie zu. Lehrt als Prof. in Leipzig, später am allgemeinen

Meurer — Meyer, Friedrich Ernst Gustav Adolf

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Vorlesungswesen in Hamburg. — M. ist geschult an der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundts und überträgt ihre Methoden auf die Pädagogik. Auch die psychologisch« Ästhetik entwickelt er „vom Standpunkte einer physiologischen Psychologie unter Berücksichtigung der Methoden und Hilfsmittel der experimentellen Psychologie". M. ist Begründer des „Archivs für die gesamte Psychologie". S c h r i f t e n : Untersuchungen z. Psychol. u. Ästhetik d. Rhythmus, 1894. — D. Entstehung d. ersten Wortbedeutungen beim Kinde, 1902; 2. Aufl. 1908, — D. Sprache d. Kindes, 1903, — Üb. Ökonomie u. Technik d. Lernens, 1903. — Vorlesungen z. Einf. in die experiment. Pädagogik u. ihre psycholog. Grundlagen, 2 Bde., 1907; 2. Aufl. 3 Bde., 1920 bis 1922. — Intelligenz u. Wille, 1907; 4. Aufl. 1925, hrsg. v. G. Störring. — Einf. in die Ästhetik d. Gegenwart, 1908; 4. Aufl. 1930. — D. System d. Ästhetik, 1914. — Abriß d. experimentellen Pädagogik, 1914; 2. Aufl. 1920. — D. Grenzen d. psycholog. Ästhetik, in: Philos. Abhandl., Heinze gewidmet, 1906. — Beiträge z. Psychol. d. Zeitsinnes, Philos. Studien VIII, 1890. — Üb. Zeitausfüllung, Philos. Studien XII, 1896. — Ökonomie u. Technik d. Gedächtnisses, 1908; 3. Aufl. 1912. — Mithrsgbr. d. „Pädagog. Monographien" u. d. „Zeitschr. f. pädagog. Psychol. u. experiment. Pädagogik". L i t e r a t u r : Wundt, Wilhelm, Zur Erinnerung an E, M,, 1915. — Paul Müller, E. M. als Begründer d. experimentellen Psychol., Diss., Zürich 1941.

Meurer, Waldemar, geb. 6. Aug. 1881 in Köln a. Rh. Promotion 1907, Dr. phil. Privatgelehrter. S c h r i f t e n : Ist Wissen überhaupt möglich? 1920. — Gegen cL Empirismus, 1925. — Selbsterkenntnis, Welteinsicht u. Rechtfertigung, 1931. — Erläuterungen u. Beiträge z. Selbsterkenntnis, 1932. — Z. Selbsterkenntnis u. Lebensgestaltung, Wer bin ich? 1933. — Und nochmals: „Wer bin ich?" Ein Buch, das Jeder verstehen sollte, aber Niemand verstehen wird — oder kann? 1934. — Briefe über Selbsterkenntnis, Berlin 1936. — Gedichte, Berlin 1936.

Meyer, Friedrich Ernst Gustav Adolf, geb. 14. November 1893 in Emden (Ostfriesland). Studium der Philosophie und Naturwissenschaften in Göttingen und Jena von 1913 bis 1917. Seine Lehrer: Edmund Husserl und Rudolf Eucken. Von größtem Einfluß waren ferner die Philosophen Emile Boutroux und Ernst Troeltsch, der Mathematiker David Hilbert und die Biologen Hans Driesch, Wilhelm Haacke, Hans Spemann, Jakob v. Uexküll und Hans Winkler. Nach beendetem Studium an den Universitätsbibliotheken in Göttingen, Kiel und Hamburg tätig. Habilitation für Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften im W.-S. 1925/26 in der Mathemat.-Naturwiss. Fakultät der Hamburgischen Universität. 1929 bis 1932 o. ö. Prof. der Philosophie und theoretischen Biologie an der Universidad de Chile in Santiago de Chile. Seit 1930 a. o. Prof. a. d. Hamburger Universität, bis April 1932 nach Chile beurlaubt. Mitglied der Kais. Leopoldinisch-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher in Halle und Mitdirektor der „Jan van der Hoeven Stichting voor theoretische Biologie" des Universitätsfonds der Universität Leiden. Aus der Arbeit an der philosophischen Grundlegung der Biologie erwuchs M. ein neues Erkenntnisideal der gesamten Naturwissenschaft und Naturphilosophie, der Holismus. Die bisherigen Erkenntnisideale der Biologie wurden als unzureichend für den Aufbau einer wirklichen theoretischen Biologie erkannt, der Mechanismus, weil er bei seiner Übertragung auf die organismische Wirklichkeit an Unsicherheitsrelationen scheitert, der Vitalismus, weil er das Organische durch einen dogmatischen Dualismus oder Trialismus unnötig von den anderen Wirklichkeitsbereichen isoliert. Der Holismus gibt ein neues Erkenntnisideal der

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Meyer, Eduard

Naturforschung. Holismus heißt „Ganzheitsphilosophie" (von zb ?À.ov). Er geht unter Anerkennung der phänomenologischen Wendung zur philosophischen Anthropologie von der komplexesten Wirklichkeit aus, die wir kennen und in der wir selbst unmittelbar leben, der seelisch-geistigen, die ihrem Wesen nach stets von ganzheitlichen oder „gestalteten" Systemen handelt. Die seelischgeistigen Ganzheiten werden durch „holistische" Simplifikation zunächst in organismische Ganzheiten, die den Gegenstand der Biologie bilden, simplifiziert. Deren weitergehende holistische Simplifikation ergibt schließlich die physischmechanischen Systeme. Es ist also nicht so, wie Materialismus und Mechanismus lehrten, daß die organisch-seelische Welt nur ein Epiphänomenon zur physikochemischen darstellt, vielmehr ist diese nur eine Simplifikation der organismischen Wirklichkeit. Die größere Wirklichkeitsfülle und Lebensnähe hat die organischseelische Welt, während die physiko-chemische ein immer blasser werdendes Schema von ihr darstellt. Der physikalische Raum z. B. ist nur der invariant gebliebene Inbegriff der vielen spezifisch verschiedenen organismischen Räume, die als solche allein wirkliche und erlebte Räume sind. Entsprechendes gilt von der physikalischen Zeit in ihrem Verhältnis zur biologischen und von den anderen Attributen der physischen Welt. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen für den Aufbau einer theoretischen Biologie, der völlig autonom ohne Hinschielen auf die theoretische Physik vollzogen werden muß, wozu u. a. auch eine neue Mathematik erforderlich ist, da die bisherige allzu eng auf die Bedürfnisse der physikalischen Wissenschaften abgestellt war. Ebenfalls ergeben sich wesentliche Konsequenzen für die Ontologie und Metaphysik, die durch eine Metabiologie ersetzt werden muß. So erfährt das überkommene Verhältnis der primären zu den sekundären, ja tertiären und quartären Qualitäten eine radikale Umwertung. Die Philosophie Berkeleys erscheint in einem neuen Licht, ebenso wie die Welt der platonisch-aristotelischen Ideen eine neue „Realität" gewinnt. (Für das Lexikon verfaßt von Adolf Meyer.) S c h r i f t e n : Logik der Morphologie, 1926. — Ideen u. Ideale der biologischen Erkenntnis, 1934. — Die Axiome der Biologie, 1934. — Krisenepochen u. Wendepunkte des biologischen Denkens, 1935. — Theoretische Grundlagen zum Aufbau einer biologischen Medizin, 1936, gemeinsam mit Karl Koetschau.

Meyer, Eduard, geb. 25. Januar 1855 in Hamburg, gest. 31. August 1930 in Berlin. 1879 Habilitation in Leipzig für alte Geschichte. 1884 a. o. Prof. ebda., 1885 o. Prof. in Breslau, 1889 in Halle, 1902—1923 in Berlin. — Der Historiker M. ist zutiefst überzeugt von der Sonderstellung des Griechentums innerhalb der geschichtlichen und geistigen Wirklichkeit. „Zweifellos bleibt mir, daß die Mathematik als Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken überhaupt ausschließlich eine Schöpfung der Griechen ist, und daß daher jede Wissenschaft, die auf Erden existiert, auf die geistige Bewegung zurückgeht, die sich in der griechischen Welt von der Mitte des 6. bis zum Ausgang des 4. Jhdts. abgespielt hat." Hellenen- und Römertum sieht M. in engster Verflechtung mit Politik und Kultur des vorderen Orients. Als letzte Aufgabe der Geschichte betrachtet er es, „den Einzelfall in seiner historischen Eigenart zu erfassen". Die Geschichte ist vor allem auf die Entwicklungszusammenhänge gerichtet. Eine Theorie der Geschichte kann nur Anthropologie sein. S c h r i f t e n : Gesch. des Altertums, 5 Bde., 1884—1902. — Z. Theorie u. Methodik d. Gesch., 1902. — Kleine Schriften, 2 Bde., 1910—24. — Ursprung u. Gesch. der Mormonen, 1912. — Ursprung u. Anfänge des Christentums, 3 Bde., 1921—23. — Spenglers Untergang des Abendlandes, 1925. — Blüte u. Niedergang des Hellenismus in Asien, 1925.

Meyer, Eduard — Meyerson

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L i t e r a t u r : Schablin, Charlotte, D. Kausalprinzip u. d. Gesch., Diss., Bln. 1928. — E. M. z. Gedächtnis. 2 Reden v. U. Wilcken u. W. Jaeger, 1931. — V. Ehrenberg, in: Hist. Zeitschr., Bd. 143, 1931.

Meyer, Eduard, geb. 25. Januar 1888. Priv.-Doz. an der Handelshochschule Mannheim 1927, an der Universität Heidelberg 1933. S c h r i f t e n : Sein u. Sollen in der Wertphilos., Kantstudien Bd. 34, 1929, S. 97—124. — Nietzsches Wertphiljs. in ihrem strukturpsycholog. Zusammenhang, 1932.

Meyer, Hans, geb. 18. Dezember 1884 in Etzenbach (Niederbayern). Promotion 1906 in Heidelberg, Priv.-Doz. in München 1909. A. o. Prof. ebda. 1915, o. Prof. in Würzburg 1922. — Katholischer Philosoph u. Philosophiehistoriker. S c h r i f t e n : Robert Boyles Naturphilos., 1906. — D. Entwicklungsgedanke bei Aristoteles, 1909. — Z. Psychol. d. Gegenwart, 1909. — Gesch. d. Lehre v. d. Keimkräften v. d. Stoa bis z. Ausgang d. Patristik, 1914. — Natur u. Kunst bei Aristoteles, 1919. — D. Vererbungsproblem bei Aristoteles, 1919. — Piaton u. d. aristotelische Ethik, 1919. — Gesch. d. alten Philos., 1925. — D. Wissenschaftslehre d. Thomas v. Aquin, 2. A. 1934. — Einl, in die Philos., 1934. — Thomas v. Aquin, Bonn 1938. — D. Wesen d. Philos., Bonn 1936. — Hrsg. der „Forschungen z. neueren Philos, u. ihrer Gesch.". L i t e r a t u r : Scholastik, Bd. I, u. Divus Thomas, 1925. — Metaphysik als Wissenschaft, in: Festschr. f. Geyser, 1930.

Meyer, Jürgen Bona, geb. 25. Oktober 1829 in Hamburg, gest. 22. Juni 1897 in Bonn. Priv.-Doz. in Berlin 1862, Prof. in Bonn seit 1868. — Kantianer in. der Richtung von Fries; Schüler Trendelenburgs. S c h r i f t e n : Z. Streit üb. Leib u. Seele, 1856. — D. Idee d. Seelenwanderung, 1861. — Üb. Fichtes Reden an die deutsche Nation, 1862. — Kants Psychologie, 1869. — Philos. Zeitfragen, 1870; 2. Aufl. 1874. — Schopenhauer, 1871; 2. Aufl. 1874. — Weltelend u. Weltschmerz, 1872. — Z. Bildungskampf unserer Zeit, 1875. — Leitfaden z. Gesch. d. Philos., 1882. — Probleme d. Lebensweisheit, 1887.

Meyerson, Émile, geb. 12. Febr. 1859 in Lublin, gest. 2. Dezember 1933 in Paris. Studium der Chemie in Deutschland. Lebte seit 1882 in Frankreich, seit 1889 der Philosophie zugewendet. Der Wissenschaftskritiker M. bekämpft den positivistischen und den pragmatistischen Erkenntnisbegriff als Gegner von Comte und Mach. Bacons Mißachtung der wissenschaftlichen Hypothese erweist er als unberechtigt, gestützt auf chemische Forschung und Forscher. Die wissenschaftliche Arbeit kann ohne vorgefaßte Leitideen (ideés préconçues), ohne Hypothesen nicht zu Ergebnissen gelangen. Ohne Leistungen der Phantasie gibt es keine wissenschaftlichen Entdeckungen, und Erfahrung und Berechnung sind nur ihre Stützen. Apriorische Elemente, Gesetzmäßigkeit und Kausalität, durchsetzen die empirischen, die exakten Wissenschaften. Sie sind nicht Erfahrungsgut, nicht Abspiegelungen der Wirklichkeit, sondern wohnen unserer menschlichen Natur inne. „Das Gesetz, wie die Wissenschaft es in Wirklichkeit versteht, ist eine ideale Konstruktion, ein durch unser Denken umgestaltetes Bild der Ordnung der Natur; es kann also die Wirklichkeit nicht unmittelbar zum Ausdruck bringen, kann ihr nicht adäquat sein: Es existierte nicht, ehe wir es formuliert haben, und es wird nicht mehr existieren, wenn wir es eingeschmolzen haben in ein umfassenderes Gesetz." Auf seinem Grunde ruht das Prinzip der Identität als Wesenskern unseres Denkens. Ohne den Vorgang des Gleichsetzens, des Identifizierens, ist wissenschaftliche Deduktion unmöglich, ohne Deduktion kann es keine wissenschaftliche Erklärung geben. Daraus folgt nach M.s Überzeugung, daß auch in der wissenschaftlichen

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Meysenbug — Michael Psellos

Erklärung ein metaphysischer Bestandteil steckt. Da aber die Erklärung (l'explication) die Wissenschaft beherrscht, so ergibt sich, daß überall in ihr die Metaphysik beheimatet ist. Die Wissenschaft, die durch Identifikation und Deduktion dem menschlichen Drang nach Erklärung genügt, setzt Glauben an die Rationalität der Natur voraus. Ihrem Streben nach Rationalisierung sind aber Grenzen gezogen durch das Irrationale. Irrationales anerkennen heißt zugeben, daß unsere Vernunft die Wirklichkeit nicht voll zu erfassen vermag! denn die Natur ist nicht durch und durch rationell, vernünftig. Zwischen Philosophie und Wissenschaft besteht kein wesentlicher Unterschied. ,,Die Philosophie ist im Grunde die umfassende Fähigkeit, über das Wirkliche Vernunfterwägungen anzustellen, und die Wissenschaft, die daraus hervorgegangen ist, ist nur eine Art besonderer Philosophie" (philosophie particulière). Der Hang zum Philosophieren, das ist das metaphysische Bedürfnis, ist dem Menschen wesenseigen, und treibt wissenschaftliche Begriffe und Gesetze hervor. „Vivere est philosophari". S c h r i f t e n : Identité et réalité, Paris 1908; 4. Aufl. 1932; deutsch 1930. — De l'Explication dans les sciences, Paris 1921; 2. Aufl. 1928, 2 Bde. — La Déduction relativiste, Paris 1925. — Du Cheminement de la pensée, 3 Bde., Paris 1931. — Réel et déterminisme dans la physique quantique, Paris 1933, — Essais, Paris 1936. L i t e r a t u r : Höffding, Harald, E. M.s erk.theoret. Arbeiten, in: Kantstudien Bd. 30 (1925), H. 3—4, S. 484—494. — Metz, Une nouvelle philos, des sciences: Le Causalisme de M. E. M., Paris 1928. — Sée, Henri, Science et philos, d'après la doctrine d'É. M., Paris 1932. — J. Benrubi, Les sources et les courants de la phil. contemporaine en France, Paris 1933, S. 401—424. — T. R. Kelly, Explanation and reality in the philos, of E. M., Princeton 1937.

Meysenbug, Malwida Freiin v., geb. 28. Oktober 1816 in Kassel, gest. 26. April 1903 in Rom. Befreundet mit Richard Wagner und Nietzsche. S c h r i f t e n : Memoiren einer Idealistin, 3 Bde., 1876; 4. Aufl. 1899. — D. Lebensabend einer Idealistin, 1898. — Stimmungsbilder, 1879; 3. Aufl. 1900. — Nietzsche, Ges. Briefe, Bd. 3, 2, 1905. — Briefe von u. an M. v. M., hrsg. v. Berta Schleicher, 1920. — Romain Rolland u. M. v. M., ein Briefwechsel, 1932. — Ges. Werke, 5 Bde., 1922. L i t e r a t u r : Schleicher, Berta, M. v. M., 1916; 3. Aufl. 1922. — Vinant, Gaby, Un esprit cosmopolite au 19e s.: M, de M. Sa vie et ses amis, Paris 1932. — Th. von Reden, Geistgenossen d. Zukunft, Basel 1936. — Wilhelm Treiber, M. v, M. u. d. Erziehungsproblem, Diss., Erlangen 1938.

Mezger, Edmund, geb. 15. Oktober 1883 in Basel. Promotion Tübingen 1908, Dr. iur.; Priv.-Doz. ebda, 1918. A. o, Prof. ebda. 1922, o. Prof. in Marburg 1925, in München 1932. S c h r i f t e n : Der psychiatr. Sachverständige, 1918. — Sein u. Sollen im Recht, 1920. — Persönlichkeit u. strafrechtl. Zurechnung; Grenzfragen des Nerven- u. Seelenlebens, 1926. — Strafrecht, 1931. — Schuld u. Persönlichkeit, 1932. — Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage, 1934. — Literaturbericht im „Gerichtssaal" üb. Rechtsphilos. u, Soziologie.

Michael Psellos (der „Stotterer"), geb. 1018 in Konstantinopel, gest. 1078 oder 1096 ebda. Byzantinischer Philosoph, Anhänger Piatons. S c h r i f t e n : Kommentare zu Piaton, Aristoteles u. Porphyr. — Werke: Migne, Patrologia graeca, Bd. 122. Literatur C. Zervos, Un philosophe néoplat, du Xle siècle, Paris 1920.

Michael Scottus — Michelet

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Michael Scottus, gest. etwa 1235. M. erhielt seine Ausbildung in Oxford und Paris und lebte dann in Toledo. Er veranlaßte durch seine Übersetzung (1217) der astronomischen Schrift des Alpetragius die Auseinandersetzimg zwischen den Systemen des Aristoteles und des Ptolemäus, die zugunsten des ptolemäischen Systems entschieden wurde. M. wirkte als Übersetzer. Er übertrug die Aristoteleskommentare des Averroes zu De caelo und De anima in das Lateinische. L i t e r a t u r : P. Duhem, Le système du monde III, 241—248, Paris 1913ff. — Ch. H. Haskins, Studies in the history of mediaeval science, Cambridge 1924, 272—298.

Michailowsky, Nikolai Konstantinovich, geb. 27. November 1842 in Meschtschowsk (Gouv. Kaluga), gest. 9. Februar 1904 in Petersburg, Russischer Soziologe und Schriftsteller. M. vertritt einen ausgeprägten Individualismus, bekämpft den Marxismus und untersucht bereits vor Tarde die Erscheinungen der Suggestion und Nachahmung und den Einfluß der großen Persönlichkeit auf die Masse. Politisch begründet M. die Theorie der „Sozialrevolutionäre". S c h r i f t e n : Was heißt Fortschritt, 1869. — Qu'est-ce-que le progrès? Paris 1897. — Die Theorie Darwins u. die Soziologie, 1870. — Der Kampf um die Individualität, 1875—76. — Ein grausames Talent (Dostojewsky), 1882. — Ges. Werke, 10 Bde., hrsg. v. E. Kolosov, 4. Aufl., Petersburg 1908—14. — Literarische Erinnerungen, 1909. L i t e r a t u r : E. Frangian, N. K. M. als Soziologe u. Philos., 1913. — Masaryk, T. G., Zur russ. Gesch.- u. Religionsphilos., 2 Bde., 1913. — Hecker, Julius F., Russian Sociology, New York 1915; 2. Teil, Kap. 2. — Brüllow-Schaskolsky, Ein Kapitel aus d. Gesch. d. russ. Soziologie, in: Zeitschr. f. Völkerpsychol. u. Soziologie, Bd. 6, 1930; S. 144—165.

Michaltschew, Dimitri, geb. 1881 in Losengrad. Bulgarischer Diplomat. Prof. der Philosophie in Sofia. Schüler von Rehmke. S c h r i f t e n : Philosoph. Studien, 1909.

Michel, Ernst, geb. 7. April 1889 in Klein-Welzheim a. M. Dr. phil. in Heidelberg 1912, Dozent an der Akademie der Arbeit in Frankfurt a. M. 1921, 1931 Prof. ebda. Katholischer Sozialphilosoph. S c h r i f t e n : D. Weg zum Mythos, 1919. — Weltanschauung u. Naturdeutung, Vorlesungen üb. Goethes Naturanschauung, 1920. — D. Tragik des orphischen Dichters, geistesgesch. Versuch üb. Hölderlin, 1920, 2. Aufl. 1921. — Erkenntnis oder Offenbarung höherer Welten? Streitschrift wider Rudolf Steiner, 1922. — Kirche u. Wirklichkeit, 1923. — Zur Grundlegung e. kathol. Politik, 1923, 2. Aufl. 1924. — Politik aus d. Glauben, 1926. — Demokratie zwischen Gesellschaft u. Volksordnung, 1928. — Industrielle Arbeitsordnung, 1932. — Von d. kirchl. Sendung der Laien, 1934. — Echte Überwindg. des Liberalismus, 1935. — D. moderne Ehe, Mainz 1937. — A. Kolping, Limburg 1938. — Lebensverantwortung aus kathol. Glauben, Berlin 1937. — Sozialgesch. d. mod. Arbeitswelt, Limburg 1937. — Renovatio. Zur Zwiesprache zwischen Kirche u. Welt, 1947. — Ehe. Eine Anthropologie der Geschlechtsgemeinschaft, 1948.

Michelet, Karl Ludwig, geb. 4. Dezember 1801 in Berlin, gest. 16. Dezember 1893 ebda. 1825 Lehrer am Französischen Gymnasium in Berlin, 1826 Habilitation, 1829 a. o. Professor ebda. — M. ist ein getreuer Anhänger Hegels und gehört der mittleren Richtung innerhalb der Hegelschule an. Für die Verbreitung der Gedanken Hegels tritt M. in mehrfacher Art ein: durch Darstellung des Systems und seiner Anwendungsmöglichkedten in zahlreichen Schriften zu allen philosophischen Einzelgebieten; durch Begründung der Philosophischen Gesellschaft in Berlin 1843, zusammen mit dem polnischen Hegelanhänger Graf von Cieszkowski, sowie durch Herausgabe ihrer Zeitschrift „Der Gedanke", Band 1—9, 1860 bis 1884. In seinem Werk „Das System der Philosophie als exakter Wissenschaft" hat M. sich das Ziel gesetzt, die empirischen Wissenschaften dem Bereich der spekulativen Philosophie zu unterwerfen.

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Michelis — Milhaud

S c h r i f t e n : D. Ethik d. Aristoteles, 1827. — System d. philos. Moral, 1828. — Examen critique de l'ouvrage d'Aristote, intitulé Métaphysique, Paris 1836. — Gesch. d. letzten Systeme d. Philos, in Deutschland von Kant bis Hegel, 2 Bde., 1837—38. — Anthropologie u. Psychologie, 1840. — Vorlesungen üb. d. Persönlichkeit Gottes u. d. Unsterblichkeit d. Seele, 1841. — Entwicklungsgesch. d. neuesten deutschen Philos., 1843. — Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes, 3 Bde., 1844—52. — Esquisse de Logique, Paris 1856. — Die Gesch. der Menschheit in ihrem Entwicklungsgang seit 1775, 2 Bde., 1859—60. — Naturrecht oder Rechtsphilos. als d. prakt. Philos., 2 Bde., 1866. — Hegel, der unwiderlegte Weltphilosoph, 1870. — Hegel u. der Empirismus, 1873, — Das System der Philos, als exakter Wissenschaft, 4 Tie. in 5 Bdn., 1876—81. — Wahrheit aus meinem Leben, 1884. — Histor.-krit. Darstellung der dialekt. Methode Hegels, 1888. — Mithrsg. von Hegels Werken, 1832—42. L i t e r a t u r : Schriftenverzeichnis in: 8 Abhandl., M. z. 90. Geburtstag dargebracht, 1892. — E. H. Schmitt, M. u. das Geheimnis der Hegeischen Dialektik, 1888. — Pasquale d'Ercole, C. L. M. e l'Hegelianismo, in: Riv. Ital. di Filosofia, IX, 1894.

Michelis, Friedrich, geb. 27. Juli 1815 in Münster, gest. 28. Mai 1886 in Freiburg i. Br. Prof. in Paderborn und Braunsberg, zuletzt Pfarrer der altkatholischen Gemeinde in Freiburg i. Br., nachdem er 1871 vom Bischof von Ermland wegen Bekämpfung des Unfehlbarkeitsdogmas exkommuniziert worden war. — M. hat den scholastischen Standpunkt der katholischen Philosophie auf den verschiedensten philosophischen Gebieten gegen andersgerichtete Strömungen und neu entstehende Gegensätze verteidigt. Er war Feind des Materialismus und Gegner Darwins. In seiner Bewußtseinslehre suchte er der Überlieferung gegenüber selbständig seinen Weg. S c h r i f t e n : Kritik der Güntherschen Philos., 1854. — Der Materialismus als Köhlerglaube, 1856. — Die Philos. Piatons in ihrer inneren Bez. zur geoffenbarten Wahrheit, 2 Bde., 1859—60. — Die Philosophie des Bewußtseins, 1877. — Kathol. Dogmatik, 1881. — Antidarwinismus, 1886. L i t e r a t u r : Arnold Kowalewski, Die Philos, des Bewußtseins von F. M. u. ihre Bedeutung f. d. Philos, überhaupt, 1898.

Michelitsch, Anton, geb. 25. Mai 1865 in Aibl bei Eibiswald (Steiermark). Dr. phil. et theol. 1888 und 1892 an der Gregorianischen Universität in Rom, 1896 Prof. der thomistischen Philosophie und Apologetik an der Univ. Graz. Vertreter des Thomismus. S c h r i f t e n : Atomismus, Hylemorphismus u. Naturwissenschaft, 1897. — Häckelismus u. Darwinismus, 1900. — Apologetica sive Theologia fundamentalis, 1900—1904, 3. Aufl. 1925. — Einl. in die Erkenntnislehre 1910, 2. Aufl. 1923. — Naturphilosophie, 1922, 2. Aufl. 1923. — Metaphysik, 1922. — Allg. Religionsgesch., 1930. — Gesch. d. Philos., 2 Bde., 1932/33.

Milhaud, Gaston, 1858 bis 1918. Prof. der Mathematik am Lyzeum in Montpellier. Die philosophische Arbeit des Mathematikers M. gilt der Wissenschaftskritik, der Geschichte der Philosophie und der Geschichte der mathematischen Wissenschaften. Er ist Gegner des Empirismus und vor allem des Positivismus Comtes. Er will ihn überwinden durch den Nachweis, daß die Tätigkeit des Geistes von grundlegender Bedeutung für den Aufbau der Wissenschaft ist. Weder der moderne Mensch noch die moderne Wissenschaft können bestehen ohne die Überzeugung, daß alle Wirklichkeit dem schöpferischen Tun unseres Denkens entspringt. Ein viertes Stadium ist der theologischen, metaphysischen iind positiven Phase Comtes gefolgt: das Stadium der „Innerlichkeit" (l'état d'intériorité), der Interiorismus (l'intériorisme). Es ist ausgezeichnet durch die Spon-

Mill, James

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taneität des inneren Lebens der Seele. Auf den Gebieten der Ethik, des Gemeinschaftslebens, der Religion wird dieser Zustand offenkundig. Er bestimmt auch die exakten Wissenschaften. All unser Erkennen, auch das wissenschaftliche, ist subjektiv. Der Geist selber bildet die Ideen. Sein Anteil an den wissenschaftlichen Begriffen und Gesetzen tritt zutage, wenn man das einzelwissenschaftliche Verfahren auf logische Strenge und Gewißheit des Ergebnisses prüft. Selbst die Anwendung reiner Mathematik bei Bearbeitung der physischen Welt führt über Fiktionen nicht hinaus, und in den sogenannten Naturgesetzen spielen sie eine Rolle. Diese Fiktionen sind die Sprache, mit der wir die Erscheinungen erfassen. Aber zwischen ihnein und den Erscheinungen besteht keine notwendige Verknüpfung. So ist unser Geist, unser Denken auch an den Naturgesetzen schaffend beteiligt, und nur was er selbst mit hervorgebracht hat, kann logische Gewißheit besitzen. Niemals kommt logische Gewißheit der bloßen „Erfahrung" oder den Erscheinungen selbst zu. Was Beobachtung und Experiment ihm bieten, benutzt der Geist zur Bildung von Begriffen und Gesetzen, die der Vervollkommnung der Wissenschaft dienen. „So verwirklicht sich auf den Parallelwegen der Erfahrung und der Idee ein doppelter unabgeschlossener Fortschritt; so gestaltet sich — u n d wird sich immer ohne Abschluß gestalten — die Wissenschaft." Wer sie dem Zwang des Determinismus unterwerfen will, wie Bacon und Comte, wer ihr nicht das Recht zu den Zufälligkeiten schöpferischen geistigen Tuns zubilligt, der legt sie lahm. Ohne „Idole" und „Chimären", wie den Begriff der Anziehungskraft, der Kraft, des Unendlichen usw., kann die moderne Wisseinschaft nicht auskommen. „Es bleibt in den Grundsätzen, in den Definitionen, die der Gelehrte bildet, in den Postulaten, über denen sich unaufhörlich das Gebäude der theoretischen Wissenschaft erhebt, es bleibt etwas, das das Gegebene übertrifft, das transzendent ist in Beziehung auf vergangene Erfahrung, und selbst in Beziehung auf jede zukünftige Erfahrung, und das sich nur erklärt durch eine gewisse Dosis von schöpferischer Freiheit, von Wahl, von willensmäßiger und selbsttätiger Entschließung in dem Geist, der sie aufstellt." S c h r i f t e n : Leçons sur l'origine de la science grecque, Paris 1893. — Essais sur les conditions et les limites de la certitude logique, Paris 1894; 2. Aufl. 1898. — Le Rationel, Paris 1898. — Les philosophes géomètres de la Grèce, Paris 1900. — Le Positivisme et le progrès de l'esprit, Études critiques sur Auguste Comte, Paris 1902. — Ëtudes sur la pensée scientifique chez les Grecs et chez les modernes, Paris 1906. — Nouvelles études sur l'histoire de la pensée scientifique, Paris 1911. — Descartes savant, Paris 1921. — La connaissance mathématique et l'idéalisme transcendental, in: Revue de mét. et de morale, XII, 1904. L i t e r a t u r : F. Goblot, G. M., in: Isis, Juni 1921. — J. Benrubi, Les sources et les courants de la philosophie contemporaine en France, Paris 1933, S. 392—401.

Mill, James, geb. 6. April 1773 in Northwaterbridge (Schottland), gest. 23. Juni 1836 in Kensington. Studierte Theologie in Edinburg. — Im Anschluß an Hume und Hartley entwickelt M. eine Assoziationspsychologie. Assoziation ist der grundlegende seelische Vorgang. Alle Assoziation ist zuletzt Assoziation durch Kontiguität (Berührung). In seinen ethischen Anschauungen ist M. von Bentham beeinflußt, in seinen volkswirtschaftlichen Lehren von Adam Smith und Ricardo abhängig. S c h r i f t e n : History of British India, 6 Bde., 1818—19, neue Ausg., 10 Bde., 1872. — Elements of Politicai Economy, 1821, neue Ausg. 1846. — Analysis of the Phenomena of the Human Mind, 1829, neue Ausg., 2 Bde., 1869 u. 1878. — A Fragment on Mackintosh, 1835, 1870. — The Principles of Toleration, 1837. Philosophen-Lexikon

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Mill, John Stuart

L i t e r a t u r : A. Bain, J . M., 2. Aufl., 1887. — Ressler, Anny, D. beiden M., Diss., Köln 1929. — Seikritt, Walter, Die dogmenhistor. Stellung von J , M. in der engl. Volkswirtschaftslehre, Diss., Frankfurt 1936.

Mill, John Stuart, geb. 20. Mai 1806 in London, gest. 8. Mai 1873 in Avignon. Sohn des J a m e s M. 1866 bis 1868 Mitglied des Unterhauses, M. gibt auf der Grundlage der Assoziationspsychologie eine Analyse des Erkennens in seinem Fortschreiten durch Induktion. Die Erkenntnis beruht auf sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung der innerpsychischen Zustände. Sie geht in Schlüssen über diese hinaus. Das Schließen beruht darauf, daß gewisse Erfahrungen sich häufig vollziehen und das Denken von ihnen aus zu einer allgemeinen Formulierung weiterschreitet. Dabei wird vorausgesetzt, daß der Gang der Natur gleichförmig ist, d. h. daß die Aufeinanderfolge und Verknüpfung der Erscheinungen sich immer wieder in der Weise vollzieht, in der sie sich bisher der Erfahrung dargeboten hat. Der Grundsatz der Gleichförmigkeit des Naturverlaufs ist also die Voraussetzung dafür, daß Erkenntnis möglich ist. Er selbst ist wiederum aus der Erfahrung gewonnen. Das Erkennen hat bei der häufigen Aufzählung seiner Einzelerfahrungen sich daran gewöhnt, die Ideen in einer Weise zu verknüpfen, die eine Gleichförmigkeit des Geschehens wiedergibt. E s sind unzählige Fälle erfahren worden, in denen sich das Recht zu dieser Verknüpfungsweise bewährt hat, während kein einziger dagegen spricht. Daraus folgt, daß man das Prinzip der Gleichförmigkeit des Naturverlaufs einführen darf, um die Aufzählung der einzelnen Fälle durch einen Schluß (Induktion) vom Einzelnen auf ein Allgemeines zu ersetzen. Die Wirklichkeit selbst stellt sich für diesen Standpunkt als das Verharren konstanter Wahrnehmungsmöglichkeiten dar; „Wahrnehmungsmöglichkeit" bedeutet, daß eine Wahrnehmung unter gewissen Bedingungen eintreten kann. Beständig ist an ihr die Verknüpfung gewisser Bedingungen mit der Tatsache ihres Eintretens. Objekte als Gruppen einzelner Empfindungen sind Wahrnehmungsmöglichkeiten. Eine Garantie für ihre Existenz außerhalb der Wahrnehmung besteht nicht. In seiner Ethik und Politik ist M. Vertreter des Freiheitsgedankens und des Utilitarismus. S c h r i f t e n : A System of Logic, Ratiocinative and Inductive, 2 Bde., Lond. 1843, 9. Aufl. 1875, deutsch 1849, 4. Aufl. 1877. — Essays on Some Unsettled Questions of Political Economy, Lond. 1844; 2. Aufl. 1874. — Principles of Political Economy, 2 Bde., Lond. 1848, neu hrsg. v. Ashley, 1909, deutsch 1913 ff. — Essay on Liberty, Lond. 1859, 3. Aufl. 1864; deutsch Reclams Univ.-Bibl., 1896. — Dissertations and Discussions, Political, Philosophical and Historical, 4 Bde., Lond. 1859, 2. Aufl. 1874. — Considerations on Representative Government, Lond. 1861, 3. Aufl. 1865. — On Utilitarianism, Lond. 1863, 2. Aufl. 1864. — An Examination of Sir William Hamilton's Philos., Lond. 1865, 5. Aufl. 1878; deutsch 1908. — Auguste Comte and Positivism, Lond. 1865, 3. Aufl. 1882. — The Subjection of Women, Lond. 1869, neu hrsg. v. St. Coit, 1906, deutsch 3. Aufl. 1891. — Nature, the Utility of Religion and Theism, 1874, 3. Aufl. 1885; deutsch 1875. — Autobiography, 1873; hrsg. v. J . J . Coss, New York 1924; hrsg. v. Harold J . Laski, London 1924; deutsch 1874. — Letters of J . St. M., hrsg. v. Hugh G. R. Elliot, 2 Bde., Lond. 1910. — Ges. Werke, deutsch hrsg. v. Th. Gomperz, 12 Bde., 1869—80. L i t e r a t u r : A. Bain, J . St. M„ 1882. — S. Saenger, J . St. M. Leben u. Lebenswerk, 1901. — E. M. Kantzer, La religion de M., Diss., Caen 1906. — E. Thieme, M.s Sozialethik, Diss., Leipzig 1910, — S. Saenger, J . St. M., 1911. — E. E. Neff, Carlyle and M., London, 2. A. 1926. — E. Wentscher, D. Problem des Empirismus, 1922. — B, Alexander, J . St. M. u. d. Empirismus, 1927. — Schauchet, Pauline, Individualist, u. sozialist. Gedanken in den Lehren J . St. M.s, Diss., Gießen 1926. — G. Kennedy, The Psychological Empirism of J . St. M., Amsterd. 1928. — Hertel, Rudolf, D. Erklärung d. Krisen bei J . St. M. u, Marx, Diss., Köln 1928. — Ressler, Anny, Die beiden Mills, Diss., Köln 1929. — Roerig, Franziska, D. Wandlungen in der geistigen Grundhaltung J . St. M.s, Köln

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Miltiades — Minucius

1930. — M. A. Hamilton, J . St. M., London 1933. — Hippler, Fritz, Staat u. Gesellschaft bei M., 1934. — Whittaker, Thomas, Reason, Cambridge 1934. — Levin, Rudolf, D. Geschichtsbegriff des Positivismus unter bes. Berücks. M.s, Diss., Leipzig 1935. — Natalie Grude-Öettli, J . St, M. zwischen Liberalismus u. Sozialismus, Diss., Zürich 1936. — G. Morl an, America's Heritage from J . St. M., N. Y. 1936.

Miltiades. Etwa um 165 n. Chr. Christlicher Rhetor und Apologet. L i t e r a t u r : J . C. Th. de Otto, Corp. apolog. 9, 1872, 364—373.

Milton, John, geb. 9. Dezember 1608 in London, gest. 8. November 1674 in ßunhill (London). Der englische Dichter M., der Verfasser des Paradise Lost, setzt sich für persönliche Freiheit im Sinne der Renaissance ein und bekämpft jede Unterdrückung der Wahrheit. S c h r i f t e n : Werke, krit. Ausg. v. Frank A, Patterson, 18 Bde., 1931 ff, — Prosaic Works, u. a. v. Fletcher, 1833; v. St. John, 5 Bde., 1848—53. — Polit. Hauptschriften, übers, v. Bernhardi, 3 Bde., 1871—79. — Of Reformation Touching Church Discipline in England, 1641. — Doctrine and Discipline of Divorce, 1643. — Areopagitica, 1644. — Education, 1644. — The Tenure of Kings and Magistrates, 1649. — Eikonoklastes, 1649. — Pro populo anglicano defensio, 1651. — Defensio secunda, 1654. — Private Correspondence and Academic Exercises, 1932, aus dem Lat. übers, v, Tillyard. L i t e r a t u r : Bibliographien v. Hanford, 1926; H. F. Fletcher, 1931; Stevens, 1931. — D. Masson, M.-Biogr., 7 Bde., London 1859—94. — Stern, Alfred, M. u. seine Zeit, 2 Bde., 1877. — Treitschke, Hist, u, polit. Aufsätze, Bd. 1, 1865. — Macaulay, Essays, 1851. — Laurat, Denis, M., Man and Thinker, New York 1924; M. et le matérialisme chrétien en Angleterre, Paris 1928. — Freund, Michael, Die Idee der Toleranz im England d. großen Revolution, in: Dtsche. Vierteljahrsschr. f. Lit.-wiss. u. Geistesgesch., Buchreihe Bd. XII, 1927; S. 145—202. — Hanford, J a m e s Holly, J . M. Handbook, Lond. 1927. — Wilde, Hans Oskar, M.s geistesgeschichtl. Bedeutung 1933; in: German Bibl., Abt. 1., Reihe 2, Bd. 1. — Reck, Josef, D. Prinzip d, Freiheit bei M., Diss., Erlangen 1931. — Hesse, Ernst, J . M.s mystisch-theist. Weltbild, Diss., Leipzig 1934. — G. Hardeland, M.s Anschauungen von Staat, Kirche, Toleranz, 1934. — W. E. Gilman, M.s Rhetoric, Columbia 1939. — Kreter, Herbert, Bildungs- u. Erziehungsideale bei M., Diss., Göttingen 1938.

Minucius Felix, Marcus, lebte um 170 n. Chr. Römischer Rechtsanwalt, Apologet des Christentums. — In seiner als philosophisches Gespräch geschriebenen Abhandlung „Octavius" betont M. in Übereinstimmung mit der christlichen Lehre die Einheit Gottes, der unendlich, allmächtig und ewig ist. Der Mensch vermag mit seiner Ratio die Ordnung der Natur zu erfassen, und da alles im Universum auf mannigfache Weise verflochten ist, so kann Gotteserkenntnis bis zu einem hohen Grade gewonnen werden. M. wendet sich nicht gegen die heidnischgriechische Philosophie, aus der er selbst seine Bildung geschöpft hatte; er hat die Überzeugung, daß die Christen Philosophen sind oder die Philosophen schon Christen, weil beiden die Einheit Gottes gewiß ist. M. vertritt das Dogma von der Auferstehung des Leibes, weil er die Lehre von der Unsterblichkit der Seele nur für die halbe Wahrheit hält. Unter dem Einfluß seiner hellenistischen Bildung stellt er die Humanität des Christentums in den Vordergrund; das Christentum ist die Religion reiner Menschlichkeit. S c h r i f t e n : J . P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 3, Paris; Lpz. 1912 (Teubner), — Übers, v. A. Müller, Bibl. d. Kirchenväter, Bd. 14, 2. Aufl., 1913. L i t e r a t u r : Kühn, Richard, D. Octavius des M. F., eine heidnisch-philosoph. Auffassung v. Christentum, 1882. — J . P. Waltzing, Studia Minuciana, Louvain 1907. — A. Elter, Prolegom. zu M. F., Bonn 1909, Pr. — C. Synnerberg, D. neust Beitr. z. Minuciuslit., 1914. — Heikel, Einar, Quae inter Minucium Tertullianumque ratio interceEserit, Helsingforsiae 1919; in: Annales academicae scientiarum Fennicae, Ser. B., Tom. u

Mirandola — Mocenigo

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11, 1. — G. Meyer, Zu M. F. u. Tertullian, Philol. 82 (1926), 67—83. — Baylis, Harry James, M. F. and his place among the early fathers of the Latin church, London 1928. — Berge, Reinhold, Exeget. Bemerkungen z. Dämonenauffassung des M. F., Diss., Freiburg i. B. 1929. — J . Schmidt, M. F. oder Tertullian? 1932. — Rudolf Beutler, Philosophie u. Apologie bei M. F., Diss., Königsberg 1936. — A. D. Simpson, M. F., Diss., Columbia, N. Y. 1938. — L. Alfonsi, Appunti sull' Octavius di M. F., 1942. Mirandola, s. Pico. Mirbt, E r n s t Sigismund, 1799 bis 1847. Prof. in J e n a , A n h ä n g e r d e r F r i e s s c h e n Philosophie. S c h r i f t e n : Was heißt Philosophieren u. was ist Philos.? 1839. — Kant u. s. Nachfolger I, 1841. Misch, G e o r g , geb. 5. A p r i i 1878 in Berlin, Dr. phil. 1899, Priv.-Doz. d e r Philos o p h i e in Berlin 1905, a. o. Prof. in M a r b u r g 1911, in G ö t t i n g e n 1916, o. Prof. ebda. 1919. S c h ü l e r Diltheys. V e r t r e t e r einer Lebensphilosophie. S c h r i f t e n : Zur Entstehung d, französ. Positivismus, 1900. — Gesch. d. Autobiographie, I. Bd., Altertum, 1907; 3. Aufl. 1949. — V. d. Gestaltungen d. Persönlichkeit, in: Weltanschauung, 1910. — Der Weg in die Philos., 1926. — Lebensphilos. u. Phaenomenologie, 1930; 2. Aufl. 1931. — Die Idee der Lebensphilos. in der Theorie der Geisteswissenschaften, in: Kantstud. Bd. 31 (1926), S. 536—548. — Vom Lebens- u. Gedankenkreis Wilhelm Diltheys, 1947. — Hrsg. v. Diltheys Ges. Schriften, 1914—32; v. Lotzes Logik, 1913. L i t e r a t u r : Festschrift für G. M. zum 70. Geb., 1948 (mit Schriftenverz.). Mises, R i c h a r d E d l e r von, geb. 19. A p r i l 1883 in L e m b e r g . M a t h e m a t i k - P r o f e s s o r 1908—18 a n d e r U n i v e r s i t ä t S t r a ß b u r g , 1919—20 an d e r T e c h n i s c h e n H o c h schule D r e s d e n , 1920—33 a n d e r U n i v e r s i t ä t Berlin, 1933 in I s t a m b u l . — D e r M a t h e m a t i k e r v. M. h a t die p h i l o s o p h i s c h e P r o b l e m a t i k g e f ö r d e r t d u r c h s e i n e Untersuchungen über den Wahrscheinlichkeitsbegriff. S c h r i f t e n : Wahrscheinlichkeit, Statistik u. Wahrheit, Wien 1928; 2. Aufl. 1936. — Vorl. aus d. Gebiete der angewandten Mathematik, Bd. I, 1931. — Wahrscheinlichkeitsrechnung, 1931. — Naturwiss. u. Technik d. Ggwt., 1932. — Hrsgbr, d. Zeitschrift f. angewandte Mathematik (seit 1921). — Kleines Lehrb. d. Positivismus, Den Haag 1939. Mnesarchos a u s A t h e n . S c h ü l e r d e s M i t t e l s t o i k e r s P a n a i t i o s v o n R h o d o s u n d mit D a r d a n o s d e s s e n N a c h f o l g e r in d e r Schulleitung. Möbius, P a u l Julius, geb. 24. J a n u a r 1853 in Leipzig, gest. 8. J a n u a r 1907 e b d a . A n h ä n g e r F e c h n e r s . D e r N e r v e n a r z t M. sucht die p a t h o l o g i s c h e n E r s c h e i n u n g e n b e i b e d e u t e n d e n M ä n n e r n zu e n t r ä t s e l n u n d b e g r ü n d e t als D a r s t e l l u n g s a r t f ü r ihre L e b e n s g e s c h i c h t e a n Stelle d e r B i o g r a p h i e d i e P a t h o g r a p h i e , d i e alle k r a n k h a f t e n P h ä n o m e n e in K ö r p e r u n d S e e l e m i t b e r ü c k s i c h t i g t . S c h r i f t e n : Ausgewählte Werke, 8 Bde., hrsg. v. Jentsch, 1903—07. — J . J. Rousseaus Krankheitsgesch., 1889. — Üb. d. Pathologische bei Goethe, 1898. — Vermischte Aufsätze, 1898. — Üb. Schopenhauer, 1899. — Üb. d. Anlage z. Mathematik, 1900. — Stachyologie, 1901. — Üb. Kunst u. Künstler, 1901. — Üb. d. physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1900, 10. Aufl. 1912. — Üb. d. Pathologische bei Nietzsche, 1902. — Die Hoffnungslosigkeit aller Psychol., 1906, 2. Aufl. 1907. — Beiträge z. Lehre v. d. Geschlechtsunterschieden, 1903 f. L i t e r a t u r : Lorenz, M. als Philosoph, 1900. Mocenigo, A n d r e a , geb. 11. A p r i l 1524 in Venedig, gest. 1586(7). L i t e r a t u r : Dyroff, Adolf, Üb. Fr. Bacons Vorläufer (M.), 1916, in: Renaissance u. Philos., H. 13.

Moede — Moleschott

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Moede, Walther, geb. 3. September 1888 in Sorau. Priv.-Doz. an der Technischen Hochschule Berlin 1919, a. o. Prof. ebda. 1921, Universität Berlin 1935. — Psychologe und Psychotechniker. S c h r i f t e n : Gem. mit Piorkowski u. Georg Wolff, Die Berliner Begabtenschulen, 1918. — Die Experimentalpsychol. im Dienste d. Wirtschaftslebens, 1919. — Experimentelle Massenpsychol., 1920. — Aufgaben u. Leistungen d. psychotechn. Eignungsprüfungen, 1926. — Lehrbuch d. Psychotechnik, Bd. 1, 1930. — Konsumpsychologie, 1933. — Arbeitstechnik. Die Arbeitskraft, 1935. — Eignungsprüfung u. Arbeitseinsatz, Stuttgart 1943. — Hrsg.: Industr. Psychotechnik, 1924 S.

Moderatos aus Gades, lebte im 1. Jahrh. n. Chr. Neupythagoreer. M. behauptete, daß die alten Pythagoreer die Zahlen zur Darstellung der höchsten Wahrheiten darum benutzten, weil diese schwierigen Einsichten sich überhaupt nicht anders ausdrücken ließen. Auf diese Weise deutete er die Zahlenmystik der Altpythagoreer als Sprache in Symbolen. Die Zahl Eins bedeutet Einheit und Identität, ferner Grundlage der Harmonie und der Erhaltung der Dinge, während die Zwei Symbol für alles der Eins Entgegengesetzte ist.

L i t e r a t u r : Porphyr. Vit. Pyth. Simpl. zur Aristot. Physik. — Stob. Eccl. — Fr. Bücheler, Rh. Mus. 37 (1882), 335 f.

Mohammed, geb. um 570 in Mekka, gest. 8. Juni 632 in Medina. Durch seine im Koran niedergelegten Lehren Religionsstifter des Islam. L i t e r a t u r : Horten, Max, D. Philos. d. Islam, 1924; in: Gesch. d. Philos. in Einzeldarstellungen, Abt. 1, Bd. 4. — Buhl, Frants, M.s Life, 1903; deutsch v. Hans Heinrich Schaeder, 1930. — Andrae, Tor, M. S. Leben u. s. Glaube, 1918; dtsch. 1932. — Mikusch, Dagobert v„ M., Tragoedie d. Erfolges, 1932. — Essad-Bey, M., 1932. — Karl Ahrens, M. als Religionsstifter, Leipzig 1935. — E. Dinet u. El Hadj Slimen Ben Ibrahim, Vie de M., Paris 1937. — H. Pirenne, M. et Charlemagne, Paris 1937.

Moleschott, Jakob, geb. 9. August 1822 zu Herzogenbusch, gest. 20. Mai 1893 in Rom. Studium der Medizin in Heidelberg, Arzt in Utrecht; Habilitation für Physiologie und Anthropologie in Heidelberg 1847, Seiner materialistischen Anschauung wegen geriet M. in Schwierigkeiten mit dem Ministerium und zog sich 1854 vom Lehramt zurück. 1856 Prof. der Physiologie in Zürich, 1861 in Turin, 1879 in Rom. M. gehört zu den Naturforschern des 19. Jahrhunderts, die in Reaktion auf die Überbetonung des Geistes in den spekulativen Systemen die gesamte Wirklichkeit aus körperlicher Materie herleiten und alles Geschehen in der Welt aus Bewegung erklären. Die einzige Quelle für unser Wissen ist die Erfahrung. Wir erkennen die Dinge und ihre Eigenschaften aus ihrer Wirkung auf unsre Sinne. Zu den allgemeinen Eigenschaften der Materie gehört ihre Bewegungsfähigkeit und gehört die Kraft. ,,Sie ist des Stoffes unzertrennliche, ihm von Ewigkeit innewohnende Eigenschaft"; daher ,,kein Stoff ohne Kraft. Aber auch keine Kraft ohne Stoff." Eine besondere Lebenskraft existiert nicht. An den Stoff sind auch die seelischen Vorgänge gebunden; Denken ist als Gehirnbewegung eine „unzertrennliche Eigenschaft des Gehirns", und Wille wird erklärt als der „notwendige Ausfluß eines durch äußere Einwirkungen bedingten Zustandes des Gehirns". M.s mechanistische und materialistische Anschauungen gewannen eine Zeitlang starke Ausbreitung, auch außerhalb der reinen Wissenschaft. — M. ist nicht unbeeinflußt von Ludwig Feuerbach, den er in Heidelberg persönlich kennengelernt hatte.

S c h r i f t e n : Physiologie des Stoffwechsels in Pflanzen u. Tieren, 1851. — Der Kreislauf des Lebens, 1852; 5. Aufl., 2 Bde., 1875—86. — Licht u. Leben, 1856. — Die

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Molitor — Moeller van den Bruck

Einheit des Lebens, 1864. — Physiolog. Skizzenbuch, 1861. — Für meine Freunde, Lebenserinnerungen, 1894. — Hrsgb.: Untersuchungen z. Naturlehre des Menschen u. d, Tiere, 17 Bde., 1857 ff.

Molitor, Joseph Franz, geb. 8. Juni 1779 in Oberursel, gest. 23. März 1860 in Frankfurt a. M. Ursprünglich von Schelling, Görres und F. v. Schlegel, später von Baader beeinflußt. — M. vertritt die Auffassung, daß die Kabbala auch für die christliche Kirche Wert besitzt, weil aas der von ihr erzeugten Mystik eine christliche Philosophie im wahren Sinne hervorgehen kann.

S c h r i f t e n : Ideen zu einer künft. Dynamik d. Gesch., 1805. — Üb. d. Wendepunkt des Antiken u. Modernen, 1805. — Üb. d. Philos. der modernen Welt, 1806. — Philos. d. Gesch. od. üb. d. Tradition, 1. Bd. 1824, vollständ. umgearbeit. 1855; 2. Bd. 1834; 3. Bd. 1839; 4. Bd., I Abt., 1853. L i t e r a t u r : C. Frankenstein, M.s metaphys. Geschichtsphilos., Diss., Erlangen 1928.

Moeller van den Bruck, Arthur, geb. 23. April 1876 in Solingen, gest. 27. Mai 1925 in Berlin. Philosophischer Vertreter eines konservativen Sozialismus und ethischen Nationalismus. M. v. d. Br. ringt in seiner Menschengeschichte, in seiner Völkerbetrachtung und in seiner Zeitkritik um eine Erkenntnis vom Wesen des Deutschen und um eine Erfassung der Wesensmerkmale des Preußischen. Aus seiner Einsicht in die Eigentümlichkeit deutscher Geistesart im Vergleich zur Geistigkeit anderer Völker gestaltet er ein Bild der politischen Zukunft Deutschlands, die nach der Werdung einer deutschen Nation erst der Eigenart des Deutschen zur Verwirklichung verhelfen soll. In einem Dritten Reich wird die deutsche Sehnsucht Gestalt gewinnen, die deutsche Aufgabe Erfüllung finden. Das Weltbild M.s ruht auf idealistischer Grundlage. Hinter aller, auch hinter der wirtschaftlichen Wirklichkeit steht die Idee. M. glaubt an ihre schöpferische Kraft, wie er von der Macht des Ideals, der Idee im Wunschbild, überzeugt ist. „Ideale sind, sobald wir sie einmal ausgesprochen haben, metaphysische Unwiderruflichkeiten in der Welt. Sie gehören dem Volke an, das sie ursprünglich hervorgebracht hat. Es kann geschehen, daß sie abhanden kommen; . . . Doch kein Philosoph oder Antiphilosoph kann verhindern, daß sie wieder Macht über die Menschen bekommen, daß sie wieder ein Erlebnis werden, vermehrt um das Erlebnis in einem veränderten Zeitalter; die Ideale rufen sich, wenn die Zeit zu ihnen gekommen ist, selbst herbei, als Dogmen, als ethische Absolutheiten, als geistige Verläßlichkeiten mitten in menschlicher Ungewißheit, die von der Not des Lebens als Pole der Sammlung verlangt werden." Mit dem Glauben an das ewige Sein der Idee verbindet M. das Wissen vom Werden. „Denn nicht das bedeutet der Begriff des Ewigen für uns, daß sich nun alles einmal Gewesene als ein Seiendes unverändert erhalten sollte, sondern daß es in ein neues Werden ständig sich umsetzt." Es gehört zu den Voraussetzungen und zu den Bedingungen unseres heutigen Denkens, daß wir die Dinge „entwicklungsmäßig betrachten", daher müssen wir auch „das ewige Sein unter der Form eines ewigen Werdens erblicken". Entwicklung aber bedeutet nicht Fortschritt. „Entwicklung setzt Entstehung voraus. Es gibt keinen Fortschritt. Es gibt nur einzelne große und zusammenfassende Momente. Und diese Momente haben zum Träger niemals eine Masse, die gleichmäßig treibt, sondern immer den Menschen, der in ihr einmalig und erstmalig ist." Die führende Persönlichkeit verhilft der Idee zum Durchbruch. Sie gestaltet und verwirklicht auch den Wert. Auch Werte sind ewig, wie die Ideen. „Es genügt vollkommen und wäre schon ein ungeheures metaphysisches Weltgesetz auf durchaus naturalistischer Grundlage, wenn man annimmt, daß jeder Wert in der Welt schließlich zum Durchbruch

Moeller van den Bruck

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seines innersten Wesens gelangt und sich im großen Zusammenhange des Weltgeschehens den Platz einer bestimmten Bedeutung erringt. Auch der ewige Wert ist noch ein Wert des Raumes und der Wirklichkeit. Er übersteigt bloß sein zeitliches Sein und setzt sich in einem gleichsam überzeitlichen fest." Im Seelenlosen entspricht dem das stoffliche Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Das Gesetz von der Erhaltung der Wirkung und der Werte ist ein sittliches, getragen vom Trieb zur Gerechtigkeit. Auch im Wertgebiet gibt es Entwicklung, Entstehen und Vergehen. Einen Wert, der seinen Zweck erfüllt hat, läßt die Natur verfallen; sie „behält alle ihre Werte grundsätzlich nur solange, wie sie sie braucht". Trotz dieser Grausamkeit der Natur ist der Gang des Geschehens ein sittlicher, von Gerechtigkeit geleitet. In der Geschichte der Menschheit unter allen Verschüttungen das Sittliche zu erkennen, aus allen Vermischungen mit Unechtem das Echte herauszulösen, ist die Aufgabe des „philosophischen Vermögens der Kritik", das den „entscheidenden Deutschen" in hervorragendem Maße verliehen war: Herrschern und Gelehrten, Dichtern und Philosophen wie Staatsmännern. Eis war Friedrich dem Großen wie Winckelmann zu eigen und lebte in Lessing und Herder, in Kant und Fichte, in Moltke. „Immer waren es solche, die Bahn brachen und Raum schufen für die Entwickelung ihrer Zeit und ihres Volkes." Die Kritik hat zwei Seiten, sie ist nicht nur geistiges, denkerisches, urteilendes Vermögen, sie ist auch Tun, ist „vor allem kämpferisch. Sie greift ein in die Geschicke, wird selber schöpferisch, ein lauter Mund nicht nur, sondern auch ein starker Arm der Gerechtigkeit." Kritik wird mit Gerechtigkeit geradezu gleichgesetzt. „Kritik ist Gerechtigkeit. Wenn man sie groß auffaßt, dann kann sie gar nichts anderes sein, als die Offenbarmachung des Wertes, den die Werke der Menschen vor dem Ewigen haben. Und jedes Werk hat einen ewigen Wert." Gerechtigkeit aber ist das „Grundgesetz allen Gleichgewichtes", So kann M. den Begriff „Kritik" schließlich so weit fassen, daß er erklärt: „Kritik in diesem Sinne ist alle Bewußtseinswerdung, alle Erkenntnis überhaupt — wie denn auch die theoretische Entwicklung der Kritik und damit des Denkens schlechtweg durchaus folgerichtig schließlich in einer Erkenntniskritik mündet." Das kritische Vermögen findet seine „praktische Denkanwendung" in der Geschichtsschreibung. Diese hat „innerhalb der Grenze des Menschlichen . . . die Gleichgewichtsentwicklung samt ihren Gleichgewichtsschwankungen zu verfolgen"; sie ist „Nachschaffen der Menschheitsgeschichte durch das Wort", ist Feststellen und Vergleichen ihrer Werte, ist „Logos gewordene historische Gerechtigkeit". Aus der gesamten Erdgeschichte heraus muß die Menschheitsgeschichte erkannt und erklärt werden. Eine Aufgabe vor allem hat unsere Geschichtsschreibung zu leisten, die bisher nicht bewältigt wurde: sie muß uns dahin bringen, „daß wir unsere Tatengeschichte gerade so metaphysisch begreifen lernen, wie wir unsere Geistesgeschichte immer schon begriffen haben". M.s eigene Werke wollen zur Erreichung dieses Zieles beitragen. Von allen Arten einer Formwerdung des Geistes ist es besonders das Phänomen des Stils, mit dem M. sich denkerisch auseinandersetzt. Die Kunstbetrachtung lehrt, daß „die Völker alle Formen, die ihnen zuströmen, in die eigene Weise einbeziehen, die ihrem besonderen Nationalgeiste, ja einem bestimmten Ortsgeiste, dem ganzen Lande und jeder einzelnen Stadt darin entspricht". M. formuliert ein „Gesetz von der Reinhaltung der Stile" und von der Einhaltung der Grenzen der Stile: „Es verlangt, daß eine Epoche auch formal kein anderes Schaffensziel vor sich hat, als das, welches inhaltlich mit ihr selber entstanden ist." Dieses Schaffensziel „ergibt sich aus dem allgemeinen Geist

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Mombert

und den besonderen Verhältnissen, aus dem äußeren Milieu der geographischen, ethnologischen und soziologischen Bedingungen, Klima, Rasse, Zivilisation, und aus dem inneren Milieu der individuellen Völker und persönlichen Menschenentwicklung, der Weltanschauung und des Seelenlebens." Alle diese Voraussetzungen wirkten auch bei der Herausbildung des „Preußischen Stils" zusammen. Die Wesenseigentümlichkeiten des Preuß.en sind in ihm Gestalt geworden. „Preußen ist ohne Mythos." — „Strenge der Organisation war das Wesen des Preußealtunis." — „Ein scharfer, ein nüchterner, aber auch ein tüchtiger Zug fiel früh ein den preußischen Menschen auf." — „Dieses Preußentum, das nicht Vernünftiigkeit, sondern Vernunft, nicht Aufklärung, sondern Klarheit wollte, erhob zum ersten Male den Dualismus zum System und zur Praxis in Einem und lehrte uns denken und handeln zugleich." — Preußische Überlieferung ist „eine bestimmte und unverkennbare Art, tätig und sachlich zu sein, jedes Ding von seinem Grunde auf zu tun, und dadurch für alle Zeiten zu tun." — „Eben dies, die Verbindung des Kleinen mit dem Großen, des Einzelnen mit dem Ganzen, um der Sache willen, um die es sich handelte, war preußisch." — Preußen war, „statt nur Erzählung von Taten zu sein, die andere getan, selbst Tat. Aus dieser Kraft war seine Kunst gekommen." Vor allem ist es die Baukunst als die „Urkunst der Völker", in der das Preußische sich ausdrückt; denn dem Preußen spricht M. das „Genie des Gefüges" zu, „das wir im Politischen an der Organisation erkennen, das wir im Philosophischen System nennen und das im Künstlerischen Architektur heißt". Worin liegt nun das Wesen des Preußischen Stils? „Nur in Preußen, wo man schon das Barocke einfach-mächtiger, das Rokoko edel-strenger, den Klassizismus derb-sachlicher gehalten hatte, ging man vom Zopf aus nunmehr unmittelbar auf die Antike zurück, wie wenn sie die Natur gewesen wäre, erfaßte in ihr die technische Funktion als künstlerische Form und verstand das Wesen der Form von den Gelenken aus, in denen sie sich bewegt und die ihr Gleichgewicht wie Schönheit gegeben hatten." — „Ja, Preußen verband den Ruhm mit seinem Namen, wenn es nun in diesem Stil, den wir klassizistisch nennen, und der klassisch war, sein soldatisches und diszipliniertes Wesen zu einer Sichtbarkeit steigerte, daß es mit derselben Grundsätzlichkeit im Künstlerischen, die seinen Grundsätzlichkeiten im Philosophischen wie im Politischen entsprach, dem Wesen des Stiles überhaupt am nächsten kam: so daß wir, wenn wir von einem preußischen Stil sprechen, vor einem Stil an sich stehen." S c h r i f t e n : Die moderne Literatur, 1900—03. — Die Deutschen; Unsere Menschheitsgesch., 8 Bde., 1904 ff. — Die italien. Schönheit, 1913; 3. Aufl. 1930. — Der preuß. Stil, 1916; 3. Aufl. 1931. — Das Recht d. jungen Völker, 1919. — Das dritte Reich, 1923; 3. Aufl. 1931, hrsg. v. H Schwarz. — Aus dem Nachl. hrsg. v. H. Schwarz: D. ewige Reich, 1933; Der polit. Mensch, 1933. — Rechenschaft üb. Rußland, 1933, — Hrsgb.: Gem. mit Mereschkowski: W e r k e Dostojewskis, deutsch, 22 Bde., 1906—19. L i t e r a t u r : Adam, Reinhard, M. v. d. Br., 1933. — Fechter, Paul, M. v. d. Br., 1934. — Helmut Rödel, M. v. d. Br , Berlin 1939.

Mombert, Alfred, geb. 6. Februar 1872 in Karlsruhe. 1900 bis 1906 Rechtsanwalt. Dichterphilosoph. S c h r i f t e n : D. Schöpfung, 1897. — D. Denker, 1901. — D. Blüte des Chaos, 1905. — Aeon. 1907—11. — D. Held der Erde, 1919 — Atai'r, 1925. — Aiglas Herabkunft, 1928 — Aiglas Tempel, 1931 — Staira d. Alte, Berlin 1936. L i t e r a t u r : Benndorf, Friedrich Kurt, M., Geist u. W e r k , 1932.

Mongtse — Montaigne

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Mongtse, s. Mencius. Monímos, Anhänger des Kynismus, Schüler des Diogenes von Sinope. Monrad, Marcus Jakob, geb. 19. Januar 1816 in Nöterö (Vestfold in Norwegen), gest. 31. Dezember 1897 in Kristiania. Prof. in Kristiania seit 1851. Theist und Anhänger Hegels. S c h r i f t e n : Z. Frage von Glauben u. Wissen, Krist. 1869. — Denkrichtungen d. neueren Zeit, 1874; deutsch 1879. — Udsigt over den höiere Logik, Krist. 1881. — Religion, Religionen u. Christentum, Krist. 1885. — Ästhetik, 2 Bde., Krist. 1889 f. — Glaube u. Wissen, 1892. — D. Mysterien d. Christentums v. Gesichtspunkte d. Vernunft, Krist. 1895; deutsch 1896. — D. menschl. Willensfreiheit u. d. Böse, Krist. 1897; deutsch 1898. — Blick in die Zukunft d. Philos., Krist. 1897. L i t e r a t u r : J . Mourly-Vold, J . M. som Filosof, 1898.

