Philologus: Band 116, Heft 1 [Reprint 2022 ed.]
 9783112640562

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PHILOLOGUS Z E I T S C H R I F T FÜR K L A S S I S C H E

PHILOLOGIE

Herausgegeben vom

Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin

Band 116 Heft 1

1972

A K A D E M I E s V E R L A G / B E R L I N in Arbeitsgemeinschaft mit der D I E T E R I C H ' S C H E N V E R L A G S B U C H H A N D L U N G G.m.b.H. WIESBADEN

REDAKTIONSBEIRAT: Robert Browning (London), William M. Calder III (New York), Vladimir Georgiev (Sofija), Istvän Hahn (Budapest), Jacques Heurgon (Paris), Karel Janäiek (Praha), Dimitri P. Kalüstov (Leningrad), Kazimierz Kumaniecki (Warszawa), Benedetto Marzullo (Bologna), Haralambie Mihäescu (Bucure?ti), Wolfgang Schmid (Bonn), Rolf Westman (Abo) REDAKTIONSKOLLEGIUM: Walter Hofmann, Johannes Irmscher, Fritz Jürß, Friedmar Kühnert, Ernst Günther Schmidt, Wolfgang Seyfarth VERANTWORTLICHER R E D A K T E U R : Ernst Günther Schmidt Stellvertretender verantwortlicher Redakteur: Fritz Jürß Redaktionssekretärin: Dietlind Schieferdecker

Die Mitarbeiter werden gebeten, die Manuskripte, Korrekturen und sonstige geschäftliche Post an das ZentrallnBtitut für Alte Geschichte und Archäologie, Deutsche Akademie der Wissenschaften, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4, Redaktion „Philologus", zu senden und am Schluß der Manuskripte ihre Adresse stets genau anzugeben. Der Verlag liefert den Verfassern 30 Sonderdrucke eines jeden Beitrages unentgeltlich. Bestellungen auf weitere Sonderdrucke gegen Berechnung bitten wir spätestens bei der Übersendung der Korrektur aufzugeben; ihre Bezahlung erfolgt durch Abzug vom Honorar.

Verlag: Akademie-Verlag GmbH, in Arbeitsgemeinschaft mit der Dleterich'schen Verlagsbuchhandlung GmbH, Wiesbaden; 108Berlin, Leipziger Str. 3 - 4 , Fernruf 220441, Telex-Nr. 0112020, Postscheckkonto: Berlin 35021. Bestellnummer der Zeitschrift: 1031. Die Zeitschrift erscheint jährlich in einem Band zu zwei Heften. Bezugapreis je Heft im Abonnement 24,— M zuzüglich Bestellgeld. Sonderpreis für die DDR 18,— M. Veröffentlicht unter der Lizenznummer 1297 des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik. Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", DDK-74 Altenburg.

REIMAR MÜLLER

H E G E L U N D MARX Ü B E R D I E ANTIKE KULTUR „... Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Jliade' mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie? Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten. Ein Mann kann nicht wieder zum Kinde werden, oder er wird kindisch. Aber freut ihn die Naivetät des Kindes nicht, und muß er nicht selbst wieder auf einer höhren Stufe streben, seine Wahrheit zu reproduzieren? ... Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? ..." (K. M A R X , Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie1). Viel zitierte Worte, eine der wichtigsten Äußerungen von M A R X ZU den Problemen der Ästhetik, der Literatur und Kunst. Aber auch umstrittene Worte, die in ihrer konzisen Prägnanz der Interpretation bedürfen und eine z. T. recht unterschiedliche Deutung erfahren haben. Zu wenig beachtet wird häufig der überaus enge Zusammenhang, der M A R X ' Überlegungen mit bestimmten Konzeptionen der klassischen deutschen Ästhetik verbindet, ein Zusammenhang, der über die offenkundigen Anklänge in der Terminologie weit hinausgeht. Zu wenig beachtet wird von anderen das Neue, über die Positionen der klassischen Ästhetik Hinausweisende in M A R X ' Auffassung, eine Differenz, die man nicht erkennen kann, wenn man die Stelle isoliert von den Voraussetzungen der gesamten ästhetischen Theorie von M A R X betrachtet. Verweilen wir noch einen Augenblick bei den zitierten Sätzen von M A R X . Bereits in der rhetorischen Frage nach der Möglichkeit eines „Achilles mit Pulver und Blei" klingen eingehende Überlegungen wider, die H E G E L in seiner „Ästhetik" über die „Prosa des modernen Lebens" und ihre Unvereinbarkeit mit den ursprünglichen Bedingungen epischer Kunstübung 1

K . MARX -

F . ENGELS, Werke, B d . 13, Berlin 1969, 641 f. (abgekürzt M E W ) .

1 Zeitschrift „Philologus" 1

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angestellt hat. Es wird noch davon zu sprechen sein, wie MARX diese Gedanken HEGELS historisch konkretisiert und vertieft hat. Hier möge zunächst ein Hinweis darauf genügen, daß HEGEL im Vergleich der Wesensmerkmale „modernen" Lebens mit den Bedingungen epischer Kunst in der Antike seinerseits einen Vorgänger in HERDER hat, in dessen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" es heißt: „Daß dieser Zeitenfortgang auch auf die Denkart des Menschengeschlechts Einfluß gehabt habe, ist unleugbar. Man erfinde, man singe jetzt eine Iliade; man schreibe wie Aschylus, Sophokles und Plato: es ist unmöglich. Der einfache Kindersinn, die unbefangene Art, die Welt anzusehen, kurz, die griechische Jugendzeit ist vorüber ..." 2

Daß sich MARX mit dem Hinweis auf Werke der griechischen Kunst als Norm und unerreichbare Muster auf eine Grundmaxime der klassischen deutschen Ästhetik bezieht, muß nicht eigens hervorgehoben werden. Aber auch der in den zitierten Worten HERDERS anklingende Vergleich der Antike mit der Kindheit oder Jugend der Menschheit, dessen sich MARX gleichfalls bedient, ist eine wichtige Kategorie im Begriffsapparat der klassischen deutschen Philosophie und zuvor bereits der Philosophie der französischen Aufklärung. Es wird deutlich, daß uns unser Thema über die Begrenzung, die mit den Namen HEGEL und MARX bezeichnet ist, hinausführen wird. Aber diese beiden Namen bezeichnen (entsprechend ihrer Bedeutung für das philosophische und historische Denken allgemein) die herausragenden Positionen in der Entwicklung der Ästhetik, deren Ausbildung in der Neuzeit mit der Besinnung auf die antike Kunst unmittelbar verbunden ist: HEGEL, der die großen Leistungen der klassischen deutschen Ästhetik zusammenfaßt und zur Vollendung führt, und MARX, der bei aller Nähe zur klassischen Tradition auch auf diesem Gebiet einen Neubeginn setzt. Denn dies ist die Frage: Geben die hier angedeuteten Zusammenhänge begründeten Anlaß zu der Auffassung, daß der die gesamte Philosophie und Wissenschaft revolutionierende Denker MARX auf diesem Feld in einem sonst ungewohnten Maß rein rezeptiv und der Tradition verpflichtet bleibt? H a t der Literaturhistoriker HANS MAYER recht, der in einem der Würdigung oder vielmehr Verkleinerung der Leistungen MARX' auf dem Gebiet der Ästhetik und Literaturtheorie gewidmeten Beitrag zu dem Schluß kommt, MARX werde hier „plötzlich zum Schillerianer in der Sehnsucht nach der verlorenen Naivität mitten im sentimentalischen Zeitalter" 3 ? Brechen wir zunächst ab. Das Thema der vorzunehmenden Untersuchung ist umrissen. Es kann im Rahmen dieses Beitrags nicht darum gehen, die 2 J. G. H E R D E R , Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von H. STOLPE, Berlin und Weimar 1965, 2, 242f. (abgekürzt Ideen). 3 H. M A Y E R , Karl Marx und die Literatur, Merkur 22, 1968, 822.

Hegel und Marx über die antike Kultur

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Fülle alles dessen auszubreiten, was H E G E L und M A R X an wertvollen Untersuchungen, Beobachtungen und Bemerkungen über einzelne Phänomene der antiken Kultur hinterlassen haben. Für jeden der beiden Denker wäre eine — übrigens aus der Sicht der interdisziplinären Forschung dringend erwünschte — Monographie zu diesem Thema zu erarbeiten4. Hier geht es um die grundsätzliche Bewertung der antiken Kultur: 1. um deren Stellung im Prozeß der Universalgeschichte, 2. um die besonderen gesellschaftlichen Voraussetzungen der Entstehung der antiken, besonders der griechischen Kunst und 3. um deren übergreifende Wirkung auf die nachfolgenden historischen Perioden, um ihre Bedeutung für das kulturelle Erbe. Die drei MARXschen Fragestellungen „Kindheit der Menschheit", „Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei?" und „Norm und unerreichbare Muster" werden uns als Leitfaden dienen.

I.

Der Lebensaltervergleich, die Analogie zwischen dem Lebensablauf eines Individuums und der Geschichte eines Volkes oder den universalgeschichtlichen Entwicklungsstufen der Menschheit, steht nicht nur am Anfang der neuzeitlichen europäischen Geschichtsphilosophie, sondern hat seinen Ursprung bereits in der Antike5. Nach einem Ansatz bei Piaton ist er mit Bezug auf die römische Geschichte beim jüngeren Seneca, bei Florus und Ammianus Marcellinus greifbar. Eine christliche Version, bezogen auf die Heilsgeschichte, bietet Augustin. Uns interessiert, wie die Entwicklung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie mit der Entfaltung und immer reicheren Ausbildung dieses Denkschemas, dieser methodologischen Hilfskonstruk4 Aus der Reihe der Aufsätze und Einzeluntersuchungen, die dem Verhältnis HEGELS zur Antike gewidmet wurden, seien genannt: E. WOLF, Hegel und die griechische Welt, Antike und Abendland 1, 1945, 163 ff. ; J . STENZEL, Hegels Auffassung der griechischen Philosophie, in: Kleine Schriften zur griechischen Philosophie, Darmstadt 1956, 308ff.; L. SICHIROLLO, Hegel und die griechische Welt, in: AiaXlfEadai-Dialektik, Hildesheim 1966, 185ff. ; O. PÖGGELER, Hegel und die griechische Tragödie, Hegel-Studien, Beiheft 1, Bonn 1964; J . D'HONDT, Problèmes de la religion esthétique, Hegel-Jahrbuch 1964, 34ff. Von den vorliegenden allgemeinen Arbeiten über das Thema „Marx und die Antike" nennen wir: J . IRMSCHER, Karl Marx studiert Altertumswissenschaft, Wiss. Zeitschr. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschaftswiss. und sprachwiss. Reihe 3, 1953/54, 207 ff. ; R. SANNWALD, Marx und die Antike, Staatswiss. Stud. N. F. 27, Zürich 1957; E. CH. WELSKOPF, Die Produktionsverhältnisse im Alten Orient und in der griechisch-römischen Antike, Berlin 1957; M. LIFSCHITZ, Karl Marx und die Ästhetik, Dresden 1960; H. KOCH, Marxismus und Ästhetik, Berlin 1962. 5 Vgl. R. HÄTTSSLER, Vom Ursprung und Wandel des Lebensaltervergleichs, Hermes 92, 1964, 313 ff.

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tion zusammenhängt. Bereits bei FRANCIS BACON und Vico wird deutlich, was sich dann in der gesamten Geschichtsphilosophie der Aufklärung verfolgen läßt: daß die Wurzeln der mit dem Lebensaltervergleich erstrebten Besinnung auf die frühen Kulturen, besonders die der Antike, in dem praktisch-ideologischen Bedürfnis der um ihren Aufstieg ringenden bürgerlichen Gesellschaft zu suchen sind, gegenüber den einerseits bewunderten und im Kampf gegen die feudale Ideologie begierig aufgegriffenen, andererseits in Gestalt dogmatisch fixierter Lehrsätze der Philosophie und der Wissenschaften, nicht zuletzt in den Formen christlich-scholastischer Umdeutung auch vielfach lastenden Traditionen der Antike die eigene Position zu bestimmen6. Diese Problematik ist auch der Kern der großen Auseinandersetzung, die am Ende des 17. und im 18. Jh. in Frankreich über Werte und Mängel, Yorbildhaftigkeit und Unzulänglichkeit der antiken Kultur geführt wurde und unter dem Namen „Querelle des Anciens et des Modernes" bekannt ist7. Auch in der deutschen Philosophie der Aufklärung und der klassischen Periode bildet der Lebensaltervergleich ein Kernstück der geschichtsphilosophischen Theorie und erweist sich — ungeachtet der Gefahr des Abgleitens in eine biologistische Deutung gesellschaftlicher Phänomene — in gewissen Grenzen als fruchtbar für die immer tiefer vorgetriebenen Versuche, Weltgeschichte als einheitlichen Prozeß zu erfassen und in diesem Prozeß eine Gesetzmäßigkeit als wirksam zu erkennen8. Neben heute nur 6 F . BACON erkennt an, daß die modernen Wissenschaften auf der Grundlage der wissenschaftlichen Entdeckungen der Griechen entstanden sind, kritisiert diese aber vom Standpunkt eines empirisch-experimentellen Wissenschaftsbegriffs. Das Bild von den Griechen als den „Kindern der Menschheit" bekommt aus dieser Sicht einen negativen Akzent: Typisch knabenhaft, seien die Griechen auch in den Wissenschaften groß in Worten, unfähig zu Taten (Das neue Organon, hrsg. von M. BITHK, Berlin 1962, 76f.). — Vico erklärt, daß die ersten Völker als die „Kinder des menschlichen Geschlechts" zuerst die Welt der Künste begründet hätten, erkennt aber auch gewisse Leistungen der griechischen Wissenschaft an (Die Neue Wissenschaft, übers, u. eingel. von E. AITERBACH, München 1924, 210f.). Zur unterschiedlichen Bewertung von Künsten und Wissenschaften der Antike in der „Querelle" vgl. unten Anm. 19.

