Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik: Historische und aktuelle Perspektiven 3515102086, 9783515102087

Peter Petersen gehört zu den wichtigsten und umstrittensten Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts. An seiner Universitäts

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German Pages 512 [514] Year 2012

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
EINLEITUNG
Teil I: Die Weimarer Zeit
„LOCARNO 1927“ UND „KLEINER JENA-PLAN“
„EINE SCHULE – EIN LEHRERSTAND“.
EINE DEMOKRATISCHE SCHULE?
„VOLK-BILDUNG“ – „VÖLKISCHE BILDUNG“ – „VOLKSBILDUNG“.
Teil II: Die NS-Zeit
PETERSEN UND DER NATIONALSOZIALISMUS
ZUR DISKUSSION UM DIE UNIVERSITÄTSSCHULE JENA IM NATIONALSOZIALISMUS
„LEHRERBILDUNG IM IRRGARTEN DER POLITIK“
Teil III: 1945–1991
DIE „PETERSENPLÄNE“ FÜR JENA, HALLE UND BREMEN
DIE REZEPTION DES JENAPLANS UND DER PETERSEN-PÄDAGOGIK IN DER BUNDESREPUBLIK ZWISCHEN 1952 UND 1990
BILDTAFELN
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
PERSONENVERZEICHNIS
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Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik: Historische und aktuelle Perspektiven
 3515102086, 9783515102087

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Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik Historische und aktuelle Perspektiven Herausgegeben von Peter Fauser, Jürgen John und Rüdiger Stutz unter Mitwirkung von Christian Faludi

Wissenschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag

Peter Fauser / Jürgen John / Rüdiger Stutz (Hg.) Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik

Peter Petersen und die Jenaplan-Pädagogik Historische und aktuelle Perspektiven Herausgegeben von Peter Fauser, Jürgen John und Rüdiger Stutz unter Mitwirkung von Christian Faludi

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Jena und der Friedrich-Schiller-Universität Jena Umschlagabbildungen: Morgenfeier an der Universitätsschule mit Peter Petersen, Ausschnitt (1935) Quelle: Tilmann Petersen Gebäude der Universitätsschule Grietgasse 17a (1927) Quelle: PPAV Biologieunterricht an der Universitätsschule mit Hans Wolff, Ausschnitt (1927) Quelle: PPAV

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10208-7

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Die Weimarer Zeit Franz-Michael Konrad „Locarno 1927“ und „Kleiner Jena-Plan“ – Ein innovatives Gestaltungsmodell pädagogischen Denkens, seine Entstehungshintergründe und seine Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen John „Eine Schule – ein Lehrerstand“. Lehrerbildung, Erziehungswissenschaftliche Anstalt und Universitätsschule als Peter Petersens Jenaer Handlungsfelder 1923 bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter Fauser Eine demokratische Schule? Die Universitätsschule Jena in ihrer Weimarer Gründungszeit. Versuch einer demokratiepädagogischen Qualitätsanalyse ihrer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Justus H. Ulbricht „Volk-Bildung“ – „völkische Bildung“ – „Volksbildung“. Politischideologische Gemengelagen im pädagogischen Diskurs der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Teil II: Die NS-Zeit Hans-Christian Harten Petersen und der Nationalsozialismus – SS-nahe akademische Netzwerke der Erziehungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Hein Retter Zur Diskussion um die Universitätsschule Jena im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

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Inhaltsverzeichnis

Rüdiger Stutz „Lehrerbildung im Irrgarten der Politik“ – Die Erziehungswissenschaftliche Anstalt Peter Petersens und der Dauerstreit um die akademische Ausbildung von Volks- und Berufsschullehrern in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Teil III: 1945–1991 Marc Bartuschka Die „Petersenpläne“ für Jena, Halle und Bremen – eine Zeit der unbegrenzten Hoffnungen nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Will Lütgert Die Rezeption des Jenaplans und der Petersen-Pädagogik in der Bundesrepublik zwischen 1952 und 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Jürgen John/Michael Retzar/Rüdiger Stutz Jenaplan-Renaissance, Petersen-Ehrung und Schulgründung 1990/91 in Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Bildtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505

VORWORT Im Herbst 1923 berief der sozialdemokratische Volksbildungsminister Max Greil den Hamburger Reformpädagogen Peter Petersen zum Ordinarius für Erziehungswissenschaft an die Thüringische Landesuniversität nach Jena. Damit kam erstmals ein engagierter Schulreformer auf einen universitären Lehrstuhl. Der „pädagogische Aufbruch“ in Thüringen schien Petersen besonders günstige Wirkungsmöglichkeiten zu bieten. Allerdings war die Lage im Lande kritisch, die Landesregierung nur noch kurz im Amt und ihr Ziel, eine Pädagogische Fakultät für die vollakademische Lehrerbildung zu schaffen, nicht erreichbar. Petersen konnte aber eine Erziehungswissenschaftliche Anstalt aufbauen, der Ende 1924 die Lehrerbildung übertragen, seit 1928 aber wieder entzogen wurde. Seine Absicht, die 1844 von Karl Volkmar Stoy begründete und 1886 von Wilhelm Rein umgeformte Universitäts-Übungsschule zu Gunsten seiner Forschungsinteressen zu schließen, ließ Petersen angesichts massiver Widerstände wieder fallen. Stattdessen gestaltete er sie 1924 nach dem Vorbild der Lebensgemeinschafts- und Arbeitsschulen neu. 1926 erhielt die so umgegründete Schule den Namen „Universitätsschule“. Hier entstand jenes Schulmodell, das seit der „New Education Fellowship“-Konferenz 1927 in Locarno als „Jena-Plan“ weltbekannt wurde. Der damals verfasste, später sogenannte Kleine Jena-Plan dürfte die auflagenstärkste pädagogische Schrift des 20. Jahrhunderts sein. Er stellt bis heute ein wichtiges reformpädagogisches Referenzkonzept dar. Praktische zeitgenössische Wirkung im öffentlichen Schulwesen erreichte er freilich nur an einigen Schulen Preußens. In Jena selbst scheiterte entsprechendes Bestreben. Petersens weiteres Wirken war eng mit den Zäsuren und politischen Systemen nach 1933 und nach 1945 verbunden. In der NS-Zeit verfolgte er eine illusionäre Doppelstrategie systembezogener Selbstmobilisierung einer- und politikferner pädagogisch-praktischer Kontinuität andererseits. Mit seinen Bündnissen und seiner Publizistik in der Sprache des „Dritten Reiches“ geriet er in eine für viele unerträgliche Nähe zum NS-System, das Petersens „liberalistische“ Pädagogik jedoch ablehnte und seine Schule beargwöhnte. Nach 1945 versuchte Petersen als Dekan der neuen Jenaer Sozialpädagogischen Fakultät sowie mit Plänen für die Neugestaltung der Franckeschen Stiftungen Halle und für eine Internationale Universität Bremen einen „pädagogischen Neubeginn“. Doch scheiterte das an den politischen Realitäten wie auch an seiner Person. 1950 ließ die Thüringer Volksbildungsministerin Marie Torhorst (SED) die Universitätsschule als „reaktionäres, politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik“ schließen und seine Anstalt 1951 in ein Institut umwandeln. Nach seinem Tod (1952) wurde Peter Petersen in der DDR bis zu deren Ende weitgehend beschwiegen. Reformpädagogische Ideen passten nicht in das Schulund Bildungssystem der DDR. In der Bundesrepublik fand Petersens Pädagogik dagegen vor allem durch das Bemühen seiner Schüler, sein Andenken zu wahren,

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Vorwort

Beachtung. Eine systematische Petersen-Forschung kam aber erst in den 1990er Jahren zustande. Dazu stellten das „Petersenjahr“ 1984 und die kontroversen Debatten über Petersens Verhalten und seine Schriften in der NS-Zeit Weichen. Diese bundesdeutschen Auseinandersetzungen kulminierten just zu dem Zeitpunkt, als mit dem „pädagogischen Aufbruch“ 1989/90 am Ende der DDR eine Reformpädagogikund Jenaplan-Renaissance einsetzte. In deren Kontext entstand 1991 in Jena eine neue „Jenaplan-Schule“. Die in den 1990er Jahren und nach 2000 forcierten kritischen Forschungen über Petersen (vor allem in Braunschweig) und zur Jenaer Universitätsgeschichte (in Jena) fanden kaum öffentliche Resonanz. Erst 2009 löste die Frankfurter Habilitationsschrift Benjamin Ortmeyers mit medienwirksamen Thesen eine öffentliche Debatte über Petersen und den Nationalsozialismus aus. Die Stadt Jena und die Friedrich-Schiller-Universität waren bestrebt, mit öffentlichen Diskussionen und einem Experten-Workshop die zunehmend polemisch geführte Debatte zu versachlichen und auf möglichst breite wissenschaftliche Grundlagen zu stellen. Der vorliegende Band geht auf diesen Workshop zurück, der am 4./5. November 2010 in der „Imaginata“ in Jena stattfand. Seine Gliederung in drei Teile entspricht den Arbeitsphasen des Workshops, dem sich eine öffentliche – hier nicht dokumentierte – Diskussionsrunde anschloss. Die meisten Beiträge dieses Bandes sind aus den Workshop-Referaten hervorgegangen. Einige wurden durch umfangreiche Forschungen unter anderem im Bundesarchiv, Dienstort Berlin-Lichtenfelde, im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar, in den Universitätsarchiven Jena und Halle sowie im PeterPetersen-Archiv Vechta thematisch und empirisch erweitert. Der Band fasst so nicht nur bisherige Forschungsergebnisse zusammen, er legt auch in erheblichem Maße neue vor und lenkt den Blick dabei vor allem auf die universitären Handlungsfelder Petersens und auf die Praxis der Universitätsschule. Die Herausgeber und Autoren sind vielen zu Dank verpflichtet, vor allem den Kolleginnen und Kollegen aus den oben genannten Archiven, namentlich Herrn Dr. Peter Remmert (Vechta) und Frau Margit Hartleb (Jena), weiterhin dem Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur für zur Verfügung gestellte Unterlagen sowie Frau Rosa Maria Haschke und Herrn Rüdiger Schütz (beide Jena) für die Einsicht in ihre privaten Sammlungen. Besonders zu danken ist auch der Stadt Jena, ihrem Oberbürgermeister Dr. Albrecht Schröter und ihrem Bürgermeister Frank Schenker sowie der Friedrich-Schiller-Universität und ihrem Rektor Prof. Dr. Klaus Dicke für die Unterstützung der Forschungsarbeiten und die Finanzierung des Bandes. Des Weiteren ist dem Franz Steiner Verlag zu danken, der diesen Band in sein Verlagsprogramm aufgenommen, Herrn Dr. Andreas Krause (Jena), der ihn gesetzt und Herrn Christian Faludi (Jena), der ihn redaktionell betreut hat.

Jena, im Juli 2012

Die Herausgeber

EINLEITUNG ANLIEGEN UND ZIELE Der Workshop vom November 2010, auf den die Beiträge dieses Bandes zurückgehen, bot Gelegenheit, frühere Forschungsergebnisse zusammenzufassen und neue vorzustellen, sie im Kontext aktueller Diskussionen zu prüfen und in vergleichende Perspektiven zu rücken. Er schloss so an historisch-kritische Petersen- und JenaplanForschungen an, die sich vor allem seit den 1980er/90er Jahren um ein wissenschaftlich fundiertes und differenziertes Bild dieses wichtigen Kapitels deutscher und internationaler Reformpädagogik-Geschichte bemühten und dabei auch die Forschungslücken kenntlich machten. Die in einer ausführlichen Bilanz1 zusammengefassten Ergebnisse der Thesen, Referate und Diskussionen des Workshops haben größtenteils Eingang in die Beiträge dieses Bandes gefunden. Doch ist er kein reiner Tagungsband. Ein Workshop-Beitrag ist entfallen.2 Andere Referate wurden erheblich verändert, thematisch erweitert und im Ergebnis umfangreicher Archivrecherchen inhaltlich ausgebaut. Die Arbeiten an den Beiträgen waren daher noch einmal mit einem beträchtlichen Forschungsaufwand verbunden. Der Band konzentriert sich auf Petersens Jenaer Wirkungszeit von 1923/24 bis 1950/52, ohne damit eine engere lokalgeschichtliche Perspektive einzunehmen. Petersen wirkte weit über Jena hinaus in nationalen und transnationalen Zusammenhängen. Sein Denken und Wirken erschließt sich aus solchen Zusammenhängen wie aus den konkreten Handlungsfeldern vor Ort und den systembedingt verschiedenen Konstellationen der im Band untersuchten drei Wirkungsperioden Petersens. Die Zeit der Weimarer Republik (Teil I) stand im Zeichen des „pädagogischen Aufbruchs“ nach Weltkriegskatastrophe, Revolution und Republikgründung mit allen damit verbundenen Hoffnungen, Gestaltungsmöglichkeiten und Enttäuschungen. Diese Weimarer „Gründerzeit“ der Jenaplan-Pädagogik und des Gesamtwirkens Petersens nimmt mit vier Beiträgen den größten Raum des Bandes ein. Für die in drei Beiträgen behandelte NS-Zeit (Teil II) lässt sich eine ebenso ambivalente wie illusionäre Doppelstrategie systembezogener Selbstmobilisierung einer- und politikferner pädagogisch-praktischer Kontinuität andererseits feststellen. Dieses Verhalten bedeutete für Petersen eine „moralische Selbstbeschädigung“, obwohl sein Bestreben, am „nationalsozialistischen Erziehungsgeschehen“ aktiv mitzuwirken, scheiterte. Petersens Wirken nach 1945 kam einem „pädagogischen Neubeginn“ nach der Totalkatastrophe des NS-Systems und des Zweiten Weltkrieges gleich, der aber schon nach 1 2

Peter Fauser/Jürgen John/Rüdiger Stutz: Ergebnisbilanz des Workshops „Peter Petersen und die Jenaplanpädagogik. Historische Befunde und Aktualität“, MS. (23.11./13.12.2010). Steffen Doerk: Die Buchenwald-Vorträge der 13 Jenaer Hochschullehrer vor inhaftierten norwegischen Studenten 1944; der Beitrag kam aus persönlichen Gründen nicht zustande; das Thema wird dankenswerter Weise von Hans-Christian Harten in dessen Beitrag mit behandelt.

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Einleitung

wenigen Jahren an den Realitäten der Besatzungszeit und der SBZ/DDR scheiterte. Kurz vor seinem Tode setzten 1950/51 die Schließung der Universitätsschule und die Umwandlung der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt Schlusspunkte unter Petersens Jenaer Wirken. Mit diesen Vorgängen, der bundesdeutschen Petersen-Rezeption und der Jenaplan-Renaissance nach dem Ende der DDR befassen sich die letzten drei Beiträge (Teil III). Ohne Vollständigkeit anzustreben, ist der Band um einen möglichst komplexen Untersuchungsansatz bemüht, um Petersens Denken und Verhalten als Wissenschaftler, Publizist, Schulpädagoge und Lehrerbildner zu erfassen. Weniger das bereits häufig untersuchte erziehungstheoretische Wirken Petersens steht im Mittelpunkt des Interesses, als vielmehr von der bisherigen Forschung bislang kaum oder nur in Ansätzen Untersuchtes: Erstens die pädagogische Praxis des universitären Schulversuchs als konzept- und theoriebildende Grundlage des seit 1927 international bekannt werdenden „Jenaplan“-Modells, ihre zeitgenössische Wirkung und ihre Aktualität im Zusammenhang von Demokratiepädagogik, Deutschem Schulpreis und heutigen Reformschulen; zweitens Lehrerbildung, Erziehungswissenschaftliche Anstalt und Universitätsschule als bislang nicht systematisch untersuchte universitäre Handlungsfelder Petersens von 1923/24 bis 1950/51 in ihren Bezügen zu seinen schul-, hochschul- und lehrerbildungspolitischen Schriften; drittens Petersens Denkmuster, Verhaltensweisen und Netzwerke im Kontext unterschiedlicher politischer Konstellationen und geistig-politischer Profile der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die mit dem „pädagogischen Auf- und Umbruch“ 1989/90 verbundene Jenaplan-Renaissance wird in diesem Band überhaupt zum ersten Mal quellengestützt am Jenaer Beispiel dargestellt. Mit seinen Untersuchungsergebnissen stellt der vorliegende Band einen wichtigen Beitrag zur historisch-kritischen Petersen-Forschung dar, von der in den kommenden Jahren weitere Aufschlüsse zu erwarten sind. TEIL I: DIE WEIMARER ZEIT Die Beiträge des ersten Teiles dieses Bandes behandeln Petersens Wirkungszeit von seiner Berufung an die Jenaer Universität 1923 bis zum Ende der Weimarer Republik mit folgenden inhaltlichen Schwerpunkten: der „Jena-Plan“ als innovatives reformpädagogisches Gestaltungsmodell; Lehrerbildung, Erziehungswissenschaftliche Anstalt und Universitätsschule als universitäre Handlungsfelder Petersens; die pädagogische Praxis der Universitätsschule in historischer und aktueller Perspektive; Volksbildungskonzepte und geistig-politische Universitätsprofile der Weimarer Zeit. Das 1924 begründete, 1925 als „Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeitsund Lebensgemeinschaftsschule“ beschriebene, 1927 als „Jena-Plan“ bezeichnete Schulmodell zählt zum Kernbestand reformpädagogischer Alternativschulkonzepte. Es setzt bis heute Maßstäbe für eine moderne, integrative, chancengleiche und kindgerechte Schule. Petersens vierzigseitige Schrift „Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule“ (später „Kleiner Jena-Plan“ genannt) hat seit 1927 über 60 Auflagen erfahren. Wie die drei Bände des „Großen Jena-Planes“ (1930/34) gehört sie zu den Klassikern reformpädagogischer Literatur. Zwar wird der seit 1924 ent-

Einleitung

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wickelte „Jena-Plan“ bis heute erziehungstheoretisch gedeutet.3 Doch wirkt er als modellhaft verdichtete Schulbeschreibung und als Spiegelbild pädagogischer Praxis, nicht durch allgemeine Erziehungstheorien. Denen widmete sich Petersen in anderen Werken. Er war nicht nur der einzige Schulreformer der Weimarer Zeit mit einer Universitätsprofessur, sondern auch der einzige namhafte Erziehungswissenschaftler, der selbst einen Schulversuch unternahm und ihn durch „pädagogische Tatsachenforschung“ empirisch überprüfen ließ. Nach dem Schulreformermotto „Ein Volk – eine Schule – ein Lehrerstand“ setzte er sich zudem für die volluniversitäre Lehrerbildung auch der Volksschullehrer ein. Gerade die Verbindung von Erziehungstheorie und empirischer Forschung, Schulversuch und Schulpraxis, Bildungs-, Schul- und Hochschulpolitik ließ Petersens international vernetztes Jenaer Wirken seit 1923/24 ins Zentrum der vom „pädagogischen Aufbruch“ nach 1918 geprägten Bestrebungen und Konflikte rücken. All das macht Petersens Erziehungswissenschaftliche Anstalt mit ihrer Universitätsschule so aufschlussreich für pädagogisch-historische Forschungen. Der vor allem auf Schriftenanalyse beruhende Beitrag von Franz-Michael Konrad führt in diesen Gesamtkontext ein. Ausgehend vom Locarno-Kongress der 1921 als „Internationale der Reformpädagogik“ gegründeten „New Education“-Bewegung, betont Konrad den Internationalismus im Denken und Wirken Petersens. Es war von der internationalen Reformpädagogik inspiriert und wirkte auf sie zurück. Petersens Locarno-Vortrag 1927 und die Metapher „Locarno 1927“ stehen dafür ebenso als symbolischer Ausdruck wie sein Bekenntnis zu den Verfassungsgrundsätzen der Erziehung „im Geiste deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“. Petersen gehörte schon nach wenigen Jahren zu den international bekanntesten Professoren der Jenaer Universität. Daran anknüpfend behandelt Konrad die auf den „Jena-Plan“ einwirkenden pädagogischen Impulse. Er zeigt, wie stark Petersen in der nationalen und internationalen Schulreformbewegung seiner Zeit verankert war und ihre Prinzipien vertrat. Das gilt auch für den Gedanken einer „staatsfreien Gemeinschaftsschule“, die auf die erzieherische Wirkung der „Schulgemeinde“ setzte. Konrad argumentiert gegen die – namentlich auf Herman Nohl zurückgehende – Vorstellung, Petersen habe völlig mit dem in Jena stark ausgeprägten „Herbartianismus“ gebrochen. Den zählt Konrad vielmehr zur Vorgeschichte des „Jena-Planes“. Vor allem die Kontinuität der Schulpraxis habe Petersen mit seinem Vorgänger Rein verbunden und grundsätzlich von der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“ unterschieden, der es völlig fern lag, sich mit der Schulpraxis zu befassen. Wie die nachfolgenden Beiträge (John, Fauser) verdeutlicht Konrad aber auch den Bruch, den Petersen mit dem Übungscharakter der Vorgänger-Schule, ihren autoritären Methoden und der gesamten herbartianischen Ideenwelt vollzog. In weiteren Abschnitten geht Konrad detailliert auf die innovativen Züge des „Jena-Planes“ und auf seine späteren – gemessen am Nimbus recht begrenzten – Wirkungen ein. In den letzten beiden Abschnitten greift er Fragen aktueller PetersenDebatten auf. Konrad zeigt, wie Petersen nach 1933 seine liberalen Ideen und Prinzipien umdeutete, wendet sich aber gegen die keineswegs neue Behauptung eines gleichsam „gesetzmäßigen Weges“ Petersens in den Nationalsozialismus. In einem 3

Zuletzt Ralf Koerrenz: Schulmodell: Jena-Plan. Grundlagen eines reformpädagogischen Programms, Paderborn u.a. 2012.

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Einleitung

abschließenden Exkurs verdeutlicht der Autor, dass Petersen mit „Führung“ die verantwortliche Rolle des Lehrers im Unterricht umschrieb – in klarer Absage an jegliche autoritäre Tendenzen. „Führung“ und „Freiheit“ gehörten für Petersen untrennbar zusammen. Mit pädagogischer „Überwältigung“ oder gar dem NS-„Führer“-Gedanken hatte das nichts zu tun. Das unterstreichen auch die beiden folgenden Beiträge zur Universitätsschule in Auseinandersetzung mit Interpretationen, die ihr und dem „Jena-Plan“ einen „totalitär-autoritären“ Grundzug zuschreiben.4 Jürgen Johns Beitrag geht von Petersens Berufung durch den sozialdemokratischen Volksbildungsminister Max Greil 1923 aus. Er zeigt, wie Greils Ministerium im Anschluss an die Schulgesetze 1922/23 die schulische und pädagogische Landschaft Thüringens mit dem Ziel neu gestalten wollte, das Universitätsstudium der Volksschullehrer durchzusetzen. Als Schulreformer kam Petersen diesen Absichten Greils sehr nahe. Als philosophiegeschichtlich arbeitender Wissenschaftler wurde er aber auch – im Gegensatz zu anderen von Greil neu Berufenen – universitätsseitig akzeptiert. Daran anschließend beschreibt der Beitrag Petersens universitäre Handlungsfelder und das zerklüftete pädagogische Milieu Jenas mit den bildungs-, schul- und landesgeschichtlichen Kontexten. Ihre Struktur-, Funktions- und Personalgeschichte wird damit erstmals systematisch und aktengestützt dargestellt. Vordem wurde sie nur mit Blick auf Petersens Schul- und Lehrerbildungskonzepte behandelt.5 Zunächst porträtiert John die von Greil Ende 1923 für Lehrerbildungszwecke als Vorstufe einer Pädagogischen Fakultät eingerichtete Erziehungswissenschaftliche Abteilung, die nach dem Regierungswechsel Anfang 1924 bereits wieder aufgelöst wurde. Darauf folgend behandelt er die von Petersen initiierte Erziehungswissenschaftliche Anstalt, der Ende 1924 die universitäre Lehrerbildung übertragen wurde. John skizziert den Lehr- und Forschungsbetrieb der Anstalt, ihren Personalbestand, ihre Tätigkeiten und ihre Schule, die seit 1926 den Namen „Universitätsschule“ trug und zur Geburtsstätte des „Jena-Planes“ wurde. Er zeigt, wie Petersen die von Rein übernommene universitäre „Übungsschule“ zunächst komplett auflösen wollte, dann aber umformte und an ihrer Stelle eine Reformschule mit zunächst einer, später drei Gruppen schuf. Deren Elternrat gründete 1926 einen „Freundeskreis“ vor allem mit dem Ziel, die Reformideen in das öffentliche Schulwesen zu tragen. Dieses Bestreben scheiterte ebenso wie die volluniversitäre Lehrerbildung. Mit der Gründung eines der Universität nur angegliederten Pädagogischen Institutes 1927/28 begann – mit Petersens Worten – die „Rückbildung“ beziehungsweise der „Abbau“ der Lehrerbildung, mit der seine Anstalt ihre lehrerbildenden Kompetenzen weitgehend einbüßte. Dies erreichte in der „Ära Frick“ 1930/31, als Petersen mit der Mehrheit der Universität in Konflikt zum NS-Volksbildungsminister geriet, einen Höhepunkt. In einem Zwischenexkurs vergleicht John die Ausgangssituation von 1923/24 mit der von 1945 (Beitrag Bartuschka im Teil III). 4 5

V.a. – in seinen auf Weimar bezogenen Teilen – Robert Döpp: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit (= Pädagogik und Zeitgeschehen. Erziehungswissenschaftliche Beiträge 4), Münster/Hamburg/London 2003. Hein Retter: Peter Petersens Konzeption von Schule und Lehrerbildung im Wechsel der politischen Systeme, in: ders. (Hg.): Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Beiträge zur Pädagogik Peter Petersens, Weinheim 1996, S. 105–160 sowie die im Forschungsrückblick der Einleitung erwähnten Texte von Helmut Möller und Andreas v. Prondczynsky.