Montaigne, Michel Eyquem de, geb. 28. Februar 1533 auf Schloß Montaigne (Périgord), gest. 13. September 1592 ebda. Parlamentsrat und später Maire von Bordeaux. In seinen drei Büchern Essais gibt M. eine Darstellung seiner selbst. Sie haben eine hervorragende Bedeutung als Dokument eines beginnenden Umschwungs in der innengeistigen Haltung des Menschen an der Schwelle der Neuzeit. M. erneuert in den Essais die antike Skepsis aus der Stimmung, die schon Agrippa von Nettesheims Schrift De incertitudine et vanitate scientiarum beherrscht. Die Skepsis M.s besitzt die Bedeutung einer Methode. Die Einsicht in die Unsicherheit, Unbeständigkeit und Nichtigkeit des menschlichen Wissens, die M, mit den gleichen Argumenten wie Pyrrho an dem steten Wechsel alles Seienden aufzeigt, soll den Hochmut des Menschen vernichten, der sich für den Zweck der Schöpfung hält und auf wahres Wissen Anspruch erhebt. Sie soll ihn zur Demut stimmen, damit er sich gern unid mit Überzeugung der mächtigen Mutter Natur unterwirft und ihrer Ordnung einfügt. Der sittliche Halt, wie ihn Sokrates besessen, und die Ataraxia, die M. an der Stoa, vor allem bei Seneca bewundert, können nur die Folge eines solchen Gehorsams gegen die Natur sein, — Kennzeichen des Menschen, der auf die Natur zu hören gelernt hat. Denn die Natur ist die allgemeine Vernunft, und die Natur allein kann uns die Regeln für unser Handeln geben. Darum wird es Pflicht, ihr und den natürlichen Gesetzen der Gesellschaft zu gehorchen, die nach ihr gebildet sind. Reformen der Religion und des Staates war M. durchaus abgeneigt; denn diese Gebiete des menschlichen Lebens sind nicht so bedeutungsvoll, um die Lockerung alter Bindungen zu rechtfertigen; wichtig ist ihm allein die Unabhängigkeit des auf der natürlichen Gesetzlichkeit alles Seienden beruhenden moralischen Bewußtseins. S c h r i f t e n : Essais, 2 Bücher, Bordeaux 1580, v. M. verbessert 1588; hrsg. v. Mlle, de Gournay, Paris 1595; v. Leclerc, 5 Bde., Paris 1826 ff.; 4 Bde., 1865 f.; v. R. Dezeimeris u. H. Barckhausen, Bordeaux 1870; publ. par E. Courbet et Ch. Royer, Paris 1872; deutsch v. Wald. Dyhrenfurth, 1895; N. F. 1897. — Oeuvres complètes, hrsg. v. Armaingand, 6 Bde., 1924—27. — Ges. Schriften, hrsg. v. O. Flake u. W. Weigand, 8 Bde., 1908 ff. L i t e r a t u r : P. Bonnefon, M., l'homme et l'œuvre, 189.3; M. et ses amis, 2 Bde., Paris 1898. — P. Villey, Les sources et l'évolution des essais de M., 2 Bde., Paris 1908; L'influence de M. sur les idées pédagogiques de Locke et de Rousseau, Paris 1911. — R. Frankel, M.s Stellung zum Staat u. zur Kirche, Diss., Lpz. 1908. — P. Lobstein, Calvin u. M., 1909. — E. Sichel, M. de M., London 1911. — W. Weigand, M., 1911. — André

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Montesquieu — Moog

Gide, Essai sur M., 1929. — J. F. Schneider, M. u. d. deutsche Lit,, in: Euphorion 23, 374. — Hensel, Paul, M. u. die Antike, in: Kl. Schriften u. Vorträge, 1930. — Lanson, Gustave, Les essais de M., Paris 1930. — Plattard, Jean, M. et son temps, Paris 1933. — Villey, Pierre, Lexique de la langue des Essais, Bordeaux 1933. — Schnabel, Walter, M.s Stilkunst, 1930; in: Sprache u. Kultur der german.-roman. Völker, Reihe C, Bd. 6. — Janssen, Hermann, S. J., M. fidéiste, Diss., Amsterdam 1930. — Trepp, Leo, Taine, M. . . . Ihre Auffass. von Relig. u. Kirche. E. Beitrag zur franz. Wesenskunde, Diss., Würzburg 1935. — Eickert, Karl Heinz, Die Anekdote bei M., Diss., Köln 1938. — Citoleux, M., Le vrai M., Paris 1937. — Dréano, M., La pensée religieuse de M., Paris 1937. — Bailly, Auguste, M., L'homme et son oeuvre, Paris 1942.

Montesquieu, Charles de Secondât, Baron de la Brède et de Montesquieu, geb. 18. Januar 1689 zu Brède bei Bordeaux, gest. 10. Februar 1755 zu Paris. Staatstheoretiker, — M. nahm vor allem in seinem Hauptwerke, dem Esprit des lois (Genf 1748), die englische konstitutionell-monarchische Verfassung — vor seiner Englandreise von 1728/29 noch die schweizerische und niederländische Verfassung — zur Grundlage. Als vorbildlich erschien ihm die englische Staatsform, weil sie die staatliche Gewalt in legislative, exekutive und iurisdiktive zerlegt und die beiden mit Vetorecht ausgestatteten Kammern des Ober- und des Unterhauses enthält. Er verlangt, daß die Verfassung eines Staates und seine Regierung sich der Natur und den Besonderheiten des Volkes anpaßt. Der Volksgeist, der Esprit général d'une nation, auf den notwendig Rücksicht genommen werden muß, ist von einer Reihe von Faktoren bedingt: „Plusieurs choses gouvernent les hommes: le climat, la religion, les lois, les maximes du gouvernement, les exemples des choses passées, les moeurs, les manières; d'où il se forme un esprit général qui en résulte" (L'esprit des lois XIX, 4). Die Lehre vom Volksgeist hat hier ihren ersten Ansatzpunkt. S c h r i f t e n : Lettres persanes, 2 Bde., Paris 1721; deutsch v. Ad. Strodtmann, 1866, u. in Reclams Universalbibl. — Considérations sur les causes de la grandeur et de la décadence des Romains, Paris 1734; deutsch 1824, u. v. R. Habs, 1882, in Reclams Univ.Bibl. — De l'esprit des lois, 2 Bde., Genf 1748; deutsch 1753, 1782; v. Ellissen, 1854. — Oeuvres complètes, hrsg. v. E. Laboulaye, 7 Bde., Paris 1875—79. — Oeuvres inédites, Paris 1892—1900. — Sämtl. Werke, deutsch, Stuttgart 1827. — Correspondance, 2 Bde., Paris 1924. L i t e r a t u r : Dangeau, M., bibliographie de ses oeuvres, Paris 1874. — A. Sorel, M., 1887; deutsch 1896. — V. Klemperer, M., 2 Bde., 1911—14. — J. Dedieu, M., Paris 1913. — A. Lewkowitz, D. klass. Rechts- u. Staatsphilos., M. bis Hegel, 1914. — H. Kunst, M. u. die Verfassgn. d. Vereinigt. Staaten v. Amerika, Histor. Biblioth., Bd. 48, 1922. — E. Carcassone, M. et le problème de la constitution française au 18e siècle, Paris 1927. — E. Klimowsky, D. engl. Gewaltenteilungslehre bis zu M., 1928. — Proesler, Die Anfänge der Gesellschaftslehre, 1935, 130. — L. Rossi, Un precursore di M., Mailand 1941. — N. Duconseil, Machiavel et M., Paris 1943. — B. Groethuysen. M. et l'art de rendre les hommes libres, 1946.

Moog, Willy, geb. 22. Januar 1888 in Neuengronau (Kassel), gest. 1935 in Braunschweig. Dr. phil. in Gießen 1909., Priv.-Doz. in Greifswald 1919, a. o. Prof. ebda. 1922, o. Prof. a. d. Technischen Hochschule in Braunschweig 1924. Historiker der Philosophie und Pädagog. S c h r i f t e n : Kants Ansichten üb. Krieg u. Frieden, 1917. — Fichte üb. d. Krieg, 1917. — D. Verhältnis d. Philos, z. d. Einzelwissenschaften, 1919. — Logik, Psychol. u. Psychologismus, 1920. — D. deutsche Philos, d. 20. Jhdts., 192?. — Grundfragen d. Pädagogik d. Gegenwart, 1923. — Überwegs Grundriß d. Gesch. d. Philos., III. Bd., 12. Aufl. bearb. zus. m. Frischeisen-Köhler, 1924. — Philos, u. pädagog. Strömungen d. Gegenwart, 1926. — Geschichtsphilos. u. Geschichtsunterricht, 1927. — Gesch. d. Pädagogik, Bd. I u. II, 1928; Bd. III, 1933. — Hegel u. d. Hegeische Schule, 1930. — D. Leben d. Philosophen, 1932. — Hrsgb.: Jahrbücher d. Philos., u. Gesch. d. Philos, in Längsschnitten.

Moore — More, Henry

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Moore, George Edward, geb. 1873, Studium der klassischen Philologie. 1925 Prof. der Philosophie in Cambridge. — M. ist Gegner des von Hegel genährten Idealismus und hat einer neuen realistischen Philosophie in England durch seine „Widerlegung des Idealismus" (im Mind 1903) den Weg bereitet. Er wehrt sich gegen jeden Zwang des Systems. „Nach Einheit und System streben auf Kosten der Wahrheit ist nicht das eigentliche Geschäft der Philosophie, so weit verbreitet dies auch in der Gepflogenheit der Philosophen gewesen sein mag." Als Hauptaufgabe des Philosophen betrachtet M. die richtige Fragestellung; sie dient der Klärung, wenn auch nicht immer einer befriedigenden Lösung des aufgeworfenen Problems. Eine solche Fragemethode hat M. meisterhaft entwickelt. Zur Begründung seines kritischen Realismus geht M. aus von der Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Bewußtseinsgegenstand. Er zeigt, daß es falsch ist, die empfundene Farbe z. B. als Inhalt des Bewußtseins anzusprechen, wie es im Idealismus geschieht, der Empfindung und Gegenstand, Subjektives und Objektives gleichsetzt. Die Farbe selbst ist weder Teil noch Eigenschaft des Empfindens. Wir sind berechtigt, sie als etwas außerhalb des Bewußtseins Existierendes anzusehen, ihr objektive Wirklichkeit zuzuschreiben. S c h r i f t e n : Principia Ethica, Camb. 1903 : 2. Aufl. 1922. — Ethics, Lond. 1911. — Philos. Studies (mit dem Aufsatz: T h e Refutation of Idealism), Lond. 1922. — A Defence of Common Sense, in: Contemp. Brit. Philos., II, 1925. — Aufsätze, in: Mind, 1898, 1899, 1900; in: Proceedings of Arist. S o c . N. S. 1901, 1903 f., 1910, 1916 f., 1920 f. — Seit 1921 Hrsgb. d. Zeitschr. Mind. L i t e r a t u r : Metz, Rudolf, Die phil. Strömungen der Gegenwart in Großbrit., 1935, Bd. II, S. 86—103.

Moos, Paul, geb. 22. März 1863 in Buchau (Schwaben), Dr. phil. h. c. Erlangen, Historiker der neueren Ästhetik. S c h r i f t e n : Moderne Musikästhetik in Deutschland, 1902. — Richard Wagner als Ästhetiker, 1906. — D. Philos. d. Musik v. Kant bis Eduard v. Hartmann, 1922. — Die deutsche Ästhetik d. Gegenwart, I: D. psycholog. Ästhetik, 1920; II: D. Philos. des Schönen seit Eduard v. Hartmann, 1931. Literatur:

Richard Dehmel, Bekenntnisse, 1926, S. 189—192.

Morcillo, Sebastian Fox (Morzillus), geb. 1528 in Sevilla, gest. 1560. Studium in Sevilla und Alcalá; Aufenthalt in den Niederlanden, vor allem in Löwen. — Der spanische Philosoph M. will Plato und Aristoteles in Einklang bringen und von widerchristlichen Lehren befreien. Er entwickelt eine Theorie der Geschichte, die sich den Dienst an der Wahrheit zum Ziel setzt.

S c h r i f t e n : In Piatonis Timaeum Com., Basilea 1554—56. — Compendium ethices philosophiae, Bas. 1551 u. Heidelberg 1561. — De naturae philosophia seu de Piatonis et Aristotelis consensione libri V, Löwen 1554, 2. Aufl. Paris 1560. — De demonstrationis necessitate ac vi; De usu et exercitatione dialecticae; De juventute; De honore; zus. in 1 Bd., Basel 1556. — Kommentar zu Piatons Phaedon, Basel 1556; zu Piatons Republik, Basel 1556. — De regni et regis institutione libri III, 1556. — De historiae institutione, Paris 1557. L i t e r a t u r : Laverde Ruiz, S. F. M., 1858. — Borés y Lledó, F . M., Sevilla 1884. — Gonzalez de la Calle, S. F. M., Estudio histórico-critico de sus doctrinas, Madrid 1903. — Lueben, Robert, S. F. M. u. s. Naturphilos., 1914; in: Renaissance u. Philos., H. 8.

More, Henry, geb. 12. Oktober 1614 in Grantham, gest. 1. September 1687 in Cambridge. Prof. der Philosophie und Theologie in Cambridge. — M. gehört zu den Anhängern Jakob Böhmes und treibt Kabbalistik. Den mechanistisch gedachten Korpuskeln des Descartes setzt der Platoniker M. letzte Individuen, die beseelt sind, „Monades", entgegen. Er lehrt das Dasein eines Naturgeistes oder

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More, Thomas — Morgan, Lewis Henry

der Weltseele, die nach dem Willen Gottes die Vorgänge an der Materie bestimmt und leitet. Der Raum besitzt Realität. Er ist die Repräsentanz der allgegenwärtigen Essenz. M. ist Begründer der im Piatonismus lebenden Schule von Cambridge. S c h r i f t e n : Enchiridium ethicum, 1668. — Enchiridium metaphysicum, 1671. — Divine Dialogues, 1688. — Opera omnia, 3 Bde., Lond. 1679. — Briefwechsel mit Descartes (1648—49), in: Descartes, Werke, Bd. 5, hrsg. v. Adam u. Tannery, Paris 1897—1910. L i t e r a t u r : R. Zimmermann, M., 1881. — Ernst Cassirer, Die Platonische Renaissance in England u. d. Schule von Cambridge, 1932. — P. R. Anderson, H. M., Diss., Columbia, N. Y. 1933.

More, Thomas, s. Morus, Thomas. Morelly, lebte im 18. Jahrhundert als Lehrer in seinem Geburtsort Vitry-leFrançois. Abbé M. bekämpfte, von Locke und wahrscheinlich auch von Platon angereigt, das Privateigentum und befürwortete eine kommunistische Gesellschaftsverfassung. Jeder soll nach seinem Programm im Rahmen seiner Kräfte für die Gesamtheit arbeiten und aus dem Gesamtertrage nach seinen Bedürfnissen erhalten. Aus dieser Gesinnung entstehen M.s Staatsutopien. S c h r i f t e n : Le prince, les délices du coeur, ou traité des qualités d'un grand roi, 2 Bde., Amsterd. 1751. — Naufrage des îles flottantes ou la Basiliade du célèbre Pilpay, 2 Bde., 1753. — Le code de la nature, 2 Bde., Amsterd. 1755—60; Neuausg. Paris 1910; deutsch von E. M. Arndt, 1846. — Essai sur l'esprit humain, Paris 1745. — Essai sur le coeur humain, Paris 1745. L i t e r a t u r : Ch. Huit, Le platonisme en France au XVIIIe siècle, in: Annal, de philos., 1906. — Reverdy, A., Morelly; idées philosoph., économiques et politiques, Poitiers 1909. — Martin, Kingsley, French Liberal Thought in the Eighteenth Century, Lond. 1929; S. 242—247. — H. Girsberger, Der utop. Sozialismus des 18. Jhrdts. in Frankreich, in: Zürcher volkswirtsch. Forsch., Bd. 1, 1924; S. 130—157.

Morgan, Conwy Lloyd, geb. 6. Februar 1852 in London, gest. 6. März 1936 in Bristol. Seit 1884 Prof. der Zoologie, Geologie und Psychologie an der Universität Bristol, — Die Welt vereinigt unlösbar in allen ihren Teilen psychische mit physischen Wesenszügen. Die Entwicklung des Lebens ist gleichzeitig physisch und psychisch. Sie ist nicht rein mechanisch zu erklären, sondern kennt die Entstehung neuer Stufen, von denen besonders Lebenskraft und Bewußtsein hervorzuheben sind als „emergent". S c h r i f t e n : Animal Biology, 1887; 3. Aufl. 1899. — Animal Life and Intelligence, 1890. — Introduction to Comparative Psychology, 1894. — Psychology for Teachers, 1895 u. 1906. — Habit and Instinct, 1896; deutsch 1909. — Interpret, of Nature, 1905. — Animal Behaviour, 1900. — Instinct and Experience, 1912; deutsch 1913. — Emergent Evolution, 1923. — A Philos, of Evolution, in: Contemp. Brit. Philos., I, 1924. — Life, Mind and Spirit, Lond. 1926. — Mind at the Crossways, 1929. — The Animal Mind, 1930. — The Emergence of Novelty, 1933.

Morgan, Lewis Henry, geb. 21. November 1818 in Aurora (New York), gest. 17. Dezember 1881 in Rochester (New York). Amerikanischer Ethnologe und Anthropologe. Senatsmitglied seit 1868. — M. vertritt die These, daß die Urgesellschaft in völliger Gütergemeinschaft und Geschlechtsgemeinschaft (Promiskuität) gelebt habe. Diese Lehre wurde von Marx und Engels aufgegriffen. S c h r i f t e n : League of the Ho-dé-no-sau-nee or Iroquois, Rochester 1851; neu hrsg., New York 1922. — Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family, Washington 1870. — Ancient Society, New York 1877; deutsch: D. Urgesellschaft, 1891. — Races and Peoples, 1890. L i t e r a t u r : Stern, Bernhard J., L. H. M., Social Evolutionist, Chicago 1931; m. Bibliogr.

Morgan, Thomas — Morselli

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M o r g a n , Thomas, gest. 1743. Englischer Freidenker und Deist. S c h r i f t e n : The moral philosopher, 3 Bde., Lond. 1737—40; 4. Bd.: PhysicoTheology, Lond. 1741. Moritz, Karl Philipp, geb. 15. September 1757 in Hameln, gest. 26. Juni 1793 in Berlin. Studium der Theologie in Erfurt und Wittenberg; von B a s e d o w nach Dessau gerufen. 1778 Lehrer am Militärwaisenhaus in Potsdam, dann am Grauen Kloster, 1784 am Köllnischen Gymnasium in Berlin. 1786 für z w e i Jahre nach Italien; in Rom Bekanntschaft mit Goethe, der M. stark beeinflußt. 1789 Prof. der Altertumskunde an der Kunstakademie in Berlin. — M. betonte gegenüber der Theorie der bloßen Nachahmung, w i e sie von den Franzosen vertreten wurde, die schöpferische Aktivität der Kunst. Er gab 1783—1795 das „Magazin für Erfahrungsseelenlehre" heraus und verfaßte einen psychologischen Roman „Anton Reiser" (1785—1790). S c h r i f t e n : Üb. die bildende Nachahmung des Schönen, 1788; neue Ausg. 1888. — Beiträge zur Philos. d. Lebens, 1781. — Reisen eines Deutschen in England, 1783; neu hrsg. v. 0 . zur Linde, 1903. — Anton Reiser, 4 Bde., 1785—90; Neudruck v. L. Geiger, 1886. — Götterlehre, 1791; 6. Aufl. 1825. — Reisen eines Deutschen in Italien, 3 Bde., 1792—93. L i t e r a t u r : M. Dessoir, K. Ph. M. als Ästhetiker, 1889. — C. Ziegler, K. Ph. M. u. s. psychol. Roman Anton Reiser, Manns pädagog. Magazin, H. 521, 1913. — Eduard Naef, K. Ph. M., S. Ästhetik, Diss., Zürich 1930. — MüSelmann, Friedr., K. Ph. M. u. d. dtsche. Sprache, Diss., Greifswald 1930. — Fahrner, Rudolf, K. Ph. M.s Götterlehre, 1932. — Oehrens, Wilh., Über einige ästhetische Grundbegriffe bei K. Ph. M. Beitrag zur Ästhetik d. 18. Jahrh., 1934. — Moritz, Eckart, K. Ph. M. u. der Sturm und Drang, Diss., Marburg 1928. — Menzer, Paul, Goethe-Moritz-Kant, in: Goethe, 7. Bd. (1942) S. 169 ff. Morris, William, geb. 24. März 1834 in Walthamstow (Essex), gest. 3. Oktober 1896 in London. Studierte in Oxford. Architekt, Kunsthandwerker und Dichter, Förderer der präraffaelitischen Kunst. — Der Dichter und Maler M. begründet seine Sozialphilosophie aus der Notwendigkeit der Erneuerung handwerklichen Schaffens, vor allem im Gebiet künstlerischer Produktion. S c h r i f t e n : The Decorative Arts. Their Relation to Modern Life, 1878. — Hopes and Fears for Art, Lond. 1882. — Art and Socialism, 1884. — Signs of Change, Lond. 1888. — The Dream of John Ball, Lond. 1888. — News from nowhere, 1891. — Architecture, Industry and Wealth, 1892. — Socialism, its Growth and Outcome (mit E. B. Bax), 1893. — Collected Works, 24 Bde., London 1910—15. L i t e r a t u r : Mackail, J. W„ The Life of W. M., 2 Bde., Lond. 1899; 2. Aufl. 1922. — J. Drinkwater, W. M., 1912. — Helmholtz-Phelan, A. A. von, The Social Philosophy of W. M., Durham, N. C., 1927. — Fritzsche, Gustav, W. M.s Sozialismus, m. Bibliogr., 1927. — Küster, Elisabeth, Mittelalter u. Antike bei W. M., 1928. — B. Shaw, W. M. as I knew him, New York 1936. — Auguste Jedlicka, Naturauff. u. Naturschilderungen bei W. M., Diss., Wien 1940. Morsellí, Emilio, geb. 1869. Philosophieprofessor in Genua. Italienischer Soziologe. S c h r i f t e n : II pessimismo di T. Lucrezio Caro, 1892. — La crisi della morale, 1895. — La sociología, 1895. — La teoria d'evoluzione secondo Spencer, 1896. — Elementi di sociología generale, 1898. — Psicología, 1903. — Lógica, 1903. — Etica, 1903. — Morale, 1907. — Introduzione alia filosofía moderna, 1908. — Storia della filos., 1910. — Artikel in: Rivista Filosofica, 1904, 1907, 1910 u. 1911. Morselli, Enrico, geb. 17. Juli 1852 in Modena. Genua. Positivist und Vertreter d e s Evolutionismus.

Prof. der Psychiatrie

in

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Morus

S c h r i f t e n : La Neogenesi, 1873. — Il suicidio, Mil. 1879. — Il delitto; Diagnosi della pazzia, 1882. — L'anima funzione biologica del corpore, 1886. — La filos. monistica in Ital., 1887. — Le ultime fasi del evoluzionismo, 1889, — C, Lombroso e la filos. scientif., Tor. 1906. — Psicologia e Spiritismo, 2 Bde., Torino 1908. L i t e r a t u r : E. Troilo, E. M. come filosofo, Mailand 1907.

Morus (More), Sir Thomas, geb. 7. Februar 1478 in London, hingerichtet 1535 auf Veranlassung Heinrichs VIII. 1529 Großkanzler. M. ist beeinflußt von John Colet und von Erasmus. In seinem Staatsroman „Utopia" entwickelt er das Ideal eines Staatswesens, das er in Anlehnung an Piatons Republik ohne Privateigentum aufbaut. Er will ein sittliches Gemeinwesen schaffen, frei von den Mängeln des zeitgenössischen gesellschaftlichen Zustandes in England. — M. sieht das Grundübel darin, daß die wirtschaftlichen Güter in der Hand von wenigen Genießenden vereinigt sind, die existieren, ohne zu arbeiten, und durch die Maßlosigkeit ihrer Wünsche das besitzlose Volk ins Elend bringen. Erst daraus folgt die Sittenverderbnis der unteren Schicht der Bevölkerung, die durch noch so grausame Strafen nicht in einen Zustand der Sittlichkeit gewandelt werden kann. Also muß das Privateigentum abgeschafft werden; denn es steht der Gerechtigkeit im Wege. Die Gütergemeinschaft soll sich auf Ackerbau und Naturwirtschaft aufbauen. Von der Vergesellschaftung wird als einzige Institution die Familie ausgenommen. Grundsätzlich hat jedes Mitglied der Gesellschaft materielle Arbeit zu leisten. M, hält eine Arbeitszeit von täglich sechs Stunden für ausreichend, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Auf diese Weise wird jedem Einzelnen die Möglichkeit einer sorgsamen Ausbildung und Pflege seiner geistigen Anlagen durch künstlerische und wissenschaftliche Betätigung gegeben. Die Mitglieder der Gesellschaft sollen grundsätzlich keine schweren Arbeiten leisten. Hierfür sind Kriegsgefangene und zum Tode verurteilte Verbrecher zu verwenden. Der Krieg wird verabscheut. Er ist eine barbarische Einrichtung, die der utopischen Gemeinschaft nicht würdig ist; nur im Falle der Selbstverteidigung und des Eintretens für Überfallene Freunde, ferner zur Befreiung eines tyrannisch regierten Volkes und zur Erwerbung von Siedlungsland für Bevölkerungsüberschuß ist er zulässig. Die Verwaltung des Staatswesens wind ausgeübt von den Phylarchen oder Syphogranten, die unter Protophylarchen oder Traniboren und einem von allen Phylarchen auf Lebenszeit gewählten Fürsten stehen. Phylarchen müssen durch ihre geistigen Anlagen hervorragen; sie dürfen von der materiellen Arbeit befreit werden, um sich ganz der Ausbildung ihrer intellektuellen Fähigkeiten zu widmen. In Utopien darf niemand seiner Religion wegen verfolgt werden, sofern er die Grundsätze der Vernunftreligion: Unsterblichkeit der Seele, Existenz Gottes, Vergeltung im Leben nach dem Tode und Vorsehung Gottes nicht angreift. Das naturgemäße Leben ist tugendhaft, nur die von Natur im Menschen angelegten Genußbedürfnisse sind zu befriedigen. Erkenntnis der Wahrheit und Gesundheit sind das höchste dem Menschen erreichbare Gut. S c h r i f t e n : De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia, Louvain 1516; deutsch in Reclams Univ.-Bibl. — Omnia opera latina, Louvain 1566. — English Works, hrsg. v. William Rastell, Lond. 1557; neu hrsg. v. W. E. Campbell, A. W. Reed u. R. W. Chambers, 2 Bde., Louvain 1927—31. L i t e r a t u r : H. Oncken, Die Utopia d. Th, M. u. d. Machtproblem in der Staatslehre; in: Sitzungsber. d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Philos.-hist. Klasse, Nr. 2, 1922. — Chambers, R. W., The Saga and the Myth of Sir Th. M. f Lond. 1927. — Dermenghem, Émile, Th. M. et les utopistes de la renaissance, Paris 1927. — Bendemann, Oswald, Studie z. Staats- u. Sozialauffassung des Th. M., Diss., Berlin 1928. — Brockhaus, Heinr.,

Moeser — Mo Ti

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D. Utopia-Schrift d. Th. M., 1929; in: Beiträge z. Kulturgesch. d. Mittelalt. u. d. Renaissance, Bd. 37. — Campbell, W. E., M.s Utopia and his Social Teaching, Lond. 1930. — M. Freund, Z. Deutung d. Utopia des Th. M.; in: Histor. Zeitschr., Bd. 142, 1930; S. 254—278. — Harpsfield, Nicholas, The life and death of Sir Th. M., Lond. 1932. — R. W. Chambers, Th. M., London 1935; dt. 1947; Place of St. Th. M. in English Lit. and Hist., London 1937. — Bremond, Henri, Th. M., Paris, 2. A. 1904; hrsg. u. übers, v. J . M. Höcht u. R. v. d. Wehd, 1935. — Kapfinger, Hans, Th. M. u. John Fisher, 1935. — Roper, William, The Life of Sir Thomas Moore ed. by Elsie Vaughan Hitchcock, Lond. 1935; in: Early English Text Society, Orig. Ser. Nr. 197. — Alfons Erb, Th. M., Freiburg 1935. — Daniel Sargent, Th. M., London 1934; deutsch v. Robert Egloff, 2. Aufl., Luzern 1941. — H. Donner, The Interpretations of Utopia, in: A Philological Miscellany pres. to Eilert Ekwall II S. 43 ff., Uppsala 1942.

Moeser, Justus, geb. 14. Dezember 1720 in Osnabrück, gest. 8. Januar 1794 ebda. M. fordert von der Geschichtsschreibung, daß sie nicht ihren Gegenstand lediglich nach den verschiedenen herrschenden Mächten einteilt, sondern das Leben des Volkes zu erfassen sucht. S c h r i f t e n : Osnabrückische Gesch., 3 Bde., 1768—1824; Bd. 1 u. 2 in 3. Aufl., 1819. — Patriot. Phantasien, 4 Bde., 1774—86; neu hrsg. v. R. Zöllner, 2 Bde., 1871. — Üb. d. deutsche Sprache u. Literatur, 1781. — Verm. Schriften, hrsg. v, Nicolai, 2 Bde., 1797—98. — Sämtl. Werke, hrsg. v. B. R. Abeken u. J . W. v. Voigt, 10 Bde., 1842; 2. Aufl. 1858. — Gesellschaft u. Staat, Auswahl m. Bibliogr. v. Karl Brandi, 1921. — Sämtl. Werke, histor.-krit. Ausg., bearb. v. W. Kohlschmidt u. L. Schirmeyer, Berlin 1943 f. L i t e r a t u r : Meinecke, Fr., Üb. J . M.s Geschichtsauffassung, in: Sitzungsber. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Philos.-hist. Kl., 1932. — Brandi, Karl, in: Preuß. Jahrb., Bd. 225, 1932; S. 54—69. — Zimmermann, Heinz, Staat, Recht u. Wirtschaft bei J . M., 1933; in: Hist. Studien, H. 5. — Brünauer, Ulrike, J . M., 1933; in: Probleme d. Staats- u. Kultursoziologie, Bd. 7. — Kluckhohn, Paul, D. Idee d. Volkes im Schrifttum d. deutschen Bewegung von M. u. Herder bis Grimm, 1934; in: Literarhist. Bibl., Bd. 13. — Ernst Hempel, J . M.s Wirkung auf s. Zeitgenossen, Diss., Freiburg 1931. — Peter Klassen, J. M., Frankfurt 1936. — Erich Mausser, D. Rechtsdenken J . M.s, Diss., Freiburg 1942. — Helmut Merzdorf, Geschichtliches u. grundsätzliches Rechtsdenken, dargest. an J . M., Diss., Breslau 1939. — Raghubhai Nayall, Idee u. Gestalt d. Nationalerziehung bei J . M., Würzburg 1940. — Albert Wiedemann, Geistesgeschichtlicher Querschnitt durch J . M.s Erziehungsideen, Diss., Erlangen 1932. — Paul Göttsching, J . M. s. Entwicklung zum Publizisten (Mosers Schrifttum 1757—1766), Frankf. 1935.

Mothe le Vayer, François de la, 1588 bis 1672. Skeptiker. S c h r i f t e n : Cinq dialogues, Möns 1673. — Oeuvres (ohne die Dialoge), Paris 1654—1656; Dresden 1756—1759.

Mo Ti (latinisiert Micius), etwa 480 bis 400 v. Chr. — Als Philosoph und Sozialtheoretiker ist der Chinese Mo Ti stärker religiös gestimmt als Kungtse. Er lehrt die Anbetung des Himmels als des höchsten Wesens und seiner Helfer, der Geister. Universelle Liebe, begründet auf Nützlichkeitserwägungen, ist die Grundlage seines Systems. S c h r i f t e n : The Ethical and Political Works of Motse; übers, v. Yi-Pao Mei, Lond. 1929. — L. Tomkinson, The Social Teachings of Meh Tse; in: Asiatic Society of J a p a n , Transactions, 2. Ser., Bd. 4, 1927; S. 5—179; m, Übersetzung. — Mê Ti, des Sozialethikers u. sr. Schüler philos. Werke, hrsg. u. übers, v. A. Forke, Mitteilungen des Seminars f. oriental. Sprachen, Erg.-Bd. zu Bd. 23—25, Berlin 1922. L i t e r a t u r : David, Alexandra, Socialisme Chinois, le philos. Meh-Ti et l'idée de solidarité, Lond. 1907. — Kuei Yuan Huang Quentin, in: Open Court, Bd. 42, 1928; S. 224—239, 277—289, 430--134, 4 9 2 ^ 9 6 . — Witte, Johannes, Der Philosoph der allg. Menschenliebe u. sozialen Gleichheit im alten China, 1928. — F. Geisser, Das Prinzip der allgemeinen Menschenliebe im Reformprogramm Mo Tis, Diss., Zürich 1947.

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Much — Muirhead

Much, Hans, geb. 24. März 1880 in Zechlin (Brandenburg), ¿est. 28. November 1932 in Hamburg, Dr. med,, Prof. der Medizin in Hamburg, Ehrenprofessor der Türkei. — Der Konstitutionsforscher M., der starke Neigung zur Mystik besaß und kunstgeschichtliche Interessen pflegte, versuchte eine Philosophie der Medizin zu entwickeln. S c h r i f t e n : Auf d. Wege des Vollendeten, 1918; 2. Aufl. 1920. — D. Welt Buddhas, 1923. — Philos, d. Medizin, Bd. I. — Das Wesen d. Heilkunst, Körper u. Freiheit, 1928. — Was ist d. Leben? 1929. — Körper, Seele, Geist, 1930. — Aphorismen z. Heilproblem, 1925. — Hippokrates d. Große, 1926. — Ägyptische Nächte, 1931. — Arzt u. Mensch, Das Lebensbuch eines Forschers u. Helfers, 1932. — Vermächtnis, 1933. — Selbstdarst., in: Gesch. der Med. in Selbstdarst., Bd. IV, 1925 (mit Bibliogr.). L i t e r a t u r : Guggenheim, Ferdinand, H. M., 1922.

Muckermann, Hermann, geb. 30. August 1877 in Bückeburg. Dr. phil., Mitglied des Jesuitenordens 1896 bis 1926. Professor der Biologie und verwandter Fächer an philos. Fakultäten außerhalb Deutschlands 1900 bis 1906; 1927 bis 33 Leiter der Abteilung Eugenik am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie in Berlin. 1947 Lehrbeauftragter, 1948 o. Prof. T.U. Berlin. — Eugeniker, Biologe und Sozialbiologe. S c h r i f t e n : The humanizing of the brute or the essential différence between the human and animal soul proved from their specific activities, 1906. — Grundriß d. Biologie, I, 1909; ital. 1912. — Kind u. Volk, I: Vererbung u. Auslese; II: Gestaltung d. Lebenslage, 1918; 16. A. 1933. — Neues Leben, I: D.Urgrund unserer Lebensanschauung, 1920; 4.—6. Aufl. 1924; II: D. Botschaft am Gottesreich; 1.—2. Aufl. 1925; III: Ehe u. Familie im Gottesreich; 1.—2. Aufl. 1925. — Sinn u. Wert d. Eucharistie; 1.—2. Aufl. 1926. — Erblichkeitsforschung u. Wiedergeburt von Familie u. Volk; 4. Aufl. 1925. — Um d. Leben d. Ungeborenen, 1920; 4. Aufl, 1924. — Rassenforschung u. Volk d. Zukunft, 1928. — Wesen der Eugenik u. Aufgaben der Gegenwart, 1929. — Eugenische Eheberatung, 1931. — Stauungsprinzip u. Reifezeit, 1932. — Vererbung, Biolog. Grundlagen d. Eugenik, 1932, — Eugenik u. Katholizismus, 1933. — Volkstum, Staat u. Nation eugenisch gesehen, 1933. — Grundriß der Rassenkunde, 1934. — Eugenik und Volkswohlfahrt, 1934. — Die Religion u. d. Gegenwart, 1934. — Kleine Erblehre, Berlin 1938. — Der Sinn der Ehe, Bonn 1938. — Zeitenwende, Berlin 1937. — Ewiges Gesetz, Köln 1947.

Muhlestein, Hans, geb. 15. März 1887 in Biel (Schweiz). Dr. phil. 1930—1932 Lehrauftrag Universität Frankfurt a. M. S c h r i f t e n : Europäische Reformation, Philos. Unters, üb. d. moral. Ursprung d. polit. Krisis Europas, 1918. — Rußland u. d. Psychomachie Europas, Versuch üb. d. Zusammenhang d. relig. u. d. polit. Weltkrise, 1925. — D. Geburt d. Abendlandes, E. Beitrag z. Sinnwandel d. Gesch., 1928. — Üb. d. Herkunft d. Etrusker, 1929. — D. Kunst d. Etrusker, 1. Bd.: D. Ursprünge, 1929. — Le Grand Rhythme, Réflexions sur une nouvelle vision du monde, 1935. — Aurora. D. Antlitz d. kommenden Dinge, Zürich 1935. — Menschen ohne Gott, 1934.

Muirhead, John Henry, geb. 28. April 1855 in Glasgow, gest. 24. Mai 1940. Prof. in Glasgow, London, Berkeley in Calif. und in Birmingham. — M, wurde durch seinen Lehrer Edward Caird für den an Hegel geschulten englischen Idealismus gewonnen und durch T. H. Green in seiner Richtung auf praktische Philosophie in den Gebieten der Ethik und Politik und des staatlichen und sozialen Lebens bestimmt. Sein Idealismus wehrt sich nicht gegen die Aufnahme pragmatischer und realistischer Gedankengänge. Auch sucht er in die normative Ethik den Glauben an einen sittlichen Fortschritt einzubauen. Als PhilosophieHistoriker erforscht M. das idealistische Denken in der englischen Philosophie. Der Sammlung der philosophischen Arbeit dient M.s Herausgabe einer "Library ol Philosophy"; einen Überblick über die gegenwärtige englische Philosophie

Müller, Adam Heinrich — Müller, Alfred Dedo

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gibt die von ihm veranstaltete Reihe von Selbstdarstellungen unter dem Titel "Contemporary British Philosophy". S c h r i f t e n : Elements of Ethics, Lond. 1892; 4. Aufl, 1932. — Chapters from Aristotle's Ethics, 1900. — Philos. and Life, Lond. 1902. — The Service of the State, 1908. — German Philos. in Relation to the War, Lond. 1915. — Social Purpose, zus. mit H. J . W. Hetherington, Lond. 1918. — The Life and Philosophy of Edward Caird, 1921; zus. mit Sir Henry Jones. — Past and Present in Contemporary Philosophy, 1924. — The Use of Philosophy, 1928. — Coleridge as Philosopher, 1930. — The Platonic Tradition in Anglo-Saxon Philosophy, 1931. — Rule and End in Morals, 1932. — Bernard Bosanquet and his Friends, 1935. — Hrsg.: zus. mit S. Radhakrishnan, Contemporary Indian Philosophy, New York 1936. L i t e r a t u r : Metz, Rudolf, Die philos. Strömungen in Großbritannien, Bd. I, 1935; S. 285—289. — J . W. Harvey, J. H. M., London 1942. Müller, Adaim Heinrich, geb. 30. Juni 1779 in Berlin, gest. 17. Januar 1829 in Wien. 1805 zum Katholizismus übergetreten. Politiker, vor allem im Dienst Metternichs. — M. entwickelt im bewußten Gegensatz zur Theorie von Adam Smith wesentliche Gedanken der romantischen Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftsauffassung. Er behauptet d e n Wert der Tradition, der „organischen" Bindungen, u n d fordert christlich-autoritäre Ordnung im Gesellschaftsleben, d e s s e n große, das Individuum erst ermöglichende Gesamtgebilde sind: Christentum, Kirche, Nation und Staat. M. stand unter dem Einfluß von Edmund Burke, Novalis, Friedrich Gentz. S c h r i f t e n : D. Lehre vom Gegensatze, 1804. — Vorlesungen üb. d. deutsche Wissenschaft u. Lit., 1806; neu hrsg. v. A. Salz, 1920. — Von der Idee des Staates u. ihren Verhältnissen zu der populären Staatstheorie, 1809. — D. Elemente d. Staatskunst, 3 Bde., 1810; neue Ausg. 1922. — Versuche e. neuen Theorie d. Geldes, 1816; neue Ausg. 1922. — Verm. Sehr. üb. Staat, Philos. u. Kunst, 2 Bde., 1812; neue Ausg. 1817. — Von der Notwendigkeit e. theol. Grundlage der gesamten Staatswissenschaft, 1820. — Neuausgaben in der Sammlung: D. Herdflamme, Bd. 1, 2, 19. — Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. v. J. Baxa, 1921. L i t e r a t u r : Lenz, Friedr., Agrarlehre u. Agrarpolitik d. deutschen Romantik, 1912. — Palyi, M., Die romant. Geldtheorie, in: Arch. f. Sozialwiss. u. Sozialpol., Bd. 17; 1916—17; S. 89—118, 535—560. — Schmitt, Carl, Polit. Romantik, 2. Aufl. 1925. — Meinecke, Friedr., Weltbürgertum u. Nationalstaat, 7. Aufl. 1928; Kap. 7. — Reinkemeyer, Ferdinand, A. M.s ethische u. philos. Anschauungen im Lichte d. Romantik, 1926. — Busse, Gisela v., D. Lehre v. Staat als Organismus, 1928. — Baxa, Jacob, A. M.s Philos., Ästhetik u. Staatswiss., 1929; A. M., 1930. — Hellenbroich, Hugo, A. M.s Wirtschaftsphilos., Diss., Köln 1926. — Aris, Reinhold, D. Staatslehre A. M.s, 1929. — Walzel, Oskar, Romantisches . .., A. M.s Ästhetik, 1934; in: Mnemosyne, H. 18. — Ferber, Ernst, D. Begründung d. deutschen Landwirtschaftslehre durch A. M., 1934. — Lütke, Heinz, Die Theorie der produktiven Kräfte. Eine Untersuchg. über die Lehre von A, M., F. List u. O. Spann, Diss., Erlangen 1935. — Maximilian Kühtreiber, Die Nachwirkungen A. M.s, in: Ständisches Leben, 1934. — Adolph Matz, Herkunft u. Gestalt d. A. M.schen Lehre v. Staat u. Kunst, Diss., Philadelphia 1937. — Eugen Sasse, A. M. in Lehre u. Leben, Nürnberg 1935. — L. Sauzin, A. H. M. Sa vie et son oeuvre, Paris 1937. Mfiller, Alfred D e do, geb. 12. Januar 1890 in Hauptmanngrün (Vogtl.). Dr. theol. et phil. O. Prof. 1930 in Leipzig, erster Universitäts-Prediger ebda. Für das Forschen M.s ist grundlegend das Problem der Realität. Er untersucht zunächst das Wirklichkeitsbild d e s modernen Menschen, insoweit es von der Naturwissenschaft entscheidend beeinflußt und metaphysiklos ist. Er sieht es, bei aller Betonung seines Immanenzcharakters, überall wider Wissen und Willen durchbrochen von letzten Voraussetzungen glaubensmäßiger Art, die in Philosophen-Lexikon

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Müller, Aloys — Müller, Georg Elias

aller seiner Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit wirksam sind. Das Realitätsproblem führt damit zur Erörterung des Glaubensproblems. Dieses wird als unausweichliches menschliches Grundproblem erkannt. Nun bedarf die Frage nach den Kriterien für den richtigen und falschen Vollzug des GLaubensaktes der Klärung. In der radikalen Aufhellung des Wirklichkeitsproblems und seiner letzten Voraussetzung sieht M. die zentrale Aufgabe der Theologie, die es als Lehre von Gott immer mit dem letzten Sinn- und Wirklichkeitsgrund alles Seins zu tun hat. Die so gewonnene geistige Grundhaltung nennt M, religiösen Realismus. So gelangt das Problem der Realisierung zu seiner Bedeutung. Seinen konkreten Ausgangspunkt bildet die Kulturkrise. Der bloß technische Gestaltungswille reicht nicht für ihre Bewältigung zu. Nur eine neue Lehre vom Menschen und von der Welt kann weiter helfen, und diese ist wieder nur vom letzten Sinn und Ursprung alles Seins her, also theologisch, möglich. Jede theologische Aussage ist zugleich anthropologisch und kosmologisch bedeutsam. Jede Anthropologie und Kosmologie hat ihre gesehenen oder nicht gesehenen theologischen Voraussetzungen. Die urbildliche Lösung des Problems der Realisierung heißt Kirche. In der Methode verfährt M. phänomenologisch. Es kommt ihm darauf an, für alle konkreten Fragen der Gegenwart zu theologischer Besinnung und Wesensschau zu gelangen. S c h r i f t e n : Religion u. Alltag. Gott u. Götze im Zeitalter des Realismus, 4. Aufl. 1932. — Du Erde höre! Der Realismus u. die Verwirklichung der christl. Botschaft, 2. Aufl. 1931. — D. Möglichkeit e. Protestant. Kirche, 1929. — Hrsgbr.: Fr. W. Förster u. d. wirkliche Welt, 1928. — Volk. Selbstbesinnung, 1925. — Religiöser Realismus, 1927. — Gottes Hausgenossen. D. Kirche Christi als Urbild menschl. Lebensordnung, 1933. — Verkündigung im Arbeitsdienstlager als Problem der Volksmission, 1934. — Die Treue Gottes, Pred. üb. d. Aufg. d. Inneren Mission, 1934. — Ethik, Berlin 1937. — D. Kampf um das Reich, Frankfurt 1935. — Luthers Katechismus u. wir, Frankfurt 1939. — Prometheus oder Christus? Die Krisis im Menschenbild u. Kulturethos des Abendlandes, 1948. L i t e r a t u r : Karl Buchheim, Religiöser Realismus, in: Religiöse Selbstbesinnung, 1928. — Johannes Haber, Theolog. Realismus; zur theol. Position A. D. M.s, in: Christentum u. Wissenschaft, 1931. — Art. M. in: Religion in Gesch. u. Gegenwart, 2. Aufl. 1930.

Muller, Aloys, geb. 11. Juli 1879 in Euskirchen. Promotion 1913, Habilitation in Bonn 1921. A. o. Prof. ebda. 1927. — Die Philosophie M.s ist dadurch gekennzeichnet, daß er verschieden« Wirklichkeitsarten unterscheidet, und von hier aus die einzelnen Gebiete der Philosophie zu verstehen sucht. Das Schauen gilt ihm in der philosophischen Arbeit für wertvoller als das Denken, seine allgemeine Tendenz aber geht auf wissenschaftliche Philosophie. S c h r i f t e n : Wahrheit u. Wirklichkeit, 1913. — Theorie d. Gezeitenkräfte, 1916. — D. Referenzflächen d. Himmels u. d. Gestirne, 1918. — D. philos. Probl. d. Einsteinschen Relativitätstheorie, 1922, 2. Aufl. von: D. Problem d. absoluten Raumes, 1911. — D. Gegenstand d. Mathematik mit bes. Beziehung auf die Relativitätstheorie, 1922. — Einl. in die Philos., 1925, 2. Aufl. 1931. — Psychol., 1927. — D. Fiktion in der Mathematik u. d, Physik, in: Naturwissenschaften, Bd. 1917. — Beitr. z. Problem d. Referenzflächen des Himmels u. d. Gestirne, in: Arch. f. d. ges, Psychol., 41, 1921. — Strukturwiss. u. Kulturwiss., in: Kantst. 27, 1922. — D. Sinn d. physikal. Axiomatik, in: Philos. Zeitschr., 24, 1923. — D. Relativitätstheorie u. d. Struktur d. physikal. Erkenntnis, in: Arch. f. Philos. u. philos. Kritik, 4, 1925. — Üb. d. Gegenstandscharakter d. Zahlen, ebda., 4, 1925. — D. große Synthese, in: Festschr. f. Dyroff, 1926. L i t e r a t u r : Kluge, Fritz, Die Philos, der Math. u. Naturwiss. bei A. M., Diss., Leipzig 1935 (mit Bibliogr.).

Müller, Georg Elias, geb. 20. Juli 1850 in Grimma, gest. 23. Dezember 1934 in Göttingen. Priv.-Doz. für Philosophie in Göttingen 1876, o. Prof. in Czernowitz

Müller, Johannes — Müller, Max

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1880; Prof. in Göttingen 1881 bis 1922. — Psychologe, vor allem Gedächtnisforscher; Mitbegründer und einer der Hauptvertreter der experimentellen Psychologie. S c h r i f t e n : Zur Theorie der sinnl. Aufmerksamkeit, 1873. — Zur Grundlegung der Psychophysik, 1879. — Theorie d. Muskelkonzentration, 1891. — Experimentelle Beitr. z. Lehre v. Gedächtnis, zus. m. Pilzecker, in; Zeitschr. f. Psychol., Erg.-Bd., I, 1900. — Experim. Beitr. z. Unters, d. Gedächtnisses, zus. m. Schumann, in: Zeitschr. f. Psychol., Bd. VI. — Zur Analyse d. Unterschiedsempfindlichkeit, zus. mit L. J . Martin, 1899. — Die Gesichtspunkte u. Tatsachen der psychophys. Methodik, 1903. — Komplextheorie u. Gestalttheorie, 1923. — Zur Analyse der Gedächtnistätigkeit u. des Vorstellungsverlaufes, 3 Bde., 1911—17; 2. Aufl. 1924. — Abriß d. Psychol., 1924. — Typen der Farbenblindheit, 1924. L i t e r a t u r : D. Katz, G. E. M., in: Forschungen u. Fortschritte, VI, 1930.

Müller, Johannes, geb. 14. Juli 1801 in Koblenz, gest. 28. April 1858 in Berlin. Studierte in Bonn und Berlin, 1824 Habilitation in Bonn, 1826 Prof. für Physiologie ebda., 1833 in Berlin. — Durch M.s Leistungen auf dem Gebiete der Physiologie, vor allem durch seine Untersuchungen über das Sehen von Menschen und Tieren, über Reflexbewegungen, über die Sinnesempfindtingen und ihre Beziehungen zum psychischen Erleben hat die Psychologie Anregung und Förderung erfahren. Er ist Begründer der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien. Sie besagt, daß ein Sinnesnerv vermöge seiner „eingeborenen Energie" auf die verschiedensten Reize mit der gleichen Empfindungsart antwortet. M. folgert daraus, daß die Empfindungen Zeichen für unbekannte subjektive Vorgänge sind, daß also Subjektivität der Sinnesqualitäten vorliegt. Helmholtz hat diese Theorie in seiner Lehre von den Ton- und Lichtempfindungen weitergebildet in dem Sinne, daß die „Modalität" der Empfindungen durch den Sinnesnerv bestimmt wird, die „Qualität" aber vom äußeren Reiz mit abhängig ist. — M. hat als Erster hingewiesen auf die Vereinbarkeit der Einsichten, die in Spinozas Affektenlehre stecken, mit den Ergebnissen der neueren Psychologie; die Auffassung der Affekte als Abwandlungen des Selbsterhaltungstriebes und die grundlegende Bedeutung von Lust und Unlust (laetitia und tristitia) für das Affektleben spielen dabei die Hauptroll«. S c h r i f t e n : Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes der Menschen u. der Tiere, 1826. — Üb. die phantastischen Gesichtserscheinungen, 1826. — Handb. der Physiologie des Menschen, Bd. I u. II, 1833 ff. L i t e r a t u r : Du Bois-Reymond, Gedächtnisrede auf J . M., 1860. — K. Post, J . M.s philos. Anschauungen, 1905. — Müller, Martin, Üb. d. philos. Anschauungen d. Naturforschers J . M., 1927.

Müller, Josef, geb. 14. Juli 1855 in Bamberg. Dr. Privat-Gelehrter. Scholastischer Standpunkt. S c h r i f t e n : Eine Philos. des Schönen in Natur u. Kunst, 1897; 3. Aufl. 1925. — System d. Philos., 1898. — D. Reformkatholizismus, e. Religion d. Zukunft, 2 Bde., 1899. — J e a n Paul, 1894; 2. Aufl. 1925. — Die Seelenlehre Jean Pauls, 1894. — Das Wesen des Humors, 1895. — J e a n Paul-Studien, 1899. — Moralphilos. Vorträge, 1904. — Das sexuelle Leben der Völker, 1934; 3. Aufl. der Gesch. des sexuellen Lebens der Menschheit. — Des Christen Lebensweg, 1934. — Selbstbiographie: Das Leben eines Priesters, 1903. — Hrsgb. d. Renaissance, Org. d. deutschen Reformkatholiken, 8 Bde., 1900—07.

Muller, Max, geb. 6. Dezember 1823 in Dessau, gest. 28. Oktober 1900 in Oxford. 1854 Prof. der Philologie in Oxford. Erforscher indischer Theologie, Übersetzer indischer theologisch-philosophischer Texte. Sprach- und Religionstheoretiker von bedeutendem Einfluß. \r

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Müller, Michael — Müller-Freienfels

S c h r i f t e n : Lectures on the Science of Language, 1861, 1891; deutsch 2 Bde., 1892—93. — Chips from a German Workshop, 4 Bde., 1868—75, neue Ausg. 1895; deutsch: Essays, 4 Bde., 1869—76; Bd. 1 u. 2, 2. Aufl. 1879—81. — Einl. in die engl. Religionswiss., 1874. — Lectures on the Origin and Growth of Religion, 1878; deutsch 1880; 2. Aufl. 1881. — Das Denken im Lichte der Sprache, engl. 1887, deutsch 1888. — Gifford Lectures: Natural Religion, 1889; deutsch 1895. — The Six Systems of Indian Philosophy, 1899. — Last Essays, 2 Bde., 1901. — Hrsgb.: Sacred Books of the East, 49 Bde., Bd. 50 von Winternitz, seit 1879. — Gem. mit Noiré: Übers, v. Kants Kritik d. r. V., 2 Bde., 1882. — Auld lang syne, 2 Serien, 1898—99; deutsch: Alte Zeiten. — Alte Freunde, 1901. — My autobiography, 1901; deutsch: Aus meinem Leben, Fragmente, 1902. — Collected Works, 20 Bde., 1900. — Ausgewählte Werke, 1897—1900. L i t e r a t u r : Müller, Georgina A., The life and letters of the R. H. Friedr. Max M., 2 Bde., 1902. — Paul Berkenkopf. D. Voraussetzungen d. Religionsphilos. F. M. M.s, Diss., Münster 1914.

Müller, Michael, geb. 24. Juni 1889 in Bamberg. Dr. theol. 1920, Habilitation Würzburg 1924. Prof. der katholischen Moraltheologie an der philos.-theol. Hochschule Bamberg 1927, Professor in Würzburg 1939. S c h r i f t e n : D. Freundschaft des hl. Franz v. Sales mit d. hl. Johanna Franziska v. Chantal, 1923; 2. Aufl. 1924. — Ethik u. Recht in der Lehre v. d. Verantwortlichkeit, 1932. — Frohe Gottesliebe, D, rel.-sittliche Ideal des hl. Franz v. Sales, 1933; 2. A. 1936.

Müller-Braunschweig, Carl, geb. 8. April 1881 in Braunschweig. Promotion Dr. phil 1913, Dozent am psychoanalytischen Institut zu Berlin 1921. S c h r i f t e n : D. Evangelium v. neuen Menschen, 1904. — D. Methode e. reinen Ethik, insbes, d. Kantischen, dargest. an e. Analyse d. Begriffs eines „Praktischen Gesetzes"; in: Ergänzungshefte d. Kantstudien, 11, 1908. — D. Verhältnis d. Psychoanalyse zu Ethik, Religion u. Seelsorge, 1927; 2. Aufl. 1928. — Mitarb. v. Joh. Neumann, Entwicklung z. sittl, Persönlichkeit: Entwicklung zur sittl. Persönlichkeit nach Forschungen d. Psychoanalyse, 1931.

Müller-Freieniels, Richard, geb. 7. August 1882 in Ems. Dr. phil., Prof. an der Pädagogischen Akademie Stettin 1930. Dozent an der Handelshochschule Berlin 1933, Professor an der Universität Berlin 1946. — M.-F. begann als Ästhetiker und Psychologe, indem er die Probleme der Kunst mit den Mitteln der modernen Psychologie zu erforschen strebte. Aus der Einsicht in die Unzulänglichkeit der sensualistischen Psychologie kommt er zum Versuch einer eigenen Darstellung des Seelenlebens, wobei er vor allem das Gefühls- und Willensleben aus einer ganzheitlich-vitalistischen Grundposition heraus erklären will (Lebenspsychologie). Besonders erforscht er die individuellen Verschiedenheiten des Seelenlebens. Er versucht diese in seiner Kunstforschung typologisch zu fassen und geht ihnen in dem Buch „Persönlichkeit und Weltanschauung" auch für die Geistesgebiete von Religion und Philosophie nach. Sein eigenes systematisches Denken, das sich als irrationaler Dynamismus kennzeichnen läßt, widmet er dem Problem der Individualität, indem er gerade die überindividuellen Lebensmächte aufzudecken sucht, die hinter dem individuellen Bewußtsein spielen. In dem für M.-F. besonders charakteristischen Hauptwerk „Metaphysik des Irrationalen" wird die Welt als ein System irrationaler, aber geordneter Kräfte begriffen. Als letztes Ziel seines Forschens gilt ihm nicht ein rein intellektuelles Erkennen der Welt, sondern ein Erleben, das das Dasein auch in seinen nicht dem Verstände zugänglichen Tiefen zu erfassen sucht. S c h r i f t e n : Psychol. d. Kunst, 3 Bde., 1912; 3. Aufl. 1925. — Lebenspsychol., 2 Bde., 1916; 2. Aufl. 1924. — Persönlichkeit u. Weltanschauung, 1918; 2. Aufl. 1923. — Philos. d. Individualität, 1921; 2. Aufl. 1922. — Psychol. d. deutschen Menschen, 1922. — Irrationalismus, 1923. — Erziehung zur Kunst, 1925 — Die Seele des Alltags, viele Aufl.,

Müller-Lyer — Müncker

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u. a. 1925. — Metaphysik d. Irrationalen, 1927. — Geheimnisse der Seele, 1928; 2. A. 1937. — Allg. Sozial- u. Kulturphilos, 1929. — Hauptrichtungen der gegenwärtigen Psychologie, 3. A. 1930. — Allg. Sozial- u. Kulturpsychologie, 1930. — Tagebuch eines Psychologen, 1931. — Gesch. d. Bildungs- u. Erziehungswesens, 1933. — Gedächtnisschulung, 1933. — Lebensnahe Charakterkunde, Leipzig 1935. — Kindheit u. Jugend, Leipzig 1937. — D. Liebe zw. Mann und Weib, Bad Homburg 1938; 2. Aufl. 1940, — Menschenkenntnis u. Menschenbehandlung, Berlin 1940; span. 1942. — Psychologie d. Musik, Berlin 1936. — Psychol. d. Wissenschaft, 1936. — Werde, was Du bist! Hamburg 1936, 2. Aufl. 1941. M ü l l e r - L y e r , F r a n z , g e b . 5. F e b r u a r 1857 in B a d e n - B a d e n , g e s t . 29. O k t o b e r 1916 in M ü n c h e n . P s y c h i a t e r . — M . v e r t r i t t a l s K u l t u r s o z i o l o g e einen a k t i v i s t i s c h e n E v o l u t i o n i s m u s u n d P o s i t i v i s m u s . E r g e s t a l t e t eine T h e o r i e d e r K u l t u r p h a s e n u n d stellt d e r K u l t u r s o z i o l o g i e d i e A u f g a b e , eine K u l t u r b e h e r r s c h u n g vorzubereiten. S c h r i f t e n : Pysiolog. Studien üb. Psychophysik, 1886. — Psychophys. Untersuchungen, 1889. — Opt. Urteilsanschauungen. 1889. — Étude sur la Perceptibilité différentielle, 1891. — Vereinfachte Harmonik, auf Grundlage e. natürl. Harmoniesystems, 1894. — Phasen d. Kultur u. Richtungslinien d. Fortschritts, 1908. — Entwicklungsstufen d. Menschheit, 1910. — Der Sinn des Lebens u. die Wissenschaft, 1910; 2. Aufl. 1918. — Formen der Ehe, der Familie u. der Verwandtschaft, 1911. — Die Familie, 1912. — Phasen der Liebe, 1913. — Soziologie der Leiden, 1914. — Die Zähmung der Nornen, Soziologie der Zuchtwahl u. des Bevölkerungswesens, 1918. — Die Zähmung der Nornen, Soziologie der Erziehung, 1924. L i t e r a t u r : Rudolf Eisler, F. M.-L. als Soziolog und Kulturphilosoph, München 1923. — Dem Andenken an M.-L., 1926. — Riemann, Robert, M.-L., 1927. M ü n c h , F r i t z , g e b . 29. O k t o b e r 1879 in W a s s e l n h e i m ( A l t e l s a ß ) , g e s t . 17. A p r i l 1920 in J e n a . P r o m o t i o n m i t der D i s s . „ E r l e b n i s u n d G e l t u n g , eine s y s t e matische Untersuchung zur Transzendentalphilosophie als Weltanschauung". Habilitierung in J e n a . — M . h a t sich s e l b s t a l s einen N a c h f o l g e r F i c h t e s bezeichnet. E r w o l l t e ein „ h i s t o r i o - k r i t i s c h e s " S y s t e m der t r a n s z e n d e n t a l e n L o g i k a l s e x a k t e W i s s e n s c h a f t entwickeln. S e i n e U n t e r s u c h u n g d e s V e r h ä l t n i s s e s v o n E r l e b n i s u n d G e l t u n g b e z i e h t sich auf die T a t s a c h e n d e r K u l t u r g e s c h i c h t e u n d w u r z e l t in den P r i n z i p i e n t r a n s z e n d e n t a l e r E r k e n n t n i s . D i e W e l t des u n m i t t e l b a r E r l e b t e n , T a t s ä c h l i c h e n d e r G e s c h i c h t e ist v o r w i s s e n s c h a f t l i c h gegeben. M . h a t t e sich a l s A u f g a b e gesetzt, P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e n a c h h i s t o r i o - k r i t i s c h e r M e t h o d e zu e r d e n k e n u n d zu erleben. S c h r i f t e n : Erlebnis u. Geltung, e. systemat. Untersuchung z. Transzendentalphilos., 1913. — Kultur u. Recht, 1918. — D. wissenschaftl. Rechtsphilos. d. Gegenwart in Deutschland, Beiträge z. Philos, d. deutschen Idealismus, Bd. I. — Wesen, Aufgabe, Sprache d. deutschen Philos, in ihrem Verhältnis zueinander, 1924. L i t e r a t u r : Eberhard Zschimmer, F. M., Kantstudien 25, 1920. M ü n c h , W i l h e l m , geb. 23. F e b r u a r 1843 in S c h w a l b a c h , gest. 25. M ä r z 1912 in B e r l i n . G y m n a s i a l - P r o f . in B e r l i n . S c h r i f t e n : Handb. d. Erziehungs- u. Unterrichtslehre, 4. Aufl. 1902. — Geist des Lehramts, 1903; 2. Aufl. 1919. — Zukunftspädagogik, 1904. — J e a n Paul, D. Verfasser der Levana, 1907. — Kultur u. Erziehung, 1909. — Zum deutschen Kultur- u. Bildungsleben, 1912. M ü n c k e r , T h e o d o r , g e b . 3. M ä r z 1887 in Ü r d i n g e n (Niederrhein). P r o m o t i o n z u m D r . theol. 1922, h a b i l i t i e r t e sich 1923 für M o r a l t h e o l o g i e in B o n n und w u r d e 1929 a. o. P r o f . in P a s s a u , 1932 o. P r o f . in B r e s l a u , 1935 in F r e i b u r g i. B r . S c h r i f t e n : D, psych. Zwang u. s. Beziehungen z. Moral u. Pastoral, 1922. — Psychoanalyse u. Seelsorge, 1927; in: Bonner Zeitschrift für Theologie und Seelsorge,

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Mündt — Münsterberg

1927. — D. psychol. Grundlagen d. kathol. Sittenlehre, 1934, 2. A. 1940. — Hrsg.: D. Bild vom Menschen, Beiträge zur Theologie u. philos. Anthropologie (gem. m. Steinbüchel), Fritz Tillmann z. 60. Geburtstage, 1934.

Mündt, Theodor, gab. 19. September 1808 zu Potsdam, gest. 30. November 1861 in Berlin. Studierte in Berlin Philosophie und Philologie; seit 1832 lebte er in Leipzig. Da er zum „jungen Deutschland" gezählt wurde, geriet er in Schwierigkeiten mit der Regierung. Erst 1842 wurde ihm auf Verwenden Schellings eine Habilitation in Berlin gestattet. 1848 Professor der allgemeinen Literatur und Geschichte in Breslau; 1850 Professor und Universitätsbibliothekar in Berlin. — M. hat zwar gegen Hegel polemisiert, ist aber in seinen ästhetischen Gedanken stark von ihm bestimmt.

S c h r i f t e n : Kritische Wälder, 1833. — D. Kunst d. deutschen Prosa, 1837. — Gesch. d. Gesellschaft, 1844. — D. Idee d. Schönheit u. d. Kunstwerks im Lichte unserer Zeit, 1845. — Ästhetik, 1845; 2. Aufl., 1868. — Staatsberedsamkeit d. neueren Völker, 1848. — Katechismus d. Politik, 1848. — Dramaturgie oder Theorie u. Gesch. d. dramat. Kunst, 1849. — Macchiavelli, 1851. — Gesch. d. deutschen Stände, 1853. L i t e r a t u r : Grupe, Walter, M.s u. Kühnes Verhältnis zu Hegel u. s. Gegnern, 1928. — Hanna Quadfasel, Th. M.s literar. Kritik u, die Prinzipien seiner »Ästhetik«, Diss., Heidelberg 1932.