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Vgl. W. KRAUSS, Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes, in: Essays zur französischen Literatur, Berlin und Weimar 1968, 130ff.; ferner: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 1 8 . Jahrhunderts, hrsg. und eingel. von W. K R A U S S und H . KORTUM, Berlin 1 9 6 6 . 8 Die Gefahr einer methodologischen Überspannung in der Verwendung der Analogie, besonders hinsichtlich der mit ihrem Gebrauch verbundenen Beschränkung auf Teilbereiche der asiatischen und auf die europäische Geschichte h a t H E R D E R in der Einleitung zu den „Ideen" selbst hervorgehoben: „ . . . und doch war mir es nie eingefallen, mit den wenigen allegorischen Worten: Kindheit, Jugend, das männliche, das hohe Alter unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerstraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Geschichte der Kultur, geschweige die

Hegel und Marx über die antike Kultur

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noch peripher erscheinenden Anwendungen bei frühen Vertretern der Kulturgeschichte wie ISELIN und ADELUNG 9 finden wir den Gedanken vor allem bei H E R D E R , SCHILLER und H E G E L . E S ist sehr bemerkenswert, wie bei der Betrachtung der geschichtsphilosophischen Analysen dieser Denker die eingangs bei MARX hervorgehobenen Gesichtspunkte des Lebensaltervergleichs, der historischen Entstehungsbedingungen der antiken Kultur und der „Musterhaftigkeit" der griechischen Kunst in Übereinstimmung und Differenz hervortreten. Als zwei der bedeutsamsten Vorstufen der HEGELschen Analysen bedürfen die Gedanken HERDERS und SCHILLERS einer kurzen Erläuterung 10 . H E R D E R hat in seiner frühen Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" die Abfolge der Lebensalter zum Gerüst für seine Darstellung der Geschichte des Mittelmeerraumes nach genetisch-universalgeschichtlichen Prinzipien gemacht. Der so häufig zu Unrecht als Gegner der Aufklärung apostrophierte H E R D E R zeigt sich bereits hier — und später in wachsendem Maße — von der Geschichtsphilosophie der französischen Aufklärung beeinflußt. Zwar bezieht er in dieser Schrift noch nicht die Geschichte des fernen Ostens (Chinas und Indiens) in die Betrachtung ein, aber indem er die Geschichte des Vorderen Orients und Ägyptens als „Kindheits- und Knabenalter" der Entwicklung im Mittelmeerraum in den Blick faßt, ist der einseitige Bezug auf Griechenland und Rom prinzipiell überwunden. So hebt H E R D E R den inneren Entwicklungszusammenhang der alten Kulturen hervor: „Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientalier sein, der Grieche bauete auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt . . . " u Für eine einseitige Verherrlichung des Griechentums ist bei Herder kein Platz mehr. So finden wir bereits in diesem frühen Werk die bemerkenswert kritischen Worte über Winckelmann, er habe „über die Kunstwerke der Ägypter offenbar nur nach griechischem Maßstabe geurteilt, sie also v e r n e i n e n d sehr gut, aber n a c h e i g n e r N a t u r u n d A r t so wenig geschildert, daß fast bei jedem seiner Sätze in diesem Hauptstück das offenbar Einseitige und Schielende vorleuchtet" 12 .

Trotzdem bekennt sich H E R D E R bereits in dieser frühen Schrift wie in seiner reifen Schaffensperiode zu dem Gedanken, daß in der griechischen Philosophie der ganzen Menschengeschichte mit sicherm Fuß ausmessen könnte" (Ideen, Bd. 1, 7f.). 9 I. ISELIN, Philosophische Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit, Zürich 1764; J. CHR. ADELTTNG, Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, Leipzig 1782. 10 Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, von den übrigen vielfältigen Ausprägungen des Antikebildes der klassischen deutschen Literatur und Philosophie zu sprechen und damit die Voraussetzungen, von denen HEGEL auf diesem Gebiet ausgegangen ist, in ihrem vollen Umfang zu umreißen. Zu G. FORSTER vgl. unten Anm. 48. 11 HERDERS Sämtliche Werke, hrsg. von B. SUPHAN, Bd. 5, Berlin 1891, 513. 12 Sämtliche Werke, Bd. 5, 491.

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K u n s t eine leuchtende Höhe erreicht sei, die von keinem Späteren überboten werden könne. Es verdient nun Beachtung, wie H E R D E R diesen Standpunkt zu begründen sucht, ohne dabei von seinem Grundsatz abzuweichen, daß es dem Historiker und Philosophen nicht erlaubt sei, bei der G e s a m t bewertung der weltgeschichtlichen Entwicklung einer bestimmten Zeit oder bestimmten Völkern einseitig den Vorzug zu geben13. In der Schrift „Auch eine Philosophie" bereits anklingend, wird diese Konzeption in den „Ideen" im einzelnen ausgeführt. Bei dem Versuch, gewisse Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen Entwicklung aufzudecken (in Kategorien übrigens, die als ein bemerkenswerter Vorgriff auf modernes Systemdenken erscheinen), gelangt H E R D E R zu der Feststellung, daß sich bei den Völkern zu unterschiedlichen Zeiten auf verschiedenen Gebieten des kulturellen Lebens gewisse Höhepunkte (Maxima) herausbilden, die nur auf der Grundlage einmaliger spezifischer Bedingungen möglich und in dieser Form nicht wiederholbar seien14. Die Entwicklung erfolge durchaus nicht gleichmäßig auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, der Höchststand auf der einen könne eine geringe Entfaltung auf der anderen Seite nicht ausschließen. Beide seien vielmehr wechselseitig bedingt. Ein solches „Maximum" sah H E R D E R in der griechischen Kunst historische Realität geworden 15 .

Bei aller Beachtung der spekulativen Züge der HERDERschen Geschichtsphilosophie ist doch zu bemerken, daß hier der Gedanke der „ungleichmäßigen Entwicklung" vorgeprägt ist, der später von M A R X im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Basis und Überbau im Sinne des historischen Materialismus entwickelt worden ist. Bei H E R D E R finden wir die richtige Einsicht in dieUnwiederholbarkeit der historischen Erscheinungen16 indessen 13

Sämtliche Werke, Bd. 5, 591. Ideen, Bd. 2, 231 ff. 15 „Je feiner nun dieser Verstand überlegte, je näher er dem Punkt kam, der ein Höchstes seiner Art enthält und keine Abweichung zur Rechten oder Linken verstattet, desto mehr wurden seine Werke Muster; denn sie enthalten ewige Regeln für den Menschenverstand aller Zeiten. So lasset sich z. B. über eine ägyptische Pyramide oder über mehrere griechische und römische Kunstwerke nichts Höheres denken" (Ideen, Bd. 2, 234). Gegenüber dieser differenzierenden, die höchste Ausprägung e i n e s bestimmten Prinzips, e i n e r bestimmten Form in den Blick fassenden Formulierung gibt es aber auch das pauschale Urteil, daß „uns die Alten, die an Sitten und Staatsverfassung so entschieden voraus waren, an Künsten unerreichbar sind, wir sie aber in Bildung und Vernunft übertreffen" (Sämtliche Werke, Bd. 30, Berlin 1889, 517). Der Vorrang der griechischen Kunst wird in deren genetisch bedingtem Gesamtcharakter gesehen, der an eine bestimmte historische Stufe gebunden ist: „Auch der schlechteste griechische Künstler ist seiner Manier nach ein Grieche; wir können ihn übertreffen, die ganze genetische Art der griechischen Kunst aber werden wir nie erreichen: der Genius dieser Zeiten ist vorüber" (Ideen, Bd. 2, 119). 14

16 H E R D E R kommt es darauf an, jeder Epoche in ihrer Eigengesetzlichkeit und nach dem Maß der ihr inhärenten Möglichkeiten gerecht zu werden. Der Gedanke der Unwiederholbarkeit verschiebt sich so von dem negativen Gesichtspunkt der Unerreichbarkeit bereits stärker auf den positiven Aspekt, daß jeder Epoche bestimmte Merkmale eigen sind, die in dieser Form nicht reproduziert werden können: „Unsere Jugend kommt nicht wieder; mithin auch nie die Wirkung unserer Seelenkräfte, wie sie dann und dort war" (Ideen,

Hegel und Marx über die antike Kultur

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mit einem sich zäh behauptenden Glaubenssatz der klassischen deutschen Ästhetik verknüpft, mit dem Dogma von der Unüberbietbarkeit der griechischen Kunst. Auch für die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen der antiken Kulturentwicklung hat HERDER wesentliche Gedanken geäußert. Mit seiner „Klimatheorie", die die Einseitigkeiten und Fehler MONTESQTTIEUS bereits weitgehend überwindet, indem sie die Bedeutung des Klimas im ursprünglichen geographischen Sinn einschränkt und statt dessen die Herausbildung der gesellschaftlichen Formen in der Zeit stärker betont, und mit einer Vielzahl von eindringenden Beobachtungen und Untersuchungen zu Grundzügen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Antike hat HERDER Beiträge geliefert, die nicht immer die ihnen gebührende Beachtung finden 17 . Mit dem Gedanken von der Unwiederholbarkeit in der universalgeschichtlichen Entwicklung hatte HERDER dem Lebensaltervergleich und der Gleichung Antike — Jugend der Menschheit einen Aspekt abgewonnen, der vom steigenden Selbstbewußtsein des auch in Deutschland in seine historische Funktion hineinwachsenden Bürgertums Zeugnis ablegt. Das Ideal einer einfachen Wiederherstellung antiker Verhältnisse, das von der Renaissance an in verschiedensten Spielarten der politischen und kulturellen Idealbildung über die französische Aufklärung und die Ideologen der Französischen Revolution bis hin zum jungen HEGEL einen wesentlichen Inhalt der „heroischen Illusionen" 18 des Bürgertums bildet, ist damit bereits einer stärkeren Historizität gewichen. In einer gewissen Spannung zu diesem Fortschritt blieb aber der Glaube an die absolute Unerreichbarkeit und Unüberbietbarkeit der Antike auf dem e i n e n Gebiet der K u n s t bestehen 19 . SCHILLER hat diese Spannung zum Ausgleich gebracht. Bd. 2, 155), vgl. unten S. 21. Der Gedanke, daß die griechische Kunst für die Moderne Gegenstand einer wie auch immer gearteten Nachahmung sein könne, hat für HERDER keine Gültigkeit mehr. 17 Eine Würdigung der H E R D E R s c h e n Geschichtsphilosophie auch in ihrer Bedeutung für den historischen Materialismus bei M. BUHR — G. IRRLITZ, Der Anspruch der Vernunft, Teil I, Berlin 1968, 194ff. 18 Vgl. IC. MARX, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, Berlin 1969, 115ff. über die „weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen" der bürgerlichen Revolutionen. 19 Zu den Wurzeln dieser Anschauung, die sich gewissermaßen als Ergebnis der „Querelle" herausbildet, vgl. W. KRATJSS, a. O. 165ff. Der Anspruch auf Überlegenheit der Moderne wurde zunehmend auf die Wissenschaft beschränkt, dagegen der Antike auf dem Gebiet der Kunst ein absoluter Vorrang zugebilligt. MARIVAUX und Du Bos begründen diese Position mit der größeren Ursprünglichkeit, Natürlichkeit und Wahrheit der frühen Kunst. Ähnliche Gedanken sind auch für VOLTAIRE bestimmend. Für die Weiterführung dieser Gedanken in der klassischen deutschen Ästhetik vgl. das im folgenden S. 8f. Ausgeführte.

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S C H I L L E R hat in seinen ästhetischen Schriften die Gegenüberstellung von antiker, besonders griechischer Kultur und feudaler und bürgerlicher Kultur der Gegenwart in einem Maße zum Instrument der Kritik an dieser Gegenwart geschärft wie kein anderer vor ihm. Als besonders bemerkenswert erscheint dabei, daß es SCHILLER gelang, über die Problematik der Kunst hinaus zur Erkenntnis bestimmter Wesenszüge der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu gelangen. Die Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen" bezeugen tiefe Einsichten in die enthumanisierenden Folgen einer hochgradigen Arbeitsteilung. So lesen wir in diesem Zusammenhang:

„... und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind" 20 .