Einleitung

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Johns Beitrag zeigt die pädagogische Aufbruchsstimmung und die Dramatik der damaligen Vorgänge. Er bestätigt viele Aussagen Konrads und leitet zum folgenden Beitrag über, in dem Peter Fauser die pädagogische Praxis und die demokratische Qualität der 1924 umgeformten Universitätsschule im ersten Jahr ihres Bestehens anhand gegenwärtiger schul- und demokratiepädagogischer Maßstäbe untersucht. Dafür wählt Fauser ein originelles Gedankenexperiment mit zwei Ausgangsfragen: Was wäre, wenn sich Petersen mit seiner damaligen Universitätsschule heute um den „Deutschen Schulpreis“ bewerben würde? Und wie wäre aus heutiger Sicht die demokratiepädagogische Qualität seiner Reformschule zu beurteilen? Damit greift Fausers Beitrag auch zentrale Streitpunkte älterer und jüngster Petersen-Debatten auf. Während die einen antidemokratisch-totalitäre Grundzüge der Jenaplan-Pädagogik behaupten, sehen die anderen ihr Gemeinschaftsdenken demokratisch ausgerichtet – ähnlich den Hamburger und Bremer Reformschulen, zu denen Petersen in seiner Jenaer Zeit weiter enge Verbindung hielt. Fauser beschränkt sich nicht – wie es meist an anderer Stelle geschieht – auf die Analyse theoretischer und schulpolitischer Schriften Petersens. Vielmehr rückt er die von der bisherigen Forschung völlig vernachlässigte Schulpraxis ins Zentrum seiner Analyse und Darstellung. Dabei stützt er sich weniger auf Petersens „Jena-Plan“-Schrift von 1927 als modellhaft verdichtete Darstellung, sondern vor allem auf die von Petersen und seinem ersten Lehrer Hans Wolff als „Gründungsbericht“ der Universitätsschule 1925 veröffentlichte Schrift.6 Wolff, der Anfang 1924 ad hoc eingestellt wurde und zu diesem Zeitpunkt noch vor seinem Lehrerexamen stand, war ein Glücksfall für Petersen und die Schule. In seiner alltäglichen pädagogischen Arbeit entstand vieles von dem, was später unter Petersens Namen als „Jena-Plan“ weltbekannt wurde. Darüber hinaus sind drei – mit den Befunden der Vorgängerbeiträge korrespondierende – Untersuchungsergebnisse Fausers hervorzuheben. Erstens: Die „Jenaplan“Pädagogik war zwar vielfältig – theoretisch, schulpolitisch und reformpädagogisch – inspiriert. Sie erwuchs aber wesentlich aus der Praxis der 1924 eingerichteten Versuchsschule. So wurde die Praxis selbst konzeptions- und theoriebildend. Nicht das spätere Modell – die oft als konzeptionelles Grundmuster missverstandene „JenaPlan“-Schrift von 1927 – steuerte die Praxis, sondern die Praxis prägte das Modell. Im Zusammenwirken mit reformbereiten Lehrer/innen wurden Lösungen für Schulalltagsprobleme entwickelt, die sich – praktisch wie wissenschaftlich – als pädagogisch fruchtbar, anregend und weiterführend erwiesen. Zweitens: Das schloss das entschiedene Engagement der Elternschaft (Elternrat, Freundeskreis), kritische Schulberichte und ein ganzes System der „Darstellung und Auswertung des Jenaer Schulversuchs“ ein. Dazu kam das Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre methodisch ausgearbeitete Konzept der „pädagogischen Tatsachenforschung“. Drittens: Nach den heutigen Schulpreis- und Demokratiepädagogik-Kriterien wäre die historische Universitätsschule zu den besten und demokratiefähigen Schulen zu rechnen. Die Behauptung eines antidemokratisch-totalitären Grundzuges der Jenaplan-Pädagogik wird durch die Analyse der pädagogischen Praxis und des Schullebens der Universitätsschule in ihrer Gründungsphase widerlegt. 6

Peter Petersen/Hans Wolff (Hg.): Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschule (= FWE 3), Weimar 1925.

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Einleitung

Der Beitrag von Justus H. Ulbricht behandelt die Volksbildungskonzepte der Weimarer Zeit in ihrer begrifflich-diskursiven Vielfalt und in ihren konzeptionellen Gegensätzen: Und er verortet Petersen in diesem Spektrum. Ulbricht zeigt am Beispiel der Begriffe „Volksbildung“ und „Volksgemeinschaft“, wie – hier zitiert er das „Volk“-Kapitel aus Petersens allgemeiner Erziehungslehre –7 „verworren“ die Begriffe „Volk“ und „Gemeinschaft“ damals waren und wer sie alles für sich reklamierte. Dieses Spektrum reichte von links bis rechts, von demokratischen und vernunftrepublikanischen bis zu antidemokratischen und antirepublikanischen Positionen. Dabei lagen geistige und politische Welten zwischen den Visionen einer republikanischen, den „Völkerversöhnungs-“ Gedanken einschließenden „neuen Volksgemeinschaft“ mit einer entsprechenden „Schule der Volks- und Kulturgemeinschaft“8 einerseits und der ausgrenzenden, auf Abneigung und Hass gegen innere und äußere „Volksfeinde“ beruhenden „Volks-“ und „Volksgemeinschafts-“ Rhetorik der „völkischen Bewegung“ andererseits. Ulbricht unterstreicht die Befunde Michael Wildts über die ebenso zentrale wie ambivalente Rolle des „Volksgemeinschafts-“ Denkens in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik.9 Und er legt klar, wie verfehlt es ist, vom Gebrauch des Begriffes „Volksgemeinschaft“ auf „völkisches“ oder gar „nationalsozialistisches“ Denken zu schließen. Sein auf Petersen bezogenes Analyseergebnis ist eindeutig: Petersen, der selbst meist das Attribut „volklich“, nicht „völkisch“ verwendete, gehörte nicht zum „völkischen Lager“ der Volks- und Erwachsenenbildung oder zu denen, die in Wissenschaft und Publizistik „völkische“ Positionen bezogen. Es führt in die Irre, Petersen zum Kreis „völkischer“ Pädagogen und Erwachsenenbildner zu rechnen, auch wenn er Kontakte zu einzelnen ihrer Protagonisten wie Krieck und Scheffer unterhielt und nach 1933 versuchte, seine liberale „realistische Pädagogik“ im „völkischen Sinne“ umzudeuten. Zu ähnlichen Befunden kommt Jürgen John im letzten Teil seines Beitrages über die universitären Handlungsfelder Petersens. John skizziert hier die geistigpolitischen Profile deutscher Universitäten sowie der Jenaer Universität, um dann Petersens Standort in diesem Spektrum zu erkunden. Dabei wendet er vor allem drei Kriterien an: die Haltung zu Reformen, zur internationalen Wissenschaftskooperation und zur Weimarer Republik. Die Befunde fallen bei den ersten beiden Kriterien eindeutig, beim dritten Kriterium ambivalent aus. Petersen stand positiv zu Reformen und internationaler Wissenschaftskooperation und gehörte damit zur Minderheit universitärer Eliten, die sich vorbehaltlos auf den Boden der Nachkriegsordnung stellten. Gerade in seiner Reformpädagogik vertrat er liberale Positionen. Von den Zeitgenossen wurde Petersen überwiegend als ein von Greil berufener „linker Pädagoge“ wahrgenommen. Sein Verhältnis zum parlamentarischen politischen System blieb allerdings kritisch-distanziert und widersprüchlich. Neben der Kritik an dem – aus seiner Sicht – „zerklüftenden“ Parlamentarismus spielte dabei seine Vorstellung von 7 8 9

Peter Petersen: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin/Leipzig 1924, S. 230–276. Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, Berlin (1919); Wilhelm Paulsen: Die Schule der Volks- und Kulturgemeinschaft, in: Heinrich Deiters (Hg.): Die Schule der Gemeinschaft, Leipzig (1925), S. 54–63. Michael Wildt: Die Ungleichheit des Volkes. „Volksgemeinschaft“ in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2009, S. 24–40.

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einer möglichst „staatsfreien Schule“ eine Rolle. Petersen war – hier kommt John auf die Debatten um den „politischen Petersen“ zurück – zweifellos kein „homo politicus“. Aus der Tages- und Parteienpolitik hielt er sich meist heraus. Sein Engagement für den Christlich-Sozialen Volksdienst 1932/33 blieb Episode. Petersen gehörte keineswegs zum Typus eines dezidiert „politischen Professors“. Aber er war auch nicht – wie manche Legende meint – völlig „unpolitisch“. Schul- und lehrerbildungspolitisch vertrat er entschiedene Positionen. Schließlich blieb ihm als einem Protagonisten der Schulreform- und Reformpädagogik-Bewegung, die – wie Wilhelm Flitner schrieb – „echte politische Motive“ habe und nicht „entpolitisiert“ werden könne,10 gar nichts weiter übrig. In welchem Maße Petersen zur Zeit der Weimarer Staatskrise Anfang der 1930er Jahre bisherige Positionen veränderte oder preisgab, seine Netzwerke erweiterte und seine Kontakte pluralisierte, ist noch genauer zu erforschen und wird von John als Interpretations- und Forschungsproblem benannt. Die Beiträge dieses ersten Teiles breiten – auch in vergleichender Perspektive – neue Forschungsergebnisse und Erkenntnisse aus. Sie können aber bei weitem nicht alle Forschungslücken schließen. Die „pädagogische Tatsachenforschung“11 ist bislang ebenso wenig systematisch untersucht worden wie die im Petersen-Archiv Vechta und im Universitätsarchiv Jena umfangreich überlieferten Schulberichte und Schülerarbeiten oder die im Universitätsarchiv Jena lagernden Promotionsakten und schriftlichen Hausarbeiten. Der in Vechta überlieferte umfangreiche „Arbeitsapparat“ Petersens ist für wissenschaftshistorische Analysen des Arbeitsstiles und -alltages eines Erziehungswissenschaftlers, Hochschullehrers und Schulpraktikers der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestens geeignet. Notwendig wäre auch ein Kollektivporträt der an der Universitätsschule tätigen Lehrer/innen oder eine neu vermessende Analyse der theoretischen Schriften Petersens, um die Bezüge und Kontraste der pädagogischen Theorie und Praxis Petersens genauer untersuchen zu können. Dabei könnte die vergleichende Analyse deutscher Reform-, Versuchs- und Gemeinschaftsschulen der Weimarer Zeit12 hilfreich sein – allerdings nicht erneut im ideengeschichtlichen Sinne kritischer Dogmengeschichte,13 sondern mit Blick auf die pädagogische Praxis dieser Schulen. Sie könnte dazu beitragen, die kaum auf einen Nenner zu bringende, in sich oft heillos zerstrittene „Reformpädagogik“-Bewegung 10 11 12

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Wilhelm Flitner: Die Reformpädagogik und ihre internationalen Beziehungen (1931), in: ders.: Die Pädagogische Bewegung. Beiträge – Berichte – Rückblicke (= Wilhelm Flitner: Gesammelte Schriften 4), bearb. v. Ulrich Herrmann, Paderborn u.a. 1987, S. 290–307, hier S. 293. Als Rückblick und Quellenbasis vgl. Peter Petersen/Else Petersen: Die Pädagogische Tatsachenforschung, bearb. v. Theodor Rutt, Paderborn 1965. Franz Hilker (Hg.): Deutsche Schulversuche, Berlin 1924; Fritz Karsen (Hg.): Die neuen Schulen in Deutschland, Langensalza (1924); Deiters: Schule (wie Anm. 8); Peter Petersen: Zehn Jahre Lebensgemeinschaftsschule (1919–1929), in: Die Volksschule 25 (1929), S. 129–139, 177–189; Thomas Alexander/Beryl Parker: The New Education in den German Republic, New York 1929; als typologischer Analyseansatz mit einer Sammlung von Einzelporträts vgl. Ullrich Amlung/Dietmar Haubfleisch/Jörg-W. Link/Hanno Schmitt (Hg.): „Die alte Schule überwinden“. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (= Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung 15), Frankfurt a.M. 1993. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4 Weinheim/München 2005 (zuerst 1989).

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der Weimarer Zeit, die sich selbst als „kulturkritische Wiedererweckung klassischer Pädagogik“ verstand14 und von ihren Kritikern gern als vor- oder antimodern charakterisiert wird, differenziert und nachvollziehbar in den Kontext pädagogischer Modernisierungsprozesse einzuordnen. TEIL II: DIE NS-ZEIT Die Beiträge des zweiten Themenbereichs behandeln die seit Langem in der Bildungshistorie heftig umstrittene Frage nach dem Verhältnis Petersens und der JenaplanPädagogik zum Nationalsozialismus.15 Während Hein Retter und Rüdiger Stutz in ihren Studien über die Universitätsschule und akademische Lehrerbildung herausarbeiten, dass in Petersens Schul- und Ausbildungspraxis die Kontinuität gegenüber den Jahren der Weimarer Republik überwog, weist Hans-Christian Harten anhand der Vernetzung eines ungewöhnlich großen Schüler- und Lehrerkreises von Petersen mit dem Schulungswesen der SS einen elementaren Bruch nach. Dadurch wird der fundamentale Widerspruch in Petersens Handlungsorientierungen während der NS-Zeit sichtbar, der ohne seine zeitlebens vertretenen und offenbar hoch stabilen beruflichen Ambitionen nicht zu verstehen ist. Petersen erlag der strategischen Selbsttäuschung, seine wissenschaftlichen und schulreformerischen Perspektivziele auch unter den dramatisch veränderten Machtverhältnissen des Nationalsozialismus weiter verfolgen zu können. Er begann eine pädagogische Kontinuität zur nationalsozialistischen Schulund Bildungspolitik zu konstruieren,16 die vordem weder in seinem theoretischen Werk noch in seiner Schulpädagogik zu finden war. Vornehmlich Harten verdeutlicht, dass sich Petersen auf diese Weise in immer größere Widersprüche verstrickte. Er bediente sich in Publikationen beziehungsweise Vorträgen einer systemnahen Rhetorik und suggerierte der Öffentlichkeit, in seinen Grundauffassungen schon vor 1933 mit der NS-Erziehungslehre übereingestimmt zu haben. Seine Studenten und Promovenden, viele Hochschullehrer an und außerhalb der Universität Jena und vor allem aus Deutschland vertriebene Erziehungswissenschaftler beziehungsweise Schulpädagogen nahmen Petersen demzufolge als Nationalsozialisten oder willigen Repräsentanten des „Dritten Reiches“ im Ausland wahr. Alle drei Beiträger unterstreichen, dass Petersen nichts unternahm, um diesem Eindruck in der „scientific community“ oder unter Exilwissenschaftlern entgegenzuwirken. Nur im Einzelfall, gegenüber engen Vertrauten stellte Petersen seine NS-konforme Selbstinszenierung in Abrede,

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Flitner: Reformpädagogik (wie Anm. 10), S. 291. Peter Dudek: Die Pädagogik im Nationalsozialismus, in: Klaus Harney/Heinz-Hermann Krüger (Hg.): Einführung in die Geschichte von Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, Opladen 1997, S. 93–109, hier S. 97. Mitchell G. Ash: Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert: Was hatten sie miteinander zu tun?, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Alexsandra Pawliczek (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft 1), Stuttgart 2006, S. 19–37.

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wie Stutz am Gegenstand des Ende 1941 entstandenen Lebenslauf-Dokuments17 und eines entsprechenden Briefwechsels zeigt. Hans-Christian Harten leitet seinen Beitrag über SS-nahe akademische Netzwerke der Erziehungswissenschaft mit der Frage ein, ob Petersen ein Nationalsozialist gewesen sei und beantwortet sie mit einem „eindeutigen jein“. Es sei gerade diese Zwiespältigkeit, die es schwer mache, zu einem angemessenen Urteil zu gelangen. Einerseits gehörte Petersen nicht der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen an. Ihm können auch keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit angelastet werden. Andererseits, so Harten, galt Petersen selbst in einigen NS-Organisationen als Nationalsozialist. Denn es gab genug Äußerungen und Publikationen, die ihn zumindest als Sympathisanten des NS erscheinen ließen. Diese wogen umso schwerer, als Petersen ein hohes Ansehen an der Jenaer Universität und im Ausland genoss. Dass er nicht Mitglied der NSDAP geworden sei, habe ihn in den Augen seiner Studenten sogar noch glaubwürdiger gemacht. Harten kann erstens zeigen, dass Petersens Schriften und politische Publizistik im Kanon des rassepolitischen Denkens der NS-Zeit und in den entsprechenden Ranglisten der Zitation von „Rasseforschern“ durch Erziehungswissenschaftler nur eine ganz untergeordnete Rolle spielten. Sie blieben für den Rasse-Diskurs im „Dritten Reich“ marginal. Dennoch wies Petersens Hochschullehrertätigkeit die Besonderheit eines ungewöhnlich großen Kreises von Schülern auf, die später im Schulungswesen der SS tätig waren. Harten lässt allerdings offen, inwieweit es sich dabei um eine unmittelbare Folge der universitären Lehrer-Schüler-Beziehung handelte. Zweitens steht der von Petersen gewollten und beförderten Außenwirkung, ein nationalsozialistischer Erziehungswissenschaftler geworden zu sein, die Tatsache gegenüber, dass sich die Jenaplan-Pädagogik und die mit ihr verbundene erziehungswissenschaftliche Forschung in der NS-Zeit nicht wesentlich veränderte. Harten zieht daraus den Schluss, nicht die Jenaplan-Pädagogik sei problematisch gewesen, sondern Petersens Rolle als Hochschullehrer im „Dritten Reich“. In diesem Zusammenhang stellt er auch die Hintergründe, Akteure und Themen der Vorträge von dreizehn Jenaer Hochschullehrern im Konzentrationslager Buchenwald dar – eine Vorlesungsreihe vor internierten Studenten aus Norwegen,18 die im März 1944 begann und an der sich Petersen mit drei Beiträgen beteiligte. Harten unterstreicht Petersens willentliche „Selbstverstrickung“ in das NS-System, indem er auf eine aktive Mitgestaltung im NS-Bildungssystem drängte. So wurde Petersen zu einem Pädagogen des Nationalsozialismus, auch wenn seine Pädagogik nicht mit den Zielen der NS-Erziehung vereinbar war und alle Jenaplan-Schulen außerhalb Jenas geschlossen wurden. Es habe für ihn kein zwingender Grund bestanden, sich antisemitisch zu exponieren, in Südafrika Propaganda für das NS-Regime zu betreiben oder Schulungsvorträge für 17

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Diesen Lebensabriss publizierten vollständig oder in Auszügen: Barbara Kluge: Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte. Auf dem Weg zu einer Biographie, Heinsberg 1992, S. 14– 23; Hein Retter (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe – Dokumente, Weinheim 1996, S. 82–85; Benjamin Ortmeyer: Reader Seminar NS-Pädagogik. Dokumente. Peter Petersen in der NS-Zeit, Frankfurt a.M. o.J., S. 47–53. Konzentrationslager Buchenwald 1937–1945. Begleitband zur ständigen Ausstellung, bearb. v. Harry Stein, 3 Göttingen 2004, S. 175.

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die SS zu halten. Dennoch hält Harten auch die Deutung für denkbar, es sei Petersen stets in erster Linie darum gegangen, Verbesserungen in der Lehrerbildung und in der Schulpraxis zu erreichen. Beide Lesarten seien möglich. Das mache gerade die Widersprüchlichkeit der Persönlichkeit Petersens aus. Hein Retter setzt sich in seiner Studie „Zur Diskussion um die Universitätsschule im Nationalsozialismus“ mit den Argumentationsmustern und Handlungsmotiven der Protagonisten der Petersen-Kontroverse in den Jahren 2010/11 auseinander. Mit ihr rückt Petersens Wirkungsfeld als Pädagoge in den Mittelpunkt. Die Geschichte der von ihm geleiteten Universitätsschule ist noch nicht systematisch untersucht worden. Bei diesem ein Vierteljahrhundert umfassenden Arbeitsfeld Petersens zeichnet sich für die Jahre des NS-Regimes ein ganz anderer Befund ab als es seine erziehungswissenschaftliche und politische Publizistik erwarten ließ. Dem Beitrag von Retter zufolge blieb die Schule in Kontinuität zu den Jahren vor 1933 „eine eigene Welt“. In ihr suchten und fanden Kinder aus bedrohten deutsch-jüdischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Familien einen relativ geschützten Raum. Die wichtigste Entdeckung des Autors liegt in der Tatsache, dass Kinder von Eltern des sozialistischen Widerstandes gegen die NS-Herrschaft aus dem Raum Jena ab 1933 die Universitätsschule besuchten. Retter gelingt mit seinem Ansatz ein Perspektivenwechsel in der Forschung.19 Deren Blick wird von den Täterbiografien auf die Opfer der NS-Zeit in Jena gelenkt. Ausführlich legt Retter sein methodisches Vorgehen offen und erläutert die Entstehung und den Erkenntnisfortschritt seiner Studie; ihre Fortführung ist geplant. Wünschenswert wären für den Autor Vergleiche mit anderen ehemaligen Reform- oder Versuchsschulen sowie eine Analyse des Einflusses der NS-Vorschriften auf den Jenaer Schulalltag. Retter geht ferner ausführlich auf die Verunglimpfungen durch andere Autoren ein, die frühere Befunde seiner Forschung zur Geschichte der Universitätsschule20 als „Persilschein“ und „provokative Ehrenrettung für Petersen“ abtaten. In diesem Zusammenhang stellt Retter den Begriff „Zufluchtsort“ im Untertitel seines Beitrags selbst zur Disposition. Petersen verwandte ihn 1948, um sich gegen Vorwürfe zu verteidigen, er habe dem Nationalsozialismus nahegestanden. Retter fordert seine Kritiker aber auf, die Rahmenbedingungen und den von ihm definierten, eng begrenzten Anspruch seiner Studie angemessen zu berücksichtigen. Rüdiger Stutz untersucht das Themenfeld „Universität und Lehrerbildung“ in der NS-Zeit im Blick auf vier thematische Schwerpunkte: die Handlungsorientierungen der von den NS-Machthabern und Ministerialbeamten als „liberalistisch“ verunglimpften alten Universitätselite, die institutionelle Abtrennung der Hochschulen für Lehrerbildung von der Universität, den damit verbundenen Aufstieg eines jüngeren, nationalsozialistischen Dozententyps und die Interessengegensätze zwischen militärisch-industriellen Fach- und politischen Funktionseliten in der NS-Lehrerbildung. Der Autor resümiert, dass sich Petersen vor allem in den ersten 19

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Zu aktuellen Forschungsperspektiven in der historischen Bildungsforschung zum 19./20. Jahrhundert vgl. Karin Priem: Strukturen – Begriffe – Akteure? Tendenzen der Historischen Bildungsforschung, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Band 12, Bad Heilbrunn 2006, S. 351–370. Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 13), Jena 2010.

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Jahren der NS-Herrschaft dafür einsetzte, neben dem Jenaplan auch das von ihm seit 1924 praktizierte „Thüringer Modell“ der universitären Lehrerbildung zu einer Grundform nationalsozialistischer Erziehungspolitik aufzuwerten. Um dieses Ziel vertreten zu können, pervertierte er die bis dahin als gültig erachteten Einordnungen seines liberalen, erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Gesamtwerks. Unbeeindruckt von allen Umdeutungen und Verdrehungen lehnten die für den Bereich der Lehrerbildung zuständigen NS-Bürokratien die Jenaplan-Pädagogik und das Leitbild der universitären Lehrerbildung strikt ab. In dem jahrelangen Konflikt um die Organisation und Struktur der Lehrerbildung im Deutschen Reich verfolgten sie frühzeitig das Ziel, das Pädagogische Institut Jena nach und nach von der Erziehungswissenschaftlichen Universitätsanstalt abzusondern. Zu Beginn des Jahres 1939 wurde Petersen endgültig zugunsten seines Konkurrenten Georg Weiß aus der gesamten Lehrerbildung in Thüringen ausgegrenzt. Mit dem Rückhalt des Reichsministeriums des Innern gelang es Petersen Anfang 1942, Ressourcen des Reiches von den Gauorganisationen des NS-Lehrerbundes und der NSV Thüringen auf die neu eingerichtete Abteilung „Das Kleinkind“ der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt umzulenken. Wie Harten fand auch Stutz keine Anhaltspunkte für die in der Literatur vertretene Auffassung,21 Peter Petersen habe bis 1941 zum SS-nahen Gesprächskreis des Jenaer Rassemediziners Lothar Stengel- von Rutkowski gehört. Vielmehr sprechen eine ganze Reihe von Indizien dafür, dass der Professor für Landwirtschaftliche Betriebslehre an der Universität Jena, Asmus Petersen, in diesem informellen Netzwerk von Hochschullehrern mitwirkte. Dieser leitete seit 1937 die Anstalt für Landwirtschaftliche Betriebslehre und Landwirtschaftspolitik und während des Zweiten Weltkriegs das mehrjährige Forschungsprojekt „Die Umsiedlung aus dem Gau Thüringen“. Letzteres wurde von der Landesbauernschaft betreut und war vom Reichsnährstand unter Führung von Walter Darré in Auftrag gegeben worden.22 Bereits am 11. März 1938 zählte Astel in einem Schreiben an den Chef des Persönlichen Stabes des Reichsführers SS Asmus Petersen zum erweiterten Kreis der „weltanschaulichen Kampffront“, die sich an der Universität Jena für die Ziele der SS einsetzen würde.23 In der Personalkartei des Reichserziehungsministeriums wurde der Agrarbetriebswirt Petersen seit dem 1. Januar 1942 als Anwärter der NSDAP geführt.24 Im Frühjahr 1944 bearbeiteten der Reichsschatzmeister und der Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP einen Antrag des Thüringer Gauleiters, Fritz Sauckel, zehn Jenaer Hochschullehrer in die NSDAP aufzunehmen. Unter den ausgefertigten Aufnahmeanträgen befand sich 21

Uwe Hoßfeld: Gerhard Heberer (1901–1973). Sein Beitrag zur Biologie im 20. Jahrhundert, Berlin 1997, S. 82; Torsten Schwan: „... um die aus der Weimarer Zeit übernommene Substanz zu sichern“? Peter Petersen, der Nationalsozialismus und die defensiven Traditionen aktueller Rezeptionsentwicklungen, Frankfurt a.M. 2011, S. 40–53. 22 Uwe Mai: „Rasse und Raum“. Agrarpolitik, Rasse- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn 2002, S. 146–150. 23 Zit. nach Jürgen John/Rüdiger Stutz: Die Jenaer Universität 1918–1945, in: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hg. v. Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 270–587, hier S. 535. 24 BArch, R 4901/13273, Bl. 7226v.