Münsterberg, Hugo, geb. 1, Juni 1863 in Danzig, gest. 16. Dezember 1916 in Cambridge (U.S.A.). Studierte von 1882 an Medizin in Genf, dann in Leipzig, wo Wilhelm Wundt ihn für die neue Wissenschaft der experimentellen Psychologie gewann. 1885 philosophische Promotion mit einer Dissertation über „Natürliche Anpassung", 1887 medizinische Promotion und Habilitation für Philosophie in Freiburg i. Br. Dorthin kam 1889 Rickert, mit dem M. Freundschaft schloß. 1892 erhielt M. eine Berufung an die Harvard-Universität in Cambridge (Mass.) als ordentlicher Professor für experimentelle Psychologie auf Veranlassung von William James. M. nahm an und schuf ein großes Institut für experimentelle Psychologie an Harvard, kehrte aber 1895 nochmals nach Freiburg i. Br. zurück. Da ihm die Heimat eine angemessene Wirkungsmöglichkeit versagte, so ging er 1897 endgültig an die Harvard-Universität über. 1910 bis 1911 wirkte er als Austauschprofessor an der Universität Berlin. Dort war 1908 durch M. das AmerikaInstitut gegründet worden. Seine starke organisatorische Fähigkeit bewies M auch im Jahre 1904 bei der Veranstaltung des Welt-Kongresses in St. Louis. Die philosophische Forschung hat durch die Kraft der vielseitig entfalteten Gedanken M.s auf zahlreichen Gebieten Anregung und Förderung erfahren; am stärksten innerhalb der Psychologie, am nachhaltigsten zum Wertproblem. Sein Lehrer Wundt gab M. die Richtung zur experimentellen Psychologie, die auf amerikanischem Boden zur Wirtschaftspsychologie und allgemein zur Psychotechnik gedieh. Rickert weckte und entwickelte M.s Hang zum Systematisieren; er verhalf ihm zur Erkenntnis von den Grenzen der naturwissenschaftlichen Denkmittel und zu der Einsicht, daß die philosophische Frage der Geltung eine Trennung von Sein und Sollen bedingt und nicht auf psychologischem Wege beantwortet werden kann. Endlich trat unter Rickerts Einfluß der Wertgedanke in den Mittelpunkt von M.s Philosophieren. Dazu kam M.s Vorliebe für Fichte, die seiner eigenen Hinneigung zum tätigen Leben, zum Handeln entsprang. Und so stellte M. sich die Aufgabe, eine „Synthese von Fichtes ethischem Idealismus mit der physiologischen Psychologie unserer Zeit" zu geben. Willenserlebnis und Wertbegriff verschmelzen ihm dabei in eins. Als Experimentalpsychologe hat M. entscheidendes Gewicht gelegt auf die Fragestellung, zu der der Versuch die Antwort finden soll, „Schließlich ist es

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besser, eine nur annähernd korrekte vorläufige Antwort auf ein« richtig gestellte Frage zu gewinnen, als eine bis zur letzten Dezimalstelle genaue Antwort auf eine falsch gestellte Frage." Die Untersuchungen, die er im Harvard-Laboratorium anstellen ließ, spannten den Rahmen weit: psychologische Ästhetik wurde besonders gepflegt, Tierpsychologie wiurde in den Forschungskreis einbezogen. Von seinem psychologischen Gesamtplan, der die Grundzüge der Psychologie, Individualpsychologie, Sozialpsychologie, Seelenlehre, Kulturpsychologie und Psychotechnik umfassen sollte, hat M. nur den ersten Teil, die Grundzüge, vollendet und dem letzten, der Psychotechnik, vorgearbeitet. Die Selbständigkeit der Psychologie als Wissenschaft hat der Philosoph M. nicht angetastet, wenn er auch lehrt, daß der Weg zur wissenschaftlichen Behandlung der Bewußtseinserlebnisse durch die Philosophie hindurchführt, weil Vorstellungen, Gefühle, Willenstätigkeiten als Gegenstände der Psychologie erst der begrifflichen Bearbeitung bedürfen. „Der Gegenstand der Psychologie gewann logisch seine Existenz dadurch, daß die Wirklichkeit objektiviert wurde, die Bewertungsobjekte des aktuellen Ich vom Subjekt also losgelöst und die Aktualität selbst in erfahrbare Vorgänge umgesetzt wurde; innerhalb dieser objektivierten Welt sondern sich Naturwissenschaft und Psychologie derart, daß die letztere es nur mit den Objekten zu tun hat, welche lediglich für einen Subjektakt bestehen" (Grundzüge der Psychologie I, S. 202). Das physische und das psychische Objekt haben also einen gemeinsamen Ursprung, sind in gleicher Weise „erfahrbar, vorfindbar für ein Ich". Unterscheidendes Merkmal ist allein, „daß alles Psychische immer nur e i n e m Ich und niemals mehreren zugehört". „In dem vorgefundenen Objekt nennen wir psychisch, was nur einem Subjekt erfahrbar ist, physisch, was mehreren Subjekten gemeinsam erfahrbar gedacht werden kann" (Grundzüge I, S. 72). Die Einzigartigkeit des psychischen Erlebnisses bewirkt, daß es „unmitteilbar" ist, und daß Psychisches mit Psychischem nur auf dem Umweg über das Physische in Verbindung gebracht werden kann. Voraussetzung dafür ist die Möglichkeit einer durchgängigen Zuordnung von Physischem und Psychischem, eine Art von psychophysischem Parallelismus. Den physischen Erscheinungen liegen letzten Endes Bewegungsvorgänge zugrunde; daraus folgt bei Annahme des Parallelismus, „daß, wenigstens theoretisch, der gesamte Bewußtseinsinhalt durch die Berechnung mechanischer Vorgänge vorausbestimmt werden kann" (S. 415). Doch kann dies nur dann gelingen, „wenn aller Bewußtseinsinhalt sich aus Elementen zusammensetzt" (S. 332), wenn die psychischen Phänomene auflösbar sind in Sinnesempfindungen. Die „Empfindung" ist zwar aus dem Wahrnehmungsbestand künstlich herausgelöst und ihrerseits durch Verschmelzung und Verbindung einfacher Urelemente entstanden, die sich unserm Zugriff entziehen. Aber sie genügt dem logischwissenschaftlichen Bedürfnis, und die Psychologie hat zur Erfüllung ihrer Aufgaben „jegliches psychische Gebilde als Verbindung von Empfindungen aufzufassen; als Empfindung aber gilt ihr jeder nicht weiter zerlegbare Bestandteil einer sinnlichen Vorstellung" (Phil, der Werte, S. 146). M. vertritt eine von ihm selbst so genannte „Aktionstheorie" der Empfindung; das heißt, er nimmt an, daß jede Empfindung an einen motorischen Vorgang geknüpft ist. Sie ist „dem Übergang von Erregung zur Entladung im Rindengebiet zugeordnet", und zwar so, „daß die Qualität der Empfindung von der räumlichen Lage der Erregungsbahn, die Intensität der Empfindung von der Stärke der Erregung, die Wertnuance der Empfindung von der räumlichen Lage der Entladungsbahn und die Lebhaftigkeit der Empfindung von der Stärke der Entladung abhängt" (Grundzüge I, S. 549, 531).

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Von der objektiviferten Welt, die den Naturwissenschaften und der Psychologie zum Gegenstand dient, ist die Welt des unmittelbaren Erlebens grundlegend verschieden. Sie hat es nicht zu tun mit mechanisch und ursächlich verketteten Tatsachen, sondern mit einem zweck- und sinnvollen Lebenszusammenhang. In ihr ist der Mensch „Subjekt einheitlichen Stellungnehmens", eingebettet in Wert- und Willensbeziehungen zu andern Subjekten, deren Wirklichkeit er gleichfalls unmittelbar erlebt und anerkennt. Dieses wollende, lebendig-wertsetzende, stellungnehmende ist das wirkliche Subjekt. Es steht wirklichen Objekten gegenüber. „Das Ich, das meinen Dingvorstellungen gegenübersteht, ist das stellungnehmende Subjekt, als das ich mich in jedem wirklichen Erleben weiß und betätige. Nur dadurch, daß ich in bezug auf meine Objekte Stellung nehme, weiß ich von mir als Subjekt, nur dadurch, daß ich die Stellung Objekten gegenüber wähle, haben jene Objekte für mich Wirklichkeit" (Grundzüge I, S. 50). — „Die wirklichen Objekte sind gültig und wertvoll, die abgelösten Objekte, die physischen und die psychischen, existieren" (I, S. 56). Das stellungnehmende Subjekt, das Ich, ist nach M. Wille und ein Teil des Urstrebens. Durch eigene Tat erweitert es sich zum „Über-Ich", das als Absolutes ein Urwille ist und allem Sein zugrunde liegt. So besteht das Wesen des Ich im „Willen zum festhaltenden Ineinssetzen", und das Wesen der Welt ist ein System von Tathaiidlungen des Urwillens. Die individuellen Wollungen haben ihren Ort in der Seele, einem ideellen System, „das in der gesamten Reihe wirklicher Wollungen sich auslebt und doch in jedem neuen Akt sich mit dem gesamten System identisch setzt". Die Seele ist beharrend, einheitlich, selbstbewußt, unsterblich und frei. Zeitlosigkeit ist ein Merkmal auch des wirklichen Subjekts, im Gegensatz zum psychophysischen; wohl ist jenes zeitsetzend, aber nicht zeitfüllend, wie dieses. Zeit und Raum sind Formen der Objekte, Zeit ist an die Wahrnehmung geknüpft; die Erlebniswelt aber ist außerzeitlich, wie die Willensakte, die ihr angehören, und wie die Erkenntnisse, die erst' der Wille schafft. Einen Zusammenhang zwischen den Willenshandlungen herzustellen — einen sinnvollen, nicht einen kausalen! — ist übrigens Aufgabe des Historikers. Auch er hat es also mit dem zeitfreien Subjekt zu tun. „Sofern wir den wirklichen Subjekten die zeitlich und räumlich bestimmten psychophysischen Individuen substituieren, sind sie nicht mehr eigentliche historische Persönlichkeiten, so notwendig diese Unterschiebung auch für die Beschreibung des Materials sein mag; erst wenn die vorbereitende Substitution wieder aufgehoben ist, kann an die Stelle der psychophysischen Beschreibung die subjektivierende Einfühlung treten und damit die wirklich historische Betrachtung einsetzen" (Grundzüge, S. 125). Ein Wille, der Stellung nimmt; ein Wollen von überindividueller Tendenz, geltend für jedes Bewußtsein überhaupt; ein „reines Wollen" steckt in jedem Wert. Die Werte dürfen also nicht in bloßes Sollen aufgelöst werden. „Alles Bewerten und Vorziehen setzt . . . offenbar einen Willen voraus, der Stellung nimmt und Befriedigung findet" (Phil, der Werte, S. 8). Dieses Bewerten geht dem Sein voraus. Die reine Bewertung ist das Apriori der Welt; sie ist „reine Ineinssetzung der Erfahrungen" (S. 79). Die Werte sind vom individuellen Wollen des Menschen unabhängig. Sie gelten allgemein, „weil sie für jedes Geisteswesen gültig sind, das mit uns unsere Welt teilt" (S. 40). Wertvoll ist letzten Endes das, was dem Willen des Über-Ich gemäß ist, die Verwirklichung des Willens zur Welt. Das Band zwischen den individuellen Wollungen und den absoluten Werten wird geschaffen durch die Forderung, die jenen innewohnt, daß

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es eine Wirklichkeit geben muß. Der Grad, in dem jene Forderung erfüllt ist, gibt den Maßstab ab für die Werthöhe. Darauf beruht die Möglichkeit für ein System der Werte. M.s Wertlehre will nicht nur für die normativen Wissenschaften, Ethik und Ästhetik, gelten. Sie will die Gesamtphilosophie systematisch durchdringen, ausgehend von einer „ursprünglichen Tathandlung, die unserem Dasein ewigen Sinn gibt", eben von dem „Willen, daß es eine Welt gibt". „Die Welt ist eine Tat." Der Wert der Welt selbst ist absolut. Die Objekte, die für den Menschen schlechthin wertvoll sind, ordnet M. in zwei große Gruppen: die unmittelbar gesetzten oder Lebenswerte, und die Kulturwerte, die der Mensch zielbewußt schafft. M. gelangt zur Annahme von 24 reinen Werten — darunter 18 Erfahrungsbegriffen und 6 metaphysischen Begriffen, — die sich auf die drei Gebiete Außen-, Mit- und Innenwelt zu je vier Gruppen verteilen. Lebenswerte sind danach: 1. logische Werte, folgend aus der Selbsterhaltung der Welt: a) Dinge, b) Wesen, c) Bewertungen; 2. ästhetische Werte, aus der Ubereinstimmung der Welt mit sich selbst sich ergebend: a) Harmonie, b) Liebe, c} Glück; 3. der Selbstbetätigung der Welt entstammen die ethischen Werte: a) Wachstum, b) Fortschritt, c) Selbstentwicklung; 4. die Selbstvollendung der Welt führt zu den metaphysischen Werten, a) Schöpfung, b) Offenbarung, c) Erlösung. Die entsprechenden geschaffenen oder Kulturwerte sind: 1. als logische Werte: die Zusammenhangswerte, a) Natur, b) Geschichte, c) Vernunft oder System der Bewertungen — als Setzen von Seins- und Zusammenhangswerten bestimmt M. das Erkennen; 2. im ästhetischen Gebiet die Schönheitswerte, a) bildende Künste, b) Dichtung, c) Musik; 3. im Bereich des Ethischen die Leistungswerte: a) Wirtschaft, b) Recht, c) Sittlichkeit; 4. im Metaphysischen die Grundwerte, a) Weltall, b) Menschheit, c) Uber-Ich, Die metaphysischen Werte des Lebens und der Kultur umschließen die drei andern Wertgruppen: logische, ästhetische und ethische Werte. So ergibt sich als Lebenswert die Religion, als Kulturwert die Philosophie. Der Urgrund, in dem alle Werte wurzeln, ist das Heilige. Es ist ein Über-Ich, eine Tat; und die Werte sind seine Betätigungen. In den Dienst der Kulturaufgaben stellt M. seine Psychologie, indem er zeigt, was sie als Psychotechnik dem Arzt, dem Lehrer, dem Strafrichter bedeuten kann, und vor allem auch ihr Verhältnis zum Wirtschaftsleben erörtert. Dort kann und muß sie helfen, den richtigen Menschen an den richtigen Platz zu stellen. Aber sie hat auch eine theoretische Aufgabe, keine geringere nämlich als die Rechtfertigung der Psychologie überhaupt. „Ich habe mehr und mehr das Gefühl, daß die Psychotechnik allein unsere ziemlich verfahrene Kausalpsychologie retten und rechtfertigen kann. Für sich allein genommen ist die ganze kausale Behandlung des seelischen Lebens doch eine recht künstliche und unfruchtbare Betrachtungsart. Das Seelenleben ist Geist und will in seinem S i n n verstanden werden . . . Handelt es sich aber um die Erfüllung praktischer Aufgaben, wie die Psychotechnik sie verfolgt, so muß alles unter den Gesichtspunkt der Kausalität gerückt werden, und die an sich unhaltbare Psychologie gewinnt dadurch ihre Rechtfertigung." Als Erkenntnistheoretiker vertritt M. den Standpunkt, daß nur durch unser Erkennen — nicht außerhalb des Erkennens — die Wirklichkeit besteht. Erkennen ist Wertsetzen, genauer ein Setzen von Seins- und Zusammenhangswerten, die der logischen Sphäre der Wertordnung zugehören. Um dieser Annahme willen wird M. der werttheoretischen Richtung des Neukritizismus zugerechnet.

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Münz — Mutschelle

S c h r i f t e n : Die L e h r e v. der natürl. Anpassung in i h r e r Entwicklung, Diss., Lpz. 1885. — Ursprung der Sittlichkeit, 1889. — Beiträge z. experiment. Psychol., 1889—92. — A u f g a b e n u. M e t h o d e n d e r Psychol., 1891—92. — Psychology and Life, Boston 1899. — Grundzüge der Psychol., Bd. I, 1900; 2. Aufl. hrsg. v. M. Dessoir, 1918. — Der A m e r i k a n e r , 2 Bde., 1904; 4. Aufl. 1912. — Philos. d e r W e r t e , 1908 ; 2. Aufl. 1924. — E t e r n a l Life, 1906. — Science and Idealism, 1907. — Psychology and Industrial Efficiency, 1912; deutsch: Psychol. des W i r t s c h a f t s l e b e n s , 1912; 5. A u f l . 1922. — Psychology, general and applied, N e w York 1914. — Grundzüge d. Psychotechnik, 1914; 2. Aufl. 1920. — The P e a c e and America, Lpz. 1915. — A r b e i t u. Ermüdung, 1917. L i t e r a t u r : M a x Dessoir, Z. Erinnerung an H. M., in: 2. Aufl. d e r Grundzüge der Psychol., 1908, S. V—XX. — J . H. Wigmore, M. and the Psychology of Evidence, Illinois 1909. — F. Wunderlich, M.s Bedeutung für die Nationalökonomie, 1920.

Münz, Bernhard, geb. 1. Februar 1856 in Leipnik (Mähren). Lebte in Wien. M. ist Anhänger von Jakob Frohschammer. S c h r i f t e n : Die Keime der Erkenntnistheorie in der vorsophist. Philos., 1880. — Die E r k e n n t n i s - u. Sensatiomstheorie d. Protagoras, 1880. — D. vorsokrat. Ethik, 1882. — P r o t a g o r a s u. kein Ende, 1883. — Lebens- u. W e l t f r a g e n , 1886. — J . Frohschammer, 1895. — G o e t h e als Erzieher, 1904. — Friedrich H e b b e l als Denker, 1906. — Ibsen als Erzieher, 1908. — S h a k e s p e a r e als Philosoph, 1918.

Musonios, Rufus, aus Volsinii in Etrurien. Labte um 60 n. Chr. — Der Spätstoiker M. erforschte das ethische Verhalten und gab genaue Anweisungen dazu. Seine Wirkung als Morallehrer war groß. Seine Ansichten zeigen vielfach Ähnlichkeit mit denen des Clemens von Alexandreia. S c h r i f t e n : Reliquiae, hrsg. v. O. Hense, 1905 (Biblioth. Teubn.).

Mussmann, Johann Georg, geb. wahrsch. 1798 in Danzig, gest. 30. Juni 1833 in Halle. 1819—22 Studium in Halle, 1826 Promotion in Berlin mit einer Diss. De idealismo sive philosophia ideali, 1828 Hab. in Halle mit einer Arbeit De logicae et dialecticae notione histórica; 1829 a. o. Prof. in Halle. M. war Anhänger Hegels, löste sich aber allmählich von ihm. S c h r i f t e n : Lehrb. d. Seelenwissenschaft, 1827. — Grundlinien d. Logik u. Dialektik, 1828. — Gesch. d. christl. Philos., m. bes. Rücksicht auf d. christl. Theologie, 1830. — Wiss. Beleuchtung der G r u n d s ä t z e der rel. W a h r h e i t s f r e u n d e , 1831 (anonym). — Vorlesungen über das Studium der W i s s e n s c h a f t e n u. K ü n s t e auf der Univ., 1832. L i t e r a t u r : Rosenkranz, Von Magdeburg bis Königsberg, 1873, S. 370 ff.

Mutianus, s. Rufus. Mutius, Gerhard v., geb. 6. Sept. 1872 in Gellenau (Glatz), gest. 18. Okt. 1934 in Berlin. Diplomat. Als Kultur- und Gesellschaftsphilosoph vorübergehend mit Keyserling in Verbindung. S c h r i f t e n : Die drei Reiche. E. Versuch philos. Besinnung, 1916; 2. Aufl. 1920. — G e d a n k e n u. Erlebnis. Umriß e. Philos. des W e r t e s , 1922. — J e n s e i t s von P e r s o n u. Sache. Skizzen u. V o r t r ä g e zur Philos. des Persönlichen, 1925. —< W o r t , W e r t , Gemeinschaft; sprachkrit. u. soziolog. Überlegungen, 1929. — Zur Mythologie der Gegenwart, G e d . üb. W e s e n u. Zus.hg. der Kulturbestrebungen, 1933. — Das K u n s t w e r k als Unschuld u. Gefahr, 1936.

Mutschelle, Sebastian, geb. 1749 in Allertshausen, gest. 1810. 1788 geistl. Rat in Freising, 1813 Prof. am Lyzeum zu München u, Pfarrer. Anhänger Kants. S c h r i f t e n : Üb. d. Sittlich-Gute, 1788. — Krit. Beiträge z. Metaphysik, Vermischte Schriften, 4 Bde., 1794—98; 2. Aufl. 1799. — Versuch e. . . . faßlichen Darstellung d. Kantischen Philos., 1802. L i t e r a t u r : Elegie auf den Hn. S. M„ 1800. — K. Weiller, S. M.s Leben, 1803.

Naassener — Natorp

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N. Naassener, s. Ophiten. Nahlowsky, Josef Wilhelm, geb. 18. März 1812 in Prag, gest. 15. Jan. 1885 in Graz. Prof. der Philosophie in Olmütz und Pest, 1862 in Graz. Anhänger Herbarts. S c h r i f t e n : Das Gefühlsleben, 1862; 3. Aufl. 1907. — Das Duell, s. Widersinn u. s. moral. Verwerflichkeit, 1864. — D. ethischen Ideen als waltende Mächte im Einzel- wie im Staatsleben, 1865; 2. Aufl. 1904. — Grundzüge z. Lehre v. d. Gesellschaft u. d. Staate, 1865. — Allg. prakt. Philos. (Ethik), 1870; 3. Aufl. 1903.

Natorp, Paul, geb. 24. Januar 1854 in Düsseldorf, gest. 17, August 1924 in Marburg. Studierte 1871 bis 1875 in Berlin, in Bonn, wo er bei Hermann Usener Philologie, und in Straßburg, wo er bei Ernst Laas Philosophie trieb. Im Jahre 1881 habilitierte er sich für Philosophie bei Cohen in Marburg. Dort wurde er 1885 zum ao., 1892 zum o. Prof. ernannt. Von 1887 an gab er die „Philosophischen Monatshefte" heraus. Um seiner engen Arbeitsgemeinschaft mit Cohen und der daraus erwachsenen philosophischen Leistungen willen wird N. zur Marburger Richtung des Neukantianismus gerechnet. Nach Cohens Tod entwickelt N. eine Philosophie eigener Prägung, die die bis dahin überdeckte Verschiedenheit seiner philosophischen Grundauffassung von der Cohens deutlich erkennen läßt. Ein Bruch mit seinem früheren Philosophieren liegt bei N. nicht vor, eher ein Freiwerden von bisher in ihrer Entwicklung gehemmten Erkenntnissen. Bezeichnend für den zukünftigen Philosophen ist die Haltung des Philosophiestudenten N. Die zünftige Philosophie lehnt er ab. „Ohnehin hatte es die Philosophie der Katheder nur zu gut verstanden, mich, wie beinahe jeden, in dem noch ein Funke von Philosophie ums Leben rang, ganz von sich zu verscheuchen." Aber zwei Bande halten ihn fest bei dem Philosophischen, wie er es meint: die mythologische Forschung des Bonner Philologen Hermann Usener, die im Grunde eine Formenlehre des mythischen und religiösen Geistes war, und „etwas ganz anderes, in seiner Art doch auch Philosophisches, vielleicht die deutscheste und die kosmischste Philosophie, ich meine die Musik Bachs, Beethovens und der Ihren", vor allem Richard Wagners. Tiefe Wurzeln schlägt frühzeitig in N. die Liebe zu Plato und die Bewunderung Kants. Diese zieht ihn zu Cohen. Für „Philosophie als Wissenschaft" liefert ihm Cohen fortan das Musterbild. Eis geht N. um „eine innerlichere Erfassung des Kulturlebens im ganzen, in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, nach dem ebenso lockenden wie warnenden Vorbild Herders und Hegels". — „Ich suchte, suchte unablässig nach der unerschütterlichen Sicherheitsgrundlage einer ungeteilt einen, Vernunft und Erfahrung, Natur und Menschengeist, Gemeinschaft und Individuum, Wissenschaft und Leben, das Letztrationale und Letztindividuale in undurchreißbaren Zusammenhang zwingenden Erkenntnis- und Lebenserfassung." Dieses Streben findet unter dem Einfluß Cohens seine feste Form durch N.s Bemühen um Fortentwicklung der kritischen Philosophie. Umbildung, Erneuerung und Verjüngung des kritischen Idealismus schwebt N. als Aufgabe vor. Er bekennt, Kant niemals bloß als Kritiker angesehen zu haben. Was die „kritische Methode im Dienste des wissenschaftlichen, des sittlichen, des künstlerischen und des religiösen Idealismus" leisten kann, ist für ihn entscheidend. Die Auffindung der richtigen Methode sieht N. als das philosophisch Wesentliche an. „Hat man gesagt, Kants Philosophie sei nur eine Methode, so ist dies »nur«, sofern darin eine Einschränkung liegen soll, nicht berechtigt. Es ist das Höchste, weis von einer

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Philosophie gesagt werden kann, daß sie Methode und nichts als Methode sei, denn das heißt, sie ist eine fortwirkende Kraft, Gedanken zu erzeugen, nicht bloß ein einzelnes gedankliches Erzeugnis" (Zum Gedächtnis Kants, in „Philosophie und Pädagogik", 1909, S. 304). Um dieses Standpunkts willen nennt N. sich lieber einen „Panmethodisten" als einen Panlogisten. Die Notwendigkeit einer idealistischen Grundüberzeugung steht N. von vornherein fest. „Es ist das Verständnis des Idealismus, welches unsrem Zeitalter, man muß es sagen, so gut wie abhanden gekommen ist, und welches ihm wiederzuerringen, wie ich mit wenigen glaube, eine absolute Notwendigkeit ist" (Piatos Ideenlehre, Vorwort zur 1. Aufl.). Kant hat diese Wiedererringung angebahnt. Schöpfer des Idealismus ist Plato. „Piatos Ideenlehre, das ist die Geburt des Idealismus in der Geschichte der Menschheit"; „In Plato ist der Idealismus urwüchsig, gleichsam autochthon"; „Die Einführung in Plato ist die Erziehung zur Philosophie; erwächst doch bei ihm zuerst ihr ganzer Begriff. Die Philosophie aber, nach diesem ihrem strengsten historischen Begriff, ist keine andre als: der Idealismus" (Vorwort V). Die Arbeit an Plato ist aufs engste verbunden mit N.s Kantforschung; denn „erst die Wiedergeburt des kantischen Idealismus hat zugleich für den Idealismus Piatos volles Verständnis gezeitigt". Piatos Grundansicht, die von Aristoteles verbogen und daher von der späteren Forschung meist verkannt wurde, ist nach N, die Erkenntnis, „daß die Ideen Gesetze, nicht Dinge bedeuten" (S. VI). Das Wort „idea", Sehen, Sicht oder Hinsicht, ist aufs beste dazu geeignet, „um die Entdeckung des Logischen, d. i. der eigenen Gesetzlichkeit, kraft deren das Denken sich seinen Gegenstand gleichsam hinschauend gestaltet, nicht als gegebenen bloß hinnimmt, in ihrer ganzen Ursprünglichkeit und lebendigen Triebkraft auszudrücken und dem Bewußtsein festzuhalten" (S. 1). Diese Entdeckung Piatos fußt auf des Sokrates Frage nach dem Begriff. N. ist der Ansicht, daß die Entwicklung des logischen Bewußtseins den entscheidenden Anstoß durch Sokrates, als den Entdecker des Begriffs, empfangen hat, nicht erst durch Plato. Idee ist Gesetz, letzter Sinn des Gesetzes „Einheit, Erhaltung der Einheit im Wechsel und Werden; allgemein theoretisch: Erhaltung der Einheit als Gesichtspunkt des Denkens zur Auffassung des Vielen, Differenten, zu dessen Bergung in der Erkenntnis" (S. 50). Idee, Gesetz ist also Denkeinheit. Sie konstituiert ihren Gegenstand. Damit wird der Ausblick frei auf einen Systemzusammenhang, eine Systemeinheit aller Wissenschaft, die die Welt der Idee und die Welt der Erfahrung umspannt. In diesem Systemzusammenhang führen alle Wissenschaften sich zurück auf eine Grundwissenschaft, nämlich auf die Wissenschaft von der Methode (Dialektik). Den reinen Idealismus Piatos setzt N. gleich mit der „unbedingten Souveränität des Gesetzes der Methode" (S. 84), den Logos als letzte Instanz der Erkenntnis bezeichnet er als „das Grundgesetz des Logischen, welches alle besonderen Denksetzungen und in diesen alles besondere Sein erst begründet". Alle besonderen Erkenntnisse vereinigen sich im Urgesetz der Erkenntnis, in ihrer Methodengrundlage; alle besonderen Wissenschaften führen zu d e r Wissenschaft, zu dem, was alle Wissenschaften erst begründet, und was in diesem Sinne überwissenschaftlich ist, zum Übergegenständlichen, Transzendentalen, zum „methodisch Überragenden" (S. 88). Für diese systematischen Grundgedanken sucht N. in philologisch genauer Erklärung Piatos den geschichtlichen Grund zu legen; doch geht es dabei ohne Willkürlichkeiten nicht ab. Sogar die „transzendentale Deduktion" Kants, „die Rechtfertigung eines Satzes durch den Nachweis, daß und wie er im Systeme der ursprünglichen Verfahrungsweisen des Denkens begründet

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ist", diese Beweisart „aus der Methode des Logischen" (S. 394), findet N. in Plato vorgebildet. Der Idealismus ist getragen von der Erkenntnis der Eigengesetzlichkeit des Denkens. Die theoretische Philosophie, das heißt nach N. die Logik als „transzendentale Logik" im Sinne Kants, muß diese Gesetzmäßigkeit des Denkens klar erfassen. Mit der Logik aber steht man nicht schon am Anfang der Erkenntnis. Auf diesen muß man erst durch Analysis zurückgehen, „Nur an dem schon vorliegenden .Faktum' der Wissenschaft kann Logik die Gesetze des Wissenschaffens selbst aufweisen, denn nur an ihm kann sie die Gesetze, von denen sie spricht, in ihrer Wirksamkeit beobachten und ihre Realität, d. h. ihre Leistungskraft, einen Sachsinn zu begründen, gleichsam auf der Tat betreffen" (Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, 2. Aufl. 1921, S. 10). Die Analyse, die zur Erreichung dieses Ziels hilft, hat den Zweck, die zugrundeliegenden Synthesen aufzudecken. N. hat häufig gegen die Verkennung des Sinns und des gegenseitigen Verhältnisses von Analyse und Synthese im Dienste der Philosophie und der Wissenschaft Kampf geführt. Er verteidigt das analytische Verfahren gegen den Vorwurf, das Ganze zu zerstückeln und damit zu zerstören. „Wer vor der Analyse zurückscheut, beweist nur, daß er der ganzen, jeder noch so weit getriebenen Analyse gewachsenen Urkraft der Synthese noch gar nicht inne geworden ist. Man ruft nach Leben und Seele. Diese sind gewiß nur in der Ganzheit zu erfassen. Aber gerade zu dieser Ganzheit gibt es keinen, weder logischen noch ethischen, noch selbst ästhetischen oder religiösen Zugang anders als durch Analyse, nämlich deren Ganzes." Die unterste Stufe eines Aufstiegs der logischen Methodik sieht N. im Verfahren der exakten Wissenschaften. Um eine logische Begründung der Mathematik hat er sich im Verfolg von Cohens Forschungen bemüht. „Es gibt zwischen der Mathematik und der Logik gar nicht eine äußere Scheidung der Gebiete, sondern nur einen inneren Unterschied der Fragerichtung. Mathematik nämlich zielt auf die Entwicklung des Logischen insbesondere, Logik auf die letzte, zentrale Einheit, in die alles Logische, seinem Begriffe nach, schließlich zurückgehen muß." Nur durch die begründete Forderung nach einem System logischer Grundfunktionen rechtfertigt sich eine Logik als abgesonderte Wissenschaft. Aufgabe dieses Systems ist die allseitige „Entwicklung jener letzten logischen Grundfunktion: der Einheit des Mannigfaltigen, der Vereinigung, die zugleich Sonderung, der Sonderung, die zugleich Vereinigung ist" (Die log. Grundlagen, S. 49). N.s Begriff der Logik hat sich im Gang seiner philosophischen Entwicklung gewandelt. Er gelangt schließlich zur Forderung einer „Allgemeinen Logik", die er nicht mehr systematisch durchgeführt, doch nach ihren Grundgedanken in den letzten Werken, auch in seiner „Selbstdarstellung", umrissen hat. Unter allgemeiner Logik versteht er die streng einheitliche logische Grundlegung der Gegenstandssetzung, ja „aller irgendwie logisch erfaßlichen, sei's auch außer-, unter- oder übergegenständlichen Setzung". Damit wäre ein Zugang geschaffen zu der von N. ersehnten Erkenntnis des Geistigen in seiner Ureinheit, aus der erst die Besonderungen hervorgehen. Das letzte Sinngebende, das hinter den drei letzten Begriffen Denken, Sein, Erkenntnis liegt, wäre dann erfaßbar; es „spricht sich zwar aus in einem ,Es ist', aber es stempelt erst dies Sein zum Sein, seinen Ausspruch zum Ausspruch des Denkens, und dies Denken, eben sofern es denkt, was ist, zur Erkenntnis". Von diesem Einheitspunkt aus ist jedes Denken Seinsdenken, und jedes Sein Denksein, und er ist selbst die unaufhebliche Korrelation beider. So wird Allgemeine Logik zur „Gebung alles

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Sinns, des Sinns auch des Sinns selbst". Den Einheitspunkt, den ,,Urpunkt über Denken und Sein" nennt N. auch die „schlichte Setzung", Thesis. Mit ihr entspringt erst das Denken. Sie ist der Logos. „Der Logos ist . . . die Setzung, die schlechthin ursprüngliche Setzung: ,Es ist'." Auch für seine Allgemeine Logik nimmt N. noch die Bezeichnung „kritischer Idealismus" in Anspruch mit der Begründung: „Idealismus darf sie sich nennen, sofern sie fußt auf der Durchschau der ,Idee'; kritischen, sofern sie die Probe der Urteilsbegründung, die Krisis des beziehenden, durch die Allseitigkeit der Wechselbeziehung sich vor sich selbst rechtfertigenden Denkens voll auf sich nimmt." Die Allgemeine Logik will auf dem Ganzen der klassischen Philosophie fußen. Unverkennbar ist hier ein Einfluß Hegels: N. nimmt den logischen Dreischritt Setzung, Gegensetzung, Ineiinssetzung an, und ihm entsprechend die Dreiheit von Indifferenz, Differenzierung und Koinzidenz. Er entwickelt ein Gesetz der Koinzidenz, das das Aufnehmen des Widerspruchs in den echten Logos voraussetzt. „Was widerspricht, ,ist' nicht im gemeinen Sinne des ,Es ist', aber dies Nichtsein selbst ,ist\ im letzten Sinne des logischen ,Seins'." Dieser Seinssinn des Nichtseins ist gehaltvoller als der des schlichten Seins. „Und wenn im ,Sein' des Nichtseins das J a den Sieg behält, so behält es ihn allein dadurch, daß es das Recht des Nein voll anerkennt und bewahrt, wie jeder wirkliche Sieger das Recht des Besiegten." Dies Koinzidenzgesetz leitet N. historisch zurück auf Plato und Heraklit. Es verleugnet seine Verwandtschaft mit Nikolaus von Cues nicht. Als ersten literarischen Niederschlag seiner selbständigen philosophischen Entwicklung sieht N. seine „Allgemeine Psychologie" vom Jahre 1912 an. Ihr schreibt er damals die Aufgabe zu, den Grund zu legen für den Einheitsaufbau aller Methoden objektivierender Erkenntnis. Als eine Art Umkehrung der analytisch verfahrenden logischen Weltbildung soll sie synthetisch vorgehen. Später ist er mit dieser Umkehrung nicht mehr zufrieden, sondern glaubt richtiger zu erkennen: „Das Logische, und in und mit ihm das Psychische, hat mehr Dimensionen." Als Grundproblem und Urphänomen aller Psychologie sieht N. das „Erscheinen", die Tatsache, daß ein Inhalt sich einem Ich darstellt, und daß das Ich auf diesen Inhalt sich bezieht. „Erscheinen heißt hier nur: Einem bewußt sein, als von ihm selbst, dem es bewußt ist, Verschiedenes, weil doch dem (im weiten Sinne des Wortes) Objekt Gegenüberstehendes" (Allgemeine Psychologie, Kap. 2, § 4). Das Ich läßt sich nicht zum Gegenstand machen; und ebensowenig die Bewußtheit. „Bewußt-sein heißt Gagenstand für ein Ich sein; dies Gegenstand-isein läßt sich nicht wiederum zum Gegenstand machen". Auf das Verhältnis des Psychischen zum Physischen ist keine der Beziehungen, die unter den „Dingen" der Erfahrung stattfindet, weder die räumliche von innen und außen, noch die von Ursache und Wirkung, noch irgendeine andre, anzuwenden. Ich und Gegenstand sind prinzipiell ungleichartig, aber in strenger Korrelation aufeinander bezogen. Sie verhalten sich zueinander wie die beiden Momente eines synthetischen Verhältnisses. Das Bewußtsein ist nun nicht nur ein Gegenglied zur Natur, zur Körperwelt, sondern zu jeder objektiven Gestaltwelt überhaupt, also auch zur Objektivierung des Subjektiven in der Geschichte. Die mehrdimensionale Betrachtung des Bewußtseins und der objektiven Sinngehalte hat N. zu der letzten Gestaltung seines Systems geführt, die sich in der „Allgemeinen Logik" nicht erschöpft. Denn der Sinngehalt ist dreigegliedert in theoretischen, praktischen und poietischen. In ihrem kategorialen Gefüge stimmen alle Teile von N.s System überein, so verschieden sie auch inhaltlich sind. Nur wenn es eine allgemeine Kategorienordnung gibt, die das Ganze des philosophischen Gehalts umspannt, ist die Ganzheit der Philosophie gewährleistet. Ein geschlossenes

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System der Grundkategorien muß daher gefordert werden. Es gliedert sich dialektisch, nach dem Dreischritt Thesis, Antithesis, Synthesis, und im Fortgang von der abstrakten Allgemeinheit durch die Besonderung zur konkreten Einzigkeit der Bestimmung. Die drei obersten sind die modalen Kategorien Möglichkeit, Notwendigkeit, Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist Totalität, die als solche zugleich echte Individuität ist. Der Begriff der Individuität gewinnt für N.s System wachsende Bedeutung. Im Individuum tritt das zutage, was alle Sonderung erst ermöglicht. Die Individuität ist der Beziehung vom Du zum Ich logisch vorgelagert; sie ist auf die Totalität des All-Lebens bezogen. In und mit dem Begriff der Individuität ist der Begriff der Gemeinschaft bereits erzeugt; so kann N. die Gesamtheit des Lebens hineinziehen in das Gefüge seines philosophischen Systems. Auch dazu verhelfen die Kategorien. Sie sind solche „des seienden Seins, d. h. aber hier des werdenden, wirkenden, sich erwirkenden, des lebenden, des im aktivsten Sinne sich erlebenden, d. h. der Theorie, der Praxis, der Poiesis zugleich, in der engsten Wechselbezüglichkeit ihrer aller. Die Einheitsgrundlage des Kategorienaufbaus hat die Bedeutung, der Einheitsgrundlage des Lebens nach jenen drei Richtungen, in zentraler Weise also des Lebens der Handlung, uns zu versichern" (Vorlesungen über praktische Philosophie, Erlangen 1925, S. 36). Die Poiesis, in der platonischen Terminologie Grund jedes Übergangs vom Nichtsein ins Sein, ist nach N. der Urpunkt des Geistigen, in dem sich der Zusammenhang mit dem Ewigen auftut; es heißt schöpfen „aus dem Urquell des von Ewigkeit her und in Ewigkeit Seienden" (Sozialidealismus, 1920, S. 244). Dieses Vordringen N.s zum religiösen Urgrund spiegelt sich in seiner Ethik wider, die in einer Sozialphilosophie gipfelt. N. entwickelt eine Sozialpädagogik und schließlich (1920) seinen Sozialidealismus. Eine Gemeinschaft im echten Sinne ist nur möglich bei uneingeschränkter Herrschaft des Geistes im Gemeinschaftsleben. Sie hat Erweckung jedes Einzelnen zu innerer Freiheit zu ihrem Ziel. Der Gesichtspunkt der Sozialpädagogik muß der Sozialpolitik und der Sozialwirtschaft übergeordnet sein. „Im Ideal würde alle wirtschaftliche Arbeit und alle soziale Regelung nur Mittel sein zum schließlichen Zwecke der Menschenbildung, was als die sozialpädagogische Idee des Staates von Plato bereits aufgestellt ist und den obersten Leitpunkt der sozialen Kritik und damit der sozialen Ethik überhaupt noch heute so sicher wie damals bezeichnet." Die soziale Erziehung kann zwar allein auf dem Wege des genossenschaftlichen Lebens erfolgen, jedoch keineswegs durch nur wirtschaftliche Genossenschaften. Es muß Genossenschaft verstanden werden als Lebensgrundlage sozialer Erziehung, in der das Sichdurchdringen von Geist und Arbeit gefordert und verwirklicht ist. Die Vergenossenschaftung des nationalen Lebens muß sich auf die Hausgenossenschaft als Urform der Wirtschalt beziehen. Das Hausleben ist auch die Urbedingung aller Erziehung. Sie soll durch die soziale Einheitsschule gefördert und gestützt werden. Einheitsschule ist „Schule zur Einheit". Nicht einseitige Verstandeskultur hat sie zu leisten, sondern für die Entfaltung von Willen, Gemüt und Religion Raum zu schaffen. Endziel einer „genossenschaftlichen Erziehung" wäre die Vergemeinschaftung der gesamten inneren und äußeren Arbeit des Menschen, wäre die Verwirklichung einer innigen Wechselbeziehung zwischen wirtschaftlich-rechtlicher und seelisch-geistiger Gestaltung des Gemeinlebens. Diesem Ziel würde es näher führen, wenn Deutschland „neue Pestalozzis erstehen" könnten. Pestalozzi wird von N. zu den großen deutschen Idealisten gerechnet. „Wenn man mit Kants Analyse Pestalozzis Synthese durchleuchtet, findet man zur Überraschung, daß beide im Ergebnis auf eins hinauskommen."

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Naumann

In seiner eigenen Philosophie hat N. sein Ideal verwirklicht: daß echte Philosophie und echte Wissenschaft kein „Faktum", sondern ein „Fieri" sei. Sie trägt daher auch die Unausgeglichenheit und die Härten einer gelebten und mit dem Erleben gewachsenen Philosophie notwendig in sich. Das Werk Natorps wird vor allem von Albert Görland fortgestaltet.

S c h r i f t e n : Descartes' Erkenntnistheorie. E. Studie zur Vorgesch. des Kritizismus, 1882. — Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum. Protagoras, Demokrit, Epikur u. d. Skepsis, 1884. — Einl. in die Psychol. nach krit. Methode, 1888. — D. Ethika d. Demokritos, 1893. — Religion innerh. d, Grenzen d. Humanität, 1894; 2. Aufl. 1908. — Pestalozzis Ideen üb. Arbeiterbildung u. soz. Fragen, 1894. — Piatos Staat u. d. Idee d. Sozialpädagogik, 1898; 3. Aufl. 1909. — Sozialpädagogik, 1899; 6. Aufl. 1925. — Piatos Ideenlehre, 1903; 2. Aufl. 1921. — Philos. Propädeutik, 1903; 3. Aufl. 1909. — Allg. Psychol. in Leitsätzen, 1904. — Logik in Leitsätzen, 1904. — Allg. Pädagogik in Leitsätzen, 1905. — Ges. Abhandlungen z. Sozialpädagogik, 1907; 2. Aufl. 1922. — Pestalozzi, 1909; 2. Aufl. 1912. — Die log. Grundlagen der exakten Wissenschaften, 1910; 2. Aufl. 1921. — Philos., Ihr Problem u. ihre Probleme, 1911; 3. Aufl. 1921. — Allg. Psychol. nach krit. Methode, 1912. — Deutscher Weltberuf, 1918. — Der Idealismus Pestalozzis, 1919. — Sozialidealismus, 1920; 2. Aufl. 1922. — Genossenschaft!. Erziehung als Grundlage z. Neubau d. Volkstums, 1920. — Beethoven u. wir, 1921. — Stunden mit Rabindranath Takkur, 1921. — Dostojewskijs Bedeutg. f. d. gegenwärtige Kulturkrisis, 1923. — Selbstdarstellung, in: D. deutsche Philos. d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, 1921, Bd. 1. — Kant üb. Krieg u. Frieden, 1924. — Vorlesungen üb. prakt. Philos., 1925. L i t e r a t u r : E. Weck, D. Erkenntnisbegriff bei P. N., Diss., Bonn 1914. — A. Buchenau, N.s Monismus. D. Erfahrung u. d. Problem d. Psychol., 1914. — Müller, Friedrich, Erkenntnistheoret. Idealismus u. Realismus in d. Religionsphilos. unter bes. Berücks. N.s, Ottos u. Külpes, Diss., Gießen 1917. — Gschwind, Hermann, D. philos. Grundlagen v. N.s Sozialpädagogik, Kantstudien, Bd. 28, 1923; H. 1/2, S. 163 ff. — Kinkel, Walter, P. N. u. d. krit. Idealismus, Kantstudien, Bd. 28, 1923; H. 3/4, S. 398 ff. — Cassirer, Ernst, P. N., Kantstudien, Bd. 30, 1925; H. 3/4, S. 273—299. — Levy, Heinrich, P. N.s prakt. Philos., Kantstudien, Bd. 31, 1926; H. 2/3, S. 311 ff. — A. Görland, Pestalozzis Begründung d. Theorie d. Erziehung, in: Geisteskultur, 1927. — Bellersen, Heinrich, D. Sozialpädagogik P. N.s, 1928. — Fragstein, Paul v., P. N. in der Enwickl. s. pädagog. Denkens, Diss., Breslau 1929. — Keller, Hans, D. Raum-Zeitidealismus bei J . Bergmann, H. Cohen u. P. N., Diss., Bonn 1930. — Lakebrink, Bernhard, D. Wesen d. theoret. Notwendigkeit unter bes. Berücks. d. kant. u. ihrer modernen Interpretation (N., Heidegger), Diss., Bonn 1931. — Gräfe, Johanna, D. Problem d. menschl. Seins in der Philos. P. N.s, Diss., Leipzig 1933. — Fichtner, Max, Transzendentalphilos. in der Begründung v. N.s Pädagogik, Diss., Leipzig 1933. — Schneider, Hans, Die Einheit als Grundprinzip der Philosophie P. N.s, Diss., Tübingen 1936. — J. Klein, Die Grundlegung der Ethik in der Philosophie P. N.s, Diss., Bonn 1942.

Naumann) Friedrich, geb. 25. März 1860 in Störmthal bei Leipzig, gest. 24. Aug. 1919 in Travemünde. Christi. Sozialphilosoph und Politiker im Sinn« nationalsozialer Zielstellung. S c h r i f t e n : Was heißt christlich-sozial? 1894—96. — Nat.-soz. Katechismus, 1898. — Nat. Sozialpolitik, 1898. — Asia, 1899: 8. Aufl. 1911. — Weltmacht u. Sozialreform, 1899. — Nat. u. internat. Sozialismus, 1901. — Briefe üb. Religion, 1903. — D. Erziehung zur Persönlichkeit, 1904. — D. Ideal d. Freiheit, 1908. — Form u. Farbe, 1909. — Ausstellungsbriefe, 1909. — Das Volk der Denker, 1909. — Geist u. Glaube, 1911. — Die Kunst der Rede, 1914. — Mitteleuropa, 1915. — Gestalten u. Gestalter, hrsg. v. Th. Heuß, 1919. — 1894 Begründer und Herausgeber der Zeitschrift „Die Hilfe"; erschien bis 1944. — Auswahl: Naumann-Buch, 1903; 4. Aufl. 1907. — F. N., Das Blaue Buch v. Vaterland u. Freiheit, 1913. — Gesamtausg. d. religiösen Schriften: Gotteshilfe, 7 Bde., 1895—1902. — Ausgew. Sehr. m. Bibliogr. v. Hannah Vogt, in: Civitas Gentium, Frankfurt (Main) 1949. L i t e r a t u r : G. Biedenkapp, Friedrich Nietzsche u. F. N. als Politiker, 1901. — H. Meyer-Benfey, F. N., 1904. — Bousset, Hermann, F. N., 1919. — H. Barge, F. N., s.

Nausiphanes — Nees von Esenbeck

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Persönlichkeit u. s. Lebenswerk, 1920. — M. Wenck, F. N., 1920. — Neumann, Alfred, F. N.s christl. Sozialismus, Diss., Leipzig 1926. — Naumann, Margarete, F. N.s Kindheit u. Jugend, 1928. — Schneider, Johannes, F. N i soziale Gedankenwelt, 1929. — Goetz, Walter, F. N., 1929, in: Deutsches Biogr. J b . 4. — Daniels, Gertrud, Individuum u. Gemeinschaft bei Theodor Barth und F. N., Diss., Hamburg 1932. — Lohmann, Gertrud, F. N.s Deutscher Sozialismus, Diss., München 1934. — F. N.-Biographie, in: Zeitschr. EvangelischSozial, J g . 34, 1929. — Theodor Heufl, F. N., 1937. Naosiphanes von Teos, unmittelbarer Schüler des Skeptikers Pyrrhon, auch Anhänger der demokritischen Philosophie und Lehrer des Epikur. L i t e r a t u r : S. Sudhaus, N., im Rhein. Museum, Bd. 48 (1893), S. 321—341, u. in: Philologus 54 (1895), 80 ff. Naville, J u l e s Ernest, geb. 13. Dezember 1816 in Chane y (Genf), gest. 17. Mai 1909 in Genf. 1844 bis 1848 Prof. der Philosophie in Genf. Verbindet den Spiritualismus mit christlicher Dogmatik. S c h r i f t e n : Maine de Biran, 1857; 3. Aufl. 1874. — La vie éternelle, 1861; 7. A. 1909. — Le problème du mal, 1868. — Le devoir, 1868. — Le Christianisme, 1878. — La logique de l'hypothèse, 1880. — La physique moderne, 1883 ; 2e éd. 1890. — Le libre arbitre, 1890; 2e éd. 1898. — La définition de la philosophie, Paris 1894. — Les philosophies négatives, Paris 1899. — Les systèmes de la philos., Paris 1909. — Lettres, journal et autres documents, hrsg. v. Hélène Naville, 2 Bde., Paris-Genf 1913—16. L i t e r a t u r : Hélène Naville, E. N., sa vie et sa pensée, 2 Bde., Genf-Paris 1913 bi9 1916. — P. Lango, E. N. filosofo e apologista cristiano, Florenz 1909. — V. SmithOrleman, D. Philos. E. N.s u. s. Stellung z. französ. Spiritualismus, Diss., München 1911. — F. S. Varano, L'ipotesi nella filosofia di E. N., Gubbio 1931. Neeb, Johann, geb. 1. September 1767, gest. 13. Juni 1843. 1792 bis 1794 Prof. in Bonn. Anhänger Reinholds und J a c o b i s ; beeinflußt von Hemsterhuis. S c h r i f t e n : System d. krit. Philos., auf d. Satz d. Bewußtseins gegründet, 1795 bis 1796. — Vernunft gegen Vernunft oder Rechtfertigung d. Glaubens, 1797. — Vermischte Schriften, 1817—21. L i t e r a t u r : J e n t gens, Gerhard, D. philos. Entwicklungsgang v. J . N. Ein Beitrag z. Gesch. d. nachkant. Philos.; Diss., Bonn 1922. Neeff, Friedrich, geb. 1887 in Stuttgart. Zuerst Botaniker. Von Windelband beeinflußt. S c h r i f t e n : Gesetz u. Gesch., 1917. — Kausalität u. Originalität, 1918. — Üb. d. Problem d. Naturgesch., Kantstudien 25, 1920. — Prolegomena z. einer Kosmologie, 1921. — Der Geist d. Wissenschaft, 1925. — Üb. das Gewissen, 1931. — Über Offenbarung. Stuttgart 1938. Nees von Esenbeck, Christian Gottfried, geb. 14. F e b r u a r 1776 in E r b a c h (Odenwald), gest. 16. M ä r z 1858 in Breslau. Anfangs Arzt, dann Professor der Botanik, 1818 in Erlangen, 1819 in Bonn, 1830 in Breslau, 1852 wegen Teilnahme an der Arbeiterbewegung entlassen. Anhänger der Philosophie Schellings und in wissenschaftlichem Briefwechsel mit Goethe, dem er sein Handbuch der Botanik widmete (1820). Als Naturphilosoph konstruiert N. v. E . die Natur aus ihren idealen F o r m e n der Substanz, der Kraft und der Organisation. Die Ideen der Substanz und der Kraft sind an sich zwar identisch, jedoch ideal entgegengesetzt; aus dieser Spannung entwickelt sich der Organismus der Natur. S c h r i f t e n : D. System d. spekulat. Philos., Bd. I: Naturphilos., 1841. — Allgem. Formenlehre d. Natur, 1852. L i t e r a t u r : Winkler, Hubert, Chr. G. N. v. E. als Naturforscher u. Mensch, in: Naturwiss. Wochenschr., Bd. 36, 1921; Chr. G. N. v. E., in: Schles. Lebensbilder, Bd. 2, 1926. — Schiff, Chr. G. N. v. E. u. Goethe, in: Schles. Monatshefte, Jahrg. 7, 1930. Philosophen-Lexikon 13

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Nef — Nelson

Ncf, Willi, geb. 6. Februar 1876 in St. Gallen. Dr. phil., Prof. für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Handelshochschule St. Gallen. S c h r i f t e n : D. Lyrik als besondere Dichtungsgattung, 1898. — Wilhelm Wundts Stellung z. Erkenntnistheorie Kants, 1913. — D. Philos. Wilhelm Wundts, 1923. — D. Macht u. ihre Schranken, St. Gallen 1941.

Nelson, Leonard, geb. 11. Juli 1882 in Berlin, gest. 29. Oktober 1927 in Göttingen. 1909 Habilitation in Göttingen, ebda. a. o. Prof. 1919. N. führt die Umbildung, die Fries der Kantischen Erkenntnistheorie gegeben hat, weiter fort. Er lehnt die Frage nach der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis ab: „Um das gestellte Problem lösen zu können, müßten wir ein Kriterium haben, durch dessen Anwendung wir entscheiden können, ob eine Erkenntnis wahr ist oder nicht... Dieses Kriterium würde entweder selbst eine Erkenntnis sein oder nicht. Wäre es eine Erkenntnis, so würde es gerade dem Bereich des Problematischen angehören, über dessen Gültigkeit erst mit Hilfe des erkenntnistheoretischen Kriteriums entschieden werden soll... Ist aber das erkenntnistheoretische Kriterium keine Erkenntnis, so müßte es doch, um anwendbar zu sein, bekannt sein, d. h. wir müßten erkennen können, daß es ein Kriterium der Wahrheit ist. Um aber diese Erkenntnis des Kriteriums zu gewinnen, müßten wir das Kriterium schon anwenden. Wir kommen also in beiden Fällen auf einen Widerspruch. Ein erkenntnistheoretisches Kriterium ist also unmöglich, und es kann daher keine Erkenntnistheorie geben." Während nach N. ein besonderer Fehler der Erkenntnistheorie darin liegt, anzunehmen, daß jede Erkenntnis in Urteilen zu bestehen hat, behauptet er das Bestehen von Erkenntnissen, die keine Urteile sind. Zu diesen gehören die Sinneswahrnehmungen. Sie sind unmittelbare Erkenntnis und daher eine Tatsache, durch die die Möglichkeit der Erkenntnis außer Frage gestellt wird, Urteile können solche unmittelbaren Erkenntnisse nur wiederholen. Ein anderer Weg, diese unmittelbare Erkenntnis zum Bewußtsein zu bringen, liegt in der psychologischen Reflexion. Diese entwickelt auch metaphysische Sätze, wie z. B. den Satz der Kausalität. Die Selbstbeobachtung, die diesen Satz im Bewußtsein vorfindet, entwickelt zur Psychologie, ist also der Weg, um das Problem zu lösen, das Kant von Hume übernommen hat. In gleicher Weise hat die Ethik von Gegebenheiten im Bewußtsein auszugehen. Auch die ethischen Begriffe sind bereits gegeben, und der „Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft auf die Wahrheit der unmittelbaren Erkenntnis" hat die Ethik zu leiten. N. steht in seiner Ethik auf dem Boden der Kantischen Pflichtauffassung. Pflicht heißen schlechthin gebotene Handlungen, und nur dann sind Handlungen moralisch, wenn sie Pflichten erfüllen (Ethik, 82). Im Kantischen Geist stellt N, fest: „Eine heteronome Ethik gelangt nicht über bloß hypothetische Imperative und also versteckte Klugheitsregeln hinaus. Der Anspruch auf Verbindlichkeit, den sie für ihre Gebote erhebt, ist daher allemal nur erschlichen" (91). Den Kantischen Rigorismus indessen teilt N. nicht. Er fordert nicht ein unbedingtes und ausschließliches Handeln aus Pflicht, sondern die ständige Bereitschaft, gemäß der Pflicht zu handeln. Wie es auch individuelle Pflichten gibt, so bedeutet das Sittengesetz vor allem eine „Regel der Beschränkung unserer positiven Zwecke" (129), da unsere Interessen immer durch die kollidierenden Interessen anderer eingeschränkt werden (130). Ihr positiver Inhalt ist: „Jede Person hat als solche mit jeder anderen die gleiche Würde" (132). Ein Ausgleich mit den Interessen der anderen erfolgt nach der Formel: „Handle nie so, daß du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest,

Nemesios

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wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären", und ,.Du sollst in eine gleiche Nichtsachtung deiner Interessen einwilligen, wie du sie anderen gegenüber bewiesen hast". Strenger als in der Ethik und Erkenntnistheorie schließt sich N. in der Rechtsphilosophie an die Formen der Kantischen Denkweise an. E r fordert einen „juristischen Kritizismus", der die Rechtslehre auf ein vor aller Erfahrung feststehendes Prinzip a priori begründet, das „nicht durch irgendeine höhere Offenbarung, eine nur den Eingeweihten zuteil werdende übersinnliche Anschauung vom W e s e n des Rechts, sondern allein durch das eigene Nachdenken" gefunden werden kann. Hierzu braucht es synthetische Urteile a priori, d. h. eine „Metaphysik des Rechts", die als Rechtslehre in eine Klärung der Anforderungen mündet, die die Gesellschaft erfüllen muß, um im Rechtszustand zu stehen. Das Recht ist schließlich „die praktische Notwendigkeit der gegenseitigen Beschränkung der Freiheitssphären in der Wechselwirkung der Personen". E s ist damit innerlich abhängig von der ethischen Gestaltung der individuellen Personenwelt. S c h r i f t e n : Die krit. Methode u. das Verhältnis der Psychol. zur Philos., in: Abh. d. Friesschen Schule, N. F., 1904. — Üb. d. nichteuklid. Geometrie u. d. Ursprung d. geometrischen Gewißheit, ebda. — Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich? ebda, — Üb. d. sog. Erkenntnisproblem, ebda. — D. Unmöglichkeit d. Erkenntnistheorie, ebda. Bd. 3, — Die Theorie d. Interesses, ebda. Bd. 4. — Die krit. Ethik bei Kant, Schiller u. Fries. E. Revision ihrer Prinzipien, ebenda. — Kant u. d. nichteuklid. Geometrie, 1906. — Ethische Methodenlehre, 1915. — Vorlesungen üb. die Grundlagen der Ethik, Bd. I., Kritik der prakt. Vernunft, 1917. — Die Rechtswissenschaft ohne Recht, Krit.-Betrachtungen über die Grundlagen d. Staats- u. Völkerrechts, insbes, üb. d. Lehre v. d. Souveränität, 1917. — Die neue Reformation, Bd. I, Die Reformation der Gesinnung, Die Erziehung z. Selbstvertrauen, 1918; 2, Aufl. 1922. Bd. II, Die Reformation der Philos. durch d, Kritik der Vernunft, 1918. — V.Beruf der Philos. unserer Zeit f. d. Erneuerung d. öffentl. Lebens, 1918. — öffentl. Leben, 1918. — Demokratie u. Führerschaft, 1920. — System d. philos. Rechtslehre, 1920. — Erziehung z. Führer, 1920. — Erziehung z, Knechtsgeist, 1921. — Spuk, Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagerkunst Oswald Spenglers, 1921. — System der philos. Ethik u. Pädagogik, aus dem Nachlaß hrsg., 1932. — Hrsg.: Abhandl. d. Friesschen Schule, neue Folge, 4 Bde., 1904—18. L i t e r a t u r : O. Siebert, D. Erneurer d. Friesschen Schule, in: Z. f. Philos., 1906. — Klempt, D. neufriessche Schule, in: Z. f. Philos. u. Päd., 1914. — Bornhausen, Karl, Wider d. Neufriesianismus in der Theol., in: Z. f. Theol. u. Kirche, 1910. — Falkenfeld, Hellmuth, L. N., in: Kantst., Bd. 33, 1928; S. 247—255. — Gysin, Arnold, D. Lehre v. Naturrecht bei L. N„ in: Arch. f. Rechts- u. Wirtschaftsphilos., Beiheft Nr. 17, 1924. — Marek, Siegfried, D. philos. Politik L. N.s, in: Gesellschaft, Bd. 2, 1925; S. 126—140. — Hauer, Eugen, Person u. Handlung in der Ethik L. N.s, 1928. — Kronfeld, Arthur, Z. Gedächtnis L. N.s, m. Bibliogr., in: Abhandl. d. Friesschen Schule, N. F. 5, 1930. — Selchow, B. von, L. N., ein Bild seines Lebens, hrsg. v. W. Eichler u. M. Hart, 1938. Nemesios von Emesa (in Phönikien). Lebte um 400 n. Chr. Bischof. Neuplatoniker der alexandrinischen Richtung unter starkem christlichem Einfluß. — In Übereinstimmung mit Hierokles von Alexandreia faßte N. die Heimarmene, das Schicksalswalten, als ein bewußtes Wirken der Gottheit, nicht mehr als eine blinde mechanische Notwendigkeit auf. Mit dem so umgestalteten HeimarmeneBegriff ließ sich das christliche Dogma von der Personalität und Allmacht Gottes vereinigen. Als Christ lehnt N. das Hypostasensystem der neuplatonischen Metaphysik, besonders der athenischen Schule ab. Mit Piaton lehrt er die Präexistenz der Seele, die unkörperlich ist und sich selbst bewegt, mit Aristoteles die Ewigkeit der Welt. Gegen den Fatalismus verteidigt er die Willensfreiheit. S c h r i f t e n : Migne, Patrologia Graeca, Bd. 40. — De natura hominis, ed. C. F. Matthaei, 1801; lat. Übers, v, C. Burkhard, 1917. 13*

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Nestle — Neurath

L i t e r a t u r : Evangelides, N. u. s. Quellen, Diss., Berlin 1882. — Bender, Dietrich, Untersuchungen zu N. v. E., Diss., Heidelberg 1898. — Domanski, Boleslaus, Die Lehre des N. über das Wesen der Seele, Münster 1887, Diss,; Die Psychol. des N. v. E., 1900, in: Beitr. z. Gesch. der Philos. d. Mittelalt., Bd. 3. — W. Jaeger, N. v. E. 1914. — Koch, Heinrich A., Quellenuntersuch, zu N. v. E., 1921. — Skard, Eilio, N.-Studien, in: Symbolae Osloenses, Bd. 22 (1942) S. 40 ff.

Nestle, Wilhelm, geb. 16. April 1865 in Stuttgart. Dr. phil. 1889 in Tübingen. Prof. ebda. 1932. Historiker der antiken Philosophie und Übersetzer griechischer Quellen. S c h r i f t e n : Euripides, 1901. — D. Vorsokratiker, übers, in Auswahl, 1908; 3. Aufl. 1929. — D. Sokratiker (außer Piaton u. Aristoteles), 1922. — D. Nachsokratiker, 2 Bde. 1923. — Gesch. d. griech. Literatur, 2 Bde., 1923—24. — D. Humanitätsidee u. d. Gegenwart, 1931. — Griech. Religiosität in ihren Grundzügen und Hauptvertretern, 3 Bde., 1930—34. — Hrsg.: Piaton, Hauptwerke, 1931; Piaton, Gorgias, erkl. Ausgabe, 1909; Piaton, Protagoras, 1910; neubearb. 1931: Friedrich Nietzsche, Philologica, hrsg. mit O. Crusius, 1913; E. Zeller, D. Philos. d. Griech., 6. Aufl.; E. Zeller, Grundriß d. Gesch. d. griech. Philos., 13. Aufl., 1928. — D. Friedensgedanke in der antiken Welt, Leipzig 1938. — Griechische Geistesgeschichte, Stuttgart 1944. — Gesch. d. griech. Literatur, Berlin 1942. — Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940, 2. Aufl. 1942.

Nettelbladt, Daniel, geb. 14. Januar 1719 in Rostock, gest. 4. Sept. 1791 in Halle. Rechtsgelehrter, Prof. in Halle. Anhänger der Wölfischen Philosophie. S c h r i f t e n : Sammlung kleiner jurist. Abhdlgn., hrsg. 1792, mit Schriftenverzeichnis. L i t e r a t u r : Selbstbiogr. in: Weidlich, Nachrichten von jetzt lebenden Rechtsgelehrten, Bd. III, S. 406 bis 483. — Allg. Dt. Biogr., Bd. 23.

Neudecker, Georg, geb. 1850, verstorben. Philosophiedozent in Würzburg. Anhänger Deutingers. Das Selbstbewußtsein, uns unmittelbar gewiß, wird zur Quelle aller Gewißheit. S c h r i f t e n : Unters, üb. d. Erkenntnisprinzipien, 1873. — D. Philosoph Deutinger, 1877. — Studien z. Gesch. d. deutschen Ästhet, seit Kant, 1878. — D. Grundproblem d. Erkenntnistheorie, 1881. — Grundlegung d. reinen Logik, 1882. — Grammatik od. Logik? 1890.

Neumark, David, geb. 3. August 1866 in Szcerzec {österr.}, gest. 1924 in Cincinnati. Prof. am Hebrew Union College, Cincinnati. Anhänger von Hermann Cohen. N. ist Historiker der jüdischen mittelalterlichen Philosophie und stellt die Geschichte der jüdischen Dogmatik vom philosophischen Standpunkt aus dar. S c h r i f t e n : D. Freiheitslehre bei Kant u. Schopenhauer, Diss., Berlin 1896. — Gesch. d. jüd. Philos. des M. A.s, 2 Bde., 1907 f. — J. Hallevis Philos., 1908. — Crescas and Spinoza, 1908. — Materie u. Form bei Aristoteles, in: Archiv f. Gesch. d. Philos., Bd. 24 (1911), 271 ff., 391 ff. u. Bd. 26 (1913), 195 ff.