Wir müssen hier nicht betonen, daß SCHILLERS historische Einsichten sich im ganzen nicht auf die Erkenntnis der in der Tiefe wirkenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gründen, sondern lediglich Symptome registrieren. Indem der Dichter aber diesen sich abzeichnenden Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung das künftige Möglichkeiten kühn antizipierende Ideal der allseitig gebildeten harmonischen Persönlichkeit entgegenstellt, leistet er einen wesentlichen Beitrag zum humanistischen Menschenbild der klassischen deutschen Literatur und Philosophie. Die antiken Vorbilder sind dabei freilich kaum in "hrer historischen Realität gesehen. I n der Sphäre idealistischer Begriffsantithesen verbleibt der Dichter, wenn er das (idealisierend überhöhte) „totale Individuum" der griechischen Antike dem modernen Menschen gegenüberstellt: „Warum qualifizierte sich der einzelne Grieche zum Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dies der einzelne Neuere nicht wagen? Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen erteilten" 21 . Die gleiche Identifikation von griechischer Kultur und „Natürlichkeit" bleibt auch für S C H I L L E R S weiterführende Gedanken in der Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung" bestimmend. In der Tradition der Aufklärung verharrend, stellt S C H I L L E R Naturgegenstände, Naturmenschen und „Produkte des fernen Altertums" unvermittelt nebeneinander: „Sie s i n d , was wir w a r e n ; sie sind, was wir wieder w e r d e n s o l l e n . Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlornen Kindheit, die uns ewig das Teuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmut erfüllen ..." 2 2 . 20 SCHILLERS Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar 1962,322. Diese Einsicht ist verbunden mit der Erkenntnis des Antagonismus der geschichtlichen Entwicklung, der für das richtige Verständnis des historischen Fortschritts so bedeutsam ist: „... Gerne will ich Ihnen eingestehen, daß so wenig es auch den Individuen bei dieser Zerstückelung ihres Wesens wohl werden kann, doch die Gattung auf keine andere Art hätte Fortschritte machen können ... Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur; aber auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert,, ist man erst auf dem Wege zu dieser" (Nationalausgabe, Bd. 20, 326.). 21 22 Nationalausgabe, Bd. 20, 322. Nationalausgabe, Bd. 20, 414.

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In diesen bemerkenswerten Sätzen sind die beiden Grundgedanken der ScHiiXERschen Position gegenüber der antiken Kultur und dem antiken Bild vom Menschen enthalten: der der Vergangenheit zugewandte Gedanke des Verlusts, der eine vergangene Stufe der menschlichen Kulturentwicklung in verklärtem Glanz und als Gegenstand einer Sehnsucht erscheinen läßt, wie sie das Individuum gegenüber seiner niemals wiederkehrenden Kindheit empfindet, und der diese Sehnsucht überwindende, in die Zukunft weisende Gedanke, die verlorene Totalität des Individuums (denn an sie ist bei dem Ideal der „Natürlichkeit" nicht zuletzt zu denken) in einer Synthese aller gegensätzlichen Entwicklungen der Gegenwart wiederzugewinnen. Welche Stellung S C H I L L E R der Antike in seinem Dreistufenschema (einer frühen, gewissermaßen natürlichen Totalität; einer notwendigen Stufe der Vereinseitigung und isolierten Entwicklung der Potenzen; einer Synthese der entwickelten Einzelpotenzen zur Totalität auf höherer Stufe) zugemessen hat, findet überaus klaren Ausdruck in einem Kommentar, den der Dichter einem Aufsatz W. v. H U M B O L D T S „Über das Studium des Altertums, und des griechischen insbesondere" widmete. Hier heißt es: „Sollte nicht von dem Fortschritt der menschlichen Kultur ohngefähr eben das gelten, was wir bei jeder Erfahrung zu bemerken Gelegenheit haben. Hier aber bemerkt man 3 Momente: 1. Der Gegenstand steht ganz vor uns, aber verworren und ineinander fließend. 2. Wir trennen einzelne Merkmale und unterscheiden. Unsere Erkenntnis ist d e u t l i c h , aber vereinzelt und borniert. 3. Wir verbinden das Getrennte und das Ganze steht abermals vor uns, aber jetzt nicht mehr verworren, sondern von allen Seiten beleuchtet. In der ersten Periode waren die Griechen. In der zweiten stehen wir. Die dritte ist also noch zu hoffen, und dann wird man die Griechen auch nicht mehr zurück wünschen"23.

In diesen Sätzen ist dem Gedanken von der normativen Geltung und Unüberbietbarkeit der griechischen Kultur und Kunst eine Absage erteilt, die in der klassischen deutschen Ästhetik ohne Beispiel ist. H E R D E R hatte, wie wir sahen, bei aller von echtem historischem Sinn diktierten Historisierung und Relativierung des Griechentums doch daran festgehalten, daß die griechische Kunst ein Maximum darstelle, das nicht überboten werden könne. Für S C H I L L E R hat auch diese Ausnahme keine Gültigkeit. Auch die Kunst und gerade die Kunst stellt eine Aufgabe für die Zukunft und verheißt eine Erfüllung, die die erreichte Größe der antiken Kunst hinter sich lassen soll. Freilich verharrt S C H I L L E R mit seinen Hoffnungen für die Zukunft in einem utopischen Glauben an die Omnipotenz der Kunst als Mittel der gesellschaftlichen Erziehung. So bleibt sein Ideal eines Ausgleichs zwischen Differenzierung und Totalität, zwischen Kunst und Natur, Individuum und Gesellschaft in Zielstellung und gesellschaftlicher Wirksamkeit notwendig beschränkt. 23

Nationalausgabe, Bd. 21, Weimar 1963, 63.

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II. Die für das Antikebild der klassischen deutschen Literatur und Philosophie charakteristische Spannung zwischen Normativität der Wertungen und beginnender Historizität, zwischen dem Prinzip einer unbedingten Verehrung des Griechischen als höchster Ausprägung des Menschentums und wachsender Einsicht in die historische Gebundenheit und damit Unwiederholbarkeit der antiken Lebensbedingungen ist in H E G E L S lebenslanger Beschäftigung mit der Antike gleichsam in ontogenetischer Wiederholung des gesamten ideologiegeschichtlichen Prozesses noch einmal in ihren Phasen vorgeführt. Bei H E G E L erfährt dieser Prozeß einen Grad der Bewußtheit und wird auf eine Stufe historischer Erkenntnis gehoben, die die Grenze dessen bezeichnet, was im Rahmen des bürgerlichen idealistischen Geschichtsbildes möglich ist. An der geistigen Entwicklung H E G E L S werden auch die Triebkräfte deutlich, die zu diesen wechselnden Formen der Antikerezeption, zur allmählichen Relativierung eines Absolutum, wenn auch noch keinesfalls zur Selbstentlarvung der „heroischen Illusionen" der bürgerlichen Geschichtsdeutung geführt haben 24 . Für das Antike Verständnis des j u n g e n H E G E L in seiner revolutionärdemokratischen Phase charakteristisch ist der besondere Akzent, den das politische Element hier erhält. Bereits H E R D E R und S C H I L L E R sind sich, wenn sie über die Bedingungen der Kunstentfaltung in der griechischen Polis reflektieren, des unlösbaren Zusammenhangs zwischen der demokratischen Polisverfassung und der Blüte der Kunst im klassischen Stadtstaat bewußt. Der junge H E G E L nun, der als Student am Tübinger Stift gemeinsam mit seinen Freunden H Ö L D E R L I N und S C H E L L I N G die Französische Revolution begeistert begrüßt hatte, erhebt die idealisierte klassische Polis zu einem auf bürgerlich-demokratische Zielstellungen tendierenden, aber die Möglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft weit überschreitenden Idealbild: „... im öffentlichen wie im Privat- und häuslichen Leben war jeder ein freier Mann, jeder lebte nach eigenen Gesetzen. Die Idee seines Vaterlandes, seines Staates war das Unsichtbare, das Höhere, wofür er arbeitete, das ihn trieb, dies (war) sein Endzweck der Welt, oder der Endzweck seiner Welt — den er in der Wirklichkeit dargestellt fand, oder selbst darzustellen und zu erhalten mithalf. Vor dieser Idee verschwand seine Individualität, er verlangte nur für jene Erhaltung, Leben und Fortdauer, und konnte dies selbst realisieren..." 25 . 24

Zum Problem der heroischen Illusionen in der deutschen Klassik vgl. W. HEISE, Bemerkungen zur Funktion und Methode der Antikenrezeption in der klassischen deutschen Literatur, Wiss. Zeitschr. der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschaftswiss. und sprachwiss. Reihe, 18, 1969, 49 f. 25 HEGELS theologische Jugendschriften, hrsg. von H. NOHL, Tübingen 1907, 222.

Hegel und Marx über die antike Kultur

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G. LUKACS hat in seiner Analyse der HEGELschen Frühschriften die ideologische Funktion dieses heroisierten Bildes von der Polis untersucht, eines Bildes, dem durch Nichtbeachtung der unabdingbaren Basis der Sklaverei und der Klassenwidersprüche innerhalb der freien Bevölkerung wesentliche Konturen fehlen 26 . Der junge H E G E L , der in der Wiederherstellung der antiken Demokratie auch eine Möglichkeit für die Wiederkehr einer neuen Kunstblüte und die Herausbildung einer dem Christentum entgegengesetzten, dem Diesseits zugewandten Religiosität sah 27 , stellte die idealisierte Polis in scharfer Antithese der in Deutschland noch weitgehend von feudalen Gewalten bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber, wandte sich aber mit diesem Idealbild auch bereits gegen die sich abzeichnenden Folgeerscheinungen der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, hochgradige Arbeitsteilung und wachsende Entfremdung. Dem in privaten egoistischen Zielsetzungen seine Kräfte zersplitternden, in der Gesellschaft isoliert lebenden bürgerlichen Individuum wird das Ideal einer echte Totalität schaffenden Einheit von Individuum und Gesellschaft, der Unterordnung des privaten unter das öffentliche Interesse entgegengestellt. H E G E L sieht in der Entwicklung der modernen Gesellschaft zunächst nur negative Momente wirksam. Er hat diese Einseitigkeit später überwunden und ist mit seiner dialektischen Geschichtsauffassung dazu gelangt, die historische Notwendigkeit und die für den Fortschritt unerläßlichen positiven Aspekte dieser Entwicklung zu erkennen. Daß die Neuzeit ein höheres Prinzip im gesellschaftlichen Leben vertrete, wird in der „Jenaer Realphilosophie", in HEGELS Vorlesungen von 1 8 0 5 / 0 6 , dargelegt. Gegenüber der — nach H E G E L — von der Gesellschaft der klassischen Polis repräsentierten unmittelbaren Einheit des Allgemeinen und Einzelnen, der „schönen Freiheit", wird das „Sich-selbst-absolut-Wissen der Einzelheit", das „absolute Insichsein" als höhere Entwicklungsstufe aufgefaßt 28 . I n der Herausbildung des modernen bürgerlichen Individuums sieht H E G E L jetzt die für den historischen Fortschritt unabdingbare Freisetzung wesentlicher Potenzen des Menschen, die Gewinnung einer höheren Form der menschlichen Individualität auf dem Wege der Überwindung der ursprünglichen Unvermitteltheit der gesellschaftlichen Beziehungen, die durch die mannigfachen Vermittlungen der modernen bürgerlichen Gesell26 G. LTTEXCS, Der junge Hegel, Berlin 1954. Zur Kritik der dem Werk von LUKACS zugrundeliegenden Gesamtkonzeption vgl. G. STIEHLER, Die Dialektik in Hegels „Phänomenologie des Geistes", Berlin 1964, 221 ff. 27 HEGELS theologische Jugendsehriften, 26ff. 28 G. W. F. HEGEL, Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805 — 1806, hsg. von J. HOFFMEISTER, Berlin 1969, 251.

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schaft erreicht wird29. Hier liegt keinesfalls ein Bruch mit der kritischen Position gegenüber den inhumanen Folgen der wachsenden Entfremdung vor. Diese neue Einstellung ist aber durch Illusionen über die Möglichkeiten, die in der bürgerlichen Gesellschaft beschlossen sind, erkauft. Das zeigt die „Phänomenologie des Geistes", in der in den Abschnitten „Der wahre Geist" — „Der sich entfremdete Geist" — „Der seiner selbst gewisse Geist"30 das triadische Schema nicht geringe Verwandtschaft mit SCHILLERS oben gekennzeichneten drei Stufen der geschichtlichen Entwicklung aufweist. Die für die Antike vorausgesetzte Totalität des Individuums und volle Integration des einzelnen in die Gesellschaft bleibt als ein hoher Wert anerkannt. Die moderne Welt der inneren Zerrissenheit und Entfremdung erscheint nun, wie bei SCHILLER, als eine historisch notwendige Phase, in der die volle Entwicklung der einzelnen menschlichen Potenzen erst freigesetzt wird. Da H E G E L aber nicht zur Erkenntnis der ökonomischen Ursachen der Entfremdung gelangt ist 31 , also von einem Entfremdungsbegriff ausgeht, der nur Teilaspekte des Problems erfaßt, sieht er auch die Lösung des Problems, wie es in seiner Sicht erscheinen muß, in einem bloßen Akt des Bewußtseins, in der Überwindung der Gegensätze durch philosophische Erkenntnis. Die Einleitung der dritten Phase, die die Überwindung der Entfremdung und die Wiederherstellung der Einheit von Individuum und Gesellschaft bringt, ist nach HEGEL die Leistung der klassischen deutschen Philosophie.

Worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist die neue Position, nach der die antike Gesellschaft und Kultur aufs g a n z e gesehen den Charakter einer normativen Vorbildlichkeit verloren haben und als eine Stufe im historischen Prozeß betrachtet werden, die mit Notwendigkeit überwunden werden mußte. Was an ihnen vorbildlich erschienen war, ist zusammen mit bestimmten Wesenszügen der zweiten Phase auf einer höheren Stufe aufgehoben: Negation der Negation. Daß H E G E L in einem Punkt inkonsequent bleibt und, hinter S C H I L L E R zurückgehend, an der normativen Geltung der antiken K u n s t festhält, ist ein besonderes Thema, auf das noch zurückzukommen sein wird. Unmittelbar zurück zum Lebensaltervergleich führen uns die geschichtsphilosophischen und ästhetischen Werke HEGELS. Hier fassen wir auch die historische Substanz des HEGELschen Antikebildes. In den „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte", in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" und in der „Ästhetik" ist das konstruktive 29

Vgl. STIEHLER, a. O . 190ff. — Für HEGELS Intention, durch die Gegenüberstellung von Antike und Moderne zur Erkenntnis bestimmter Grundzüge der bürgerlichen Entwicklung zu gelangen, ist der Abschnitt über die „Tragödie im Sittlichen" im Naturrechtsaufsatz besonders bemerkenswert. Auf diese Tragen, die bei LTJKÄCS (a. O . 458ff.) eingehend behandelt sind, kann hier nicht eingegangen werden. 30 G. W. F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von J. HOFFMEISTER, Berlin 1964, 313ff. 31 Dieses Problem wird untersucht von STIEHLER, a. 0 . 241 ff.

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geschichtsphilosophische Schema durch eine Fülle von historischem Material angereichert, von der wir hier auch nicht annähernd einen Begriff zu geben vermögen. Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, in welchem Grade und bis zu welchen Grenzen es H E G E L gelungen ist, die traditionelle Analogie zu den Lebensaltern in den Dienst wissenschaftlicher Erkenntnis zu stellen. Wie H E R D E R , aber auf einer höheren Stufe gedanklicher Durchdringung, macht H E G E L das Schema zum Instrument für die Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der historischen Entwicklung und des universalgeschichtlichen Fortschritts, eine Betrachtungsweise, die hier freilich eingespannt ist in eine prinzipiell teleologische Sicht der Weltgeschichte. MARX und ENGELS haben den in dieser spekulativen Deutung der Geschichte enthaltenen rationalen Kern für ein materialistisches Geschichtsverständnis nutzbar gemacht. Das gilt auch für HEGELS Bestimmung, nach der die Weltgeschichte als „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" zu definieren sei, „ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben"32. Da das Prinzip für HEGELS Interpretation der Antike von nicht geringer Bedeutung ist, müssen wir kurz bei ihm verweilen. Ist nach H E G E L das Ziel der Weltgeschichte die Rückkehr der absoluten Idee, des Geistes, in sich selbst, und ist die wesentliche Bestimmung des Geistes (als „Beisichselbstsein" im Unterschied zur Materie) die Freiheit, so definiert der Philosoph die Geschichte der Menschheit diesen Prämissen entsprechend als „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit". Sofern sich diese Bestimmung auf den kulturellen Aspekt der Menschheitsentwicklung im umfassenden Sinn erstreckt, hat ENGELS ihren rationalen Kern in folgender Weise charakterisiert : „Freiheit besteht also in der, auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung. Die ersten, sich vom Tierreich sondernden Menschen waren in allem Wesentlichen so unfrei wie die Tiere selbst; aber jeder Portschritt in der Kultur war ein Schritt zur Freiheit"33.

Den Grad der g e s e l l s c h a f t l i c h realisierten Freiheit, der die Entfaltungsmöglichkeiten für eine geringere oder größere Zahl von Individuen bestimmt und damit das Maß für die Reife der individuellen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bezeichnet, macht H E G E L zum Kriterium für sein Schema von der Abfolge der Geschichtsperioden. Ist die von den orientalischen Kulturen repräsentierte Kindheitsphase der menschlichen Geschichte nach H E G E L dadurch gekennzeichnet, daß ihre Träger nicht wissen, daß der Mensch an sich frei ist, so zeichnen sich Jugend und Mannesalter (Griechen und Römer) durch das Bewußtsein aus, daß einige frei 32

G. W. F. HEGEL, Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von J. HOFFMEISTER, Berlin 1969, 63. 33 F. ENGELS, Anti-Dührung, MEW, Bd. 20, Berlin 1968, 106.

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sind34. Es kann hier nicht darum gehen, die vielfältigen philosophischen Implikationen des H E G E L s c h e n Schemas zu untersuchen. Für die Charakteristik der Antike ist es aber sehr bedeutsam, daß HEGEL, indem er das Wissen um die Freiheit e i n i g e r als Merkmal der Epoche bezeichnet, gegenüber den Jugendschriften zu der Erkenntnis fortgeschritten ist, daß die Sklaverei die unabdingbare Grundlage z. B. der Polisdemokratie und ihrer hochentwickelten Kultur darstellt: „Die Sklaverei war notwendige Bedingung solch einer schönen Demokratie, wo jeder Bürger das Recht und die Pflicht hatte, auf öffentlichem Platze Vorträge über die Staatsverwaltung zu halten und anzuhören, in Gymnasien sich zu üben, Feste mitzumachen. Die Bedingung dieser Beschäftigungen war notwendig, daß der Bürger den Handwerksarbeiten entnommen sei, und daß also, was bei uns den freien Bürgern zufällt, die Arbeit des täglichen Lebens, von den Sklaven verrichtet werde. Die Gleichheit der Bürger brachte das Ausgeschlossensein der Sklaven mit sich" 35 . HEGELS Begründung für die Überwindung dieser Stufe bezeichnet wiederum deutlich die durch die idealistische Geschichtsauffassung gesetzten Erkenntnisgrenzen: Grundlage für die spätere Überwindung der Sklaverei sei die sich in der Entwicklung des griechischen Geistes (wir haben an die Sophistik und die hellenistische Philosophie zu denken) vorbereitende E r k e n n t n i s , daß alle Menschen frei seien36. Einer der wesentlichen, für uns bedeutsamen Züge der H E G E L s c h e n Geschichtsbetrachtung ist neben der Analyse der historischen Entwicklung die Beachtung der synchronischen Aspekte: HEGELS Bemühen, alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens einer Epoche, vor allem auch des geistigen Lebens, aus einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit zu verstehen. HEGELS Theorie des „Volksgeistes" bietet für die Betrachtung der Gesellschaft unter Systemgesichtspunkten wichtige Ansätze, die nicht zuletzt in seinen Untersuchungen zur antiken Kultur wirksam werden. 34

Die Vernunft in der Geschichte, 61 f.; 248ff. G. W. F. HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. von G. LASSON, Bd. 3, Leipzig 21944, 611. H E G E L entwirft hier ein undifferenziertes Bild, das völlige Freistellung a l l e r Politen von unmittelbar produktiver Tätigkeit voraussetzt. Diese Voraussetzungen sind nur für die Oberschicht der freien Bevölkerung gegeben, während die Teilnahme der unteren Klassen (kleine Handwerker, Kaufleute und Bauern) am politischen und kulturellen Leben der Polis durch eine partielle Entlastung von der Produktionstätigkeit auf der Grundlage von Sklavenarbeit und staatlichen Diätenzahlungen erfolgt (vgl. unten S. 26f.). 36 DieVernunft in der Geschichte, 180; Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 3, 611. — Umgekehrt erklärt H E G E L auch die jeweilige Realisierung der Sklaverei aus dem Selbstbewußtsein des Individuums: in das Verhältnis der Knechtschaft trete dasjenige Selbstbewußtsein, „welches der Freiheit das Leben vorzieht" (Philosophische Propädeutik I I , Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, hrsg. von H . GLOCKNER, Bd. 3, Stuttgart 1927, 110). 35

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Selbstverständlich leitet HEGEL auf der Grundlage seiner philosophischen Voraussetzungen diese Beziehungen wiederum primär aus einem geistigen Prinzip, eben dem des Volksgeistes •als einer spezifischen Gestalt des Weltgeistes ab: „... sein (sc. des Volksgeistes) Tun ist, sich zu einer vorhandenen Welt zu machen, die auch im Baume besteht; seine Religion, Kultus, Sitten, Gebräuche, Kunst, Verfassung, politische Gesetze, der ganze Umfang seiner Einrichtungen, seine Begebenheiten und Taten, das ist sein Werk, — das ist dies Volk. Diese Empfindung hat jedes Volk. Das Individuum findet das Sein des Volkes dann als eine bereits fertige, feste Welt vor sich, der es sich einzuverleiben hat"37.

Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt H E G E L S Gedanken über gewisse Grundzüge in der Entwicklung der frühen und klassischen griechischen Polis. H E G E L S Interesse gilt vor allem den Beziehungen von Individuum und Gesellschaft, aus deren spezifischer Gestaltung er wesentliche Merkmale der Kulturentwicklung und des Menschenbildes dieser Periode ableitet. Wenn wir nun als Kennzeichen der klassischen Polisgesellschaft die „schöne Freiheit" benannt finden, worunter „das Individuum . . . in unbefangener Einheit mit dem allgemeinen Zweck" oder „die subjektive Freiheit, aber eingebettet in die substantielle Einheit" 3 8 zu verstehen ist, so sind hier Züge der Polisgemeinschaft erfaßt, die sich geschichtlich bis zu einem bestimmten P u n k t der Entwicklung als Unterordnung individueller Interessen unter die des Gemeinwesens geäußert haben. Aber das starke Moment der Idealisierung in H E G E L S Analyse der Polis ist doch nicht zu übersehen. Zwar gibt der Philosoph sich jetzt Rechenschaft von der Tatsache, daß die Freiheit weniger durch die Sklaverei vieler erkauft ist, unberücksichtigt bleibt aber, daß die demokratische Polis, im Vollzug heftiger sozialer Auseinandersetzungen entstanden, auch in ihrer besten Zeit von diesen keineswegs frei ist und nach einer Phase relativen Gleichgewichts nicht zuletzt an diesen Auseinandersetzungen zugrunde gegangen ist. Mit tiefer historischer Berechtigung hebt H E G E L gleichwohl die (nach Durchbrechung der Adelsprivilegien erzielte) Demokratisierung des Lebens des freien Teils der Gesellschaft hervor, die die Teilnahme breiter Kreise der freien Bevölkerung am politischen und kulturellen Leben ermöglicht hat. So bedient sich H E G E L der Thukydideischen Gefallenenrede des Perikles, um die politischen und kulturellen Grundzüge dieses Menschenbildes, wenn auch in der überhöhten Gestalt des gesellschaftlichen Leitbildes, vorzuführen 39 . Dabei wird deutlich, daß die klassische Periode der Polisdemokratie nur eine sehr kurze Zeit der Blüte war. Auf die Frage nach den Ursachen für das jähe Ende dieser Blüte gibt der Philosoph wiederum eine Antwort aus dem Geiste teleologischer Geschichtsspekulation: Die Ent37 38 39

Die Vernunft in der Geschichte, 67. Die Vernunft in der Geschichte, 249. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 3, 627 f.

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wicklung des Geistes habe auf der Stufe der natürlichen Sittlichkeit nicht verharren können, sie mußte vielmehr der höheren Stufe der Moralität zustreben40. Was also historisch ein Produkt tiefgehender gesellschaftlicher Widersprüche war, wird als Zweck einer supponierten höheren Stufe in der Entwicklung des Geistes gedeutet. H E G E L bleibt dem Antikebild der deutschen Klassik zutiefst verbunden in dem außerordentlichen Interesse, das er der Entwicklung der griechischen Kunst und Literatur zuwendet. Mehr noch: Das Grundgesetz der klassischen Ästhetik, von dem sich SCHILLER ZU befreien vermochte, der Grundsatz von der normativen Geltung der griechischen Kunst im Sinne absoluter Unerreichbarkeit dieses Vorbildes, bleibt für H E G E L gültig. Zum Vehikel für diese Verabsolutierung einer Stufe in der historischen Entwicklung wird bei ihm die Theorie von den Schritten in der Entfaltung des absoluten Geistes mit seinen Teilbereichen Kunst, Religion und Philosophie. Die Ausprägung des absoluten Geistes steht zu den jeweiligen Formen des Volksgeistes in engster Beziehung, aber sie transzendiert diesen. Die vom Volksgeist hervorgebrachten Erzeugnisse des absoluten Geistes überleben die geschichtlichen Bedingungen ihrer Entstehung und bilden eine in ständiger Höherentwicklung begriffene Kette, die dem Ziel der Geschichte zustrebt: der Selbsterkenntnis des Geistes, der absoluten Idee. Kunst, Religion und Philosophie stehen als Formen des absoluten Geistes nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern bilden eine Hierarchie. Sind die drei Gebiete an sich in jeder weltgeschichtlichen Periode der Ausbildung fähig, so gibt es doch nach HEGEL jeweils nur eine Phase, deren Essenz auszudrücken sie wie kein anderes geistiges Instrument geeignet erscheinen. Auch hier waltet nach HEGEL eine Gesetzmäßigkeit, denn die Stufenfolge Kunst, Religion, Philosophie bezeichnet die Grade fortschreitender Klärung in der Selbsterfahrung des Geistes, von der sinnlichen Anschauung über das Gefühl bis zum reinen Denken 41 .