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auch der von Asmus Petersen.25 Zu diesem Zeitpunkt trat Peter Petersen vor internierten norwegischen Studenten im Konzentrationslager Buchenwald auf. Zugleich begann er, über die grundlegend gewandelten Anforderungen der Gesellschaft an die Sozialwissenschaften nach dem Ende des Krieges nachzudenken. In den letzten beiden Kriegsjahren liegen demzufolge die konzeptionellen Wurzeln des „sozialpädagogischen Neubeginns“ von 1945. Im Unterschied zu namhaften Vertretern der geisteswissenschaftlichen Pädagogik blieb Petersens Bereitschaft in den Nachkriegsjahren begrenzt, sich selbstkritisch der Vergangenheit zu stellen.26 Er vermied es, sich grundsätzlich oder nachvollziehbar mit seiner zwiespältigen Rolle in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. In der bildungshistorischen, biografischen und universitätsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit Petersen und der Jenaplan-Pädagogik in der NS-Zeit bestehen nach wie vor erhebliche Forschungslücken. Das gilt etwa für jene Agenten und Kontexte von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die in dieser Phase an Bedeutung verloren, aber weiterhin die „Erziehungswirklichkeit“ jener Jahre beeinflussten. Vor diesem Hintergrund wurde in der historischen Bildungsforschung jüngst vermehrt die Rolle der christlichen Kirchen innerhalb der deutschen Gesellschaft beleuchtet.27 In diesem Zusammenhang sei hier angemerkt, dass das Referat „Politische Kirchen“ vom Hauptbüro im Amt VII „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“ des Reichssicherheitshauptamtes am 10. Oktober 1944 die Personalakte von Petersen anforderte,28 während er zur gleichen Zeit wiederholt von Führungsakademien diverser NS-Organisationen zu Vorträgen eingeladen wurde. Offenbar beurteilten Institutionen der beruflichen Fortbildung und politisch-ideologischen Schulung und die zentrale Terror- und Überwachungsbehörde des Regimes Petersen in den letzten Kriegsjahren geradezu gegensätzlich. Ihre konträren Wahrnehmungsmuster bildeten einen Spiegel seiner widersprüchlichen Handlungsweisen in der NS-Zeit. Generell prägten in diesen zwölf Jahren ausgesprochen gegenläufige Tendenzen die Berufsbiografie von Petersen, die auch auf den zweiten Blick nicht miteinander in Einklang zu bringen sind: Als Hochschullehrer, Staatsbeamter oder auf Dienstreisen im Ausland agierte er als ein funktionaler Akteur des nationalsozialistischen Bildungs- und Wissenschaftssystems. Die Kerninstitutionen des NS-Erziehungswesens sahen in ihm aber niemals 25 26

27 28

Akten der Partei-Kanzlei der NSDAP. Rekonstruktion eines verlorengegangenen Bestandes. Sammlung der in anderen Provenienzen überlieferten Korrespondenzen. Teil I. Regesten, Microfishes Bd. 1, München u.a. 1983, Bild 30200016. Heinz-Elmar Tenorth: Rezension Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Hermann Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009, in: ZfP 56 (2010), S. 632–638, hier S. 637. Klaus-Peter Horn/Jörg-W. Link (Hg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 26. BArch, R 58/5002, Bl. 26; Jörg Rudolph: „Sämtliche Sendungen sind zu richten an: ...“ Das RSHA-Amt VII „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“ als Sammelstelle erbeuteter Archive und Bibliotheken, in: Michael Wildt (Hg.): Nachrichtendienst, politische Elite, Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg 2003, S. 204–240; Carsten Schreiber: Generalstab des Holocaust oder akademischer Elfenbeinturm? Die „Gegnerforschung“ des Sicherheitsdienstes der SS, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. V (2006), Göttingen 2006, S. 337–352.

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mehr als einen überkommenen Vertreter der liberalen Pädagogik der ihnen verhassten Weimarer Republik. Diese Widersprüche noch differenzierter und im wechselseitigen Zusammenhang herauszuarbeiten, muss weiteren Forschungen über Petersens theoretisches Werk und seine Schulpraxis in der NS-Zeit vorbehalten bleiben. Ein zweites großes Forschungsdesiderat stellen vergleichende Projekte zur Geschichte der „neuen Pädagogik“ im Nationalsozialismus dar, die auch für die PetersenForschung von großem Nutzen wären. Das lässt die Untersuchung von Dennis Shirley erwarten, der die Geschichte der Odenwaldschule zwischen 1910 und 1945 aufgearbeitet hat.29 Er vertritt die Auffassung, dass die Resultate solcher komparativen Studien komplexer und in ihren Einschätzungen differenzierter ausfallen würden. Solche Forschungen wären dazu angetan, verbreitete bildungshistorische Klischees von den „Progressiven“ und „Konservativen“ innerhalb der internationalen Reformpädagogik zumindest in Frage zu stellen. Bekanntlich konnte Peter Petersen im Gegensatz zu Paul Geheeb seine Versuchsschule an der Universität Jena in den Jahren des NS weiterführen und deren Leiter bleiben. Gestützt auf vergleichende Einordnungen fiele es leichter zu verstehen, wie es geschehen konnte, dass Petersen dabei so viele Elemente aus den Werken von Pazifisten (wie Geheeb), demokratischen Sozialisten (wie John Dewey und William Heard Kilpatrick) und Kommunisten (wie Célestin Freinet) einbauen konnte. Nach Shirley könnten besonders international vergleichende Analysen vor groben Vereinfachungen in der Bewertung der „neuen Pädagogik“ in Deutschland bewahren, das heißt vor ihrer bloßen Verdammung oder Verherrlichung.30 TEIL III: 1945 BIS 1991 Die Beiträge des dritten Teiles behandeln sehr unterschiedliche Vorgänge in der Zeit von 1945 bis 1991. Zuerst geht es um die bisher noch nicht angemessen untersuchte letzte Phase von Petersens eigenem Wirken nach dem Ende des Krieges und des NS-Regimes. Sie begann vielversprechend mit der Würde des Dekans der neuen Sozialpädagogischen Fakultät der im Oktober 1945 besonders früh wiedereröffneten Jenaer Universität und schloss dann weitgreifende Pläne für die Universitäten Jena und Halle und für die Gründung einer „Internationalen Universität“ in Bremen ein. Petersen setzte große Hoffnungen in einen „pädagogischen Neubeginn“, der es ihm ermöglichen sollte, seine Vorstellungen von Schulreform, Lehrerbildung und Erziehungswissenschaft nun im Anschluss an die Zeit vor 1933 endlich zu verwirklichen. Sein eigenes Verhalten in der NS-Zeit blendete er allerdings aus. Am Ende scheiterte Petersen nicht nur in der SBZ/DDR. Auch im westlichen Deutschland konnte er nicht Fuß fassen. Nach seinem Tod (1952) galten Petersen und seine Pädagogik in der DDR als „reaktionär“. Sie wurden bis zum Ende der DDR fast vollständig beschwiegen. In der Bundesrepublik avancierte der „Kleine Jenaplan“ zwar zum auflagenstarken pädagogischen Klassiker. Ansonsten blieb die Petersen- und Jenaplan-Rezeption aber lange Zeit auf seinen Schüler-, Mitarbeiter- und Verehrerkreis beschränkt. Die 29 30

Dennis Shirley: Reformpädagogik im Nationalsozialismus. Die Odenwaldschule 1910 bis 1945, Weinheim/München 2010, S. 260. Ebd., S. 261f.

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Erziehungswissenschaft schnitt das Werk eines reformpädagogischen Praktikers, der die rein „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ stets scharf kritisiert hatte. Das gegliederte Schulwesen der Bundesrepublik bot dem Jenaplan-Konzept keine Entfaltungsmöglichkeiten. Zudem geriet Petersen wegen seines Verhaltens in der NS-Zeit zunehmend ins Zwielicht und wurde zum Gegenstand massiver Kritik und polarisierter Debatten. Mit dem Umbruch in der DDR und der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 änderte sich das in doppelter Weise. In Jena und den „neuen Bundesländern“ setzte eine „Jenaplan“-Renaissance ein. In den „alten Bundesländern“ begannen weit greifende und quellengestützte historisch-kritische Petersen-Forschungen. Aus dem Jenaer „pädagogischen Aufbruch“ von 1989/90 ging 1991 eine neue „JenaplanSchule“ hervor, die sich äußerst erfolgreich entwickelte und die Schullandschaft weit über Jena hinaus bereicherte. Mit seinem Beitrag über die „Petersenpläne“ für Jena, Halle und Bremen rückt Marc Bartuschka eine Phase in Petersens Leben in den Blick, die bisher in ihrer ganz eigenen Dynamik und Dramatik nicht angemessen dargestellt worden ist. Der Forschungsstand wird zusammengefasst und durch umfangreiche Quellenarbeit – vor allem im Peter-Petersen-Archiv Vechta sowie in den Universitätsarchiven Jena und Halle – wesentlich erweitert. Bartuschkas Studie unterstreicht, wie verfehlt es ist, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dem NS-Regime bis zu Petersens Tod 1952 gleichsam vom Ende her zu interpretieren – als von Anfang an zum Scheitern verurteilt oder so, als habe es Petersen richtungssicher von Anfang an darauf angelegt, sich an das System der späteren DDR und an ihre staatssozialistische Ideologie anzupassen. Demgegenüber zeigt Bartuschka, dass in der Ausgangssituation 1945/46 die spätere politisch-gesellschaftliche Entwicklung einschließlich der auf einen eigenen Staat ausgerichteten SED-Schul- und Bildungspolitik keineswegs absehbar war. Gleiches galt für den Weg Petersens, der in der Transformationsdynamik zwischen 1945 und 1948/49 über Jena und die SBZ hinaus mit großer Energie, weitreichenden Plänen und unermüdlichen Bemühungen für sich, sein Schulkonzept und „seine“ Erziehungswissenschaft wie für die Lehrerbildung einen neuen, sicheren Stand und breite Wirkung zu verschaffen suchte. Mit der sich allmählich anbahnenden und 1949 vollzogenen staatlichen Teilung Deutschlands und dem Beginn des offenen Kalten Krieges 1948 geriet Petersen nach beiden Seiten ins Abseits des politischen und weltanschaulichen Systemkonflikts. Wurde seine Jenaplan-Schule in der DDR als „reaktionäres, politisch gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik“ verurteilt – wie die Reformpädagogik insgesamt – so stieß er im Westen mit seinem Konzept einer integrierten und inklusiven Schule und aufgrund seiner SED-Mitgliedschaft auf Misstrauen und Ablehnung. Der Neubeginn nach dem Ende des Zweitens Weltkriegs trug eine andere Signatur. Petersen war nach Kriegsende als einer der wenigen formell unbelasteten Professoren der Jenaer Universität vielfältig gefragt und gefordert. Er wurde schon zum 1. Mai 1945 als Dekan der Philosophischen Fakultät ernannt und mit der frühen Wiedereröffnung der Jenaer Universität im Oktober 1945 Dekan der auf Grundlage seiner Denkschrift neugegründeten „Sozialpädagogischen Fakultät“, der ersten ihrer Art in Deutschland. „Sozialpädagogisch“ ist dabei nicht wie heute als Eigenname eines disziplinären und berufspraktischen Teilbereichs zu verstehen, sondern als Programm-

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begriff für eine von Petersen schon in der Weimarer Zeit angestrebte pädagogische Wissenschaft und Praxis, die umfassend sozialwissenschaftlich und damit empirisch orientiert sein und sich in den Dienst sozialer und gesellschaftlicher Aufgaben stellen sollte. Eine solche Erziehungswissenschaft, die vollakademische Lehrerbildung und die wiedereröffnete Universitätsschule bildeten für Petersen die Kernelemente eines – seines – Neuanfangs. „Neuanfang“ bedeutete für Petersen, so Bartuschka, „die Durchsetzung dessen, womit er zuvor gescheitert war, nicht aber den Bruch mit der Vergangenheit.“ Das galt sowohl im Verhältnis zur Weimarer Zeit, an die Petersen nahtlos anzuschließen versuchte, als auch zur NS-Zeit. Auch wenn er lange vor Kriegsende die Katastrophe hatte kommen sehen und als „Gottesstrafe“ beklagte: Nun verhielt er sich so, als gäbe es „aus seiner Sicht nichts, was er falsch gemacht haben könnte.“ In öffentlicher Rede verurteilte Petersen Akteure und Mitläufer der NS-Zeit. Mit seinem eigenen Verhalten im Nationalsozialismus setzte er sich dagegen nicht auseinander. Es war indessen nicht sein Verhalten in der NS-Zeit, durch das er seine akademische Stellung als Dekan und schließlich seine Schule verlor. Vielmehr stand er – nach dem Philosophen Hans Leisegang – in vorderster Schusslinie der seit Anfang 1948 laufenden Kampagne gegen die „bürgerlichen Professoren“ an der Universität. Insgesamt ging Petersens Scheitern eine Zeit angespanntester Aktivitäten und „unbegrenzter Hoffnungen“ voraus. Nicht nur in Jena setzte man auf ihn: Aufgrund der von ihm in kürzester Zeit entworfenen umfassenden Pläne nach Jenaer Muster berief ihn die Universität Halle Ende 1945 zum Gründungsdekan einer Pädagogischen Fakultät bei gleichzeitiger Ernennung zum Direktor der Franckeschen Stiftungen. Das scheiterte jedoch aus vielen, nicht zuletzt persönlichen Gründen und weil Petersen befürchtete, so sein Lebenswerk in Jena aufs Spiel zu setzen. Auch die Berufung an die von ihm 1947 konzipierte Internationale Universität Bremen scheiterte 1948 – diesmal vor allem wegen des Vorwurfs seiner SED-Mitgliedschaft und NS-Vergangenheit, aber wohl auch an den Realitäten des nun offen ausbrechenden Ost-West-Konfliktes. Seine Versuche, im Westen auch über Deutschland hinaus mit seinen Konzepten Gehör, Anerkennung und berufliche Chancen zu erlangen, führten nicht zum Erfolg. In der SBZ spitzte sich die Kampagne gegen ihn und sein Lebenswerk zu. Im Oktober 1948 verlor Petersen das Dekanat, 1950 wurde seine Schule geschlossen, 1951 seine Erziehungswissenschaftliche Anstalt in ein Institut für theoretische Pädagogik umgewandelt. „Als Petersen 1952 starb,“ – resümiert Bartuschka – „war er mit seinen hochfliegenden Plänen vollkommen gescheitert.“ Bartuschkas Beitrag zeigt, wie Petersen einmal mehr unter radikal veränderten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen in einer für ihn charakteristischen Verbindung von pädagogischem Genie und blindem Eifer, von dem Ziel besessen, seiner Pädagogik zum großen Durchbruch zu verhelfen, am Ende scheiterte. Seine Pädagogik und sein Schulkonzept passten weder im Osten noch im Westen in die Systemverhältnisse. Sie waren – systemrelativ gesehen – nicht zeitgemäß. Man könnte sagen: Ausgerechnet ihre (reform-) pädagogische Modernität erwies sich als ihr entscheidender Nachteil. Im Blick auf Petersen als Akteur war es, so Bartuschka, „gerade seine Anpassungsfähigkeit, die ihn suspekt erscheinen“ ließ – und zwar je nach Perspektive als moralisch unglaubwürdig, politisch inakzeptabel oder ideologisch zwielichtig.

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Will Lütgert schließt mit seinem Beitrag zeitlich an Bartuschka an und unterscheidet bei der bundesdeutschen Petersen- und Jenaplan-Rezeption von 1952 bis 1990 drei Phasen und eine Vorphase. Lütgert geht schwerpunktmäßig auf die Rezeption der Theorie Petersens im erziehungswissenschaftlichen Diskurs ein. Ein Ausblick thematisiert vor allem das praktische Potential des Jenaplans. Deutlich wird, wie stark die jeweilige wissenschaftliche Wahrnehmung Petersens und seiner Pädagogik vom Wechselspiel politisch-gesellschaftlicher und wissenschaftsimmanenter Entwicklungen und dem jeweiligen Aufgabendruck gelenkt und begrenzt wurde – und dass sie noch immer an einem Mangel an historischer Quellenarbeit und praxisbezogener Empirie leidet. In der DDR war Petersen schon vor seinem Tod politisch-ideologisch verfemt und danach – wie der anschließende Beitrag von Jürgen John, Michael Retzar und Rüdiger Stutz zeigt – weitgehend beschwiegen worden. Aber auch in der Bundesrepublik „straften“ führende Pädagogen und frühere Universitätskollegen – wie später deren akademische Schüler – Petersen durch weitgehende Nichtbeachtung – wohl auch deshalb, weil Petersen vor allem in den 1920er/30er Jahren die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ scharf kritisiert hatte. Für den weiteren Verlauf der erziehungswissenschaftlichen Petersen-Rezeption war dann – eigentlich bis heute – charakteristisch, dass Anhänger – vor allem aus dem Kreis seiner Schüler – und Kritiker Petersens sich mit mehr oder weniger unüberbrückbaren und generalisierenden Positionen gegenüber standen. Lütgert lässt seine Analyse mit einer „Vorphase“ beginnen. Die macht er als von Petersen noch selbst vorgenommene Weichenstellung am 1954 posthum veröffentlichten dritten Band seiner Erziehungswissenschaft fest. Petersen wandte sich hier von seiner optimistischen Anthropologie ab zugunsten einer Dichotomie zwischen dem „homo religiosus“ und dem „homo satanicus“, den er in den nationalsozialistischen Machthabern verkörpert sah. Mit der Unterscheidung zwischen einem „gutmütigen“ und einem „satanischen“ Nationalsozialismus entwarf er ein Deutungsmuster, das ihm eine entschuldende Selbstrezeption ermöglichte und es seinen Schülern erlaubte, sich auf Petersens pädagogisches Werk immanent zu konzentrieren und sein politisches Verhalten in der NS-Zeit sowie die damit verbundene Selbstbeschädigung Petersens auszublenden. Der akademischen Nichtbeachtung stand in der nun folgenden ersten Phase der Petersen-Rezeption eine „rege Auseinandersetzung“ mit Peter Petersen durch einen vor allem schulreformerisch interessierten „Petersen-Kreis“ gegenüber. Allerdings sank die Zahl der am Jenaplan orientierten Schulen bis Mitte der 1960er Jahre auch wegen der bildungspolitisch gewollten Auflösung kleiner Dorfschulen auf ein halbes Dutzend. Der 80. Geburtstag Petersens 1964 veranlasste neue publizistische Anstrengungen des Petersen-Kreises. Als eine – zweite – Phase der Öffnung sieht Lütgert die Zeit von 1964 bis 1984. Erziehungswissenschaftlich begann eine Beschäftigung mit einzelnen Aspekten des Werkes Petersens – beispielsweise mit der „pädagogischen Tatsachenforschung“ und mit Petersens Erziehungstheorie wie mit deren Verhältnis zur nationalsozialistischen Ideologie. Zugleich entstand nach dem politischen Abbruch der großen Bildungsreformen und besonders der Gesamtschulpädagogik in den 1970er Jahren ein gesellschaftlicher Bedarf an Reformkonzepten unterhalb der großen System- und Strukturfragen. Das begünstigte eine Rückbesinnung auf die Reformpädagogik mit

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der Vielfalt ihrer Ansätze und eine wachsende Aufmerksamkeit für „alternative“ Schulmodelle. In diesem Kontext entstanden die Gießener Jenaplan-Forschungsstelle und die Petersen-Nachlassgesellschaft in Vechta. Als von Anfang an durch gegenläufige Impulse und Perspektiven geprägt sieht Lütgert die dritte Phase. Auf der einen Seite wurde – auch mit Verweis auf Petersens Internationalität – seine NS-Kooperation verharmlost und verleugnet. Auf der anderen Seite begann eine gerade darauf gerichtete Petersen-Kritik, die durch die nun forcierten Forschungen zur Erziehungswissenschaft im „Dritten Reich“ zusätzlichen Auftrieb erhielt. Mit der nun wachsenden sozialwissenschaftlichen Ausrichtung der Erziehungswissenschaft kamen auch die gesellschaftstheoretischen und -politischen Dimensionen der Theorie Petersens und ihre Wechselwirkungen mit der pädagogischen Praxis sowie die damit verbundene Frage, ob seine Pädagogik als „modern“ oder als „vor-“ beziehungsweise „antimodern“ zu beurteilen sei, in den Blick. Lütgerts „Ausblick“ zur praktischen Rezeption des Jenaplans zeigt, wie stark in den 1960er/70er Jahren durch die sozialwissenschaftliche und sozialliberale Orientierung in Politik und Wissenschaft reformpädagogische Konzepte und Ansätze in den Hintergrund gedrängt wurden. Erst mit dem Ende strukturpolitischer Schwerpunkte und mit – nicht zuletzt migrationsbedingt – neuen gesellschaftlichen Problemfeldern erwachte in den 1980er Jahren wieder ein breiteres schulpädagogisches Interesse an der Reformpädagogik. Jetzt gewannen die Qualitäten des Jenaplan-Konzepts als Ressourcen einer zukunftsfähigen pädagogischen Modernisierung von Schule und Erziehung neue Aktualität. Der Beitrag von Jürgen John, Michael Retzar und Rüdiger Stutz schließt mit seiner quellenbasierten, in dieser Art erstmaligen Darstellung der „Jenaplan-Renaissance“ in Jena von 1989 bis 1991/92 den vorliegenden Band ab. In sechs Kapiteln spannt er den Bogen von der „Vorgeschichte in der DDR“ bis zur „Neugründung der Jenaplan-Schule“ 1991. Detailreich wird ein pädagogischer „Aufbruch“ nachgezeichnet, bei dem die Wiederentdeckung reformpädagogischer Traditionen und Konzepte eingebettet war in die Impulse, Ziele und Gründungsaktivitäten demokratischbürgerschaftlicher Bewegungen der Auf- und Umbruchszeit 1989/90. Dabei spielte der Anschluss an das „pädagogische Jena“ und den Jenaplan vor dem Nationalsozialismus eine ebenso große Rolle wie der Bruch mit der DDR-Schule, -Pädagogik und -Erziehungswissenschaft. Das bei der Schließung der Universitätsschule 1950 manifest gewordene Verdikt, Petersens Pädagogik sei „reaktonär“ und „politisch gefährlich“, blieb in der DDR bestimmend für den Umgang mit dem Jenaplan und der Reformpädagogik. Daran änderte sich auch mit dem offeneren Erbe- und Geschichtsdenken in den 1980er Jahren und einem „Petersen-Kolloquium“ 1984 wenig. Denn Petersens Konzept – hieß es – stehe den „Grundauffassungen marxistischleninistischer Pädagogik diametral gegenüber“. Der „pädagogische Aufbruch“ vom Herbst 1989 löste – wie der Beitrag zeigt – eine umfassende und grundlegende Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Erbe der DDR und zahllose öffentliche Debatten in der Stadt, der Universität sowie unter Lehrerinnen und Lehrern aus. Dabei bildeten sich die Konturen einer demokratischen Schule mit „freier, lebendiger und schöpferischer Atmosphäre“ heraus. Zug um Zug übernahmen Vertreter der Basisbewegungen öffentliche Funktionen und verloren bis-

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herige Amtsträger Einfluss und Stellung. Nach von den Basisgruppen durchgesetzten Vertrauensabstimmungen blieben nur 30 Prozent der Schuldirektoren im Amt. An der Universität gingen die Impulse zur „demokratischen Erneuerung“ zunächst vor allem von Studenten aus. Auch die Erziehungswissenschaftler wollten sich nun – freilich meist abgelehnt – in Basisgruppen und den „pädagogischen Umbruch“ einbringen. Ehemalige Schüler der Universitätsschule suchten Kontakte und boten Unterstützung an. Eine öffentliche Vortragsreihe zu „Alternativer Pädagogik“ mit Referenten aus der Bundesrepublik unterstützte das Bemühen um die Erneuerung der Schule vor allem durch die Darstellung reformpädagogischer Modelle und Positionen. In diesem Feld vielfältiger Initiativen, vitalen Erneuerungswillens, ständiger Kommunikation und der Neubildung institutioneller Strukturen entstand – neben anderen Gründungsansätzen – auch der Plan zur Gründung einer neuen Schule nach dem Muster des Jenaplans. Erinnerungskulturell – heißt es im Beitrag von John/Retzar/Stutz – überlagerte das DDR-Unrecht an Petersen seine zwiespältige Rolle in der NS-Zeit. Ehemalige Schüler und Mitarbeiter setzen sich – unterstützt von der Familie Petersen – für eine Rehabilitierung Peter Petersens ein. Sie erfolgte im Rahmen eines Schultreffens und mit einem Festakt an der Universität. Auch hier suchten sich Angehörige der Sektion Erziehungswissenschaft aktiv zu beteiligen. Der damalige Prorektor erteilte ihnen und der „hektischen Flucht nach vorn, die jetzt allenthalben um sich greift, um den Schatten der Vergangenheit zu entkommen“, allerdings eine schneidende Abfuhr. Die Erziehungswissenschaftler dieser Sektion konnten weder mit dem Versuch, die alte Universitätsschule wieder zu begründen und die Sektion unter ihrer Regie in ein Institut umzuwandeln, noch durch ihr Bemühen, sich fachlich-publizistisch und öffentlich als Kooperationspartner für den Neubeginn zu empfehlen, der „Abwicklung“ entgehen. Die Sektion wurde zum 1. Januar 1991 aufgelöst. Seitdem entstand ein neu strukturiertes und besetztes Institut für Erziehungswissenschaften. Parallel zu diesen Vorgängen an der Universität befasste sich ein Sonderausschuss des Stadtparlamentes mit der „Rück-, Um- und Neubenennung“ von Straßen und Plätzen, deren Namen der Erinnerungs- und Gedenkkultur der DDR entstammten. Zu den insgesamt über 50 Vorschlägen gehörte auch die Umbenennung des „Karl-Marx-Platzes“ in „Petersenplatz“. Der Ausschuss folgte damit dem Vorschlag eines ehemaligen Petersen-Schülers, so den „in diesem Jahr besonders geehrten Pädagogen Peter Petersen“ zu würdigen. Zum 1. April 1991 traten die Änderungen in Kraft. Fast zeitgleich stellte das Stadtparlament die Weichen zur Gründung einer „Jenaplan-Schule“ als staatlichem – von der Universität unabhängigem – Schulversuch, der vom Thüringer Kultusministerium zum 1. August 1991 genehmigt und mit einer Eröffnungsfeier in der Universitätsaula am 12. Oktober 1991 besiegelt wurde. Die Ende 1990 gefassten Beschlüsse des Bildungsausschusses und des Stadtparlamentes zeichneten eine über die Gründung dieser Schule weit hinaus reichende Schulreform-Perspektive mit dem Ziel einer – wie es in dem Beitrag heißt – „möglichst eigenständigen, pluralen, für reformpädagogische Impulse offenen kommunalen Schullandschaft“. Das erinnerte, ohne direkt darauf Bezug zu nehmen, an die Vorstellungen weitreichender Autonomie und Selbstverwaltung, die Petersen in seiner Hamburger und Jenaer Zeit vor 1933 vehement vertreten und begründet hatte. Die neu gegründete Jenaplan-Schule arbeitete als staatliche, wissenschaftlich begleitete