Neurath, Otto, geb. 10. Dezember 1882 in Wien, gest. 22. Dezember 1945 in Oxford. Dr. phil., Direktor des Internationalen Verbandes für Bildpädagogik. Lebte 1934 bis 1941 in Holland, danach in England, wo er einen Ruf an die Universität Oxford erhielt. N. gehört mit Schlick und Carnap zur Wiener positivistischen Schule. Er wendet ihre methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundsätze auf die Grundlegung der Soziologie an. Er gleicht dabei grundsätzlich die Wesenszüge der Gesellschaft dem Sein der Natur an und erklärt; „Es ist nicht nur ein

Newman, Francis William — Newman, John Henry

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Gleichnis, wenn wir der Gesteinsdecke die Menschendecke gegenüberstellen, innerhalb deren wir Formationen, Schichtungen, Verwerfungen und ähnliches zu beobachten vermögen" (Empirische Soziologie, 71). Vor diesem der Natur wesensgleichen Gegenstand ist es die Aufgabe der Soziologie, „auf materialistischer Basis" Verknüpfungen der Menschen untereinander und mit ihrer Umwelt zu untersuchen. Außer diesen gibt es für sie keinen Gegenstand. „Sie kennt nur dies Verhalten der Menschen, das man wissenschaftlich beobachten, »photographieren« kann" (63). Die Soziologie untersucht „Menschen, die im Reizzusammenhang stehen. Es ist eine interne Frage, ob man die gesamte Menschendecke ins Auge fassen muß, um zu guten Voraussagen zu kommen, oder ob man einzelne Völker herausheben kann. Wissenschaftlich voraussagbar und kontrollierbar ist alles, was als räumlich-zeitliches Gebilde durch allgemeinverständliche Zeichen wiedergegeben werden kann. Die Soziologie hat es mit menschlichem Verhalten, das heißt mit räumlich-zeitlichen Vorgängen zu tun. Die Soziologie ist für den Physikalismus, wie jede Realwissenschaft, ein Teil des physikalischen Gebäudes" (59). Die Kategorien der Soziologie stellen sich demgemäß aus rein naturwissenschaftlich-psychologischen Beziehungen heraus dar: „Damit wir in der Soziologie eine Gruppe von einer anderen unterscheiden können, muß sie durch andere Gewohnheiten oder mindestens durch engere Reizverknüpfung der Individuen abtrennbar sein. E i n e Gruppe von Menschen ist miteinander verbunden, dann kommt eine Lücke — zwischen gewissen Menschen fehlt dauernde Reizverknüpfung — eine a n d e r e Gruppe ist unter sich verbunden" (78). Für diese Auffassungsweise existiert kein Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (113 f.), und Gesellschaft selbst „hat hier in keiner Richtung eine prägnante Bedeutung, dieser Name bezeichnet hier nur kleinere oder größere in Raum und Zeit ausgedehnte Reizverbände" (114). Für den Grundbegriff des „Reizverbandes" ist charakteristisch Lebensboden, Lebensordnung und Lebenslage (112), während das „Leben der Gewohnheiten", als welches das gesellschaftliche Leben sich vollzieht, gekennzeichnet ist durch Extrapolation, Selektion und Kohärenz (114). S c h r i f t e n : Ludw. H. Wolframs Leben, 1906. — Antike Wirtschaftsgesch., 1909; 3. Aufl. 1923. — Wesen u. Weg d. Sozialisierung, 1919. — Vollsozialisierung, 1920, — Antispengler, 1920. —• Lebensgestaltung u. Klassenkampf, 1928. — Empir, Soziologie, d. wissenschaftl. Gehalt d. Gesch. u. Nationalökonomie, in: Schriften z. wissenschaftl. Weltauffassung, hrsg. v. Philipp Frank u. Moritz Schlick, Bd. V, 1931. — Einheitswissenschaft u. Psychol., 1933. — Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule, 1933. — Was bedeutet rationale Wirtschaftsbetrachtung, Wien 1935.

Newman, Francis William, geb. 27. Juni 1805 in London, gest. 4. Oktober 1897 in Weston-super-Mare. Bruder von John Henry Newman. 1840 Prof. am Manchester New College, 1846 bis 1863 Prof. der römischen Literatur am University College in London. Theistischer Standpunkt. S c h r i f t e n : The Soul, her sorrows and her aspirations, 1849; 9. Aufl. 1882; deutsch 1850. — Phases of faith, 1850; neue Ausg. 1881. — Theism, doctrinal and practical, 1858. — Life after death, 1886; 2. ed. 1887. — Miscellanies, 1869—89. — Early history of Cardinal Newman, 1891.

Newman, John Henry, geb. 21. Februar 1801 in London, gest. 11. August 1890 in Edgbaston bei Birmingham. Bruder von Fr. W. Newman. Promotion in Oxford 1820, 1828 bis 1843 Pfarrer in Oxford. 1845 zum Katholizismus übergetreten. 1847 Priester. 1854 bis 1858 Rektor der neugegründeten Katholischen

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Newton

Universität Dublin in Irland. 1879 Kardinal. — Aus religiösem Erleben kommt N. zur Skepsis gegen das Erkennen und zur Höherbewertung der Glaubensüberzeugung. Durch tiefdringende Untersuchungen des Wesens der religiösen Gewißheit hat er auch das philosophische Gewißheitsproblem gefördert. Eigene religiöse Erfahrung gibt ihm die Grundlage zum Eindringen in die Psychologie des Glaubens, wie seine Selbstbiographie und sein Werk reichen Stoff für religions-philosophische Betrachtung darbieten. Als Gläubiger und als Denker beschäftigt N. sich stark mit der Herausbildung des christlichen Dogmas. S c h r i f t e n : The Arians of the Fourth Century, Lond. 1833; neu hrsg. 1895. — Essay on the Development of Christian Doctrine, Lond. 1845; dtsch. v. Th. Haecker, 1922. — Loss and Gain, 1848; dtsch. 1924. — Apología pro vita sua, Lond. 1864; hrsg. 1865; deutsch 1913 u. 1928. — An Essay in Aid of a Grammar of Assent, 1870; deutsch v. Th. Haecker, Philosophie des Glaubens, 1921. — Essays, 1871; neue Ausg. 2 Bde., 1890. — Die Kirche, 2 Bde., übers, u. eingeleitet v. 0 . Karrer, 1946. — Collected Works, 36 Bde., 1868—1896. — Ges. Werke, deutsch 1924 f. — Ausgewählte Werke, 10 Bde., 1922 f. — Letters, 2 Bde., hrsg. v. Anne Mozley, London 1891. L i t e r a t u r : MacRae, Arch., D. rel, Gewißheit bei J. H. N., Diss., Jena 1898. — Ward, W. P., The Life of John Henry, Cardinal Newman, 2 Bde., London 1912. — J. Richaby, Index to the Works of J. H., C. N., London 1914. — M. Laros, Kardinal N., 1921. — Th. Haecker, J. H. Kardinal N., 1922. — E. Przywara, Einführung in N.s Wesen und Werk, 1922. — Chevalier, Jacques, Trois conférences d'Oxford, Paris 1928; Kap. 3. — Reilly, J. J., Newman as a Man of Letters, New York 1925. — S. P. Juergens, N. on the Psychology of Faith, New York 1928. — J. Lewis May, Cardinal N., London 1929. — Bibliogr. bei J. Guibert, Le réveil du catholicisme en Angleterre, Paris 1907. — H. Bremond, N., Paris 1932. — W. H. van de Pol, Die Kirche im Leben u. Denken N.s, dt. 1938. — Julius Döpfner, D. Verh. v. Natur u. Übernatur bei J. H. K. Newman, Diss., Rom 1941. — Heinrich Fries, D. Religionsphil. N.s, Tübingen 1942. — Karl Gladen, D. Erkenntnisphilos. J. H. Kardinal N.s, Diss., Bonn 1933. — Karl Alfons, Die Glaubenphilos. N.s, Bonn 1941. — Ludwig Marizy. Die theol, Anthropologie J. H. N.s, Diss., Münster 1943. — F.Tardivel, La personnalité littéraire de N., Paris 1937. — P. Zeno, N.s leer over het menschelijk denken, Utrecht 1942. — D. Goree, Introduction ä N., Paris 1943. — J. Lewis May, Cardinal N., A Study, London 1945.

Newton, Sir Isaac, geb. 4. Januar 1643 in Woolsthorpe (Lincolnshire), gest. 31. März 1727 in Kensington. 1669 bis 1701 Prof. der Physik in Cambridge, 1671 Mitglied, 1703 Präsident der Royal Society. — N.s Hauptwerk, die Philosophiae naturalis principia mathematica (1687), besitzt für die Wissenschaftslehre eine hervorragende Bedeutung. In ihm werden die für die Begründung des mathematisch-mechanischen Weltbildes der Aufklärungszeit entscheidenden Gedanken: Beschränkung auf das Beobachtbare und Erfahrbare, Freiheit von Hypothesen (Hypotheses non fingo), Methode der Induktion und des Experimentes zu einem umfassenden System der Mechanik entwickelt. N. lehnt freilich die Hypothese nicht überhaupt, sondern lediglich für den bestimmten Kreis der mathematisch-physikalischen Wissenschaft ab. In ihm darf sie nach seiner Lehre zu irgendwelchen Erklärungen nicht herangezogen werden. Den Raum definiert N. als „Spatium absolutum, natura sua sine relatione ad externum quodvis, Semper . . . similare et immobile. Relativum est spatii huius mensura seu dimensio quaelibet mobilis, quae a sensibus nostris per situm suum ad corpora definitur". Eine absolute Bewegung im absoluten Raum darf angenommen werden. Auch die Zeit ist absolut: „Tempus absolutum, verum et mathematicum in re et natura sua sine relatione ad externum quodvis aequabiliter fluit alioque nomine dicitur duratio. Relativum, apparens et vulgare est sensibilis et externa quaevis durationis per motum mensura." Der Raum ist das Sensorium der Gottheit. N. folgt da-

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mit den metaphysischen Lehren des Henry More. Ein Argument, mit Hilfe dessen er die Existenz Gottes stützen will, sind die Störungen des Planetensystems, die zu ihrer Behebung den Eingriff einer ordnenden Intelligenz notwendig machen. — N. findet die Methode der Fluxionen, die Differentialrechnung, fast gleichzeitig mit Leibniz, woraus sich ein Prioriitätsstreit entwickelt. S c h r i f t e n : Philosophiae naturalis principia mathematica, London 1687; deutsch hrsg. v. J. Ph. Wolfers, 1872; dt. 1932. — Optics or a Treatise of the Reflections . . . of Light, London 1704; dtsch. 1898. — Arithmetica universalis, 1707. — Analysis, 1711. — Opera, hrsg. v. Horsley, 5 Bde., Lond. 1779 bis 1785. L i t e r a t u r : Voltaire, La métaphysique de Neuton, ou parallèle des sentiments de Neuton et de Leibniz, Amsterdam 1740. — Dav. Brewster, I. N., Edinb. 1831; deutsch v. Goldberg, 1833. — Memoirs of the Iife, writings and discoveries of Sir I. N., Edinb. 1855. — K. Snell, N. u. d. mechan. Naturwiss., 1843. — A. Struve, N.s naturphilos. Ansichten, 1869. — Léon Bloch, La philosophie de N., Paris 1908. — H. G. Steinmann, Üb. d. Einfluß N.s auf d. Erkenntnistheorie s. Zeit, 1913, — Aug. de Morgan, Essays on the life and work of N., ed. by Ph. E. B. Jourdain, Chicago and Lond. 1914. — Burtt, E. A., The Metaphysical foundations of modern physical science, Lond. 1925; Kap. 7. — Lenard, Große Naturforscher, 2. Aufl. 1931. — W. J. Greenstreet, I. N., London 1927. —• Osieka, Herbert, D. Raum- u. Zeitbegriff bei N., Breslau 1934; Diss. — Popp, Karl Robert, Jacob Böhme u. Isaac Newton (m. Bibliogr.), 1935. — Josef Baranell, D. Materie u. d. Prinzipien ihrer Veränderung. Unters, z. Weltbild N.s, Breslau 1937. — Friedrich Dessauer, Weltfahrt d. Erkenntnis, Zürich 1945. — Jos. E. Hofmann, Studien z. Vorgeschichte d. Prioritätsstreites zw. Leibniz u. N., Berlin 1943. Nicolai, Christoph Friedrich, geb. 18. März 1733 in Berlin, gest. 8. Januar 1811 ebda. Popularphilosoph der Aufklärung, mit Mendelssohn und Lessing befreundet, geriet in einen für ihn selbst unheilvollen Gegensatz zu den eigentlich schöpferischen Gestaltern des neuen Geisteslebens, insbesondere zu Jacobi, Kant und Goethe. N.s literarischer Kampf endete mit einer Niederlage der „Aufklärung". S c h r i f t e n : Briefe, den jetzigen Zustand der schönen Wissenschaften betr., 1755; Neudruck 1894. — Briefe, die neueste Literatur betr., 24 Bde., 1761—67. — Beschreibung e. Reise durch Deutschland u. d. Schweiz im J. 1781, 12 Bde., 1783—97. — Selbstbiographie, hrsg. v. Löwe 1806 in den „Bildnissen jetzt lebender Berliner Gelehrter". — Philos. Abhandlungen, 2 Bde., 1808. — Hrsg.: Allg. Deutsche Bibliothek 1765 bis 1792, Neue Allg. Deutsche Bibliothek 1793—1806, insgesamt 268 Bde. L i t e r a t u r : K. Aner, der Aufklärer F. N., Stud. z. Gesch. d. neueren Protestantism. 6, 1912. — M. Sommerfeld, N. u. der Sturm u. Drang, 1921. — Strauß, Walter, F. N. u. d. krit. Philos., 1927. — G. Ost, N.s Allg. dt. Bibl., 1928. — Friedrich Meyer, F. N., Leipzig 1938. Nicolaus von Autrecourt (Ultricuria), gest. nach 1350. Nominalist. Um 1324 Mitglied der Sorbonne, Magister Artium, dann Baccalaureus der Theologie, 1340 wegen seiner Lehre vor der Kurie angeklagt, 1346 wegen 60 beanstandeter Thesen verurteilt, 1347 Widerruf der Thesen und öffentliche Verbrennung der verdächtigen Schrift „Exigit ordo executionis" und der Briefe an Bernhard von Arezzo; 1350 Domdekan in Metz. Für die Erkenntnis gibt N. zwei Grundlagen an: den Satz des Widerspruchs und die innere Erfahrung oder das Bewußtsein. Aus der inneren Erfahrung läßt sich jedoch nicht auf die Existenz einer einfachen Seelensubstanz oder von Seelenvermögen, noch auf die Existenz einer Außenwelt schließen, denn es sind immer nur Akte, die im Bewußtsein gegenwärtig sind. Größere Bedeutung erlangte N. durch seine Kritik des Kausalgesetzes. Er betont, daß der Schluß aus der Existenz eines Dinges auf die Existenz eines anderen Dinges nicht mit Evi-

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denz vollzogen werden könne; aus der Anwendung des logisch allein gültigen Widerspruchssatzes auf den Tatbestand, daß Feuer in Berührung mit Werg gebracht wird, ohne daß ein Hindernis diese Annäherung hemmt, ergibt sich nicht die Folgerung, daß nun das Werg in Brand geraten wird. Es ist nur die Aufeinanderfolge des Seins in der Zeit, die erkannt werden kann; die Gleichförmigkeit des Verlaufes der Abfolge kann lediglich als wahrscheinlich angenommen werden. Damit fällt die Kausalität als Erkenntnisgesetz fort. Ebenso wie die Erkenntnis der Kausalität bestreitet N. die der Substanz. Weder auf intuitivem noch auf diskursivem Wege kann Substanz vorgestellt und erkannt werden; denn im ersten Falle müßten auch Menschen ohne besondere Vorbildung solche realiter existierenden Substanzen erkennen, im zweiten Falle müßte ein Schluß von den empirischen Wahrnehmungen auf sie mit Notwendigkeit vollzogen werden können. Dies hält N. für unmöglich, weil der Schluß von der Existenz eines Dinges auf die eines anderen nicht zwingend sei. Auch der Schluß von einem Ding als Akzidens auf die ihm zugehörige Substanz kann nicht ihre reale Existenz erweisen, denn im Begriff des Akzidens ist der der Substanz bereits mitgesetzt, ohne daß diese Setzung durch sich selbst zur Evidenz gelangen oder durch die Erfahrung zur Evidenz erhoben werden kann. In der Kosmologie schloß sich N. dem Atomismus des Demokrit an. Das Naturgeschehen besteht in einer Verbindung und Trennung der ewigen Atome (Corpora atomalia), deren Ewigkeit auch die der Dinge setzt. Entsprechend dieser Lehre hat das Licht den Charakter einer Emission, die in der Zeit erfolgt. Das Universum hält N. für das vollkommenste, sowohl in sich als auch in seinen Teilen. An der Seele unterscheidet er IntelLectus und Sensus. Aus der Annahme, daß der Intellekt nach dem Tode seines Körpers mit andern Atomverbindungen sich zusammenschließt, folgert er eine Art Seelenwanderungslehre. L i t e r a t u r : J . Lappe, N. v. A., S. Leben, s. Philos., s. Schrift., Beitr. z. Gesch. d. Philos. d. Mittelalt. VI 1, 1908. — K. Lasswitz, Gesch. d. Atomistik v. Mittelalt. bis Newton, I, 1890, 256 ff. — H. Rashdall, Nicholas de Ultricuria, a medieval Hume, Proceedings of the Aristotelian Society, N. S., t. 8, Lond. 1907, 1—27.

Nicolaus von Cusa (Nicolaus Cusanus, Nicolaus Chrypffs oder Krebs), geb. 1401 zu Cues an der Mosel, gest. 11. August 1464 in Todi (Umbrien). N. v. C. wurde bei den „Brüdern des gemeinsamen Lebens" erzogen, studierte in Heidelberg und Padua 1418 bis 1423 Jurisprudenz, Mathematik und Naturwissenschaft. 1425 ging er zur Theologie über, wurde 1430 Priester und 1431 Dekan in Koblenz. 1432 nahm er am Konzil zu Basel teil und entschied sich in dem ausbrechenden Konflikt für den Papst. 1448 wurde N. Kardinal, 1450 Bischof von Brixen; er erhielt den Auftrag, die deutschen und niederländischen Klöster zu reformieren. Seine Tätigkeit führte zu einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Herzog Sigismund. N., der durch Pythagoreismus, Platonismus und Neuplatonismus und von Eckehart beeinflußt ist, strebt auf allen Gebieten seiner Tätigkeit, in Theologie, Kirchenpolitik und Philosophie, nach einem Ausgleich der auf Jenseits und Diesseits gerichteten Forderungen und Wünsche. Als einer der Ersten wendet N, sich von Aristoteles ab in der Erklärung der Natur. Er entwirft ein spekulativ-mystisches System der Welt, in dem die Gegensätzlichkeit des Mannigfaltigen der Erfahrungswelt als in Gott aufgehoben (Coincidentia oppositorum) gedacht ist und Gott und die Welt als Mysterien betrachtet werden. Gott ist dem diskursiven Denken nicht zugänglich, und nur die Vernunft, die größer und leistungsfähiger als der Verstand ist, vermag das göttliche Unendliche zu er-

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fassen und so Einsicht In die Einheit des Gegensätzlichen zu erlangen. Dieses schauende Wissen des nicht Wißbaren bildet die Grundlage des Begriffes der Docta ignorantia, der auf die Erkenntnis des Konkret-Empirischen übertragen wird: die Welt stammt aus Gott und kann nur soweit erkannt werden, als Gott erkannt werden kann. Alles Wissen von der Welt kann nicht exakt sein und bleibt eine Vermutung, „Conjectura". — Gott ist das absolut Große und Alles, aktuelle Unendlichkeit und begrifflich nicht bestimmbar; er ist auch mit den Begriffen Sein und Nichtsein nicht zu treffen. Er ist über ihren Gegensatz erhaben: bei ihm ist das Minime esse zugleich das Maxime esse. So ist Gott zwar schlechthin notwendig existierend, aber wir müssen uns bei dieser bloßen Feststellung bescheiden. Das Unendliche ist Einheit der Existenz des gegensätzlichen Mannigfaltigen, es ist auch Gleichheit, weil die Einheit nur als gleiche Einheit fortbestehen kann, und es ist Verbindung, weil das Gleiche in kontinuierlicher Kohärenz gehalten werden muß: das Unendliche ist dreieinig. Über die gegebenen Bestimmungen führt die Erkenntnis des Unendlichen nicht hinaus, es bleibt in seinem Kern unbegreiflich Es ist jedoch möglich, wenigstens zu einem Teile in dieses Mysterium einzudringen, wenn berücksichtigt wird, daß auch die Dinge, obwohl für uns unerkennbar, durchgängig aufeinander bezogen sind und dadurch einer mathematischen Betrachtung zugänglich werden, die allerdings nicht bei dem Endlichen stehenbleiben darf. Die Gegensätze müssen in einer Einheit aufgehoben werden, damit die Grundlage für eine tiefer eindringende Erfassung des Mysteriums gegeben ist. Hierzu eignen sich in besonderer Weise Symbole, die aus der Mathematik gewonnen werden. N. verwendet Dreieck, Kreis und Kugel, um zu zeigen, daß die unendliche Gerade zugleich Dreieck, Kreis und Kugel ist. Denn denkt man sich in einem Dreieck eine Seite unbegrenzt verlängert, so müssen schließlich die beiden anderen Seiten im Unendlichen sich mit der Geraden decken. Vollzieht man das gleiche Experiment mit dem Durchmesser des Kreises, so wird die Krümmung der Kreisperipherie weiter und weiter abnehmen, bis sie im Unendlichen mit der Geraden gleich ist. Da man die Kugel als den um einen Durchmesser rotierenden Kreis vorstellen kann, so fällt die unendliche Gerade mit der Kugel zusammen. Hierin glaubt N. das Symbol für das Verhältnis des aktuell Unendlichen zum Endlichen gefunden zu haben. Beide stehen im gleichen Verhältnis wie die unendliche Gerade zu Dreieck, Kreis und Kugel. Die unendliche Linie ist in unendlicher Wirklichkeit das, was sie in der Endlichkeit überhaupt werden kann. In dieser Symbolik nimmt das Dreieck eine bevorzugte Stellung ein; denn es vermittelt uns in seinem Verhältnis zur unendlichen Linie das Geheimnis der Trinität. Die Welt ist im Unterschiede zu Gott der Bereich des Gegensätzlichen, Begrenzten, sich Unterscheidenden, und ist im Gegensatz zur aktuellen Unendlichkeit des Absoluten nur endlos und unbegrenzt, weil es nichts Größeres gibt, das sie begrenzen könnte. Das Universum ist infolgedessen absolut von Gott geschieden. Dennoch ist die Welt ohne Gott unmöglich, und weil sie von Gott ist, notwendig. Diesen Merkmalen steht wieder ihre Zufälligkeit in der empirischen Konkretheit gegenüber, so daß die Welt zwar verdeutlicht werden kann, aber Mysterium bleibt. Die Symbole zu ihrer Verdeutlichung bietet wiederum die Mathematik in den Begriffen Zahl, Punkt, Bewegung und Zeit. Die Zahl ist die Explikation der Einheit, der Punkt der Ausgang für die Entstehung von Linie, Fläche und Körper, die Bewegung gilt als Ruhe im Prozeß der Explikation, und schließlich entfaltet sich die Gegenwart in der Zeit. Auf solchem Wege der

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symbolischen Auffassung der logisch-mathematischen Begriffe vermögen wir eine Ahnung von dem Zusammenbestehen des Einfachen mit dem Mannigfaltigen zu gewinnen. Die Welt wird begreifbar unter dem Bilde einer zeitlosen Emanation. Ähnlich wie das aktuell Unendliche in Einheit, Gleichheit und Verbindung dreieinig ist, so die Welt in Möglichkeit, Form und Verbindung. Die Bewegung ist das Prinzip, das Materie und Form verbindet und die Natur hervorbringt. Kein Seiendes kann eine bevorzugte Stellung im Universum einnehmen. Deshalb ist die Erde nicht im Mittelpunkt der Welt zu denken. Sie bewegt sich wie die anderen Gestirne. Da nur Gott absolut ist, kann es im endlichen Sein der empirischen Welt keine festen Maßstäbe für die Bestimmung von Unterschieden, also auch keine Messung geben: die bestehende Ordnung des Universums, durch die und in der das verschiedene Mannigfaltige zu einer Einheit zusammengeschlossen ist, vermögen wir nicht zu erkennen und zu begreifen. Da N. die absolute Transzendenz Gottes setzt, entsteht die Frage nach der Vermittlung zwischen Gott und Welt. Weder ist es für N. möglich, Gott der Welt anzunähern, bis er sie berührt, weil er dann seiner absolut göttlichen Natur verlustig geht, noch scheint es ihm möglich, die Natur Gott anzunähern, weil dabei ihr eigentliches Merkmal, die Endlichkeit, verlorengeht. Nur in der Spezies der lebenden Wesen, die im Bereich des Gegensätzlichen an höchster Stelle und schon an unterster Stelle im Bereich des Absoluten steht, wird eine solche Vermittlung möglich, und auch hier nur in einem höchststehenden Individuum. Damit ist die Eignung des Menschen für diese Vermittlung behauptet und die Mittlerrolle Christi erklärt. Christus ist der Gotlesmensch, in dem als einzigem Vermittler zwischen dem Absoluten und dem Endlichen das Größte und das Kleinste zusammen bestehen; der Mensch wird in dieselbe Seinsstufe wie Christus einrücken, wenn er an ihn glaubt. Da alle menschlichen Individuen voneinander verschieden sind, können sie nur zusammengeschlossen jene Stufe erreichen. Hier ist der Ort und die Aufgabe der Kirche; sie hat diese Funktion der Vereinigung auszuüben und wird als Einheit durch Christus zu Gott emporgehoben. Gottes Ebenbild im Menschen ist der Geist, der als Abbild Gottes auch Schöpferkraft besitzt. Ziel seiner Betätigung ist die Vollkommenheit. Diese kann nur Vollkommenheit in der Sphäre des Endlichen sein, so daß alle Aussagen des Geistes über das Absolute bloße Vermutungen bleiben. Im einzelnen verläuft das Erkennen in den Stufen des Sinnlichen, der Einbildungskraft und der Ratio, welche die Stufe der Sonderung des Widersprechenden darstellt, und endlich des Intellectus, in dem die Gegensätze zusammen geschaut werden. Die Universalien existieren nur in den Individuen des Seins. Der Mensch, der des Geistes teilhaftig ist, erhebt sich über alles Seiende und schafft seine eigene Welt in sich selbst als Mikrokosmos. In seiner späteren Schrift De non aliud (1642) faßt N. das Gottesproblem anders. Er sucht die negative Theologie bis zur höchsten mystischen Spitze zu vollenden und über die Definition Gottes als der Coincidentia oppositorum hinauszukommen. Er findet die neue Bezeichnung in dem „Non aliud", das allem anderen vorhergehen muß, damit es existieren kann. Dieser Name schafft die notwendige Brücke zur Welt und drückt zugleich Gottes Transzendenz und seine Immanenz in der Welt aus. Über eine Vorlösung, in der er Gott als „Posse", als Wirkenkönnen, bezeichnet, gelangt N. zu der Lehre, daß das Können der eigentliche Grund Gottes sei. Das Posse wird damit zum Wesen schlechthin und zur obersten Hypostasenstufe. In den Dingen erkennen wir das Können des Absoluten, das sich in ihnen ausdrückt.

Nicolaus von Damaskus — Nicolaus Von Oresme

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N. bildet s e i n e P h i l o s o p h i e d e r M a t h e m a t i k fort, um die T r e n n u n g v o n V e r s t a n d u n d V e r n u n f t zu mildern und aufzulösen, indem e r mit d e r M a t h e m a t i k als s y m b o l s c h a f f e n d e r M ö g l i c h k e i t die G r e n z e n d e s E n d l i c h e n zum U n e n d l i c h e n zu d u r c h b r e c h e n u n d g e o m e t r i s c h e F r a g e n zu lösen v e r s u c h t . H i e r b e i k o m m t e r zur E i n s i c h t in die b e s o n d e r e B e d e u t u n g d e s Begriffes d e s U n e n d l i c h k l e i n e n für die E r k e n n t n i s , und m i t d i e s e m Begriff findet er d e n W e g zur m o d e r n e n N a t u r a n s i c h t der R e n a i s s a n c e . D e n n nun k a n n die V e r n u n f t sich d u r c h die M a t h e m a t i k mit dem E m p i r i s c h e n in seiner K o n k r e t h e i t befassen. S c h r i f t e n : Opera, Opuscula varia, um 1488 in Straßbg.; 3 Bde., Paris 1514; 3 Bde., Basel 1565, — Der Tetralogus De non aliud findet sich im Anhang von Übinger, Die Gotteslehre des N. C., 1888. — Neuausg. v. De docta ignorantia v. P. Rotta, Bari 1913. — Opera omnia, hrsg. v. Ernst Hoffmann u. a., 1932 ff. — Wichtigste Schriften, übers, v. F . A. Scharpff, 1862. — Die Quellen der Cusanischen Mathematik, in: S.-B. Heidelberger Ak., 1941/42, 4. — Schriften in deutscher Übersetzung, hrsg. v. Ernst Hoffmann 1936 ff. (Philosophische Bibliothek, Meiner). L i t e r a t u r : J . Übinger, D. Philos. d. N. C„ 1880. — Falckenberg, Rieh., Grundzüge d. Philo«, d. N. C., 1880. — H. Schwarz, D. Gottesged. in d. Gesch. d. Philos. I, 1913,459—500. — Vansteenberghe, Edmond, Le cardinal N. d. C., Paris 1920. — Lanz, J o s e p h , Die docta ignorantia oder d. myst. Gotteserkenntnis d. N. C. in ihren philos. Grundlagen, 1923; Abh. z. Philos. u. Psychol. d. Rel., H. 3. — Ranft, J o s e p h , Schöpfer u. Geschöpf na6h Kardinal N. v. C., 1924. — Lorenz, Siegfr., D. Unendliche bei N. v. C., 1926; Diss. Leipzig. — J . Hommes, Die philos. Grundlagen des N. C., 1926. — J . Ritter, Docta ignorantia, d. Theorie d. Nichtwissens bei N. C., 1927. — P. Rotta, II cardinale N. d. C., Publicazioni d. Univ. Cattol. del Sacro Cuore, 1. Serie, Bd. 12; Mailand 1928. — Stadelmann, Rudolf, V. Geist d. ausgehenden Mittelalters. Studien z. Gesch. d. Weltanschauung v. N. C. bis Sebastian F r a n c k , 1929, in: Dtsch.Vjschr. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch., Buchreihe Bd. 15. — Hoffmann, Ernst, D. Universum des N. v. C., 1930; Cusanusstudien 1. — B e t t , Henry, Nicholas of Cusa, Lond. 1932. — Selchow, Bogislav v., D. unendliche Kreis. Lebensroman des N. v, C. Ein Zeitwendebild, 1935. — Martin Billinger, Das Philosophische in d. Excitationen des N, v. C., Heidelberg 1938. — Elisabeth Bohnenstädt, Kirche u. Reich im Schrifttum des N, v. C., Heidelberg 1939. — Lisa Herbst, D. anorganische Formprinzip im Weltbild des N. v. C., Berlin 1940. — Martin Honecker, D. Name des N. v. C. in zeitgenöss. Etymologie, Heidelberg 1940. — Ders., N. v. C. u. d. griech. Sprache, Heidelberg 1938. — Gerhard Kallen, N. v. C. als politischer Erzieher, Leipzig 1937. — P e t e r Mennicken, N. v. K., Leipzig 1932. — Hildegund Rogner, D. Bewegung des E r kennens u. das Sein in der Philos. d. N. v. C., Heidelberg 1937. — Patronnier de Gandillac, Maurice, La philosophie de N. de C., These; Paris 1942. — P. Rotta, N. Cusano, Mailand 1942. N i c o l a u s v o n D a m a s k u s , geb. um 6 4 v. Chr. P e r i p a t e t i k e r , F r e u n d d e s K a i s e r s A u g u s t u s und B e r a t e r des jüdischen Königs H e r o d e s . N. s c h r i e b eine P f l a n z e n g e s c h i c h t e n a c h a r i s t o t e l i s c h e m Vorbild. Sein H a u p t w e r k ist eine Einführung in die Philosophie des A r i s t o t e l e s ; v o n d i e s e r sind nur w e n i g e F r a g m e n t e e r h a l t e n , v o n der P f l a n z e n g e s c h i c h t e blieb eine s p ä t e r e B e a r b e i t u n g b e w a h r t . S c h r i f t e n : Th. Roeper, Nie. Dam. de Aristotelis philosophia librorum reliquiae, in: Lectiones Abulpharagianae, 1844, 35 ff. — Dräseke, Wochenschr. f. klass. Philol. 1902, 1272. — C. Müller, Fragm. hist. Graec., vol. III, 348 ff. L i t e r a t u r : Trieber, Conrad, De N. D. Laconicis, Quaest. Laconicae, pars I, Diss., Göttingen 1866. — Zeller, Philos. d. Griechen III, 1, 4. Aufl., 651. N i c o l a u s v o n O r e s m e (Oresmius), gest. 1382. 1 3 5 6 M a g i s t e r d e s K o l l e g s v o n N a v a r r a , 1377 B i s c h o f v o n L i s i e u x . N. besitzt g r o ß e B e d e u t u n g für die G e b i e t e d e r M a t h e m a t i k , Physik, A s t r o n o m i e und N a t i o n a l ö k o n o m i e . S e i n e g e l d t h e o r e t i s c h e Schrift „ T r a c t a t u s de m u t a t i o n e m o n e t a r u m " m a c h t e ihn zu e i n e m d e r b e r ü h m t e s t e n V e r t r e t e r der z e i t g e n ö s s i s c h e n W i r t s c h a f t s l e h r e . A l s M a t h e -

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Nicolaus Trivet — Niethammer

matiker schuf er die Koordinatengeometrie und entwickelte eine Art analytischer Geometrie. Als Physiker fand er das Fallgesetz, nach dem die Strecke, die von einem fallenden Körper in seiner gleichförmig veränderten Bewegung durchlaufen wird, der Strecke gleich ist, die in derselben Zeit in einer gleichförmigen Bewegung zurückgelegt wird, wenn deren Geschwindigkeit der mittleren Geschwindigkeit des angenommenen Falles gleich ist. Im übrigen vertrat auch er nach dem Vorgang Buridans, wie Albert von Sachsen, die Impetustheorie, Als Astronom gestaltete N. eine Theorie der Erdbewegung aus. Um dieser Lehren willen wird N. als Vorläufer von Descartes, Galilei und Kopernikus gewertet.

S c h r i f t e n : Aristotelis Politica et Oeconomica, Paris 1486. — Decera libri ethicorum Aristotelis, Paris 1488. — Traité de la première invention des monnaies de N. O., franz. u. lat., hrsg. v. M. L. Wolowski, Paris 1864. — Traité de la sphère, Paris ohne Jahr; 2. Aufl. 1508. — Traité du ciel et du monde, z. Tl. veröff. v. P. Duhcm, in: Révue gén. des sciences pures et appliquées, Nov. 1909, u. in: Études sur Léonard de Vinci, 3e série, Paris 1913, 347 ff, — Viele Werke noch unveröffentlicht. L i t e r a t u r : F. Meunier, Essai sur la vie et les ouvrages de N. O., Thèse, Paris 1857. — W. Roscher, Ein großer Nationalökonom d. 14. Jahr., Zeitschr. f. Staatswissensch. 19 (1863), 305—318. — P. Duhem, Études sur Léonard de Vinci III, 346—405 ; 481—492, Paris 1906. — M. Cantor, Vöries, üb. d. Gesch. d. Math. II, 2. Aufl. 1900, 129—131. — E. Bridey, La théorie de la monnaie au 14e s., N. O., Thèse, Paris 1906. — H. Wieleitner, N. 0 „ in: Natur u. Kultur, 1916—17, S. 529—536. — Ernst Borchert, D. Einfl. d. Nominalismus auf die Christologie der Spätscholastik nach dem Traktat »De communicatione idiomatum« des N. O., Unters, u. Textausgabe, m. Bibliogr., Münster 1940, — Ders., Die Lehre v. d. Bewegung bei N. O., Münster 1934.

Nicolans Trivet (Trevet, Treveth), um 1300 Magister der Theologie in Oxford, Verteidiger des Thomismus mit starker Neigung zu den positiven Wissenschaften. N. vertritt die Ansicht von der Passivität des Verstandes und des Willens; Trennung von Essentia und Existentia lehnt er ab. Er betont die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für die Erkenntnis.

L i t e r a t u r : F. Ehrle, Nie. T., s. Leb., s. Quolibet u. Quaest. disput., Beitr. z. Gesch. d. Philos, d. M. A., Suppl. Bd. II, 1—63, 1923 (dort Verzeichnis seiner zahlreichen Schriften u. Stellen daraus).

Nicole, Pierre, geb. 19. Oktober 1625 in Chartres, gest. 16. November 1695 in Paris. Schüler des Sainte-Beuve, Freund von Pascal und von Antoine Arnauld, verfaßte mit diesem zusammen die Logik von Port-Royal (L'art de penser, Paris 1662).

S c h r i f t e n : Werke, hrsg. v. C. Jourdain, Paris 1844. — Essais de morale, 13 Bde., 1671 f. — Réfutation des principales erreurs des Quiétistes, 1695. L i t e r a t u r : Abbé Goujet, Vie de N. (als Bd. 14 der Essais de morale, mit Schriftenverzeichnis). — Schenk, Reinhold, D. Verstandes- u. Urteilsbildung in ihrer Bedeutung f. d. Erziehung bei Nicole, Diss., Leipzig 1908. — E. Thouverez, P. N.,. Paris 1926..

Nielsen, Rasmus, geb. 4. Juli 1809 in Roerslev bei Middelfart, gest. 30. September 1884 in Kopenhagen. 1841 bis 1883 Prof. der Philosophie in Kopenhagen. — Der dänische Philosoph N. wendet sich von Hegel zu Kierkegaard. S c h r i f t e n : Grundideernes Logik, 2 Bde., 1864—66. — Om Hindringer og Betingelser for det aandelige Liv i Nutiden, 1868. — Religionsphilosophie, 1869. — Natur og Aand, 1873. L i t e r a t u r : Asmussen, Eduard, Entwicklungsgang u. Grundprobleme der Philos. R. N.s, Flensburg 1911.

Niethammer, Friedrich Immanuel, geb. 6. März 1766 in Beilstein bei Heilbronn, gest. 1. April 1848 in München. 1793 Priv.-Doz., dann Professor in Jena, mit Schilling 1803 als Professor der Theologie nach Würzburg berufen, Studien-

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und Oberkonsistorialrat in München. Kantianer, dann Anhänger der Lehre Fichtes. N. war zusammen mit Fichte 1796 bis 1800 Herausgeber des Philosophischen Journals. In diesem erschien der Aufsatz Fichtes (1798, Heft 1), an den sich der Atheismusstreit knüpfte. S c h r i f t e n : Ableitung d. moral. Gesetzes aus d. Form d, reinen Vernunft, 1793. — Üb. Religion als Wissenschaft, 1795. — Versuch e. Begründung d. vernunftmäß. Offenbarungsglaubens, 1798. — D. Streit d. Philanthropismus u. Humanismus, 1808. — Schellings Briefwechsel mit Niethammer, hrsg. v. Dammköhler, 1912. L i t e r a t u r : Richter, Johannes, D. Religionsphilos. d. Fichteschen Schule, 1931.

Nietzsche, Friedrich Wilhelm, geb. 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen, gest. 25. August 1900 in Weimar. Sohn des Pfarrers Karl Ludwig N. (f 1849). Er verlebte seine Kindheit in Naumburg, seine Schulzeit in Schulpforta und studierte in Bonn und Leipzig klassische Philologie, vor allem bei F. Ritschi. Dieser empfahl ihn in jungen Jahren (1869) für eine a. o. Professur nach Basel, die bald darauf in eine o. Professur umgewandelt wurde. Am Krieg 1870 nahm er als Krankenpfleger teil. 1879 wurde er durch ein schweres und überaus schmerzhaftes Kopf- und Augenleiden zur Aufgabe seiner akademischen Lehrtätigkeit gezwungen und hielt sich seitdem überwiegend in Oberitalien und an der Riviera auf. Mit größter Energie rang er in wachsender Vereinsamung um sein Werk, bis der Ausbruch einer schweren Geisteskrankheit seinem schaffenden Leben ein Ende machte (1889). N. war ein Denker von höchster geistiger Kultur und Bildung. Sein Werk spiegelt die wesentlichen geistigen Bewegungen seiner Zeit, setzt sich mit ihnen auseinander und ist in weitem Maße von ihnen bestimmt. Es ist üblich geworden, drei „Phasen" seines Denkens zu unterscheiden, von denen mindestens die beiden ersten völlig verwurzelt sind in der Bewegung der zeitgenössischen Kultur. Es sind: die Zeit seiner „idealistischen" Schopenhauer- und Wagner-Verehrung, seiner positivistisch-skeptischen Verkündigung des „freien Geistes" und schließlich seiner ethischen Predigt des Heroismus und des „Übermenschen". Indessen bleibt eine solche Aufteilung, die nicht streng durchgeführt werden kann, an der Oberfläche. Der wirkliche N. ist sich selbst in seinem Wesen sein Leben hindurch gleichgeblieben, und die letzten Impulse für seine wechselnden geistigen Haltungen liegen in einer sich gleichbleibenden Grundabsicht, die gerichtet ist auf eine Erneuerung der deutschen Kultur im Rahmen des europäischen Geisteslebens. N. ist vor allem und zuerst Kulturphilosoph und als solcher zugleich Kulturkritiker und Verkünder neuer kultureller Normen. Er sieht sich im Gegensatz zu einer in sich morsch gewordenen Zeit und gewinnt die Bewegung seines Denkens aus dem Willen, das leer und unecht Gewordene aufzulösen und Neues an seine Stelle zu setzen. Dieser dynamische Grundcharakter eignet auch seiner Philosophie, die darum kein System hervorbrachte, vielmehr den Willen zum System als eine Form der Unwahrhaftigkeit ablehnt, dabei aber doch in der eigenen beharrenden Grundabsicht eine innere Einheitlichkeit und insofern systematische Konsequenz trägt. Die Systematik der Philosophie N.s ist die Systematik seines Wollens in der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Leben, vor allem in den beiden Kulturmächten der Kunst und Wissenschaft. Im Hintergrund dieses Philosophierens bleibt, unausgesprochen, ein starkes religiöses Grundgefühl, das aber von dem Gegensatz zu dem protestantisch-christlichen Geisteserbe des Elternhauses an der Entfaltung gehindert und nur aus der leidenschaftlichen Kritik an den Schwächen des Christentums („David Friedrich Strauß"!), wie aus dem Pathos des „Also sprach Zarathustra" heraus fühlbar wird.

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N. hat sich als einen „Artisten mit wissenschaftlicher Nebenanlage" bezeichnet. Das starke künstlerische Element seines Wesens begründet seine höchsten Normen und letzten Entscheidungen, und es trägt seine philosophischen Überzeugungen in ihrem positiven Gehalt. Sein kulturelles Wollen bestimmt auch, was ihm letztlich im philosophischen Sinn als „wahr" gelten soll, denn „alles wirkliche Wahrheitsstreben ist in die Welt gekommen durch den Kampf um eine heilige Uberzeugung" (W.W.G. — Große Gesamtausgabe Kröner — X, S. 125). Da es im Grunde ein Affekt, ein Wollen ist, was sein Denken und Erkennen trägt und bewegt, hat es einen guten Sinn, wenn er sich vornimmt, „das Recht auf den großen Affekt für den Erkennenden wieder zurückzugewinnen" (W. — Kleine Ausgabe Kröner — IX, S. 455 Nr. 612). Das durchgehend festgehaltene Leit- und Zielbild seines Denkens ist die Idee einer künstlerischen Kultur. Ihre Entfaltung ist die Entfaltung der lebendigen und ursprünglichen Philosophie Nietzsches. Von Schopenhauer empfängt N. für die ganze Zeit seines philosophischen Denkens zweierlei: die Art, philosophisch zu „schauen", die für ihn grundverschieden ist von wissenschaftlichem Denken, und den Gedanken des Willens als der Urmacht der Welt („Schopenhauer als Erzieher"). Die Kunst Richard Wagners bestätigt ihn hierin, vermittelt ihm aber den Weg über Schopenhauer hinaus im Einblick in das Phänomen der Kunst selbst. Schopenhauers Deutung des Weltwillens war wesentlich ethisch, N.s Deutung wird aus dem Erlebnis der Kunst Wagners heraus ästhetisch. Im künstlerischen Schaffen vollends befreit sich der Wille zur freien Schau, vergleichbar dem im Prisma gebrochenen Lichtstrahl, der aus dem weißen Licht die Buntheit der Welt entfaltet. Führt man die Schilderungen N.s auf die anschaulichen Erlebnishintergründe zurück, von denen sie getragen sind, und die er selbst oft schildert, dann kann man sagen, es sei ein Wandel in der Phänomenologie des Willens von Schopenhauer zu N. hin festzustellen, der in N. selbst eine neue innere Haltung weckt und zugleich ausdrückt und damit den Boden schafft für seine neue Deutung der Kultur. Der „Wille" ist als dionysischer Rausch nicht nur ein „amoralisches" Phänomen, sondern als bildschöpferische Seele der Musik erlangt er eine durchaus neue Erlebnisbedeutung und einen neuen Rang, vor allem neue Aufgaben im ganzen menschlichen Dasein, das heißt in der Kultur. Er ist dais Grundphänomen der „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik". Diese Tragödie aber ist zugleich die Tragödie der Kulturidee N.s selbst, denn sie ist Ausdruck der Unvereinbarkeit von Wissen und Rausch, Skepsis und gläubig-schöpferischer Hingabe, die sich für N. objektivieren in den beiden Kulturmächten Wissenschaft und Kunst. Das bedeutet eine dreifache Spannung im philosophischen Denken N.s. 1. Die ästhetische Grundeinstellung N.s bleibt während seines gesamten Schaffens erhalten, auch in der „zweiten Phase", in der äußerlich die positive Wissenschaft und positivistische Skepsis in den Vordergrund treten. 2. Die Wissenschaft wird immer als im Widerspruch zu dem ästhetisch-künstlerischen Kulturwillen stehend empfunden, auch während der Mitte seines Lebens, die anscheinend mit ihr völlig versöhnt ist. 3. Der Kampf zwischen Wissen und schöpferischem Leben, der auch das ganze persönliche Leben Nietzsches durchzieht, ist der weltanschauliche Hintergrund seiner Kulturphilosophie. Seine ästhetische Grundhaltung formuliert N., wenn er sich aufzeichnet: „ . . , gegen Schopenhauer und die moralische Deutung des Daseins, — ich stellte darüber die ästhetische, ohne die moralische zu leugnen oder zu ändern" (W.W.G. XII, S. 212), Im Gegensatz zum Streben nach wahrer Erkenntnis de«

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Wirklichen, wie es die Wissenschaft auszeichnet, gilt für N. der Wille zum ästhetischen Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Wenden und Wechseln für tiefer und „metaphysischer", als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein (W.W.G. XI, S. 124, Nr. 394). Lobpreisung des ästhetischen Scheinsund Kampf gegen Wirklichkeit und Wahrheit gehören zusammen. Ästhetischer Optimismus und wissenschaftlicher Pessimismus ergänzen einander. Sie kennzeichnen die innere Lage des Menschen der Jahrhundertwende, deren vorbildlicher Ausdruck die Philosophie Nietzschtes ist. Gleichwohl gehören Wissenschaft und Kunst in diesem Kulturbewußtsein unlöslich zusammen und bedeuten eine bis in den Grund des Menschentums hineinwirkende Antinomie. N. selbst ist wissenschaftlicher Forscher und bekennt sich, vor allem auf der Höhe seines Lebens, zum Geist der sachgetreuen, realistischen Wissenschaft. Andererseits schließt ihm das Wissen und die Wirklichkeit alles das aus, was für ihn allein eine Sinngebung der Welt bedeuten kann, das Ästhetische. ,,Ein Naturschönes gibt es nicht" (W.W.G. IX, S. 190). Kultur also verlangt, daß der Geist hinausgeht über das Wirkliche — hinein in die Welt des Scheins. „Jede Art von Kultur beginnt damit, daß eine Menge von Dingen verschleiert wird. Der Fortschritt der Menschen hängt an diesem Verschleiern — das Leben in einer reinen und edlen Sphäre und das Abschließen der gemeinen Reizungen" (W.W.G. X, S. 127). Die Kraft dieses Hinausgehens über das Wissen und die Wirklichkeit gestaltet sich schöpferisch in der Kunst, der deshalb eine „zentralisierende Bedeutung" für die Kultur zukommt (W.W.G. X, S. 188). Vor diesem gedanklichen Hintergrund erhält erst die Formel N.s ihren Sinn: Kultur sei die „Einheit eines künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes" (W. II, S. 7). Wie die metaphysische Grundeinsicht N.s in die tragende Bedeutung des Willens, auch als Kulturwille, sich von Schopenhauer herleitet, so auch die Art seines Philosophierens. Schopenhauer wollte, dem Wort Goethes gemäß, den „Kern der Natur Menschen im Herzen" entdecken. N. stellt fest: die besten Entdeckungen über Kultur mache der Mensch in sich selbst (W. III, S. 256 f). Hierin liegt schon eine geheime Feindseligkeit gegen das wissenschaftliche Denken, das ein Absehen von dem erkennenden Subjekt fordert und dem Altphilologen N. das eigentlichste und nächstliegende Instrument zur Erkenntnis der Kultur sein müßte. Der Mensch findet in seiner eigenen Innerlichkeit die entscheidenden Erkenntnisse, und „ich rede nur von erlebten Dingen, und präsentiere nicht nur Kopfvorgänge" ist daher das Kampfwort N.s gegen alle reflektierende Wissenschaft (W. XI, S. 115). Daraus ergibt sich mit Notwendigkeit, daß N. auch das Material seiner Kulturphilosophie auf eine völlig eigene Art gewinnen muß. Er erklärt sich für frei von der Zeit. In einer später beim Druck fortgelassenen Stelle aus der „Geburt der Tragödie" sagt er: „wobei ich zum Voraus bemerken muß, daß mir die Zeit ebensowenig, wie dem Geologen, meinem Zeitgenossen imponiert und ich mir daher die Disposition über Jahrtausende, als über etwas durchaus Unreales zur Entstehung eines großen Kunstwerkes unverzagt gestatte" (W.W.G. IX, S. 180). Diese Ablehnung der Verbindlichkeit der Zeitvorstellung zeigt, daß man N. keinesfalls als einen Theoretiker der Entwicklung der Kultur ansehen darf. Wenn N. sagt, wir Deutsche seien „Hegelianer", sofern wir der „Entwicklung" einen „tieferen Wert" zuschreiben, so besagt dies schon dem Wortsinn nach eine andere Wertung der Welt, nicht aber eine Betonung des Zeitlich-Dynamischen im realen Sinn. So bedeuten auch die von N. mehrfach aufgestellten „Ahnenreihen" seiner Philosophie keinen im engeren Sinn geschichtlichen oder genetischen Zusammenhang. Sie bedeuten nur, daß das Wesensverwandte in

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einem lebendigen, inneren, aber durchaus zeitfreien Zusammenhang steht. Wesensverwandtscbaft aber ist hier wieder Wahlverwandtschaft aus der Gleichheit schöpferischen Wollens, Nur die Persönlichkeiten werden von N. letztlich als in der Geschichte des Geistes wesentlich betrachtet, die an der zeitlosen Schöpfung der „künstlerischen Kultur" mitwirken (W.W.G. XII, S. 216). N. drückt sein Verfahren bildhaft aus, wenn er sagt, Dionysos sammle „instinktiv aus allem . . . zugunsten seiner Hauptsache, — er folgt einem auswählenden Prinzip, — er läfit viel durchlallen" (W. X., S. 189). Ebenso „instinktiv" wählt N. „jene ersten Aristokraten in der Geschichte des Geistes" als seine Ahnen (W.W.G. XII, S. 216). Nun kann man begreifen, was N. unter „ h i s t o r i s c h e m Sinn" versteht: „frühere Gedanken und Gefühlssysteme der Völker aus gegebenen Anlässen schnell rekonstruieren können. Ebenso die Mitmenschen als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Kulturen verstehen, d. h. als notwendig, aber veränderlich. Und wiederum in unserer eigenen Entwicklung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen können" (W. III, S. 255). Bezeichnend genug vereinigt N. die hierhin gehörenden Ausführungen unter der Überschrift: „Ein Ausschnitt unseres Selbst als künstlerisches Objekt"! Aus dem künstlerischen Bewußtsein seiner selbst, zugleich aber mit dem Anspruch weitester, auch „historischer" Gültigkeit muß es daher verstanden werden, weiin er sagt, der Mikrokosmus der Kultur im Individuum habe mit dem Kulturbau in ganzen Zeitperioden äußerste Ähnlichkeit (W. III, S. 257; W.W.G. XII, Nr. 408). Wie konkret N. diesen Zusammenhang des persönlichen mit dem geistig-kulturellen Leben gesehen hat, zeigt die Bemerkung: „Durch Alkohol und Musik bringt man sich auf Stufen der Kultur und Unkultur zurück, die man überwunden hat" (W. XI, S. 80; vgl. W.W.G. XII, S. 193), In die ethische Betrachtung erhoben, also als Norm gesehen, drückt die gleiche Anschauung sich darin aus, daß der Mensch im Streben nach ständiger „Erhöhung" trachten muß, seine Seele immer „umfänglicher" werden zu lassen (W. VIII, S. 235). In jeder Hinsicht hängt also die Kultur an der künstlerischen Persönlichkeit. Was aus dem Geschaffenen als Kultur gilt, was seinen Platz hat in der Geschichte des Geistes, hat seinen Wert nur, sofern es den zeitfreien dynamischen Aufbau im einzelnen Menschen begründet. Von allen Geistern gelten nur die als schöpferisch, die aus dem inneren Wollen N.s als frei erwählte Ahnen anerkannt werden können. Endlich ist auch die gegenwärtige Kultur völlig ein« mit dem spannungshaften, sich selbst immer umfänglicher ausgestaltenden Gefüge der Einzelseele. Nach zwei Seiten hin ist diese Philosophie vor ein Problem gestellt: in der Richtung auf das Erfassen der Wirklichkeit, wie sie an sich ist, unabhängig von dem Willen des Erlebenden, erhebt sich die Macht der Wissenschaft und bedroht die Selbstsicherheit des künstlerischen Willens, und in der Richtung auf die tragende Wirklichkeit des menschlichen Daseins, in der auch der erlesenste Einzelne steht, taucht die ganze Weite der sozialen Welt auf. Vor dieser hat N. sein Auge verschlossen. Er bleibt der hochgebildete Gelehrte mit humanistischer Tradition und Haltung, dem ein eigentlicher Sinn für die soziale Wirklichkeit abgeht. Was er zu geben vermochte, sind psychologische Analysen, vor allem des Christentums und des Sozialismus, den er, als aus dem „Ressentiment" der Schlechtweggekommenen entstammend, sich mehr vom Leibe halten will, als daß er versucht, die hinter ihm stehenden Lebenswirklichkeiten zu begreifen. Hier liegt die empfindlichste Grenze dieses philosophischen Denkens, das bei aller Feinheit bis zuletzt von seiner Studierstubenatmosphäre nicht losgekommen ist und gegen alle unliebsam drängenden Lebenswirklichkeiten das Instrument

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einer genial überfeinerten Seelenkunde in überwiegend zerstörerischer Weis« anwendet. Darin liegt die Grenze seiner sich in sich beschließenden Persönlichkeitskultur, daß sie nicht die Kraft hiat, ganz anders geartetes Leben zu begreifen und positiv aus ihm selbst heraus zu deuten. N. bewegt sich letzten Endes immer wieder nur in sich selbst und seiner Bildung und ist in diesem aufs Höchste gesteigerten, wahrhaft tragischen Individualismus wiederum ein Repräsentant der humanistischen Kultur und Philosophie um die Jahrhundertwende. Was N. in sich findet, ist ein starker künstlerischer Instinkt, dem er außer in einigen Gedichten keine wesentliche gestaltende Auswirkung zuteil werden ließ, wenn man von seinem blendenden Stil absieht, und dazu der wissenschaftliche Geist, der wiederum auch in besonderem Maß die bürgerliche Kultur seiner Zeit bestimmt. Die Unvereinbarkeit beider Mächte in der eigenen Brust und das ständige Bemühen, einen positiven Ausgleich zwischen beiden zu finden, ist die bewegende Kraft seines Philosophierens, bis in das nachgelassene Werk über den „Willen zur Macht" hinein, in dem mit den Dogmen des Positivismus ein Gewaltfrieden gestiftet werden soll, der beide Mächte, das Künstlerische und das Wissenschaftliche in gleicher Weise aufhebt. Schon aus der Zeit der „Geburt der Tragödie" (1872) beleuchtet eine Fülle von Nachlaßstellen die Gefahr, die das Einbrechen des Wissens, der illusionsfreien Wahrheit in das Reich des schönen Scheins mit sich bringt. Wissenschaft gegen Kunst oder „vernünftiger" Mensch gegen „intuitives" Menschentum heißen die Fronten (W. I, S. 522; W.W.G. X, Nr. 36, Nr. 39). Schroffe Gegensätzlichkeit wird festgestellt zwischen lebentötender Wahrheitsliebe und schönheitwebender Illusionskraft der Kunst. Dabei ist von vornherein zu beachten, daß immer die Naturwissenschaften von N. gemeint sind, die sich ja in seiner Zeit als „die" Wissenschaft behaupteten. Die Gültigkeit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis für das Ganze, auch der geistigen Welt, gesteht N. von Anfang an zu. Den eigentlichen Sinn der Kantischen Kritik an der Gültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis, mit der Kant das Wissen fortschaffte, „um für den Glauben Platz zu machen", hat N. nie verstanden; so ist seine häufige Polemik gegen Kant, als den „Königsberger Chinesen", die „Königsberger Spinne" geradezu tragisch. Von Anbeginn verstellt sich N. durch eine ungeprüfte Dogmatisierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis den Weg ins Freie. Durchaus nicht erst in der „zweiten Phase" seines Denkens, sondern schon in der ersten herrscht in N.s Geist dieser „Positivismus" der Naturwissenschaften. Er revoltiert dagegen nur gefühlsmäßig und völlig unkritisch. Eine Aufzeichnung aus der Zeit der „Geburt der Tragödie" sagt: „der Realismus des jetzigen Lebens, die Naturwissenschaften haben eine unglaublich bilderstürmerische Kraft" (W.W.G. IX, Nr. 91). Gegen diesen Bildersturm wendet er sich, aber nicht, weil er Ausdruck eines ungerechtfertigten Übergriffes der Methoden eines geistigen Gestaltens in eine ganz andere Welt ist, sondern nur, weil — nach der dargelegten Begründung aller kulturphilosophischen Thesen im persönlichen Wollen N.s — sich der innerste Instinkt dagegen sträubt. Gegen die der Zeit entsprechend blindlings zugestandene Allmacht der Naturwissenschaft führt er nichts anderes ins Feld, als seine persönliche Kunstliebe: „Die Frömmigkeit der Kunst gegenüber fehlt: scheußliche Kronoserscheinung, die Zeit verschlingt ihre eigenen Kinder. Es gibt aber Menschen mit ganz anderen Bedürfnissen, diese müssen sich das Dasein erzwingen, in ihnen ruht die deutsche Zukunft" (W.W.G. IX, Nr. 91). Mit diesem Konflikt zwischen blinder Anerkennung der Gültigkeit naturwissenschaftlicher Methoden und dem Streben nach einer rein in sich beruhenden künstlerischen Kultur ist N. in vollendetem Maße der Kulturphilosoph der humanistisch gebildeten, aber Philosophen-Lexikon

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gleichwohl von den mächtig aufwachsenden Naturwissenschaften faszinierten bürgerlichen Welt seiner Zeit. Wie sehr N. gerade in dieser ersten Zeit seines Philosophierens schon sich einer schrankenlosen Anerkennung der Ergebnisse und scheinbaren philosophischen Konsequenzen der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, zuneigt, zeigt eine andere Bemerkung aus der gleichen Zeit: „Auch beim Bilderdenken hat der Darwinismus recht: das kräftigere Bild verzehrt die geringeren" (W.W.G. X, S. 137). Entsprechend gelten ihm später als die „großen Methodologen" Aristoteles, Bacon, Descartes, Auguste Comte (W. IX, S. 359). Das besagt nichts weniger, als daß er sich in seinen naturalistischen Voraussetzungen auch „methodologisch" verkapselt. So bleibt ihm dann nur ein Dogmatismus gegen sein „Wissen", wenn er seinen künstlerischen Instinkt behaupten will: während auf der einen Seite dem Darwinismus recht gegeben wird — und N. liebt es, von „Züchtung" des neuen Menschen noch im „Zarathustra" zu reden —, kann er auf der anderen Seite nur beziehungslos zu dieser Gedanklichkeit und starr behaupten, die Welt sei „nichts als Kunst", sie sei „ein sich selbst gebärendes Kunstwerk" (W. X, S. 53; vgl. W.W.G. IX, S. 191). Dieser in der Natur N.s wie in der Zeitkultur fundamental angelegte Zwiespalt bleibt während der ganzen Schaffenszeit ungelöst. Daneben gibt es nur einige Versuche, die Wissenschaft trotz ihres dem Kulturinstinkt N.s feindlichen Wesens in das Gesamtbild der Kultur positiv einzubeziehen. Sie haben N. für einige Zeit zum „Pragmatismus", in der Art von William James etwa, geführt. Sein Pragmatismus ist ein Versuch, die humanistische Geistigkeit, das eigenwüchsige Lebensrecht des Menschen mit der starren Gültigkeit naturwissenschaftlicher Gesetze zu versöhnen. Da heißt es dann: „Ich will der fanatischen Selbstüberhebung der Kunst Einhalt tun, sie soll sich nicht als Heilmittel gebärden, sie ist ein Labsal für Augenblicke, von geringein Lebenswerte: sehr gefährlich, wenn sie mehr sein will" (W.W.G. XI, S. 347). An die Stelle der Vergötterung des künstlerischen Genies tritt nüchterne Kritik: „Der Künstler ist nicht Führer des Lebens, wie ich früher sagte", und „Es ist immer das größte Verhängnis der Kultur gewesen, wenn Menschen angebetet wurden; dem Kultus des Genies und der Gewalt muß man als Ergänzung und Heilmittel immer den Kultus der Kultur zur Seite stellen." ,,Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der Genius-Schauder, wenn der Opferduft, welchen mein billigerweise nur allein einem Gotte bringt, dem Genie ins Gehirn dringt, so daß es zu schwanken und sich für etwas Übermenschliches zu halten beginnt" (W.W.G. II, 172). Dies sind Worte wahrhaft wissenschaftlicher Nüchternheit. Nichts mehr von jenem Persönlichkeitskult, dessen übersteigerte Form ein Übermensch sein muß. Entsprechend wird die Wissenschaft höher bewertet, von dem gleichen Standpunkt des gesunden Lebens aus, der gegen die Vergottung des Genies und gegen die Ästhetisierung der Welt vorübergehend geltend gemacht wird. Der Naturalismus der biologischen Weltanschauung wird zur Rechtfertigung der Wahrheit und des darwinistischen Denkens selbst angewandt: „Hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, psychologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. — Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen das Urteil; Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt, zu behaupten, daß die falschesten Urteile . . . uns die unentbehrlichsten sind" („Jenseits von Gut und Böse", W. VIII, S. 12). Eine sachlich originelle Behandlung hat das Problem der Wissenschaft aber in dieser, wie

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in der späteren Zeit durch N. nicht erfahren. Die Hinwendung zur Wissenschaft, hervorgerufen durch die Enttäuschung an Wagner und der Kunst Wagners, bleibt künstlich und an der Oberfläche; die Gedankenwelt dieser Zeit, auch soweit sie nachwirkt, bleibt äußerlich übernommen aus dem philosophischen Schrifttum der Zeit. Im Grunde bleibt N. der „Artist". Als solcher macht er eine Reihe weniger radikaler Versuche, Kunst und Wissenschaft in Einklang miteinander zu bringen. So spricht er einmal davon, es sei für den Menschen eine „Forderung der Gesundheit", ein „Doppelhirn" zu besitzen, wenn man in höherer Kultur zu leben habe (W. III, S. 235). Er versucht es auch, „versöhnende Mittelmächte" einzuschalten zwischen Kunst und Wissenschaft als Mächten an „verschiedenen Enden der Kultur" (W. III, S. 257). Kultur soll schließlich ein „hoher Tanz" sein zwischen diesen feindlichen Mächten {W. III, S. 258). Oder N. läßt die beiden Gegner sich in ihren Funktionen unmittelbar aufeinander beziehen: der Mensch finde in den Dingen nichts wieder, was er nicht selbst hineingesteckt habe, das Wiederfinden heiße Wissenschaft, das Hineinstecken Kunst, Religion, Liebe, Stolz (W. IX, S. 453). Ebenso wird versucht in einem räumlichen Ordnungssymbol eine Verbindung zu stiften: in den „Zonen der Kultur" gestaltet sich Kultur von einem Zustand mächtiger Leidenschaftlichkeit, der nur gebändigt werde durch gewaltsame Begriffe (Religion, Metaphysik) zu einem Stadium stetiger Milde geistklaren Bewußtseins {W. III, S. 223). Ebenso spricht N. mit einem zeitlichen Ordnungssymbol von „Phasen der geistigen Kultur" in der Reihenfolge von Religion, Pantheismus, Metaphysik, Kunst, Natur- und Geschichtswissenschaft (W. III, S. 253). All dies sind Versuche zur Lösung eines dogmatisch gesetzten Problems, dessen Voraussetzungen selbst, die in der blinden Anerkennung der Naturwissenschaften einerseits und der persönlich emotionalen Kunstauffassung andererseits liegen, nicht geprüft werden. Der Frieden, der mit der Wissenschaft, wenn auch nur in der Deutung des Naturalismus, Positivismus und Pragmatismus geschlossen wird, ist nur ein Übergang. Da N. nicht zu den Wunzeln seiner Problematik zurückfragt, muß er sich über sie hinauszuschwingen suchen. Dieser Versuch ist, auf konstanten geistigen Grundvoraussetzungen beruhend, die sogenannte dritte Phase. Er ist das Ergebnis einer immanenten Dialektik im Werk Nietzsches. Diese beginnt damit, daß die unbedingte Gültigkeit der Ergebnisse der Naturwissenschaften vorausgesetzt wird. Auf Grund dieser Voraussetzung wird das Ästhetische und die Kunst wie die gesamte künstlerische Kultur zur „Illusion". N. entdeckt dabei, daß — eben unter diesen Voraussetzungen — sein Wille zur Kultur „tragisch" ist, eiben weil diese „nur Illusion" noch sein kann (W.W.G. X, N. 37; W. I, S. 157). N. fragt nicht nach dem Grunde dieser Tragik, sondern bejaht sie. Man könnte sagen, er will sie. Eis liegt ein Stück Willen zum Tode von Anbeginn in dieser Haltung. Die Art, wie N. sich über diese Situation hinausschwingt, kann theoretisch nur als Nihilismus bezeichnet werden. Sein tiefster Wille zur künstlerischen Kultur zeigt sich ihm von seiner naturalistischen gedanklichen Position als Wille zu einer bloßen Illusion. Nun glaubt er entdecken zu können, daß ja jener andere Kulturwille, der wissenschaftliche, selbst auch mit der gleichen Waffe bekämpft werden kann, mit der er der künstlerischen Kultur die Wurzeln abgeschlagen hat, mit der Waffe der Entwirklichung. Auch die Wissenschaft ist Wille zu einer „Illusion". Damit löst sich das ganze Weltbild in sich selbst auf. Der Dogmatismus der Naturwissenschaften wird gegen diese selbst gekehrt. Lehren sie, daß alles nur auf Trieb und Lust beruht, so muß dies auch für sie selbst gelten — damit fällt ihre unbedingte Gültigkeit. „Endlich sah ich ein, daß auch unsere Lust an der Wahrheit auf der Lust an 14*