Gemäß seiner Auffassung vom Griechentum als der Verwirklichung der „schönen Freiheit", in der Geist und Sinnlichkeit in größter Harmonie vereint sind, kommt H E G E L nicht nur zu dem Schluß, bei den Griechen sei die Kunst die höchste Weise, in der das Wahre vorgestellt und gefaßt wird42, sondern zu der viel weitergehenden Feststellung, im Bereich der Kunst sei „sogar die griechische, so wie sie ist, selbst das höchste Muster"43, „Schönres kann nicht sein und werden"44. Damit ist nicht nur die normative Geltung der griechischen Kunst unter Einsatz philosophischer Mittel in einer Weise kanonisiert, wie das niemals zuvor geschehen war, sondern auch die Kunst der Neuzeit, wenn auch in ihrem Wert und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten nicht völlig negiert, so 40 Die Vernunft in der Geschichte, 249f.; Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 3, 641 f. 4 1 Phänomenologie des Geistes, 490ff. 42 Die Vernunft in der Geschichte, 133. 43 Die Vernunft in der Geschichte, 144. 44 G. W. F . HEGEL, Ästhetik, hrsg. von F . BASSENGE, Berlin 1955, 495.

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doch als Instrument gültiger Wirklichkeitserfassung zurückgestellt: „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes"45. Neben dieser spekulativen gibt es bei H E G E L noch eine andere Ebene der Argumentation, um die Einschränkungen in der Wirkungsmöglichkeit der modernen Kunst zu begründen. Hier geht der Philosoph von Erfahrungen in der sozialen Realität aus. Unter den Bedingungen einer hochentwickelten Arbeitsteilung ( H E G E L spricht von einer Zersplitterung zur „Vielfältigkeit von Geschäften der Fabriks- und Handwerkstätigkeit"46) könne die Kunst nicht ein totales Individuum als Repräsentanten seiner Zeit, sondern nur die Auseinandersetzung dieses Individuums mit den Verhältnissen einer „bereits zur Prosa geordneten Wirklichkeit"47 zeigen. Gradmesser für diese höchsten Anforderungen, denen die moderne Kunst nach H E G E L nicht mehr Genüge zu leisten vermag, ist die Kunst der Antike48. Die wahrhaften Epopöen der Griechen zeigen nach H E G E L anders als der moderne Roman totale Individuen, „welche glänzend das in sich zusammenfassen, was sonst im Nationalcharakter zerstreut auseinanderliegt"49. Es kann hier nicht um eine Auseinandersetzung mit H E G E L S Auffassungen über die Möglichkeiten und Grenzen der Kunst in der Neuzeit gehen. Der Philosoph hat sich nicht darauf beschränkt, die Unmöglichkeit der Reproduktion bestimmter Kunstformen der Vergangenheit zu konstatieren, sondern darüber hinaus festgestellt, daß die Gegenwart der künstlerischen Produktion überhaupt ungünstig sei50. Dabei erkennt H E G E L sehr nachdrücklich an, daß auch der zeitgenössische Künstler dieser Ungunst der Verhältnisse mit spezifischen Mitteln künstlerischer Gestaltung bedeutende Leistungen abringen kann. Wir werden auf diese Problematik im Zusammenhang mit den Analysen von M A R X zurückkommen. 45

Ästhetik, 57. Ästhetik, 949. 47 Ästhetik, 983. 48 J . D ' H O N D T hat in seinem überaus anregenden Aufsatz (vgl. oben S . 3 , Anm. 4 ) gezeigt, daß H E G E L S Auffassungen von der Kunst der Antike in erheblichem Maße von G. F Ö R S T E R beeinflußt worden sind, dessen „Ansichten vom Niederrhein" H E G E L in seiner Jugend kennenlernte (Exzerpte, die sich auf die antike Kultur beziehen, sind in der Sammlung der sog. theologischen Jugendschriften vgl. oben S. 10, Anm. 25, abgedruckt). Anhand von zahlreichen sinngemäßen und wörtlichen Übereinstimmungen weist D ' H O N D T nach, daß dieser Einfluß von P O R S T E R noch in H E G E L S „Ästhetik" stark wirksam war. Bei P O R S T E R findet sich nicht nur der HEGELSche Gedanke von der Kunstreligion der Griechen vorgeprägt (auch in einzelnen Erwägungen über die Rolle des Anthropomorphismus für die Entwicklung der Kunst), der Autor äußert sich auch über die Unwiederholbarkeit der griechischen Kunstblüte in Wendungen, die später sehr ähnlich bei H E G E L wiederkehren. Dabei wird auch der Lebensaltervergleich verwendet. Wie D ' H O N D T zeigt, schließen sich auch H E G E L S Gedanken über die Hindernisse, die der Realisierung großer Kunst in der Moderne entgegenstehen, z. T. an P O R S T E R an. 46

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Ästhetik, 961.

Zeitschrift „Philologus" 1

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» Ästhetik, 57.

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Wir verdanken H E G E L wertvolle, tiefe Einsichten in das Wesen der griechischen Kunst. Ein besonderes Verdienst besteht in der tiefschürfenden Analyse der Entwicklung der frühen griechischen Kunst und Literatur auf der Grundlage des Mythos. H E G E L betont die wechselseitige Durchdringung von Mythos und Kunst im frühen Griechenland. Er unterscheidet zwischen der religiösen Grundsubstanz der Göttergestalten, wie sie aus der Tiefe der Volksreligion hervorgehen, und der unendlichen Vielfalt dichterisch gestalteter mythischer Erzählungen, die sich um die Göttergestalten ranken 51 : „Überhaupt aber ist es dem Homer kein letzter Ernst mit der Realität dieser Erscheinungen . . . Die Griechen wußten sehr wohl, daß es die Dichter seien, welche diese Erscheinungen hervorriefen, und glaubten sie daran, so betraf ihr Glaube das Geistige, welches ebenso dem eigenen Geist des Menschen einwohnt und das Allgemeine, wirklich das Wirkende und Bewegende in den vorhandenen Begebnissen ist. Nach allen diesen Seiten brauchen wir keinen Aberglauben zum Genuß dieser poetischen Darstellung der Götter mitzubringen"52. Die anthropomorphe Substanz der griechischen Göttergestalten hat H E G E L mehrfach analysiert: „... ihr Gehalt ist dem menschlichen Geist und Dasein entnommen und dadurch das Eigene der menschlichen Brust, ein Gehalt, mit welchem der Mensch frei als mit sich selber zusammengehn kann, indem, was er hervorbringt, das schönste Erzeugnis seiner selbst ist"53.

der nicht in die klassizistische Einseitigkeit verfällt, diese Kultur außerhalb ihrer vielfältigen Beziehungen zu den Kulturen des Orients zu sehen (wobei er freilich mit Nachdruck hervorhebt, entscheidend sei, wie die Griechen diese, Anregungen in eigene Leistung umzusetzen vermochten54), betrachtet die in der griechischen Religion mit größter Entschiedenheit vollzogene Ausrichtung auf den Anthropomorphismus als einen wesentlichen Beitrag zu einem Menschenbild, das von nachhaltiger Wirkung auf die künftige Kulturentwicklung sein sollte. So wurde die „Herabsetzung des Tierischen und Entfernung desselben von der freien, reinen Schönheit" 55 auch zu einem wesentlichen Element der griechischen Kunst. Die hochgradige Vermenschlichung der griechischen Religion findet besonderen Ausdruck darin, daß auch natürliche Mächte aus der Sicht des Menschen reflektiert werden. HEGEL,

Nach HEGELS Interpretation erscheint für die griechische Religion das Natürliche als eine „Auslegung des Geistes". Die menschliche Gestalt der Götter bilde nicht nur die äußere Form, während der Inhalt eine Naturmacht sei, sondern der wahre Inhalt sei der Geist (dessen Anderssein nach H E G E L die Natur darstellt). H E G E L weist darauf hin, daß im 51 52 53 51 55

Ästhetik, 473. Ästhetik, 479f. Ästhetik, 462. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 3, 566 ff. Ästhetik, 433.

Hegel und Marx über die antike Kultur

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Unterschied zum älteren Göttergeschlecht (der Titanen) die olympischen Götter um Zeus nicht einfach Naturmächte verkörpern. Obwohl auch diese in ihnen aufgehoben sind, stellen sie nicht deren bloße Symbole dar, sondern erscheinen als echte menschliche Individualitäten. So ehren denn die Menschen das Göttliche, „aber dieses ist auch ihre Tat, ihr Erzeugnis und ihr Dasein .. ." 56 .

Aus der Betrachtung der griechischen Religion werden auch Rückschlüsse auf die besonderen, auszeichnenden Merkmale des frühen griechischen Menschenbildes gewonnen: der Zug zur Totalität, in dem Individualität und Ausdruck des Allgemeinen nicht absolute Gegensätze darstellen, sondern in einem Verhältnis abgewogener Spannung stehen. Es heißt in diesem Zusammenhang: „Der Kreis der griechischen Götter ist eine Vielheit von Individuen, von welchen jeder einzelne Gott, wenn auch im bestimmten Charakter einer Besonderheit, dennoch eine in sich zusammengefaßte Totalität ist, die an sich selbst auch die Eigenschaft eines anderen Gottes hat. Denn jede Gestalt, als göttlich, ist immer auch das Ganze" 57 .

Sehr bedeutsam erscheint auch, was H E G E L über die Voraussetzungen und Merkmale des frühen Kunstschaffens in Griechenland ausführt. Die Tatsache, daß das Epos in seinen Ursprüngen auf „höfische" Kunstübung zur Pflege der Heldenverehrung aristokratischer Geschlechter zurückgeht, läßt ihn nicht übersehen, daß diese Kunst geeignet war, in bestimmtem Umfang das h e r r s c h e n d e Menschenbild der gesamten Gesellschaft zu repräsentieren. H E G E L betont, im Epos spreche sich „das naive Bewußtsein einer Nation zum ersten Mal in poetischer Weise" aus 58 . Der Philosoph hebt die Spannung hervor, die zwischen einem Teil des Inhalts der Epen und der gesellschaftlichen Situation der Entstehungszeit besteht, sieht aber auch die Kontinuität, die eine organische Einheit ermöglicht. So kommt er zu dem Schluß, es werde hier zwar Vergangenes besungen, es bestehe aber ein enger Zusammenhang zwischen dem Dichter und seinem Stoff, der noch substantielle Wirklichkeit besitze59. Damit ist die gegenseitige Durchdringung von Elementen verschiedener Entwicklungsstufen, wie sie besonders für die Odyssee charakteristisch ist, angedeutet, weiterhin die Tatsache, daß sich in der frühen Periode der Polis, in der die Homerischen Epen entstanden sind, als einer Übergangszeit im gesellschaftlichen Leben noch Elemente der vorangegangenen Phase erhalten hatten.

Zu wichtigen Wesenszügen im Menschenbild der frühen epischen Kunst der Griechen führt die Feststellung, es sei ein Individuum vorausgesetzt, das die Verbindung zur Natur und zur handwerklichen Tätigkeit noch nicht verloren hat. Die bedeutsamen Ausführungen, die wiederum ihren Gehalt aus dem Epochenvergleich von Antike (einer bestimmten Entwicklungs56 57 58 59

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Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. 3, 572 f. Ästhetik, 469. Ästhetik, 942. Ästhetik, 943.

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stufe der antiken Gesellschaft) und Neuzeit beziehen und gewisse Aspekte des Entfremdungsproblems in den Blick fassen, seien hier etwas ausführlicher zitiert: „Was der Mensch zum äußeren Leben gebraucht — Haus und Hof, Gezelt, Sessel, Bett, Schwert und Lanze, das Schiff, mit dem er das Meer durchfurcht, der Wagen, der ihn zum Kampfe führt, Sieden und Braten, Schlachten, Speisen und Trinken, — es darf ihm nichts von allem diesen nur ein totes Mittel geworden sein, sondern er muß sich noch mit ganzem Sinn und Selbst darin lebendig fühlen und dadurch dem an sich Äußerlichen durch den engen Zusammenhang mit dem menschlichen Individuum ein selber menschlich beseeltes individuelles Gepräge geben. Unser heutiges Maschinen- und Fabrikenwesen mit den Produkten, die aus demselben hervorgehn, sowie überhaupt die Art, unsere äußeren Lebensbedürfnisse zu befriedigen, würde nach dieser Seite hin ganz ebenso als die moderne Staatsorganisation dem Lebenshintergrunde unangemessen sein, welchen das ursprüngliche Epos erheischt" 60 .

III. Mit dieser Betrachtung H E G E L S sind wir an den Ausgangspunkt unserer Ausführungen zurückgekehrt: „Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die ,Iliade' mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? . . . " Es ist offenkundig, daß M A R X mit seinen Gedanken über die historische Bedingtheit der griechischen Kunst unmittelbar an H E G E L anknüpft. Doch nicht so sehr dieses Problem beschäftigt M A B X an jener Stelle. Es geht vielmehr um die Bedingungen, die Werke der Kunst in den Stand setzen, über die speziellen Voraussetzungen ihrer Entstehung hinauswirkend, in das geistige Erbe späterer Geschichtsepochen einzugehen: „Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten".

Die komplizierte kulturtheoretische Frage nach den allgemeinen Voraussetzungen des Weiterwirkens großer Werke der Kunst über ihre Zeit und deren gesellschaftliche Bedingungen hinaus können wir hier nicht im einzelnen erörtern. Aber wie steht es um die normative Geltung der griechischen Kunst? Wenn M A R X ausführt: „Ein Mann kann nicht wieder zum Kinde werden, oder er wird k i n d i s c h " (Hervorhebung vom Vf.), so deutet dies darauf hin, mit welch entschiedener Akzentuierung er den Gedanken der Unwiederholbarkeit der Bedingungen und der Formen der griechischen Kunst aufgenommen hat, wie ja auch die Bindung des Epos an spezifische gesellschaftliche Entstehungs-Bedingungen ausdrücklich hervorgehoben wird. 60

Ästhetik, 948.