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Versuchsschule in den folgenden beiden Jahrzehnten außerordentlich erfolgreich und wurde so zum weit über Jena hinaus viel ge- und besuchten Beispiel – für die Bedeutung des Jenaplans als Ressource pädagogischer Modernisierung, für die Verbindung klassisch reformpädagogischer Ansätze mit demokratiepädagogischen Formen und Normen, für den Geist bürgerschaftlicher Verantwortung und Initiative und für die schrittweise Erweiterung sowie produktive Anpassung der Schule an sich wandelnde Lebens- und Erziehungsverhältnisse. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen zeugen davon – darunter die Theodor-Heuss-Medaille 2003 und der Deutsche Schulpreis 2006. – Die Entwicklung der Schullandschaft in Jena und den „neuen Bundesländern“ insgesamt seit den 1990er Jahren quellengestützt darzustellen, dürfte eine wichtige Aufgabe künftiger Forschungen sein. HISTORISCH-KRITISCHE PETERSEN-FORSCHUNGEN Die Grundlagen historisch-kritischer Petersen-Forschungen wurden in der Bundesrepublik gelegt. In der DDR kamen solche Forschungen nicht über geringe Ansätze hinaus. Reformpädagogische Ideen fanden kaum Eingang in die Pädagogik und das Bildungssystem der DDR.31 Verdikte und ideologische Vorurteile verstellten bis in die 1980er Jahre den Weg zu forschungsgestützter Kritik. Auch in der frühen Bundesrepublik gab es zunächst wenig gesellschaftliches Interesse. Petersen und der „Jenaplan“ galten über Insider-Kreise hinaus als „unzeitgemäße“ historische Phänomene. Die Petersen- und Jenaplan-Rezeption wurde maßgeblich vom Kreis ehemaliger Mitarbeiter und Schüler Petersens mit dem Ziel getragen, sein Andenken zu wahren und seinem Werk einen angemessenen Platz im wissenschaftlichen und schulpolitischen Diskurs zu sichern.32 Das beruhte auf einer „Immanent-Interpretation“ seines Werkes, schloss das Bemühen um ein schattenloses positives Petersenbild ein und blendete auf Widerspruch beruhende Prozesse weitgehend aus. Von dieser Rezeption gingen kaum Impulse für kritisch-historische Forschungen aus.33

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Andreas Pehnke: Reformpädagogik – ein Stiefkind der pädagogischen Historiographie in der DDR. Anmerkungen zum Umgang mit der Reformpädagogik vor der „Wende“, in: Jahrbuch für Pädagogik 1992, S. 233–246; vgl. auch den Beitrag von John/Retzar/Stutz in diesem Band. Torsten Schwan: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1960. Die Darstellung und Resonanz Peter Petersens und des Jenaplans im Spannungsfeld von Pädagogik und Schulreform (= Braunschweiger Arbeiten zur Schulpädagogik 17), Braunschweig 2000; ders.: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1984. Die JenaplanPädagogik zwischen „defensiver Rezeption“ und einsetzender „Petersen-Kritik“, Frankfurt a.M. u.a. 2007; vgl. auch den Beitrag von Lütgert in diesem Band. Eher dokumentarischen Charakter tragen einige aus dem Petersen-Umfeld stammende Publikationen: Petersen/Petersen: Pädagogische Tatsachenforschung (wie Anm. 11); Hans Mieskes (Hg.): Jenaplan. Anruf und Antwort, Oberursel 1965, v.a. der im Anhang abgedr. Beitrag v. Helmut Möller: Zur Geschichte der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Friedrich-SchillerUniversität Jena, S. 295–312; vgl. auch ders.: Aufbau einer vollakademischen Lehrerbildung in Thüringen zur Zeit der Weimarer Republik, in: Manfred Heinemann (Hg.): Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1976, S. 291–311. Beide Texte Möllers leben vom Insiderwissen, sind ohne Akten geschrieben und z.T. fehlerhaft.

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In den 1970er Jahren zeichnete sich ein Wandel ab. Die Rezeptionsmuster der Petersen-Schüler wirkten zwar weiter. Gleichzeitig stieg aber das allgemeine Interesse an alternativen pädagogischen Modellen.34 Die Gründung von Jenaplan-Schulen und die vielen Auflagen des „Kleinen Jena-Planes“ verbreiterten dieses Interesse. Über Petersens Schülerkreis hinaus interessierten sich nun zunehmend jüngere Wissenschaftler und Pädagogen für Teilaspekte seines Werkes, um sie für eigene Konzepte zu nutzen, ohne allerdings zu empirisch-kritischen Gesamtforschungen zu gelangen. Gegen diesen Trend begann eine Tradition kritisch-ideengeschichtlicher Analysen, die reformpädagogische Modelle als Versuche autoritärer Abschirmung der Kinder und als irrationale „Flucht aus der Moderne“ interpretierten und sie so zur Vorgeschichte der Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland zählten.35 In Petersens Fall konzentrierte sich das entsprechende Interesse auf den „politischen Petersen“ und seine vermeintlich „völkischen“ Erziehungstheorien. Das stand im Kontrast zum Petersenbild des Schülerkreises, der Petersen als „unpolitischen Pädagogen“ in Distanz zum NS-System sah. Die Frage nach dem „politischen Petersen“ wurde so zu einer Scheidelinie polarisierter Petersen-Interpretationen,36 die sich aber in einem Punkte trafen. Beide gingen von ideologischen Vorannahmen aus, blieben ideen- und diskursgeschichtlichen Analysen der Theorien und Schriften Petersens verhaftet und zeigten wenig Bereitschaft, sich in differenzierter Weise auf die Widersprüche in Petersens Denken, Verhalten und Wirken einzulassen. Nach wie vor fanden die eigentlichen Handlungsfelder Petersens kaum Forschungsinteresse. Dieses Dilemma wurde in den 1980er Jahren deutlich. In der DDR schien das nun flexiblere Geschichtsdenken zu einem offeneren Umgang mit reformpädagogischen Ideen zu führen,37 ohne allerdings entsprechend forschungswirksam zu werden. In der Bundesrepublik zeigte das Petersen-Jubiläum 198438 das wachsende öffentliche Interesse, die divergierenden Tendenzen und den Forschungsbedarf. Im Vorfeld 34 35

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Vgl. auch die entsprechenden Bestandsaufnahmen von Theodor Wilhelm: Pädagogik der Gegenwart, 5 Stuttgart 1977; Hans Scheuerl (Hg.): Klassiker der Pädagogik, 2 Bände, München 1979. Heinz-Joachim Heydorn: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Frankfurt a.M. 1970; Karl Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland. Ursprünge und Wandlungen der 1933–1945 in Deutschland vorherrschenden erziehungstheoretischen Strömungen, ihre politischen Funktionen und ihr Verhältnis zur außerschulischen Erziehungspraxis des „Dritten Reiches“ (= Marburger Forschungen zur Pädagogik 3), Weinheim/Berlin/Basel 1970. Torsten Schwan: Petersens Entpolitisierung durch seine Schüler und Anhänger in der deutschen Nachkriegspädagogik, in: Hein Retter (Hg.): Reformpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004, S. 186–208. Christa Uhlig: Gab es eine Chance? Reformpädagogik in der DDR, in: Andreas Pehnke (Hg.): Ein Plädoyer für unser reformpädagogisches Erbe. Protokollband der Internationalen Reformpädagogik-Konferenz am 24. September 1991 an der Pädagogischen Hochschule HalleKöthen, Neuwied/Berlin 1992, S. 139–151; dies.: Zur Rezeption der Reformpädagogik in der DDR in den 70er und 80er Jahren vor dem Hintergrund der Diskussion um Erbe und Tradition, in: Ernst Cloer/Rolf Wernstedt (Hg.): Pädagogik in der DDR. Eröffnung einer notwendigen Bilanzierung, Weinheim 1994, S. 134–151. PPAV, Archivkasten: 100. Geburtstag Petersens 1984; Schwan: Petersen-Rezeption (wie Anm. 32), S. 355–438.

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dieses Jubiläums entstanden die „Jenaplan-Forschungsstelle“ Gießen (1980)39 und die „Peter Petersen Nachlaß-Gesellschaft“ Vechta (1981).40 Die Publikationen zum „Petersenjahr“ 1984 schlugen sehr unterschiedliche Töne an. Der Kreis ehemaliger Petersen-Mitarbeiter bemühte sich in gewohnter Weise, Petersens Werk als zeitlos gültig darzustellen.41 Für eine quellenfundierte historisch-kritische Forschung gab er keine Impulse. Auch der informative Sammelband der „Jenaplan-Forschungsstelle“ Gießen neigte zu beschönigender Sicht.42 Hingegen forderten Peter Kaßner und Hans Scheuerl empirische Forschungen, um unkritische Rezeptionsmuster zu durchbrechen.43 In diesem Sinne appellierten Ingeborg Maschmann und Jürgen Oelkers mit ihrem Sammelband an „jüngere und nicht dem Schulkreis Petersens zugehörige Pädagogen“, sich unvoreingenommener mit Petersens Denken, Werk und Wirken auseinanderzusetzen.44 Nur „über eine historisch-kritische Rezeption“ könne „die Petersenforschung wieder Auftrieb erhalten“.45 Die Familie und den Schülerkreis Petersens forderten sie auf, sich einem „breiter werdenden wissenschaftlichen Interesse“ an Petersen nicht zu verweigern und die eigene „unkritische Enge“ zu überwinden.46 Solche Appelle wirkten zwar kritik-, aber zunächst kaum forschungsanregend. Stattdessen verhärteten sich die Fronten ideologisch motivierter und moralisch aufgeheizter Petersen-Debatten in der Bundesrepublik. Durch neue Bilanzen und Analysen der historischen Reformpädagogik stimuliert,47 erreichten sie von 1989 bis 1992 ihren Höhepunkt48 und zeigten zugleich die nach wie vor unzureichende empirische 39

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Auf Initiative von Theodor F. Klaßen – Direktor des Instituts für Pädagogik des Primar- und Sekundarbereichs – an der Universität Gießen; sie wurde allerdings nur begrenzt forschungswirksam und nach dem Tode Klaßens und des Geschäftsführers Michael Seyfarth-Stubenrauch in den 1990er Jahren nicht weitergeführt. GbR mit Elisabeth Remmert (Vechta) als Geschäftsführerin und dem Nachlass („JenaplanZentralarchiv“) als Kern; Ende 1992 durch Gesellschafterbeschluss aufgehoben; nach gescheiterten Versuchen, den Nachlass universitär zu deponieren und dem Tode der Rechtsnachfolgerin Elisabeth Remmert (2005) als „Peter-Petersen-Archiv Vechta“ von ihrem Sohn Peter Remmert weitergeführt; die Gründung 1981 wurde von Hans Mieskes (Gießen) beraten. Vgl. dazu: PPAV, Archivkasten PPNG. Hans Mieskes: Und nun der Jenaplan? Fragen und Überlegungen zum hundertsten Geburtstag von Peter Petersen, veröffentlicht von der Peter Petersen Nachlass-Gesellschaft (1984), v.a. S. 7; ähnlich auch Theo Dietrich (Bayreuth). Theodor F. Klaßen/Ehrenhard Skiera (Hg.): Pädagogik der Mitmenschlichkeit. Beiträge zum Petersen-Jahr, Heinsberg 1984; vgl. als schmale Dokumentensammlung auch Theodor F. Klaßen (Hg.): Die erste Jenaplan-Schule. Texte zur Theorie und Praxis der Universitätsschule in Jena (= Lesehefte zur Jenaplanpädagogik 8), Heinsberg 1988. Peter Kaßner/Hans Scheuerl: Rückblick auf Peter Petersen, sein pädagogisches Denken und Handeln, in: ZfP 30 (1984), S. 647–661. Ingeborg Maschmann/Jürgen Oelkers (Hg.): Peter Petersen. Beiträge zur Schulpädagogik und Erziehungsphilosophie, Heinsberg 1985, S. 7. Maschmann an Remmert vom 23.5.1986, in: UAJ, Best. V, Abt. XXX, Nr. 48. Ebd.: Maschmann an Dietrich/Remmert vom 24.3.1989. Dietrich hatte seinen Beitrag für den Sammelband aus Protest gegen dessen kritische Aufsätze zurückgezogen und den Band in einer Rezension scharf abgelehnt. Hans Christoph Berg: Bilanz und Perspektiven der Reformpädagogik, in: ZfP 36 (1990), S. 877– 892; Oelkers: Reformpädagogik (wie Anm. 13); Hermann Röhrs: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt, 3 Weinheim 1991. Torsten Schwan: Die „Kernzeit“ der Petersen-Debatte in der bundesdeutschen Pädagogik 1989

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Basis der Petersen-Kritik. Extrempositionen wie die des Paderborner Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Keim49 rückten die Petersen-Kritik zudem in ein fragwürdiges Licht. Zur gleichen Zeit führte der „pädagogische Aufbruch“ 1989/90 in der DDR zu einer Rückbesinnung auf reformpädagogische Traditionen50 und im Falle Jenas zu einer Jenaplan-Renaissance,51 ohne zunächst entsprechend fundierte Forschungen auslösen zu können. Ein von den „Abwicklungs-“ bedrohten Jenaer DDR-Erziehungswissenschaftlern eilig zusammengestellter Sammelband52 blieb das wenig überzeugende Produkt „nachholender“ Beschäftigung mit diesem zuvor von ihnen aus ideologischen Gründen vernachlässigten Thema. Er kontrastierte deutlich mit der empirisch fundierten, wenn auch methodisch in vieler Hinsicht problematischen Petersen-Studie Barbara Kluges.53 Der eigentliche Durchbruch zu einer empirisch fundierten, kritisch-historischen Petersen-Forschung erfolgte in den „alten Bundesländern“ während der 1990er Jahre. Als wegweisend erwies sich vor allem der Erziehungswissenschaftler und Kommunikationstheoretiker Hein Retter (Braunschweig), der durch Forschung zu einem quellengestützt abgewogenen Gesamtbild Petersens jenseits bisheriger Interpretationskämpfe kommen wollte.54 Das reichte von zwei Tagungen zur Pädagogik Petersens 199255 bis zu seiner voluminösen Petersen-Biographie 200756 und schloss auch

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bis 1992, in: Pädagogische Rundschau 54 (2000), S. 285–303; vgl. auch den Beitrag von Lütgert in diesem Band; vgl. als bilanzierenden Abschlussband Tobias Rülcker/Peter Kaßner (Hg.): Peter Petersen. Antimoderne als Fortschritt? Erziehungswissenschaftliche Theorie und pädagogische Praxis vor den Herausforderungen ihrer Zeit, Frankfurt a.M. 1992. Keim ging es v.a. darum, Petersen als einen grundsätzlich „NS-affinen“ Pädagogen mit einer „vordemokratisch-ständischen“ Gemeinschaftsideologie und Pädagogik zu kennzeichnen; als Beispiele: Wolfgang Keim: Peter Petersens Rolle im Nationalsozialismus und die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft. Kritische Anmerkungen zu Peter Kaßners Beitrag in diesem Heft, in: Die Deutsche Schule 81 (1989), Hf. 1, S. 133–145; ders.: Reformpädagogik und Faschismus. Anmerkungen zu einem doppelten Verdrängungsprozess, in: Pädagogik 41 (1989), Hf. 5, S. 23–28. Pehnke: Plädoyer (wie Anm. 37); kritisch Wolfgang Keim: Verunsicherung versus Wendehalsigkeit. „Reformpädagogik“ als Thema ostdeutscher Erziehungswissenschaft im Vereinigungsprozeß, in: Jahrbuch für Pädagogik 1992, S. 247–264; Gerhard Neuner: DDR-Pädagogik in der Wendezeit (1989–1990), in: Dietrich Hoffmann/Karl Neumann (Hg.): Erziehung und Erziehungswissenschaft in der BRD und der DDR, Bd. 3, Weinheim 1996, S. 95–126, hier S. 107–119; Neuner war von 1970 bis 1989 Präsident der APW der DDR und ein strikter Gegner jeglicher Öffnung gegenüber reformpädagogischen Ideen gewesen und kritisierte nun aus dieser Perspektive die Reformpädagogik-Rezeption seit 1989/90. Beitrag von John/Retzar/Stutz. Reformpädagogik in Jena. Peter Petersens Werk und andere reformpädagogische Bestrebungen damals und heute, Jena 1991. Kluge: Petersen (wie Anm. 17). In diesem Sinne hatte Retter schon den Sammelband von Maschmann/Oelkers positiv rezensiert (wie Anm. 44), S. 15–18; vgl. auch den entsprechenden Briefwechsel in: UAJ, Best. V, Abt. XXX, Nr. 50. Hein Retter (Hg.): Jenaplan-Pädagogik als Chance. Kindgerechte Schulpraxis im Zeichen europäischer Verständigung, Bad Heilbrunn 1993; ders.: Reformpädagogik (wie Anm. 5). Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens (= Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte 1), Frankfurt a.M. 2007.

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einen Dokumentenband57 ein. In dieser Zeit entstanden zudem mehrere Studien zu Petersens SBZ-Wirken,58 Dissertationen zur bundesdeutschen Petersen-Rezeption59 und zum „Jenaplan im Nationalsozialismus“60 und ein Handbuch zur Rezeption des Rassenkonzeptes in der Pädagogik des „Dritten Reiches“, das sich auch mit Petersen und seinem Schülerkreis befasste.61 Eine Literatur-Dokumentation62 wirkte forschungserleichternd. Der so deutlich angewachsene Forschungsstand sowie die zahl- und facettenreichen Publikationen zur historischen Reformpädagogik63 schienen nun auch zu einem souveräneren Umgang mit der „Widersprüchlichkeit Peter Petersens und seiner Pädagogik“ führen zu können.64 Jena hatte an den Forschungsprozessen der 1990er Jahre kaum Anteil. Hier wirkten noch die fehlenden Forschungstraditionen nach. Die 1991 gegründete JenaplanSchule entwickelte zwar ein eigenständiges – „Neuer Jenaplan“ genanntes – pädagogisches Konzept,65 war aber nicht für historische Forschungen zuständig. An der Universität führten die „Abwicklungs-“ und Transformationsprozesse im Bereich der Erziehungswissenschaften zu völlig neuen Personal-, Lehr- und Forschungsprofilen.66 Das Forschungsinteresse an der Wissenschaftskultur des „pädagogischen Jenas“67 richtete sich zunächst vor allem auf Herbartianismus und Volkshochschulwe57 58

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Retter: Petersen (wie Anm. 17). Dagmar Sommerfeld: Peter Petersen und „Der Kleine Jena-Plan“ im Spannungsfeld der Schulreform in der SBZ/DDR 1945–1950, Frankfurt a.M u.a. 1995; Peter Dudek: Peter Petersen. Reformpädagogik in der SBZ und der DDR 1945–1950. Eine Fallstudie (= Bibliothek für Bildungsforschung 4), Weinheim 1996. Schwan: Petersen-Rezeption (wie Anm. 32); betreut von Hein Retter. Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 4); betreut von Wolfgang Keim und weitgehend seinen Thesen folgend. Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt (Hg.): Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch (= edition bildung und wissenschaft 10), Berlin 2006, hier S. 174–177; vgl. auch den Beitrag Harten in diesem Band. Peter Petersen. Jenaplan. Erziehungswissenschaft in Jena 1923–1952. Literatur Dokumentation (= Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Hagen 2), bearb. v. Walter Stallmeister, Hagen 1999. Winfried Böhm/Jürgen Oelkers (Hg.): Reformpädagogik kontrovers (= Erziehung Schule Gesellschaft 3), Würzburg 1995; Jürgen Oelkers: Pädagogik in der Krise der Moderne, in: Klaus Harney/Heinz Hermann Krüger (Hg.): Einführung in die Geschichte der Erziehungswissenschaft und der Erziehungswirklichkeit, Opladen 1997, S. 39–92; Tobias Rülker/Jürgen Oelkers (Hg.): Politische Reformpädagogik, Bern u.a. 1998 (darin: Hein Retter: Peter Petersens Identitätsbalancen vor und nach 1933, S. 563–589); Jürgen Oelkers/Fritz Osterwalder (Hg.): Die Neue Erziehung. Beiträge zur Internationalität der Reformpädagogik, Bern u.a. 1999; Heike Neuhäuser/Tobias Rülcker (Hg.): Demokratische Reformpädagogik (= Berliner Beiträge zur Pädagogik 2), Frankfurt a.M. 2000; später auch Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 36); ders.: Klassische Reformpädagogik im aktuellen Diskurs, hg. v. Alexandra Schotte, Jena 2010; Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Entstehungsgeschichten einer internationalen Bewegung, Zug 2010. Inge Hansen-Schaberg: Zum Umgang mit der Widersprüchlichkeit Peter Petersens und seiner Pädagogik, in: dies./Bruno Schonig (Hg.): Jenaplan-Pädagogik (= Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte 3), 2 Baltmannsweiler 2007 (zuerst 2002), S. 1–10. Gisela John/Helmut Frommer/Peter Fauser (Hg.): Ein neuer Jenaplan. Befreiung zum Lernen. Die Jenaplan-Schule 1991–2007, Seelze-Velber 2008. Beitrag John/Retzar/Stutz. Andreas v. Prondczynsky: Universitätspädagogik und lokale pädagogische Kultur in Jena zwi-

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sen68 und erst zum 75jährigen Gründungsjubiläum der „Petersen-Schule“ 1999 auch auf die Jenaplan-Pädagogik.69 Es blieb aber beim neuen Jenaer Fachvertreter der historischen Pädagogik vor allem ideengeschichtlich-systematisch ausgerichtet.70 Die neuen Untersuchungen zur Jenaer Universitätsgeschichte des 19./20. Jahrhunderts71 eröffneten zwar neue Frageperspektiven. Der Erziehungswissenschaft kam aber im universitären Gesamtgefüge nur eine randständige Rolle zu. Die Forschungsbilanz konzentrierte sich in ihrem Falle auf die NS-Zeit. Dass sich mehrere Studien des 2003 erschienenen Studienbandes zur Jenaer Universität in der NS-Zeit mit ihr und Petersen befassten,72 war vor allem dem Rang und der Bekanntheit des Reformpädagogen geschuldet, nicht dem geringen Gewicht der Fachdisziplin. Die Forschungsdefizite bei der Analyse der pädagogischen Praxis und der universitären Handlungsfelder Petersens wurden damals nicht überwunden. Die öffentliche Resonanz auf diese Studien war gering. Ganz anders sah es dann 2009 aus, als die medienwirksam zugespitzten Thesen Benjamin Ortmeyers mit ihrer Presseresonanz eine fast zweijährige öffentliche Petersen-Debatte auslösten. Ortmeyer bezog sich auf seine vierbändige Dokumentation der Schriften Nohls, Petersens, Sprangers und Wenigers in der NS-Zeit und seine darauf aufbauende Habilitationsschrift.73 Die Dokumentation stellt eine sehr anerkennenswerte Leistung

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schen 1885 und 1933, in: Alfred Langewand/Andreas v. Prondczynsky (Hg.): Lokale Wissenschaftskulturen in der Erziehungswissenschaft (= Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft 20), Weinheim 1999, S. 75–187; Andreas Flitner: Das pädagogische Jena, in: Jürgen John/Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 139–146. Rotraud Coriand/Michael Winkler (Hg.): Der Herbartianismus – die vergessene Wissenschaftsgeschichte, Weinheim 1998; Martha Friedenthal-Haase/Elisabeth Meilhammer (Hg.): Blätter der Volkshochschule Thüringen (1919–1933), 2 Bände, Hildesheim/Zürich/New York 1999. Ralf Koerrenz/Will Lütgert (Hg.): Jena-Plan – über die Schulpädagogik hinaus, Weinheim/Basel 2001 (= Texte einer 1999 gehaltenen Ringvorlesung). Koerrenz: Schulmodell (wie Anm. 3); vgl. auch die von Koerrenz und dem ThILLM 2007 veranstaltete Jenaer Konferenz „,Freiheit verpflichtet‘. 80 Jahre Jena-Plan“. Als Gesamtdarstellung mit mehreren Studienbänden zur NS- und zur SBZ/DDR-Zeit als Vorstufen vgl. Traditionen (wie Anm. 23). Uwe Hoßfeld/Jürgen John/Oliver Lemuth/Rüdiger Stutz (Hg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2003; darin: Michael Koch/Matthias Schwarzkopf: Pädagogische Konzepte der Jenaer Erziehungswissenschaft in der NS-Zeit, S. 772–793; Robert Döpp: „. . . doch irgendwie mittendrin. . . “: „Jena-Plan“ im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur „Alltagsgeschichte“ der NS-Zeit, S. 794–821; Torsten Schwan: Ein politisch naiver, opportunistischer Theoretiker? Peter Petersen und der Nationalsozialismus: Stand und Probleme der Forschung, S. 822–849; zu den Buchenwald-Vorträgen von 13 Jenaer Hochschullehrern – darunter Petersen – vor internierten norwegischen Studenten vgl. die Studie von Ronald Hirte/Harry Stein: Die Beziehungen der Universität Jena zum Konzentrationslager Buchenwald, S. 361–398, hier S. 384f.; vgl. auch die auf diesen Studienband bezogene Edition Wege der Wissenschaft im Nationalsozialismus. Dokumente zur Universität Jena 1933–1945 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 7), bearb. v. Joachim Hendel u.a., Jena 2007. Benjamin Ortmeyer (Hg.): ad fontes. Dokumente 1933–1945: Herman Nohls, Peter Petersens, Eduard Sprangers, Erich Wenigers Schriften und Artikel in der NS-Zeit, 4 Bände, Frankfurt a.M. 2006/07; ders.: MYTHOS und PATHOS statt LOGOS und ETHOS. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich

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dar, obwohl im Falle Petersens die meisten der von Ortmeyer zusammengestellten Schriften schon zuvor bekannt waren. Sie hat die wissenschaftliche Diskussion über Erziehungswissenschaftler im „Dritten Reich“ zweifellos belebt und bereichert. Die Habilitationsschrift hingegen bewegte sich auf ausgetretenen Bahnen. Sie griff auf längst überwundene Lesarten zurück und führte mit ihren methodischen und analytischen Schwächen auf interpretatorische Abwege.74 Doch wirkte die von Ortmeyers Thesen ausgelöste Petersen-Debatte forschungsanregend. Hein Retters Studie über Kinder bedrohter Familien in der Jenaer Universitätsschule während der NS-Zeit legte mit ihrer Spurensuche und Methodenkritik eine Grundlage für weitere Forschungen.75 Bei aller Vorläufigkeit ihrer Befunde stellte sie einen wichtigen Forschungsbeitrag im Vorfeld des ebenfalls von dieser Debatte angeregten Workshops als Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes dar – im Gegensatz zu einer nach dem Workshop verfassten polemischen Tendenzschrift ohne eigene Forschungsbefunde.76 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Seit den 1990er Jahren entstanden im Kontext verschiedener Petersen-Debatten umfangreiche quellenbasierte Forschungsarbeiten, die das Petersenbild und das Verständnis der Jenaplan-Pädagogik auf zunehmend gesicherte wissenschaftliche Grundlagen stellten. In der Tradition dieser historisch-kritischen Petersen- und Jenaplan-Forschungen steht der vorliegende Band. Er stellt einen weiteren wichtigen Forschungs- und Erkenntnisschritt dar, obwohl noch viele Lücken bleiben und weitere Archivbestände auszuwerten sind. Zu den Desiderata gehört zweifellos die genaue Analyse der Wechselwirkungen von Theorie und Praxis in den verschiedenen Phasen des Wirkens Petersens. Möglicherweise könnte aus künftigen Forschungen eine Gesamtbiographie Petersens auf neuer Kenntnisund Quellenbasis hervorgehen, die Aufschlüsse über die ebenso bemerkenswerten wie mitunter verstörenden Wege und Irrwege eines der wichtigsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts gibt.