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der Illusion beruht" (W.W.G. XI, Nr. 394). Vollendeter Agnostizismus (W. X, S. 258) und damit die Selbstauflösung des theoretischen Philosophierens von N. ist die systematisch klare Konsequenz seiner inneren Entwicklung. Die Tragik dieses geistigen Ganges ist N. selbst nicht verborgen geblieben. Während er, nach vergeblichem Ringen mit ihr, die „Logik als künstlerische Anlage" zu begreifen versucht, um so eine Aussöhnung, zwischen Wissenschaftlichkeit und Artistentum zu finden, muß er doch einsehen, daß sein ganzes Verfahren sich in sich selbst totläuft. Es gleicht einer Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt (W.W.G. IX, S. 179). Übrig bleibt: ethische Forderung und künstlerische Gestaltung selbst. Ethischer Kampf um letzte Zielsetzung der Kultur ist somit der positive und bleibende Kern der Philosophie N.s, ethische Normbegriffe sind daher auch seine kulturphilosophischen Grundbestimmungen. Auch diese sind nicht von Anbeginn einheitlich. Die Antinomie liegt zwischen der Betonung des schöpferischen Einzelnen als „Genius" und zwischen dem Streben nach einer kulturellen Gesamtgestaltung im Raum und Rahmen der sozialen Welt, repräsentiert durch das „Volk". Ein Widmungsbrief an Wagner, für die „Geburt der Tragödie in neuer Form" bestimmt, spricht den von Schopenhauer übernommenen Geniegedanken als Forderung aus: „es gibt keine höhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius" (W.W.G. IX, S. 141). Was dabei unter Genius zu verstehen ist, formuliert eine Nachlaßstelle: „Die Einwirkung des Genius ist gewöhnlich, daß ein neues Illusionsnetz über eine Masse geschlungen wird, unter dem sie leben kann. Dies ist die magische Einwirkung des Genius auf die untergeordneten Stufen. Zugleich gibt es aber eine aufsteigende Linie zum Genius: Diese zerreißt immer die vorhandenen Netze, bis endlich im erreichten Genius ein höheres Kunstziel erreicht wird" (W.W.G. IX, S. 187). Daß diese Deutung der Kulturfunktion des Genius ganz im Einklang mit der Fassung des Kulturbegriffs im Sinne einer illusionären Kunstwelt ist, liegt klar zutage. Im übrigen spiegelt diese Auffffassung N.s Bewußtsein der eigenen kulturellen Leistung. Schon in der ersten Zeit seines Philosophierens sieht er sich als Skeptiker, der die Netze überkommener Illusionen zerreißt (W. IV, S. 4), — später nennt er das gleiche Tun ein Entlarven, Umwerten usw. — und er will auch selbst bewußt der Magier werden, der die Netze neuer Illusionen webt, der „Verführer", wie sein Zarathustra auch heißt. Dieser Wille zum Genie ist aber unvereinbar mit dem Willen zur „künstlerischen Kultur" als „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes". Zwischen beiden Leitgedanken entspinnt sich ein ähnlich aussichtsloses Ringen wie zwischen den Kulturmächten Kunst und Wissenschaft, und die Spannung zwischen beiden Normen ist die andere Quelle unbefriedbarer Unruhe im Geiste N.s. Aus der Zeit zwischen der „Geburt der Tragödie" und dem „Menschlich-Allzumenschlichen" findet sich eine Stelle, die eine erste Abkehr von dem Kult des künstlerischen Genies zeigt, wie er N.s Beginn kennzeichnet: „ . . . es kommt nur auf die Grade und Quantitäten an: alle Menschen sind künstlerisch, philosophisch, wissenschaftlich usw. Unsere Wertschätzung bezieht sich auf Quantitäten, nicht auf Qualitäten. Wir verehren das Große, das ist freilich auch das Unnormale" (W.W.G. X, S. 136). Im „Menschlich-Allzumenschlichen" geht N. einen Schritt weiter: „Innerhalb der Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel geringere Kultur nötig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen aus Gewohnheit sich allem, was Macht haben will" (W. III, S. 242). In voller

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Schärfe spricht sich ein nachgelassene« Wort aus: „nichts ist schädlicher einer guten Einsicht in die Kultur, als den Genius und nichts anderes gelten lassen. Das ist ein« subversive Denkart, bei der alles Arbeiten für die Kultur aufhören muß" (W.W.G. XI, S. 135). Ebenso wie gegen das „Genie" wendet sich die Forderung nach einer künstlerischen Kultur gegen die bloße „Kunst der Kunstwerke". Diese ist nur ein „Anhängsel". Die Kunst soll vor allem und zuerst das Leben verschönern, also uns selber den anderen erträglicher inachen, womöglich angenehm. Alle Tugenden schönet- Geselligkeit erbildet sie am Menschen. Alles Peinliche und Häßliche, das unserer Naturbestimmtheit anhaftet, deutet sie um, wenn sie es nicht zu verhüllen vermag, Das unüberwindbar Häßliche aber verklärt sie, indem sie das Bedeutende durchschimmern läßt (W. IV, S. 95). Auch über diese Fassung seines Gedankens will N. noch hinaus, in dem Bestreben, der künstlerischen Kultur eine breite Basis im Leben zu geben und ihr zugleich eine ethische Funktion zu sichern: „an Stelle des Genies setzte ich den Menschen, der über sich selber den Menschen hinausschafft (neuer Begriff der Kunst, gegen die Kunst der Kunstwerke)" (W.W.G. XI, S. 215). Hier tritt die innerste Tendenz des Philosophierens von N. rein zutage, und zugleich zeigt sich der echte innere Ort der Idee des „Übermenschen" — dieser ist kein überstarker, übergewaltiger Mensch an sich, sondern ist der als Kunstwerk seiner selbst über den platten Alltag vom Menschen selbst „über sich hinaus" frei gestaltete, verschönerte, „womöglich angenehme" Menschentyp. Der so als Norm empfundene Mensch, wie er über den naturgegebenen Menschen sich selbst hinausschaffen soll, ist bildhaft in „Also sprach Zarathustra" hingestellt und gestaltet. Dieses Werk ist eine mit hoher sprachlicher Kunst bildhaft gestaltete Ethik, in der an die Stelle der Lehre und Unterweisung das dichterische Wort und an die Stelle der Norm und des Gesetzes die lebendige Gestalt tritt. Es bedeutet zugleich in neuer Zeit außer den konfessionellen und politischen Ethiken eine dichterische Ethik, die nicht Lehre vom Ethischen, sondern Ansporn zum Ethischen sein will. Die definitive Grenze dieser einzigartigen Kunstform des Philosophierens fällt zusammen mit der letzten Grenze der Gedanklichkeit N.s selbst. „Also sprach Zarathustra" bietet zwar ein klar empfundenes und gestaltetes Ethos. Das Werk bietet aber keine konkrete Moral, die im unvermeidlichen Alltag des Lebens zu realisieren wäre. Dieses Ethos ist gültig für die innere Selbstgestaltung der Persönlichkeit, es vermag aber nicht gestaltend die soziale und zivilisatorische Wirklichkeit des Menschen in ihrer ganzen Dichte und Breite zu durchwirken. Eis steht zwischen der feindseligen Abkehr von der „Herdenmoral", die überwunden werden soll, und der Selbstgenügsamkeit des „Genies", dessen Anbetung Zeichen einer „subversiven" Denkart und durchaus kulturfeindlich ist. Daraus ergibt sich zunächst, daß N.s „Itnmoralismus" nicht das Gleiche ist wie Unmoral, so wenig wie sein „Übermensch" identisch ist mit der kraftvollbrutalen „blonden Bestie", von der er einmal spricht. Vielmehr ist der Übermensch das freie Kunstprodukt des Menschen, der sich über sich selbst hinaus schafft (oder „züchtet", wie es in der Sprache des zu N.s Zeit herrschenden Darwinismus heißt), und das neue Ethos des „Immoralismus" ist die Überhöhung des Moralischen, ist m e h r als Moral im bisherigen Sinn. Das bisher geltende Moralische wird als selbstverständlich vorausgesetzt, als eine Stufe des inneren Werdeganges der Persönlichkeit (oder der Geistesgeschichte, was dasselbe für N. bedeutet). „Moralische Weltauslegung als Sinn" folgte „nach dem Niedergang des religiösen Sinnes" (W. IX, S. 441). Diesen löst N. wiederum ab durch seine ästhetische Weltauslegung, wobei aber „nur der moralische Gott widerlegt" ist

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(W.W.G. XIII, S. 75). Die neue Kultur wird von ihm „blind und nur vom Instinkt geführt ertastet" (W. I, S. 271). Einer solchen neuen Weltauslegung, damit einer neuen Kultur und einem neuen Ethos muß der Mensch entgegenwachsen. Wenn der Blick „stark genug geworden" ist, werden in dem „dunklen Brunnen" der eigenen Seele die „Sternbilder künftiger Kulturen" sichtbar (W. III, S. 267). Immer bleibt bei diesem Hineinwachsen in ein neues Ethos die Persönlichkeit selbst sich der einzige und entscheidende Anzeiger und Wegweiser. Wenn es „Ziel ist, selber eine notwendige Kette von Kulturringen zu werden und von dieser Notwendigkeit aus auf die Notwendigkeit im Gang der allgemeinen Kultur zu schließen" (W.III, S. 267), dann ist der neue Ring der einer künstlerischen Kultur. Denn unsere bisherige Religion, Moral und Philosophie erlebt N. als tote Überbleibsel fremd gewordener Kulturen in sich, als „decadence-Formen" des Menschen. „Gegenbewegung" soll die Kunst werden! (W. X, S. 53). Kultur ist schlechthin „Herrschaft der Kunst über das Leben" (W.W.G. X, S. 245). Mit der Kunst gegen „Vermoralisierung" als gegen eine nicht mehr zeitgemäße Form der Kulturgestaltung zu kämpfen, ist seine Forderung. Eben dies ist der Sinn seines „Immoralismus". So wird N., wie er sagt, der erste vollkommene Nihilist Europas im Hinblick auf die alten Werte, aber er hat ebenso diesen Nihilismus in sich zu Ende gelebt (W. IX, S. 4). Er drängt zu neuen Werten; dadurch wird sein Nihilismus „Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentlichstes Wachstum" (W. IX, S. 89). Formen, die auf früheren Stufen der Kultur herrschten, werden von der neuen, „vielsaitigeren" Kultur mit umfaßt (W. III, S. 259 f.). Daher kann N. sagen: „Wir sind von Natur viel zu glücklich, viel zu tugendhaft, um nicht eine kleine Versuchung darin zu finden, Philosophen zu werden; das heißt Immoralisten und Abenteurer" (W.W.G. XVI, S. 437). „Nichts im Kopf, als eine persönliche Moral; und mir ein Recht dazu zu schaffen ist der Sinn aller meiner historischen Fragen über Moral" (W. XI, S. 105). Eine persönliche Moral, das heißt eine Moral, die den Anforderungen eines künstlerischen Kulturwillens genügt, die in Richtung auf die sich selbst gestaltende Persönlichkeit, den „Übermenschen", liegt. Von dieser Sehnsucht aus begreift sich sein Kampf gegen die Kollektivmoralen des Christentums und des Sozialismus, gegen alle Versklavung der Persönlichkeit. Er kämpft für den „vornehmen" Menschen, für den „Herren". Man darf nicht verkennen, daß diese Begriffe einen ästhetisch-künstlerischen Ursprung haben. Sonst kommt man leicht in die Gefahr, in N. einen nach rückwärts gerichteten Verherrlicher vergangener Feudalkulturen zu sehen. Auch sein Begriff der Macht ist durchaus ästhetisch-künstlerisch bedingt (W. V, S. 193, Nr. 201). Hier aber steht N. auch an der Grenze seiner Moraldeutung. Die von ihm gemeinte persönliche Moral und künstlerische Gestaltung des Lebens und des Menschen kann sich vor dem sozialen Leben, das die hervorstechende Realität des Menschen in neuerer Zeit ist, nicht behaupten. In dem sozialen Ganzen sind die unpersönlichen Mächte mehr und mehr erstarkt. N.s Ethik ist daher letzten Endes utopisch. Nicht nur, weil sein eigener, von ihm selbst vorausgesetzter und festgehaltener Naturalismus alles Kulturelle und Künstlerische zur bloßen „Illusion" degradiert, sondern weil es ihm nicht gelingt, die realen Voraussetzungen für eine künstlerische Kultur als „Stileinheit in allen Lebensäußerungen eines Volkes" zu klären. N.s positivste Wirkung ist daher in allen Formen menschlicher Gemeindebildung zu finden, die sich, wie etwa die Jugendbewegung oder der Kreis um Stefan George, entschlossen in ihrem innersten Leben von dem äußeren Dasein der Zeit abgewandt haben.

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N. hat diese Grenze empfunden. Daher sein Kampf gegen die bloß« „Zivilisation", die er als „Tierzähmung des Menschen" abwertet (W. IX, S. 96). Charakteristisch für diese Tierzähmung ist ihm der Sozialismus, von dem er sagt: daß er die „förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt; als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll" (W. III, S. 350). Gerade die Personen, die vom sozialen Denken aus als Feinde betrachtet werden müssen, die Reichen und die Müßigen, bestimmen den Wert der Dinge (vgl. W.II, S.441; III, S.261 f.; V, S.252, Nr.308). So muß N. feststellen, Zivilisation wolle etwas anderes als Kultur in seinem Sinne, „vielleicht etwas Umgekehrtes" (W. IX, S. 96). Er muß einen „Grundwiderspruch" vermuten „in der Zivilisation und der Erhöhung des Menschen" (W. IX, S. 104). Die einzige Möglichkeit für N., sich mit der sozialen Wirklichkeit auszusöhnen, besteht dann, wenn die Gebilde dieser Wirklichkeit selbst künstlerischen Charakter annehmen. Immer dann, wenn N. einen solchen an ihnen entdecken kann, verzeiht er es ihnen, daß sie die „Vernichtung des Individuums" als Individuum voraussetzen. Er entdeckt das Kunstwerk „als Organisation (Preußisches Offizierskorps, Jesuitenorden)", im Vergleich zu dem der Künstler, der Kunstwerke schafft, nur „Vorstufe" ist (W. X, S. 53). Zwar ist er grimmiger Feind des Militärs, sofern es die Eigenart des Einzelnen bedroht und die unersetzbare Wichtigkeit des feiner organisierten Geistes mißkerfnt (W. III, S. 328, Nr. 442). Der Offizier aber als Befehlender, als „Mächtiger" im Sinne N.s, frei in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, wird fast zum Symbol des Vornehmen schlechthin: „jeder Mann der höheren Stände Offizier!" (W. X, S. 52; VI, S. 103). Wo es dagegen gar nicht gelingt, in der sozialen Organisation das Kunstwerk zu entdecken, wo auch der Einzelne als Befehlender nicht zur Geltung kommen kann, da läßt N. das ihm sonst so verächtliche Sklaventum ier modernen Zivilisation wenigstens als Voraussetzung für jene nach ihm allein kulturwertigen Formen des Daseins bestehen. Er fordert es sogar! (W. W. G. IX, S. 268; XII, S. 203 f; W.III, S. 337 f; VI, S. 103). Hier stehen wir an der entscheidenden Grenze der Kulturphilosophie N.s. die er aus seinen eigenen Voraussetzungen heraus nicht überwinden kann, weil sie mit diesen Voraussetzungen geschaffen ist. Während die Kultur nach seiner Meinung „das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten" verdankt (W. III, S. 342; X, S. 287), während ein starker Staat die schöpferische Kraft des Einzelnen gefährdet, indem er das Gewaltsame und Wilde am Charakter des Lebens beseitigt, muß dieser Staat doch bestehen um des Schutzes des Einzelnen willen (W. III, S. 221 f.). Ebenso ist N. der Demokratie todfeind — sofern sie alle Menschen als gleich betrachtet. Aber er muß sie doch fordern, als „Prophylaxe" gegen Verknechtung des Leibes und des Geistes; und indem sie diese Verknechtung bekämpft, macht sie als erste und notwendigste Voraussetzung jene „Gleichheit" geltend, um deren willen Nietzsche sie ablehnt (W. IV, S. 337). Hier tauchen Antinomien im Gegenstand des kulturphilosophischen Denkens selbst auf, vor denen der Weg N.s endet. Er ist diesen Weg in unbeirrbarer innerer Konsequenz bis zu Ende gegangen. Er war in der Sache abgeschlossen, als die Krankheit seinem Geist die Kraft nahm. Gegen seine Zeit, wie kaum ein anderer, von den ersten „Unzeitgemäßen Betrachtungen" an, und doch Ausdruck der innersten Lage dieser Zeit, hat er aufweckend, ja aufreizend gewirkt und dem Denken, auch indem er unzählige Kultureinflüsse aus England und Frankreich vermittelte, lebhafte Bewegung und bisher ungekannte Feinheit des Ausdrucks verliehen. Die verschiedensten Gedankenrichtungen und Schulen be-

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rufen sich auf ihn, mit gutem Recht, sofern sein lebhafter Geist verschiedenste Richtungen aufnahm und ein Stück weiter dachte. Unbeirrbar einig mit sich ist er lediglich geblieben in seinem Streben nach einein Kulturideal, das ihn wachsend vereinsamte, weil es alles auf die Vornehmheilt der Einzelnen abstellt in einer Zeit des wachsenden Massenmenschentums. S c h r i f t e n : Die G e b u r t der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872; 2. Aufl. 1878. N e u e Titelausg. m. d. Versuch e. Selbstkritik, o. J . (1886). — Unzeitgemäße Betrachtungen, 4 Stücke, 1873—76 (David Friedrich Strauß, d. B e k e n n e r u. Schriftsteller; Vom Nutzen u. Nachteil d. Historie f. d. Leben; Schopenhauer als Erzieher; Richard W a g n e r in Bayreuth); 2. Aufl. in 2 Bdn., 1893. — Menschliches-Allzumenschliches. E. Buch f. freie Geister, 1878. Anh. Vermischte Meinungen und Sprüche, 1879. Der W a n d e r e r u. s. Schatten; 2. u. letzter Nachtrag zu Menschliches-Allzumenschliches, 1880. N e u e Ausg. des Ganzen m. e. V o r r e d e in 2 Bdn., 1886; 2. u. 3. Aufl. 1894. — Morgenröte. G e d a n k e n üb. moral. Vorurteile, 1881; neue Titelausg. mit e. Vorrede, 1887. — D. fröhliche Wissenschaft, 1882; neue e r w e i t e r t e Ausg., 1887. — Also sprach Zarathustra, 1. bis 3. Teil, 1883—84; 4. Teil, 1891; 2. Aufl. 1893; 3. Aufl. 1893. — J e n s e i t s von Gut u. Böse. Vorspiel zu e. Philos, d. Zukunft, 1886; 2. Aufl. 1891; 3. Aufl. 1894. — Zur Genealogie d. Moral, 1887; 2. Aufl. 1892. — D. Fall W a g n e r , 1888; 2. Aufl. 1892; zus. m. Nietzsche contra Wagner, 1900. — D. Götzendäm.merung, 1889; 2. Aufl. 1893. — Gedichte u. Sprüche, hrsg. v. Elis. Förster-Nietzsche, 1898. — Ecco Homo, hrsg. v. R. Richter, 1908. — Ges. Ausgaben: Musarionausg., 23 Bde., 1920—29. — W e r k e , 19 Bde. (Kröner, G r o ß e Ges.-Ausg.), 1895—1913; Bd. 20: N.-Register, b e a r b . v. R. Oehler, 1926. — W e r k e , in 11 Bden. (Kröner, Taschenausg.). — Krit. Ausg., 1933 f. — Gesammelte Briefe, hrsg. von Elis. Förster-Nietzsche, P e t e r Gast und anderen, 1900 f. L i t e r a t u r : Eine Reihe von Schriften von Elisabeth Förster-Nietzsche (s. d.). — Riehl, Alois, Fr. N., d. Künstler u. d. Denker, 1897; 6. Aufl. 1920. — Simmel, Georg, Schopenhauer u. N., 1907. — Bernoulli, Carl Albrecht, Franz Overbeck u. F r . N., 1908. — Deussen, Paul, Erinnerungen an Fr. N., 1901. — E. Seillière, N. et Rohde, deutsch 1911. — Bertram, Ernst, N., Versuch e. Mythologie, 1918; 3. Aufl. 1920. — E. Reininger, N.s Kampf um d. Sinn d. Lebens, 1922. — Andler, Charles, N., sa vie et sa pensée, 6 Bde., 1920—1931. — Bubnoff, Nicolai von, J . N.s Kulturphilos. u. Umwertungslehre, 1924. — Oehler, Richard, N.s philos. W e r d e n , 1926. — Bäumler, Alfred, Bachofen «. N., 1928. — Bianquis, Geneviève, N. en F r a n c e , Paris 1929, — Podach, Erich F.. N.s Zus.bruch. Beiträge zu e. Biogr. auf Grund unveröffentl. Dokumente, 1930. — Pourtalès, Guy de, Amor fati. N. in Italien; deutsch v, Herrn. Fauler, 1930. — Brock, W e r n e r , N.s Idee d. Kultur, Bonn 1930; Diss., Göttingen 1928. — Depenheuer, Curt, N.-Maeterlinck. E. Beitr. zum Probi, des Individualismus, Diss., Köln 1930. — Fischer, Hugo, N. A p o s t a t a o d e r d. Philos, d. Ärgernisses, 1930. — Mess, Friedr., N. d. Gesetzgeber, 1930. — Bäumler, Alfred, N. d. Philos, u. Politiker, 1931. — Trillhaas, Wolfg., Seele u. Religion. D. Problem d. Philos. F r . N.s, 1931, in: Furchestudien, 3. — Podach, Erich F., Gestalten um N. Mit unveröffentl. D o k u m e n t e n z. Gesch. s. Lebens u. s. W e r k e s , 1931. — Vialle, Louis, Détresses de N., Paris 1932, in: Bibl. de philos, contemp. — Landry, Harald, Fr. N., 1931. — Visser, H. L. A., N. de goede Europeaan, Zutphen 1933. — Beithan, Ingeborg, Fr. N. als U m w e r t e r d. deutschen Literatur 1933, in: Beiträge z. Philos. 25. — Bertallot, H a n s - W e r n e r , Hölderlin-N. Unters, z. hymn, Stil in Prosa u. Vers, 1933, in: German. Studien, H. 141. — Volhard, Ewald, Zw. Hegel u. N. Der A e s t h e t i k e r Friedrich T h e o d o r Vischer, 1932. — Schneider, Hans, D. Stellung Fr. N.s z. Probi, d. griech. Kulturerscheinungen in s. Jugendphilos., Diss., J e n a 1932. — Mette, Hans Joachim, D. handschriftl. Nachlaß Fr. N.s, 1932, in: J a h r e s g a b e der Ges. d. F r e u n d e d. N.-Archivs, 6. — Töpfer, Hellmuth, Deutung u. W e r t u n g d. Kunst bei Schopenhauer u. N., 1933. — Löwith, Karl, Kierkegaard u. N., 1933. — Vorberg, Gaston, Üb. Fr. N.s Krankheit u. Zus.bruch, 1933. — Deesz, Gisela, D. Entw. des N.bildes in Deutschland, Diss., Bonn 1933. — E, Emmerich, W a h r h e i t u, W a h r h a f t i g k e i t in der Philos. N.s, 1933. — N.s polit. Vermächtnis in Selbstzeugnissen, hrsg. v. Eitelfritz Schreiner, 1934. — Dippel, Paul Gerhard, N. u. Wagner, Bern 1934, in: Sprache u. Dichtung, H. 54. — Giese, Fritz, N. d. Erfüllung, 1934. — Rosengarth, Wolfgang, N. u. George, ihre Sendung u. ihr Menschtum,

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Nieuwenhuis — Niphus

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S c h r i f t e n : Elementa metaphysices historice et critice adumbrata, Leiden 1833.

Nigidius Figulus, Publius, gest. 45 v. Chr. Neupythagoreer, Freund Ciceros. N., der eine starke Neigung zur Mystik zeigt, ragt hervor durch bedeutende Gelehrsamkeit. Er ist der erste uns bekannte Vertreter der neupythagoreischen Schule. S c h r i f t e n : Operum reliquiae, hrsg. v. A. Swoboda, Prag 1889. L i t e r a t u r : A. G i a n d a , P. N. F. astrologo e mago, Roma 1905. — J . Geffcken, Hermes 49 (1914), 327 ff.

Nigrinos, Platoniker aus der 1. Hälfte des 2. Jhdts. Lukian berichtet über ihn. Nikomachos aus Gerasa (Arabien), lebte um 140 n. Chr. Neupythagoreer. N. beschäftigt sich mit Zahlenphilosophie ('ApiUa/jn.'/r, ehtxywjrj) und lehrt, daß im Geiste des Schöpfers die Zahlen vor der Weltbildung existieren; ihnen gemäß hat die Gottheit alle Dinge geschaffen, eine Theorie, die Beeinflussung durch Piaton (Timaios) und Philon zeigt. S c h r i f t e n : Introductionis arithmeticae libri II, rec. R. Hoche, Lips. 1866. L i t e r a t u r : Fr. Hultsch, Zur Literatur des N. v. G., Jahrb. f. klass. Philol. 97 (1868), 762—770.

Nikostratos. Lebte um 165 n. Chr. Platoniker. N. wandte sich in einer eingehenden Kritik gegen die aristotelische Kategorienlehre und formulierte Aporien, die in den späteren Diskussionen über die aristotelische Kategorienlehre häufig auftauchen; so benutzt Plotin sie gegen Aristoteles, und Porphyrios versucht ihre Widerlegung. Literatur:

K. Praechter, N. der Platoniker, Hermes 57 (1922), 481—517.

Nink, Caspar, S. J., geb. 31. Januar 1885 in Molsberg (Hessen-Nassau). Dr. phil. Habilitation in Rom 1921. Prof. der Philosophie am Ignatius-Colleg zu Valkenburg (Holland) 1924. Prof. an der philos.-theol. Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt a. M. 1926. — N. bemüht sich um eine im realistischen Sinn verstandene Erkenntnistheorie. Für die Frage nach der spezifischen Eigenart, dem Sinn und der Gültigkeit der intellektuellen Wesenserkenntnis, deren Unterschied gegenüber der sinnlichen und geistigen Erfahrung nicht bloß in der Auslassung der Individualität, sondern in einem Mehr an Erkenntnis besteht, ergibt sich, daß sie die absolut notwendigen Urteile ermöglicht und zugleich die Voraussetzung darstellt für die induktive Begriffsbildung, die als zweite Art der Gewinnung von Allgemeinbegriffen anerkannt wird. Aller Sinn unserer Erkenntnisse, auch jener der absolut notwendigen Sätze und der formalen Wissenschaften, gründet letztlich in den mit den Gegenständen gegebenen Bestimmungen. Davon machen auch die unabhängig von der Erfahrung feststehenden Sätze keine Ausnahme. In dieser Weise will N. eine realistische Metaphysik begründen. S c h r i f t e n : Grundlegung d. Erkenntnistheorie, 1930. — Kommentar zu Kants Kritik d. reine/ Vernunft, 1930. — Kommentar z. d. grundleg. Abschnitten v. Hegels Phänomenologie d. Geistes, 1931; 2. Aufl. 1948. — Z. ontolog. Gottesbeweise bei Kant, 1930, in: Philos. perennis, Festgabe f. Geyser. — D. Grundlagen d. Philos. Hegels, in: Philos. Jahrb., Bd. 44, 1931. —Sein u. Erkennen, 1938. — Philosophische Gotteslehre, 1948.

Niphus, Augustinus, 1473 bis 1546. Schüler des Nicoletto Vernias, anfangs wie dieser Averroist, glich N. seine Lehre später dem kirchlichen Dogma an. Seine Moralphilosophie ist hedonistisch. N. verfaßte eine Widerlegung von Pomponatius' „De immortalitate animae", die dieser mit dem „Defensorium contra Niphum" beantwortete.

Nitsch — Noack

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S c h r i f t e n : Opera, Venet. 1559. — Kommentare zu Aristoteles, 14 Bde., Folio. — Opuscula moralia et politica, Paris 1654. L i t e r a t u r : K. Werner, D. Averroismus in der christl.-peripatet. Psychol. d. späteren M.-A.s, 1881, 117 ff.

Nitsch, englischer Philosoph an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, Anhänger der Kantischen Philosophie, um deren Ausbreitung in England er bemüht war. S c h r i f t e n : General and introduetory view of Kant's principles concernine man, the World and the deity, Lond. 1796.

Nizolius, Marius, geb. 1498 in Bersello, gest. 1576 in Sabioneta. Lehrer an den Universitäten Parma und Sabioneta. Humanist, der mit Hilfe der Rhetorik, wie vor ihm Laurentius Valla, die Scholastik bekämpfte. N. erklärt die Rhetorik für die Wissenschaft, die dem Denkenden zu einem rechten Gebrauch seiner Denkfähigkeit verhilft, so daß er frei und in Unabhängigkeit von allen Autoritäten urteilen kann. In der Universalienfrage lehrt N., daß nur das Individuelle wirklich ist, und daß aus der Gesamtheit aller Singularien eines bestimmten Genus das Universale durch die comprehensio erfaßt wird. Das Universale besteht in der Existenzform des Sinnhaiten. An die Stelle des Verhältnisses: Allgemeines — Besonderes setzt N. das Verhältnis: Ganzes — Teil, auf das auch der Syllogismus sich richtet. Auch die Induktion führt nicht auf das Allgemeine, sondern auf das Ganze, so daß das Allgemeine überall ersetzt wird. Diese Ersetzung bedeutet eine neue, und zwar die wahre Methode des Denkens. S c h r i f t e n : Observationes in M. T. Ciceronem 1536, 1538 (als Thesaurus Ciceronianus). — Defensiones locorum aliquot Ciceronis contra disquisitiones Coelii Calcagnini, 1557. — De veris prineipiis et vera ratione philosophandi contra Pseudophilosophos libri IV, 1558, hrsg. v. Leibniz als Antibarbarus philosophicus, 1671 u. 1674. L i t e r a t u r : M. Glossner, Nicolaus v. Cusa u. M. N., 1891. — R. M. Battistella, Nizolio, Treviso 1905. — B. Tillmann, Leibniz' Verhältnis z. Renaissance im allg. u. z. N. im besonderen, 1912, Renaissance u. Philos., Heft 5, hrsg. v. Dyroff.

Noack, Hermann, geb. 23. Februar 1895 in Hamburg. Promotion 1923, Habilitation 1926 in Hamburg. A. o. Prof. ebda. 1932. — N. führt die systematische Philosophie im Geist des Neukantianismus der Marburger Schule fort. S c h r i f t e n : Vom Wesen d. Stils, in: D. Akademie, hrsg. v. Rolf Hoffmann, 1925, Heft 2 u. 4. — Gesch. u. System d. Philos., in: Hamburger Beiträge z. Philos. d. krit. Idealismus, hrsg. v. E. Cassirer, A. Görland, H. Noack, 1928. — Philos. u. Wissenschaft, in: Einf. in die Philos., hrsg. v. Fr. Schmass, 1928. — Symbol u. Existenz der Wissenschaft, 1936.

Noack, Ludwig, 1819 bis 1885. Professor und Bibliothekar in Gießen. N. war von Hegel beeinflußt und für Verbreitung seiner Ideen tätig durch Herausgabe der „Jahrbücher für spekulative Philosophie" (Darmstadt 1846—48). Die Zeitschrift war Organ der Philosophischen Gesellschaft zu Berlin, die im Geiste Hegels arbeitete und von Cieszkowski gegründet wurde. In seinen religionsphilosophischen Schriften schloß N. sich an Reiff und den von ihm beeinflußten Carl Chr. Planck an. In seiner Kanterklärung stellte er die Behauptung auf, Kant habe den Empirismus für den einzig möglichen wissenschaftlichen Standpunkt gehalten. S c h r i f t e n : Der Religionsbegriff Hegels, 1845. — Mythologie u. Offenbarung, 1845—46. — Der Genius d. Christentums, 3 Tie., 1852. — Spekulative Religionswissenschaft, 1847. — D. Buch d. Religion, 1850. — D. Theologie als Religionsphilos. in ihrem wiss. Organismus, 1853. — D. christliche Mystik, 1853. — Propädeutik d. Philos., 1854. — D. Freidenker in der Religion, 1853—55. — Kants Auferstehung aus s. Grabe, 1862. — Philos.-geschichtl. Lexikon, 1879. — Hrsgbr. der Zeitschrift „Psyche", 1858—63.

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Nohl — Norström

Nohl, Herman, geb. 7. O k t o b e r 1879 in B e r l i n . P r o m o t i o n 1904 in Berlin, Habilitation 1908 in J e n a . A . o. Prof. ebda. 1919, o. Prof. in Göttingen 1920. S c h ü l e r Diltheys. S c h r i f t e n : Sokrates u. d. Ethik, 1904. — D. Weltanschauungen d. Malerei, 1908. — Stil u. Weltanschauung, 1920. — Jugendwohlfahrt, 1927. — Pädagog. u. polit. Aufsätze, 1919; 2. A. 1930. — Zur deutschen Bildung, 1926. — Üb. d. metaphys. Sinn d. Kunst, in: Deutsche Vierteljahrsschr. f. Lit.wiss. u. Geistesgesch., 1923. — D. mehrseitige Funktion d. Kunst, ebda. 1924. — Zur Charakterologie d. Kunstwerks, ebda. 1928. — D. Theorie d. Bildung. D. pädagogische Bewegung in Deutschland, in: Handb. d. Pädagogik, Bd. 1, 1932—33. — Hrsgbr.: Hegels theolog. Jugendschriften, 1907; Handb. d. Pädagogik, mit L.Pallat, 1929f.; W.Dilthey, Von deutscher Dichtung u. Musik, 1933. — Charakter u. Schicksal, 1938, 2. Aufl. 1940. — Einf. in die Philosophie, 1935; 4. Aufl. 1948. — D. sittl. Grunderfahrungen, 1939; 2. Aufl. 1947. — D. aesthet. Wirklichkeit, 1935. Noiré, Ludwig, geb. 26. M ä r z 1829 in A l z e y (Hessen), gest. 27. M ä r z 1889 in Mainz. Monist. S c h r i f t e n : D. Welt als Entwicklung d. Geistes. Bausteine zu e. monist. Weltanschauung, 1874. — Grundlegung e. zeitgemäßen Philos., 1875. — D. monist. Gedanke, e. Konkordanz d. Philos. Schopenhauers, Darwins, R. Mayers u. L. Geigers, 1875. — D. Doppelnatur d. Kausalität, 1876. — Einl. u. Begründung e. monist. Erkenntnistheorie, 1877. — Aphorismen zur monist. Philos., 1877. — D. Ursprung d, Sprache, 1877. — D. Werkzeug u. s. Bedeutung f. d. Entwicklungsgesch. d. Menschheit, 1880. — D. Lehre Kants u. d. Ursprung d. Vernunft, 1882. — D. Entwicklung d. abendländ. Philos. bis zur Kritik d, r. V., 1883. — Logos, Ursprung u. Wesen d. Begriffe, 1885. L i t e r a t u r : Berg, Anton, D. Anschauungen L. N.s üb. Ursprung u. Wesen v. Sprache u. Vernunft, Darmstadt 1918; Diss., Gießen 1913. Norris, J o h n , 1657 bis 1711. A n h ä n g e r M a l e b r a n c h e s , den er als den Galilei d e r intellektuellen W e l t b e z e i c h n e t e , unid des H e n r y M o r e ; G e g n e r L o c k e s , N. l e h r t die R e a l i t ä t einer von u n s e r e r d e n k e n d e n Vernunft unabhängigen W e l t des Intelligiblen, dessen ewige und notwendige W a h r h e i t e n die Vernunft nachbilden muß. S'è h r i f t e n : Christian blessedness or Discourses upon the beatitudes to which are added reflections upon a late essay concerning human understanding, Lond. 1690. — An account of reason and faith in relation to the mysteries of Christianity, Lond. 1697. — Essay towards the theory of the ideal and intelligible world, 2 Bde., Lond. 1701 u. 1704. — A philosophical discourse concerning the natural immortality of the soul, Lond. 1708. L i t e r a t u r : Flora Isab. McKinnon, The philosophy of J . N., Baltimore 191U. Norström, Vitalis, 1856 bis 1916. Dozent in Uppsala, Prof. in Göteborg. Der schwedische Kulturphilosoph N. ging aus von d e r Philosophie Sahlins und k a m unter d e n Einfluß Heinrich R i c k e r t s . Als V e r t r e t e r d e r Persönlichkeitsphilosophie h ä l t N. sich j e d o c h von B o s t r ö m s spekulativer Metaphysik fern. E r sieht die R e ligion als Voraussetzung für alle E r k e n n t n i s wie für alles Kulturleben an. S c h r i f t e n : Om unders. af den gifna verklighetens form (Üb. die Untersuchung der gegebenen Wirklichkeit), 1885. — Grunddr. af H. Spencers sedei. (D. Grundzüge der Sittenlehre H. Spencers), 1889. — Material, inför den mod. vetenskap (D. Materialismus vor der modernen Wiss.), 1890. — Om pligt, frihet och förnuft (Pflicht, Freiheit u. Vernunft), 1891. — Om naturs. och frihet (Üb. Naturzusammenhang u. Freiheit), 1895. — Tvenne studier til Piatos Polit. (Zwei Studien zu Piatos Politeia), 1897. — Hvad innebär en mod. stàndp. i filos.7 (Was bedeutet e. moderner Standpunkt in d. Philos. 7), 1898. Til Piatos idèi. (Zu Piatos Ideenlehre), 1899. — Masskultur (Massenkultur), 2. A. 1910. — Religion och tanke (Religion u. Gedanke), 1912. — Om viljans frihet (Üb. die Willensfreiheit), 1917. — Sammelbände: Tankelinjer, 1905. — Tankar och forsk., 1915. — Tal

Notker — Novalis

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och tankar, 1919. — Brev, 1923. — Deutsche Aufsätze: In welchem Sinn ist Jesus unser Erlöser? in: Religion u. Geisteskunde, 1907; Naives u. wiss. Weltbild, in: Archiv f. syst. Philos., 1907 f.; F. Nietzsche, in: Logos, 1925, Bd. XIII, S. 273—290. L i t e r a t u r : Festschrift V. Norström gewidmet, Göteborg 1916. — E. Liljedahl, N., Monographie in 2 Bden., 1917/18.—Elof Akesson, Norströmiana, 1924. — A. Völklein, Die Philos. N.s, Diss., Tübingen 1924.

Notker Labeo, geb. um 950, gest. 29. Juni 1022. Leiter der St. Galler Klosterschule. N. übersetzte Schriften des Aristoteles, Boethius, Martianus Capella (mit Erklärungen nach dem Kommentar des Remigius von Auxerre) und Dichtwerke ins Deutsche und erwarb sich dadurch Verdienste um Philosophie und Pflege der deutschen Sprache zugleich. Er verfaßte Schriften über die Rhetorik und über Musik sowie logische Abhandlungen. S c h r i f t e n : Ausg. seiner (althochdeutschen) Übersetz, u. Komment, v. Heinrich Hattemer, in: Denkmale d. Mittelalt. II, 1846. — Paul Piper, Schriften Notkers u. s. Schule, 3 Bde., 1882—83. — Ausg. v. C. H. Sehrt u. T. Starck, 1932 ff. L i t e r a t u r : C. Prantl, Gesch. d. Logik, II, 61—68. — A. Naaber, Die Quellen v. N.s Boethius de cons. philos., Diss., Leipzig 1911. — H. Naumann, N.s Boethius, 1913. — P. Th. Hoffmann, D. mittelalt. Mensch geseh. aus d. Welt u. Umwelt N.s d. Deutschen, 1922, 2. Aufl. 1937.

Novalis, Friedrich, Frhr. v. Hardenberg, geb. 2. Mai 1772 in Oberwiederstedt (Grafschaft Mansfeld), gest. 25. März 1801 in Weißenfels. N. ist einer der führenden Geister der romantischen Bewegung, philosophisch beeinflußt von Kant, Fichte und Schelling, eng befreundet mit Schlegel. Seine philosophischen Ansichten hat N. in dem Roman Heinrich von Ofterdingen und in seinen Fragmenten niedergelegt. Die Philosophie ist nach ihm „die Kunst, ein Weltsystem aus den Tiefen unseres Geistes heraus zu denken", sie ist eine „Selbstoffenbarung, Erregung des wirklichen Ich durch das idealische Ich". Der Weg zur Erkenntnis führt nach innen, „in uns oder nirgends" ist „die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft": „Einem gelang es — er hob den Schleier der Göttin von Sais /' Aber was sah er? — er sah — Wunder des Wunders sich selbst." Die Natur ist ein „enzyklopädischer, systematischer Inbegriff oder Plan unseres Geistes", eine „versteinerte Zauberstadt", ein „gehemmter Personifikationsprozeß". N. fordert die Romantisierung der Welt; er versteht unter ihr eine „qualitative Potenzierung" durch Absolutieren, Universalieren, Klassifizieren des individuellen Moments und der individuellen Situation, ein Vorgehen, das die innigste Verwandtschaft mit dem Algebraisieren hat. Die Philosophie wird ihm zur „Universal- oder höheren Mathematik"; denn „das höchste Leben, das Leben der Götter ist Mathematik, Mathematik ist Religion". Der Entwurf zur Welt sind wir selbst. Die Natur soll zum Werkzeug des Geistes und zu seinem Ausdruck gemacht werden: wir sind Erzieher der Natur. Die Kunst aber, die Sinnenwelt willkürlich zu gebrauchen, ist die Magie, ihre Anwendung im Dienste des Idealismus macht diesen zu einem magischen Idealismus. Das Ziel der Natur ist Gott, „unser eigentlich sittlicher Wille ist Gottes Wille". Gott ist in dem Augenblick, wo ich ihn glaube. Die wahre Religion ist das Christentum. Dieses wird von N. in schwärmerischer Weise geliebt und dargestellt; es ist ihm „die eigentliche Religion der Wollust. Die Sünde ist der große Reiz für die Liebe der Gottheit". Der Tod ist eine Selbstbesiegung und verschafft eine neue leichtere Existenz. Er ist ein Heimgehen, denn das Leben ist um des Todes willen da.

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Nowikow — Numenios

S c h r i f t e n : N.s Schrr., hrsg. v. L. Tieck, Fr. Schlegel u. E, v. Bülow, 2 Bde., 1802, 5. Aufl., 1838, 3. Bd. 1846. — Sämtl. Werke, hrsg. v. C. Meißner, eingeleitet v. Br. Wille, 3 Bde., 1898. — Schrr., krit. Neuausg. auf Gr. d. handschriftl. Nachlasses v. Ernst Heilborn, 2 Bde. in 3 Tin., 1901. — Schrr., hrsg. v. Minor, 4 Bde., 1907; v. Kluckhohn u. Samuel, 4 Bde., 1929; v. C. Seelig, 5 Bde., 1946 ff. — Briefe u. Werke, hrsg. E. Wasmuth, Berlin 1943. L i t e r a t u r : E. Friedeil, N. als Philosoph', 1904. — H. Lichtenberger, N., Par. 1912. — Simon, Heinrich, D. magische Idealismus, Studien z. Philos, des N., 1906. — W. Dilthey, D. Erlebnis u. d. Dichtung, Lessing, Goethe, N., Hölderlin, 9. Aufl., 1924, S. 268—348; 469—474. — F. Imle, D. Weltanschauung v. N. — Rudolf Unger, Herder, N. u. Kleist, Studien über die Entwicklung des Todesproblems, 1922. — Samuel, Richard, D. poet. Staats- u. Gesch.auffassung Fr. v. H.s, in: Deutsche Forschungen, Bd. 12, 1925. — Bluth, Karl Theodor, Medizingeschichtliches bei N., Med. Diss., Bln. 1934. — Kurt Besser, D. Problematik d. aphoristischen Form . . ., Berlin 1935. — Heinr. Fauteck, D. Sprachth. Fr. v. H.s, Berlin 1940. — Ernst Günther, F. v. H Diss., Hamburg 1938. — Edgar Stederer, F. v. H.s »Christenheit oder Europa«, Diss., München 1936. — Albert Höst, N. als Künstler d. Fragments, Diss., Göttingen 1935. — Rudolf Meyer, N., Stuttgart 1939. — Irmtrud v. Minnigerode. D. Christusansch. des N., Berlin 1941. — Erich Sobtzyck, N. u. Fichte, Diss., Breslau 1942. — Werner Steindecker, Stud. z. Motiv d. einsamen Menschen bei N Breslau 1937. — Rudolf Unger, D. Wort »Herz« u, s. Begriffssphäre bei N., Göttingen 1937. — Amalie Weihe, D. junge Eichendorff u. N.s Naturpantheismus, Berlin 1939. — Gerhart Werner, D. romantische Geistlehre in ihren Beziehungen z. Klagesschen Problematik, Diss., Leipzig 1938. — Maria Hamich, D. Wandlungen d. mystischen Vereinigungsvorstellung bei F. F . v. H., Diss., Straßburg 1944.

Nowikow, Jacques, 1849 bis 1912. Russischer Soziologe. Evolutionist und Vertreter der organizis tischen Auffassung der Gesellschaft. S c h r i f t e n : Essai de notation sociologique, 1897. — Conscience et volonté sociales, Paris 1897. — Les gaspillages des sociétés modernes, 2. Aufl. 1899. — La théorie organique des sociétés, Paris 1899. — L'avenir de la rasse blanche, 2. Aufl. 1902. — Les luttes entre sociétés humaines, Par. 1893, 3. Aufl. 1904. — La justice et l'expansion de la vie, 1905; deutsch von A. Fried, 1907. — Le problème de la misère, Paris 1908; deutsch von A. Fried, 1909. — La critique du darwinisme social, 1910. Literatur: Kap. 4 u. 6.

P. Sorokin, Contemporary Sociological Theories, New York 1926,

Namenlos aus Apameia (Syrien), lebte in der 2. Hälfte des 2. Jahrh, n. Chr. Neupythagoreer. An die Spitze der Philosophen stellt N, den Pythagoras, von dem er sogar Platon abhängig sein läßt. Auch von Piaton ist er stark beeinflußt und nennt ihn, da er überhaupt die griechische Philosophie als Abkömmling orientalischer Weisheit betrachtet, den attischen Moses. Seine Dreigötterlehre knüpft an Piaton an, wird von N. aber auch auf Sokrates zurückgeführt. Der erste Gott ist das Gute; er stellt das reine Denken und zugleich das Wesen des Seienden dar. Er hält sich von aller Tätigkeit fern und herrscht als der eigentliche König über die gesamte Welt. Der zweite Gott ist der Weltschöpfer, der Demiurg, der durch seine Teilnahme an dem Wesen des ersten Gottes gut ist; er bildete die Welt, indem er die übersinnlichen Urbilder in der Materie gestaltete. Wie der erste Gott das Prinzip des Seins, so ist der zweite das des Werdens, Die von diesem zweiten Gott erschaffene Welt ist der dritte Gott. N.s Psychologie trennt das Seelenvermögen in zwei Seelen, eine vernünftige und eine vernunftlose. Die Existenz der Seele in einem menschlichen Leibe ist ein Übel, weil sie durch Eintritt in die Materie ihr körperfreies, gutes Leben schuldhaft verliert. Nach dem Tode vereinigt sich ihr unsterblicher Teil, die vernünftige Seele, wenn sie der Wanderung durch andere Körper nicht mehr

Nüsslein — Occam

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bedarf, mit der Gottheit. Darum ist die vernünftige Seele das Wichtigste für den Menschen und die Einsicht das höchste Gut. S c h r i f t e n : Fr. Thedinga, De Numenio philosopho Platonico, Bonn 1875, Diss.; Hermes 52 (1917), 592 ff., (1919), 249 fi., 57 (1922), 189 ff. L i t e r a t u r : C. E. Ruelle, Le philosophe N., in: Revue de philos. 20 (1896), 36f. — 6. Domanski, Die Psychologie des Nemesius (darin über sein Verh. zu N.), 1900. — K. S. Guthrie, N. of A., 1917.

Nüsslein, Georg, geb. 1766 in Bamberg, gest. 1842. 1793 Prof. in Bamberg, Domkapitular. Anhänger von Kant. S c h r i f t e n : Üb. d. Unterschied d. Erkennens a priori u. a posteriori, 1794, — Üb. d. Freiheit d. Willens, 1797. — Üb. d. Unsterblichkeit d. menschl. Seele, 1799. — Thesen aus d. ganzen Philos., 1803. — Versuch e. faßl. Darstellung d. allg. Verstandeswissenschaft, 1801. — Kritik d. falschen Absichten d. Logik, 1802.

Nüsslein, Franz Anton, geb. 1766 in Bamberg, gest. 1832 in Dillingen. Direktor des Lyzeums in Dillingen. Bruder von Georg N. Steht unter dem Einfluß Schellings. S c h r i f t e n : Lehrb. d. Kunstwissenschaft, 1819. — Grundlinien d. allg. Psychol., 1821. — Üb. d. Wesen d. Vernunft, 1822. — Grundlinien d. Logik, 1824. — Grundlinien d. Ethik, 1829. — Lehrb. d. Metaphysik, 1836—37.

Nuzubidse, Schalwa, geb. 14. Dezember 1888 in Parzakanevy (Georgien), Promotion 1913, Habilitation in Petersburg 1917, a. o, Prof. in Tiflis 1920, o. Prof. ebda. 1926, zeitweilig in Heidelberg. — Von seiner ersten Arbeit an bemüht sich N. um eine Begründung der von ihm sogenannten Aletheiologie als erster philosophischer Disziplin. Die gesamte europäische Philosophie ist im Grunde eine Philosophie des Bewußtseins, wobei das Philosophieren nicht nur vom Menschen stammt, sondern auch für den Menschen da ist. Von hier aus eröffnet sich die Reihe der Widersprüche, die vom menschlichen Geiste und seinen Erfordernissen herstammen, und die bald ablehnende, bald aufnehmende Stellung zum Philosophieren, das Schwanken also der europäischen Philosophie, hervorrufen. Die Aletheiologie soll die Philosophie in dem Sinne klären, daß die Probleme der Gnoseologie, Logik und Metaphysik in einer universalistischen Theorie der Wahrheit gegründet erscheinen. S c h r i f t e n : Bolzano u. d. Wissenschaftslehre, russ. 1913. — D. Grundlagen d. Aletheiologie, 1921. — Wahrheit u. Erkenntnisstruktur, 1926. — Philos. u. Weisheit, 1931.

Nybläns, Axel, 1821 bis 1899. Prof. in Lund. Anhänger von Boström. S c h r i f t e n : D. philos. Forschung in Schweden seit Ende d, 18. Jhdts., 1873f. (unvollendet). o.

Obermann, Julian J., geb. 14. Juni 1888 in Warschau. Dr. phil. in Wien. Habilitation in Hamburg 1920. Prof. für semitische Sprachen am Jewish Institute of Religion zu New York. Gastprofessor der Universität Jerusalem 1929. S c h r i f t e n : D. Problem d. Kausalität bei d. Arabern, in: Wiener Zeitschr. f. d. Kunde d. Morgenlandes, 1915, 29, H. 3 u. 4. — D. philos. u. relig. Subjektivismus Ghazalis, 1921. — Studies in Islam and Judaism.

Occam, Wilhelm von, geb. etwa 1290 zu Occam (Surrey), gest. 1349 in München. O. wurde früh Mitglied des Franziskanerordens, 1320 oder wenig später zu Oxford Baccalaureus formatus, 1324 infolge eines gegen ihn eingeleiteten Kirchenprozesses wegen Häresie zu Avignon inhaftiert. Er entfloh von dort 1328, wurde

Nüsslein — Occam

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bedarf, mit der Gottheit. Darum ist die vernünftige Seele das Wichtigste für den Menschen und die Einsicht das höchste Gut. S c h r i f t e n : Fr. Thedinga, De Numenio philosopho Platonico, Bonn 1875, Diss.; Hermes 52 (1917), 592 ff., (1919), 249 fi., 57 (1922), 189 ff. L i t e r a t u r : C. E. Ruelle, Le philosophe N., in: Revue de philos. 20 (1896), 36f. — 6. Domanski, Die Psychologie des Nemesius (darin über sein Verh. zu N.), 1900. — K. S. Guthrie, N. of A., 1917.

Nüsslein, Georg, geb. 1766 in Bamberg, gest. 1842. 1793 Prof. in Bamberg, Domkapitular. Anhänger von Kant. S c h r i f t e n : Üb. d. Unterschied d. Erkennens a priori u. a posteriori, 1794, — Üb. d. Freiheit d. Willens, 1797. — Üb. d. Unsterblichkeit d. menschl. Seele, 1799. — Thesen aus d. ganzen Philos., 1803. — Versuch e. faßl. Darstellung d. allg. Verstandeswissenschaft, 1801. — Kritik d. falschen Absichten d. Logik, 1802.

Nüsslein, Franz Anton, geb. 1766 in Bamberg, gest. 1832 in Dillingen. Direktor des Lyzeums in Dillingen. Bruder von Georg N. Steht unter dem Einfluß Schellings. S c h r i f t e n : Lehrb. d. Kunstwissenschaft, 1819. — Grundlinien d. allg. Psychol., 1821. — Üb. d. Wesen d. Vernunft, 1822. — Grundlinien d. Logik, 1824. — Grundlinien d. Ethik, 1829. — Lehrb. d. Metaphysik, 1836—37.

Nuzubidse, Schalwa, geb. 14. Dezember 1888 in Parzakanevy (Georgien), Promotion 1913, Habilitation in Petersburg 1917, a. o, Prof. in Tiflis 1920, o. Prof. ebda. 1926, zeitweilig in Heidelberg. — Von seiner ersten Arbeit an bemüht sich N. um eine Begründung der von ihm sogenannten Aletheiologie als erster philosophischer Disziplin. Die gesamte europäische Philosophie ist im Grunde eine Philosophie des Bewußtseins, wobei das Philosophieren nicht nur vom Menschen stammt, sondern auch für den Menschen da ist. Von hier aus eröffnet sich die Reihe der Widersprüche, die vom menschlichen Geiste und seinen Erfordernissen herstammen, und die bald ablehnende, bald aufnehmende Stellung zum Philosophieren, das Schwanken also der europäischen Philosophie, hervorrufen. Die Aletheiologie soll die Philosophie in dem Sinne klären, daß die Probleme der Gnoseologie, Logik und Metaphysik in einer universalistischen Theorie der Wahrheit gegründet erscheinen. S c h r i f t e n : Bolzano u. d. Wissenschaftslehre, russ. 1913. — D. Grundlagen d. Aletheiologie, 1921. — Wahrheit u. Erkenntnisstruktur, 1926. — Philos. u. Weisheit, 1931.

Nybläns, Axel, 1821 bis 1899. Prof. in Lund. Anhänger von Boström. S c h r i f t e n : D. philos. Forschung in Schweden seit Ende d, 18. Jhdts., 1873f. (unvollendet). o.

Obermann, Julian J., geb. 14. Juni 1888 in Warschau. Dr. phil. in Wien. Habilitation in Hamburg 1920. Prof. für semitische Sprachen am Jewish Institute of Religion zu New York. Gastprofessor der Universität Jerusalem 1929. S c h r i f t e n : D. Problem d. Kausalität bei d. Arabern, in: Wiener Zeitschr. f. d. Kunde d. Morgenlandes, 1915, 29, H. 3 u. 4. — D. philos. u. relig. Subjektivismus Ghazalis, 1921. — Studies in Islam and Judaism.

Occam, Wilhelm von, geb. etwa 1290 zu Occam (Surrey), gest. 1349 in München. O. wurde früh Mitglied des Franziskanerordens, 1320 oder wenig später zu Oxford Baccalaureus formatus, 1324 infolge eines gegen ihn eingeleiteten Kirchenprozesses wegen Häresie zu Avignon inhaftiert. Er entfloh von dort 1328, wurde

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Occam

exkommuniziert und begab sich unter den Schutz des Kaisers, den er in seinem politischen Kampf gegen den Papst unterstützte. Nach dessen Tode unternahm er Versuche einer Aussöhnung mit der Kirche (gegen 1348). O. starb vor Abschluß des Verfahrens. 1339 und 1340 wurden sein« Lehren, vor allem seine nominalistischen Thesen, von der Pariser Artistenfakultät verboten. Trotz der kirchlichen und weltlichen Verurteilungen aber setzte sich die Lehre O.s durch und gewann eine beherrschende Stellung, die sie bis zum Ausgang des Mittelalters behauptete. Die Bedeutung O.s liegt vor allem auf dem Gebiete der Logik und der Erkenntnistheorie. 0 . ist der eigentliche Erneuerer der nominalistischen Richtung der Erkenntnistheorie; er schuf ein System des Nominalismus von Geschlossenheit und unbedingter Folgerichtigkeit. Dos Problem des Verhältnisses von Glauben und Wissen wurde vom Nominalismus im Sinne einer völligen Diskrepanz zwischen beiden gelöst, indem die Möglichkeit der Erkenntnis nur für die Dinge und Verhältnisse der erfahrbaren Welt angenommen und das Auf-sich-selbstBeruhen der Glaubensdinge gelehrt wurde. Durch die hiermit verbundene alleinige Anerkennung des individuellen Seins als eines real Gegebenen mußte die realistische Auffassung der Universalien fortfidlen. Gegen die Annahme einer vom Denken unabhängigen Existenz der Universalien in den Dingen führt 0 . ins Feld, daß die Universalien dann selbst zu Individuen werden, da ja ihre Zahl entsprechend der der Einzeldinge vervielfacht werden müßte; die zu dem Allgemeinen hinzutretende individuierende Haecceitas des Johannes Duns Scotus könne der Sache nicht formal, sondern nur real zukommen. O. weist darauf hin, daß das Allgemeine, wenn es erst durch den Intellekt aus den Dingen abstrahiert und erfaßt werden soll, eben in den Dingen nicht als das logisch Allgemeine existiert hätte; dies wäre nur dann möglich, wenn die Dinge durch die denkende Betrachtung erzeugt und nicht durch das Denken nur begrifflich in uns repräsentiert und bewußt würden, wie es in Wirklichkeit der Fall sei. Endlich glaubt 0 . auch deshalb die Annahme von real existierenden Universalien ablehnen zu müssen, weil sie zur begrifflichen Erfassung der gegenständlichen Welt nicht erforderlich sind, da hierzu die Singularien bereits genügen, die Setzung von realen Universalien also gegen das besonders von Petrus Aureoli betonte Ökonomiegesetz (Nunquam ponenda est pluralitas sine necessitate) verstößt. Die Möglichkeit einer Verarbeitung der Singularien zu Urteilszusammenhängen bestimmt O. als durch die Übereinstimmung der Dinge zu geordnetem Zusammenhang gegeben. Die Universalien besitzen keine reale Existenz in den Dingen, sondern sind nur in der Seele als ihre Intention des seienden Einzelnen (Universale naturale) oder in den Worten, die solche Intentionen bezeichnen und allgemein verstanden werden (Universale per institutionem). Die institutionalen Universalien, diese Voces, stimmen genau mit den naturalen Universalien, den Intentionen der Seele, überein. 0 . trennt auch die Voces in Gattungen und Arten. Die Intentionen nennt O. auch Passiones und Conceptus. In dem so bestimmten Sein der Universalien sind zwei Modi zu unterscheiden: einmal existieren sie subjektiv, sodann haben sie ein Esse obiectivum, das in ihrem Gedachtwerden besteht. Jedenfalls aber sind die Universalien Ficta oder Figmenta, die einer Fictio ihre Entstehung verdanken und nur im Denkakt existieren, nicht realiter außerhalb desselben. Es gilt O. gleich, ob man an Stelle dieses von ihm bestimmten Esse obiectivum lieber die Bestimmung des Universale als einer subjektiv im Geiste existierenden Qualität annehmen will, die ent-

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weder mit dem Verstehen zusammenfällt oder darauf folgt; alle drei Auffassungen hält 0 . für möglich. Ihm kommt es vor allem darauf an, festzustellen, daß keinem Allgemeinbegriff in irgendeiner Weise eine Existenz außerhalb der Seele eignet. Das Figmentum wird zum Universale durch seine Eigenschaft, eine Mehrheit von Dingen zu bezeichnen, das Universale naturale begründet das Zeichen, das von einer Mehrheit von natürlichen Einzeldingen ausgesagt werden kann und sie bezeichnet, wie der Rauch natürlicherweise das Feuer bezeichnet, das Schluchzen den Schmerz und das Lachen die Freude; das Universale per institutionem ist Signifikation, die aus freiem Übereinkommen entstand. Signifikation oder Prädikiation sind allein die charakteristischen Merkmale des Universale; auf Grund der Entstehung der Universalien aus den Einzeldingen und der hieran anschließenden Signifikation oder Prädikation der Voces, die sie als natürliche Zeichen erweisen, können die signifizierenden Voces oder Termini für die intentionalen Begriffe und für die von den zugehörigen Begriffen umschlossenen Einzeldinge supponieren. Möglich wird die Supposition, weil das Denken die Wirklichkeit abzubilden und seine Denkgebilde in Ähnlichkeit mit ihr zu erzeugen vermag. Das Erkennen muß, da nur die Singularien und nicht die Universalien eine reale Existenz besitzen, sich stets zuerst auf diese Einzelnen richten. Es bemächtigt sich ihrer auf dem Wege der Intuition; erst wenn dieser intuitive Actus apprehensivus vollzogen ist, kann der Actus iudicativus stattfinden, der auf Grund der intuitiven Apprehension des faktischen Seins eines Dinges diesem zur bewußten Evidenz verhilft. Aber es besteht keine logische Notwendigkeit zu der Annahme, daß die Intuition die existierenden Singularien oder die Singularien als existierende zum Gegenstand habe; denkbar ist es durchaus, daß Gott auf übernatürliche Weise die intuitive Erkenntnis in der Seele auch ohne Vorhandensein eines natürlichen Objektes hervorruft. Auf der Grundlage der intuitiven Erkenntnis liegt die zweite Stufe deis Erkennens, die abstraktive Erkenntnis. Sie hat zwei Arten: die eine bildet aus den vielen Einzeidingen das Universale, die andere abstrahiert von Existenz und Nichtexistenz. Aber auch dieser abstraktive Akt des Erkennens wird auf natürliche Weise kausiert ohne jede Aktivität des Intellekts oder des Willens. Auch die Abstraktion erwirkt kein reales Sein, sondern ist eine Fiktion, die das Universale als ein Figmentum erzeugt. Die Erkenntnis kann sich außer auf äußere Dinge auch auf die intelligiblen erstrecken; so auf die Intellektionen, die Willensakte, die Freude, die Trauer und Ähnliches, was der Mensch als in ihm selbst vorhanden erfährt, ohne daß es sinnlich wahrnehmbar ist. Die intuitive Erkenntnis dieser Intelligibilien ist gewisser und evidenter als die Erkenntnis der äußeren Dinge. Die Wissenschaft enthält evidente Wahrheiten, weil sie sich auf dem Wege des syllogistischen Denkens auf die Intentionen und Conceptus vermittels der für die Dinge supponierenden Termini bezieht, nicht aber auf die Dinge selbst; erst die Supposition macht also wissenschaftliche Erkenntnis möglich. Die Bestimmungen der Seele als immateriell, unzerstörbar, und als Form des Körpers, die überall, in ihrer Ganzheit wie in ihren Teilen, als Ganzes wirkt, lehnt 0 . ab, weil sie weder rational noch empirisch evident sind; wenn sie trotzdem angenommen werden sollen, so kann dies nur durch den Glauben geschehen. 0 . unterscheidet Anima intellectiva, denkende Seele, und Anima sensitiva, empfindende Seele. Die Anima sensitiva stellt den Leib in seiner Bestimmtheit dar, sie ist daher ausgedehnt und vom Körper nicht trennbar; Trennbarkeit vom Körper kommt der Anima intellectiva zu; sie ist eine in jedem Teile in ihrer Philosophen-Lexikon

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Occam

Ganzheit wirkende Substanz. Als dritte Form übernimmt 0 . aus der franziskanischen Lehrtradition die Forma corporeitatis. Die Trennung dieser Formen oder Kräfte findet nur erkeimtnismäßig statt, in Wirklichkeit sind sie untereinander und von der Seele nicht verschieden. Zur Gottheit vermögen wir nicht durch intuitive Erkenntnis zu gelangen. Sie ist nur aus dem abstraktiv gewonnenen Zusammenhang der Dinge zu erschließen. Die Ideen können nur als die Kenntnis der Singularien in Gott sein, wenn wir überhaupt den Versuch wagen wollen, das göttliche Wesen mit unseren Erkenntnismitteln zu bestimmen. Die aristotelischen Gottesbeweise löst 0 . durch Nachweis der Irrtümlichkeit ihrer Voraussetzungen auf. Zwar bekennt sich O. zum Glauben an Gott, denn die vernünftige Überlegung macht seine Existenz wahrscheinlich; aber die Beweisbarkeit der Dogmen von Gott bestreitet er. O, nimmt die Trinitätslehre aus Bibel und kirchlicher Überlieferung an. Angesichts der Kluft aber zwischen Glauben und Wissen und angesichts der Möglichkeit, beide Bereiche nebeneinander bestehen zu lassen, indem jedem sein eigentümliches Gebiet zugewiesen wird, fordert er die Freiheit des Denkens. In der Trennung von Glauben und Wissen liegt auch die Möglichkeit, eine Moralverpflichtung zu begründen: das Unbeweisbare zu glauben ist verdienstlich, ist Tugend. Die Moralität des menschlichen Handelns liegt im Befolgen der als verbindlich anzuerkennenden göttlichen Gebote, vor allem im Dekalog. In den Grund für die Auswahl gerade dieser Gebote haben wir keine Einsicht; Gott hätte auch anderes als gut oder schlecht bestimmen können, Das Gute ist also nur deshalb gut, weil Gott es so will, eine These, die von 0 , s allgemeiner Lehre vom Verhältnis des Verstandes zum Willen gestützt wird; nach ihr ist der Wille auch beim Menschen nicht dem Verstände unterworfen. S c h r i f t e n : Quodlibeta Septem, Paris 1487. — Quaestiones in octo libros Physicorum, Straßburg 1491. — Summulae in libros physicorum od. Philosophia naturalis, Bologna 1494. — Sentenzenkommentar, Lyon 1495. — Centiloquium theologicum, Lyon 1495. — De sacramento altaris et de corpore Christi, Paris 1495; hrsg. v. T. Bruce Birch, lat. u. engl., 1930; m. biogr. Einl. — Expositio aurea, Bologna 1496. — Tractatus logicae oder Summa totius logicae, Paiis 1498. L i t e r a t u r : A. G. Little, The grey friars in Oxford, Oxford 1892, 224—234 (enthält e. Nachweisung d. Werke O.s), — C. Prantl, D. Universalienstreit im 13. u. 14. Jhdt., Sitzgsber. d. Bayr. Akad. d. Wiss. II 1, 64 f., 1864; Gesch. d. Log. III 327—120, 1867. — H. Siebeck, O.s Erkenntnislehre in ihrer histor. Stelig., Arch, f. Gesch. d. Philos. 10 (1897) 317—339; D. Willenslehre b. Duns Scotus u. s. Nachfolgern, Zeitschr. f. Philos. 112 (1898) 195—199. — Fr. Bruckmüller, D. Gotteslehre W. v. O.s, 1911. — L. Kugler, D. Begriff der Erk. bei W. v. O., 1913. — J . Hofer, Biogr. Stud. üb. W. v. 0., Archivum Franciscanum Historicum 6 (1913) 209—233; 439—465; 654—669. — G. Ritter, Studien z. Spätschol. I. Marsilius v. Inghen u. d. Occamistische Schule in Deutschland, 1921. — F. Federhofer, D. Philos. d. W. v. O. im Rahmen s. Zeit; Franzisk. Stud. 12 (1925) 273—296; D. Psychol. u. d, psycholog. Grundlagen d. Erkenntnislehre d. W, v. 0., Philos. Jahrb. 39 (1926) 263—287. — Hochstetter, Erich, Studien z. Metaphysik u. Erkenntnislehre W.s v. O., 1927. — Seeberg, Reinhold, D. relig, Grundgedanken d. jungen Luther u. ihr Verhältnis zu dem Ockhamismus..., 1931, in: Greifswalder Studien z. Lutherforschung u. neuzeitl. Geistesgesch., 6. — Abbagnano, Nicola, Guglielmo di O., Lanciano 1931, — Moser, Simon, Grundbegriffe d, Naturphilos. bei W. v. 0., 1932. — E. Aman u. P. Vignaux, Art. O. im: Dict. de th6ol. cath., Bd. XI, Sp, 864—904, 1931. — Garvens, Anita, Die Grundlagen der Ethik W.s v, O., Diss., Münster 1934, u. in: Franziskanische Studien, Jg. 21, H. 3 u. 4. — E. A, Moody, The Logic of W. of 0., London 1935. — K. Hammerle, Von O. zu Milton, 1936. — S. C, Tornay, 0., Studies and Selections, La Salle (Illinois) 1938. — Fritz Hoffmann, Die erste Kritik des Ockhamismus, Breslau 1941. — Hans Köhler, D. Kirchenbegriff bei W. v. 0., Diss., Leipzig 1936. — C. Giacon, G. di 0., 2 Bde.,

Ochorowicz — Oinomaos

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Mailand 1941. — R. Scholz, W. v. O. als politischer Denker u. sein Breviloquium de principatu tyrannico, 1944. — Gottfried Martin, W. v. O. Untersuchungen zur Ontologie der Ordnungen, 1949. Ochorowicz, Julian, 1850 bis 1917. Studierte in Leipzig. Habilitiert im Lemberg 1877, später in Warschau. Der polnische Positivist O, ist Mitbegründer der modernen Parapsychologie. S c h r i f t e n (außer zahlreichen polnischen Werken): De la suggestion mentale, Par. 1887. — Bedingungen d. Bewußtwerdens, 1874. — De la méthode dans l'éthique, 1906. L i t e r a t u r : Der physikal. Mediumismus, hrsg. v. M. Dessoir in: Der Okkultismus in Urkunden, 1925, S. 174—178, 241—253. — T. K. Österreich, in: D. physikal. Phänomene d. Mediumismus, hrsg. v. Frhr. v. Schrenck-Notzing, 1926, S. 170—191. Odebrecht, Rudolf, geb. 9. März 1883 in Berlin, verstorben. Promotion Dr. phil. 1906. Studienrat. Priv.-Doz. in Berlin 1931, a. o. Prof. 1939. S c h r i f t e n : Cohens Philos, d. Mathematik, 1906. — Kleines philos. Wörterbuch, 1908; 5. Aufl. 1922. — Beiträge zu e. Systematik d. reinen Bewußtseins, 1909, — Grundlegung einer ästhet. Wertlehre, 1927. — Gefühl u. schöpferische Gestaltung, 1929. — Gefühl u, Ganzheit, 1929. — Form u. Geist. D. Aufstieg d. dialekt. Gedankens in Kants Ästhetik, 1930. — Schleiermachers System d. Ästhetik, 1932. — Ästhetik d. Gegenwart, 1932. — Nicolaus von Cues u. d. deutsche Geist, 1934. — Welterlebnis u. philos. Rede, Berlin 1938. — Hrsgbr. d. Ästhetik Schieiermachers, 1930. Odenwald, Theodor, geb. 6, Juni 1889 in Tauberbischofsheim. Promotion D. theol. 1921, Priv.-Doz. in Heidelberg 1923. A. o. Prof. der systematischen Theologie und Religionsphilosophie ebda. 1928, o. Prof. ebda. 1929. S c h r i f t e n : D. Religionsproblem bei Fr. Nietzsche, 1922. — A. E. Biedermann in d, neueren Theologie, 1924. — Fr. Nietzsche u. d. heutige Christentum, 1926. — Protestant. Theologie, 1928. — Vom Sinn d. protestant. Theologie, 1929. — Verkündigung u. Theologie in neuer Wirklichkeit, 1934. — Christus heute, 1935. — »Entmannte« Christen? Bonn 1935. — Kluge Kirche im Werden, 1935. — Die heutige Krise des Christentumes, 1939. Offner, Max, geb. 23. Dezember 1864 in Augsburg, gest. November 1932 in Günzburg, Promotion 1892. Gymnasialprofessor. S c h r i f t e n : D. Grundformen d. Vorstellungsverbindung, 1892. — D. Psychol. Charles Bonnets, 1893. — Willensfreiheit, Zurechnung u. Verantwortung, 1904. — D. Gedächtnis, 1909, 4. Aufl. 1924. — D. geistige Ermüdung, 1910; 2. Aufl. 1928. — Nominalismus u. Realismus, 1919. Oehler, Richard, geb. 27. Februar 1878 in Heckholzhausen (Hessen-Nassau). Dr. phil. 1903, Hon.-Prof. in Frankfurt a. M., Direktor der Universitätsbibliothek. S c h r i f t e n : Fr. Nietzsche u. d. Vorsokratiker, 1904. — Nietzsche als Bildner d. Persönlichkeit, 1910. — Am jungen Tag. Versuche u. Gedanken, 1920. — Nietzsches philos. Werden, 1926. — Nietzsche-Register, 1926—28. — Fr. Nietzsche u. d. Vollendung des Nationalsozialismus, 1935. — Hrsgbr. v. Nietzsches Briefwechsel mit Overbeck, 1916; Nietzsches Werke, gem. m. Max Oehler u. F. Chr. Würzbach, 23 Bde., 1920—29. — Nietzsche-Register, Stuttgart 1943. — D. Zukunft d. Nietzsche-Bewegung, Leipzig 1938. Oinomaos v o n Gadara, lebte im 2. Jhdt. n. Chr. Kyniker, der sich in schroffer W e i s e gegen die stoische Mantik und d e n Fatalismus der Stoa wandte. Die Orakel beruhen auf Betrug und dienen der Täuschung des Volkes. O. bekämpft auch den stoischen Glauben an die unentrinnbare Vorherbestimmung d e s Schicksals mit der Behauptung: der Gott kann nichts befehlen, w e n n die A n a n k e alles beistimmt. Gott aber ist der Gebieter; deshalb muß Willensfreiheit angenommen werden. 15*

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Oischinger — Oken

S c h r i f t e n ; Fragmente bei Eusebius, Praeparatio evangelica V. — Mullach, Fragm. philos. Gr. II, 361 ff. L i t e r a t u r : Th. Saarmann, De 0 . Gadareno, Lips. 1887, Tüb., Diss.; Adnotat. ad 0 . Cynici fragm., Dortm. 1889, Pr.