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Die Metapher vom Kindischwerden des Mannes bringt zum Ausdruck, daß Versuche, diese Grenze zu überspielen, zum Scheitern verurteilt sind. Gerade in dem Bewußtsein, daß die frühen Phasen der Kulturentwicklung (unter denen das griechisch-römische Altertum einen hervorragenden Platz einnimmt) in dieser Form nicht wiederholbare Stufen auf dem langen Weg der Menschheit zu sich selbst darstellen, sieht MARX einen der Gründe, weshalb spätere Generationen die künstlerischen Hinterlassenschaften dieser Zeit mit besonderer Hingabe lieben. In diesem Sinne verwendet er die Analogie zur Entwicklung im individuellen Bereich als Brücke psychologischen Verständnisses. Eine solche Deutung steht nicht im Widerspruch zum materialistischen Geschichtsverständnis, wie MARX ausdrücklich hervorhebt, wenn er über die Griechen sagt: „Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstand und allein entstehn konnte, nie wiederkehren können"61.

Hier wird nun auch deutlich, daß es bei MARX' Analogie um mehr geht als um eine psychologisierende Übertragung von Kategorien aus der Erlebnissphäre des Individuums auf gesellschaftliche Phänomene. Die Besonderheit in der Tradition und Rezeption von Werken der Kunst und Literatur liegt ja — im Unterschied etwa zu den Bereichen der materiellen Kultur und der Wissenschaft — darin, daß die älteren Stufen in den jüngeren nicht aufgehoben sind, sondern in ihrer unverwechselbaren Gestalt volles Gewicht behalten und eine in dieser Form unwiederholbare Ausprägung einer Entwicklungsstufe der Menschheit darstellen. An eben diese unverwechselbare Gestalt einer frühen Kulturstufe denkt MARX, wenn er ausführt, der besondere Reiz der antiken Kunst stehe mit der Unwiederholbarkeit ihrer Entstehungsbedingungen in untrennbarem Zusammenhang. Mit einem Glauben an die Normhaftigkeit antiker Kunstwerke im Sinne urbildhafter Prägungen von absoluter Vollkommenheit hat eine solche Betrachtungsweise nichts mehr gemein. Worin auch nach MARX „in gewisser Beziehung" eine normative Geltung gesucht werden kann, wird deutlich, wenn dieser als eine Aufgabe die Reproduktion „des Wahren" dieser frühen historischen Entwicklungsstufe auf einer höheren Stufe bezeichnet62. Woran MARX hier denkt, wird sogleich deutlich werden. Wir hatten oben auf das Schema von den drei Stufen in der Entwicklung des menschlichen Individuums verwiesen, wie es bei SCHILLER und HEGEL. begegnet. In den „Grundrissen" weist MARX darauf hin, daß die (wie hin61

Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, 642.

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V g l . LIFSCHITZ, a . O . 1 4 6 .

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zuzufügen ist, ohnehin nur für bestimmte frühe Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung in der Antike gültige) so viel berufene „Totalität" der Entfaltung des Individuums in ihrer prinzipiellen Begrenztheit gesehen werden muß. Sie ist nur möglich dank der Unentwickeltheit aller Bedingungen: „Es können hier große Entwicklungen stattfinden innerhalb eines bestimmten Kreises. Die Individuen können groß erseheinen. Aber an freie und volle Entwicklung, weder des Individuums, noch der Gesellschaft nicht hier zu denken, da solche Entwicklung mit dem ursprünglichen Verhältnis im Widerspruch steht"63.

Für den Epochenvergleich hat diese Feststellung wesentliche Konsequenzen. Die normative Verabsolutierung einer frühen Entwicklungsstufe ist ausgeschlossen. Die ursprüngliche (relative, bornierte) „Fülle" und die viel später durch kapitalistische Arbeitsteilung und Entfremdung der Arbeit entstehende hochgradige Vereinseitigung und Verkrüppelung der Individuen sind für M A R X notwendige Stufen der Entwicklung, die ebenso notwendig überwunden werden müssen: „So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube bei jener vollen Entleerung stehnbleiben zu müssen"61.

Aus diesen Worten wird einmal mehr deutlich, daß M A R X eine idealisierende Sicht vergangener Geschichtsepochen fremd ist, aber auch eine entscheidende Differenz seines Denkens von dem der bürgerlichen Ideologie. M A R X blickt über den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft weit hinaus und gewinnt das Gesellschafts- und Menschenbild der Zukunft nicht aus vergangenheitsorientierten Utopien. Bestimmte Kunstwerke der Antike sind für M A R X Entwürfe eines Bildes von Menschen, das es auf höherer Stufe zu reproduzieren gilt, nicht absolute Ur- und Vorbilder. Was bereits von H E G E L gesagt wurde, muß hier wiederholt werden: Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, die Fülle der MARXschen Gedanken zu den verschiedenen Aspekten der antiken Kultur auch nur annähernd zu umreißen. Was versucht werden kann, ist ein Blick auf bestimmte Erkenntnisse über grundlegende Probleme der kulturellen Entwicklung der Antike, bei deren Untersuchung M A R X an Gedanken der klassischen deutschen Ästhetik und Geschichtsphilosophie anknüpfen konnte:. Fragen, die sich auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, auf die Rolle der Arbeitsteilung u. a. beziehen. Dabei wird sich zeigen, daß MARX' Verhältnis zu den Vorgängern auch auf diesem Gebiet alles andere als epigonal ist. Durch die Analyse der sozialökonomischen Grundlagen der Entwicklung werden bestimmte Kategorien der traditionel63 64

K. MARX, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, 386f. Grundrisse, 80.

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len ästhetischen und geschichtsphilosophischen Betrachtung in ein völlig neues Beziehungssystem gestellt 65 . Darüber hinaus werden wir weiteren Aufschluß darüber gewinnen, welche Züge im Menschenbild der Antike M A R X einer „Reproduktion auf höherer Stufe" in besonderem Maße würdig erschienen sind. Interesse verdient zunächst, daß sich auch bei M A R X ein Schema von drei Phasen findet, das in mancher Hinsicht Verwandtschaft mit den Gedanken SCHILLERS und H E G E L S zeigt, aber durch den Bezug auf die sozialökonomische Entwicklung der Gesellschaftsformationen eine ganz neue Ausrichtung erfährt66. Die erste Phase, die der vorkapitalistischen Entwicklung, ist durch persönliche Abhängigkeitsverhältnisse gekennzeichnet, wobei die durch den niedrigen Entwicklungsstand bedingte relativ geringe Höhe der menschlichen Produktivität eine ungehemmte Entfaltung aller schöpferischen Potenzen des Menschen noch nicht gestattet. Erst unter den (auf sachlicher Abhängigkeit beruhenden) Bedingungen der kapitalistischen Produktion kommt es zur Herausbildung „der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen" 67 . Die auf dieser zweiten Stufe durch Privateigentum an den Produktionsmitteln und kapitalistische Arbeitsteilung und Entfremdung verhinderte Nutzung dieser universalen Entfaltung der Potenzen für das Individuum gelingt erst auf der dritten Stufe (der sozialistischen Gesellschaft), die gekennzeichnet ist durch „freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens" 68 .

Als entscheidendes Charakteristikum aller vorkapitalistischen Entwicklung, auch der Antike, erscheint in den „Grundrissen" die relativ geringe Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Potenzen, die ihre volle Dynamik erst mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft zu entfalten beginnen. Gerade in dieser Begrenzung hat M A R X die tiefere Ursache für das Phänomen gefunden, das die Vertreter des aufsteigenden Bürger65

In welchem Sinn sich M A R X die Metapher der „Kindheit" zunutze gemacht hat, wurde oben ausgeführt. Man sollte aber nicht übersehen, daß die übrigen theoretischen Implikationen dieses geschichtsphilosophischen Schemas für M A R X nicht die geringste Relevanz haben. Selbstverständlich ist die griechische Antike für M A R X nicht wie für frühere Geschichtsphilosophen „Kindheit" der menschlichen Gattung schlechthin, sondern, wie er ausdrücklich sagt, „geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie a m s c h ö n s t e n e n t f a l t e t " (Hervorhebung vom Vf.). M A R X führt die Analogie dann noch weiter mit den Worten: „Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen." Ein Versuch, diese nicht leicht deutbare Weiterführung der Analogie, die das Verhältnis der antiken Kultur zu den Kulturen des Alten Orients betrifft, zu interpretieren, findet sich bei A. G E D Ö , Der Vorbegriff des philosophischen Gesetzes und die Genesis des philosophischen Wissens, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 17, 1969, 700f. 66 67 68

Grundrisse, 75f. Grundrisse, 75. Grundrisse, 75.

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tums ip der klassischen deutschen Literatur und Philosophie immer wieder beschäftigt hat, das „totale Individuum", das mit einem voll entfalteten Individuum freilich nicht verwechselt werden darf, wie M A R X auch hier nachdrücklich hervorhebt: „Auf frühren Stufen der Entwicklung erscheint das Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat" 69 . An einer anderen Stelle in den „Grundrissen" erkennt M A R X in den für das Individuum nachteiligen Bedingungen, unter denen sich die reiche Entfaltung aller gesellschaftlichen Potenzen im Kapitalismus vollzieht, eine Ursache für die Faszination, die für die geistigen Exponenten des aufsteigenden Bürgertums von dem Epochenvergleich mit der Antike ausgeht, wobei der Vergleich mit dem Menschenbild (bestimmter Epochen) der Antike zu einer Art vorweggenommener Kritik an den entmenschlichenden Folgen des Kapitalismus wird: „In der bürgerlichen Ökonomie — und der Produktionsepoche, der sie entspricht, — erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung, diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung, und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußren Zweck. Daher erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andrerseits ist sie es in alledem, wo geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung gesucht wird"70.

„Geschlossene Gestalt, Form und gegebene Begrenzung": Aus dem Kontext ergibt sich, daß hier vor allem an das Menschenbild zu denken ist. Bei aller Tendenz zu idealisierender Überhöhung ist also die klassische deutsche Literatur und Philosophie nach MARX' Überzeugung nicht einer Täuschung erlegen, wenn sie in bestimmten Formen des antiken Menschenbildes sehr bedeutsame Züge entdeckt hat. Unter diesem Aspekt erschließen sich wesentliche Seiten der frühen und klassischen Kunst und Literatur der Griechen, in der das Bild vom Menschen in groß angelegten, auf das Wesentliche konzentrierten Figuren und Handlungsabläufen Gestalt gewinnt. In der Totalität und Geschlossenheit des künstlerisch gestalteten Menschenbildes spiegeln sich Wesenszüge der realen Ausprägung des menschlichen Individuums in diesen Entwicklungsphasen der antiken Gesellschaft wider. Man kann wohl voraussetzen, daß M A R X den homerischen Helden vor Augen hat, auf den, wie wir sahen, bereits H E G E L in diesem Zusammenhang Bezug genommen hatte: den Helden, der sich im Krieg und sportlichen Wettstreit bewährt, sich an der Kunst der Sänger und Rhapsoden erfreut und auch nicht ganz die Verbindung zur Sphäre handwerklicher 69 70

Grundrisse, 80. Grundrisse, 387 f.

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Tätigkeit verloren hat, wie manche Stellen der Odyssee es zeigen. Diese Züge „geschlossener Gestalt" des Menschenbildes lassen sich in der geschichtlichen Realität, besonders aber auch in der Form des überhöhten gesellschaftlichen Leitbildes bis ins 5. J h v. u. Z. verfolgen, wo sie im Ideal des vielseitig gebildeten und tätigen Polisbürgers noch einmal eine bedeutende Ausprägung erfahren. I n spezifischen Formen der Kunst und Literatur finden sie die ihrem Wesen adäquate Gestaltung. M A R X denkt, wie wir sahen, vor allem an die Plastik und an das Epos, wenn er die großen Leistungen der antiken Kunst hervorhebt. F ü r bestimmte Aspekte des Menschenbildes, für bestimmte Gattungen und Formen der Kunst konstatiert er in der Antike Voraussetzungen, die unter den Bedingungen einer hochgradigen Arbeitsteilung und wachsenden Entfremdung der Arbeit nicht mehr gegeben sind 71 . Über diese Probleme unterschiedlicher Entfaltung bestimmter Gattungen und Formen der Kunst weit hinausgehend hat M A R X dann die Feststellung getroffen, daß die kapitalistische Produktion generell der Entwicklung der Kunst und der Poesie feindlich sei. Auch dieser Gedanke ist bei H E G E L , wie oben angedeutet wurde, in gewissem Sinne vorbereitet. Wir können auf diese Problematik hier nicht näher eingehen. Festgestellt sei aber, daß bei M A R X damit so wenig wie in den Gedanken H E G E L S die Entwicklungsmöglichkeiten der Kunst in 'der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin in Frage gestellt sind72.