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Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009. Vgl. die Rezension von Tenorth (wie Anm. 26) sowie die Methodenkritik bei Hein Retter. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 20); ihre Methodenkritik bezieht sich auf Ortmeyer u. Torsten Schwan: „Ich werde rücksichtslos gegen den Liberalismus, Demokratie und das Judentum schreiben und reden“. Zum Rassismus und Antisemitismus in der Jenaplan-Pädagogik nach 1933, in: ZfP 56 (2010), S. 414–436. Schwan: Weimarer Zeit (wie Anm. 21).

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DEBATTENKONTEXTE Der vorliegende Band steht in mehrfacher Hinsicht im Kontext aktueller Auseinandersetzungen. Er ist aus der in Jena und darüber hinaus geführten Petersen-Debatte 2009 bis 201177 hervorgegangen, die sich auf den 1991 vergebenen Namen „Petersenplatz“ bezog, aber grundsätzlichen Charakter annahm. Diese wies die Muster früherer Debatten und zugleich einige Besonderheiten auf. Wie zuvor standen sich Kritiker und Bewunderer Petersens schroff gegenüber. Zwischen Zerrbild und Lichtgestalt blieb wenig Raum für differenzierende Urteile. Die Argumente waren nicht neu und die strittigen Befunde meist bekannt. Wie frühere konzentrierte sich diese Debatte auf das Verhalten Petersens in der NS-Zeit, vor allem auf seine in der Sprache des „Dritten Reiches“ verfassten Schriften. Die Weimarer Wirkungszeit Petersens und die SBZ-Jahre seines Wirkens kamen meist nur als Vor- oder Nachgeschichte der NS-Zeit ins Bild. In vieler Hinsicht verlief diese Debatte aber auch anders als frühere. Sie fand vor allem in der kommunalen und medialen Öffentlichkeit statt. Ungewöhnlich waren die erinnerungspolitische Aggressivität und Skandalisierungsstrategie des Frankfurter Debatten-Initiators Benjamin Ortmeyer. Er hatte zwar die Schriften von vier namhaften Pädagogen in der NS-Zeit untersucht. Sein öffentliches Auftreten bezog sich aber fast ausschließlich auf Petersen. Jedes Bemühen um ein genaues, differenziertes und angemessenes Petersen-Bild sah er schon als Apologie an. Bereits der erste Jenaer Presseartikel gab die von ihm gewählte Tonart an: „Petersen ein ‚Antisemit und übler Geselle‘“ – ein Ortmeyer-Zitat.78 Diese Tonart behielt er auch in der Folgezeit bei und verweigerte sich jeder sachlichen Auseinandersetzung. Dem entsprach auch die von ihm und Torsten Schwan medial inszenierte Absage, am Workshop 2010 teilzunehmen. Mit diesem erinnerungspolitischen Feldzug kontrastierten die eher nachdenklichen Positionen der Petersen-Schüler. Sie wehrten sich gegen Pauschalkritik und diffamierende Positionen, waren aber durchaus bereit, sich auf eine kritische Petersen-Debatte einzulassen, so schmerzhaft das für sie auch sein mochte. Auffällig waren zudem mitunter geradezu wissenschaftsfeindlich zugespitzte Positionen. Einige Lokalredakteure gingen dabei so weit, ausgerechnet der Jenaer Universität mit ihrer bundesweit beispielhaften universitätsgeschichtlichen Forschungsarbeit auch und gerade zur NS-Zeit erinnerungskulturelles Versagen vorzuwerfen. Die Pressepolitik der Jenaer Lokalredaktionen war äußerst einseitig und bot den Lesern keine Möglichkeit, sich ein sachgerechtes Bild über Streit- und Standpunkte zu machen. Emotional hoch aufgeladene „Offene Briefe“ erinnerungskultureller „Basisaktivisten“ polarisierten das Meinungsbild statt es zu versachlichen. Auf ganz andere Weise bemerkenswert und stilbildend war der kommunale Lernprozess im Verlaufe dieser Debatte. Die Stadt Jena – vom Oberbürgermeister über das Stadtparlament bis zu seinem Kulturausschuss – verhielt sich ganz anders als zehn 77

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Eine Dokumentation dieser Debatte ist geplant u. begonnen worden; eine über die GEW verbreitete Auswahl ist unprofessionell, tendenziös, lücken- u. fehlerhaft – vgl. Dokumente der Auseinandersetzung zur Umbenennung des Peter-Petersen-Platzes in Jena. November 2010–Dezember 2010, hg. von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Thüringen, GEW Studis Jena, GEW Kreisverband Jena-Saale-Holzland, Jena 2010. Michael Groß: Petersen ein „Antisemit und übler Geselle“, in: OTZ vom 16.7.2009.

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Jahre zuvor in der Debatte um den Pädiater Jussuf Ibrahim.79 Damals waren namhafte Repräsentanten der Stadt – im Gegensatz zur Universität – bestrebt, eine kritische Auseinandersetzung zu vermeiden oder sogar zu unterbinden. Im Falle Petersens hingegen bemühten sich Stadtverwaltung und -parlament von Anfang an, eine solche öffentliche Debatte aktiv herbeizuführen, Jenaer und auswärtige Experten einzubeziehen, die wissenschaftliche Arbeit über Petersen und den Jenaplan zu fördern und einen ebenso sachlichen wie meinungsoffenen Diskurs zu ermöglichen. Gemeinsam mit der Universität betrieb die Stadt Jena einen außergewöhnlichen und anhaltend geduldigen Aufwand zur kommunalen Meinungs- und Willensbildung, um Entscheidungen auf sicherer empirischer Grundlage abwägen und fällen zu können. Auch unter den Stadträten und -politikern waren die Meinungen geteilt und die Positionen konträr. Doch beriet man in einem Klima gegenseitiger Achtung und des Bemühens um gut begründete Argumente. Dies führte schließlich zu der Mehrheitsentscheidung, den 1991 vergebenen strittigen Namen „Petersenplatz“ wieder abzulegen, weil das Verhalten des Namenspatrons in der NS-Zeit ein ehrendes Gedenken im öffentlichen Raum ausschließe. Zugleich bekannte sich die Stadt mit dem ebenfalls mehrheitlich entschiedenen neuen Namen „Jenaplan“ – er war bereits im Oktober 2009 vorgeschlagen worden – zum reformpädagogischen Werk und international bekannten „Markenzeichen“ Petersens, das heute mehr denn je lebendig und anregend ist. Mit dem Ende der Debatte 2009/11 ist die Diskussion um diesen widersprüchlichen Pädagogen von Rang und seinen Platz in der Jenaer Geschichts- und Erinnerungskultur nicht abgeschlossen. Die während der Kontroverse um Petersen erarbeiteten Maßstäbe könnten für den Umgang mit anderen – ähnlich gelagerten – Fällen in Jena und darüber hinaus hilfreich sein. Damit verwies diese Debatte über ihren konkreten Gegenstand hinaus auf grundsätzliche Fragen der Gedächtnis- und Erinnerungskultur, des kollektiven – kommunikativen wie kulturellen – Gedächtnisses und entsprechender „Erinnerungsorte“ als Stätten und Chiffren auf der geistigen Landkarte.80 Vor allem zeigte sie die Probleme des „öffentlichen Gedenkens“,81 des „negativen Gedächtnisses“82 und des Umgangs mit „schwierigen“ und „sperrigen“ Vergangenheiten83 sowie mit widersprüchlichen Personen von Rang. Entsprechende Entscheidungen sind stets auch geschichtspo79 80

81 82 83

Marco Schrul/Jens Thomas: Kollektiver Gedächtnisverlust: Die Ibrahim-Debatte 1999/2000, in: Hoßfeld u.a.: „Wissenschaft“ (wie Anm. 72), S. 1065–1096. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.): Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a. M./New York 1999; Etienne Francois/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bände, München 2001; für Jena vgl. John/Ulbricht: Jena (wie Anm. 67). Insa Eschenbach: Öffentliches Gedenken. Deutsche Erinnerungskulturen seit der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 2005. Reinhart Koselleck: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 21–32. Klaus Ahlheim/Bardo Heger: Die unbequeme Vergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des Erinnerns, Schwalbach a.T. 2002; Ulrike Kaiser/Justus H. Ulbricht (Hg.): Sperrige Vergangenheiten. Aspekte regionaler Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert, Leuchtenburg bei Kahla 2009.

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litische Entscheidungen. Es gibt kaum eine deutsche Stadt, die sich in den letzten Jahren nicht mit solchen Problemen des Ehrens, Gedenkens und Auseinandersetzens im öffentlichen Raum zu beschäftigen hatte.84 Neben Berlin (unter anderem Heinrich von Treitschke) sind auf diese Weise in letzter Zeit vor allem München (Hans Christian Meister) und Münster (unter anderem Paul von Hindenburg) in die Schlagzeilen geraten, in Österreich die Hauptstadt Wien (Karl Lueger). Dabei spielt die NS-Zeit mit ihren Verbrechensdimensionen stets die zentrale Rolle. Doch beschränken sich solche erinnerungskulturellen Debatten keineswegs auf diese. Sie beinhalten auch andere Epochen komplizierter und belasteter Geschichte – im Osten Deutschlands nicht zuletzt die DDR und ihre erinnerungskulturelle Hinterlassenschaft.85 Und sie beziehen sich auch auf Personen der älteren Geschichte, die Bedeutendes geleistet und zugleich Verwerfliches gedacht oder getan haben; Personen, bei denen sich die Frage stellt, ob man ihrer (weiter) unbefangen gedenken könne, ob man ihre Widersprüche „historisieren“, sie im öffentlichen Erinnern zum Ausdruck bringen und ihnen zugleich gerecht werden könne oder ob man solche Personen der „damnatio memoriae“ und dem „Vergessen“ überantworten solle. Die in letzter Zeit aus verschiedenen Anlässen wieder verstärkten Diskussionen um den Antisemitismus Martin Luthers86 und Richard Wagners sind da nur markante Beispiele. Die Thematik dieses Bandes weist über die Petersen- und ErinnerungskulturDebatten hinaus noch weitere aktuelle Debattenbezüge auf. Mit den PISA-Studien (seit 2000), dem „Deutschen Schulpreis“ (seit 2006), der Föderalismusreform (2006) und ihrem umstrittenen Verbot bildungspolitischer Kooperation zwischen Bund und Ländern haben die Diskussionen um „gute Schulen“, Schulprobleme und nötige Reformen an Vehemenz und Intensität gewonnen. Das hat das gesellschaftliche Interesse an historischer und gegenwärtiger Reformpädagogik wieder verstärkt und mit der Frage verbunden, was sie zur Lösung akuter Probleme beitragen könne.87 Im Kontrast dazu entwickelte sich seit März 2010 eine gleichsam negative Reformpädagogik-Debatte – ausgelöst durch die Missbrauchs-Skandale in Internaten katholischer Einrichtungen und der Odenwald-Schule. Sie weist Tendenzen auf, jegliche „Pädagogik der Nähe zum Kind“ unter den Generalverdacht potenziellen Kindesmissbrauchs und einer abgeschirmten Schulwelt ohne öffentliche Kontrolle zu stellen.88 Frühere kritische 84

85 86 87

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Als Fallbeispiel: Marion Werner: Vom Adolf-Hitler-Platz zum Ebert-Platz. Eine Kulturgeschichte der Kölner Straßennamen seit 1933, Köln/Weimar/Wien 2008; vgl. auch die von Matthias Frese u. Katharina Stütz organisierte Tagung „Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur“ am 12.7.2011 in Münster, Tagungsbericht in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3818; zuletzt abgerufen am 19.7.2012. Johanna Sänger: Heldenkult und Heimatliebe. Straßen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR, Berlin 2006 (u.a. mit dem Fallbeispiel Jena). Zuletzt Thomas Kaufmann: Luthers „Judenschriften“. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2011. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 63); Ulrich Herrmann/Steffen Schlüter (Hg.): Reformpädagogik – eine kritisch-konstruktive Vergegenwärtigung, Bad Heilbrunn 2012; interdisziplinäre Konferenz „Reformpädagogik – Pädagogik der Reformen“ 10.–12.11.2011 in Jena, deren Tagungsband 2013 im Friedrich Verlag Seelze erscheinen wird. Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011; vgl. zur Problematik dieser instrumentalisierten „Reformpädagogik-Kritik“ auch Tanjev Schultz: Schule ohne Angst. Wie eine Pädagogik mit Herz Wirklichkeit werden kann, Freiburg

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Vorbehalte gegen Reformpädagogik sind so neu akzentuiert, verschärft und verallgemeinert worden. Sie weise nicht nur solche „dunklen Seiten“ auf, sondern sei eigentlich überflüssig, weil Reformen vor allem im „normalen Schulwesen“ stattfänden.89 Indirekte Bezüge weist die in diesem Band behandelte Thematik auch zur Problematik der „Sarrazin-Debatte“ 2010/11 auf. Die von Thilo Sarrazin90 vertretenen eugenisch-biologistisch, sozialrassistisch und kulturhegemonial getönten Positionen stellen reformpädagogische und bildungspolitische Grundprinzipien der Vielfalt, Integration und Chancengleichheit in Frage. Das berührt einen Nerv der im ersten Teil dieses Bandes behandelten Weimarer Zeit und steht in fataler Nähe zu Ansichten, wie sie damals etwa der Dresdner Schulrat und spätere sächsische NS-Kultusminister Wilhelm Hartnacke91 vertrat. Für die im zweiten Teil des Bandes behandelte NS-Zeit sind die Debatten der letzten Jahre über das Verhalten der Wissenschafts-, Hochschul-, Wirtschafts- und Funktionseliten und über die entsprechenden Beurteilungskriterien, Verhaltens- und Verdrängungsmuster aufschlussreich.92

89 90 91 92

2012 sowie Reform der Erziehung – Reform für Kinder. Eine Jenaer Erklärung (April 2010), abgedr. in: Wolfgang Beutel/Peter Fauser/Helmolt Rademacher (Hg.): Jahrbuch Demokratiepädagogik 2012, Schwalbach a.T. 2012, S. 306–313 (mit Liste der Unterzeichner). Jürgen Oelkers: Nach der Reformpädagogik, in: FAZ, Nr. 62 vom 15.3.2010, S. 23. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010. Wilhelm Hartnacke: Bildungswahn – Volkstod! Vortrag, gehalten am 17. Februar 1932 im Auditorium Maximum der Universität München für die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene, München 1932. Grundsätzlich Ulrich Herbert: Wer waren die Nationalsozialisten? Typologien des politischen Verhaltens im NS-Staat, in: Gerhard Hirschfeld/Tobias Jersak (Hg.): Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseliten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 17– 42; zuletzt v.a. die Debatte 2010/11 über den Kommissionsbericht von Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Unter Mitarbeit von Annette Weinke u. Andrea Wiegeshoff, München 2010; vgl. dazu u. zur Debatte auch Johannes Hürter: Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust. Kritische Bemerkungen zu einem Kommissionsbericht, in: VjZ 59 (2011), S. 167–192; Michael Mayer: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich – Eine Binnendifferenzierung, ebd., S. 509–532.

Teil I: Die Weimarer Zeit

Franz-Michael Konrad „LOCARNO 1927“ UND „KLEINER JENA-PLAN“ – EIN INNOVATIVES GESTALTUNGSMODELL PÄDAGOGISCHEN DENKENS; SEINE ENTSTEHUNGSHINTERGRÜNDE UND SEINE WIRKUNGEN EINLEITUNG Der so genannte Kleine Jena-Plan ist eines der wenigen pädagogischen Werke des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache, das auch Jahrzehnte nach seinem erstmaligen Erscheinen in den Buchhandlungen noch vorrätig gehalten oder, online bestellt, binnen 24 Stunden überallhin geliefert wird. Diese kleine Schrift, die in ihrer ersten Auflage nur 41 Seiten stark war und selbst nach den später erfolgten Bearbeitungen an Umfang nur wenig gewonnen hat, gehört zu der seltenen Spezies nicht banaler und doch viel nachgefragter Erziehungsliteratur. Bis heute gibt es eine lebendige internationale Jena-Plan-Bewegung und bis heute spielt der Kleine Jena-Plan in der Lehreraus- und -weiterbildung eine wichtige Rolle. Nach wie vor werden erziehungswissenschaftliche Deutungsversuche vorgelegt.1 Nicht zuletzt ist der Kleine Jena-Plan in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und konnte so zu einem viel beachteten deutschen Beitrag im weltweiten Diskurs über die Schule und ihre Reform werden. Im Folgenden soll zuerst der Entstehungskontext des Kleinen Jena-Plans beleuchtet werden. Dabei wird sich zeigen, dass sich dieser zwar auch in die Jenaer herbartianische Tradition fügt, er viel mehr aber ein Produkt der (internationalen) reformpädagogischen Bewegung gewesen ist. Sodann wird die Frage nach den möglichen schulpädagogischen Impulsen, die von ihm ausgehen, zu beantworten versucht. Der Kleine Jena-Plan muss beachtliche innovative Aspekte aufgewiesen haben und nach wie vor aufweisen, sonst wäre er ja nicht, wie ausgeführt, auch gegenwärtig noch so populär. In einem dritten Schritt werden die Wirkungen, die er nach seiner erstmaligen Veröffentlichung gezeitigt hat, knapp skizziert. Angesichts immer wieder kehrender kritischer Rückfragen an dessen Autor, Peter Petersen, und an seine Rolle im Nationalsozialismus wird abschließend eine Einschätzung des Kleinen JenaPlans auf diesem für unsere politisch-pädagogische Kultur sensiblen Spannungsfeld gegeben werden. In diesem Zusammenhang wird exemplarisch das für Petersens pädagogisches Denken zentrale Stichwort „Führung“ analysiert werden.

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Zuletzt Ralf Koerrenz: Schulmodell: Jena-Plan. Grundlagen eines reformpädagogischen Programms, Paderborn 2012.

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ZUM ZEITGESCHICHTLICHEN HINTERGRUND: LOCARNO 1927 Es geschieht aus Anlass des 4. Kongresses der New Education Fellowship,2 dass Peter Petersen sein Schulkonzept einem internationalen reformpädagogischen Publikum vorstellt. Nach Calais, Montreux und Heidelberg hat man zum Thema „Freiheit in der Erziehung“ im August 1927 ins schweizerische Locarno geladen. Und das mit Bedacht. Zwei Jahre zuvor war an diesem Ort Nachkriegsgeschichte geschrieben worden. Auf der Suche nach Frieden und Aussöhnung in Europa glaubte man einen Durchbruch erzielt zu haben. In mehreren völkerrechtlichen Verträgen hatte Deutschland die Endgültigkeit seiner Westgrenze bestätigt, so wie sie als Ergebnis des Ersten Weltkriegs entstanden war. Die republiktreuen demokratischen Kräfte des Weimarer Parteienspektrums waren bereit, den Ausgleich wenigstens mit den Westmächten und den USA zu suchen. Freilich nicht ohne Hintergedanken, standen doch auf deutscher Seite eine erträgliche Regelung der Reparationsfrage, das Ende der Rheinlandbesetzung und die Rückkehr des Saarlandes in den Reichsverband auf der politischen Agenda. Die Westmächte ihrerseits hatten ein Interesse daran, das durch die Kriegsniederlage gedemütigte und darum unberechenbare Deutschland in internationale Strukturen einzubinden. Ebenfalls aus diesem Motiv erklärt sich die geplante Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund, wofür die in den Verträgen von Locarno eingegangenen Verpflichtungen des Deutschen Reiches eine notwendige Vorbedingung bildeten. Allerdings lässt ausgerechnet der nach außen so konziliant auftretende (und dafür 1926 mit dem Friedensnobelpreis geehrte) Außenminister Gustav Stresemann die Verständigung mit dem Westen aus Gründen der politischen Opportunität im Innern von einer dezidiert nationalistischen Rhetorik begleiten. Insbesondere die Revisionsbedürftigkeit der Ostgrenze wird in diesem Zusammenhang immer wieder beschworen. So kann sich gewissermaßen im Windschatten des offiziellen Regierungshandelns eine à la longue verhängnisvolle Opposition formieren, die nicht nur gegen die Aussöhnung mit Polen und der Sowjetunion gerichtet ist, sondern ganz grundsätzlich jegliches Einvernehmen mit den ehemaligen Kriegsgegnern torpediert – auch jenes mit Frankreich, Großbritannien und den USA. Wenn bis weit in bürgerlichkonservative Kreise hinein von „Verzichtspolitik“ und einem angeblichen Verrat an Deutschland die Rede ist, so ist dies eine fast zwangsläufige Folge dieser Zwiespältigkeit deutscher Politik. Übrigens wird eines der Opfer dieser Politik wenige Jahre später ausgerechnet ihr Protagonist Stresemann sein, der, gesundheitlich labil und zermürbt von den ständigen Angriffen rechtsradikaler Kreise auf seine Person, 1929 einen Schlaganfall erleiden und daran versterben wird. Dies also sind die Umstände, unter denen in jenen Jahren die Zahl deutscher Pädagogen langsam zu wachsen beginnt, die einen internationalen kollegialen Austausch nicht länger ablehnen. Nicht zuletzt das 1914 auf der Basis einer Stiftung gegründete Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin entwickelt sich zu einer Dreh2

Die Wurzeln der 1921 gegründeten New Education Fellowship als Internationale der Reformpädagogik reichen bis ins Jahr 1899 zurück, als zur Unterstützung der in mehreren europäischen Ländern entstehenden Landerziehungsheime in Genf das Bureau International des Ecoles gegründet wurde.

„Locarno 1927“ und „Kleiner Jena-Plan“

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scheibe der von Deutschland ausgehenden internationalen pädagogischen Kontakte. Allerdings kann sich auch die Pädagogenszene dem widersprüchlichen Zeitgeist nicht ganz entziehen. Die Teilnahme an den Konferenzen der New Education Fellowship trifft nicht überall auf Zustimmung. Denunziatorisch gemeinte Schlagwörter wie „Völkerbundspädagogik“, „Friedenspädagogik“ und ähnliche andere mehr sind Bestandteil des Vokabulars auch der Pädagogenzunft.3 In dieser kontroversen Gemengelage aus Stimmungen und Meinungen praktiziert Petersen schon seit längerem einen entschiedenen Internationalismus. Mitten im Ersten Weltkrieg und auf dem Höhepunkt der nationalchauvinistischen Erregung hofft Petersen, in Deutschland möge es gelingen, ein Schulwesen zu entwickeln, „wie es etwa die Schweiz und die nordischen Länder sich ausgebildet haben“.4 Zwei Jahre später, im Rahmen einer Diskussion um die Zukunft einer sich noch ganz am Beginn ihres Aufstiegs zu einer ordentlichen akademischen Disziplin befindenden Erziehungswissenschaft, meint Petersen, dass im „Arbeitsgebiet eines Professors für Pädagogik [. . . ] die Vergleichung des ausländischen Schul- und Erziehungswesens nicht fehlen darf“.5 1923 schließlich nimmt er am Kongress der New Education Fellowship in Montreux teil und hält dort einen Vortrag. Mit der Absicht, „diejenigen ringsum in der Welt, die wir noch nicht alle kennen können, mit denen wir aber auf diesem Wege in unmittelbare Beziehung zu kommen versuchen“, über die Erfahrungen ins Bild zu setzen, die er in seiner Universitätsschule macht, begründet Petersen Mitte der 1920er Jahre seine erste gewichtige Publikation über den Jenaer Schulversuch.6 In den Folgejahren verstärkt sich das internationale Engagement Petersens noch: Ab 1926 gibt er die Buchreihe „Die Pädagogik des Auslands“ heraus – ein Forum der internationalen Reformpädagogik, ein mehrmonatiger USA-Aufenthalt folgt 1928, des Weiteren ein Engagement als bildungspolitischer Berater in Chile 1929 sowie eine sich bis in die frühen 1940er Jahre erstreckende internationale Vortragstätigkeit erheblichen Umfangs. In den Jahren nach seinem Auftritt in Locarno und durch diesen gefördert, avanciert Petersen zum international bekanntesten deutschen Erziehungswissenschaftler. Berechtigterweise, wie man sagen muss, denn wie kaum ein anderer deutscher Erziehungswissenschaftler seiner Generation denkt Petersen international. Während sein Göttinger Kollege Herman Nohl die Reformpädagogik als Manifestation einer „Deutschen Bewegung“ und damit als ein genuines Produkt der deutschen Geistesgeschichte konstruiert,7 betont Petersen den internationalen 3

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Bernd Zymek: Wissenschaftsgeschichtliche Aspekte der vergleichenden Erziehungswissenschaft in Deutschland. Zum Einfluss von infrastrukturellen Voraussetzungen und aktueller Politik auf den internationalen Horizont der deutschen Erziehungswissenschaft während der letzten hundert Jahre, in: Zeitschrift für Pädagogik, 14. Beiheft (1977), S. 175–187, hier S. 179f. Peter Petersen: Einleitung, in: ders. (Hg.): Der Aufstieg der Begabten. Vorfragen, Leipzig/Berlin 1916, S. 1–8, hier S. 2f. Peter Petersen: Pädagogische Professuren an deutschen Hochschulen (1918), wiederabgedruckt in: ders.: Innere Schulreform und Neue Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Weimar 1925, S. 22–31, hier S. 27. Peter Petersen/Hans Wolff: Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschule, Weimar 1925, S. 7; vgl. dazu auch den Beitrag von Peter Fauser in diesem Band. Herman Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt a.M. 1982

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Franz-Michael Konrad

Charakter der Reformbewegung, die er als „notwendige Folge der Fortentwicklung des europäischen Geisteslebens“8 bezeichnet. An der „neueuropäischen Erziehungsbewegung“ wirken Petersen und seine Mitarbeiter(innen) in Jena aktiv mit. Dass ein Wilhelm Flitner,9 ein Friedrich Schneider10 oder ein Josef Schröteler11 Jahre später die Reformpädagogik ebenfalls als internationale Bewegung entdecken, ist auch Petersens Verdienst, der seine eigenen Reformmaßnahmen unermüdlich mit entsprechenden gleichgelagerten Bemühungen im internationalen Raum abgleicht. Nicht zuletzt entstammt der Name „Jena-Plan“ der unmittelbaren Vorgeschichte von Locarno. Das Londoner Vorbereitungskomitee des Kongresses um die Britin Beatrice Ensor soll diesen Namen geschöpft haben. Von Petersen in diesem Zusammenhang ausdrücklich genannt werden Clare Soper und Dorothy Matthews, die den Namen „Jena-Plan“ vorgeschlagen haben sollen. Als Vorbilder der Namensgebung hätten, so heißt es im Vorwort zur ersten gedruckten Fassung des Jena-Plans, andere damals viel diskutierte „Pläne“ gedient: der Gary-Plan William A. Wirts,12 der Dalton Laboratory Plan Helen Parkhursts13 und der Winnetka-Plan Carleton Washburnes14 – allesamt Beiträge der amerikanischen Progressive Education zum internationalen reformpädagogischen Diskurs. Im ersten Band des späteren Großen Jena-Plans wird dann noch, um damit die Serie der „Pläne“, wie sie im Werk Petersens eine Rolle spielen, zu vervollständigen, der Howard-Plan kurze Erwähnung finden. Der HowardPlan bezieht sich auf einen in den 1920er Jahren an der Howard School for Girls in London unternommenen Versuch, ähnlich wie im Dalton-Plan mit Hilfe materialgestützter Einzel- oder Kleingruppenarbeit den individuellen Lernbedingungen der Schülerinnen besser als im herkömmlichen Unterricht gerecht zu werden.15 Zu den Entstehungskontexten des Jena-Plans gehört also ganz grundlegend dieser Internationalismus, zu dem sich Petersen auch über das Jahr 1933 hinaus – wie später noch zu zeigen sein wird – bekennt. Dann freilich, das sei an dieser Stelle schon eingeräumt, deutlich verhaltener und konterkariert von Ausführungen, die diese anfangs so uneingeschränkte internationale Perspektive durchaus zu relativieren vermögen.