Oischinger, Johann Nepomuk Paul, geb. 1817 zu Wittmannsberg, gest. 1876 zu München. Katholischer Philosoph. Gegner Anton Günthers und des „Güntheriamsmus", Theist. S c h r i f t e n : Grundzüge z. System d. christl. Philos., 2. A. 1852. — D. Günthersche Philos., 1852. — Spekulative Entwicklung d. Hauptsysteme d. neueren Philos., 1853. — Philos. u. Religion, 1849. — D. spekulat. Theol. des Thomas v. A., 1858. — D. christl. u. scholast. Theol., 1869.

Okellos der Lukaner, Schüler des Pythagoras. Oken, Lorenz (Ockenfuss), geb. 1. August 1779 in Bohlsbach (Baden), gest. 11. August 1851 in Zürich. 1807 Prof. der Medizin in Jena. Mußte wegen politischer Aufsätze in seiner naturwissenschaftlichen Zeitschrift „Iris" (41 Bde., 1817 bis 1848) 1819 seine Professur aufgeben. Er kam 1828 an die Universität München und 1832 nach Zürich. Bedeutendster Vertreter der naturphilosophischen Lehren Schellings, dessen spätere Theosophie und christliche Philosophie er allerdings ablehnte. Die naturphilosophischen Lehren O.s waren von nachhaltiger Wirkung. Sie sind pantheistisch: alles Sichtbare ist erstarrter Gedanke Gottes. Gottes Selbstbewußtsein ohne besondere Gedanken ist das Licht. Licht ist Ätherspannung, verdichteter Äther ist die Materie, die Weltkörper sind geronnener Äther, Gott ist identisch mit dem Äther, der seine unmittelbare Position, seine erste Realwerdung ist und das All ausfüllt. In diesem Sinne kann 0 . sagen, daß alles Seiende materieller Natur ist. Da Gott alles ist und außer ihm nichts existiert, das Existierende aber seine Gedanken in der Form ihrer Erstarrung darstellt, gab es niemals ein Chaos und ist die Welt anfang- und endlos, wie die Gedanken anfang- und endlos sind. Die Organismen sind Körper, die nicht erschaffen, sondern das Ergebnis einer Entwicklung aus dem Urschleim sind. Sie erregen sich durch sich selbst und leben insofern. Denn Selbsterregung ist Leben. 0.s Prinzip ist der Galvanismus. Die Entstehung des Organischen aus dem Urschleim, den 0 . als Kohlenstoffverbindung denkt, hat eine Einwirkung des Lichtes zur Voraussetzung. Denn aus dem Licht wird der Meerschleim erzeugt, den 0 . als den Urschleim bezeichnet, und aus ihm entstammen dann die Organismen im Verlaufe einer Entwicklung, die im Menschen als dem vollkommenen Tier endet. Das Tierreich muß als der in seine Elemente auseinandergelegte Mensch verstanden werden, denn im Tierreich ist noch auf die Klassen verteilt, was beim Menschen in seinen einzelnen Organen vorhanden ist. Die im Tierreich noch verselbständigten Gegensätze sind auf den höheren Stufen nur mehr Attribute. Während die Dinge der unorganischen Welt Zahlenbrüche darstellen, sind die der organischen Welt ganze Zahlen, die sich selbst erregen. 0 . verknüpft die Naturphilosophie eng mit dem Mathematischen. Alle Philosophie ist Naturphilosophie, und diese ist nur insofern Wissenschaft, als sie mit dem Mathematischen übereinstimmt und mathematisch ausdrückbar ist. So ist die Null Idee, und zwar die höchste mathematische; so sind die Zahlen nichts als Akte des Ewigen. Das Ewige ist das Wesen in den Zahlen, das Reale; dena

Oldendorf! — Ollé-Laprune

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das Einzelne ist nicht* für sich. „Alles, was real, was paniert ist, was endlich ist, ist aus Zahlen geworden; oder strenger: alles Reale ist schlechterdings nichts anderes als eine Zahl." S c h r i f t e n : Übersicht des Grundrisses des Systems der Naturphilos., 1803. — Die Zeugung, 1805. — Üb. d. Universum als Fortsetzung des Sinnensystems, 1808. — Lehrb. d. Naturphilos. (Hauptwerk), 3 Bde., 1809—11; 3. Aufl. 1843. — Isis, enzyklopäd. Zeitschr., 1817—43. — Lehrb. d. Naturgesch., 3 Bde., 1813—26. — Allg. Naturgesch., 13 Bde., 1833—41. L i t e r a t u r : A. Ecker, L. O., 1880. — H. Behn, L. O., in: D. Monismus 6, 1911. — J. Schuster, L. O., d. Mann u. s. Werk, 1922. — Jean Strohl, L. O. u. Georg Büchner, Zürich 1936. — Rudolf Zaunick u. Max Pfannenstiehl, L. 0 . u. d. Freiburger Universit., Leipzig 1938; L. 0 . u. Goethe, Leipzig 1941.

OldendorH, Paul, geb. 28. März 1880 in Elbing. Theoretischer und praktischer Pädagoge. S c h r i f t e n : Höhere Schule u. Geisteskultur m. Beziehung auf d. Lehrerbildung, 1911. — Geistesleben. Gedanken z. Umbildung unserer inneren Kultur, 1912. — D. Opfer, 1916. — V. deutscher Philos, d. Lebens. Z. Einf. in, Rudolf Euckens Gedankenwelt, 1916. — Weltl. Schule, Bekenntnisschule u. anthroposoph. Pädagogik, 1927. — Pädagog. Akademie u. Bekenntnis, 1931.

Oldendorp, Johann, 1480 bis 1567. Im Anschluß an Melanchthon einer der Begründer des Naturrechts. S c h r i f t e n : Ehifiuy^, sive elementaris introductio juris naturalis, gentium et civilis. Colon. Agr. 1539. — Gesamtausgabe in 2 Teilen, Basel 1559. L i t e r a t u r : Dietze, Hans-Helmut, J. 0 . als Rechtsphilos. u. Protestant, 1933; in: Öffentlich-rechtl. Vorträge u. Schriften, H. 16. — E. Wolf, in: Große Rechtsdenker, 2. A. 1944.

Olivi, Petrus Johannes, geb. 1248 in Sérignan (Languedoc), gest. 14. März 1298 in Narbonne. Lehrte seit 1287 in Florenz, nach 1290 in Montpellier. Franziskaner; er geriet im sogenannten Armutsstreit in Gegensatz zu seinem Orden und wurde eingekerkert. O. ist Anhänger des Bonaventura, weicht jedoch in einigen Lehren von ihm ab. Die Mehrheit der Formen im Menschen und die geistige Materie stehen nicht in dem Verhältnis zueinander, daß die höchste als die eigentliche Form alle späteren Formen bildet, sondern alle Formen behalten ihre Selbständigkeit. Sie haben eine bestimmte Rangordnung derart, daß die nächsthöhere Form die Wurzel und der tragende Grund für die ihr folgende ist. Die Einheit aller Formen entstammt also ihrer Bezogenheit aufeinander, die ihre Spitze in der höchsten Form hat. Bei derErkenntnis entsteht in der Seele ein geistiges Bild, das vom Gegenstand verursacht, aber nicht gebildet wird. Die Bildung ist das Werk der aktiven geistigen Kräfte, die durch das Objekt als die Causa terminativa oder Occasio angeregt werden. Alle höhere Erkenntnis wird gewirkt durch Kooperation (Colligantia) der Seelenkräfte. Entsprechend lehrt O. den Primat des Willens vor dem Intellekt. S c h r i f t e n : Quodlibeta, Venet. 1509. — Quaestiones in II. librum sententiarum, hrsg. v. B. Jansen, 3 Bde., 1922—26, in: Bibl. Franciscana Scholast. Medii Aevi, t. 4—6. L i t e r a t u r : Fr. Ehrle, P. J . O., s. Leben u. s. Schriften, Archiv f. Lit. u. Kirchengesch. des M.-A., III, 409—552. — B. Jansen, P. J. O., e. lange verschollener Denker, in: Stimmen d. Zeit, 96 (1918) 105—118; ü . Erkenntnislehre O.s, 1921. — J. Koch, Die Verurteilung O.s auf dem Konzil von Vi' nne, in: Scholastik, Bd. 5, 1930. — Seidel, Natur u. Person. Metaph. Probl. bei Petrus Johannes Olivi, Diss., München 1938.

Ollé-Laprune, Léon, geb. 25. Juli 1839 in Paris, gest. 13. Febr. 1898 ebda. 1897 Membre de l'Institut. Katholischer Glaubensphilosoph, der an Malebranche und Gratry anknüpft. O. betont den Anteil des Glaubens an den Annahmen der Wissenschaft, um zu beweisen, daß Zustimmung zum christlichen Glauben nicht

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Olshausen — Ophiten

schwerer sei als Zustimmung zur Wissenschaft. Sittliches Streben der Seele vor allem ist notwendig zur Erfahrung des Göttlichen; auf ihr ruht der Glaube, der über die Thesen der Metaphysik und über die Methoden der Wissenschaft hinaus greift. S c h r i f t e n : De Aristoteleae ethices fundamento, Paris 1880. — De la Certitude morale, Par. 1880. — La Philos, et les Temps présents, Paris 1890; 5. Aufl. 1905. — Les Sources de la Paix intell., Paris 1892. — Le Prix de la Vie, Paris 1894. — Ce qu'on va chercher à Rome, Paris 1895. — De la Virilité intell., Paris 1896. — Oeuvres posthumes: La Raison et le Rationalisme, hrsg. v. V. Delbos, Paris 1906; Croyance religieuse et croyance intellectuelle, 1908. L i t e r a t u r : M. Blonde!, L. O.-L., 1899 u. 1926. — Boutroux, Vie et Oeuvres de L. O.-L., L'homme et le penseur, Par. 1912. — M. Blondel, L. O.-L., in: Rev. d. Philos., 1903 f. — H. Fonsegrive, L. O.-L., L'homme et le penseur, Paris 1912; L'achèvement et 1 avenir de son oeuvre, Par. 1926. — J . Zeiller, O.-L., Paris 1932. — B. M. G. Reardon, L. O.-L., in: Theology, Nr. 37 (1938) S. 346 ff.

Olshausen, Waldemar v., geb. 25. September 1879 in Kottbus. Dr. phil. S c h r i f t e n : Frhr. V. H a r d e n b e r g (Novalis) u. d. Naturwissenschaft s. Zeit, 1904. — Mithrsgbr. v. Lessings W e r k e n , Vollständige Ausgabe (mit Julius Petersen).

Olympiodoros, lebte im 6. Jahrh. n. Chr, Neuplatoniker der alexandrinischen Richtung, Schüler des Ammonios Hermeiou. O. kommentierte die Schriften des Piaton und des Aristoteles. Literatur: 201—224.

J . Freudenthal, Zu Proklus u. dem J ü n g e r e n 0., Hermes 16 (1881),

Oelzelt-Newin, Anton, geb. 1854 in Wien. Anhänger Meinongs; wendet Meinongs erkenntnistheoretische und ethische Gesichtspunkte ins Agnostische. S c h r i f t e n : D. Unlösbarkeit d. eth. Probleme, 1883. — Üb. Phantasievorstellungen, 1889. — Üb. sittl. Dispositionen, 1892. — W e s h a l b d. Problem d. Willensfreiheit nicht zu lösen ist, 1900. — Kleinere philos. Schriften, 1903. — D. Hypothese eines Seelenlebens d. Pflanzen, 1907. — Teleologie als empir. Disziplin, 1918.

Onasandros, Platoniker aus dem 1. Jhdt. n. Chr. Onesikritos, Kyniker, Schüler des Diogenes von Sinope, begleitete Alexander den Großen auf seiner indischen Expedition. L i t e r a t u r : Diogenes Laertius, Buch 6.

Ophiten (von griech. öcpt? = Schlange) oder Naassener (hebr.), Gruppe gnostischer Sekten des christlichen Altertums, die in ihrer Lehr« besonders von orientalischen Mythen bestimmt sind. Einige von ihnen trieben einen Schlangenkultus, den sie in Verbindung mit der alttestamentlichen Erzählung von der Paradiesesschlange brachten. Nach ihrer Lehre ist Gott der Urgrund aller Dinge, das höchste Wesen, und die Erkenntnis Gottes die Höhe der Vollkommenheit. Dem höchsten Wesen steht das materielle Prinzip, das Chaos, gegenüber. Durch Mischung von Nous und Chaos entsteht die Welt. Es ist das Ziel der Erlösung, die Verbindung zwischen Lichtwelt und Materie zu lösen. Bringer der Erlösung ist Christus. L i t e r a t u r : Mosheim, Gesch. der Schlangenbrüder, 1746. — R. A. Lipsius, Über die ophitischen Systeme, Ztschr. f. wissenschaftl. Theologie, 1863. — I. N. Gruber, Die Ophiten, 1864. — A. Hönig, Üb. d. Ophiten, 1889. — R. Liechtenhan, Art. „O." in: Realenzykl. f. p r o t . Theol. u. K., 3. A. Bd. 14, 1904, S. 4 0 4 - ^ 1 3 . — W. Bousset, D. Hauptprobleme d, Gnosis, 1907. — Leisegang, Hans, D. Gnosis, 1924.

Opitz — Oppenheimer

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Opitz, Hugo Gottfried, geb. 29. März 1846 in Nietzschkau (Vogtland), gest. 13. Juli 1916 in Treuen d. V. — Philosophie beruht auf innerer Erfahrung und scheidet sich in Erscheinungslehre (Erkenntnis- und Willenslehre) und Wesenslehre (Metaphysik). Die Wurzeln unseres höheren Erkennens und Wollens liegen in einer Urkraft, einem Urwillen, den wir als höchstes Wesen oder Gott vorstellen müssen. S c h r i f t e n : Grundriß einer Seinswiss., 3 Bde., 1897—99, 1904. — Auf d. Wege zu Gott, 1907. — Die Moderne auf d. Kriegspfade gegen Gott, 2 Bde., 1909. — Die Philos. d. Zukunft, 1910. — Der Erlösungsgedanke im Lichte d. Philos., 1914, — Mein philos. Vermächtnis an d. Volk der Denker, 1915.

Oppenheim, Heinrich Bernhard, geb. 20. Juli 1819 in Frankfurt a. M„ gest. 29. März 1880 in Berlin. Prägte den Ausdruck „Katheder-Sozialismus". S c h r i f t e n : System d. Völkerrechts, 1645; 2. Aufl. 1866. — Philos. d. Rechts u. d. Gesellschaft, 1850. — D. Katheder-Sozialismus, 1872.

Oppenheimer, Franz, geb. 30. März 1864 in Berlin, gest. 30. September 19,43 in Los Angeles, Dr. med. et phil. Habilitation in Berlin 1909, von 1919 bis 1929 o. Prof. in Frankfurt a. M, — O. vertritt die Soziologie in einem doppelten Sinn: sie ist ihm einerseits die „Theorie des sozialen Prozesses" (System I, 1,68) und andererseits die „Erkenntnistheorie oder Logik oder Methodologie der Gesellschaftswissenschaften" (70). Diese zweite Aufgabe kann im besonderen Sinn als philosophisch bezeichnet werden. Sie wird in der Durchführung des Systems der Soziologie O.s nicht klar von der positiven Theorie des sozialen Prozesses unterschieden. Auch ist die Theorie des sozialen Prozesses, sofern sie dessen Wesen bestimmt, selbst eine logisch-erkenntnistheoretische Aufgabe. Der soziale Prozeß ist die „Betätigung menschlicher Massen" (79) und bedeutet „geschichtlich und logisch das Prius der Gesellschaft, die erst durch ihn entstanden ist und entstanden sein kann". O. ist nicht frei von den Einflüssen einer stark naturwissenschaftlich gefärbten Psychologie, wenn er weiter erklärt, der soziale Prozeß entstamme wiederum einem aus vorsozialen, d. h. physiologischen Trieben entstandenen Gebilde, der Familie, die überdies zu einem ursprünglich nur der Fortpflanzung dienenden Verbände begrenzt wird (69). Die Familie gilt ihm als der „Keim aller Gesellschaft" (85). Die nähere Bestimmung des sozialen Prozesses führt zurück auf die Erklärung der Masse. 0 . faßt die „menschliche Masse" als ein Ganzes, als einen Inbegriff von Beziehungen. Diese sind wesenhaft psychisch und werden durch Symbole, z. B. Ausdrucksbewegungen, Sprache, Schrift, Bilder usw. vermittelt. Dabei bleibt die Masse an die Einzelmenschen als solche gebunden; denn die Beziehungen, durch die die Masse geschaffen wird, knüpfen sich ausschließlich zwischen einzelnen Menschen, ihren Geistern und „Bewußtseinen". O. kommt daher notwendig dazu, auf eine Analyse des Bewußtseins zurückzugreifen, innerhalb dessen sich letztlich das Gesellschaftliche aufbaut. Er erklärt: wir finden „in unserem Individualbewußtsein im ganzen drei verschiedene Bestandteile: erstens das »Instinktbewußtsein«, subsozial entstanden, bezogen auf die von dem Individuum in die Gesellschaft eingebrachten körperlichen Bedürfnisse des biopsychologischenReservats; zweitens das Wirbewußtsein, präsozial, in der Familie entstanden, bezogen auf das Wirinteresse, als Ausdruck der Tatsache, daß das »Individuum«, ein bloßer Gradbegriff, sich seines unzerreißbaren Zusammenhanges mit dem Ganzen seiner Art oder Gesellschaft oder schließlich des Einen Lebens irgendwie dunkel bewußt bleibt; und drittens das »Ichbewußtsein«, sozial, in der Gesellschaft selbst entstanden, bezogen auf die für

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Opzoomer — Orano

den Fortbestand dieser Gesellschaft notwendigen, dem Individuum durch Domestikation eingeprägten und derart zu seinen Ichinteressen gewordenen Gruppeninteressen" (106). Mit dieser letzten Bestimmung ist 0 . abhängig von Gumplovicz. Er erklärt die beiden letzten Formen des Bewußtseins als „Kollektivbewußtsein" (106); sie bleiben feststellbar als „genau bestimmter Inhalt d«s individuellen Bewußtseins" (107). Es ist also letztlich Aufgabe der Soziologie, den „Psychomechanismus" zu untersuchen, den die Masse darbietet. Dazu kämmt das Studium der Ziele, Mittel und Ursachen der menschlichen Masisenbetätigung (82). Methodologisch unterscheidet 0 . die Betrachtung der Gesellschaft nach ihrer Statik und Dynamik, wobei Statik Funktion ist, unter der Voraussetzung des Gleichbleiibens aller Daten, Kinetik Funktion unter Voraussetzung von Datenveränderung. Dazu hat die Methode der „komparativen Statik" noch „herauszufinden, ob und wie das System selbst sich unter der Wirkung der Datenänderungen nach seiner Zusammensetzung und seiner Funktion verändert, »entwickelt« hat. Erst die Kombination dieser drei Methoden kann uns dann die Dynamik des sozialen Entwicklungsprozesses, die soziale Evolution geben" (78).

S c h r i f t e n : Die Siedlungsgenossenschaft 1896; 3. A. 1922. — Grundeigentum u. soziale Frage, 1898; 2. A. 1922. — Das Bevölkerungsgesetz des T. R. Malthus, 1901. — D. Staat, 1907; 3. Aufl. 1929. — Theorie d. reinen u. polit. Ökonomie, 1910; 6. Aufl. 1925. — D. psychol. Wurzel v. Sittlichkeit u. Recht, 1921. — System d. Soziologie, 4 Bde., 1922—35. — Soziologische Streifzüge, 1927. — Mein wissenschaftl. Weg, in: Volkswirtschaftslehre d. Gegenw. in Selbstdarst., 1929. — Abriß e. Soz.- u. Wirtschaftsgesch. Europas,4 Bde., 1929—1934. — Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes, 1931. — D. dritte Weg, 1933. L i t e r a t u r : Wirtschaft u. Gesellschaft, Festschrift 1924. — Werner, Kurt, O.s System d. liberalen Sozialismus, 1928. — Böckenhoff, D. Wirtschaftsbegriff O.s, 1930. — Ludwig Rudioff, D. Sozial-Liberalismus F. O.s, J e n a 1925; Diss. Hamburg. — Edmund Schreiber, D. Konjunkturtheorie F. O.s, Diss., Tübingen 1931. — Maria Schulte, F. O.s Kritik an der Lehre v. d. landwirtschaftl. Produktion u. v. d. Grundrente bei Karl Marx, Diss., Köln 1931. — J . Wagenbach, Wirtschaft u. Bevölkerung bei F. O., Diss., Gießen 1926. — Otto Wegert, D. liberale Sozialismus F. O.s, Diss., Köln 1929. — Alfred Renner, Darst. u. Krit. v. F. O.s Wertlehre, Diss., Breslau 1922. — Kurt Werner, O.s System d. liberalen Sozialismus, J e n a 1928.

Opzoomer, Cornelis Willem, geb. 20. September 1821 in Rotterdam, gest. 23. August 1892 in Oosterbeek. 1846 Prof. der Philosophie in Utrecht. Der holländische Philosoph O. förderte in seiner Heimat den Geist selbständiger Philosophie auf dem Wege über eine positivistische und empiristische Denkweise und im Gegensatz zu den humanistisch-philosophischen und theologischen Bindungen. O. war anfänglich von Krause beeinflußt.

S c h r i f t e n : De weg der wetenschap. Een Handb. der Logica, Amst. 1851; neue Aufl. 1867; deutsch 1852. — De philos. natura, Utr. 1852. — Wetenschap en wijsbegeerte, Amst. 1857. — De waarheed en hare kenbronnen, Amst. 1859. — De Godsdienst, Amst. 1864, deutsch 1868. — Ges. kleine Schriften: Lose Bladen, 3 Bde., Haag 1886—87. L i t e r a t u r : J . H. Schölten, Het kritisch standpunt van O., Amsterdam 1860. — van der Wijck, C. W. O., Een herinneringswoord, Utrecht 1893; C. W. O., in: Zeitschrift f. Philos. u. philos. Kritik, 1895, Bd. 106.

Orano, Paolo, geb. 15. Juni 1875 in Rom. Professor in Perugia. Anhänger von Labriola.

S c h r i f t e n : II precursore it. di Marx, Roma 1899. — II probl. del. Cristianesimo, 1900. — Psicol. sociale, Bari 1902. — I patriarchi del socialismo, Roma 1904. — R. Ardigo, Florenz 1910. — I moderni, Mailand 1908 bis 1926. — La rinascitä dell'anima, Bari 1913; Roma 1920. — Contemporanei, Milano 1928. — Un decennio di realizzazioni fasciste, Roma 1933.

Orestano — Origenes

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Orestano, Francesco, geb. 1873 in Alia (Sizilien). Professor in Rom und Palermo. Vertreter des Neukantianismus in Italien. Alle gewöhnliche und alle wissenschaftliche Erfahrung, ebenso alles moralische Verhalten trägt in sich gewisse theoretische Forderungen und metaphysische Vorschriften. S c h r i f t e n : D. Tugendbegriff bei Kant, Pal. 1901. — L e idee fond. di Nietzsche, 1903. — L'originalità di Kant, 1905, — L'idea del sacrificio nella filos. del sec. XIX, 1905. — I valori umani, Torino 1907. — Prolegomeni alla scienzia del bene e del male, Roma 1911. — La conflagrazione spirituale, Roma 1911. — L a Matematica moderna e la filosofia, Roma 1924. — Nuovi principi, 1925. — L a mia filosofia, in: Rivista d'Italia, 1926.

Origenes der Heide, aus Alexandrien, Neuplatoniker, bedeutender Schüler des Ammonios Sakkas. 0 . setzt den Demiurgen mit dem höchsten Gott gleich und läßt diesen zugleich über die Welt herrschen. Diese Lehre richtet sich gegen die Dreigöttertheorie des Neupythagoreers Numenios. Ein Kommentar zum platonischen Timaios stammt von O. L i t e r a t u r : G. A. Heigl, D. Bericht d. Porphyrios üb. O., 1835, dazu: Zeller, Philos. d. Gr. III, 2; 4. Aufl., 513, 4. — W . Jaeger, Nemesios von Emesa, 1914, 65 f.

Origenes, lebte von 185/86 n. Chr. bis 254 n. Chr., Kirchenvater, Schüler des Clemens von Alexandria. O. war 28 Jahre lang (203—231) Leiter der christlichen Katechetenschule zu Alexandria, wurde der Ketzerei angeklagt und gezwungen, Alexandria i. J . 232 zu verlassen. Er siedelte nach Cäsarea in Palästina über, wirkte hier als Presbyter und gründete eine Schule, die bald in hohem Ansehen stand. Er starb 254 oder 255 in Tyrus an den Folgen der für seine Überzeugung erlittenen Mißhandlungen. Von O. stammt das erste große System der christlichen Lehre. Seine Methode übernahm er von Piaton; Synthesis und Deduktion sind ihre Elemente; er wandte sie an, um seinem System die Sicherheit der Geometrie zu geben. Auch inhaltlich zeigt er sich von Piaton beeinflußt; daneben machen sich stoische, philonische, neuplatonische Denkelemente bemerkbar. Seine Lehre gründet in der Überzeugung der Vernunftgemäßheit und also Beweisbarkeit des christlichen Dogmas. Dabei betrachtet er die christliche Lehre als die Weiterführung und Vervollkommnung der heidnisch-griechischen Philosophie, die er jedoch nicht ganz in dem Maße wie Clemens von Alexandrien schätzt. Gott ist Einheit und nicht in den ersten Gott und den Weltschöpfer getrennt, wie die häretische Gnosis lehrt; von ihm stammt alles, auch die Materie und die Welt, die er aus dem Nichts erschuf. Gott ist reiner Geist, der Christus, seinen Sohn, in Ewigkeit erzeugt; der Sohn, Christus, ist Logos und dem Vater in Wesensgemeinschaft verbunden. Dennoch ist er ein anderer, der zweite Gott, aicht ganz und gar wie Gott (aòxóiko;). Die Homousie ist keine absolute. Darum nimmt der Sohn eine Mittelstellung zwischen dem Vater und der Welt ein, deren Urbild ('Iòsa ì5sò>v) er ist, so daß alle Dinge zu Abbildern des Logos, nicht unmittelbar Gottes werden. In demselben Verhältnis wie die Welt zum Sohn steht dieser zum Vater; er erkennt ihn daher nicht so vollkommen, wie Gott sich selbst erkennt. Der Heilige Geist als die dritte Emanation der Gottheit steht der geschaffenen Welt am nächsten und gehört doch zur göttlichen Trinität; er ist abhängig vom Sohn, von dem er sein Sein empfängt. Dem Heiligen Geist nachgeordnet sind die Geister, deren Entwicklungsziel es ist, zu dem Erkenntnissland des Sohnes zu gelangen; sie erreichen durch solche Gemeinschaft mit Gott selbst ihre Vergottung. In diesem Zustande der Welt würde es keine materielle Mannigfaltigkeit mehr geben.

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Ormond

Alis der Güte und der Allmacht Gottes leitet 0 , die Weltschöpfung ab, weil es Gott wesensgemäß nach Tätigkeit und nach Betätigung seiner Güte verlangte ; darum gibt es keinen Anlang der Welt in der Zeit. Trotzdem ist die Walt, in der wir leben, nicht ewig, sondern ein Glied in der Kette unendlich vieler Welten. Das Merkmal der Allmacht, das Gott zukommt, fordert die Erschaffung auch der Materie durch ihn. Die Allgegenwart Gottes in der Welt und im Menschen ist keine persönliche, sondern eine dynamische durch die in der Vorsehung wirkende Kraft. Dem Menschen verlieh Gott Willensfreiheit, und aus ihr erklärt sich die Verschiedenheit der menschlichen Seelen untereinander. Gott schuf sie alle gleich, aber durch Empörung gegen Gott wurden sie sündig und wurden deshalb von Gott in einen Körper gebannt. Die Möglichkeit zur Rückgewinnung des früheren Zustandes ist den Seelen gegeben, und wenn sich der Mensch zum Guten, d. i. zum Leben nach den göttlichen Geboten bekehrt, vermehrt sich die Kraft der Seele durch die Hilfe des Heiligen Geistes. Das Böse ist also nicht ein besonderes und selbständiges Sein, sondern eine Privation, die Einengung der göttlichen Fülle durch freien Entschluß. Gott hat das Böse nicht geschaffen, sondern läßt es nur zu. Durch die erlösende Macht des göttlichen Logos wird schließlich, am Ende alles weltlichen Seins alles zur Einheit mit Gott wieder vereinigt, das Ziel ist die Apokatastasis. Vorher und zu ihrer Vorbereitung haben die Seelen im Jenseits für ihre Taten bereits Lohn oder Strafe empfangen. Die Apokatastasis erlöst alle Geister, auch den Satan; das Böse ist damit getilgt, und Gott wird alles in allem sein. 0 . vertritt die Auffassung, daß die Heiligen Schriften ihre Entstehung einer Inspiration durch Gott verdanken und als seine Offenbarung die alleinige Quelle der Wahrheit darstellen. Durch den Heiligen Geist sind wir in den Stand gesetzt, an diesen Schriften allegorische Deutung zu üben und so in ihren geheimen Sinn einzudringen. Diese Erkenntnis nennt 0 . nicht mehr Gnosis, wie Clemens von Alexandria, sondern die göttliche Weisheit (iisrot aov; Bd. VI, 1920: Gen., Exod., Levit.; Bd. VII, 1921: Num., Jos., Jud.; Bd. VIII, 1925: Homilien zu Sam. I, zum Hohenlied u. zu d. Prophet., Komment, zum Hohenlied. — Ubers, v. J. Röhm, Advers. Celsum, 2 Bde., 1876—77; Kohlhofer; Koetschau (in Auswahl). L i t e r a t u r : E. R. Redepenning, O., Leben u. Lehre, 2 Bde., 1841—1846. — B. Poschmann, D. Sündenvergebung bei O,, 1912, Pr. — A. M. Miura-Stange, Celsus u. O., D. Gemeinsame ihrer Weltansch., 1926. — Hai Koch, Pronoia u. Paideusis. Studien über O. u. s. Verh, z. Piatonismus, übers, v. Robert Schmidt, Berlin 1932, — Aloisius Lieske, D. Theologie der Logosmystik bei O., Münster 1938. — Walther Völker, Das Vollkommenheitsideal des O., Tübingen 1931.

Ormond, Alexander Thomas, geb. 1874 in Pennsylvanien, U.S.A., gest. 1915. Philosophieprofessor in Princeton, Vertreter des amerikanischen Realismus. 0 . schließt sich an Kant und Lotze an und erstrebt Vereinigung von Pragmatismus und Rationalismus. S c h r i f t e n : Basal Concepts in Philos., N. Y. 1894. — Foundations of Knowledge, N. Y. 1900. — Concepts of Philos., 1906.

Oersted — Ortega y Gasset

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Oersted, Hans Christian, geb. 14. August 1777 in Rudkjöbing auf Langeland, gest. 9. März 1851 in Kopenhagen. Prof. der Physik in Kopenhagen. Der dänische Naturforscher Oe., der Entdecker des Elektromagnetismus, ist in seinen philosophischen Ansichten von der Schellingschen Naturphilosophie beeinflußt. Absolute Ruhe gibt es nicht, vielmehr ist alles in Bewegung und Entwicklung und wirkt. Die Gesetze, nach denen die Welt und der menschliche Geist erzeugt sind, sind die gleichen; denn „wären unsere Vemunftgesetze nicht in der Natur, würden wir vergebens streben, sie ihr aufzudringen; wären die Naturgesetze nicht in unserer Vernunft, würden wir sie nicht fassen". Die Naturgesetze, wie auch im besonderen wir als Organismen, sind Gottesgedanken, die in uns überdies noch Selbstbewußtsein besitzen; durch dieses Selbstbewußtsein erhält der Mensch die Möglichkeit der Freiheit. S c h r i f t e n : D. Geist in der Natur, Kopenhag. 1849—50, deutsch v. K. L. Kannegießer mit e. biogr. Skizze v. P. L. Möller, 1850; 6. Aufl. 1874. — Neue Beiträge zu dem Geist in der Natur, deutsch 1851. — D. Naturwissenschaft in ihrem Verhältnis zur Dichtkunst u. Religion, deutsch 1850. — D. Naturwissenschaft u. d. Geistesbildg., deutsch 1850. — Ges. Sehr., deutsch v. Kannegießer, 6 Bde., 1851—53. — Ges. naturwiss. Sehr., 1854. — Correspondance d'Oe. avec divers savants, 1920. L i t e r a t u r : Hauch und Forchhammer, H. C, Oe.s Leben 1853.

Ortega y Gasset, José, geb. 6. Mai 1883 in Madrid. 1911 Prof. in Madrid. O. y G. philosophiert aus einem eindringlichen und klaren Erleben der geistigen Gegenwart Europas heraus. Es erscheint ihm als Ruhm und vielleicht Tragik Europas, „daß es die transzendente Seite des Lebens bis zu ihrer letzten Konsequenz geführt hai" (Die Aufgabe unserer Zeit, 66). Während das 19. Jahrhundert den Menschen den verschiedensten Mächten Untertan machen wollte, besteht nach O. y G. die Aufgabe unserer Zeit darin, „die Vernunft in die Biologie einzuordnen und dem Spontanen zu unterstellen. In einigen Jahren wird es absurd erscheinen, daß man einmal vom Leben verlangte, es solle der Kultur dienen. Die Bestimmung des neuen Zeitalters ist es, das Verhalten umzukehren und zu zeigen, daß die Kultur, die Vernunft, die Kunst, die Ethik ihrerseits dem Leben dienen sollen" (172). Es ist eine eigentümlich klare, überlegene und unpathetische Intelligenz, die zur Lebensstimmung des Daseins wird, wie O. y G. es versteht. Der Glaube wird auch in seiner letzten Einkleidung aufgelöst: als Glaube an die Kultur, der „ein Christentum ohne Gott" ist (183); im Gegensatz zu allem christlichen Geist will sich O. in freimütiger Weise dazu bekennen, „daß das Leben schön ist, daß es bis zum Rand beladen ist mit köstlichen Werten, wie Ophirs Schiffe, die Perlenlast trugen". Nur Heuchelei kann es sein, die dem widersprechen zu .müssen glaubt — und „die eingewurzelte Heuchelei vor dem Leben zu besiegen, ist vielleicht die hohe Bestimmung unserer Zeit" (91). Gegenüber der Kunst in ihrer kulturellen Funktion ergibt sich aus dieser Geistigkeit nach zwei Seiten hin eine neue Haltung und Deutung. Sie wird einerseits „enthumanisiert". Der Mensch selbst ist nicht ihr letztentscheidender Gehalt, sondern die künstlerische Gestaltung selbst, und „Künstler sein, heißt, uns Menschen nicht so ernst nehmen, wie wir sind, wenn wir keine Künstler sind" (156). Auf der anderen Seite zeigt die Dichtung ihren bedeutenden Gehalt an Wahrheit, an Erkenntnis von Realitäten, und es wird offenbar, „daß auch die Dichtung in einer ihrer Dimensionen Erkenntnis ist und ebenso handfeste Tatsachen entdeckt wie die theoretische Forschung" (Buch des Betrachters, 67). Damit ist ein wesentlicher Schritt getan, um den Sentimentalismus in der Wertung der Kunst zu überwinden und eine Brücke zwischen geistigen Äußerungsformen zu schlagen, die sonst allzu oft völlig geschieden nebeneinander her-

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Ortega y Gasset

laufen. Endlich erkennt O. die große Bedeutung, die jenes geistige Hauptwerkzeug der Dichter, die Metapher, für die Philosophie hat. Die Metapher macht den philosophischen Gedanken ausdrucksfähig: im zentralen Problemkreis der abendländischen Philosophie, vor der Frage nach der Beziehung von Subjekt und Objekt, entdeckt 0 . die nicht abreißende Wirkung zweier großer Metaphern. „Wenn sich ein Subjekt eines Objekts bewußt wird, meint der antike Mensch, daß es zu ihm in eine analoge Beziehung tritt, wie sie zwischen zwei materiellen Dingen besteht, wenn sie zusammenstoßen und das eine seine Spur auf dem anderen hinterläßt. Die Metapher von dem Siegel, das seine feine Prägung in das Wachs eindrückt, nistet sich von Anfang an im hellenischen Geist ein und bestimmt viele Jahrhunderte hindurch alle Vorstellungen der Menschen" (Buch des Betrachters, 79). Grundverschieden davon ist die Denkweise der Moderne. In den Mittelpunkt tritt jetzt das Bewußtsein selbst, vor allem als schöpferische Phantasie, als produktive Einbildungskraft. „An die Stelle des Siegels und der Wachstafel tritt eine neue Metapher: das Gefäß und sein Inhalt. Die Dinge kommen dem Bewußtsein nicht von außen, sondern sind seine Inhalte; sie sind Ideen. Und die neue Lehre heißt Idealismus, im Gegensatz zum Realismus der Alten" (82). Im innersten Zusammenhang mit den Problemen der modernen Lebensphilosophie steht 0., wenn er in seiner Lehre vom Menschen unterscheidet zwischen Vitalität, Seele und Geist. Er geht davon aus, daß wir „nicht ein einziges Ding" sind, sondern daß es in unserem Innern verschiedene Zonen, Schichten, Gebiete gibt, deren Unterschied uns klar und deutlich gegeben ist, wenn wir die seelischen Erscheinungen in ihrer Reinheit zu beschreiben suchen. Die erste dieser Schichten, die abzuheben ist aus dem Ganzen, ist die der „Körperseele", jener „Teil des inneren Menschen, der seinem Wesen nach in den Körper eingebettet und mit ihm verschmolzen und vermischt ist" (Buch des Betrachters, 92). Es kennzeichnet den Mangel an Ehrlichkeit und Sauberkeit der beiden letzten idealistischen Jahrhunderte, daß sie diese Nähe zum Körperlichen zu verstecken suchten. Gleichwohl ist hier die Grundlage der Person zu finden, die eigentliche Vitalität und Lebenskraft. „Jeder Mensch ist vor allem anderen eine Lebenskraft, eine größere oder kleinere, gesunde oder kranke, überströmende oder spärliche; und von seiner vitalen Beschaffenheit hängt sein ganzer übriger Charakter ab" (96). Die Aufgabe ist bisher kaum in Angriff genommen worden, den „Binnenkörper", d. h. den menschlichen Leib, wie er sich der inneren Erfahrung von sich selbst darbietet, diese „innere Landschaft" zu beschreiben, trotzdem dieser Binnenkörper für den Aufbau unserer Person die allergrößte Wichtigkeit hat: „Unser psychisches Leben wie unsere Außenwelt sind beide bedingt durch diese Wahrnehmung des Binnenkörpers, die wir beständig mit uns herumschleppen, so daß sie gewissermaßen der Rahmen ist, in dem uns alles erscheint" (97). Und: „Eine starke Persönlichkeit, welcher Art auch immer — moralisch, wissenschaftlich, politisch, künstlerisch, erotisch — ist auf keine Weise möglich ohne einen reichlichen Vorrat an dieser in den Untergründen unseres Innern aufgehäuften vitalen Energie" (104). Im Unterschied von der Vitalsphäre bedeutet der Geist „das Persönlichste der Person" (105). Er darf nicht als eine geheimnisvolle metaphysische Realität verstanden werden, sondern soll einfach in den Phänomenen aufgewiesen werden, „die ein Jeder in seinem Inneren mit derselben Evidenz vorfinden kann, mit der er die Dinge um sich her erblickt" (a. a. O.). Charakteristisch für den Geist ist, daß er nicht in sich selbst ruht. „Er hat seine Wurzeln und Fundamente in

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jenem universalen und übersubjektiven Reich. Ein Geist, der aus sich und für sich nach seiner eigenen Weise und Neigung und Eingebung lebte, w ä r e nicht Geist, sondern Seele" (116). Die Seele ist das Zwischenreich zwischen Geist und Vitalität, in das der Geist eingebettet und das aus dem Leben genährt ist. Sie kann sich nicht völlig selbständig machen, ohne in Schuld zu verfallen: „ W e n n es den Menschen berauscht, er selbst und nur er selbst zu sein, spürt er zugleich, daß e r damit eine Sünde begeht und eine Strafe empfängt. Es ist, als habe er dies Stück Wirklichkeit, seine Seele, das er sich unwiderruflich angeeignet hat, aus dem ungeheuren öffentlichen Gut der Natur und des Geistes betrügerisch entwendet. Wie Ugolino ist er verdammt, über seiner Beute zu hocken, die er selbst ist, und ihr in Ewigkeit die Zähne ins Genick zu schlagen" (122). Den griechischen Menschen kennzeichnet es, daß er nicht die Welt der Seele kannte, sondern ganz in Vitalität und Geist lebte. So fehlt ihm auch der Sinn für die Individualität. Erst „wenn wir von Hellas kommend in das Mittelalter treten, ist uns, als ginge es in einen glühenden Ofen. Alles flirrt, wie gesehen durch erhitzte Luft; die vitale Energie wird nicht zu Licht verwandelt, das sich über die Welt ergießt, sie verdichtet sich zu W ä r m e innen in d e r Person. Der Germane lebt aus seiner Seele und seiner Sinnlichkeit. Zu Geist dringt er langsam vor; er lernt u n d erwirbt ihn. Relativ gesprochen . . . ist er ihm nicht angeboren, Er muß ihn an den Eutern Griechenlands trinken" (128 f.). Wie O. in dieser Weise die Epochen der Geschichte des Geistes deutet, so kann er auch von innen her das Gesicht der Völker erfassen. „So haben die Rassen des Nordens weniger Vitalität als die südlichen, aber mehr Geist. Der Italiener hat, verglichen mit dem Spanier, eine ausgeprägtere Körperlichkeit (Sinnlichkeit), dafür aber viel weniger Seele. Der Franzose stellt ein glückliches Gleichgewicht der drei K r ä f t e dar. (Höchstens könnte man einen leichten Mangel an Seele konstatieren.) Vielleicht scheiterte er darum im Laufe seiner Geschichte weniger oft als die anderen Nationen. Es ist ein fast vollkommen gleichseitiges Dreieck; versagt die eine Seite, so legt er sich auf andere, um von ihr zu leben" (138). „Diese A r t von einer Philosophie zu handeln, indem man nicht sie selbst betrachtet, sondern ihre Verknüpfung mit dem Menschen, der sie hervorbrachte, ist weder eine Laune noch müßige Neugier", beginnt 0 , einen Nachtrag zu einer Studie über Kant, in der er die Kantische Philosophie in seine Lebensphilosophie deutend einbezieht. „Ich glaube, daß daraus der wahrhafte Inhalt einer Geschichte der Philosophie besteht" (183). Denn „der Begriff »Geschichte« besitzt allein seinen vollen Sinn, wenn er sich auf das Ganze des menschlichen Lebens bezieht" (188). Es gelingt O. bei der inneren Weite seines Denkens und der Unvoreingenommenheit seiner Methode, die man „phänomenologisch" nennen könnte (vgl. 105), das philosophische Denken in einem lebendigen und unmittelbaren Bezug zu dem menschlichen Leben zu zeigen, und er deutet dieses Leben (bereits im J a h r e 1914 in dem Buch Meditaciones del Quijote) mit den Begriffen, die durch Heideggers Buch „Sein und Zeit" (1927) wichtig geworden sind, mit den Begriffen: Unruhe, Sorge, Unsicherheit, im Unterschied von der Kultur als Sicherheit und Sorge um Sicherheit (vgl. Anm. 1, 222). „Das Leben ist die Antwort des Menschen auf die radikale Unsicherheit, aus der es seinem Wesen nach besteht" (238 f.), und die Epoche des Bürgers, die sich eine Sicherheit als fundamental vortäuschte, die das Leben stillegt und verfälscht, ist nach der Ansicht 0 . s abgeschlossen. Ein hervorragender Ausdruck dieser Epoche ist Goethe, der sein eigenes Leben verdarb und an die Übermacht des Symbols, des Ideals verriet. Daraus entspringt die innere Krise Europas, die eine Krise

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der „Ideen" ist: „Europa muß von seinem »Idealismus« geheilt werden, wodurch allein es auch allen Materialismus, Positivismus, Utopismus überwinden kann" (247). S c h r i f t e n : Meditaciones del Quijote, 1914, — España invertebrada, 2. Aufl. 1922. — El tema de nuestro tiempo, 1923; 3. Aufl. 1934; deutsch: D. Aufgabe unserer Zeit, Zürich 1928; 2. Aufl. 1930. — La deshumanización del arte, 1925. — Ideas sobre la novela, 1925. — Espíritu de la letra, 1927. — La rebelión de las masas, 1930; deutsch: Der Aufstand der Massen, 1931. — Üb. d, Liebe, deutsch 1933. — Buch d. Betrachters, deutsch 1934. — Obras, Madrid 1932. — Stern u. Unstern, Stuttgart 1937. — D. Wesen geschichtl. Krisen, dtsch. v. F. Schalk, Stuttgart 1943. — Geschichte als System, dt. v. F. Schalk, Stuttgart 1943. L i t e r a t u r : Casa nueva Diaz, D. Bild v. Menschen bei O. y G, u. s. Bez. zur Erziehungswiss., Diss., Jena 1937. — Iriarte-Aguirra, J., La filosofía de J. O. y G., in: Razón y Fé, Bd. 122 (1941) und Bd. 123 (1941); O. y G. ante la critica nacional y extranjera, in: Razón y Fé, Bd. 125 (1942).

Oesterreich, Traugott Konstantin, geb. 15. September 1880 in Stettin. Promotion Dr. phil. 1905, Habilitation in Tübingen 1916. A. o. Prof. ebda. 1916—33. S c h r i f t e n : Kant u. d. Metaphysik, 1906. — D. Phänomenologie des Ich in ihren Grundproblemen, 1910. — D. deutsche Philos. in der 2. Hälfte d, 19. Jhdts., 1910. — Bearbeiter von: D. deutsche Philosophie d. 19. Jhdts. u. d. Gegenwart, Bd. IV v. Überwegs Gesch. d. Philos., 1915; neue Aufl. 1923. — D. religiöse Erfahrung als philos. Problem, 1915. — Einf. in die Religionsphilos., 1917. — D. Besessenheit, 1921. — D. Weltbild d. Gegenwart, 1920; 2. Aufl. 1923. — Grundbegriffe d. Parapsychol., 1921. — D. Okkultismus im modernen Weltbild, 1921, 3, Aufl. 1923. — D. philos, Bedeutung d, mediumist. Phänomene, 1924. — Die Probleme der Einheit u. die Spaltung des Ich, 1928. — Bearbeiter von Überwegs Gesch. d. Philos., Bd. V (Philos, d. Auslands), 1928. — D. philos. Strömungen d, Gegenwart, in: Kultur d, Gegenwart, Teil I, Abt. VI, Systemat. Philos., 1921; 2. Aufl. 1924.

Ostler, Heinrich, geb. 2. März 1876 in Sölhuben. Promotion Dr. phil. 1904 in München. S c h r i f t e n : D. Psychol. des Hugo v. St, Victor, 1906. — D. Realität d, Außenwelt, 1912. — Bearbeiter von: Joseph Sachs, Grundzüge d. Metaphysik i. Geiste des hl. Thomas v. Aquin; 5. Aufl. 1921; Sebastian Huber, Grundzüge d. Logik u. Noetik i. Geiste des hl. Thomas v. Aquin; 3. Aufl. 1924.

Ostwald, Wilhelm, geb. 21. August 1853 in Riga, gest. 4. April 1932 in Leipzig. Geht 1872 nach Dorpat zum Chemiestudium, wird Assistent am physikalischen, dann am chemischen Institut; 1878 Habilitierung, 1881 o. Prof. an der polytechnischen Hochschule in Riga, 1887 an der Universität Leipzig; läßt sich 1906 in den Ruhestand versetzen, um seine Forschungen raischer zu fördern. O. ist Begründer der Energetik, einer Form des Monismus, die alles Wirklich«, Körperliches und Seelisches, auf Energie zurückführt. Berechtigung und Notwendigkeit dieser Weltdeutung wird aus den Eigenschaften der Energie abgeleitet. Die verschiedenen Formen der Energie, Bewegungs-, Wärme-, elektrische und chemische Energie usw. besitzen in Beziehung auf den Energieausgleich einen verschiedenen Wert für den Menschen. Jede Energie ist umwandlungsfähig; die Eigenschaft, welche dies anzeigt, z. B. Temperatur bei der Wärme, nennt O. die Intensität der Energie. Auf die Umwandlungsfähigkeit durch Verschiedenheit der Intensität geht alles Geschehen zurück. „Alles Geschehen läßt sich in letzter Analyse als Energieumwandlung kennzeichnen. Somit kann man ein allgemeines Gesetz des Geschehens dahin aussprechen, daß es Intensitätsverschiedenheiten der vorhandenen Energien zur notwendigen und zureichenden

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Voraussetzung hat." Der Energie schreibt O. ein höheres Maß von „Wirklichkeit" zu als der Materie; er führt gegen den Materialismus Kampf und versucht durch seine Lehre zu dessen Überwindung Wesentliches beizutragen. O.s philosophische Arbeit setzt bei der Naturphilosophie ein. Er betrachtet sie als den „allgemeinsten Teil der Naturwissenschaft", mit dem Ziel einer Beherrschung der Natur durch den Menschen. Sie ist „Zusammenfassung und Vereinheitlichung unseres gesamten Wissens von der Natur" (Naturphilosophie, in: Kultur der Gegenwart I, VI, S. 171, 1908); ihr Inhalt ist folglich einer beständigen Änderung unterworfen, wie der eines jeden wissenschaftlichen Gebiets. „Den Inhalt der systematischen Naturphilosophie werden die allgemeinsten Begriffe zu bilden haben, mit deren Hilfe wir uns in der Außenwelt zurechtfinden" (S. 151). Diese Begriffe findet die Naturphilosophie schon wissenschaftlich zubereitet vor, in einer Hierarchie von Wissenschaften. Die allgemeinste unter ihnen ist die Ordnungslehre, deren Aufgaben durch Teile der Logik, Mathematik und die Lehre von Raum und Zeit erfüllt werden. „Das Binden des Gleichen oder vielmehr Ähnlichen aneinander ist der Inhalt des elementaren Begriffes der Ordnung" (Naturphilosophie I, S. 141). — „Eine Ordnung ist nur möglich, wenn jedes Ding der Menge von jedem anderen unterscheidbar ist, so daß mein es erkennen und in seinen Schicksalen verfolgen kann" (Kultur der Gegenwart I, VI, S. 154). Es folgen dann die logisch-mathematischen, die physischen und die biologischen Wissenschaften. Später bildete 0 . aus seinen Untersuchungen zur Ordnungslehre „die Pyramide der Wissenschaften mit den drei großen Abteilungen der Wissenschaften von der Ordnung, der Arbeit und dem Leben nach zunehmendem Inhalt und abnehmendem Umfang der maßgebenden Begriffe". In allen drei Gebieten hat O. selbst gearbeitet, um die durchgängige Geltung der energetischen Weltanschauung zu erweisen. Ging er doch von der Voraussetzung aus: „Ebenso wie unser ganzes Erleben in die Formen von Raum und Zeit gebracht wird, unterliegt es auch der Form der Energie" (Kultur der Gegenwart I, VI, S. 163). Auf seinem Wege glaubt O. dem endlichen Ziel der Wissenschaft näher zu kommen; sie soll den Blick in die Zukunft ermöglichen, um das menschliche Handeln zu leiten. 0 . berührt sich darin — und in anderen Punkten — mit Comte und seiner Inhaltsbestimmung der Wissenschaft: savoir pour prévoir; er hat aber Comtes Philosophie erst kennengelernt, als ihm seine eigenen Grundannahmen feststanden. Alle Hypothesenbildung muß von der Wissenschaft ferngehalten werden; sie hat „die in ihr auftretenden Mannigfaltigkeiten in solcher Weise darzustellen, daß nur die tatsächlich in den darzustellenden Erscheinungen angetroffenen und nachgewiesenen Elemente in die Darstellung aufgenommen werden, alle andern ungeprüften Elemente aber fernzuhalten. Dadurch sind alle sogenannten anschaulichen Hypothesen oder physikalischen Bilder ausgeschlossen" (Vorlesungen üb. Naturphilosophie, 2. Aufl., S. 213). 0 . ist sich also dessen nicht bewußt, daß die Rolle, die er der Energie im Weltgeschehen und seiner Deutung zuteilt, gleichfalls auf einer hypothetischen Annahme beruht. 0 . glaubt an eine feste Ordnung der Voraussetzungen und Bedingungen für das Gelingen von wissenschaftlichen Entdeckungen. Das veranlaßte ihn, Material zu sammeln „zur Naturgeschichte des wissenschaftlichen Forschers". Die Ergebnisse bestärkten ihn in seinem Grundsatz: „man muß nicht moralisch nehmen, was physiologisch ist". Denn seine Biologie des Forschers erwies ihm deutlich, daß anscheinend sprunghafte psychologische Wandlungen in den Entschlüssen häufig auf physiologische Vorbedingungen, wie Erschöpfung, zunehmendes Alter usw. zurückgehen, häufiger als der unwissenschaftliche Mensch weiß und der

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Wissenschaftler sich eingesteht. Diese Einsicht versucht O. auf praktischen Gebieten, Erziehung, Unterricht, Wissenschaitsbetrieb auszuwerten in seinem Werk „Große Männer" (1909). 0 . fühlt sich berechtigt, seine philosophische Energetik auch in das Gebiet der Lebenswissenschaften hineinzuarbeiten. Diese Berechtigung leitet er aus der Ordnungslehre her. „Hier erweisen sich die Begriffe jeder unterliegenden, allgemeineren Wissenschaft als notwendige Bestandteile der höheren. Daraus geht hervor, daß auch für die Lebenswissenschaften Physiologie, Psychologie und Soziologie der Energiebegriff notwendig ist. Er ist aber nicht zureichend, sondern diese Wissenschaften bedürfen der Ergänzung durch neue, ihrer eigenen Welt erwachsene Begriffe." Das hat der Neovitalismus erkannt, ohne nach 0.s Meinung zur Herausarbeitung solcher Begriffe fähig gewesen zu sein. Die Grundbegriffe der biologischen Wissenschaften sind Leben und Entwicklung. Das Leben ist ein „stationärer Energiestrom"; „damit ein solcher stationär bleibt, muß er mit Selbstregulierung versehen sein, d. h. er muß die Eigenschaft haben, die Bedingungen aufzusuchen oder hervorzubringen, welche diesen Zustand erhalten, und solche zu vermeiden oder aufzuheben, welche den Zustand stören" (Kultur der Gegenwart I, VI, S. 167). Im ethischen Gebiet drückt sich diese Eigenschaft als Streben nach Selbsterhaltung aus, eine Tatsache, die für die Soziologie größte Wichtigkeit gewinnt. 0 . faßt Soziologie als gleichbedeutend mit „Kulturwissenschaft" auf und widmet ihr das Buch „Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft". Er bestimmt Kulturarbeit als die Bemühung, „einerseits die Menge der verfügbaren Rohenergie tunlichst zu vermehren, anderseits das Güteverhältnis ihrer Umwandlung in Nutzenergie zu verbessern". Alle Kulturgebiete, Wirtschaft, Recht, Sittlichkeit, fordern zu ihrem Gedeihen, daß Energie, die dem Leben nutzbar sein kann, auf keine Weise vergeudet wird. Der Mensch bedient sich für kulturelle Arbeit der Energien, die aus seinem Körper stammen, vermag sich aber auch die Energien der Außenwelt dienstbar zu machen. Zusammenschluß zu gemeinsamer Arbeit auf ein gleiches Ziel hin bildet die Gesellschaft. Durch das Prinzip der Ordnung verbessert sie das Güteverhältnis bei der Umwandlung der Rohenergien für menschliche Zwecke, indem sie „Funktionsteilung" und „Funktionsvermittelung" übt. Ziel der gemeinschaftlichen Kulturarbeit ist ein harmonischer Glückszustand, der erreicht wird durch die Erfüllung des Grundgesetzes: Energieverwertung, nicht Energievergeudung. Denn Glück ist die Lustempfindung der willensgemäß sozial betätigten Energie. Diese schafft auch den sozialen Nutzen. Eine Folgerung aus dem zweiten Hauptsatz der Mechanik: „kein Vorgang läßt sich restlos umkehren, denn um die Umkehrung gegen den freiwilligen Ablauf zu erzwingen, muß man anderweit umwandlungsfähige Energie vernutzen und somit entwerten", führt O. auf das Wertproblem, das er in der „Philosophie der Werte" (1913) behandelt. „Wäre jeder Vorgang ohne weiteres umkehrbar, so würde alle Wertung fortfallen, da man jedem unerwünschten Zustand durch Umkehrung entgehen könnte. Tatsächlich aber muß die Umkehrung mit freier Energie bezahlt werden." „Alles Leben erweist sich als ein Wettbewerb um die freie Energie, deren zugängliche Menge beschränkt ist." Wie das Werten, so sind auch Wollen und Wählen einbezogen in den Bereich des energetischen Geschehens, das also materielle und geistige Gebiete gleichzeitig umspannt. Die ordnungs- und lebenswissenschaftlichen Arbeiten 0 . s gehen eine Verbindung mit seinen physikalisch-chemischen Forschungen ein in den Untersuchungen zur Farbenlehre, die neben ihrer praktischen Bedeutung der Ästhetik förderlich wurden. Der Anstoß dazu kam von außen: die „Brücke", eine Anstalt

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zur Organisierung der geistigen Arbeit, nahm die Systematik aller Farben in ihr Programm auf, an dessen Durchführung 0 . mittätig war. Als sie 1914 ihre Unternehmungen aufgab, verpflichtete 0 . sich für den Werkbund zur „Beschaffung einer wissenschaftlich begründeten und praktisch brauchbaren Farbordnung". Er griff auf die Farbenpyramide von Johann Lambert (Ende des 18. Jhdts.) und auf die Farbkugel von Runge (Anfang des 19. Jhdts.) zurück, ebenso auf Ewald Herings Lehre vom Lichtsinn. Durch Anwendung des „Prinzips der Symmetrie" gelang ihm eine Ordnung des Farbtonkreises und die eines hundertteiligen Farbkreises auf experimentellem Wege. Er gewann weiter die Möglichkeit, für jede Farbe eine Kennzahl aufzustellen, die sich aus der Nummer des Farbtons im hundertteiligen Kreise und aus ihrem Gehalt an Weiß und an Schwarz ergibt. O. ist der Überzeugung: „Damit ist für die Farbe im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts das geleistet, was Pythagoras zweieinhalb Jahrtausende früher für die Töne geleistet hatte". Mit dieser ihrer Messung und Bezeichnung ist „eine Kultur der Farbe" möglich geworden, ein höchst bedeutungsvolles Ergebnis, da die Farbe ein Hauptelement menschlichen Erlebens ist. Erklärt doch O.: „die Erlebnisse des Auges sind unvergleichlich viel bedeutsamer als die des Ohrs; denn die Grenzen unserer Welt liegen nicht dort, woher keine Töne mehr zu uns dringen können, sondern dort, woher kein Licht mehr zu uns gelangt." O. kam schließlich zur Konstruktion eines „logarithmischen Farbkörpers" an Stelle des bisherigen analytischen, in den er in seinem „Farbatlas" (1917 f.) 2500 Farben einordnete. Dies führte weiter zu einer Normung der Farbe und zu einer Lehre von der Farbharmonie und ihrer ästhetischen Auswertung. Denn durch eignes Zeichnen und Malen hatte O. von Jugend an auch die künstlerische Geltung der Farbe studiert. Er hält die bisherigen Theorien einer Harmonie der Farben für fehlerhaft, weil sie eine falsche Analogie zur Welt der Töne herstellen und nicht berücksichtigen, „daß die Gruppe der Töne einfaltig, die der Farben aber dreifaltig ist" (Farbtöne, Weißgehalte, Schwarzgehalte). Harmonie ist nach O. nichts als Gesetzlichkeit; Maß und Ordnung führen zu ihrer Ergründung. Diese Identifikation von Harmonie und Gesetzlichkeit gilt auch für die Welt der Formen, nicht nur für Farben; Gesetzlichkeit ist hier gleich Wiederholung. Aus jedem beliebigen Formelement sind durch die drei Grundoperationen der Schiebung, Drehung und Spiegelung gesetzliche Gebilde abzuleiten. Auch dies nach O. ein Ergebnis der Ordnungswissenschaft von weittragender ästhetischer Bedeutung. „Die vereinigte Phantasie der Schmuckkünstler aller Zeiten und Völker hat nicht entfernt ausgereicht, um das zu finden, was die erste ordnungswissenschaftliche Bearbeitung des Problems dem Forscher alsbald geschenkt hat." Sein Werk „Die Harmonie der Farben" von 1918 ergänzte O. nun durch „Die Harmonie der Formen" (1922) und durch seinen Atlas „Die Welt der Formen". O. hat von Mach, dem er sein Hauptwerk widmete, mannigfache Anregung empfangen. Doch ist er in der eigenartigen Prägung seiner Lehre im wesentlichen selbständig. Energie und Ordnung sind die beiden Pole, um die sein Denken kreist; die Gegenstände, an denen er es betätigt, werden ihm durch die Vielseitigkeit seiner Interessen und die Fülle seiner Anlagen zugetragen. Er repräsentiert die nicht häufige Verbindung von künstlerischem Einschlag und Neigung zu exakter Kleinarbeit in experimenteller Forschung. Auf Veranlassung Ernst Haeokels übernahm O. um 1912 die Führung des Deutschen Monistenbundes, mit der Absicht, dessen Bestrebungen „in dem Sinne einer wissenschaftlichen Lebensanschauung und Lebensgestaltung, ohne Festlegung auf irgendwelche, der fortschrittlichen Umgestaltung unterworfene Einzel16 Philoiophen-Lexikon

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Oswald — ö t t i n g e n

ansichtcn zusammenzufassen". Er gab von 1912 an das Organ des Bundes heraus, „Das monistische Jahrhundert", dem er seine monistischen Sonntagspredigten beifügte. Sie gewannen der monistischen Weltdeutung eine Zeitlang Anhängerschaft. — 0 . war von 1901 an auch Herausgeber der „Annalen der Naturphilosophie", die während des ersten Weltkrieges ihr Erscheinen einstellten. Um die Philosophiegeschichte hat 0 . sich verdient gemacht durch Schaffung eines Quellenwerkes, der „Klassiker der exakten Wissenschaften" (von 1889 an), in dem wertvolle Werke von naturwissenschaftlich gerichteten Philosophen zur Ersterscheinung oder zum Wiederabdruck kamen. S c h r i f t e n : Die Energie u. ihre Wandlungen, 1888. — Die Überwindung d. wissenschaftl. Materialismus, 1895. — Vorlesungen üb. Naturphilos., 1902. — Abhandlungen u. Vorträge, 1904. — Naturphilos., in: Kultur d. Gegenwart I, VI, 1908. — Die Energien, 1908. — Grundriß d. Naturphilos., 1908. — Energet. Grundlagen d. Kulturwissenschaft, 1909. — Große Männer, 1909. — Die F o r d e r u n g d. Tages, 1910. — Der energet. Imperativ, 1912. — Die Philos, d e r W e r t e , 1913. — M o d e r n e Naturphilos., I. Ordnungswissenschaften, 1914. — Die Farbenfibel, 1907. — Der Farbenatlas, 1917. — Der F a r b k ö r p e r u. s. A n wendung zur Herstellung farbiger Harmonien, 1919. — Die F a r b e n l e h r e , 1919 ff. — Die Harmonien d e r F a r b e n , 1918. — Die Harmonien der Formen, 1922. — Die Welt der Formen, Atlas, ab 1922. — Selbstbiogr., 1923, in: Philos, d. Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. IV. — Hrsgbr.: Klassiker d. e x a k t e n Wissenschaften, 1889 ff. — Annalen d. Naturphilos., Bd. I, 1901 usf. — Das monist. Jhdt., 1912 ff. — Die F a r b e , Sammelschrift f. alle Zweige d e r F a r b k u n d e , 1921 ff. L i t e r a t u r : A. Dochmann, W . O.s Energetik, Diss., Bern 1908. — W . Ostwald, Festschr. z. 60. Geb.tag, 1913. — W . Burkamp, D. Entw. des Substanzbegriffs bei O., 1913. — V. Delbos, Une théorie allemande de la culture, W. O. et sa philos., Paris 1916. — Schriftenverz. z. F a r b e n l e h r e , herausg. v. W. O.-Archiv, Großbothen 1936.