Sehr bemerkenswert ist, wie M A R X die Rolle der Arbeitsteilung bei der Entwicklung der antiken Kultur bewertet hat. Prinzipiell hat er die ambivalente Bedeutung der Arbeitsteilung für die Entwicklung des Menschen betont und so ein gewisses Gegengewicht gegen eine übertriebene Bewertung der Aspekte der „Totalität" und integralen Einheit der Lebensäußerungen geschaffen. Wenn die gesellschaftliche Arbeitsteilung von einer bestimmten Stufe der Entwicklung an zur Vereinseitigung und Verkrüppelung der menschlichen Potenzen führt, so ist sie doch die unerläßliche Voraussetzung für die Entfaltung der Kultur überhaupt und schafft zunächst auch günstige Voraussetzungen für die Entfaltung der i n d i v i d u e l l e n Wesenskräfte. I n der frühen Phase der griechischen Polis, wo „die kleine Bauernwirtschaft 71

Der Gedanke, daß jede historische Periode Kunstwerke von einmaliger, nicht reproduzierbarer Gestalt und einer besonderen Schönheit hervorbringt, der den Kern von M A R X ' Analogie „Kindheit der Menschheit" bildet (vgl. oben S. 21), impliziert, daß auf dem Gebiet der Kunst bestimmte Errungenschaften früherer Phasen in späteren Epochen verlorengehen. In diesem Sinn deutet M. K A G A N , Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, Berlin 21971, 551 f., auch den Satz von M A R X über antike Kunstwerke als Norm und Muster, damit freilich der komplexeren Problematik des Normgedankens nicht ganz gerecht werdend. 72 Zum richtigen Verständnis der Feststellung von M A R X : „... kapitalistische Produktion ist gewissen geistigen Produktionszweigen, z. B. der Kunst und Poesie, feindlich" (Theorien über den Mehrwert, MEW, Bd. 26.1, Berlin 1965, 257) vgl. K A G A N , a. O . 413f.

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und der unabhängige Handwerksbetrieb" die Basis der Produktion bilden73, herrschen günstige Bedingungen für die Entwicklung künstlerischer Potenzen. Wo, wie MARX ausführt, „der Arbeiter freier Privateigentümer seiner von ihm selbst gehandhabten Arbeitsbedingungen ist, der Bauer des Ackers, den er bestellt, der Handwerker des Instruments, worauf er als Virtuose spielt" 74 , können sich im Arbeitsprozeß selbst schöpferische künstlerische Kräfte entfalten. Es sei hier nur an die Töpferkunst erinnert. Aber auch die frühen Anfänge der Warenwirtschaft haben für die Entwicklung des Individuums positive Folgen. MARX hebt hervor, daß auf dieser Stufe durch Spezialisierung nicht nur die Waren besser gemacht, sondern auch die Talente der Menschen entwickelt werden: „Also Produkt und Produzent werden verbessert durch die Teilung der Arbeit" 76 . In der frühen Zeit der Polisgesellschaft bieten auch die besonderen Ausprägungen in den Beziehungen zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft günstige Voraussetzungen für die Ausbildung des Individuums. Nach Auflösung der engeren gentilen Bindungen und „bevor sich die Sklaverei der Produktion ernsthaft bemächtigt hat", nach MARX die „beste Zeit" der klassischen Gemeinwesen76, findet sich der einzelne in der Gesellschaft nicht isoliert, sondern in eine Gemeinschaft gestellt, in der — ungeachtet der Klassengegensätze — in bestimmtem Maße die Interessen des Ganzen über das Einzelinteresse dominieren: Letzter Zweck der Produktion ist die Reproduktion des Gemeinwesens77. Ein relativ fortgeschrittener Stand der Arbeitsteilung findet dann in der Reifezeit der Polis in der Scheidung von materieller und geistiger Tätigkeit seinen Ausdruck, einer Teilung der Arbeit, die die Sklaverei in ihrer entwickelten Form zur Grundlage hat. Diese Arbeitsteilung hat eine hohe Blüte der Kultur im Gefolge gehabt. Die Befreiung von unmittelbar produktiver Tätigkeit verschafft der Oberschicht der Freien die „Muße", die frei verfügbare Zeit, die es ihren Vertretern gestattet, sich ausschließlich oder vorwiegend politischer, militärischer, theoretischer oder künstlerischer Tätigkeit zu widmen. Die große Masse der freien Bevölkerung (Bauern, kleine Handwerker und Kaufleute) kann zwar dank staatlicher Diätenzahlungen und Unterstützung durch Sklavenarbeit in gewissem Maße am politischen und kulturellen Leben der Polis teilnehmen, hat aber keine Möglichkeit, darüber hinaus an der Muße 73 74 75 76 77

K. MARX, Das Kapital, I, MEW, Bd. 23, Berlin 1969, 354, Anm. 24. Das Kapital, I, MEW, Bd. 23, 789. Das Kapital, I, MEW, Bd. 23, 387. Das Kapital, I, MEW, Bd. 23, 354, Anm. 24. Das Kapital, III, MEW, Bd. 25, Berlin 1968, 839.

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zu partizipieren, also zum Genuß freier Selbstbetätigung zu gelangen 78 . Bei der Oberschicht ist durch das Verdikt über die körperliche Arbeit die „Totalität" der Lebensäußerungen eingeschränkt, was bestimmte Deformationen im Menschenbild zur Folge hat. Die mit dem stärkeren Vordringen der Warenwirtschaft in den fortgeschrittensten Poleis wachsenden Entfremdungserscheinungen konnten aber in dieser Periode niemals zu einem das Leben der Gesellschaft total bestimmenden Wesenszug werden wie unter den Bedingungen einer entwickelten kapitalistischen Warenwirtschaft 7 9 . Nicht sachliche, verhüllte, sondern persönliche, offene Abhängigkeitsverhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft bestimmen die Lebensformen der Gesellschaft. Auch unter den Verhältnissen fortgeschrittener Entwicklung bleibt die für die Ausbildung der Kunst so bedeutsame Betonung und Würdigung des Gebrauchswertes der Produkte charakteristisch, wie M A R X hervorhebt 80 . Es wäre aber falsch — und findet in MARX' Darlegungen keine Grundlage —, ein solches retardierendes Moment in seiner Bedeutung für die antike Kultur zu verabsolutieren, wie es bisweilen geschieht. Wenn derartige Erscheinungen für das Gedeihen der K u n s t günstige Bedingungen schufen und lange Zeit erhielten, so muß doch andererseits entschieden hervorgehoben werden, daß die für antike Verhältnisse sehr raschen Fortschritte in der Entwicklung der Warenwirtschaft in den progressiven Zentren Griechenlands die materiellen Grundlagen für die Entwicklung einer hohen Kultur im ganzen schufen. Hier wurden Kräfte freigesetzt, die über den Horizont der Polis bald hinausgeführt haben und in der hellenistisch-römischen Kultur auch geistig zu wesentlicher Prägung gelangten. Abschließend sei noch ein Hinweis auf ein Phänomen der antiken Kultur gestattet, zu dem M A R X zwar nur knappe, aber doch richtungweisende Ausführungen gemacht h a t : den Mythos. Es wurde oben dargelegt, daß H E G E L die Beziehung, die in der Ausbildung des griechischen Mythos zwischen den breiteren Grundlagen gesellschaftlicher Tradition und der dichterischen Weiterbildung dieser Grundelemente 78 Ein Beispiel dafür, „daß diese Entwicklung der Fähigkeiten, der Gattung Mensch... sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen macht", „daß also die höhere Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Prozeß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden ..." (K. MARX, Theorien über den Mehrwert, II, MEW, Bd. 26.2, Berlin 1967, 111). 79 „Je weniger gesellschaftliche Kraft das Tauschmittel besitzt, je zusammenhängender es noch mit der Natur des unmittelbaren Arbeitsprodukts und den unmittelbaren Bedürfnissen der Austauschenden ist, um so größer muß noch die Kraft des Gemeinwesens sein, das die Individuen zusammenbindet, patriarchalisches Verhältnis, antikes Gemeinwesen, Feudalismus und Zunftwesen" (Grundrisse, 75). 80 Das Kapital, I, MEW, Bd. 23, 386 ff.

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besteht, hervorgehoben hat 81 . M A R X betont, daß die schöpferischen Kräfte des Volkes in der Prägung kollektiver Vorstellungen von großer Bildhaftigkeit, wie sie dem Mythos eigen sind, bereits unmittelbar der künstlerischen Produktion vorarbeiteten: „Die griechische Kunst setzt die griechische Mythologie voraus, d. h. die Natur und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie"82.

Mit diesem Hinweis auf die vom Mythos geleistete spezifische Form der Auseinandersetzung mit der natürlichen und gesellschaftlichen Realität ist eine Wertung vollzogen, die den Intentionen der neueren Forschung voll entspricht: Der Mythos wird nicht mehr einfach mit den Schöpfungen der frühen griechischen Dichtung identifiziert, sondern es ist in ihm eine eigenständige ursprüngliche Form des gesellschaftlichen Bewußtseins erkannt, auf die einerseits die Dichtung und bildende Kunst aufbauen konnte wie andererseits die Philosophie in Auseinandersetzung mit dieser Form erwachsen ist. IV. Kommen wir noch einmal zu den drei Problemkreisen zurück, die den Ausgangspunkt unserer Darlegungen gebildet hatten: Lebensaltervergleich, normative Geltung und historische Wurzeln der antiken Kultur. Es hat sich gezeigt, daß diese drei Elemente in MARX' Gedanken über die antike Kultur ungeachtet des unmittelbaren Zusammenhangs mit den Konzeptionen der klassischen deutschen Ästhetik und Geschichtsphilosophie in einem grundlegend neuen Kontext und in z. T. veränderter Funktion erscheinen. Das gilt in besonderem Maße vom Lebensaltervergleich, der als geschichtsphilosophische Kategorie weder in der keimhaften Form der Aufklärungsphilosophie noch in der ausgebildeten Prägung, wie er bei H E G E L erscheint, für den historischen Materialismus Relevanz besitzt. Gleichwohl hat M A R X diese Analogie in einem eingeschränkten und spezifischen Sinn benutzt, um einen Zugang zu einem grundlegenden kulturtheoretischen Problem zu eröffenen: der Rolle des künstlerischen Erbes in der kulturellen Entwicklung. Die Bedeutung des Erbes liegt in dieser Sicht darin, daß es uns in die Lage versetzt, in unmittelbaren Kontakt mit den Hinterlassenschaften von Entwicklungsstufen der menschlichen Gattung zu treten, die für immer vergangen sind, aber in den kulturellen Besitz der Menschheit Werte eingebracht haben, die in dieser Form einmalig und nicht reproduzierbar sind. 81 82

Vgl. oben S. 18. Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, 641.

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Aus dieser Sicht gewinnt auch die für die klassische deutsche Ästhetik so bedeutungsvolle Frage nach der „normativen" Geltung antiker Kunst ein neues Gesicht. Eine Kanonisierung schlechthin gültiger Muster kann es nicht mehr geben, wohl aber die Reproduktion von Werten der Vergangenheit auf höherer Stufe. I n der bürgerlichen Antikerezeption blieb stets eine Spannung zwischen normativer Verabsolutierung und wachsender Einsicht in die historischen Grundlagen der antiken Kulturentwicklung bestehen. Bei MARX korrespondiert dem Prinzip eines strengen Historismus in der Untersuchung der Entstehungsbedingungen vergangener Kulturen der Grundsatz einer differenzierenden Aufnahme bestimmter Elemente der Tradition auf dem Wege schöpferischer Aneignung und Reproduktion. Auch das Mittel, durch den Vergleich mit früheren historischen Entwicklungsstufen bestimmte Wesensmerkmale der bürgerlichen Gesellschaft herauszuarbeiten, dessen sich bereits die klassische deutsche Philosophie und Ästhetik bedient hatte, wird bei MARX mit der Analyse der sozialökonomischen Grundlagen auf eine neue Stufe gehoben. Zwei Fragen ergeben sich für eine abschließende Betrachtung. 1. Wenn sich der Glaube an absolute Normen und Muster von schlechthinniger Vollkommenheit als Bestandteil einer historisch überholten Form der Ideologiebildung erweist, wie steht es dann um die Bedeutung der antiken Kunst und Literatur für unsere Gegenwart? Muß die Verwerfung eines an überholte gesellschaftliche Bedingungen geknüpften Glaubenssatzes zur Unterbewertung der antiken Kultur, auch zur Unterschätzung ihrer Bedeutung für die Entwicklung der europäischen und der Weltkultur führen? Wir meinen, daß im Gegenteil die falsche Verabsolutierung antiker Werte, mit dem Dritten Humanismus bis in die erste Hälfte des 20. Jhs. hineinreichend, einer gerechten Würdigung der antiken Kultur allzu oft eher hinderlich gewesen ist. Stets tritt aber neben die exakte Erforschung der historischen Grundlagen vergangener Kulturen — untrennbar mit dieser verbunden — jene Form lebendigen Kontakts, schöpferischer Auseinandersetzung, die wir mit dem Begriff Rezeption bezeichnen. Sie hat MARX im Auge, wenn er die Reproduktion bestimmter Werte der Vergangenheit auf höherer Ebene als eine echte Aufgabe bezeichnet. Zwischen diesen beiden Aspekten des Verhältnisses zur Vergangenheit kann es keinen Gegensatz geben. Im Ringen um die Erkenntnis der historischen Wahrheit werden diejenigen Werte der Vergangenheit sichtbar, aus denen die Kultur unserer sozialistischen Gesellschaft Anregungen empfangen kann, nicht im Sinne eines Neoklassizismus, sondern im Herausarbeiten der progressiven Züge der Tradition und in einer Weise echter, auch die Distanz und die tiefen Widersprüche im Vollzug des historischen Fortschritts betonenden Auseinandersetzung.