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11 12 13 14 15

(Erstauflage 1933). Peter Petersen: Die neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar 1926, S. 6. Wilhelm Flitner: Die Reformpädagogik und ihre internationalen Beziehungen, in: Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 1 (1931/32), S. 39–57. Friedrich Schneider: Internationale Pädagogik, Auslandspädagogik, Vergleichende Erziehungswissenschaft. Geschichte, Wesen, Methoden, Aufgaben und Ergebnisse, in: Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 1 (1931/32), S. 15–39, 243–257, 392–407 und Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2 (1932/33), S. 79–89. Josef Schröteler: Die internationalen Erziehungsbestrebungen von 1900 – 1930, in: Handbuch der Erziehungswissenschaft, Teil V, Band 3, 1. Teil, München 1933, S. 3–44. Ronald D. Cohen: Children of the Mill: Schooling and Society in Gary, Indiana, 1906–1960, Bloomington 1990. Evelyn Dewey: The Dalton Laboratory Plan, New York 1922. Carleton W. Washburne/Sidney P. Marland: Winnetka: The History and Significance of an Educational Experiment, Englewood Cliffs, New Jersey 1965. Die Erwähnung des Howard-Plans durch Petersen ist einer der im deutschen pädagogischen Schrifttum raren Hinweise auf dieses selten rezipierte Modell; s. Peter Petersen: Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung, Weimar 1930, S. 28.

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Vor 1933 allerdings, insbesondere in der kritischen ersten Hälfte der zwanziger Jahre, erwächst aus diesem Internationalismus ein immer wieder vorgetragenes Bekenntnis zu Toleranz und Völkerfreundschaft. So schreibt Petersen 1919 in seinen Betrachtungen zur Schulreform, diese könne „in ihrem Kern nur sittlich sein, wenn sie selbst die Höherführung der Menschheit in ihrem geistigen Bestande zum Ziele hat und die Idee der Brüderlichkeit im weltbürgerlichen Sinne vorbereiten hilft.“16 1920 erinnert Petersen anlässlich der Übernahme der Leitung der Lichtwark-Schule, einer Hamburger Reformschule, an den Artikel 148 der eben in Kraft getretenen Reichsverfassung und den dort ausgedrückten Wunsch, alle staatsbürgerliche Erziehung möge „im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“ betrieben werden.17 Das solle auch das Motto der Unterrichtsarbeit an der Lichtwark-Schule sein, bestimmt Petersen. Und wenige Jahre später lesen wir bei Petersen, wenn jemand „sein Volk recht liebt, so liebt er damit immer auch die Menschheit. Denn er erkennt sein Volk als eine Perle neben unzähligen anderen an der großen Kette in der Hand des Weltenschöpfers, und die Schönheit seines Volkes erstrahlt erst an dieser Kette im höchsten Glanze und in Harmonie mit allen anderen Perlen.“18 Der internationalen Reformpädagogik fühlt sich Petersen auch deshalb verbunden, weil es „in der Neuen Erziehung ein Grundsatz erster Ordnung in allen Ländern [ist]: Die Jugendlichen sollen erzogen werden zur Achtung vor dem Volkstum und der Glaubenskraft derart, dass sie als Erwachsene die Heiligkeit des Volkstums und des Glaubens in jedem anderen Menschen achten, und nicht nur bei den Angehörigen ihres eigenen Volkes und ihres eigenen Bekenntnisses.“19 ZUM ENTSTEHUNGSHINTERGRUND DES JENA-PLANS Den Kleinen Jena-Plan im Einzelnen darzustellen, kann nicht Aufgabe dieses Beitrags sein.20 Schon gar nicht kann auf seine von mancherlei Umarbeitungen, Weglassungen und Hinzufügungen gekennzeichnete jahrzehntelange Überlieferungsgeschichte genauer eingegangen werden. Immerhin sei erwähnt, dass der in Locarno vorgestellte Plan nur wenige Gemeinsamkeiten mit dem aufweist, was heute als „Kleiner JenaPlan“ rezipiert wird. Der Jena-Plan in seiner ursprünglichen Fassung trägt kaum den Charakter eines Planes, sondern vielmehr den eines Berichts aus der Jenaer Universitätsschule, ergänzt um grundlegende soziologische, psychologische und (erziehungs-) philosophische Betrachtungen Peter Petersens, der als Autor zeichnet. Alle wichtigen Details der praktischen Arbeit waren übrigens zwei Jahre zuvor schon im Rahmen eines ersten größeren Erfahrungsberichts aus der Jenaer Schule publiziert 16 17 18 19 20

Peter Petersen: Gemeinschaft und freies Menschentum. Die Zielforderungen der neuen Schule. Eine Kritik der Begabungsschulen, Gotha 1919, S. 18. Peter Petersen: Antrittsrede bei Übernahme der Schulleitung Ostern 1920 (1920), abgedruckt in: ders.: Innere Schulreform und Neue Erziehung, Weimar 1925, S. 165–172, hier S. 170. Peter Petersen: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin/Leipzig 1924, S. 256. Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 8), S. 43. Franz-Michael Konrad: Die Pädagogik Peter Petersens. Ein Modell zur inneren Reform der Schule?, in: Gemeinschaft Evangelischer Erzieher in Bayern (Hg.): Die Pädagogik Peter Petersens (= GEE-Impulse für die Schule), Sachsen bei Ansbach 1989, S. 9–30.

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worden und insofern zumindest dem deutschen Fachpublikum bekannt.21 Die so populären Elemente und einprägsamen Begriffe des Jena-Plans dagegen, also: die vier „Stammgruppen“, die die Jahrgangsklassen ablösen; die Umgestaltung des Klassenraumes zur „Schulwohnstube“; der „Wochenarbeitsplan“, der an die Stelle des „Fetzenstundenplans“ tritt; die Unterrichtsmethoden Gruppenarbeit, Kurs, Kreis, Freies Arbeiten; schließlich das, was Petersen die vier „Urformen“ genannt hat, Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier, dies alles beruht fast ausnahmslos auf später vorgenommenen Weiterentwicklungen, Umarbeitungen und Konkretisierungen dieser ersten 1925 bis 1927 vorgelegten Berichte.22 Seine heute bekannte Gestalt erhält der Jena-Plan im Wesentlichen anlässlich seiner dritten und vierten Auflage 1932. Im Übrigen firmiert der Jena-Plan zum Zeitpunkt seiner erstmaligen Publikation (und auch in den unmittelbar folgenden Auflagen) noch nicht unter dem Label „Kleiner Jena-Plan“, sondern heißt einfach: „Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule“.23 Fragt man nach den pädagogischen Impulsen, die auf den Jena-Plan eingewirkt haben, dann sollte man sich zunächst vergegenwärtigen: Petersens Berufung auf den Lehrstuhl Wilhelm Reins wird gerne auch als scharfe Zäsur, als ein gegen den Widerstand „der ortsansässigen herbartianischen Pädagogik“24 herbeigeführter Abbruch einer jahrzehntelangen lokalen Tradition gedeutet. Bedenkt man die mit dem Herbart-Schüler Heinrich Gustav Brzoska 1831 beginnende, sich mit Karl Volkmar Stoy (ab 1845) und Wilhelm Rein (ab 1886) fortsetzende Reihe Jenaer Pädagogen, die allesamt im Geiste des Königsberger, später Göttinger Meisters gewirkt haben, und setzt man Petersens frühe Sozialisation als Schulreformer, die seiner grundlegend philosophischen Ausrichtung zum Trotz im Umkreis der Hamburger Schulreform und damit im Gravitationsfeld der Experimentellen Pädagogik stattgefunden hat, dagegen, zieht man ferner – mit Jena als einem der Hauptschauplätze der Auseinandersetzung! –25 die konfliktreiche Herauslösung der Experimentellen Pädagogen um deren Hauptprotagonisten Ernst Meumann aus dem Netzwerk des Herbartianismus in 21 22 23 24 25

Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 6). Zur späteren, bis heute maßgebenden Gestalt des Jena-Plans vgl. knapp und konzise: Peter Petersen: Der Jena-Plan. Sein Wochenarbeitsplan und dessen pädagogische Situationen, in: Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2 (1932/33), S. 229–238. Peter Petersen: Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule, Langensalza 1927. Hein Retter: Peter Petersens Konzeption von Schule und Lehrerbildung im Wechsel der politischen Systeme, in: ders.: Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Beiträge zur Pädagogik Peter Petersens, Weinheim 1996, S. 105–160, hier S. 105. Das Angebot Reins, Experimentelle Pädagogik sowie empirische Kinder- und Jugendforschung unter dem Dach des (herbartianisch bestimmten) „Vereins für wissenschaftliche Pädagogik“ zu betreiben, ist von Meumann zurückgewiesen und mit der allmählichen Instrumentalisierung des auf dem Jenaer Ferienkurs 1898 initiierten „Allgemeinen Verein[s] für Kinderforschung“ für die Zwecke der empirisch-experimentellen Forschung beantwortet worden. 1909 hätte in Jena unter Reins Leitung ein Kongress für Kinderforschung und Jugendfürsorge stattfinden sollen, der von Meumann aber schon in der Vorbereitungsphase boykottiert worden ist. Vgl. dazu aus herbartianischer Sicht Johannes Meyer: Wilhelm Rein und die Pädagogik der Gegenwart. Lebensgang, Lebensarbeit und pädagogisches System Prof. Dr. W. Reins in Jena zu seinem 70. Geburtstage, Langensalza 1927, S. 65ff. Mit zahlreichen Details Alexandra Schotte: Heilpädagogik als Sozialpädagogik. Johannes Trüper und die Sophienhöhe bei Jena, Jena 2010, S. 311ff., 325ff. Grundlegend: Caroline Hopf: Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2004.

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Betracht, dann liegt eine solche Sicht der Dinge durchaus nahe. Auch sind Petersens Herbartianismus-kritische Einlassungen in seinen Hamburger Vorlesungen seit 1921 in Jena nicht überhört worden.26 Und schließlich wünscht sich die Philosophische Fakultät einen Parteigänger des Herbartianismus, wenigstens aber einen ausgewiesenen Philosophen auf dem Lehrstuhl Reins, legt dementsprechende Listen vor und meldet Bedenken gegen eine Berufung Petersens an, als deutlich wird, dass dieser der Favorit des Ministeriums ist. Es kann also nicht überraschen, dass Petersen, als er 1923 nach Jena kommt, dort nicht nur mit offenen Armen empfangen wird. Der Herbartianismus,27 der seit der Auflösung des „Vereins für wissenschaftliche Pädagogik“ 1918 allenfalls noch auf regionaler Ebene hier und da (darunter auch in Thüringen) über eine eigenständige organisatorische Basis in der Pädagogik verfügt und der Ende der 1920er Jahre mit der „Vierteljahrsschrift für philosophische Pädagogik“ seines letzten Zentralorgans verlustig gehen wird, hat den Zenit seiner Wirkungsmacht überschritten. Sowohl die Anhänger(innen) der Empirischen Pädagogik als auch deren Antipoden, die Mitglieder der Dilthey-Schule, unterziehen den Herbartianismus scharfer Kritik. Unter den Herbartianern muss dies zwangsläufig die Empfindlichkeiten und den Widerstandsgeist wachsen lassen. Nicht zuletzt geht es um Einfluss und die akademischen Pfründe, die mit Lehrstühlen verbunden sind. In besonders pointierter Form müssen diese Konflikte in Jena hervortreten, der, neben Leipzig, bedeutendsten Hochburg des Herbartianismus in Deutschland. Allerdings gibt es Zeichen, die erkennen lassen, dass sich die herbartianische Szene keineswegs monolithisch präsentiert und sich nicht geschlossen um den ReinSchwiegersohn und künftigen Petersen-Kontrahenten an der Universität, Georg Weiss, schart. Selbst wenn der von Rein gesteuerte und ganz dem Herbartianismus verpflichtete Thüringer Lehrerverein auf Konfrontationskurs geht, unter jenen pädagogischen Praktikern, die mit dem in vieler Hinsicht konservativen und das universitäre Studium der Volksschullehrer lange heftig ablehnenden Rein ihre Schwierigkeiten haben, befinden sich nicht wenige, die dem neuen Ordinarius Peter Petersen durchaus erwartungsvoll entgegensehen. Immerhin tritt Petersen mit dem amtlichen Auftrag und dem persönlichen Versprechen an, die akademische Ausbildung auch der Volksschullehrer, zu der sich Thüringen als eines der wenigen Länder in Deutschland bekennt, in die Tat umzusetzen.28 Die Entscheidung des Ministeriums für Petersen trifft also im pädagogischen Umfeld der Universität nicht durchweg auf Ablehnung. Und obwohl die Fakultät in jener Zeit nicht nur hinsichtlich der Neuordnung der Pädagogik im Zuge der Rein-Nachfolge, sondern auch in anderen Fragen mit dem Ministerium im Streit liegt,29 gibt sie im Falle des Privatdozenten Peter Petersen ihre Einwände schnell auf. Hilfreich ist dabei sicherlich der Umstand, dass sich Petersen zum Zeitpunkt seiner Berufung akademische Meriten vor allem auf dem Feld der philosophischen 26 27 28 29

Die Vorlesungen sind eingegangen in Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18). Vgl. die instruktive Gesamtdarstellung aus der Feder des Jenaers Georg Weiss: Herbart und seine Schule, München 1928. Uwe-Karsten Petersen: Peter Petersen und die Herbartianer in Jena. Ein biographischer Beitrag, in: Pädagogische Rundschau 46 (1992), S. 565–576. Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen John in diesem Band.

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Pädagogik erworben hat.30 Sein bis heute nachwirkendes Profil als Reformpädagoge dagegen wird sich Petersen erst in den Folgejahren und im Zuge der Ausarbeitung des Jena-Plans erwerben. Gleichwohl endet die herbartianische Tradition an der Jenaer Universität mit der Berufung Petersens keineswegs. Das von Petersen begründete reformpädagogische Paradigma wird in dem hier untersuchten Zeitraum nie die Alleinherrschaft erringen können. In dem Umstand, dass es Petersen nicht gelingt, den schon genannten Georg Weiss auszubooten, sich dieser vielmehr zuerst als Dozent und anschließend sogar als Professor der Pädagogik bis 1945 an der Fakultät halten kann, zeigt sich das Nebeneinander von Neuem und Altem in der Jenaer Universitätspädagogik.31 Zudem unternimmt Petersen einiges, das geeignet erscheint, seinen Start zu erleichtern. So findet sich schon in seiner Antrittsvorlesung am 3. November 1923 neben der obligatorischen, freilich sehr knappen Referenz an den Vorgänger Rein, mehrfach Herbart zitiert.32 Nicht unkritisch zwar, aber doch so, dass erkennbar wird: Im Neuen soll sich das Alte wiederfinden. Zwar hatte sich Petersen schon ein Jahrzehnt zuvor unmissverständlich zur „Schulreform“ im Geiste der Reformpädagogik und damit zum Bruch mit dem Überkommenen bekannt, als „wahres Prinzip“ der Reform aber „das Prinzip der Kontinuität“ herausgearbeitet und zudem gefordert, es müsse bei aller Reformarbeit gesichert sein, „nicht den Zusammenhang mit der Vergangenheit der pädagogischen Entwicklung zu verlieren“; „Reform ist nicht Revolution!“ – so Petersen damals sehr entschieden.33 Und daran will er offenkundig festhalten, denn jetzt, 1923, würdigt Petersen die von Stoy zuerst als private, später als städtische Schule begründete und betriebene, nach Stoys Wechsel an die Universität Heidelberg eingegangene, aber von Rein wiederbelebte und erstmals der Universität institutionell angegliederte Übungsschule als bewahrenswertes Erbe, das er gerne übernehmen wolle. Erneut bekräftigt Petersen dieses Bekenntnis in einer Ansprache, die er zur Eröffnung der Universitätsschule unter dem Dach der so genannten Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Fakultät am 14. Mai 1924 hält. Die Universitätsschule sei ihm eine „Herzensangelegenheit“, sagt er bei dieser Gelegenheit.34 Auch im Jena-Plan findet sich dieses Bekenntnis, verbunden mit einer Verbeugung vor Wilhelm Rein, der die Übungsschule mit „großem Erfolg“ geleitet habe.35 30

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Bis zu seiner Berufung nach Jena hat Petersen die folgenden philosophischen monographischen Arbeiten publiziert: Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie Wilhelm Wundts (1908); Die Philosophie Fr. Ad. Trendelenburgs (1913); Goethe und Aristoteles (1914); Die Geschichte der aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland (1921). Andreas von Prondczynsky: Universitätspädagogik und lokale pädagogische Kultur in Jena zwischen 1885 und 1933, in: Alfred Langewand/Andreas von Prondczynsky (Hg.): Lokale Wissenschaftskulturen in der Erziehungswissenschaft, Weinheim 1999, S. 75–187. Peter Petersen: Der Bildungsweg des neuen Erziehers auf der Hochschule (1923), wiederabgedruckt in: ders.: Schulreform (wie Anm. 17), S. 32–54, hier S. 34, 36, 39. Peter Petersen: Schulreform (1913), wiederabgedruckt in: ders.: Schulreform (wie Anm. 17), S. 1–5, hier S. 2, 4. Peter Petersen: Die „Erziehungswissenschaftliche Anstalt der Thüringischen Landesuniversität“ (1924), wiederabgedruckt in: ders.: Schulreform (wie Anm. 17), S. 55–73, hier S. 67. Petersen: Jena-Plan, S. 3 (wie Anm. 23). Zur Universitätsschule im Übergang zu Petersen vgl. auch den Beitrag von Jürgen John in diesem Band.

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Insofern sich Petersen also ausdrücklich zur Universitätsschule bekennt und diese zu einem unverzichtbaren Element seines Verständnisses von Lehrerbildung erklärt, entscheidet er sich bewusst für die besondere Jenaer Tradition der Lehrerbildung, damit aber auch für das herbartianische Modell36 und nicht etwa für das Paradigma der „Geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, welch letztere gerade im Begriff steht, zur beherrschenden erziehungswissenschaftlichen Schule in Deutschland zu werden. Etwas so Praktisches wie eine Universitätsschule glauben die Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik nämlich entbehren zu können.37 Eine an der Laborforschung ausgerichtete „Experimentelle Pädagogik“, wie er sie aus Hamburg und aus seiner dortigen Zusammenarbeit mit Meumann kennt, beabsichtigt Petersen, wie man in Jena schnell bemerkt, ebenfalls nicht zu betreiben. Die Hinweise darauf, dass Petersen um die Tradition weiß, in die er mit der Annahme des Rufes nach Jena eintritt, und seine Absicht, einzelne Errungenschaften der vor ihm an gleicher Stelle tätig gewesenen Herbartianer nutzen zu wollen, sind also nicht zu übersehen. Neben der Universitätsschule als dem zweifellos auffälligsten Element38 ist des weiteren beispielhaft an die Bedeutung des „Schullebens“, das zu organisieren ja Aufgabe des Jena-Plans ist, zu erinnern. Weil er glaubte, erkannt zu haben, dass eine sich ausschließlich als Unterrichtsanstalt begreifende Schule „wenig wirksam im Dienste der Charakterbildung“ bleiben müsse, war auch schon Wilhelm Rein zu der Einsicht gekommen, das Unterrichtsgeschehen in ein „Schulleben“ einbetten zu müssen, und hatte folgerichtig postuliert, dass dessen „Organisation [. . . ] von gleicher Wichtigkeit, wie die Organisation des Unterrichts“ sei.39 Die Pflege eines Schulgartens, das Wandern und Reisen, Schulfeiern, Arbeitsgemeinschaften zu musischem und sportlichem Tun und ähnliches mehr spielten in Reins Schulkonzept eine wichtige Rolle.40 Dieses Konzept wiederum haben die als Seminarlehrer an der 36

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Das von Herbart an der Universität Königsberg konzipierte Modell einer praxisnahen Lehrerbildung (bei Herbart allerdings noch im Kontext der Hauslehrerpädagogik) wird zu Beginn der 1920er Jahre nur noch an der Universität Jena praktiziert. Vgl. dazu Rotraud Coriand: Jena als Ort der Lehrerbildung, in: Ralf Koerrenz (Hg.): Laboratorium Bildungsreform. Jena als Zentrum pädagogischer Innovationen, München 2009, S. 99–109. Dass die Geisteswissenschaftliche Pädagogik mit dem damit einhergehenden Verzicht, ihre pädagogischen Vorstellungen der empirischen Prüfung zu unterziehen, den selbstgesetzten Anspruch, eine Theorie für die Praxis zu sein, verfehlt, sei hier nur am Rande angemerkt. Eben dieses Manko wird Jahrzehnte später scharfe Kritik auf sich ziehen und den Niedergang der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik als führendes erziehungswissenschaftliches Paradigma beschleunigen. Nur der Vollständigkeit wegen soll darauf hingewiesen sein, dass Universitätsübungsschulen keine Erfindung Herbarts und der Herbartianer gewesen sind. Bereits 1780 hat der Hallenser Pädagogikprofessor Ernst Christian Trapp an dem der Universität Halle angegliederten „Institutum Paedagogicum“ eine Übungsschule eingerichtet. Allerdings war der Trappschen Einrichtung nur eine kurze Lebensdauer beschieden. Eine wirkungsmächtige Tradition konnte dieses Modell der Lehrerbildung tatsächlich erst im Zeitalter des Herbartianismus ausbilden. Wilhelm Rein: Pädagogik in systematischer Darstellung. 2. Bd.: Die Lehre von der Bildungsarbeit, Langensalza 1906, S. 604. Man könnte – was an dieser Stelle unterbleiben soll – den Gedanken des „Schullebens“ noch weiter zurückverfolgen. Auch Stoy wusste bereits, ohne den Begriff zu verwenden, um die Bedeutung des „Schullebens“. Die lange beliebte und nicht zuletzt auf reformpädagogische Klischierungsversuche zurückzuführende Reduktion des Herbartianismus auf Didaktik erweist

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Universitätsschule Reins tätigen Johannes Trüper und Hermann Lietz gekannt und später alumnatähnliche Einrichtungen ins Leben gerufen, die schon in ihrer Zeit – nicht zuletzt von Petersen – zu Leuchttürmen der Reformpädagogik gezählt wurden. Auch wenn man mit guten Gründen die Vorbildhaftigkeit wenigstens der Lietzschen Schöpfungen bezweifeln kann,41 bleibt doch unbestritten: Sowohl das Trüpersche Heim für „erziehungsschwierige Kinder“ nahe Jena als auch die verschiedenen Lietzschen Landerziehungsheime haben in ihrem Erziehungsalltag wesentlich auf die Wirkungen des „Schullebens“ gebaut. Oder nehmen wir den Gedanken der „Schulgemeinde“. Nach Petersen soll die Schule idealerweise in einer „staatsfreien Sphäre“42 angesiedelt sein. Es solle, so Petersens im Jena-Plan erhobene Forderung, „eine ‚Schulgemeinde‘ gebildet werden“,43 die dann, in der Form des gleichberechtigten Zusammenwirkens von Elternund Erzieherschaft und innerhalb der ihr vom Staat gesteckten Grenzen, in autonomer Weise Schule zu organisieren habe. „Die Selbstverwaltung [. . . ] wird ruhen in den Händen derer, deren eigenstes Werk die Schule mehr und mehr werden muss: in den Händen der Familie und der Lehrerschaft“.44 Das Unterrichten privat zu organisieren, ihre Kinder also der öffentlichen Schule vorzuenthalten, war den Eltern bisher im Prinzip erlaubt gewesen, wenn auch kaum praktiziert worden – und wenn, dann im wohlhabenden Bürgertum beziehungsweise im Adel. Jetzt, am Beginn der Republik, wird dieser Möglichkeit mit Hilfe der neuen Reichsverfassung und der darin ausgesprochenen Schulpflicht die Grundlage entzogen. Mehr noch. Im Reichsgrundschulgesetz vom 28. April 1920 wird sogar bestimmt, alle Kinder hätten dieselbe Schule, eine öffentliche Schule, zu besuchen – freilich nur soweit es die ersten vier Schuljahre betrifft.45 Quasi spiegelbildlich dazu werden die Rechte der Eltern im öffentlichen Schulwesen gestärkt. Der Artikel 146 der neuen Reichsverfassung bestimmt, dass „auf Antrag von Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung einzurichten“ sind. Noch in der Spätphase des Kaiserreichs, am 1. Oktober 1918, waren in Preußen (zunächst an den Gymnasien) Elternbeiräte eingeführt worden.46 Unter Mitgliedern der USPD und der unorganisierten Linken werden Vorstellungen vertreten, die den Eltern sogar Schulaufsichtsrechte und die Mitwirkung bei der Lehrereinstellung

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sich also einmal mehr als irreführend. Ein gewisses Problem ergibt sich allerdings daraus, dass Petersen in seiner Kritik der Reinschen Universitätsschule ausgerechnet das Fehlen dessen bemängelt (vgl. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 6), S. 3), was schon bei Rein unter das Stichwort „Schulleben“ subsumiert wird. Unterstellt man, die Kritik Petersens ist zutreffend, dann hätte die Praxis der Universitätsschule unter der Ägide Reins nicht dessen Postulaten entsprochen. Andererseits spricht manches für die Annahme, Petersen habe bei seinem Urteil über die Reinsche Schule mehr den in ihr erteilten Unterricht und die starre Ordnung des Klassenraummobiliars im Blick gehabt und weniger die Schule als Lebensstätte beurteilt. So Jürgen Oelkers (wie Anm. 122). Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18), S. 183. Petersen: Der Jena-Plan, S. 8 (wie Anm. 23). Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18), S. 194. Die letzten privaten Vorschulen verschwinden allerdings erst auf Betreiben der Nationalsozialisten nach 1933. Auf die preußischen Volksschulen ausgedehnt wird die Pflicht (bzw. das Recht) zur Wahl von Elternvertretungen am 5.11.1919.