Oswald, James, gest. 1793, Anhänger der „Schottischen Schule" (vgl. Th. Reid) und ihrer Common-Sense-Lehre, die er besonders auf dem Gebiete der Theologie vertrat. S c h r i f t e n : An A p p e a l in common sense in behalf of religion, 1766—1772; dtsch. 1774.

Oetinger, Friedrich Christoph, geb. 6. Mai 1702 in Göppingen, gest. 10. Febr. 1782 in Murrhardt. Protestantischer Theosoph und Mystiker, stark beeinflußt von Jakob Böhme. S c h r i f t e n : D. Philos, der Alten, 1762. — Metaphysik in Konnexion m. d. Chemie, 1771. — G e d a n k e n v. d. Fähigkeiten zu empfinden u. zu erkennen. 1775. — Selbstbiogr., hrsg. v. Hamberger, 1845. — Schriften, hrsg. v. Ehmann, 6 Bde., 1858—66. L i t e r a t u r : K. A. Auberlen, D. Theosophie Oe.s, 1847; 2. Aufl. 1859. — Ehmann, Oe.s L e b e n u. Briefe, 1859. — W ä c h t e r , Oskar, Bengel u. Oe. Leben u. A u s s p r ä c h e zweier altwürttemberg. Theologen, 1886. — Herzog, J o h a n n e s , F. Chr. Oe., E. Lebensu. Charakterbild, 1902 u. 1935; A r t . Oe. in: Realenzykl. f. prot. Theol. u. K., 3. Aufl., Bd. 14, 1904, S, 332—339. — Wilhelm-Albert Hauck, F. C. Ooe.s Naturphilosophie, Heidelberg 1943.

Otloh von St. Emmeran, lebte etwa von 1010—1070. Mönch und Scholastikus des Klosters St. Emmeran in Regensburg. O. gelangte infolge seiner Skepsis zur Ablehnung aller Wissenschaft; ihre Kenntnis und Bearbeitung galt ihm als unerlaubt für Mönche. Vor allem verwarf er die Dialektik, ohne sie freilich entbehren zu können. öttingen, Alexander von, geb. 12./24. Dezember 1827 in Wissust bei Dorpat, gest. 8. August 1905 in Dorpat. Studium in Dorpat, Erlangen, Bonn und Berlin. 1854 Habilitation in Dorpat, dort 1856 a. o. und im selben Jahr o. Prof. der

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Otto von Freising — Otto, Rudolf

systematischen Theologie. Lehrer von Adolf von Harnack. — Ö. stellte eine Moralstatistik auf, die er für ethisch bedeutsam hielt. S c h r i f t e n : D. Moralstatistik u. d. christl. Sittenlehre, 2 Bde., 1868—74; Tl. I in з. Aufl. u. d. Titel: D. Moralstatistik in ihrer Bedeutung f. e. Sozialethik, 1882. — Wahre и. falsche Autorität, 1878. — Goethes Faust, 2 Bde., 1880. — Zur Gesch. d. Jenseits, 1889.

Otto von Freising, geb. um 1114, gest. 22. September 1158 in Morimund. 1137 Bischof von Freising. Historiker und Geschichtsphilosoph, Oheim Friedrich Barbarossas, entscheidend beeinflußt von Gilbert de la Porrée. 0 . war der erste oder einer der ersten, welche die Lógica nova des Aristoteles, das heißt die beiden Analytiken, die Topik und die Elenchi sophistici, an Deutschland vermittelt haben; besonders an der Freisinger Schule brachte er das Studium der aristotelischen W e r k e stark in Aufnahme. Die Weltgeschichte ist nach 0 . eine Auseinandersetzung der Civitas Dei und der Civitas Diaboli im Sinne Augustins. S c h r i f t e n : De duabus civitatibus, hrsg. v. R. Wilmans, in: Monumenta Germaniae Histórica, Scriptores, Bd. 20, 1912. — Gesta Friderici I. imperatoris, hrsg. v. G. Waitz, 1884; deutsch v. H. Kohl, 1883; 2. Aufl. 1894; hg. von B. Simson, 1912. L i t e r a t u r : J . Hashagen, O. v. F . als Gesch.philosoph u. Kirchenpolitiker, 1900. — J . Schmidlin, Die gesch.-philos. u. kirchenpolit. Weltanschauung O.s v. F., 1906.

Otto, Ernst, geb. 5. Februar 1877 in Brandenburg (Havel). 1922 Honorar-Prof. in Marburg/Lahn, 1925 o. Prof. Deutsche Universität Prag bis 1944. — Pädagoge und Sprachphilosoph. Zur philosophischen Begründung der Pädagogik greift 0 . auf die zeitlos gültigen Kategorien der geistigen Welt zurück, denn Philosophie gilt ihm zuletzt als Kategorienlehre. In seiner Rangordnung der Wertrichtungen unterscheidet er nach Maßgabe der „Umfassenheit" drei Stufen: Mensch und sachlicher Gegenstand, Mensch und Mitmensch, Mensch und Gott, und untersucht diese Beziehungen. Besondere Bedeutung schreibt 0 . der Erkenntnis der geistigen Richtkräfte zu. Der Positivismus hat wesentlich die ökonomischen Bedingungen gesehen, der einseitige Idealismus die treibenden Mächte; ein lebensnaher Realismus hat beide Faktoren angemessen gegeneinander abzuwägen. — Die neuere Sprachwissenschaft weist mit ihrer Klarstellung der bisher verkannten „Wortarten": Substantiv, Adjektiv, Relationswort (d. h. Präposition — Konjunktion) und Verb auf die Kategorien Substanz, Eigenschaft, Relation und Vorgang innerhalb der gegenständlichen Schicht hin. S c h r i f t e n : Die Struktur der geistigen Welt, in: Kantstudien, Bd. 34, H. 1/2, 1929. — Allgemeine Erziehungslehre, 1928. — Allg. Unterrichtslehre, 1933. — Wert u. Wirklichkeit, 1940. — Sprache u. Sprachbetrachtung, Allg. Satzlehre unter Berücksichtigung der Wortart, in: Abh. der Deutschen Ak. der Wiss. in Prag, 1944. — Sprachwissenschaft u. Philosophie, 1949.

Otto, Rudolf, geb. 25. September 1869 in Peine, gest. 6. März 1937 in Marburg. D. theol., Dr. phil., Habilitation in Göttingen 1897, a. o. Prof. ebda. 1907. 0 . Professor für systematische Theologie in Breslau 1915, in Marburg 1917 bis 1929. — O. erforscht das Wesen des Religiösen mit der Methode der Phänomenologie. Sc h r i f t e n : Die Anschauung v. hl. Geiste b. Luther, 1898. — Leben u. Wirken Jesu, 1902; 4. Aufl. 1905. — Naturalist, u. religiöse Weltansicht, 1904: 3. Aufl. 1928. — Religionsphilos., 1909; 2. Aufl. 1921. — Das Heilige, 1917; 22. Aufl. 1933. — Sensus numinis, 1924; 3. Aufl. 1929. — Chorgebete, 1924. — Z. Erneuerung d. Gottesdienstes, 1925. — Westöstl. Mystik, 1926; 2. Aufl. 1928. — D. J a h r d. Kirche, 1927. — Sinn u. Aufg. moderner Universität, 1927. — Indiens Gnadenreligion u. das Christentum, 1930. — Rabindranath Tagores Bekenntnis, 1931. — D. Gefühl d. Überweltlichen, 1931. — Sünde u. Urschuld, 1932. — Gottheit u. Gottheiten der Arier, 1932. — Reich Gottes u. Menschensohn, 1934; 2. A. 1940. — Die Urgestalt der Bhagavad-Gitä, 1934. — Freiheit u. NotIi*

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Overbeck — Pabst

wendigkeit, Tübingen 1940. — Hrsgbr. v. Schleiermachers Reden üb. d. Religion, 1899; 5. Aufl. 1926; Apelt, Metaphysik, 1910; Schmid, Wesen d. Philos., 1911; Kants Grundlegung z. Metaphysik d. Sitten, 1930. L i t e r a t u r : Heim, in: Zeitschr. f. Theol. u. K., 1920. — R. O., Festgruß zum 60. Geb., hrsg. v, Heinrich Frick, 1931. — Siegfried, Theodor, Grundfragen d. Theologie bei R. O., 1931; in: Marburger theolog. Studien, 7. — Grabert, Herbert, Religiöse Verständigung, 1932. — Fr. K. Feigel, „Das Heilige", krit. Abh. über R. O.s gleichn. Buch, Haarlem 1929. — Erich Gaede, D. Lehre v. d. Heiligen u, d. Divination bei R. O., Oschersleben 1932. — Wilhelm Haubold, D. Bed. d. Religionsgesch. f. d. Theol. R. O.s, Leipzig 1940. — Karl Küßner, Verantwortliche Lebensgestaltung, Stuttgart 1941. — R.-O.-Ehrung, hrsg. v. Heinrich Frick, Berlin 1940. — P. Seifert, Die Religionsphilos. R. O.s, Diss., Bonn 1936. Overbeck, Franz Camille, geb. 16. November 1837 in Petersburg, gest. 26. Juni 1905 in Basel. Protestantischer Theolog. 1864 Privatdoz. in Jena, 1870—97 Prof. der Theologie in Basel. Kritiker der Theologie. Freund Friedrich Nietzsches. S c h r i f t e n : Üb. Entstehung u. Recht einer rein histor. Betrachtung d. neutestamentl. Schriften in der Theol., 1871; 2. Aufl. 1874. — Üb. d. Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 1873; 2. Aufl. 1903. — Z. Gesch. des Kanons, 1880. — Aus d. Nachlaß hrsg. v. C. A. Bernoulli: D. Johannesevangelium, 1911. — Nietzsches Briefwechsel mit 0.,hrsg. v. R. Oehler u. C. A. Bernoulli, 1916. — Vorgesch. u. Jugend d. mittelalterl. Scholastik, 1917. — Christentum u. Kultur, hrsg. v. C. A. Bernoulli, 1919, — Selbstbekenntnisse, hrsg. v. E. Vischer, 1941. L i t e r a t u r : C. A. Bernoulli, F. O. u. Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, 2 Bde., 1908. — Nigg, Walter, Fr. O., 1931. — Hans Schindler, Barth u. O., Gotha 1936. Ovid, Publius Ovidius, mit d e m Beinamen Naso, geb. 20. März 43 v. Chr. in Sulmo, gest. 17 n. Chr. in Tomi am Schwarzen Meer. — Der Dichter O. stützt sich in seinein W e r k e n besonders auf die Lehre d e s Mittelstoikers Poseidonios, unter starker Betonung der bei diesem nachwirkenden pythagoreischen A n schauungen; d a n e b e n machen sich epikureische und stoische Elemente bemerkbar. S c h r i f t e n : Gesamtausg. v. Merkel, Ehwald u. Levy, 3 Bde., neue Ausg. 1915 bis 1932; deutsch: hrsg. v. Pfitz, 19 Bde., 1833—1874; hrsg. v. Suchier, 3 Bde., 1858—1876. L i t e r a t u r : A. Schmekel, D. Philos. d. mittl. Stoa, 1892, 288, 4; 451 f. — Pansa, Giovanni, O. nel medioevo, 1924. — H. Frankel, O., a Poet between Two Worlds, Berkeley 1945. Owen, Robert, geb. 14. Mai 1771 in N e w t o w n (Nordwales), gest. 17. November 1858 ebda. Englischer Sozialethiker. S c h r i f t e n : A new view of society, 1812 f., 2. A. 1816; deutsch v. Collmann, 1900. — Outlines of the rational system of society, 1839. — The book of the new moral world, 1820, 1836; deutsch 1840. — A new view of society and other writings, hrsg. v. G. D. H. Cole, Lond. 1927 (mit Bibliographie). L i t e r a t u r : Röhl, Adolph, D. Beziehungen zw. Wirtschaft u. Erziehung im Sozialismus R. O.s, 1930. — Cole, G. D. H., The Life of R. O., 2. Aufl. London 1930. — Erich Küspert, New Harmony, Nürnberg 1937. — Helene Simon, R. 0., 1919; 2. Aufl. 1925. — Richard Robert Wagner, R. O,, Lebensroman eines Menschengläubigen, Zürich 1942. — W. Ziegenfuß, Die Genossenschaften, 1948.

P. Pabst, Johann Heinrich, geb. 1785 zu Linda, gest. 1838 in Wien. A l s Dr. med. österreichischer Militärarzt, später Privatlehrer und Schriftsteller. — P. ist A n hänger Anton Günthers; gemeinsam mit diesem gibt er 1834 die „Janusköpfe" heraus. S c h r i f t e n : D. Mensch u. s. Gesch., 1830. — Gibt es e. Philos. d. Christentums? 1832.

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Overbeck — Pabst

wendigkeit, Tübingen 1940. — Hrsgbr. v. Schleiermachers Reden üb. d. Religion, 1899; 5. Aufl. 1926; Apelt, Metaphysik, 1910; Schmid, Wesen d. Philos., 1911; Kants Grundlegung z. Metaphysik d. Sitten, 1930. L i t e r a t u r : Heim, in: Zeitschr. f. Theol. u. K., 1920. — R. O., Festgruß zum 60. Geb., hrsg. v, Heinrich Frick, 1931. — Siegfried, Theodor, Grundfragen d. Theologie bei R. O., 1931; in: Marburger theolog. Studien, 7. — Grabert, Herbert, Religiöse Verständigung, 1932. — Fr. K. Feigel, „Das Heilige", krit. Abh. über R. O.s gleichn. Buch, Haarlem 1929. — Erich Gaede, D. Lehre v. d. Heiligen u, d. Divination bei R. O., Oschersleben 1932. — Wilhelm Haubold, D. Bed. d. Religionsgesch. f. d. Theol. R. O.s, Leipzig 1940. — Karl Küßner, Verantwortliche Lebensgestaltung, Stuttgart 1941. — R.-O.-Ehrung, hrsg. v. Heinrich Frick, Berlin 1940. — P. Seifert, Die Religionsphilos. R. O.s, Diss., Bonn 1936. Overbeck, Franz Camille, geb. 16. November 1837 in Petersburg, gest. 26. Juni 1905 in Basel. Protestantischer Theolog. 1864 Privatdoz. in Jena, 1870—97 Prof. der Theologie in Basel. Kritiker der Theologie. Freund Friedrich Nietzsches. S c h r i f t e n : Üb. Entstehung u. Recht einer rein histor. Betrachtung d. neutestamentl. Schriften in der Theol., 1871; 2. Aufl. 1874. — Üb. d. Christlichkeit unserer heutigen Theologie, 1873; 2. Aufl. 1903. — Z. Gesch. des Kanons, 1880. — Aus d. Nachlaß hrsg. v. C. A. Bernoulli: D. Johannesevangelium, 1911. — Nietzsches Briefwechsel mit 0.,hrsg. v. R. Oehler u. C. A. Bernoulli, 1916. — Vorgesch. u. Jugend d. mittelalterl. Scholastik, 1917. — Christentum u. Kultur, hrsg. v. C. A. Bernoulli, 1919, — Selbstbekenntnisse, hrsg. v. E. Vischer, 1941. L i t e r a t u r : C. A. Bernoulli, F. O. u. Friedrich Nietzsche. Eine Freundschaft, 2 Bde., 1908. — Nigg, Walter, Fr. O., 1931. — Hans Schindler, Barth u. O., Gotha 1936. Ovid, Publius Ovidius, mit d e m Beinamen Naso, geb. 20. März 43 v. Chr. in Sulmo, gest. 17 n. Chr. in Tomi am Schwarzen Meer. — Der Dichter O. stützt sich in seinein W e r k e n besonders auf die Lehre d e s Mittelstoikers Poseidonios, unter starker Betonung der bei diesem nachwirkenden pythagoreischen A n schauungen; d a n e b e n machen sich epikureische und stoische Elemente bemerkbar. S c h r i f t e n : Gesamtausg. v. Merkel, Ehwald u. Levy, 3 Bde., neue Ausg. 1915 bis 1932; deutsch: hrsg. v. Pfitz, 19 Bde., 1833—1874; hrsg. v. Suchier, 3 Bde., 1858—1876. L i t e r a t u r : A. Schmekel, D. Philos. d. mittl. Stoa, 1892, 288, 4; 451 f. — Pansa, Giovanni, O. nel medioevo, 1924. — H. Frankel, O., a Poet between Two Worlds, Berkeley 1945. Owen, Robert, geb. 14. Mai 1771 in N e w t o w n (Nordwales), gest. 17. November 1858 ebda. Englischer Sozialethiker. S c h r i f t e n : A new view of society, 1812 f., 2. A. 1816; deutsch v. Collmann, 1900. — Outlines of the rational system of society, 1839. — The book of the new moral world, 1820, 1836; deutsch 1840. — A new view of society and other writings, hrsg. v. G. D. H. Cole, Lond. 1927 (mit Bibliographie). L i t e r a t u r : Röhl, Adolph, D. Beziehungen zw. Wirtschaft u. Erziehung im Sozialismus R. O.s, 1930. — Cole, G. D. H., The Life of R. O., 2. Aufl. London 1930. — Erich Küspert, New Harmony, Nürnberg 1937. — Helene Simon, R. 0., 1919; 2. Aufl. 1925. — Richard Robert Wagner, R. O,, Lebensroman eines Menschengläubigen, Zürich 1942. — W. Ziegenfuß, Die Genossenschaften, 1948.

P. Pabst, Johann Heinrich, geb. 1785 zu Linda, gest. 1838 in Wien. A l s Dr. med. österreichischer Militärarzt, später Privatlehrer und Schriftsteller. — P. ist A n hänger Anton Günthers; gemeinsam mit diesem gibt er 1834 die „Janusköpfe" heraus. S c h r i f t e n : D. Mensch u. s. Gesch., 1830. — Gibt es e. Philos. d. Christentums? 1832.

Palägyi — Panaitios

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PaMgyi, Melchior, geb. 26. Dezember 1859 in Paks, gest. 14. Juli 1924 in Darmstadt. Professor in Klausenburg. — Der ungarische Philosoph P. vertritt als Gegner der dualistischen Systeme eine monistische Erkenntnistheorie. Als philosophische Grundwissenschaft gilt ihm die Logik, die „durch die Untersuchung der Erkenntnistätigkeit selbst unser Wissen von der Wahrheit zu befördern" hat. Als Erkenntnistheoretiker erforscht P. das menschliche Bewußtsein. Er gelangt dabei zur Unterscheidung von physischen Vorgängen, vitalen Vorgängen und geistigen Akten. Während vitale Vorgänge stetig sind, ist das Bewußtsein in den geistigen Akten „intermittent", d. h. es kann im Augenblick nur eine begrenzte Zahl geistiger Akte ausführen. Das Geschehen ist kontinuierlich, das Bewußtsein diskontinuierlich. Daraus folgt, daß das Weltgeschehen von unserm Bewußtsein nur lückenhaft erfaßt werden kann. Diese Tatsache gibt die Grundlage für P.s Naturphilosophie her, die eine neue Lehre von Raum und Zeit entwickelt. Geistige Akte sind außerräumlich und außerzeitlich. S c h r i f t e n : Neue Theorie d. Raumes u. d. Zeit, 1901, — Kant u. Bolzano, 1902. — D. Streit d. Psychologisten u. Formalisten in der modernen Logik, 1902. — D. Logik auf d. Scheidewege, 1903. — Grundlegung d. Erkenntnislehre (ungarisch), 1904. — Naturphilos. Vorl. üb. d. Grundprobleme d. Beweg, u. des Lebens, 1907. — Theorie d. Phantasie, 1908. — D. Relativitätstheorie in der modernen Physik, 1914. — Ausgewählte Werke, 3 Bde., 1924/25. L i t e r a t u r : Uphues, Gosevin, Zur Krisis in der Logik. E. Auseinandersetzung mit M. P., 1903. — Wurmb, Albert, Darst. u. Kritik d. log. Grundbegriffe d. Naturphilos. M. P.s (Raum u. Zeit, Materie u. Äther), Diss., Leipzig 1931. — Schmarsow, August, M. P.s Lehre v. der.Phantasie, in: Zeitschr. f. Ästhetik, Bd. 29 (1935), S. 327 ff. — Ludw. Wilh. Schneider. D. erste Periode im philos. Schaffen M. P.s, Würzburg 1942.

Paley, William, 1743 bis 1805. Prof, der Theologie in Cambridge. Als Theologe und Ethiker faßt P. den Utilitarismus zusammen. Er lehnt die Lehre, nach der es einen moralischen Sinn gibt, ab und verlegt die Verbindlichkeit des Moralgebotes in eine höhere Autorität, letztlich in Gott. Die dem Willen Gottes gemäße Handlung bringt Lust, die entgegengesetzte Schmerz mit sich. In der allgemeinen Glückseligkeit liegt der Zweck des Handelns. Lust und Unlust sowie die eudämonistische Zweckmäßigkeit sind die Kriterien des Sittlichen. S c h r i f t e n : Principles of Moral and Political Philos., Lond. 1785; deutsch v. Garve, 1788. — Horae Paulinae, Lond. 1790. — The Evidences of Christianity, 2 Bde., Lond. 1794. — Natural Theology, Lond. 1802. — Works, hrsg. v. Edmund Paley, Lond. 1825. L i t e r a t u r : G. W. Meadley, Memoirs of W. P., Lond. 1809. — Birks, Modern Utilitarianism, Lond. 1874, S. 1—106.

Pamphilus von Caesarea, lebte in der 2. Hälfte des 3. Jahrh. n. Chr. P. gründete eine theologische Schule in Caesarea. Er schrieb eine Apologie für Origenes. Panaitios von Rhodos, lebte von 185 bis 110 oder 109 v. Chr. — P. war nach Antipatros aus Tarsos seit 129 v. Chr. Scholarch der Stoa, die durch ihn in eine neue Phase, die sog. mittlere Stoa, überführt wurde. Er war vor allem der Schüler des Diogenes von Seleukeia. P. gibt die ethische Strenge der alten Stoa teilweise auf, indem er für die Weisen allein das Ziel der vollendeten Vernunft aufstellt, sonst aber ein naturgemäßes Leben der Menschen zuläßt, das zur Vollendung ihrer individuellen Anlagen führt. Gleichzeitig wächst für P. der Wert der äußeren Güter und der Wert der Lust. Er kann daher am altstoischen Ideal der Apathie nicht mehr festhalten. Im Weg zur Vollendung sieht P. das Wesen der Weisheit. Er gibt die Lehre von der Weltverbrennung auf und bestreitet die Unsterblichkeit der Seele. Die Mantik lehnt er schroff ab. Nach

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Pannwitz — Papini

platonisch-aristotelischem Vorbild unterscheidet er mehrere Seelenvermögen bzw. -teile, unter diesen das Triebhafte und das Vernünftige. Im Politischen vertritt er wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen die platonisch-aristotelische Lehre, die in einer Mischung der drei Grundverfassungen: Monarchie, Aristokratie und Demokratie das Ideal der Staatsverfassung erblickt. Seine Abhängigkeit von Piaton, Aristoteles, Xenokrates, Theophrast und Dikaiarchos bestätigt P. selbst. Das aktuelle Leben Roms beeinflußt er so sehr, daß der Stoizismus es ihm zu verdanken hat, wenn er im Leben und Denken der Römer tiefere Wurzeln schlug. Besonders wichtig wurde sein Begriff der Humanitas. Von P. stammt wahrscheinlich auch die Dreiteilung der Theologie in poetische, theoretische und praktisch-politische, die wohl von ihm der Jurist und Pontifex Maximus Q. Mucius Scaevola und M. Terentius Varrò (s. d.} übernahmen; zum mindestens hat er sich um die Theologie, die er nach dieser Dreiteilung behandelt, wissenschaftlich bemüht. — Schüler des P. ist Cicero, dessen Schriften, vor allem De officiis deorum, als Hauptquelle für die Kenntnis der Philosophie P.s dienen müssen, da seine Werke verloren sind. S c h r i f t e n : Panaetii et Hecatonis librorum fragmenta, hrsg. von Fowler, Bonn 1885. L i t e r a t u r : A. Schmekel, D. Philos. d. mittl. Stoa, 1892, S. 8 f. — Philodemos, Papiro Ercolanese inedito pubi, da D. Comparetti, Torino 1875. — W . Croenert, Sitz.Ber. der Beri. A k a d . 1904, 471 ff. — Z. Zichorius, Rhein. Mus. 63 (1908), 194 ff. — J . Heinemann, D. Lebensanschg. d. P. in: Poseidonius' metaphys. Sehr. I, 26 ff. — Tatakis, Basile N., Panétius de Rhodes. L e fondateur du moyen stoicisme. Sa vie et son oeuvre, Paris 1931. — G. Ibscher, D. Begriff des Sittlichen in d. Pflichtenlehre des P., Diss., München 1934. — Labowsky, Lotte, D. Ethik des P., 1935. — Schindler, Karl, D. stoische L e h r e v. d. Seelenteilen u. Seelenvermögen, insbes. bei P. u. Poseidonios, Diss,, München 1935.

Pannwitz, Rudolf, geb. 27. Mai 1881 in Crossen a. O. Kulturkritiker und Dichter. P. will in starker innerer Bindung an Nietzsche eine neue Kultur heraufführen. S c h r i f t e n : Psyche, 1905. — D. Volksschullehrer u. d. deutsche Sprache, 1907. — D. Volksschullehrer u. d. deutsche Kultur, 1909. — D. Erziehung, 1909. — Das W e r k der deutschen Erzieher, 1909. — Zur F o r m e n k u n d e d. Kirche, 1912. — Dionysische Tragödien, 1913. — D. Krisis d. europ, Kultur, 1917. — Deutschland u. Europa, 1918. — D. deutsche Lehre, 1919. — D. Geist d. Tschechen, 1919. — Mythen, 1919—21. — Einf. in Nietzsche, 1920— Staatslehre I, 1926. — Kosmos atheos, 1926. — D. n e u e Leben, 1927. — Kulturpädag. Einf. in mein W e r k , 1928. — Selbstdarstellung in: Pädagogik d. Gegenwart, hrsg. v. E. Hahn, 1927. — Logos, Eidos, Bios, 1930. — D. Ursprung u. d. W e s e n d. Geschlechter, München 1936. — Lebenshilfe (Auszug a. d. Werk), 1938. — Grundriß einer Geschichte meiner Kultur. — Aufruf an Einen. L i t e r a t u r : Wegwitz, Paul, Einf. in das W e r k v. R. P„ 1927. — R. P. 50 J a h r e . Festschr., 1931. — Erwin J ä c k l e , R. P., E. Darst. s. Weltbildes. Mit e. Bibliogr. v. K. A. Bohalek, Hamburg 1937. — Beatrix Geyer, Paulsen u. P., Diss., Wien 1943.

Papini, Giovanni, geb. 9. Januar 1881 in Florenz. Katholischer Schriftsteller, der nach anfänglich scharfer Kritik am Christentum sich später mit seiner Schrift Storia di Christo entschieden zum Christentum bekennt. S c h r i f t e n : Il crespusculo dei filosofi, 1906. — L'alta metà, 1911, — Le memorie d'Iddio, 1911. — Un uomo finito, 1912; deutsch: E. fertiger Mensch (Selbstbiogr.), ü b e r t r . v. Max Schwarz, 1925. — Ventiquattro cervelli, 1913; deutsch 1925. — Pragmatismo, 1913. — Buffonate, 1914. — Maschilità, 1915. — Stroncature, 1916. — L'uomo Carducci, 1918. — Testimonianze, 1918, — L'esperienza futurista, 1919. — Storia di Christo, 1921; deutsch 1924. — Pane e vino, 1926. — Gli operai della vigna, 1927. — Gog, 1929; deutsch 1931. — Sant'Agostino, 1929; deutsch 1930. — D a n t e vivo, 1933. — Il sacco dell'oro, 1933. L i t e r a t u r : G. Prezzolini, Discorso su G. P., 1915. — R. Fondi, Un construttore: G. P., 1922. — N. M o s c a t e l l i , G. P., 1924. — E. Palmieri, G. P., 1927. — G. Arcari, P.s religiöse Entw., in: Hochland, Bd. 20, 1923. — A. Baldini, Amici allo spiedo, 1932, —

Paracelsus

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A. Viviani, Gianfalco, Florenz 1934. — G. A. Rizzo, Der Katholizismus G. P.s, in: Zeitschrift für systemat. Theologie, Jg. 1941. — M. Apollonio, G. P., Padua 1944.

Paracelsus, Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, geb. 10. November 1493 in Maria-Einsiedeln (Schwyz), gest. 24, September 1541 in Salzburg. P. studierte in Deutschland, Italien und Frankreich. 1526 Chirurg in Straßburg, darauf Stadtarzt und Professor der Medizin in Basel, das er infolge eines Konfliktes zwei Jahre später verließ; fortan führte er ein Wanderleben durch die südlichen deutschen Länder bis nach Preßburg. Mit P. beginnt eine selbständige Entwicklung der deutschen Naturphilosophie. Es handelt sich für ihn um das Wesen und den Sinn des menschlichen Seins. Er nimmt die peripatetisch-stoische Lehre vom menschlichen Mikrokosmos als Spiegel der Welt auf und will Erkenntnis der Welt durch die Erkenntnis des eigenen Selbst gewinnen. Weil der Mensch eine hervorragende Stellung in der Welt einnimmt, muß die Wissenschaft, die sich mit den natürlichen Vorgängen im Menschen beschäftigt, die Medizin, zur Grundwissenschaft werden. Der Medizin müssen Philosophie, Astronomie, Theologie und Akhemie als Stützen dienen. Denn der Mensch gehört drei Welten an, er wurzelt in der irdischen, in der astralischen und der göttlichen („dealischen") Welt. Das Wesen des Menschen umfaßt zwei Leiber, den irdischen und sichtbaren sowie den himmlischen und unsichtbaren, den P. Spiritus nennt. Die Seele, die den Menschen vor anderen Lebewesen auszeichnet, ist von Gott gegeben; durch sie erkennen wir die göttliche Weisheit. Eine besondere Sphäre in ihr hebt sich ab, ihr Innerstes, die Mens, die P. auch das Fünklein oder das Gemüt oder den Richter der Seele nennt. Aufgabe der Medizin ist es, den Zusammenhang und Zusammenhalt der menschlichen Körpereinheit, die von dem Archeus oder Lebensgeist bewirkt werden, zu erhalten und bei Störungen durch Krankheit wiederherzustellen. Die Krankheit ist nur als Beeinträchtigung der vollen Wirksamkeit des Archeus zu verstehen, und es muß der wahren Wissenschaft erreichbar sein, durch volle Einsicht in die vielfältigen und geheimnisvollen Zusammenhänge des Lebens dieses selbst in seiner jetzigen irdischen Verfassung auf unbegrenzte Zeit zu erhalten. In einer dieser Auffassung entsprechenden Weise wandelt P. das christliche Dogma ab. Die Heilige Schrift können wir nur dann aufnehmen und wirklich verstehen, wenn durch göttliche Kraft das Innerste der Seele, das Gemüt, erleuchtet wird. Dann bemerken wir, daß der Sündenfall Adams in einem Eingriff in die reale dreifache Ganzheit des Menschen besteht; der irdische und der himmlische Leib verloren in Adam ihre Einheit und, einmal zerfallen, wandten sie sich gegen die Seele, wodurch der Mensch dem Bösen verfiel. Der Sündenfall Adams warf den Menschen ins Tierische, und durch die Zerstörung der Einheit wurde er zu einem Teile sterblich. Die Wiederherstellung der wahren menschlichen Natur kann nur durch die Erneuerung des Bildnisses Gottes in ihm, das ihn zum Vertreter Gottes auf Erden machte, erfolgen: der Mensch muß neugeboren und zu seiner besseren himmlischen Natur erhoben werden, wie Christus erhoben wurde. Durch den Glauben an ihn wird der Mensch erlöst. Die Taufe besiegelt diese Erlösung, so daß der Mensch, solange er noch auf der Erde lebt, zwar in dem schlechten von Adam stammenden Leib existiert, aber zugleich durch den heiligen Geist für die kommende Auferstehung vorbereitet wird. Die Schöpfung der Welt ist das Werk der Gottheit, von der alles stammt. Gott ist die Prima materia oder der göttliche Abgrund, aus dem die Welt durch sein Wort „Fiat" entsteht. Es entstand zuerst die Urmaterie, aus der der Makrokosmos und die Mikrokosmen wurden. Sie ist der große „Limbus", von P. auch

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Paracelsus

Samenbehälter genannt. Sie kann als ein Urwasser gedacht werden; P. verw e n d e t für sie auch die Namen Yle, Yliaster und Hyaster. Als ein in Wirklichkeit Form- und Eigenschaftsloses ist sie das Mysterium Magnum, aus dem sich durch die Einwirkung d e s Geistes in einem Prozeß der Scheidung die W e l t in ihrer Mannigfaltigkeit entwickelte, w o b e i allem, w a s entstand, von der göttlichen Urmaterie die schöpferische Kraft mitgegeben wurde. Die letzte Stufe in diesem Weltschöpfungsprozeß bildet der Mensch als letzter Zweck der Schöpfung; er ist ein kleiner Limbus, ein Mikrokosmos. Die Urmaterie bildet sich und besteht durch den Zusammenschluß dreier Geister, die in der materiellen W e l t durch Schwefel, Quecksilber und Salz (Sulphur, Mercurius und Sal) dargestellt werden. Der Gleichgewichts/zustand, in dein sie sich in allem Geschöpflichen befinden, kann durch Verhältnisverschiebung, durch Sublimation, durch Verbrennung und Auflösung vernichtet werden, so daß das empirische Ding verschwindet. Das Ding selbst entsteht aus d e n Elementen Luft, Wasser, Erde und himmlisches Feuer, die aus d e m Yliaster, der Urmaterie, hervorgehen, nachdem diese durch ein richtiges Zusammenwirken ihrer Prinzipien zum Yliadus, d e m materiellen Stoff, geworden ist. Die einheitliche Grundlage aller Dinge in den Elementen läßt vermuten, daß die Metalle untereinander sich verwandeln können. A u s den Elementen gehen die Dinge w i e Früchte aus d e m Samen hervor, w e n n der Archeus sie gestaltet, und die gesamte Natur ist belebt, weil ihre gestaltende Kraft ein geistiges Prinzip ist. Da alles in der Natur einander entspricht, so existiert sie in voller Harmonie. S c h r i f t e n : Opera, 10 Bde., Basel 1589—1591, Straßburg 1616—1618, Genf 1658. — Auswahl v. H. Kayser, 1921. — Sämtl. Werke, kritische Ausgabe v. Karl Sudhoff u. W. Matthiessen, 1922 ff.; übers, v. B. Aschner, 4 Bde., 1927 ff. — P. Seine Weltschau in Worten des Werkes, Auszug dt., Herausg. v. Erwin Jaeckle, Zürich 1942. — Lebendiges Erbe. E. Auslese aus sämtl. Sehr., mit Einf., Biogr. u. Wörterb., bearb. v. Jolan. Jacobi, Zürich 1942. — Der gefangene Glanz, Ausw., herausg. v. Lothar Schreyer, Freiburg 1940. L i t e r a t u r : Sudhoff, Karl, Versuch e. Krit. d. Echtheit d. paracels. Schriften I, 1894, II, 1899. — Ch. Sigwart, Th. P., in: Kl. Sehr. I, 25—48. — F. Hartmann, Grundr. d. Lehren d. P., 1898. — F. Strunz, Th. P., s. Leben u. s. Persönlichkeit, 1903; Th. P„ Leipzig 1937. — Bartscherer, Agnes, P., Paracelsisten u. Goethes Faust, 1911. — W. Matthiessen, D. Religionsphilos. d. Th. v. Hohenheim, in: Renaiss. u. Philos., hersg. v. Dyroff, 1917. — E. Kolbenheyer, P„ Roman, 3 Bde., 1917—1926. — J. M. Stillmann, Th. Bomb. v. Hohenheim, called Paracelsus, Lond. 1922. — Strunz, Franz, P., 1924: in: D. Schweiz im deutschen Geistesleben, Bd. 27. — Spunda, Franz, P., 1925; in: Menschen, Völker, Zeiten, Bd. .6. — Hartmann, Franz, D. Medizin d. Th. P. v. H. vom theosophischen Standpunkt, 2. Aufl. 1921. - Gundolf, Friedrich, P., 2. Aufl. 1927. — Darmstädter, Ernst, Arznei u. Alchemie, P.-Studien, 1931; in: Studien z. Gesch. d. Medizin, H. 20. — Acta Paracelsica, hrsg. v. Ernst Darmstädter, Richard Koch, Manfred Schroeter, H. 1, 1930. — Waltershausen, Bodo S. Frhr. v., P. am Eingang d. deutschen Bildungsgesch., 1935. — Mühlschlegel, Albert, Über die fünf Entia des P., 1936. — Adolf Reitz, Die Welt des P., Stuttgart 1937. — Herbert &chichardt, Beitr. z. Naturlehre des P., Diss., München 1942. — F. Oesterle, Die Anthropologie des P., 1937. — Gerda Sievers, D. Naturansch. des P., Diss., Gießen 1937. —Ildefons Betschart, Th. P., Köln 1941. — Ludwig Englert, P., Berlin 1941. — Surya, G. W„ P. richtig gesehen, Lorch 1938. — Hans Hartmann, P., Berlin 1941. — C. G. Jung, Paracelsica, Zürich 1942. — Michael Benedict Lessing, P., 1839, Neuherausgabe Nürnberg 1937. — Will Erich Peuckert, Th. P„ Stuttgart 1941. — Franz Spunda, D. Weltbild des P., Wien 1941. — Georg Saicker, P., Halle 1941. — Joseph Strebel, P.-Studien, Basel 1942. — Ders., Th. v. H. gen. P., Luzern 1941. — Karl Sudhoff, P., Leipzig 1936. — Eberhard Zeller, P., d. Beginner e. deutschen Arzttums, Halle 1936. — J . D. Achelis, D, Überwindung d. Alchemie in d. paracels. Medizin, Heidelberg 1943. — Erwin Metzke, P.s Anschauung v. d. Welt . . ., Berlin 1943. — K. Bittel, Einl. u. Ausw. d. Werke, Leipzig 1944. — Leonhard Schenk, Beitr. z. Verständnis d. Opus Paramirum des P., Diss., München 1944. — Martha

Pareto

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Pareto, Vilfredo, geb. 15. Juli 1848 in Paris, gest. 19. August 1923 in Coligny. Italienischer Volkswirtschaftler. 1877 Vorlesungen ¿in der landwirtschaftlichen Hochschule in Florenz, 1892 Prof. an der Universität Lausanne, dort Lehrer Mussolinis. P.s Philosophie ist eine soziologische Grundlegung der Politik. Vor allem umfaßt sie Wissenssoziologie, Sozialpsychologie, Geschichtsphilosophie. Eine eigentliche Philosophie der Gesellschaft ist von P. nur in Grundzügen entwickelt. Den Ausgang seiner Besinnung findet P. in einer Kritik der Sprache. Er will den Bann durchbrechen, der durch ihre verschleiernde Wirkung über das Denken im sozialen Leben gelegt ist, und zur Einsicht in die sozialen Realitäten vordringen. Diese Realitäten erscheinen wesentlich psychologisch, als Wirklichkeiten des menschlichen Wollens. Eine der stärksten Hemmungen der Erkenntnis der jeweiligen sozialen Wirklichkeit erblickt P. darin, daß es zunächst niemals unmittelbare Einsichten in die Tatsachen sind, die in unserem „Wissen" und unserem Reden vom sozialen Dasein vorliegen, sondern „dérivations, derivazioni", Ableitungen. Diese sind Umbildungen echter, auf Erfahrung beruhender Einsichten, die den objektiven Sachverhalt durch gefühlsmäßige und willensmäßig begründete Vorstellungen umhüllen. Solche Ableitungen machen es unmöglich, von dem vorliegenden Gedankengebilde aus unmittelbar auf die Sachverhalte selbst zu schließen. Ihre Hauptformen sind: Behauptungen ohne Begründung, Autorität eines Menschen, einer Tradition, eines göttlichen Wesens oder Symbols. Die Derivationen müssen durchschaut und aufgelöst werden, weil sie den Erforscher und Gestalter der sozialen Welt verhindern, diese in ihrem echten, d. h. für P. logischen Wesen und Zusammenhang zu erkennen. P. geht in seiner Kritik der Sprache und der „Ableitungen" von der ständigen Überzeugung aus daß das Soziale selbst „logisch-experimentell" eindeutig zu fassen sein muß. Ix Dienst dieser vernunftgläubigen These müht er sich darum, die „unlogischen" Faktoren, wie die verschiedenen Arten von „Ableitungen", zu entlarven und dadurch unwirksam zu machen. Der überzeugende Anschein der Ableitungen täuscht immer wieder darüber, daß ihnen ein logischer Charakter grundsätzlich abgeht. Erst mit dieser Unterscheidung des unlogischen, aber gleichwohl wirksamen Charakters der „Ableitungen" von der echten logischen und darum sachlich zutreffenden Einsicht und Aussage wird für P. die Möglichkeit gewonnen, das soziale Handeln der Menschen richtig zu verstehen. Er kommt dazu, zwei grundverschiedene Handlungsweisen des Menschen in der Gesellschaft zu behaupten: Handlungen, die auf logischem Grund ruhen und von logischen Einsichten getragen sind, und solche, die „unlogisch" sind. Diese unlogisch begründeten haben doppelte Grundlage: einen menschlichen Instinkt, ein menschliches Gefühl, das mit der Natur des Menschen beständig gegeben ist, und wandelbare Deutungen dieses Instinktes, die sich erklärend, aber ebenso verschleiernd über ihn decken, so daß er dem Menschen kaum in seiner Unmittelbarkeit zum Bewußtsein kommen kann, sondern immer nur durch das Medium solcher Deutungen. Diese können dabei durchaus auch den Anschein des Logischen erwecken, aber sie kommen über eine Pseudologik nicht hinaus; denn sie werden nicht von vernunftmäßiger Einsicht in die Tatsachen getragen, sondern letzten Endes von Instinkt, Bedürfnis und Gefühl.

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Pareto

Erst in jener letzten Schicht der Instinkte oder Gefühle selbst liegt die eigentliche unid tragende Realität der Gesellschaft. Zieht man alles logische Wissen und alles pseudologische Deuten und Denken der Ableitungen von dem Gesamtkomplex des sozialen Tuns und Bewußtseins ab, so bleiben übrig die „résidus", die „Überbleibsel". Es ist charakteristisch für P., daß er für diese tragende Schicht der sozialen Wirklichkeit immer wieder den Ausdruck „résidus" wählt: es zeigt, wie stark in seinem ganzen Gedankengang das analytischwissenstheoretische Element beherrschend bleibt. In der Analyse dieser „Überbleibsel" gibt P. seine Ontologie der Gesellschaft, d. h. seine Zurückführung der Gesellschaft auf einen tragenden leiblich-seelischen Untergrund im einzelnen Menschen. Seine Theorie ist insofern durchaus „individualistisch". P. stellt sechs Gruppen von Instinkten auf. 1. Der Instinkt d e r Kombinationen. Er besagt ein ursprüngliches Bedürfnis nach einer Verknüpfung der Tatsachen, Merkmale usw. zu einem Zusammenhang kausaler Beziehungen, Identifizierungen usw. vor aller logisch-experimentellen Klärung und unabhängig von einer solchen. 2. Der Instinkt für die Beharrlichkeit d e r Aggregate. Er besagt ein fundamentales Bedürfnis, einmal geschaffene Zusammenhänge, Komplexe, Gebilde als solche zu bewahren. Dieser Instinkt liegt vor allem der konservativen Geistigkeit zugrunde. 3. Das Bedürfnis, Gefühle durch äußere Handlungen, durch Symbole auszudrücken. 4. Instinkte, die sich im Zusammenhang mit dem Geselligkeitsbedürfnis des Menschen entwickeln. 5. Instinkt für die Integrität des Individuums und seiner Beziehungen. 6. Sexuelle Bedürfnisse. Das Bild des Ganzen der menschlichen Gesellschaft stellt sich daraufhin als durch drei große G r u p p e n von F a k t o r e n bedingt dar, die sie selbst determinieren und von ihr rückwirkend beeinflußt werden. Es sind 1. der Boden, das Klima, die Flora und Fauna usw. einer abgegrenzten Gesellschaftseinheit, 2. die F a k toren, die von außen auf diese Einheit einwirken, sei es im Raum dieser Gesellschaften, sei es in der Zeit als der vorhergehende Zustand dieser Gesellschaft selbst, 3. innere Faktoren, vor allem: das Blut, die Gefühle und Tendenzen, alle „Überbleibsel", Interessen, „Ableitungen", allgemeine Bildung usw. Grundsätzlich w ä r e es nach P. notwendig, alle diese F a k t o r e n zu kennen, um ihren Einfluß, womöglich quantitativ, bestimmen zu können. Für das Interesse P.s genügt es bereits, die „résidus" zu kennen und die „dérivations" zu durchschauen; will er doch vor allem das soziale, speziell das politische Handeln erklären und die Möglichkeit zu seiner Beeinflussung gewinnen. Die politische Grundabsicht und Denkweise P.s bedingt es, daß er den weiteren Rahmen seines Gesellschaftsbildes nicht ausfüllt, sondern zur Betrachtung des einzelnen Individuums, als des „Moleküls" der Gesellschaft, zurückkehrt. In diesem Einzelnen sind die Gefühle, die sich in den „résidus" zum Ausdruck bringen, die letzte Realität, auch für sein soziales Dasein. Auf dieser Basis ruhen die beiden wichtigsten politischen Grundlehren P.s, die Lehre von der sozialen Ungleichheit und die Lehre vom Kreislauf der Eliten, die das gedankliche Rückgrat des Faschismus bilden. Die „Pyramide" des sozialen Daseins ist nach drei Kriterien gegliedert: ökonomisch, professionell und politisch. Verbindet man diese drei Kriterien, so kann man nach P. den Begriff eines „sozialen Körpers" bilden. Dieser hat, nach der Gliederung in Klassen betrachtet, drei Schichten der Wirklichkeit, eine obere, wenig zahlreiche Klasse, eine mittlere, die zahlreicher ist, und eine sehr zahlreiche u n t e r e Klasse. An der Spitze des sozialen Ganzen steht eine herrschende Elite. Dies« Elite k a n n auf verschiedene Weise an ihre Stelle kommen. Immer aber herrscht Be-

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wegung im „sozialen K ö r p e r " , so daß entweder bei dem unvermeidlichen Aussterben der herrschenden Elite eine neue aufsteigt, oder aber, wenn der Aufstieg unterbrochen ist, die ganze jeweilige Elite degeneriert, wodurch sich die Ansammlung der neuen Elite „unten" vollzieht. Dadurch entsteht ein revolutionärer Zustand, und die neue Elite verdrängt die alte durch Gewalt. Ganz allgemein gibt es in jeder Gesellschaft Gruppen und Einzelne, die eine beharrende, und solche, die eine dynamische Grundtendenz zum Ausdruck bringen. Herrschen die konservativen Elemente zu stark vor, so erstarrt die Gesellschaft, obsiegen die bewegenden vollständig, so entbehrt die Gesellschaft aller Stabilität. Die in der neuesten Zeit herrschende Elite bezeichnet Pareto als „demagogische Plutokratie".

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Parker, Samuel, geb. 1640 in Northampton, gest. 1688 in Oxford, Bischof von Oxford. Gegner von Hobbes, Gassendi und Descartes. P. neigt zu einem mystischen Spiritualismus platonischer Färbung. Die Zweckmäßigkeit der Natur gilt ihm als einer der Hauptbeweise für die Existenz Gottes und für die göttliche Vorsehung. Der menschliche Wille ist von Gott zu möglicher Freiheit bestimmt, also trotz der Vorsehung nicht völlig determiniert.

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Parmenides aus E l e a (Unteritalien), geb. um 540 v. Chr. P. ist das Haupt der eleatischen Schule und der Nachfolger und Schüler des Xenophanes. Er führt die Lehre des Xenophanes weiter, nach der die Gottheit und die mit ihr gleichgesetzte Welt ewig und unveränderlich sind, und dehnt sie auf alles Wirkliche überhaupt, d. h. auch auf das Denken, aus. Vielheit und Veränderung der Dinge sind nur Schein und es existiert nur d a s unveränderliche "Ev, das zugleich denkt. P.s Lehrgedicht llîpî OÛJÎCUC, von dem Bruchstücke erhalten sind, wendet sich bewußt gegen Heraklit. Im Begriff des Seins, das P. als Kugel dachte und von

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Pascal

dem er ausgeht, ist ebenso wie im Begriff des "Ev eine Doppelbedeutung enthalten. P. setzt das Sein gleich der Realität, diese gleich dem „Vollen"; da nun nur das Seiende, nicht aber auch das Nicht-Seiende gedacht werden kann, so gibt es keinen leeren Raum. Das Seiende hat weder Anfang noch Ende seines Seins, und es kann auch keine Bewegung geben. Müßte doch in beiden Fällen ein leerer Raum vorausgesetzt werden, nach P. eine Denkunmöglichkeit. Wo keine Bewegung ist, gibt es kein Werden, also auch keine Vielheit der Dinge. Das Eine einheitliche Sein bleibt als das einzige übrig, die Vielheit von Einzeldingen ist eine Täuschung der Sinne. Im zweiten Teil seines Gedichts versucht P. zu erklären, wie es zu der gewöhnlichen Vorstellungsweise der Welt kommen kann. Obwohl nur das Seiende existiert, glaubt der Mensch die Wirklichkeit aus diesem Seienden und einem weiteren Element zusammengesetzt, das P. als das Nicht-Seiende bezeichnet. Es ist das Dunkle,' Schwere und Kalte, auch Erde, das leidende Element, dem das Lichte und Feurige als wirkendes Element gegenübersteht. Neben diesen beiden Elementen steht eine Gottheit, die den Verlauf des Geschehens leitet. Das Weltge'bäude besteht aus der Erdkugel und den um sie gelagerten Sphären; diese sind teils licht, teils dunkel und von dem festen Himmelsgewölbe umspannt. Auch iim Leib des Menschen sind beide Elemente, das Lichte und das Dunkle, gegenwärtig. Von der Art ihrer Zusammensetzung hängt die Vorstellungsweise des Menschen ab. Das Vorstellen erfolgt in der Weise, daß jedes der beiden Elemente das ihm Verwandte erkennt. Die Vorstellungen sind um so wahrer, je mehr das Lichte, also das Seiende, überwiegt. S c h r i f t e n : H. Diels, P.s Lehrgedicht, griech. u. deutsch, 1897; Fragmente d. Vorsokratiker, Bd. 1, 4. Aufl., 1922. — Plato, Dialog Parmenides. L i t e r a t u r : Cl. Baeumker, D. Einheit d. Parmenideischen Seienden, Jahrb. f. Philol. 133 (1886) 541—561. — A. Döring, D. Weltsystem des P., in: Ztschr. f. Philos. u. philos. Kritik, 104 (1894) 161—177. — K. Reinhardt, P. u. d. Gesch. d. griech. Philos., 1916. — Kranz, Üb. Aufbau u. Bedeut. d. parmenideischen Gedichtes, 1916. — Gomperz, Heinr., Psychol. Beobachtungen an griech. Philosophen, 1924. — Hermann Frankel, Parmenidesstudien, Berlin 1930. — Walter Rauschenberger, P. u. Heraklit, Heidelberg 1941, in: Jahrb. d. Schopenhauer-Ges. — Kurt Riezler, P., Frankfurt 1933. — Andreas Speiser, E. Parmenideskommentar, Leipzig 1937.

Pascal, Blaise, geb. 19. Juni 1623 in Clermont, gest. 19. August 1662 in Paris. Der Mathematiker P. gelangt zu starker philosophischer und religiöser Wirkung durch sein tiefes Erleben der Begrenztheit rationalen Denkens und durch seinen Glauben an die religiöse Macht und die Erkenntniskraft einer „Logik des Herzens". Unter dem Einfluß von Arnauld und Nicole schließt P, sich dem Jansenismus an. Zwar bezweifelt er nicht die Möglichkeit der Erkenntnis und bekämpft den Skeptizismus; denn in der mathematischen Methode besitzen wir das Mittel, vorzudringen bis zu den obersten Begriffen Raum, Zeit, Bewegung usw. und zu den Prinzipien, die durch das natürliche Licht des menschlichen Verstandes erfaßt werden können. Aber eine wirklich sichere Erkenntnis, die auch zur Lösung der uns bewegenden Lebensfragen fähig wäre, kann durch die mathematische Vernunft nicht erreicht werden. Zu solchem Wissen führt nur die Intuition mit Hilfe unseres Gefühls: hier hört das Schwanken zwischen Gewißheit und Zweifel auf, das den rational erkennenden Menschen quält, und der Mensch gelangt zu einer weisheitsvollen Unwissenheit, die um sich selbst weiß. „Le coeur a ses raisóns que la raison ne connait pas." Der wahre Glaube, zu dem der wissende Mensch gelangt, ist der christliche. An die Existenz des christlichen Gottes und an die Unsterblichkeit der Seele dürfen wir glauben, unsere intuitive Erfassung des Menschlichen berechtigt uns dazu. Erst wenn

Paschasius — Pastor

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wir glauben, können wir zu der Vernichtung unserer selbst gelangen, die als notwendige Voraussetzung der unerforschlichen Gnadenwahl Gottes zu unserer Erlösung vollzogen w e r d e n muß. Nach dem aus der Selbstsucht stammenden A b fall von Gott besitzt der Mensch in diesem Verlangen nach Erlösung allein die Möglichkeit einer Wiederannahme durch Gott. In seinen „Lettres provinciales" (1656) griff P. die jesuitische Moralanschauung entschieden an und gab d e n e r s t e n Anstoß zu ihrer öffentlichen Erörterung, die schließlich zur Auflösung d e s Jesuitenordens führte. S c h r i f t e n : Lettres provinciales, 1656. — L'art de penser, 1662. — Pensées sur la religion, 1669. — Oeuvres complètes, hrsg. v. L. Brunschvicg, E. Boutroux u. F. Gazier, 14 Bde., Paris 1908—1923 (mit Biographie); hrsg. v. Strowski, 3 Bde., 1923—31. — Werke dt. von W. Rüttenauer, Briefe 1937, Gedanken 1937 (mit Einführung von R. Guardini), Kleine Schriften 1938. — Pascal inédit, hrsg. von Ernest Jovy, 5 Bde., 1908—1914. L i t e r a t u r : Bibliographie générale v. A. Maire, 5 Bde., 1925 ff. — H. Weingarten, P. als Apologet des Christentums, 1863. — Ad. Hatzfeld, Wissen u. Glauben bei P., Arch. f. Gesch. d. Philos. XV (1902) 343—369, 442--172. — F. Strowski, P. et son temps, Paris, 3. A. 1908 bis 1910; hierzu: D. Sabatier, P. et son temps, in: Annales de philos, chrétienne 82, S. 249 ff. — P. Just-Navarre, La maladie de P., Étude médicale et psychologique, Lyon 1911. — Boutroux, Émile, P., Paris 1912. — M. Laros, Das Glaubensproblem bei P., 1918. — Zum 300jähr. Geburtstag P.s: Sonderheft der Revue de mét. et de morale (30. Jahrg. 1923, H. 2) mit Beitr. v. M. Blondel, L. Brunschvicg, J. Chevalier, H. Höffding, J. Laporte, F. Rauh, M. de Unamuno. — K. Bornhausen, P., 1920. — Chevalier, Jacques, P., Paris 1922. — Brunschvicg, Léon, Le génie de P., Paris 1924; P., Paris 1932; Descartes et P., lecteurs de Montaigne, Neuchâtel 1945. — E. Lefebvre, P., l'homme, l'œuvre, l'influence, Paris 1925. — Petit, Descartes et P., Paris 1937. — Eastwood, Dorothy Margaret, The Revival of P., A study of his relation to modem French thought, Oxford 1936. — H. R. Soltau, P., The man and his message, Lond. 1927. — C. C. J . Webb, P.s phil. of religion, Oxford 1929. — J. Chaix-Ruy, Le Jansénisme. P. et Port Royal, 1930. — J . d'Orliac, Le cœur humain, inhumain, surhumain de B. P., 1931. — Lhermet, Jean, P. et la Bible, Paris 1931. — Guardini, Romano, Christi. Bewußtsein, Versuche üb. P., 1935. — Morris Bishop, P., London 1937, dt. von Erika Pfuhl u. Rieh. Blunk, Berlin 1938. — Erhard Buchholz, B. P., Göttingen 1939, 2. Aufl. 1942. — Helmut Grützmacher, P. u. Port-Royal, Diss., Hamburg 1935. — Paula Hey, Chateaubriand u. P., Bonn 1937. — Richard Lohde, D. Anthropologie P.s, Halle 1936. — Elise Lohmann, P. u. Nietzsche, Diss., Erlangen 1917. — Hermann Platz, P., Dülmen 1937. — Wolfram Platzeck, P. u. Kant, Diss., Bonn 1940. — L. E. Seidmann, P. u. d. Alte Testament, Breslau 1937. — Alfred Stöcker, D. Bild d. Menschen bei P., Diss., Freiburg 1939. — Kurt Wilhelm, Chevalier de Méré u. s. Verh. zu B. P., Berlin 1936. — Seinoske Yuassa, D. existenziale Grundlage d. Philosophie P.s, Diss., Bonn. — G. Michaud, P., Molière, Musset, Paris 1942. — E. Baudin, Études historiques et critiques sur la philosophie de P., 4 Bde., Neuchâtel 1946 ff. — A. Béguin, P. 1947. P a s c h a s i u s , Radbertus, geb. um 785 n. Chr., gest. um 860 als Abt des Klosters Corbie (Picardie). Exeget. P. bekämpfte die Bildung durch die alten Klassiker. Höchste Autorität genoß bei ihm Augustinus. In der Abendmahlslehre ist P. ein Gegner des Ratramnus und des Hrabanus Maurus. S c h r i f t e n : Werke, hrsg. v. Sirmond, Paris 1618; Migne, Patrol. Latina, Bd. 120. L i t e r a t u r : Hausherr, Der hl. P. R., 1862. — Sardemann, Der theol, Lehrgehalt der Sehr, des P. R., Diss., Marburg 1877. — Choisy, P. R., 1889. — J. Geiselmann, Die Eucharistielehre der Vorscholastik, 1926, P a s t o r , Willy, geb. 22. September 1867 in Burtscheid, gest. 18. April Berlin. Schriftsteller. Anhänger Fechners. S c h r i f t e n : Lichtungen. Essays, 1900. — G. Th. Fechner u. d, durch schlossene Weltanschauung, 1901. — Im Geiste Fechners, Naturwiss. Essays, Studienköpfe, Essays, 1902. — Natur u. Geist, Gedichte, 1902. — Lebensgesch. 1903. — D. Erde in der Zeit des Menschen. Versuch e. naturw. Kulturgesch.,

1933 in ihn er1902. — d. Erde, 1904. —

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Patritius — Pauler

Novalis, 1904. — D. Zug vom Norden, 1906. — G. Th. Fechner u. d. Weltanschauung der Alleinslehre, 1905. — Die Geburt der Musik, e. Kulturstudie, 1910. — Naturgewalten, Göttergestalten, 1921. — D. All in uns u. wir im All, Vom Gestaltenwandel des Lebens, 1931.

Patritius (Patrizzi), Franciscus, geb. 1529 im damals venetianischen Clissa in DaLmatien, gest. 1597 in Rom. 1576—1593 Lehrer der platonischen Philosophie in Ferrara. P. lehrte eine aus dem Neuplatonismus stammende Lichtmetaphysik. Die Welt ist der Glanz des göttlichen Urlichtes, das alles durchstrahlt und bildet und selbst unwandelbar ist. Aus ihm geht durch die ihm einwohnende Wärme die Welt der Mannigfaltigkeit hervor. Das Körperliche, das als zweites hierzu erfordert ist, ist ursprünglich eine seit der Schöpfung existierende Flüssigkeit (Fluor), die das Prinzip des Raumerfüllenden und Undurchdringlichen darstellt. So kommt es bei den Ursachen des Seienden nicht auf substantielle Sonderheit an, wie Aristoteles in seiner Elementenlehre angenommen hat, sondern auf besondere Eigenschaften des allgemeinen Seienden, durch deren verschiedenartige Verbindung alles besondere Seiende entsteht. P. bezeichnet das Licht, die Wärme, die Flüssigkeit und den von ihr erfüllten Raum als die grundlegenden allgemeinen Eigenschaften. Zwischen Körperlichem und Geistigem besteht keine unmittelbare Verbindung; denn sie berühren sich nicht. Neben dem Licht, das bereits in der unbelebten Natur zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen vermittelt, wirkt die Seele als Band im Reiche des Belebten. Die Tätigkeit, die sowohl im Licht wie in der Seele sich äußert, stammt vom unbewegten Geist selbst her. Die gesamte Welt also stellt eine Offenbarung des ewigen göttlichen Geistes dar, und das Grundprinzip des Seins ist das Spirituelle, aus dem alles hervorgeht. S c h r i f t e n : Deila storia diece dialoghi, Vened. 1560. — Deila Rhetorica, Vened. 1562. — Discussiones peripateticae, 2. Aufl. Basel 1581. — Nova de universis philosophia etc., I Panaugia, II Panarchia, III Panpsychia, IV Pancosmia, Ferr. 1591, Ven. 1593, Lond. 1611, — Deila poetica, m. Anhang: Trimerone in riposta alle oppositioni fatte del Signor Torquato Tasso, Ferr. 1586. — De rerum natura, Ferrara 1587. — Deila nuova geometria libr. XV, Ferrara 1587, — Deutsche Auszüge aus d. Schriften bei Rixner u, Siber, Leben u. Lehrmeinungen berühmter Physiker, Heft IV( 1820. L i t e r a t u r : O. Guerrini, De F. P., in: II Propugnatore, 1879.