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2. Welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus M A R X ' Verhältnis zum Antikebild der klassischen deutschen Literatur und Philosophie? Zwei Grundtatsachen sind immer wieder deutlich geworden. Die nicht unbeträchtlichen Anregungen, die M A R X auch auf diesem Teilgebiet besonders aus der klassischen deutschen Philosophie bezogen hat, auf der einen, das ständige Übersteigen dieser Positionen auf der anderen Seite. Auch auf dem Gebiet der Antikerezeption kann M A R X ' Verhältnis zur klassischen deutschen Philosophie nur als ein Vorgang der Aufhebung im hegelschen Sinne verstanden werden. Wesentliche Züge des Antikebildes der deutschen Klassik sind in M A R X ' Bewertung der Antike bewahrt. Gewisse Positionen, die sich aus der Begrenzung auf den Horizont der bürgerlichen Gesellschaft ergeben hatten, sind überwunden. Es ist bekannt und wurde wohl auch in unseren Ausführungen deutlich, daß das Antikebild der klassischen deutschen Ästhetik in sich außerordentlich differenziert ist. Wir sahen, daß sich ein Prozeß der Historisierung und Relativierung vollzog, der dem Absolutsetzen antiker Werte zuwiderlief. Zweifellos sind aber auch diese Formen der Rezeption noch geprägt von idealisierenden Überhöhungen in der Betrachtung der antiken Kultur. Absolutsetzung und Idealisierung der Vergangenheit sind unlösbar verbunden mit den „heroischen Illusionen", den produktiven Selbsttäuschungen, denen sich auch die besten Vertreter des aufsteigenden Bürgertums über die Möglichkeiten und die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hingaben, als sie ihre großen, weit über den Horizont ihrer Zeit hinausreichenden Konzeptionen menschlicher Selbstverwirklichung schufen83. Für ein solches Verhältnis zur Antike gibt es im historischen Materialismus keine Voraussetzungen84. Die Absage an eine Idealisierung und normative Verabsolutierung der Antike 83 Die Idealisierung und normative Verabsolutierung der Vergangenheit steht in einer dialektischen Beziehung zur Heroisierung der eigenen historischen Rolle, mit der sich das Bürgertum über die begrenzten Ziele seiner Emanzipationsbewegung hinwegtäuscht, um den Anspruch einer gesamtgesellschaftlichen Repräsentanz aufrechterhalten zu können. In dieser gewissermaßen „negativen" Funktion erschöpfen sich die „heroischen Illusionen" aber nicht. Stellen sie doch geradezu die Voraussetzung dafür dar, daß die bedeutendsten Vertreter des aufsteigenden Bürgertums ihre (die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft überschreitenden) gesellschaftlichen Leitbilder entwerfen konnten — nicht zuletzt an progressives Gedankengut der Antike anknüpfend. 84 Vgl. W. HEISE, a. O. 56: „Gewiß, das Proletariat bedarf nicht heroischer Illusionen, um sich über den Inhalt seiner Revolution hinwegzutäuschen. Es bedarf vielmehr des Abbaus aller Illusion, der klaren Bewußtheit seines eigenen Inhalts, um historischer Akteur zu sein. Es muß sich nicht selbst in Gestalt des Prometheus oder Herakles monumentalisieren, gerade weil es deren perspektivische geschichtliche Gehalte realisiert. Deshalb hat die sozialistische Position ein freies Verhältnis zur Vergangenheit, damit zum antiken Erbe, das nicht ein erbaulicher Tempel, sondern überkommenenes Material, das eigene Haus zu errichten, ist."

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kann aber nicht eine Absage an echte Werte bedeuten. Auch das aufsteigende Bürgertum hat an solche echten Werte angeknüpft und aus ihnen Anregungen für ein Bild.vom Menschen geschöpft, das vom Vertrauen in dessen universale Entfaltungsmöglichkeit und stets wachsende Selbstvervollkommnung geprägt war85. Es sind diese Züge im Antikebild der deutschen Klassik, an die M A K X angeknüpft hat und die im realen, im sozialistischen Humanismus aufgehoben sind. Berlin 85 Es muß hervorgehoben werden, daß bei den einzelnen Vertretern der klassischen deutschen Literatur und Ästhetik die Tendenzen der Idealisierung und normativen Verabsolutierung der Antike keineswegs zwangsläufig in gleichem Maße ausgeprägt sind. SCHILLER, der den Normgedanken zu überwinden vermochte, bleibt doch in hohem Grade dem idealisierenden Antikebild verhaftet, während H E R D E R und H E G E L zwar an der normativen Geltung der antiken Kunst festhalten, aber in Richtung auf die Erkenntnis der historischen Entwicklung der Antike beachtenswerte Fortschritte erzielen. I m übrigen sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß auch die normative Bewertung der antiken Kunst von den Theoretikern und schöpferisch produzierenden Künstlern der deutschen Klassik überwiegend nicht als Aufforderung zu sklavischer Imitation antiker Muster, sondern als Anregung zu einem schöpferischen Wettstreit mit den antiken Vorbildern verstanden worden ist. Nur im Sinne dieser produktiven Aneignung konnte das antike Erbe für die deutsche Klassik wahrhaft fruchtbringend werden.

HARTMUT

ERBSE

E U R I P I D E S ' ALKESTIS*) Die Handlung dieses ältesten der uns erhaltenen Euripidesdramen ist schlicht und durchsichtig, der Sinn des Spieles jedoch bis heute umstritten. Ja, in der Beurteilung der Gestalt des Admet sind die Gegensätze zwischen den modernen Erklärern z. Z . so groß, daß (wie L E S K Y es ausdrückt) „einem um die Euripides-Interpretation bange werden könnte"1. Wenn wir es trotzdem wagen, uns um eine Lösung der Sinnfrage zu bemühen, wenden wir uns nicht sofort diesem Philologenstreit zu, sondern überblicken zunächst rasch den Inhalt des Stückes. Im Prolog erfahren wir aus Apollons Munde, er habe den jungen, gottesfürchtigen König Admet, seinen menschlichen Freund und ehemaligen Dienstherrn, vor dem ihm zugedachten Tod bewahrt. Es sei ihm gelungen, die Moiren zu überlisten und zu dem Zugeständnis zu zwingen, daß ein anderer an Admets Stelle sterben dürfe. Freilich seien weder Vater noch Mutter zu einem solchen Opfer bereit gewesen, sondern nur die Gattin Alkestis. Heute noch müsse sie sterben. Schon erscheint der Tod, um sich sein Opfer zu holen. Nach einem kurzen Zwiegespräch mit Thanatos eröffnet Apollon, noch am gleichen Tage werde Herakles nach Pherai kommen und dem Tod seine Beute wieder abnehmen. Damit ist in bekannter Weise der Ausgang vorweggenommen: Der Zuschauer darf beruhigt ein Happy end erwarten und seine ganze Aufmerksamkeit den Aktionen und Reaktionen der Handelnden zuwenden, die über ein derartiges Vorherwissen nicht verfügen. Er sieht ihr Treiben gewissermaßen von einer höheren Warte aus an. Für die Beurteilung des Ganzen ist dieser Kunstgriff des Dichters nicht ohne Bedeutung. In einer mit Recht oft bewunderten Parodos äußert der Chor der pelasgiotischen Greise seine Ungewißheit über die Vorgänge im Palast. Gleich danach, im 1. Epeisodion (136—212), erhält er Aufklärung durch eine Dienerin, die Alkestis' Abschied von Haus und Gesinde in einem längeren Bericht darstellt. Ein kurzer Chorgesang (213—237) leitet zum Auftritt des Königspaares über: Die Alten bitten Apollon um Hilfe und erinnern ihn an seine engen *) Vortrag, gehalten am 8.12.1970 in Würzburg (überarbeitet). Völlig geändert ist der letzte Absatz, worin der Versuch gemacht wird, die Alkestisinterpretation dem Weltbild des Dichters einzuordnen. Ich scheute mich nicht, dort auszusprechen, daß auch Euripides ein Dasein ohne Ideale für menschenunwürdig hält. Aber er legt besonders strenge Maßstäbe an und setzt die leidige Schwäche des Durchschnittsmenschen in seine Rechnung ein. Deshalb entsteht so leicht der (uns Modernen nur zu vertraute) Eindruck, Euripides sei nur Kritiker, Dichter der Krise, Pessimist, ja Nihilist. Die „Alkestis" dürfte geeignet sein, die Enge und Einseitigkeit eines solchen Aspektes darzutun. 1 A. LESKY, Der angeklagte Admet, Maske und Kothurn 14, Graz 1964, 204—216 ( = Ges. S c h r i f t e n , B e r n 1966, 2 8 1 - 2 9 4 ) .

Euripides' Alkestis

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Beziehungen zum Haus des Admet. Sie wissen nicht, daß der Gott dieses Haus bereits verlassen hat, weil er mit dem Tod nicht in Berührung kommen darf. Der besser unterrichtete Zuschauer aber erkennt die Vergeblichkeit ihres Gebetes. Und seine Befürchtungen werden sofort bestätigt: Alkestis erscheint nun selbst, von ihrem Gemahl gestützt und kaum noch Herrin ihrer Kräfte. In einer ergreifenden Monodie (244ff., Beginn des 2. Epeisodions) ruft sie zunächst Sonne und Wolken an, meint dann, vor ihrem Vaterhaus in Iolkos zu stehen, und sieht sich schließlich dem Fährmann der Unterwelt, ja dem Totengott selbst gegenüber. Admets ernüchternder Zuspruch dringt nicht mehr zu ihr hin. Am Ende der Visionen sinkt sie erschöpft auf eine Kline nieder. Diese Darstellung der Agonie ist ein euripideisches Wunderwerk2, vergleichbar etwa der Wiedergabe von Phaidras pathologischen Zuständen im „Hippolytos" (198ff.). Die Monodie ist aber nicht nur um ihrer selbst willen bemerkenswert, etwa als Verdeutlichung eines komplizierten psychischen Erlebnisses mit einfachen poetischen Mitteln: Wir werden sehen, daß dieser eindrucksvolle Hinweis auf die Todesangst eine wesentliche Aufgabe im Spiel zu erfüllen hat und zu seinem Verständnis entscheidend beiträgt. In der folgenden Abschiedsszene (280ff.) fordert die totkranke Alkestis ihren Gatten auf, um der Kinder willen nicht wieder zu heiraten. Admet verspricht nachdrücklich, diesen Wunsch zu erfüllen. Darauf übergibt ihm Alkestis die Kinder und stirbt. Nach einer Monodie des Knaben Eumelos (393—415, vermutlich handelt es sich bei diesem Gesang eines Kindes um eine kühne Neuerung des Dichters) ordnet Admet eine ungewöhnlich lange und intensive Landestrauer an (bis 434)3. — Das 2. Stasimon (436—475) enthält ein begeistertes Lob der Verstorbenen: Die Greise versichern, nie habe eine bessere Frau die Unterwelt betreten. Sie sagen voraus, daß sie in Wort und Lied weiterleben werde, da ihre Tat ganz unvergleichlich sei. Wir werden noch zu prüfen haben, ob dieser Enthusiasmus dem Sinn der Handlung gerecht wird4. Nun tritt der bereits im Prolog angekündigte Heros Herakles auf (3. Epeisodion, 476 bis 567). Er ist auf dem Wege nach Thrakien, um für seinen Dienstherrn Eurystheus die menschenfleischfressenden Rosse des Königs Diomedes zu holen. Admet, der befürchtet, der Freund werde in seinem Haus nicht absteigen, wenn er die wahren Vorgänge erführe, täuscht ihn deshalb in zweideutigen Wendungen: Er erklärt, eine fremde Frau (oQvsXoq, d. h. nicht blutsverwandt) sei zufällig hier gestorben. Herakles ist aber auch jetzt noch nicht bereit, in einem Trauerhaus das Gastrecht in Anspruch zu nehmen. Jedoch Admet hält ihn fast gewaltsam fest 5 . — Daraufhin preist der Chor im 3. Stasimon (569 — 605) die edle Selbstverleugnung seines Königs, in dessen Palast selbst Götter (d. h. Apollon) zu Gaste waren. Die erste Gegenstrophe des Liedes schildert die Wunder, die Apollon als Diener Admets verrichtete: Wilde und zahme Tiere weideten friedlich vereint beim Leieroder Syrinxspiel des Gottes — unverkennbar ein Vorverweis auf das Wunder, das sich auch an den Auftritt des Herakles knüpfen soll. Nun naht der Leichenzug (4. Epeisodion, 614ff.), aber zugleich mit ihm eine peinliche Störung. Admets greiser Vater Pheres bringt seiner verstorbenen Schwiegertochter einen Totenschmuck. Admet jedoch verweigert die Annahme und macht den Vater in scharfen Worten für das Unglück des Hauses verantwortlich: Hätte Pheres, so ruft er aus, sich ent2 3

Vgl. die Analyse Schadewaldts, Monolog und Selbstgespräch, Berlin 1926, 143 — 147. Zu den Einzelheiten vgl. W. S t e i d l e , Studien zum antiken Drama, München 1968,

133. * Vgl. vor allem W. Küllmann, Zum Sinngehalt der euripideischen Alkestis, Antike und Abendland 13, 1967, 139. 5 Vgl. 544 ('Hp. [J.&&ei; \iz xai aoi (¿upiav e^co x