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zusprechen wollen. Man sieht also: Das Verhältnis Schule – Familie befindet sich 1919/20 in einer Phase der grundlegenden Neugestaltung. Was es dazu alles an Ideen und Projekten zu diskutieren gibt, lässt sich an Hand der Debatten auf der Reichsschulkonferenz von 1920 verfolgen, wo es in deren zwölftem Ausschuss unter dem Stichwort „Schulgemeinde“ um die Mitwirkungsmöglichkeiten und -rechte der Eltern an der Schule geht. Von der Konjunktur abgesehen, die das Thema aktuell hat, und auch davon abgesehen, dass Petersen das informelle enge Miteinander von Familie und Schule aus den Hamburger Gemeinschaftsschulen bestens kennt, dürften im Falle des JenaPlans nicht zuletzt herbartianische, ja sogar vor-herbartianische Quellen wichtig gewesen sein. Und selbstverständlich ist diese ältere Schulgemeinde-Diskussion dem historisch bewanderten Petersen gut bekannt. So finden sich bei Petersen als Gewährsleute des Schulgemeindegedankens neben Pestalozzi die neuhumanistischen Bildungsreformer Humboldt, Süvern und Herbart – „alle Gegner einer reinen Staatsschule“ –47 genannt. Tatsächlich hat Wilhelm von Humboldt – und zwar in Opposition zu dem 1794 in Kraft tretenden Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten, das in aufgeklärt-absolutistischer Manier knapp festlegte, Schulen seien „Veranstaltungen des Staates“ – schon 1792 gefordert, Bildung und Erziehung hätten „ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss“.48 Dagegen gedachte Humboldt diesbezüglich die Gesellschaft – in seiner Terminologie die „Nation“ – in die Pflicht zu nehmen. „Nationalanstalten“ – in praxi familiengetragene Einrichtungen – sollten sich der Aufgabe annehmen, den Nachwuchs zu bilden und zu erziehen. Es war dann auf dem Höhepunkt der preußischen Bildungsreformen Johann Friedrich Herbart, der 1810 in seinem Vortrag „Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung“ in kritischer Wendung gegen Humboldts längst erfolgte Konversion zum Bildungspolitiker an dessen Frühschrift erinnerte und an einer Schule in Distanz zum Staat festhielt. Herbart schlug vor, „mehrere Familien könnten sich vereinigen, um einem [. . . ] Erzieher den größten Teil seiner Einnahmen zu sichern“.49 Daran wiederum knüpfte der Herbartianer Friedrich Wilhelm Dörpfeld in seiner ab 1863 in mehreren Bänden vorgelegten Schulverfassungslehre an, worin er sich wünschte, es möge – in den Worten seines Interpreten Emil Hindrichs – „der Charakterzug der Familienhaftigkeit [. . . ] in der Einrichtung und im Leben der einzelnen Schulanstalten deutlich ausgeprägt“50 sein. Damit war eine Tradition begründet, die zwar nicht im Herbartianismus wurzelte, in diesem aber zu großer Blüte gekommen ist und über den Petersen-Vorgänger Rein auch nach Jena gefunden hat. „Die Grundvoraussetzung jeder Schulverfassung“, schrieb Rein 1890, „bildet die Anerkennung des Familienrechts in der Erziehung.“51 Und deshalb habe die Organisation des Schulwesens von „der Gründung lokaler 47 48 49

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Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18), S. 207. Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel. Band I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, 3 Darmstadt 1980, S. 109. Johann Friedrich Herbart: Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung (1810), wiederabgedruckt in: Dietrich Benner (Hg.): Johann Friedrich Herbart. Systematische Pädagogik. Band 1, Weinheim 1997, S. 197–202, hier S. 202. Emil Hindrichs: Friedrich Wilhelm Dörpfeld, 2 Gütersloh 1906, S. 136. Wilhelm Rein: Pädagogik im Grundriss, Stuttgart 1890, S. 45.

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Schulgemeinden, d.i. von Familienverbänden, deren Glieder sich zu einem und demselben Erziehungsideal bekennen“,52 ihren Ausgang zu nehmen. Zuletzt hatte der Dörpfeld-Verehrer, Rein-Schüler und Jenaer Heimgründer Johannes Trüper an diese Tradition angeknüpft. Auch Trüper schlug jeweils vor Ort die Bildung „eine[r] Genossenschaft von Familien vor, die eine gemeinsame Schule besitzt“.53 Trüper ist zwei Jahre vor Petersens Amtsübernahme in Jena gestorben. Dass sich Petersen ausführlich mit Trüper und dessen Werk befasst hat, belegt das Kondolenzschreiben, das Petersen nach dem Tod Trüpers 1921 an dessen Witwe gerichtet hat.54 Ein kurzer Text aus dem Jahre 1922 belegt im Übrigen, dass Petersen ganz konkret im Zusammenhang seines Eintretens für die Einheitsschule die Bildung von Schulgemeinden befürwortet hat. In pragmatischer Weise gedenkt er die bestehenden Elternmitwirkungsrechte zu nutzen und fordert die Elternräte von Grundschulen und Gymnasien zur Kooperation bis hin zur Bildung von Schulgemeinden auf.55 Bei alledem, das nur am Rande dieser skizzenhaften Rekonstruktion, darf keineswegs eine Identität in den Motiven angenommen werden. Während Humboldt mittels der Schulgemeinde die vor Staatszugriffen geschützte Bildung des Individuums zu sichern gedachte, geht es Petersen nicht allein um die von äußeren Eingriffen ungestörte Entwicklung des einzelnen Kindes, sondern ebenso sehr um die Bildung von „Gemeinschaft“ – zwar im Rahmen einer öffentlichen Schule in staatlicher Trägerschaft, aber eben doch möglichst unbehelligt vom Eingreifen äußerer Mächte. Schule als eine Art gegengesellschaftliche Einrichtung, wenn man so will. Von Dörpfeld wiederum unterscheidet sich Petersens Schulgemeinde-Idee darin, dass Petersen – anders als Dörpfeld – auch die Kirche außen vor lassen will.56 Bei Dörpfeld dagegen war die Kirchengemeinde zugleich Trägerin der Schulgemeinde gewesen. Die Unterschiede in den Konzeptionen sind also mit den Händen zu greifen. Dass freilich die rechtlichen Voraussetzungen zur Realisierung dieses Anliegens inzwischen entfallen sind, wurde bereits erwähnt. Es kann also allein noch um die Bewahrung der Idee als solcher und deren Transformation in eine neue Gestalt gehen. Nichts anderes als eine solche, unter den gegebenen Umständen realisierbare Neuinterpretation des alten Schulgemeindegedankens drückt sich im Jena-Plan aus. Was an den Beispielen gezeigt werden soll, ist dies: Der Herbartianismus ist Teil der Vorgeschichte des Jena-Plans. Die – wohl auf Herman Nohl57 zurückgehende – 52 53 54 55 56 57

Ebd. Johannes Trüper: Die Familienrechte an der öffentlichen Erziehung. Ein Wort der Verständigung im schulpolitischen Kampfe, Langensalza 1892, S. 99. Schotte: Heilpädagogik (wie Anm. 25), S. 387f.. Peter Petersen: Bildet Schulgemeinschaften! (1922), wiederabgedruckt in: ders.: Schulreform (wie Anm. 17), S. 189f. Dies steht nicht im Widerspruch zu Petersens immer wieder geäußerter und auch seine Pädagogik beeinflussenden christlichen Überzeugung. Als Schulträgerin aber wollte Petersen die machtvolle Institution Kirche nicht sehen. Franz-Michael Konrad: Wilhelm Reins Theorie und Praxis der ästhetischen Erziehung – ein Beitrag zum Ende eines herbartianisch fundierten allgemeinpädagogischen Systems, in: Thomas Fuhr/Klaudia Schultheis (Hg.): Zur Sache der Pädagogik. Untersuchungen zum Gegenstand der allgemeinen Erziehungswissenschaft, Bad Heilbrunn 1999, S. 32–54, dort (S. 32) Nachweise zu der im Gefolge Nohls in der zeitgenössischen Publizistik sich ausbreitenden Annahme einer mehr oder weniger scharfen Zäsur zwischen Herbartianismus und Reformpädagogik.

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immer wider anzutreffende Behauptung einer scharfen Zäsur, die das reformpädagogische Paradigma von den voraufgegangenen Pädagogiken absetze, erweist sich auch in diesem Fall als nicht hinreichend präzise. Zwar ist nicht zu leugnen, dass an Herbart- und Herbartianismus-kritischen Stimmen im reformpädagogischen Diskurs kein Mangel herrscht. Dies gilt aber in erster Linie für die didaktische Diskussion. Denken wir zum Beispiel an den Münchner Stadtschulrat Georg Kerschensteiner, der in seinem Feldzug gegen einen, wie er fand, handlungsarmen und alltagsentrückten Schulbetrieb nicht zuletzt Herbart mit seiner – noch einmal Kerschensteiner – irrigen Vorstellung, wonach „alles Wollen in Gedankenmassen wurzelt und daraus hervorwächst“,58 als Hauptschuldigen ausgemacht hat. Das Plädoyer für das arbeitsunterrichtliche Prinzip lebt in der Tat sehr wesentlich vom Bruch mit dem Herbartianismus. Auch Petersens Kritik entzündet sich an einem didaktischen Aspekt, an der „groteske[n]“ Kulturstufentheorie59 der Herbartianer nämlich. Es wäre deshalb auch falsch, Petersen zum Herbartianer zu erklären. Durchaus das Gegenteil ist der Fall. Wenn sich Petersen einerseits auch überzeugt gibt, „manches in der Grundanschauung Herbarts“ könne „in der Gegenwart wieder fruchtbar gemacht werden“, markiert er doch auch eine Grenze, etwa indem er bezüglich möglicher erhaltenswerter Traditionen feststellt, „am wenigsten“ betreffe dies „seine [Herbarts] Psychologie“.60 Warum sich der an der neuen empirischen Kinder- und Jugendforschung geschulte Petersen gerade auf die (spekulative) Psychologie Herbarts einschießt, liegt auf der Hand, und so überrascht seine Argumentation auch nicht: „Die Ansicht der alten Erziehung ist geläufig: Kinder können keine Freiheit vertragen; sie müssen zur Freiheit erzogen werden, dadurch, dass man sie in straffer Zucht hält und dahin führt. Und das erklärt sich uns aus jener alten Psychologie: das Kind hat ja keine geordneten Vorstellungen, das bezeugt seine ‚Wildheit‘; es kann nicht aus wohlgeordneten Kreisen von Gedanken und Gefühlen heraus urteilen; es hat ein ungeregeltes vielseitiges Begehren, noch gar keinen festen Willen. Also der Erwachsene muss Dämme bauen; wie ein junger Baum, so bedarf das Kind des haltenden Pfahles, der erst hinweggenommen werden darf, wenn der Stamm stark genug ist. Es sind daher von außen her eine Reihe von Vorkehrungen zu treffen: Maßregeln der Regierung, welche, nach der ältesten Theorie, nur abschrecken sollen, und Maßregeln der Zucht, welche der sittlichen Idee der Vergeltung gerecht werden und eine Umgestaltung des geistigen Inneren bewirken sollten. [. . . ] Die neuere Erziehung geht von der entgegengesetzten Ansicht aus. Für sie braucht das Kind zum rechten Gedeihen nichts notwendiger als Freiheit.“61 Von der Zillerschen Straf-Pädagogik sagt Petersen, diese gehöre zu den „stärksten Gegenmächte[n] einer natur- und kindgemäßen Erziehung der Kinder“.62 Bekannt ist auch die scharfe Kritik, die Petersen an der Art und Weise übt, wie Rein die Universitätsschule seinerzeit 58 59 60 61 62

Georg Kerschensteiner: Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichtes. Neue Untersuchungen einer alten Frage, Leipzig/Berlin 1914, S. 3. Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18), S. 56. Petersen: Anstalt (wie Anm. 34), S. 62. Peter Petersen: Jugendfürsorge als Erziehungsarbeit. Ein Versuch vom Standpunkte der „Neuen Erziehung“ (1924), wiederabgedruckt in: ders.: Schulreform (wie Anm. 17), S. 265–293, hier S. 276f. Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18), S. 200.

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ausgestattet hatte, nämlich mit allen „Merkmale[n] der ‚Lernschule‘“, die sogar auf „eine an Folterinstrumente mahnende verstellbare Strafbank“ glaubte, nicht verzichten zu können.63 Fraglos kann man nach so weitgehender Kritik zwar an der Einrichtung der Universitätsschule als solcher festhalten, diese aber nicht mehr nach den Prinzipien des Herbartianismus betreiben. Vielmehr muss diese Einrichtung als Stätte der Forschung – Forschung verstanden als offener Prozess des Suchens und Probierens – betrieben werden, nicht als Ort des bloßen Einübens in vorgegebene Unterrichtsmethoden. Aus einer Übungsschule muss eine Versuchsschule werden. Und zwar eine Schule, die sich an den modernen didaktischen Trends orientiert, vor allem an denen, die der reformpädagogische Diskurs offeriert. Zum Beispiel den „erprobten arbeitsschulischen Methoden“64 müsse man folgen, schreibt Petersen. Da hat er sogar die Reichsverfassung auf seiner Seite, die in ihrem Artikel 148 Arbeitsunterricht (allerdings als eigenständiges Lehrfach, nicht als didaktisches Prinzip) fordert. In der Tat zeigt sich Petersen in besonderer Weise von reformpädagogischem Denken berührt. Sein Engagement in der Hamburger Schulreformszene wie auch das in der New Education Fellowship kommen also nicht von ungefähr. Früh schon finden sich in seinen Veröffentlichungen Hinweise auf den reformpädagogischen Diskurs. 1920 beispielsweise, in einer Reflexion über Verlauf und Ergebnisse der Reichsschulkonferenz, heißt es, die neue Schule mache den Schüler „mitverantwortlich in Schulgemeinde, Selbstregierung, Schülerausschüssen und freien Arbeitsgemeinschaften“.65 Von der „Schulgemeinde“, die „mitten hinein“ gehöre ins Schulleben, und von einem „frische[n] Gesamtunterricht“ ist auch ein Jahr später in einem Beitrag die Rede, in dem Petersen die von ihm geleitete Hamburger Lichtwarkschule vorstellt.66 In der schon erwähnten Rede zur Eröffnung der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt 1924 fallen die Namen von Maria Montessori und Berthold Otto, ganz allgemein wird die „neue pädagogische Bewegung“ angesprochen.67 Die Namen vieler anderer Reformpädagogen werden im selben Jahr in einem Beitrag genannt, der sich mit der Lehrerrolle beschäftigt.68 Gleichermaßen als „Arbeitsschule“ und als „Lebensgemeinschaftsschule“ bezeichnet er 1925 seine Jenaer Universitätsschule, damit zwei zentrale Stichwörter der Reform aufnehmend.69 1926 meint Petersen über die von 63 64 65

66 67 68 69

Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 6), S. 2. Petersen: Anstalt (wie Anm. 34), S. 69; vgl. dazu den Abschnitt „6. Zum fachlichen Kontext: Die ‚alte‘ und die ‚neue‘ Schule“ in dem Beitrag von Peter Fauser in diesem Band. Peter Petersen: Der Weg zur neuen Schule des deutschen Volkes (1920), wiederabgedruckt in: ders.: Schulreform (wie Anm. 17), S. 16–21, hier S. 20. Die anfangs (auch Petersen: Erziehungsbewegung, wie Anm. 8, S. 62f.) noch positive Würdigung formal-demokratischer Prozeduren der Gemeinschaftsbildung verschwindet allmählich aus Petersens Werk. Dazu ausführlicher im weiteren Fortgang der hier vorgelegten Überlegungen. Peter Petersen: Die Lichtwarkschule in Hamburg-Winterhude, ein Weg, in: ders. (Hg.): Der Kampf um die Schuldauer. Gegen jede Verlängerung des Lehrgangs der höheren Schule. Fünfzehn Betrachtungen, Berlin/Leipzig 1921, S. 98–103, hier S. 101. Petersen: (wie Anm. 34) Anstalt, S. 64. Peter Petersen: Der Lehrer als „Führer“ im Unterricht, in: Pädagogisches Zentralblatt 4 (1924) 6, S. 225–234. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 6).

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ihm geschätzten Landerziehungsheime, „die gegenwärtige Reformbewegung“ sei ihnen zu großem Dank verpflichtet.70 Im Jena-Plan selbst finden wir einen erneuten Hinweis auf die Landerziehungsheime, nämlich dort, wo Petersen den Besuch eines Landerziehungsheims erwähnt, der ihm Anlass gewesen sei, die „überlieferte Schulwirklichkeit“ kritisch zu hinterfragen. Ebenfalls im Jena-Plan erinnert Petersen an seine prägenden Erfahrungen mit den Hamburger Gemeinschaftsschulen. Schließlich fallen mit den Begriffen „Gesamtunterricht“ und „arbeitsschulische Methoden“ im Jena-Plan zentrale Stichwörter der Reform. Und am Ende – das wissen wir vom Betroffenen selbst – verpflichtet Petersen den für die Jenaer Universitätsschule ins Auge gefassten Lehrer, Hans Wolff, vor Aufnahme seiner Lehrtätigkeit in ausgewählten, nach den Prinzipien Berthold Ottos arbeitenden Reformschulen (in Leipzig, Dresden und Berlin) zu hospitieren, um sich dort Anregungen zu holen.71 Im September 1930, in seinem Vortrag auf dem V. Kongress für Moralerziehung in Paris, wird Petersen sich uneingeschränkt zur „Neuen Erziehung“ bekennen und „von ihrem Boden aus die Gedanken [s]eines Referats entwickeln“.72 Sodann ist nicht zu übersehen, wie sich Petersen nicht nur publizistisch, sondern auch ganz praktisch vor Ort, in Jena, und zwar in Gestalt seiner Zusammenarbeit mit dem seit 1923 dort ansässigen Kinderhaus beziehungsweise (seit 1924) der Montessori-Grundschule, in die reformpädagogische Bewegung einreiht. Mehrfach plädiert Petersen für eine engere Anbindung von Kinderhaus und MontessoriGrundschule an die Universität, unterschreibt noch anfangs der 1930er Jahre Petitionen für deren Erhalt73 und betreut wissenschaftliche Arbeiten, die in den Jenaer Montessori-Einrichtungen durchgeführt werden, darunter mindestens eine, die den Vergleich von Kindern der Montessori-Grundschule mit solchen der Universitätsschule zum Gegenstand hat.74 Über die spezifisch deutschen Impulse hinaus finden sich – auch das nicht überraschend – zahlreiche Bezugnahmen auf das Ausland. Im Jena-Plan werden neben Montessori genannt: Adolphe Ferrière, Ovide Decroly, Gerard Boon, Emile JaquesDalcroze, der Gary- und der Dalton-Plan, die Projekt-Methode. Nicht zuletzt liefert die Nennung dieser „Pläne“ einen Hinweis auf das enge Verhältnis, das Petersen insbesondere zur amerikanischen Progressive Education pflegt. 70 71 72 73 74

Peter Petersen: Die Stellung des Landerziehungsheims im Deutschen Erziehungswesen des 20. Jahrhunderts. Ein typologischer Versuch, in: Elisabeth Huguenin: Die Odenwaldschule, Weimar 1926, S. VII–XLIX, hier S. VII. Hans Wolff: Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte des Jena-Planes, in: Theodor F. Klassen/Ehrenhard Skiera (Hg.): Pädagogik der Mitmenschlichkeit. Beiträge zum Petersen-Jahr 1984, Heinsberg 1984, S. 33–42, hier S. 34. Peter Petersen: Disziplin und Autonomie in der sittlichen Erziehung, in: Pädagogisches Zentralblatt 10 (1930), S. 679–690; hier S. 679. Kurt Meinl: Montessori-Erziehung in Jena, in: Reformpädagogik in Jena. Peter Petersens Werk und andere reformpädagogische Bestrebungen damals und heute, Jena 1991, S. 183–214. Heinrich Sesemann: Die Vergesellschaftung von Kindern in der Unterrichtsarbeit (zum Problem des spontanen Verhaltens). Beiträge zur Sozialpsychologie auf Grund von Beobachtungen an Kindern nach dem Besuch der Jenaer Montessori- und Universitäts-Grundschule (1928), Osterwieck/Harz 1933. Zu weiteren Arbeiten vgl. Franz-Michael Konrad: Kindergarten oder Kinderhaus? Montessori-Rezeption und pädagogischer Diskurs in Deutschland bis 1939, Freiburg i.Br. 1997, S. 194f.

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Einige ihrer Hauptvertreter lernt er 1928 anlässlich seines US-Aufenthaltes auch persönlich kennen. Im Jena-Plan hat Petersen zuvor schon berichtet, von der Columbia University – dem Zentrum der amerikanischen Reformbewegung schlechthin – habe Professor Alexander samt Mitarbeitern die Jenaer Universitätsschule besucht und beratend auf die Konzeptentwicklung eingewirkt.75 Auf Einladung und Vermittlung Thomas Alexanders wird Petersen die erwähnte USA-Reise 1928 durchführen. Die Bedeutung des sogenannten „nebenhergehenden Lernens“ (concomitant learning nach Kilpatrick),76 also jenes Lernens, das simultan zu dem geplanten und organisierten Lernen jedes Mal dann stattfindet, wenn Lernen in motivierenden Kontexten erfolgt und sich auf persönlich bedeutsame Sachverhalte bezieht, und das deshalb so wertvoll ist, weil es das Transferproblem nicht kennt, geht Petersen in seiner Auseinandersetzung mit der amerikanischen Reformpädagogik auf. Aber auch der Fall der gewissermaßen negativen Rezeption kommt vor. So erwächst die starke Betonung der sozialerzieherischen Komponente des Jena-Plans (Gemeinschaft!) auch aus dem Bemühen Petersens, einen Kontrapunkt gegen den Individualismus zu setzen, wie er charakteristisch ist für die amerikanischen Progressive Education. Alle die oben genannten „Pläne“ zielen nämlich sehr stark auf die Individualisierung des Lernens ab. Denken wir beispielsweise an die so genannten „Assignments“, die das Herzstück des Dalton-Plans bilden. „Assignments“ (Aufgaben, Anweisungen), so werden die von den Lehrkräften nach den Maßgaben des Curriculums schriftlich ausgearbeiteten Aufgabestellungen genannt, die von den Schülern vorzugsweise in Einzelarbeit zu erledigen sind.77 In diesem Sinne wird Petersen 1934 im Großen Jena-Plan die Einbeziehung der Schüler in die Planung des Unterrichts, wie sie im Jena-Plan vorgesehen ist, einen bewusst gewählten „Widerpart des Dalton-Plans mit seinen Arbeitsanweisungen“78 nennen. Und selbstverständlich kennt Petersen, als er in Jena seine Arbeit aufnimmt, die Schriften John Deweys. Die im Folgenden aus „Schule und öffentliches Leben“ zitierten Sätze, in denen Dewey auf das pädagogische Programm Bezug nimmt, das er ab 1896 in seiner Chicagoer Laboratory School zu realisieren sich vorgenommen hatte, könnten so auch von Petersen formuliert sein: „Von Anfang an mischten wir 75

76 77 78

Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 23), S. 35. Der Verweis auf Alexander ist nur in der ersten Fassung des Jena-Plans enthalten. Gemeint ist Thomas Alexander, seit 1924 Professor am Teachers College der Columbia University New York. Alexander ist ein guter Kenner der deutschen Szene, hat 1912 an einem Stettiner Gymnasium als Gastlehrer unterrichtet und mehrere Bücher über die Schule in Preußen geschrieben. Zwischen 1926 und 1929 hat er drei Mal Deutschland bereist und ist dabei als aufmerksamer Beobachter der reformpädagogischen Bewegung hervorgetreten. Vgl. die sehr instruktive Darstellung Thomas Alexander/Berryl Parker: New Education in the German Republic, New York 1929, in der auch die Jenaer Universitätsschule mehrfach Erwähnung findet. Zur Pädagogik der amerikanische Progressive Education Franz-Michael Konrad: Die pädagogisch-psychologischen Prinzipien der Progressive Education, in: Ulrich Herrmann/Steffen Schlüter (Hg.): Reformpädagogik – eine kritisch-konstruktive Vergegenwärtigung, Bad Heilbrunn 2012, S.164–183. Petersen: Die Praxis der Schulen nach dem Jena-Plan (= Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung (Der Jena-Plan)), 3. Bd., Weimar 1934, S. 91. Aus dem hoch individualisierenden „Assignment“-Konzept des Dalton-Plans werden Benjamin S. Bloom und andere in den 1950er und 1960er Jahren das Mastery-Learning-Konzept ableiten. Peter Petersen: Praxis (wie Anm. 76), S. 81.