Patten, Simon Nelson, geb. 1. Mai 1852 in Sandwich, III., gest. 24. Juli 1922. Studium in Halle (Saale), 1878 Promotion ebda,; 1888 Prof. für politische Ökonomie an der Universität Pennsylvanien. Amerikanischer Nationalökonom und Sozialphilosoph. S c h r i f t e n : The Premises of Political Economy, Philadelphia 1885. — The Consumption of Wealth, Philadelphia 1889; 2. Aufl. 1901. — The Economic Basis of Protection, Philadelphia 1890; 2. Aufl. 1895. — The Theory of Dynamic Economics, Philadelphia 1892. — The Theory of Social Forces, 1896. — The Relation of Sociology to Psychology, 1896. — The Development of English Thought, New York 1899; 3. Aufl. 1910. — The Theory of Prosperity, New York 1902. — Heredity and Social Progress, 1903. — The N e w Basis of Civilisation, New York 1907, 8. Aufl. 1921. — The Social Basis of Religion, New York 1911; 2. Aufl. 1913. — Reconstruction of Economic Theory, 1912. — Culture and War, 1916. L i t e r a t u r : Tugwell, R. G., Notes on the Life and Work of S. N. P., in: Journal of Political Economy, Bd. 31, 1923; 153—208. — Memorial Addresses on the Life and Services of S. N. P. (mit Bibliogr. v. R. G. Tugwell), in: American Academy of Political and Social Sciences, Annals, Bd. 57, 1923; 333—367.

Pauler, Akos von, geb. 9, April 1876 in Budapest, gest. 29. Juni 1933 ebda. O. ö. Prof. der Philosophie an der Universität Budapest, — Philosophie ist die Wissenschaft der allgemeinsten Klassen. Ihre spezifische Methode ist die

Paulhan — Paulsen

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Reduktion. Ihre Teile sind Logik, Ethik, Ästhetik, Metaphysik, Ideologie (Gegenstandstheorie), die aus Phänomenologie, Relationslehre, Kategorienlehre und Werttheorie besteht. Im besonderen hat v. P. die Logik bearbeitet. Sie gilt ihm als Wissenschaft von den formalen allgemeinen Bestimmungen der Wahrheit und hat die Struktur und die Subsistenzart der Wahrheit zu untersuchen. Die Wahrheit ist ein System, das aus unendlich vielen, Universalität besitzenden, möglicherweise sowohl auf existierende wie auch auf nicht existierende Objekte sich richtenden Gliedern besteht; jedes dieser Glieder hat sowohl positiven wie negativen und limitativen Charakter, und seine Subsistenz liegt in der Gültigkeit. S c h r i f t e n : D. Problem des Dinges an sich, 1902. — D. Problem d. erk.theoret. Kategorien, 1904. — D. Natur der eth. Erk., 1907. — Zur Theorie d. log. Prinzipien, 1911. — D. Problem d. Begriffs in der reinen Logik, 1915. — Einl. in die Philos., 1921; 3. Aufl. 1933. — Grundlagen d. Philos., 1925. — Logik. Versuch e. Theorie d. Wahrheit, 1925; deutsch 1929. — Aristoteles I, 1933. L i t e r a t u r : Somogyi, J o s e f , D. Philos. A. P.s, in: Kantstudien 30 (1925), S. 180 bis 188. — Wust, Peter, Budapester Philosophen, in: Köln. Volkszeitung, 9. J a n . 1927. — H. Leisegang, in: Blätter für deutsche Philos., Bd. III. — Cleto Carbonara, A. v. P. e la logica della filosofia, 1931. — Gedenkschrift für A. v. P., hrsg. v. d. Ungar. Philos. Ges., zusammengestellt v. Ludwig Prohaska, 1936.

Paulhan, Frédéric, geb. 15. März 1856 in Nimes, gest. 14. März 1931 in Paris. Französischer Psychologe aus der Schule Ribots. S c h r i f t e n : L'activité mentale, Paris 1889; 2. Aufl. 1913. — Les caractères, 1893; 3. Aufl. 1909. — Psychologie de l'invention, 1900; 2. Aufl. 1911. — Physiologie de l'esprit, 5. Aufl. — Les phénomènes affectives, 2. Aufl. 1901. — La fonction de la mémoire et le souvenir affectif, 1904. — L'abstraction, in: Revue philos., 17/28, — Les mensonges du caractère, 1905, — Le mensonge de l'art, 1907. — La morale de l'ironie, 1909; 3. Aufl. 1925. — La logique de la contradiction, 1911. — Les types intellectuels, 2. Aufl. 1914. — L'esthétique du paysage, 1913. — Les vices de l'esprit humain et le subjectivisme, in: Revue philosophique, Bd. 95, 1918. — La spiritualisation des tendances, 1919. — Les transformations sociales des sentiments, 1920. — Le mensonge du monde, 1921. — L'absolu dans l'homme et dans le monde, 1923. — Les puissances de l'abstraction, 1928. — La double fonction du langage, 1929. — Zahlreiche Aufsätze in: Revue Philosophique, 1913—1920.

Pauli, Richard, geb. 12. Mai 1886 in Ober-Ingelheim. Promotion Dr. phil. 1911, Habilitation für Philosophie und Psychologie in München 1914, a. o. Prof. ebda. 1920. S c h r i f t e n : Psycholog. Praktikum 1914; 4. Aufl. 1930. — Üb. psych. Gesetzmäßigkeit, 1920. — Einf. in die exp. Psychol., 1926. — J . G. Fichte als Politiker u. polit. Erzieher, 1933. — D. Arbeitsversuch, Leipzig 1943.

Pauken, Friedrich, geb. 16. Juli 1846 in Langenhorn (Schleswig), gest. 14. August 1908 in Berlin. Seit 1866 Studium in Erlangen, Bonn und Berlin; dort 1871 Promotion mit einer Dissertation über „Symbolae ad systemata philosophiae moralis historicae et criticae"; 1875 Habilitation in Berlin, 1878 ebda. a. o. Prof., 1893 o. Prof. für Philosophie und Pädagogik. P.s philosophisches Denken entwickelt sich unter dem Einfluß von Spinoza und Schopenhauer und verdankt Fechner Bestätigung, Befestigung und Abrundung. Es läßt eine Einwirkung Wundts spüren und hat die Ergebnisse Kants zur Voraussetzung. Das Ziel P.s ist die Gewinnung eines geschlossenen philosophischen Weltbildes, das die Spannung zwischen religiösen Anschauungen und wissenschaftlicher Naturerklärung, zwischen Glauben und Wissen überbrückt. Nur ein

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idealistischer Monismus kann nach seiner Überzeugung diese Aufgabe erfüllen; denn nur er vermag supranaturalistischen Dualismus und atomistischen Materialismus zu überwinden. Die Wurzeln der Philosophie liegen in der Sehnsucht des Geistes nach einer ihm wesensverwandten Lebensumgebung. Ihr Grundstreben richtet sich seit Piatos Zeiten darauf, „von der den Sinnen gegebenen sichtbaren und greifbaren Wirklichkeit zu der dein Gedanken erfaßbaren wahrhaften und gedankenhaften Welt, von der Erscheinungswelt zu der »wirklich wirklichen Welt« die Durchfahrt zu finden". Philosophie ist also Wirklichkeitserkenntnis. Was aber ist das wahrhaft Wirkliche? Es ist seinem Wesen nach Geist; „sofern eine Bestimmung des Wesens des Wirklichen an sich versucht werden kann, ist sie der Welt der inneren Erfahrung zu entnehmen; in der geistig-geschichtlichen Welt entfaltet die Wirklichkeit für uns am verständlichsten oder vielmehr allein verständlich ihren eigentlichen Gehalt". Der Geist ist es, der hier waltet. Das Physische, die Welt der Sinnendinge, die Körperwelt ist nur die Erscheinung des Psychischen. Das Geistige nun ist in seinem Kern Wille. „Die Wirklichkeit, die in der Körperwelt unseren Sinnen sich als einheitliches Bewegungssystem darstellt, ist Erscheinung eines geistigen All-Lebens, das als Verwirklichung eines einheitlichen Sinnes, als Betätigung eines Ideen verwirklichenden Willens zu deuten ist." — „Gedanken und Ideen haben ihre Wurzel immer und überall in einem Willen." P. hat für diese Annahme den Begriff „Voluntarismus" geprägt. Die höchste psychische Einheit ist Gott, von der physischen Seite betrachtet: das Weltganze. P. vertritt wie seine philosophischen Vorbilder die Lehre vom Gleichlauf zwischen Psychischem und Physischem. Er behauptet einen universellen Parallelismus und bekämpft die Wechselwirkungslehre heftig. Auch in der pantheistischen Grundüberzeugung schließt er sich an Spinoza an. Ursprung und Ziel aller Philosophie sieht P. in der Ethik; denn „der letzte Grund, der die Menschen antreibt, über die Natur dieses Weltalls nachzudenken, bleibt zu allen Zeiten das Bedürfnis, über Sinn, Herkunft und Ziel des eigenen Lebens sich Rechenschaft zu geben". Aristoteles hat die Ethik als systematische Wissenschaft begründet und ihr die Aufgabe gestellt, allgemeine praktische Lebenslehre zu sein in der Form „einer teleologischen Untersuchung der Bedingungen des höchsten Guts oder der vollkommenen Lebensgestaltung". Diese teleologische Auffassung der Ethik, die P. teilt, steht im Gegensatz zum „hedonistischen Utilitarismus" und zum „intuitivistischen Formalismus". Gegenüber einem, der Lust für das absolut Wertvolle hält, behauptet sie: „nicht die Lustempfindung, sondern der objektive Lebensinhalt selbst, der mit Lust erlebt wird, ist das Wertvolle; die Lust ist die Form, in der das Subjekt der Sache und ihres Wertes unmittelbar inne wird". Und gegen diesen, dem die Befolgung der Sittengesetze als wertvoll gilt, hält sie daran fest: „nicht in der Innehaltung der Sittengesetze, sondern in dem Wesen, das in diesen Rahmen gefaßt wird, in dem menschlich geschichtlichen Leben, das jenes Schema mit einem unendlichen Reichtum mannigfaltiger konkreter Bildungen erfüllt, liegt das absolut Wertvolle; die Sittengesetze sind um des Lebens, nicht das Leben um der Sittengesetze willen". P. wendet sich folgerichtig gegen den „formalistischen Apriorismus, den Kant aus seiner Erkenntnistheorie in die Ethik hineintrug". Er gestaltet seine teleologische Ethik zum „Energismus" aus, der das höchste Gut in einen objektiven Lebensinhalt setzt, „oder, da Leben Betätigung ist, in eine bestimmte Art der Lebensbetätigung". Er sieht als höchstes Gut an „ein vollkommenes Menschenleben, d. h. ein Leben, das zu voller und harmonischer Entfaltung der leiblich-geistigen Kräfte und zu reicher Betätigung in allen menschlichen Lebens-

Paulus

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Sphären führt, in inniger Gemeinschaft mit anderen nächstverbundenen Personen und in allseitiger Teilnahme an dem geschichtlichen und geistigen Lebensinhalt der großen Gemeinschaftsformen". Für Vertreter des Energismus hält P. Plato, Aristoteles und die Stoa, Hobbes, Spinoza, Shaftesbury, Leibniz, Wolff und die evolutionistische Moralphilosophie; auch ihnen allen ist höchstes Gut „ein vollkommenes Menschenleben, ein Leben, in dem es zur vollen und harmonischen Entfaltung der Persönlichkeit und zur Betätigung aller ihrer Kräfte kommt". P. bringt der naturwissenschaftlichen Zeitströmung seinen Tribut, wenn er das ethische Verfahren dem biologischen angleicht. „Es scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen, daß die Ethik nach Seiten ihrer Methode der Naturwissenschaft näher verwandt ist als der Mathematik, am nächsten steht sie den biologischen Wissenschaften." Sie deduziert und demonstriert nicht Lehrsätze aus Begriffen, sondern sie zeigt bestehende und durch Erfahrung feststellbare Zusammenhänge zwischen Tatsachen auf. Auch in seinen erkenntnistheoretischen Lehren, die im wesentlichen auf Kant ruhen, verrät P. Neigung zur Anlehnung an die Biologie. So behauptet er, daß Raum und Zeit allmählich von der Gattung entwickelt wurden, also subjektiver Natur sind, und nicht dem ursprünglichen Bestand der menschlichen Intelligenz angehören. S c h r i f t e n : Versuch e. Entwicklungslehre d. kantischen Erk.theorie, 1875. — Gesch. des gelehrten Unterrichts auf d. deutschen Schulen u. Universitäten, 2 Bde., 1885; 3. Aufl. 1919—1921. — System d. Ethik, mit e. Umriß d. Staats- u. Gesellschaftslehre, 1889; 12. Aufl. 1921. — Einl. in d. Philos., 1892; 42. Aufl. 1929. — Immanuel Kant, 1898; 7. Aufl. 1924. — Kant der Philosoph d. Protestantismus, 1899. — Schopenhauer. Hamlet. Mephistopheles. Drei Aufsätze zur Naturgesch. des Pessimismus, 1900; 4. Aufl. 1926. — Parteipolitik u. Moral, 1900. — Philosophia militans, 2. Aufl. 1904; 4. Aufl. 1908. — Gegen Klerikalismus u. Naturalismus, 1901; 4. Aufl. 1908. — Universitäten u. Universitätsstudium, 1902. — Zur Ethik u. Politik, 2 Bde., 1905; 5. Aufl. Bd. 1, 1921. — Das deutsche Bildungswesen, 1906. — Ethik, in: Kultur d. Ggwt., Tl. I, Abt. VI, 1907. — Moderne Erziehung u. geschlechtl. Sittlichkeit, 1908. — Aus meinem Leben, 1909. — Pädagogik, 1909. — Ges. pädag. Abhdlgn., hrsg. v. E. Spranger, 1912. L i t e r a t u r : F. Tocco, La filos. di F. P., 1897. — A. Rau, F. P. und E. Haeckel, 1906. — P. Fritsch, F. P.s philos. Standpunkt, insbes. sein Verhältnis zu Fechner u. Schopenhauer, 1910. — R. Schwellenbach, D. Gottesproblem in der Philos. F. P.s u. s. Zus.hang mit d. Gottesbegriff Spinozas, Diss., Münster 1911. — T. Pacescu, Darstellg. u. Kritik d. Grundbegriffe d. Ethik F. P.s, Diss., Lpz. 1911. — Schulte-Hubbert, Bonifaz, Die Philos. F. P.s, 1914. — Laule, Georg, Die Päd. F. P.s im Zus.hang mit s. Philos., Diss., Würzburg 1914 u. Päd. Magazin, H. 573. — Schilling, Georg, D. Berechtigung d. teleolog. Betrachtungsweise d. Natur nach P. u. Sigwart, Diss., Erlangen 1919. — Speck, Johannes, F. P., s. Leben u. s. Werk, 1926. — Binde, Wolfgang, D. Psychol. F. P.s, Diss., Rostock 1929. — Beatrix Geyer, P. u. Pannwitz, Diss., Wien 1943.

Paulus, Rudolf, geb. 3. März 1881 in Maulbronn. Pfarrer in Kilchberg; Priv.Doz. in Tübingen 1933. Dr. theol. h. c. in Tübingen 1927. — P. geht vor allem von Ernst Troeltsch aus und setzt sich die folgenden philosophisch-systematischen Ziele. Er bemüht sich um einen realistisch und historisch erfüllten Idealismus in kritischer Anknüpfung an den späteren Fichte, an Hegel und den späteren Schelling. Weiterhin um Überwindung des religionsphilosophischen und theologischen Irrationalismus und Historismus, wie des lebens- und geschichtsfremden Rationalismus, zunächst durch die geschichtlich orientierte Ideenlehre, dann durch realdialektische Geschichtsanschauung. Er bringt das personalistische Gottes-, Welt- und Geschichtsbild des Christentums zur Auseinandersetzung mit der Denkweise des Piatonismus und verfolgt dabei als Ziel die Ausgestaltung einer Philosopken-Lexikon

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Peckham — Peipers, David

Synthese des Logosgedankens mit einem universellen Personalismus. Von diesem aus erstrebt er die Begründung einer gemeinschaftsbildenden Ethik; ihr absolutes Ziel ist der christliche Gedanke des Reiches Gottes, ihr relatives Ziel ist die Überwindung der Gegensätze von Sozialismus und Individualismus, Weltbürgertum und Nationalismus. Dialektisches Geschichtsdenken und existentielle Aufforderung zum Gegenwartshandeln fordern und bedingen sich gegenseitig. S c h r i f t e n ; Idealismus u. Christentum, 1919. — Fichte u. d. Neue Testament, 1919. — Gott in der Gesch.? 1920. — D. Christusproblem d. Gegenwart. Untersuchung üb. d. Verhältnis v. Idee u. Gesch., 1922. — Hrsg.: Glaube u. Ethos, Festschrift für Georg Wehrung, 1940.

Peckham, Johannes, lebte von etwa 1240 bis 1292; 1279 Erzbischof von Canterbury. Schüler Bonaventuras und Angehöriger des Franziskanerordens. P. vertrat die Lehre Augustins gegen Thomas von Aquin und verurteilte als Erzbischof einige thomistische Schriften. Vor allem schien P. die Lehre des Thomas, daß im Menschen nur eine Form wirke, gegen die Kirchenlehre zu verstoßen, ferner die thomistische Lehre von der Entstehung und Geltung der Erkenntnis. Als Beweismittel für die Existenz Gottes anerkennt er die ontologische These Anselms von Canterbury. L i t e r a t u r : Fr. Ehrle, Arch. f. Lit. u. Kirchengesch. d. Mittelalt. V (1889) 603—635; Ztschr. f. kath. Theologie 13 (1889) 172—192. — H. Spettmann, J. Pechami Quaestiones tractantes de anima, in: Beiträge z. Gesch. d. Philos, d. Mittelalt. XIX 5—6, 19.18: D. Psychol. d. J. P., ebda. XX 6, 1919; D. Èthikkommentar d. J. P., ebda., Suppl.-Bd. II, 1923, 221—242. — A. Callebaut, J. P., O. F. M. et l'Augustinisme, Arch. Franc. Hist. 18 (1925) 441—472.

Pecqneur, Constantin, geb. 4. Okt. 1801 in Arleux (Nord), gest. 27, Dez. 1887 in Saint-Leu-Taverny. Französ. Nationalökonom und Sozialphilosoph auf religiöser Grundlage. S c h r i f t e n : Économie sociale, 2 Bde., Paris 1839. — Des améliorisations matérielles, Paris 1839. — Théorie nouvelle d'économie sociale et politique, Paris 1842. — De la paix, de son principe et de sa réalisation, Paris 1842. — De la république de dieu, Paris 1844. L i t e r a t u r : Maisonneuve, Léon, P. et Vidal, Lyon 1898. — Malou, Bénoît, C. P., Doyen du collectivisme français, Paris 1887. — J. Marié, Le socialisme de P., Paris 1906; Thèse. — Bier, Frida, D. Werk C. P.s bis 1848, in: Arch. f. d. Gesch. des Sozialismus, Bd. 14, 1929; 102—148. — Antonelli, Étienne, in: Revue d'histoire économique et sociale, Bd. 18, 1930; S. 482—504.

Peip, Albert, geb. 1830 in Zirke a. d. Warthe, gest. 28. Sept. 1875 zu Petersdorf bei Lagow. A. o, Prof. der Philosophie in Göttingen. P, neigt zum spekulativen Theismus, ist in seiner Religionsphilosophie aber auch von Schelling beeinflußt. Er sieht in der Religion „die durch göttliche Offenbarung im weiteren Sinne ursprünglich gewirkte zentrale Gemütsverfassung, welche es verhütet, daß die Vollziehung des Gottesbewußtseins im Weltbewußtsein unterlassen werde, und welche es vermittelt, daß diese Vollziehung geschehe" (Religionsphilos. 1879, S. 112). S c h r i f t e n : D, Wissenschaft u. d. gesch. Christentum, 1853. — Christosophie, 1858. — Jakob Böhme, 1860. — D. Gesch. d. Philos, als Einleitungswissenschaft, 1863. — Zum Beweis des Glaubens, 1867. — Religionsphilos., hrsg. v, Th. Hoppe, 1879.

Peipers, David, geb. 16. Juni 1838 in Frankfurt a. M„ gest. 25. Sept. 1912 ebda. Philosophieprofessor in Göttingen, Platoforscher. S c h r i f t e n : Quaestiones criticae de Piatonis legibus, 1863. — Unters, fib. d. System Piatos, 1874. — Ontologia Platonica, 1883. — D. protestant. Bekenntnis, 1897; 2. Aufl. 1899. — Hrsg. v. Lotze, Kleine Schriften, 3 Bde., 1885—91.

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Peipers, Eduard Philipp — Pelstcr

Peipers, Eduard Philipp, geb. 22. August 1811 in Köln, gest. 1879 in Solingen. Dr. med., Ârzt in Grevenbroich. Anhänger Hegels. S c h r i f t e n : System d. ges. Naturwissenschaften nach monodynamischem Prinzip, 1840- 41. — D. positive Dialektik, 1845.

Peirce, Charles Santiago Sanders, geb. 10. September 1839 in Cambridge (Mass.), gest. 14. April 1914 in Milford (Pa.). Prof. an der John Hopkins-Universität in Baltimore, an der Harvard-Universität in Cambridge und zuletzt am Lowell-Institut in Boston. — P. ist der Begründer des amerikanischen Pragmatismus, den er als ¿ine Fortentwicklung der Kantischen Philosophie und des Huineschen Empirismus betrachtet. Er führt den Namen „Pragmatismus" in die Philosophie ein in dem Aufsatz: "How to make our ideas clear". Die Bestimmung Kants, daß den Vernunftideen nur eine regulative Bedeutung für die Erfahrung zukommt, dehnt er auf alle Begriffe, besonders auf die Kategorien, aus. Auch diese gelten nur, sofern sie aus der Erfahrung stammen, und werden im Fortgang der Erfahrung ständig umgebildet. Die Wahrheit der Begriffe besteht in ihrer Bedeutung für die Erfahrung, die sie erweitern helfen, und in ihrer Nützlichkeit für das menschliche Handeln. Während James in seiner Gestaltung des Pragmatismus mehr die Bedeutung des Denkens und der Wahrheit für das Tun betont, richtet sich die Betrachtung von P. stärker auf das theoretische Bewußtsein. S c h r i f t e n : How to make our ideas clear, in: Popular Science Monthly, Jahrg. 7, 1878; frz. in der Revue Philos., Dez. 1878 u. Jan. 1879. — Studies in Logic, 1883. — Artikel im „Monist" u. Hibbert Journal. — Collected Papers, Vol, I ff, (1934 bis Vol. V), hrsg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, Cambridge U.S.A., 1932 ff. L i t e r a t u r : Bibliogr. von F. C. Russell, Hints for the Elucidation of Mr. P.s Logical Work, in: Monist, Bd. 18, 3. — Freeman, Eugene, The Categories of Ch. P., Chicago 1934. — Morris, Charles W., Peirce, Mead, and Pragmatism, in: The Philosophical Review, Vol. 47 (1938) S. 109 ff. — J. Buchler, The Philosophy of P., London 1940.

Pelagius, geb. um 360, gest. nach 429. Britischer Mönch. Gegner des Augustinus. P. lehrt, daß die menschliche Natur zur Vollkommenheit und Sündlosigkeit fähig sei; er bekämpft die Lehre von der Erbsünde und behauptet die Willensfreiheit. S c h r i f t e n : Reste von De Trinitate, De Natura u. De libero arbitrio bei J . P. Migne, Series Latina, Bd. 48, Sp. 593 ff. L i t e r a t u r : F. Wörter, D. Pelagianismus, 1866, 2. Aufl. 1874. — F. Klasen, Die innere Entw. des Pelagianismus, 1882. — Plinval, G. de, Recherches sur l'oeuvre littéraire de P., Paris 1934; aus: Revue de Philologie, Bd. 60, 1934. — Loofs, Art. P., in: Realenzyklop. für prot. Theol. u. Kirche, Bd. 15 (1904), S. 747—774.

Pelayo, s. Menéndez y Pelayo. Pelster, Franz, geb. 9. März 1880 in Lügde i. W. Dr. phil., Prof. an der Università Gregoriana in Rom seit 1921. Historiker der mittelalterlichen Theologie und Philosophie. S c h r i f t e n : Krit. Studien z. Leben u. z. d. Schriften Alberts d. Großen, 1920. — Thomas v. Sutton, O. Pr,, e. Oxforder Verteidiger d. thomist. Lehre, 1922. — La quaestio disputata de Saint Thomas de unione verbi incarnati, in: Archives de Philos., vol. 3, 1925. — S. Thomae de Aquino Quaestiones de natura fidei, 1926. — D. älteste Sentenzenkommentar aus d. Oxforder Franziskanerschule, in: Scholastik, 1926. — Duns Skotus nach engl. Handschr., in: Zeitschr. f. kathol. Theol., 1927. — Roger Marston, e. engl. Vertreter d. Augustinismus, in: Schol., 1928. — Thomae de Sutton O. P. Quaestiones de reali distinetione inter essentiam et esse, 1929. — Literaturgesch. z. Pariser theol. Schule a. d. Jahren 1230 bis 1256, in: Scholastik, 1930. — D. Leben u. d. Schriften d. Oxforder Dominikanerlehrers Richard Fishacre, in: Zeitschr. f. kathol. Theol., 1930. — lr

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Penzig — Perty

Oxford Theology and Theologians (ca. 1282 bis 1302), mit A. G. Little, 1934. — Hrsg.: Kardinal Ehrle, D. Scholastik u. ihre Aufgaben in unserer Zeit, 2. Aufl. 1933, Opuscula et textus, Series Scholastica. — Mithrsg.: Baeumker-Beiträge zur Gesch. d. Philos. des M.-A.

Penzig, Rudolf, geb. 30. Januar 1855 in Samitz, gest. 20. April 1931 in Berlin. Dr. phil.. Schriftsteller.

S c h r i f t e n : A. Schopenhauer u. d. mensjshl. Willensfreiheit, 1879. — E. Wort vom Glauben an s. Verfechter u. Verächter, 1884. — Ernste Antworten auf Kinderfragen, 1897; 6. Aufl. 1928. — Pioniere d. sittl. Fortschritts, 1902. — Massenstreik u. Ethik, 1905. — Laienpredigten v. neuen Menschentum, 1905. — Ohne Kirche. E. Lebensführung auf eigenem Wege, 1907. — D. Religionsstunde unserer Enkelkinder, 1921. — Apostata. Licht- u. Schattenbilder aus meinem Leben, 1930.

Peraten, gnostische Sekte aus dem christlichen Altertum, mit den Ophiten verwandt. Peregrinos Proteus, griechischer Philosoph im 2. Jh. n. Chr. Kyniker. P. neigte zu Schwärmerei und Mystik und wählte, um seinen moralischen Lehren ein größeres Gewicht zu verleihen, bei der Olympien-Feier des Jahres 165 n. Chr. freiwillig den Feuertod auf dem Scheiterhaufen. Er stand eine Zeitlang bei den Christen in hohem Ansehen und näherte sich ihnen, suchte aber auch Befriedigung in der Religion der Brahmanen. Wieland behandelte P.s Schicksal im Roman (1791).

L i t e r a t u r : E. Zeller, Vortr. u. Abhdlg. II (1877), 154—188. — J . Bernays, Lucian u. d. Kyniker, 1879.

Perkmann, Josef, geb. 14. Juli 1862 in Innsbruck. Promotion Dr. phil. 1884. Praktischer Pädagoge in Wien.

S c h r i f t e n : D. wissenschaftl. Grundlagen d. Pädagogik, 1906. — D. Begriff d. Charakters bei Piaton u. Aristoteles, 1909. — Dualist oder Monist? Mit oder ohne Gott? 1913.

Persaios von Kition, Schüler und vertrauter Freund des Zenon von Kition und Angehöriger der Alten Stoa. Lebte etwa von 270 v. Chr. ab mit seinem Schüler Aratos von Soloi am Hofe des Königs Antigonos Gonatas. L i t e r a t u r : J . v. Arnim, Stoic. vet. fragm. I, 435, 1921.

Persius (Aulus Persius Flaccus), 34 bis 62 n. Chr. Dichter. P. stand der späteren Stoa nahe und war ein Freund des Kornutos, S c h r i f t e n : Krit. Ausg., 4. Aufl. 1910, übers, v. Teuffei, 1857; von W. Binder, 1915. L i t e r a t u r : E. V. Marmorale, Persio, Florenz 1942.

Perty, Maximilian, geb. 17. September 1804 in Ornbau im Ansbachischen, gest. 8. August 1884 in Bern, wo er lange Zeit Professor der Zoologie, Psychologie und Anthropologie war. — Der Naturforscher P. ist Vertreter des spekulativen Theismus, ohne eigene Systembildung. Der unendliche selbstbewußte Geist, Gott, offenbart einen Teil seines Wesens im stofflichen Universum. Endziel seiner Offenbarung ist die Welt selbstbewußter Geister. Die besonderen Forschungsinteressen P.s sind der Naturwissenschaft und ihrer philosophischen Durchdringung, wie der Psychologie — vor allem den medialen Phänomenen — zugewandt. In seiner Arbeit über „Die mystischen Erscheinungen" unternimmt er deren Erklärung aus Vorgängen innerhalb des menschlichen Geistes. Magische Kräfte vorwiegend geistiger Art sind es, die jene sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen hervorrufen; sie fallen nicht unter die uns bisher bekannten Gesetze der Natur oder der Seele. Darf man annehmen, daß dies Magische im Grunde das Göttliche ist, so kommt also dem menschlichen Geist Teilhabe am Göttlichen zu. So angesehen,

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ist das Magische weder an Raum noch an Zeit noch an Individualität gebunden. P. hat später seine Ansichten gewandelt zur Deutung eines Teils der medialen Phänomene durch die Annahme von Geistern, spirits (Spiritismus), „durch die magischen Kräfte des Menschengeistes, überhaupt der Geister, stehen dieselben mit dem Innersten der Welt in Beziehung". Den mystischen Tatsachen rechnet er magische Wahrnehmung aus der Ferne zu, „durch erweiterte Wirksamkeit der individuellen Seele oder durch Einwirkung fremder Intelligenzen". P. war einer der ersten Vertreter der Tierpsychologie. S c h r i f t e n : Allg. Naturgesch., als philos. u. Humanitätswiss., 1837—41. — Zur Kenntnis d. kleinsten Lebeformen, 1852. — Üb. d. Seele, 1856. — Grundzüge d. Ethnographie, 1859. — D. myst. Erscheinungen der menschl. Natur, 1861. — D. Realität magischer Kräfte u. Wirkungen des Menschen, 1862. — Anthropolog. Vorträge, 1863. — Üb. d. Seelenleben d. Tiere, 1865. — D, Natur im Lichte d. philos. Anschauungen, 1869. — D, Anthropologie als d. Wiss. v. d. körperl. u. geistigen Wesen d. Menschen, 1873—74. — D. jetzige Spiritualismus, 1877. — D. sichtbare u. d. unsichtbare Welt, 1881. — Ohne d. myst. Tatsachen keine Psychol., 1883. — Materialisationen u. exper. Geistererscheinungen, neu hrsg., 1921. — Selbstbiographie: Erinnerungen aus d. Leben e. Naturu. Seelenforschers, 1879.

Pesch, Christian, S. J., geb. 25. Mai 1853 in Mülheim a. Rh., gest. 26. April 1925 in Valkenburg (Holland). Professor in Valkenburg. S c h r i f t e n : D. Gottesbegr. in den heidn. Religionen d. Altertums, 1885; desgl. der Neuzeit, 1888. — Christi. Staatslehre nach d. Grundsätzen d. Enzyklika vom 1. 11. 1885, 1887. — Gott u. Götter, 1890. — Praelectiones dogmaticae, 9 vol., 1893—95; 6. u. 7. Aufl. 1924 f. — Glaube, Dogmen u. geschichtl. Tatsachen, 1908. — Theolog. Zeitfragen, Folge 1—6, 1900—1916. — Christi. Lebensphilos. Gedanken üb. religiöse Wahrheiten, 1911. — Compendium theologiae dogmaticae, T. 1—4, 1913 f. — Nestorius als Irrlehrer, 1921.

Pesch, Heinrich, S. J., geb. 17. September 1854 in Köln, gest. 1. April 1926 in Valkenburg, Bruder von Tilmann P. Studierte Nationalökonomie bei Adolf Wagner. Sozialphilosoph auf christlicher Grundlage. S c h r i f t e n : Soziale Befähigung d. Kirche, 1891; 3. Aufl. 1911. — Liberalismus, Sozialismus u. christl. Gesellschaftsordnung, 2 Bde., 1899—1901. — Ethik u. Volkswirtschaft, 1918. — Neubau der Gesellschaft 1919. — Selbstbiogr. in: Volkswirtschaftslehre d. Ggwt., hrsg. v. F. Meiner, Bd. I, 1924. L i t e r a t u r : Scholastik, 11. Jg. (1936).

Pesch, Tilmann, S. J „ geb. 1. Februar 1836 in Köln, gest. 18. Oktober 1899 in Valkenburg (Holland). 1866 Priester, 1867 bis 1869 Prof. der Philosophie in MariaLaach, 1876 bis 1884 in Blyenbeek (Holland), dann in Valkenburg. P., ein Gegner Kants, vertritt als Naturphilosoph den Aristotelischen „Hylomorphismus" und einen theistischen Vitalismus. S c h r i f t e n : D. moderne Wiss. betrachtet in ihrer Grundfeste, in: Stimmen aus Maria-Laach, 1876. — D. religiöse Leben, 1878; 23. A. 1922. — Institutiones philosophiae naturalis, 1880; 2. Aufl. 1897. — D. Weltphänomen, e. erkenntnisth. Studie, 1881. — D. großen Welträtsel, 2 Bde., 1883—84; 3. Aufl. 1907. — Institutiones logic. secund. principia S. Thomae Aq., 3 Bde., 1888—90; 2. Aufl. 1919. — Seele u. Leib als zwei Bestandteile der einen Menschensubstanz, 1893. — Christi. Lebensphilos., 1895; 22. Aufl. 1923. — Institutiones psychologicae, 2 Bde., 1896—97. — Christi. Ethik, 18. u. 19. Aufl. 1920.

Pestalozza, August Graf v., geb. 12. Juli 1876 in München. Dr. phil.; Schulmann. S c h r i f t e n : Wilh. Münch, 1915. — Betr. z. Aufstieg, 1917. — Aufg. d. gesch. Darstellung d. Pädag., 1917. — D. pädag. Glaubenstreue, 1917. — D. Kulturaufgaben d. Volkshochschule, 2. Aufl. 1919. — D. Weg zum Glück, 2. Ausg. 1922. — D. Idealismus in den

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Pestalozzi

Erziehungsbewegungen d. Neuzeit, 1922. — D. Wunderkind, e. Beitrag z. Psychol. d. Hochbegabten, 1923. — Politik u. Pädagogik, 1924. — Weltanschauung u. Lebensanschauung, 1926. — D. konzentr. Unterricht (mit Messer), 1926. — D. Begriff d. Schöpferischen, 1926. Pestalozzi, J o h a n n Heinrich, geb. 12. J a n u a r 1746 in Zürich, gest. 17. F e b r u a r 1827 in Brugg (Aargau). Schweizer P ä d a g o g e und Erziehungstheoretiker, stark beeinflußt von R o u s s e a u . P . wurde von seinem sozialen Empfinden zur p r a k t i s c h e n Erziehungsarbeit a n den K i n d e r n der A r m e n und Ärmsten geführt; er wollte durch Bildung und U n t e r r i c h t den A r m e n des V o l k e s helfen, sich selbst zu helfen. S e i n e A r b e i t e n wurden grundlegend für die Entwicklung der Elementarerziehung, also insbesondere für das Volksschulwesen. Im G e g e n s a t z zu Rousseau, d e r die E r ziehung und Bildung vom G e s e l l s c h a f t l i c h e n abtrennen wollte und den R ü c k g a n g des M e n s c h e n auf die Natur forderte, sieht P. den M e n s c h e n als Sozialwesen, das in der G e m e i n s c h a f t für die G e m e i n s c h a f t gebildet w e r d e n muß; die Erziehung ist das M i t t e l zur Hebung und Vervollkommnung des Gesellschaftszustandes. E r will mit ihrer Hilfe die M e n s c h e n aus Passivität und Abhängigkeit b e f r e i e n und sie zu bewußten G e s t a l t e r n ihrer Umwelt machen: die Ausbildung der inneren K r ä f t e des M e n s c h e n und seine sittliche Vervollkommnung fällt ihm zusammen mit der Entwicklung und Höherbildung der Gesellschaft. Ein S y s t e m im eigentlichen Sinne h a t P . nicht e n t w i c k e l t ; er ging von d e r Erfahrung aus und era r b e i t e t e das sachlich notwendige V e r f a h r e n und die W e i s e der Erziehung selbständig und besonnen S c h r i t t für S c h r i t t . S c h r i f t e n : Sämtl. Werke, hrsg, v. L. W. Seyffarth, 12 Bde., 1899—1902; v. A. Buchenau, E. Spranger u. H. Stettbacher, 1927 ff. — Auswahl v. Fr. Mann, 4 Bde., 5. Aufl. 1897 ff.; v. P. Natorp, 3 Tie., 1905; v. E. Reich, 2. Aufl. 1927. — Lienhard u. Gertrud, 1781 (Erziehungsroman). — Meine Nachforschungen üb. d. Gang d. Natur in der Entw. des Menschengeschlechts, 1797. — Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 1801 (pädag. Hauptschrift). — Buch d. Mütter, 1803. L i t e r a t u r : Bibliographie, hrsg. v. A. Israel, in Monum. Germ. Paed., Bd. 25, 29, 31, 1903—04. — I. A. Green, Life and work of P., Lond. 1913. — H. G. Haack, Verglchg. d. pädag. Prinzip, v. Comenius u. P., 1918, — W, Rein, Herbart u. die Ggwt., 1918. — P. Natorp, D. Idealismus P.s, 1919. — A. Buchenau, P,s Sozialphilos., 1919. — B. Lehmann, D. Wandlungen d. Gedanken P.s üb. Volkserziehg. u. ihre Abhängigkeit v. seinen sozial. Anschauungen, 1920. — F. Delekat, P., d. Mensch, d. Philos. u. d. Erzieher, 1926; 2. A. 1928. — Stein, Arthur, P. u. d. kantische Philos., 1927. — Werneke, Franz, P. u, d. Physiokraten, 1927; in: Pädag. Magazin Nr. 1130. — Reihersberger, Wilh., P.s sozialpolit. Anschauungen, 1927. — Geissler, Heinrich, D. soziale P., 1927, — Weidemann, Jakob, H. P.s soziale Botschaft, Zürich 1927. — Schönebaum, Herbert, D. junge P. 1746—1782, 1927. — Riedel, Kurt, P.s Bildungslehre in ihrer Entw., Diss., Leipzig 1928. — Ulmer, Josef, Die Selbsttätigkeit d, Menschen in der Pädagogik P.s, 2. Aufl. 1927; in: F. Manns Pädag. Magazin, H. 1133. — Rufer, Alfred, P., d. französ, Revolution u. d. Helvetik, Bern 1928. — Asmus, Walter, P.s Theorie d. Menschenführung, Diss., Kiel 1933. — Guyot, Helene, D. Liberalismus in P.s Pädagogik, Diss., Göttingen 1935. — E. Spranger, P.s „Nachforschungen", Sitz.-Ber. Akad. Berlin, 1935. — Herbert Schönebaum, P., Langensalza 1937. — Natalie Kogan, P.s religiöse Haltung, Diss., Basel 1936. — Andreas Mehringer, P. als Fürsorgepädag., Diss., München 1937. — Heinz Mödder, P,s Einfluß auf die italien. Päd., Diss., Köln 1940. — Hugo Möller, D. weltansch. Gründl, d, Erziehungslehre P.s, Berlin 1940. — Heinr. Rupprecht, P.s Abendstunde e. Einsiedlers, Leipzig 1934. — AnneEva Brauneck, P.s Stellung z. d. Strafrechtsproblemen, Breslau 1936. — Matthias Jönasson, Recht u. Sittlichkeit in P.s Kulturtheorie, Berlin 1936. — Georg Keeser, D, Bild vom Menschen bei J . H. P., Würzburg 1938. — Karl Amann, P.s Weg z. mitmenschlichen Liebe, Diss., München 1943. — Theodor Flury, P. u. Gottheit, Diss., Zürich 1937. — Albert Hirn, D. Leibeserziehung bei P., Berlin 1941. — Herta Hois, D. Bauer in den Werken J . H. P.s, Diss., Wien 1942. — Johanna Jung, D. Spätausgabe v, P.s »Lienhard

Peter — Peters

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u. Gertrud«, Diss., Berlin 1942. — Gerhard Zeuner, P.5 Anschauungen über Staatsverf. u. Politik, Dresden 1939. — J. W. M. Henning, P. im Lichte zweier Zeitgenossen, Zürich 1944. — Heinr. Hoffmann, D. Religion im Leben u. Denken P.s, Bern 1944. — Theodor Hucke, D. Staatsauff. P.s., Diss., Heidelberg 1943. — Willibald Klinke, Begegnungen m. J. H. P., Basel 1945. — Josef Reinhart, J. H. P., Basel 1945. — Annemarie Ress, Herder u. P., Diss,, Wien 1943. — Ella Weber, P.s Stellung zum Problem der Nationalerziehung, Diss., Zürich 1944.

Peter von Ailly (Petrus de Âlliaco), geb. 1350 zu Ailly, gest. 1420 in Avignon. 1380 Doktor der Theologie, 1395 Bischof von Puy-en-Velay, 1396 Bischof von Cambrai, 1411 Kardinal, zuletzt päpstlicher Legat. Nimmt 1409 teil am Konzil zu Pisa, 1414—18 am Konzil zu Konstanz. Nominalist, Anhänger Occams. — Neben wissenschaftlichen Problemen aus den Gebieten der Philosophie, Theologie und Naturwissenschaft bearbeitet P. auch Fragen der Kirchenpolitik und des Kirchenrechts, vor allem zur Überwindung des Schismas. P. lehrt die größere Sicherheit der inneren gegenüber der äußeren Wahrnehmung und Erkenntnis und stützt diese Ansicht auf Occams Satz, daß Gott die Sinnesempfindungen erzeugen könnte, ohne daß ihnen reale Objekte zu entsprechen brauchten. Neben der in innerer Erkenntnis zu gewinnenden Sicherheit steht eine durch logisches Schließen erreichbare, gegründet auf den Satz des Widerspruchs. Das Dasein Gottes ist nicht sicher beweisbar, sondern nur natürlicherweise als wahrscheinlich anzunehmen. Gewißheit für das Dasein Gottes gewährt nur der Glaube. Im Glauben ist Gott dem Geiste unmittelbar gegenwärtig und gibt von seiner Existenz ein ebenso evidentes Urteil wie ein sichtbares Objekt von der seinigen. Gott ist unabhängig von der Ratio und darum auch in seinen Willensentscheidungen absolut frei: weil Gott es will, ist etwas gut, nicht aber will Gott etwas, weil es gut ist. S c h r i f t e n : Sentenzenkommentar, Brüssel 1478. — Destructiones modorum significando o. J. — Tract, exponibilium, Paris 1494. — Tract, sup. libros meteororum, Argent. 1504. — Tract, de legibus, in: Joh. Gersonis Opp. omn. I 778 ff. — Tract, et Sermones, o. J.; Argent. 1490. — Tract, de anima, Paris 1494. — Spéculum considerationis, Argent. 1483. — Compendium contemplationis, o. J . L i t e r a t u r : L. Salembier, Bibliog. des oeuvres du cardinal P. d'Ailly, Besançon, 1909; Dictionnaire de théologie catholique I 642—654; P. d. A., 1886. — P. Tschackert, P. v. A., 1877. — H. Siebeck, D. Willenslehre b. Duns Scotus u. s. Nachf., Zeitschr. f. Philos. 112 (1898) 212—214. — E. Hartmann, D. sinnl. Wahrnehmung nach P. d'Ailly, Philos. Jahrb. 16 (1903) 36 ff., 139 ff.

Petermann, Bruno, geb. 15. März 1898 in Kiel. Promotion Dr. phil. Kiel 1921, Habilitation Kiel 1928. Im gleichen Jahr Prof. an der deutsch-chinesischen Staatsuniversität in Shanghai Woosung. 1932 Prof. an der Pädagogischen Akademie Kiel, bei gleichzeitiger Lehrtätigkeit an der Universität, 1935 Hamburg, 1939 o. Professor Göttingen. S c h r i f t e n ; D. Wertheimer-Koffka-Köhlersche Gestalttheorie, 1929; engl. Übers. 1932. — D. Gestaltproblem in der Psychol., 1931. — Weg in die Psychol., 1933. — Fundamentalanalyse d, mathem.-didakt. Problems, 1933. — Problem d. Rassenseele, 1935. — Zum Neubau d. Volksschule in der Idee d. organ. Bildung, 1935. — Wesensfragen seelischen Seins, Leipzig 1938. — Handbuch für den Mathematikunterricht vom Standpunkt organischer Bildungsgestaltung, 1941. — Dynamische Kulturlehre, 1941.

Peters, Carl, geb. 27. September 1856 zu Neuhaus a. d. Elbe, gest. 11. September 1918 in Woltorf bei Peine. Stud. Geschichte und Nationalökonomie. Afrikareisender und -forscher, Kolonialpolitiker, — In seinem philosophischen Denken steht P. unter dem Einfluß Schopenhauers und Eduard von Hartmanns. Das Wirkliche ist vorstellender Wille. Auch der Materie liegen „wollende Atome", „beseelte Ichs" zugrunde. In ihnen individualisiert sich der göttliche Weltwille,

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Petersen — Petöcz

der absolut aktiv und unendlich daseinsvoll ist. Ihm steht das absolut Passive in Gestalt des leeren Raums entgegen. Diese Lehren verbindet P. mit der Annahme, daß die Energie der Sonne die Erde durchströmt, individuelles Sein und organisches Leben hervorruft und wieder zu sich zieht. P. ist dem Spiritismus zugeneigt. S c h r i f t e n : Schopenhauer als Schriftsteller u. Philosoph, 1880. — Willenswelt u. Weltwille, 1883. — Sonne u. Seele, 1903. — Lebenserinnerungen, 1918. L i t e r a t u r : H. T. Schorn, C. P„ 1920. — H. Schnee, C. P„ 1928; in: Dt. Biogr. Jb., Uberleitungsbd. 2. — H. Böhme, C. P., 1939.

Petersen, Peter, geb. 26. Juni 1884 in Großenwiehe (Flensburg). Promotion Jena 1908, Habilitation in Hamburg 1920. 0 . Prof. der Erziehungswissenschaft in Jena 1923. — P. ist Schüler von Wilhelm Wundt und Karl Lamprecht. Er wendet sich vom Standpunkt eines Realidealismus aus zuerst der Philosophiegeschichte und der Kulturphilosophie zu. Die Wandlung seines philosophischen Standpunktes zum Neurealismus vollzog sich durch seine Auseinandersetzung mit dem Aristotelismus. Zu ihm führte ihn die Darstellung der Philosophie Fr. Ad. Trendelenburgs. Bei diesen Studien entdeckte er zwei großen Lücken der Geschichtsschreibung deutscher Philosophie: die Verschüttung der beiden Generationen nach dem Tode Hegels, und das Vergessensem der Geschichte des Aristotelismus und der Nachwirkung dieser vom 13. Jahrhundert an mächtigen Philosophie seit der Reformation. Die Nachwirkung seiner kultur- und philosophiehistorischen Studien zeigt sich in P.s Auffassung und Gestaltung der Pädagogik. Er vertritt die Autonomie der Erziehungswissenschaft. Sie ist ihm Wirklichkeitswissenschaft und soll sich auf der ,.pädagogischen Tatsachenforschung" und auf der „pädagogischen Charakterologie" als „illusionsfreie" Wissenschaft darstellen. P. ist Gegner der idealistisch begründeten Erziehungswissenschaft und Pädagogik, ihrer Freiheitsideologie und ihrer Romantik der freien, autonomen Persönlichkeit. Seine eigene Pädagogik steht der neueren Existenzphilosophie, auch der Theologie auf reformatorischer Grundlage nahe. Praktisch pädagogisch fordert er Sachlichkeit, Pflege des schweigenden Denkens und des schweigenden Handelns, die Schule des Schweigens und der Stille, des rechten Dienens. S c h r i f t e n : D. Entw.gedanke in der Philos. Wilhelm Wundts, 1908. — D. Philos. Fr. Ad. Trendelenburgs, 1913. — Goethe u. Aristoteles, 1914. — Gesch. d. aristot. Philos. im protest. Deutschland, 1921. — Innere Schulreform u. neue Erziehung, 1925. — Wilhelm Wundt u. s. Zeit, 1925. — Allg. Erziehungswiss. I u. II, 1924 u. 1931. — D. Neueuropäische Erziehungsbewegung, 1926. — E. freie allg. Volksschule nach d. Grundsätzen neuer Erziehung, Jena-Plan I u. II, 1930. — Grundfragen d. pädag. Charakterologie, 1928. — Philos. in erziehungswiss. Beleuchtung, 1929. — Pädagogik, 1932. — Praxis d. Schulen nach d. Jena-Plan (Jena-Plan III), 1934. — Fr. Fröbel, Gotha 1942. — Führungslehre d. Unterrichts, Berlin 1937. — Jesuitenerziehung, Braunschweig 1944. — V. d. Fröbelschen «Vermittlungsschule» z. dtschen. Fröbelschule, Weimar 1940. — D. Wissenschaft im Dienste d. Lebens, Jena 1943. L i t e r a t u r : Enderlin, Max, D. Jena-Plan, in: D. neue Deutsche Schule, 1928. — Saupe, Emil, Deutsche Pädagogen d. Neuzeit, 7./8. Aufl. 1929. — H. Döpp-Vorwild, D. Weltanschauung d. Jena-Planes, in: D. neue Deutsche Schule, 1931. — Mirski, Josef, Plan Jenajski jako szkola wspölnoty, 1932. — Schwerdt, Theodor, Neuzeitl. Unterricht, 1933, in: Pädag. Handb.

Petöcz, Michael, Philosoph des 19. Jahrhunderts. — P. lehrt, daß die Welt und die Dinge aus Seelen nach Art der Leibnizischen Monaden bestehen, und daß diese Monaden in den Organismen zu bewußten Geistern werden. S c h r i f t e n : D. Welt aus Seelen, 1833. — Ansicht d. Welt, e. Versuch, d. höchste Aufgabe d. Philos. zu lösen, 1838.

Petrarca — Petraschek

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Petrarca, Francesco, geb. 20. Juli 1304 in Arezzo, gest. 18. Juli 1374 in Arquà bei Padua. Italienischer lyrischer Dichter und Ethiker. Eine pessimistische Weltstimmung trieb P. zur Auseinandersetzung mit den Dogmen des christlichen Glaubens und mit der Erfahrung des Lebens. Sein Streben ging auf Diesseitigkeit und auf irdisches Glück. Das eigene Selbst trat so in den Mittelpunkt seines Denkens. Der Pessimismus entsprang bei P. dem Erlebnis der Unmöglichkeit, die Sehnsucht nach Harmonie und dauerndem Glück zu befriedigen. Seine Hinwendung zum Ich, sein Streben, die Stellung des Subjekts, des Einzelmenschen zur Welt zu erkennen und das Selbst zu entwickeln und zu bilden, legte den ersten Grund zum Humanismus. Für seine philosophische Arbeit war ihm nicht so sehr die theoretische Wissenschaft, als vielmehr das praktische Wissen um die Stellung des Menschen zu Welt und Leben wertvoll und wichtig. — P.s praktische Lehre hatte zum Ziel: Autarkie, Selbstgenügsamkeit des Menschen durch Entfaltung, Ausbildung und Pflege seiner inneren Anlagen. Dieses Ziel ist nur durch persönliche Vereinsamung und ein Leben in der Einsamkeit zu erreichen. Die letzte Beruhigung vermag auch die Ataraxie, die Unerschütterlichkeit nicht zu gewähren. Es braucht hierfür den christlichen Glauben an Gottes Güte und Weisheit und an ein Leben nach dem Tode. Auch in dieser Beziehung zwischen menschlich-subjektiver Sehnsucht und Religion zeigt sich der humanistische und harmonistische Charakter der Moralphilosophie P.S. Entsprechend fordert er einen Staat, in dem die Regierung sich auf menschlicher Tugend aufbaut und von Liebe und Achtung gegenüber den Regierten bestimmt wird.

S c h r i f t e n : De contemptu mundi, 1472. — De vita solitaria, 1472. — De remediis utriusque fortunae, 1471. — De vera sapientia, 1485. — De sui ipsius et multorum aliorum ignorantia, 1492. — De viris illustribus, gedruckt erst Bologna 1874. — Ausg. der Opera, Basel 1496, 1554, 1581; Ergänzung: Scritti inediti di F. P., ed. A. Hortis, Triest 1874. — Nationalausg., hrsg. v. V. Rossi, 1926 ff. — Briefe, hrsg. v. Fracasetti, 7 Bde., 1859—63. — Briefwechsel m. deutschen Zeitgenossen, hrsg. v. Paul Piur, Berlin 1933. L i t e r a t u r : Ferrazzi, Bibliografia Petrarchesca, 1877. — Geiger, Ludwig, P., 1874. — P. de Nolhac, P. et l'Humanisme, Paris, 2. A, 1907. — H. Hefele, F. P., 1913. — Tatham, Edward H. R„ F. P., 2 Bde., London 1925—26. — Wolf, Eugen, P., Leipzig 1926; in: Beitr. z. Kulturgesch. des Mittelalters, Bd. 28. — Pétrarque, Mélanges de littérature et d'histoire publiés par l'Union Intellectuelle Franco-Italienne, Paris 1928. — Ruggiero, Guido de, Rinascimento, riforma e controriforma, in: Storia di filosofia, Teil 3: 2 Bde., Bari 1930. — Farinelli, Arturo, P, und Deutschland, Köln 1933; in: Veröff. d. Petrarca-Hauses, Reihe 1, 1. — Lidia Pacini, P. in d. deutschen Dichtungslehre v. Barock bis zur Romantik, Köln 1936.

Petraschek, Karl, geb. 22. September 1876 in Weyer (Ob.-Österr.). Dr. jur. 1902 in Wien. Habilitiert 1929 an der Universität München. — P. steht auf dem Boden katholischer Rechtsphilosophie. Das Recht gilt ihm als eigenartige Schöpfung im Dienste der Sittlichkeit. Es hat ihr gegenüber eine gewisse, in seiner Sicherungsfunktion begründete Selbständigkeit, die aber doch letzten Endes in Forderungen eben dieser Sittlichkeit verankert ist. Um die notwendige Verbindung zwischen Sittlichkeit und positivem, d. h. von einer äußeren Autorität gesetztem Recht herzustellen, ist die Einschaltung eines Mittelgliedes notwendig. Dieses Mittelglied ist das natürliche Recht oder das Naturrecht alten Stils. Der Sittlichkeitsgehalt des Rechts und seine Sicherungsfunktion stehen in einem gewissen natürlichen Gegensatz zueinander. Diese innere Spannung bewirkt, daß die in dem Grundgedanken des Rechts enthaltenen Teilgedanken der Sittlichkeit und der Sicherheit sozialen Lebens nur in gebrochener Gestalt zur Verwirklichung fähig sind. Die Rechtsidee ist als der geistige Ort zu betrachten, von dem aus erst die volle Einsicht in die Notwendigkeit und Bedeutung des in sich gebrochenen Wesens alles wirklichen Rechts möglich wird. Von dieser Rechtsidee

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Petrone — Petrus Aureolus

unterscheidet sich das Rechtsideal, das mit den Ländern und Zeiten wechselt und (im Gegensatz zur Rechtsidee) grundsätzlich realisierbar ist. Wird es nicht erreicht, so liegt das nur an der Schwäche von Willen und Einsicht der rechtssetzenden Autorität. Vom Rechtsideal unterscheidet sich das natürliche Recht durch seine Allgemeingültigkeit, von der Rechtsidee, wie das Recht überhaupt von seiner Idee. S c h r i f t e n : D. Logik d. Unbewußten. "E. Auseinandersetzung m. d. Prinzipien u. Grundbegriffen d. Philos. Eduard v. Hartmanns, 1926. — D. Rechtsphilos. d. Pessimismus. E. Beitrag z. Prinzipienlehre d. Rechts u. z. Kritik d. Sozialismus, 1929. — System d. Rechtsphilos., 1932. — Syst. der Philos, d. Staates u. d. Völkerrechts, Zürich 1938.

Petrone, Igino, geb. 21. September 1870 in Limosano, gest. Juli 1913 in Neapel. Prof. für Moralphilosophie in Neapel, P. vertritt einen kritischen Idealismus und einen psychischen Monismus. S c h r i f t e n : La filos. polit, contemp., 1892. — La fase recentissima della filos. del diritto in Germania, 1895. — La filos,. del diritto al lume dell'idealismo critico, 1896. — Il valore ed i limiti di una psicogenesi della morale, 1896. — I limiti del determinismo scient., 1900. — Il problema della morale, 1901. — Idee morali del tempo . . . Nietzsche e Tolstoi, 1902. — Il diritto nel mondo dello spirito, Saggio filos., 1910. — Etica, Anética, Opere posthume, Pal.

Petronieyics, Branislav. Prof. in Belgrad. — Der serbische Philosoph P. erstrebt als Metaphysiker eine Vereinigung der Philosophie von Spinoza und Leibniz in einem „Monopluralismus", der Einheit der Weltsubstanz und Vielheit der Monaden annimmt. Beschäftigt sich die Metaphysik mit der Realität, so wie sie wirklich ist, so will die Hypermetaphysik vordringen zu ihren letzten begrifflichen Bestandteilen, um zu zeigen, „wie das Seiende gemacht wird". In Verbindung mit seiner Metaphysik entwickelt P. eine neue Geometrie. S c h r i f t e n : D. ontolog. Beweis für das Dasein des Absoluten, 1897. — D. Satz v. Grunde, e. log. Unters., Diss., Leipzig 1898. — Prinzipien d. Erkenntnislehre, Prolegomena z. absoluten Metaphysik, 1900. — Prinzipien d. Metaphysik, 2 Bde., 1904—12. — D. typischen Geometrien u. das Unendliche, 1907. — Aufsätze u. Studien (serbisch), 3 Bde., 1913—1922. — Schop., Nietzsche, Spencer (serb.), 1922. — Gesch. d. neueren Philos, (serb.), 1922. — Spiritismus (serb.), 1922. — Hegel u. Hartmann (serb.), 1925. — Hauptsätze d. Metaphysik, deutsch 1930. — L'Évolution universelle, Paris 1921. — Ch. Darwin u. A. R. Wallace, Beitr. z. höh. Psychol. u. z. Wissenschaftsgesch., in: Isis 1925, VII, 1. L i t e r a t u r : R. Anthony, Resumé des travaux philosophiques et scientifiques de B. P., in: Revue générale des sciences pures et appliquées, Nr. 50 (1939), S. 312 ff.

Petrus Aureolus, geb. in Gourdon in der Grafschaft Quercy, gest. 1322 in Avignon. Franziskaner, 1318 Magister der Theologie in Paris, 1321 Erzbischof von Aix, Kardinal. Vertreter des Nominalismus und einer empiristischen Denkweise. Die Universalien besitzen nach P.s Lehre keine Objektivität, sondern sind Conceptus, die der Intellekt bildet, ohne daß den Unterschieden, die in ihnen gesetzt werden, in der realen Natur etwas entspricht. Der Conceptus ist das Ding, insofern es im Bewußtsein intendiert wird. Der Prozeß, der zur Bildung des Conceptus führt, heißt Conceptio. J e nach der Intensität und Deutlichkeit des Eindrucks sind die Conceptus untereinander verschieden. Der Conceptus ist nicht nur Medium, durch das der Zugang zum realen Ding führt, sondern selbst das Objekt der Erkenntnis. P. ordnet die Erkenntnis des Einzelnen der Erkenntnis des Allgemeinen nach Rang und Wert über und bezeichnet die Erfahrung als das eigentliche Fundament der Wahrheit. S c h r i f t e n : Sentenzenkommentar; Quodlibeta, gedruckt 1596 u. 1605. — De paupertate, Paris 1512. — Compendium sacrae scripturae, Straßburg 1476 u. 1514.

Petrus Damiani — Petrus Lombardus

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L i t e r a t u r : R. Dreiling, D. Konzeptualismus in der Universalienlehre d. Franziskanererzbisch. P. A., Beitr. z. Gesch. d. Philos. d. M.-A.s XI, 6, 1913; dazu: B. Geyer, Theolog. Revue 12 (1913) 375—377. — C. Prantl, Gesch. d. Logik III 319—327, 1867. — Rainulf Schmücker, Propositio per se nota. Gottesbeweise u. ihr Verhältnis z. P. A., 1941, Franziskanische Forschungen H. 8.

Petrus Damiani, geb. 1007 in Ravenna, gest. 1072 in Faenza. 1057 Kardinalbischof von Ostia. P. bekämpft die Dialektik und die Profanwissenschaften, sofern sie gegen die geoffenbarte Wahrheit aufzutreten versuchen. Es kann schon deshalb keine wahre und auf sich selbst gestellte Wissenschaft geben, weil das Naturgeschehen keine allumfassende Gesetzlichkeit "besitzt. Man kann nur gewisse Regeln des Naturgeschehens feststellen, denen aber ein« unumstößliche Notwendigkeit nicht zukommt. Für diese Ansicht beruft sich P. auf die göttliche Allmacht, der es möglich ist, mit derselben Leichtigkeit die Naturnotwendigkeit aufzuheben, wie sie ihr Wirksamkeit gab. Darum können wir uns nicht einmal für unser Erkennen auf den Satz des Widerspruchs stützen. Auch er gilt nur für unsere Auffassung der Natur, die äußerst mangelhaft ist, nicht aber für Gott und seine Allmacht. P. verlangt daher die Unterordnung alles Denkens unter göttliche Autorität und göttliche Offenbarung. Die Theologie, nicht die Dialektik, besitzt den Primat für die wahre Erkenntnis: die Philosophie ist die Magd der Theologie. S c h r i f t e n : J. P. Migne, Patrologia Latina, Bd. 144—145, Paris 1867. L i t e r a t u r : Biron, Reginald, S. Pierre D., 1908. — J . A. Endres, P. D. u. d. weltl. Wissensch., in: Beitr. z. Gesch. d. Philos. d. M.-A.s, VIII 3, 1910. — L. Kühn, P. D. u. s. Anschauungen üb. Staat u. Kirche, 1913. — V. Bartozetti, Una interpretazione mistica della natura in S. P. D., Scuola Catt. 54 (1926) 264—276, 338—352. — Friedrich Sekel, Geistige Grundlagen P. D.s, Diss., Berlin 1933.

Petrus de Hibernia. Lebte von etwa 1240 bis etwa 1266 in Neapel als Lehrer der Naturphilosophie im Dominikanerkloster. Lehrer des Thomas von Aquino. Petras Hispanus, geb. etwa 1220 in Lissabon, gest. 1277. 1273 Kardinalbischof von Tusculum, 1276 als Johann XXI. Papst. Wie Wilhelm Shyreswood ist P. Vertreter der dritten Phase mittelalterlicher Logik, der Logica modernorum. Sein Werk „Summulae logicales" wurde viel benutzt und häufig kommentiert; es war die Grundlage für den Logikunterricht der folgenden Jahrhunderte und umfaßt die Abschnitte: 1. De enuntiatione (Über den Satz); 2. De universalibus (Uber die Allgemeinbegriffe); 3. De praedicamentis (Über die Kategorien); 4. De syllogismo (Vom Schluß); 5. De locis dialecticis (Topik); 6. De fallaciis (Uber Täuschungen); 7. De terminorum proprietatibus (Über Ersetzung des eingeschlossenen Begriffs durch den umfassenderen, über Erweiterung und Verengung der Bedeutung eines Ausdrucks u. a.). S c h r i f t e n : Summulae logicales, zuerst 1480. L i t e r a t u r : C. Prantl, Gesch. d. Logik III 32—74, 1858—1870. — R. Stapper, Die Summulae logicales des P. H. u. ihr Verh. zu Michael Psellus, 1896. — K. Krumbacher, Papst Joh. XXI, 1898. — M. Grabmann, E. ungedrucktes Lehrbuch d. Psychol. des P. H., in: Span. Forschungen der Görresgesellschaft, Tl. 1, 1928; hrsg. v. H. Finke.

Petrus Lombardus, geb. in Lumello bei Novara (Lombardei), gest. wahrscheinlich 1160 in Paris. 1159 Bischof in Paris. Das Hauptwerk des P. sind seine Libri quattuor sententiarum (1150 bis 52), in denen er die Lehren der Kirchenväter in wörtlichen Zitaten zusammenstellte. Diese Sammlung genoß bis ins 16. Jhdt. ein außerordentliches Ansehen, wurde zur Grundlage des theologischen Studiums und zum Anlaß für die Entstehung ungezählter Sentenzenkommentare.

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Petrus Peregrinus de Maricourt — Petzoldt

S c h r i f t e n : Libri IV Sententiarum, 2 Bde., 2. ed., Quaracchi 1916; bei Migne, Patrol. Latina, Bd. 66 u. 67. L i t e r a t u r : J . N. Espenberger, D. Philos, d. P. L. u. ihre Stellung im 12. Jhdt., in: Beiträge z. Gesch. d. Philos, d. Mittelalters (1901) Bd. 3, Nr. 5. — O. Baltzer, D. Sentenzen d. P. L., ihre Quellen u. ihre dogmengesch. Bedeutung, Studien z. Gesch. d. Theol, u. Kirche, 8 (1902) H. 3. — M. Grabmann, D. Gesch. d. scholast. Methode (1911) II 359—407. — J. Schupp, Die Gnadenlehre des P. L., 1932. — Artur Landgraf, D. Stellungnahme d. Frühscholastik z. wiss. Meth. d. P. L., Assisi 1934, in: Collect. Francisc. T. 4, fasc. 4. — Johann Schupp, D. Gnadenlehre des P. L., Freiburg 1932.

Petrus Peregrinus de Maricourt (Mahariscuria, heute Méharicourt in der Picardie), lebte in der zweiten Hälfte des 13. Jhdts., Vorläufer des Roger Bacon in seiner mathematisch-experimentellen Tendenz. P. wollte die Möglichkeit des Irrtums aus den Wissenschaften ausschalten durch Anwendung des Experiments in Naturphilosophie und Mathematik. Er erprobte die Macht de]]j.eiojas(uv,in der er an Vorträge seines Lehrers, des Epikureers Zenon, anknüpfte, eine Theorie der induktiven und analogischen Schlüsse zu geben versuchte. Der Analogieschluß ist der Weg von der erscheinenden Wirklichkeit zur unbekannten. S c h r i f t e n : Verzeichnet bei Überweg, Bd. I, 12. Aufl. 1926, S. 439—441. — Th. Gomperz, Herkul, Stud., 1. Heft: Ph. über Induktionsschlüsse (. re pi