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die Kinder verschiedener Alter und Wissensgrade soviel wie möglich untereinander, da wir glaubten, es würden sich durch das so gewonnene Geben und Nehmen sowohl geistige Vorteile bieten, wie moralische dadurch, dass den Älteren eine gewisse Verantwortung für die Beaufsichtigung der Jüngeren zugemutet wurde.“79 Im selben Werk, nur wenige Seiten nach der eben zitierten Textstelle, bekennt Dewey bezüglich seiner Schularbeit in Chicago, „dass unser Vorbild war und auch fernerhin sein wird: die beste Form des Familienlebens.“80 Wenn Petersen in dieser Hinsicht Deweys pädagogische Ansichten auch geteilt und er ebenso wie dieser eine Familienschule gewollt hat, in vielem wird man die Bezugnahmen auf Dewey eher unter das eben angerissene Phänomen der negativen Rezeption subsumieren dürfen, wie ja die deutsche Dewey-Rezeption der Zeit allgemein zwar durchaus intensiv, aber häufig nicht von Zustimmung geprägt ist.81 Ohne das an dieser Stelle weiter ausführen zu können: Es sind vor allem zwei Aspekte im Werk Deweys, die nicht auf Petersens Zustimmung stoßen. Zum einen ist Petersen das Schulkonzept des Amerikaners zu sehr von der „Gesellschaft“ her bestimmt und auf diese bezogen. Schule trete bei Dewey, kritisiert Petersen, „krass hervor als eine Einrichtung der Gesellschaft, um für ihre wirtschaftlichen, politischen Bedürfnisse nützliche Mitglieder zu erzeugen“. „Die Schulen“ seien in der Vorstellung Deweys allzu sehr „Laboratorien zur Erzielung der brauchbarsten Staatsbürger“.82 Die Frage jedoch: „Darf die Schule der Jugend reine Funktion der Gesellschaft sein?“ kann nach Petersens Auffassung nur „mit Entschiedenheit verneint [werden]“ – und zwar insbesondere von allen jenen Schulen, „die sich ‚Neue Schulen‘ oder ‚Lebensgemeinschaftsschulen‘ nennen“.83 Petersens Konzept der „Schulgemeinde“ hat ja gerade die Funktion, für den notwendigen Abstand der Schularbeit zu den Zwängen und Erfordernissen der Gesellschaft zu sorgen. Zum andern hat Petersen von Dewey abweichende Vorstellungen von gutem Unterricht. Die von Dewey propagierte Idee des im Projekt-Unterricht der Tendenz nach unsichtbar werdenden Lehrers, lässt sich mit Petersens didaktischer Überzeugung vom Lehrer als „Führer“, nur schwer vereinbaren.84 Immerhin: Wenn überhaupt „Projekt“, dann käme da am ehesten noch Dewey mit seinem Projekt-Verständnis infrage, weil dieses den Lehrer in einer wenigstens mittelbar lenkenden Rolle belässt, keinesfalls aber Kilpatrick und dessen radikal kindzentrierte Interpretation des Projekts-Gedankens. Diese feinen, gleichwohl bedeutsamen Unterschiede scheinen Petersen aber nicht bewusst zu sein, jedenfalls finden sich in der von ihm 1935 79 80 81

82 83 84

John Dewey: Schule und öffentliches Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Else Gurlitt. Mit einleitenden Worten von Prof. Dr. Ludwig Gurlitt, Berlin 1905, S. 66. Dewey: Schule (wie Anm. 79), S. 68. Zur Dewey-Rezeption in Deutschland vgl. Franz-Michael Konrad: Dewey in Deutschland (1900 bis 1940). Rezeptionsgeschichtliche Anmerkungen, in: Pädagogische Rundschau 52 (1998), S. 23– 46. Zum Verhältnis Petersen – Dewey vgl. Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 189–199. Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 8), S. 52f.; vgl. auch Peter Petersen: Pädagogik, Berlin 1932, S. 150. Alle Zitate Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 8), S. 56. Vgl. grundlegend Peter Petersen: Führungslehre des Unterrichts, Langensalza 1937. Siehe auch die Ausführungen zum Problem der „Führung“ weiter unten in diesem Beitrag.

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besorgten Sammlung von Aufsätzen zum „Projektplan“ keine dementsprechenden Hinweise.85 Für das „Projekt“ stehen ihm Dewey und Kilpatrick gleichermaßen – unterschiedslos. Möglicherweise haben diese Unterschiede für Petersen aber auch einfach keine Rolle gespielt, denn sobald es um seine eigene Pädagogik geht, macht er, wie eben angedeutet, vom Projekt-Begriff nur sehr zurückhaltenden Gebrauch. Zwar ist im Jena-Plan explizit auch von „Projekten“ die Rede, und fleißig wird in den Fußnoten auf die amerikanische Projektliteratur verwiesen. Aber eben, wie gesagt, eher undifferenziert, und ohnehin fällt viel häufiger das Stichwort „großes Vorhaben“. An mindestens zwanzig derartigen Vorhaben soll nach dem Willen Petersens jeder Schüler der Universitätsschule am Ende seiner Schulzeit beteiligt gewesen sein.86 Mit dem amerikanischen „Projekt“ sensu Dewey oder sensu Kilpatrick haben Petersens Vorhaben allerdings, was hier nicht näher ausgeführt werden kann, kaum etwas zu tun. DER JENA-PLAN ALS INNOVATION Wenn man seine zahlreichen Einzelaspekte betrachtet, dann ist der Jena-Plan nicht in einem originär-schöpferischen Sinne innovativ. Petersens Leistung besteht darin, die mannigfaltigen Impulse, die sich aus dem internationalen reformpädagogischen Diskurs gewinnen ließen, in einem in sich stimmigen Gesamtentwurf zusammengeführt zu haben. Hermann Röhrs hat einmal davon gesprochen, im Jena-Plan habe Petersen „bewusst die Summe aus einigen wesentlichen reformpädagogischen Entwicklungen des Auslands gezogen“.87 Das scheint es in der Tat zu treffen, denn Petersen schreibt 1932 über seine Jenaer Modellschule, er habe eine Schule begründen wollen, „in der die verschiedenen Reformbestrebungen ein Klärungsbecken finden könnten.“88 1935 meint Petersen über die Entstehung des Jena-Plans, dass „selbstverständlich alles abgewogen wurde, was an Unterrichtsversuchen im In- und Ausland auftrat und es verdiente, ernsthaft daraufhin geprüft zu werden, wieweit es einer neuen deutschen Schulform dienstbar gemacht werden könnte.“89 85

86

87 88 89

John Dewey/William Heard Kilpatrick: Der Projekt-Plan. Grundlegung und Praxis, Weimar 1935. Dass Petersen mit der recht willkürlichen Zusammenstellung der Texte dieses Sammelbandes einer bis heute die deutsche Debatte beherrschenden Fehlinterpretation der Deweyschen einerseits und der Kilpatrikschen Projketkonzeption andererseits Vorschub leistet, kann hier nur angedeutet werden (vgl. dazu Michael Knoll: Dewey, Kilpatrick und „progressive“ Erziehung. Kritische Studien zur Projektpädagogik, Bad Heilbrunn 2011, S. 235f.). Peter Petersen: Schulgemeinden nach dem Jena-Plan, ihr Wochenarbeitsplan und dessen pädagogische Situationen, in: Deutsche Lehrerzeitung 46 (1933), S. 210–212 und 220–222; hier S. 212, 221. Der erste Teil dieses Textes ist zugleich das Vorwort zu „Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule. Kleine Ausgabe. 5/6. Auflage. Berlin/Leipzig 1934“ (dort S. 3–7). Hermann Röhrs: Die Reformpädagogik des Auslands, Stuttgart 1982, S. 11. Peter Petersen: Der „Jena-Plan“ und die Landschule. Eine schulorganisatorische Studie, in: Franz Kade (Hg.): Versuchsarbeit in deutschen Landschulen, Frankfurt a.M. 1932, S. 255–267, hier S. 256. Peter Petersen: Der Jena-Plan, eine Ausgangsform für die neue deutsche Schule, in: Die Erziehung 10 (1935), Hf. 1, S. 1–8; hier S. 5.

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Syntheseleistungen nach der Art des Jena-Plans sind die anderen „Pläne“ übrigens auch. Denken wir nur daran, wie der hier mehrfach erwähnte Dalton Laboratory Plan Aspekte der amerikanischen Reformbewegung mit solchen der MontessoriPädagogik verschmolzen hat. Und noch etwas teilt der Jena-Plan mit den anderen „Plänen“: Wie in allen diesen Plänen manifestiert sich auch im Jena-Plan eine Idee von Reform, die das Ganze des schulischen Geschehens in den Blick nimmt. Die Schule in toto beziehungsweise, um einen Begriff aus den Schulentwicklungsdebatten unserer Gegenwart zu nehmen, die Schule als „Handlungseinheit“, soll – so Helen Parkhurst einmal über die Absicht, die sie mit dem Dalton Plan verfolgte – einer „reconstruction“90 unterworfen werden. Und so wie man bei Helen Parkhurst über den Dalton-Plan lesen kann, dieser offeriere nicht mehr als einen „ersten Schritt“,91 schreibt auch Petersen, der Jena-Plan sei zunächst nicht mehr, als „eine Ausgangsform für neue Schularbeit“,92 und wenige Jahre später: eine „Ausgangsform, ein Rahmen, mit dem der Pädagoge beginnen kann“.93 So gesehen war die von dem Organisationskomitee der New Education Fellowship 1927 getroffene Namenswahl „Jena-Plan“ so falsch nicht. Gleichwohl besitzt der Jena-Plan als Syntheseleistung eine eigentümliche Attraktivität, die ihn mehr sein lässt, als die Summe seiner Elemente. Darin liegt denn auch das beschlossen, was man seine genuine innovative Kraft nennen könnte. Was aber macht den Jena-Plan bis heute so attraktiv? Wenn wir an dieser Stelle den Jena-Plan für einen Moment nicht nur als ein historisches Dokument sehen wollen, sondern einen systematischen Zugang wählen und in diesem Zusammenhang weniger die erste Fassung, als vor allem seine späteren Bearbeitungen in den Blick nehmen, dann können wenigstens fünf Aspekte genannt werden: Erstens ist der Jena-Plan nah dran an der alltäglichen Praxis und deren Anforderungen und Nöten. Der Jena-Plan gibt Antwort auf die jeden Lehrer, jede Lehrerin unausweichlich beschäftigenden elementaren Probleme der Schule, auf – in Begriffen, die Petersen selbst geprägt hat – die Einseitigkeiten der „Lehrerschule“, auf das „Sitzenbleiberelend“, auf den „Fetzenstundenplan“, auf den „Bankrott der Jahresklasse“. Insofern als er auf die sich in den eben genannten Begriffen äußernden Fehlentwicklungen oder auch – wenn man so will – notwendigen Folgeerscheinungen des modernen, rationalisierten Schulbetriebs eine Antwort findet, bedarf der Jena-Plan keiner weiteren Begründung. Alles an ihm ist unmittelbar plausibel. Deshalb kann der Jena-Plan, zweitens, theorielos rezipiert werden. Ein „Organisationsmodell“ ist der Jena-Plan einmal treffend genannt worden.94 Das heißt nicht, dass der Jena-Plan frei von Theorie gewesen wäre. In seiner historischen Gestalt ist der Jena-Plan in Vielem die Anwendung dessen, was Petersen zur selben Zeit 90 91 92 93 94

Zit. in Hermann Röhrs: Die progressive Erziehungsbewegung. Verlauf und Auswirkung der Reformpädagogik in den USA, Hannover u.a. 1977, S. 94. Zit. in Susanne Popp: Der Daltonplan in Theorie und Praxis. Ein aktuelles reformpädagogisches Modell zur Förderung selbständigen Lernens in der Sekundarstufe, Bad Heilbrunn 1995, S. 98. Petersen: „Jena-Plan“ (wie Anm. 88), S. 257. Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 89), S. 4. Dietrich Benner/Herwart Kemper: Einleitung zur Neuherausgabe des Kleinen Jena-Plans, Weinheim/Basel 1991, S. 42ff.

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in seinen Beiträgen zur Allgemeinen Pädagogik entwickelt hat.95 Im Verlauf seiner späteren Rezeption hat sich jedoch herausgestellt: Man braucht diese Theorie nicht, um mit dem Jena-Plan produktiv arbeiten zu können. Das ist auch der Grund, warum sich der Jena-Plan in den verschiedenen politisch-gesellschaftlichen Systemen als Anleitung zur Schulreform hat nutzen lassen. Nicht zuletzt seine anhaltende Aktualität erklärt sich aus eben diesem Umstand. Um den Jena-Plan attraktiv zu finden, muss sich niemand mit der Erziehungsmetaphysik Petersens abmühen. Als schulreformerische Blaupause besitzt der Jena-Plan jedoch zu Recht eine ungebrochene Attraktivität. Drittens kann der Jena-Plan ohne besondere Voraussetzungen im Regelschulwesen umgesetzt werden. Das hat Petersen von Anfang an betont, dass nämlich der Jena-Plan eben nicht unter den exklusiven Bedingungen, wie sie Privatschulen häufig vorfinden, entstanden ist, sondern im Rahmen des öffentlichen Schulwesens. 1925 schreibt Petersen, man sei in der Jenaer Universitätsschule mit Bedacht so verfahren, dass niemand die erzielten pädagogischen Erfolge auf günstige Rahmenbedingungen – etwa im Blick auf die sächliche Ausstattung – zurückführen könne. „Es sind keine besonderen Lehrmittel, Bücher, Hefte, Schreibgeräte, Anschauungsmittel verwendet worden, nur solche, die nahezu jede einigermaßen ausgerüstete Volksschule besitzt.“96 Es gelten die Lehrpläne, besser gesagt: die Lehrplanrichtlinien, der öffentlichen Volksschule. Der erste Lehrer, Hans Wolff, verfügt lediglich über eine einfache seminaristische Ausbildung. Viertens: Wer den Jena-Plan als Gesamtentwurf rezipiert, findet ein in sich stimmiges Gebilde vor, das auf eine offensichtlich bis heute selten erreichte Weise die Spannung zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung, zwischen Schulleben und Unterricht beziehungsweise, anders ausgedrückt: zwischen Erziehung und Bildung, ausbalanciert. Der Jena-Plan setzt eben, beispielsweise, nicht einseitig auf „Gemeinschaft“, sondern bringt beides, das Recht des Kindes, in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein, und seinen ebenso legitimen Anspruch auf Entwicklung und Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit zu einem Ausgleich – und gibt praktische Hinweise, wie das zu organisieren ist. Fünftens: Für jene Rezipienten, die ihn nicht als Gesamtentwurf rezipieren wollen – und das ist bis heute die Mehrheit –, bietet der Jena-Plan ein hohes Maß an Offenheit und Unabgeschlossenheit. Der Jena-Plan kann geradezu als Aufforderung zur ausschnitthaften Übernahme verstanden werden. Man denke nur an die schon zitierte Aussage Petersens, wonach man im Jena-Plan, wenn man dies wolle, nicht mehr als eine „Ausgangsform“ sehen müsse. Wie weit sie den modellhaften Vorgaben des Jena-Plans zu folgen bereit sind, wo sie dagegen eher eigene Wege beschreiten möchten, das verbleibt jederzeit in der Entscheidungskompetenz der Akteure vor Ort. Schließlich ist der Jena-Plan insofern innovativ, als Petersen die durch ihn ermöglichte pädagogische Reform-Praxis der wissenschaftlichen Evaluation unterwirft. Nicht nur ist die Jenaer Universitätsschule eine offene und dem Interessierten stets zugängliche Einrichtung. Petersen selbst sorgt von Anfang an für die begleitende 95 96

Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18); ders.: Der Ursprung der Pädagogik, Berlin/Leipzig 1931. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 6), S. 5.

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kritische Reflexion des pädagogischen Alltags und für die Publizität der in der Modellschule praktizierten Pädagogik. Noch vor der Veröffentlichung des Jena-Plans – das wurde bereits erwähnt – ist der erste Erfahrungsbericht aus der Universitätsschule auf dem Markt.97 Die zwischen 1930 und 1934 erscheinenden drei Bände des sogenannten großen Jena-Plans enthalten ausführliche Berichte aus der praktischen Schularbeit und deren wissenschaftliche Deutung.98 Nicht zuletzt sind damit auch den in der Forschungsdiskussion immer wieder kritisch festgestellten metaphysischen Einschlägen im erziehungstheoretischen Werk Petersens Grenzen gesetzt: die Pädagogik des Jena-Plans bleibt der Erfahrung zugänglich – und zwar ganz unabhängig von allen Ontologisierungstendenzen, denen Petersens Erziehungsphilosophie im Laufe der Zeit unterworfen gewesen ist. In den 1930er Jahren wird sich dann die so genannte „pädagogische Tatsachenforschung“ aus diesen ersten, eben angesprochenen Ansätzen heraus entwickeln.99 Wie unabgeschlossen und im Lichte heutiger methodischer Standards verbesserungsfähig dieses Unterfangen auch immer gewesen sein mag, es stellt, wie später in der wissenschaftlichen Diskussion bestätigt werden wird, immer noch einen der eindrucksvollsten Versuche einer empirisch basierten Erziehungswissenschaft dar,100 einen Ansatz, der nicht einfach krude Erziehungswirklichkeit untersucht, sondern diese über den Jena-Plan mit einer konkreten Utopie ihrer besseren Möglichkeiten konfrontiert. Es darf bei dieser Gelegenheit daran erinnert werden, dass Vergleichbares – die empirische Verifizierung nämlich – vom Meister des Pragmatismus, John Dewey, nicht bekannt ist. Sein Laborschul-Experiment harrt immer noch der unabhängigen wissenschaftlichen Evaluation, wie überhaupt Vieles rund um die Projektmethode einmal auf seinen Realitätsgehalt geprüft gehörte.101 WIRKUNGEN: DER JENA-PLAN IN DER PRAXIS Die Reaktionen auf den Vortrag von Locarno und auf die anschließende Veröffentlichung des Jena-Plans sind auf der publizistischen Ebene da, wo ihnen solche beschieden sind, durchaus freundliche. Nehmen wir nur als Beispiel den Bund Entschiedener 97 98

Ebd. Petersen: Schulleben (wie Anm. 15); ders./Arno Förtsch: Das gestaltende Schaffen im Schulversuch der Jenaer Universitätsschule 1925–1930, Weimar 1930; ders.: Praxis (wie Anm. 76). 99 Peter Petersen/Else Petersen: Die pädagogische Tatsachenforschung. Besorgt von Theodor Rutt, Paderborn 1965. 100 Z.B. Dietrich Benner: Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft. Eine Systematik traditioneller und moderner Theorien, Weinheim 1991, S. 155–173. 101 Bis heute gilt ein auf Anregung Deweys von zwei Schwestern, die in den Anfangsjahren der Schule dort als Lehrerinnen gearbeitet hatten, rd. 30 Jahre (!) nach den Ereignissen verfasstes Buch als wichtigste Quelle zur Unterrichtsrealität an der Laboratory School (vgl. Kathrine Camp Mayhew/Anne Camp Edwards: The Dewey School. The Laboratory School of the University of Chicago, 1896–1903, New York 1936). Dass das viel zitierte so genannte Typhus-Projekt, das als Beispiel für ein mustergültig gelungenes Projekt dient, schlicht auf einer Fälschung beruht, ist inzwischen nachgewiesen (vgl. Knoll: Dewey (wie Anm. 85), S. 193ff.; Ellsworth Collings, der Urheber des Typhus-Projekts, ist allerdings kein Dewey-, sondern ein Schüler Kilpatricks gewesen).

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Schulreformer. Mitglieder des Bundes sind selbst in Locarno und verfolgen dort Petersens Präsentation. In der „Neuen Erziehung“ bestätigen sie dann, die Pädagogik des Jena-Plans garantiere „die freie eigengesetzliche Entwicklung von Kind und Gemeinschaft“.102 Wenn man weiß, wie scharf insbesondere Paul Oestreich mit tatsächlichen oder vermeintlichen Widersachern ins Gericht gehen kann, und wenn man sich ferner Oestreichs Kritik an Petersen nach dem Krieg vergegenwärtigt, dann kann man nach sorgfältigster Lektüre aller Hefte der Neuen Erziehung nur feststellen: kein Wort gegen Petersen. Allenfalls wird behauptet, so neu seien die Einzelheiten des Jena-Plans gar nicht, was nur zeigt, dass man dessen synkretistischen Charakter erkennt. Die Zustimmung, die Petersen Mitte der 1920er Jahre auf der pädagogischen Linken für seine schulreformerischen Ideen erhält und die nicht zufällig in der kurzen Reformära unter Minister Max Greil auch zu seiner Berufung nach Jena geführt haben dürfte,103 kann nicht überraschen, wenn man sich Petersens Herkunft aus der Hamburger Schulreformbewegung sowie die Radikalität seiner Schulkritik vor Augen führt. Um sein Konzept einer staatsfernen Schule zu begründen, keilt Petersen in einer Weise gegen die Staatsanstalt Schule, die auch von der Linken jederzeit und unschwer mitgetragen werden kann: „Jeder Staat ist Einheitsveranstaltung der jeweils herrschenden Klasse, und in deren Händen lag auch die Schule. Sie wurde demnach zur Bekämpfung der den Staat nicht mittragenden Volksgruppen hergerichtet.“104 In einer Rezension der „Allgemeinen Erziehungswissenschaft“ Petersens heißt es, dieser habe im Staat nicht mehr als „eine vergängliche Hilfseinrichtung“ gesehen, „ein sittlich geringfügiges Werkzeug von Minderheiten“.105 Viele auf der Linken sehen das genauso. Sodann rezipiert Petersen in seinen Werken auch die Beiträge linker Pädagogen und Bildungspolitiker; und zwar mit Zustimmung.106 Bis Mitte der 1920er Jahre pflegt Petersen enge Kontakte zu Fritz Karsen und anderen prominenten linken Reformpädagogen. Schließlich – vielleicht nur ein Detail, aber doch ein bezeichnendes – engagiert sich Petersen für die Montessori-Pädagogik, die damals noch weitgehend ein Projekt linker Pädagoginnen und Pädagogen ist und vor allem von den Mitgliedern des Bundes Entschiedener Schulreformer propagiert und gestützt wird.107 Auf der praktischen Ebene sind die Wirkungen des Jena-Plans eher begrenzt. Zwar sind in der Jenaer Universitätsschule, es wurde schon angedeutet, Besucher immer willkommen. Es werden Jahresberichte veröffentlicht und Petersen führt so genannte Pädagogische Wochen durch; eine Idee, die er vermutlich von Rein übernommen hat. Auf beiden Wegen ist für eine gewisse, wenn auch nur bruchstückhafte Verbreitung des Jena-Plans gesorgt. Allerdings wird auf diese Weise, wenn man so 102 Lisa Rietz: Die Tagung der New Education Fellowship in Locarno vom 3.–15. August 1927, in: Die Neue Erziehung 10 (1928), S. 131–135, hier S. 132. 103 Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen John in diesem Band. 104 Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18), S. 197. 105 Bruno Benten: Bespr. Peter Petersen „Allgemeine Erziehungswissenschaft“, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 1 (1925), S. 129–132, hier S. 130. 106 Z.B. Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 18), S. 199 (H. Schulz: Die Schulreform der Sozialdemokratie); ebd. S. 227 (S. Kawerau: Soziologische Pädagogik). 107 Konrad: Kindergarten (wie Anm. 74), S. 164–183.

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will, die Synthese-Leistung, die hinter dem Jena-Plan steht, wieder rückgängig gemacht, der Jena-Plan in seine verschiedenen Elemente aufgelöst, was freilich, erinnert man sich an Petersens Charakterisierung des Jena-Plans als eines „Rahmens“ oder einer „Ausgangsform“, als zumindest nicht unerlaubte, ja, mehr noch, als durchaus willkommene Art der Rezeption gelten darf. Elemente, wie der Morgenkreis, die Wochenplanarbeit und anderes mehr haben sicher in zahlreiche Schulen Eingang gefunden. Auch finden sich in den Publikationen Petersens immer wieder Hinweise auf die Übernahme einzelner ausgewählter Elemente des Jena-Plans. So erwähnt Petersen – zum Beispiel – eine Volksschule in Kiel-Wik, die mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen statt altershomogenen Klassen experimentiert, sowie eine Hilfsschule, die erste Versuche mit dem Jena-Plan gesammelt habe, ohne dass in diesem Fall spezifiziert würde, um welche Elemente im Einzelnen es hier geht.108 Von Wilhelm Osbahr, einem alten Bekannten Petersens aus der Hamburger Schulreformbewegung, ist überliefert, dass er ab 1926 im Jugendfürsorgeheim Schloss Heiligenstedten bei Itzehoe Aspekte der Jena-Plan-Pädagogik verwirklicht.109 Auch Sozialpädagogen wissen also mit dem Jena-Plan etwas anzufangen. Vollumfänglich folgen dem Konzept des Jena-Plans aber nur wenige Volksschulen. Darunter keine in Thüringen. Verschiedene Vorstöße des Freundeskreises der Universitätsschule beim Ministerium, eine weitere Jena-Plan-Schule in Jena einrichten zu dürfen, bleiben erfolglos. Geradezu von einer „Isolation des Jena-Plans“ ist in der Literatur die Rede.110 In Brandenburg gibt es einige Schulen, ebenso in Westfalen. Das im Spätsommer 1933 angelaufene westfälische Jena-Plan-Landschulprojekt, das einen größeren Kreis von Schulen erfassen soll, geht jedoch bald schon im Intrigenstrudel des polykratischen NS-Erziehungswesens unter.111 Sicher zu den Jena-Plan-Schulen gehören jene 13 Schulen, aus deren Unterrichtspraxis der Große Jena-Plan berichtet. Einige von diesen Schulen werden 1933 und danach geschlossen. Mit seiner Absicht, den Jena-Plan großflächig zu etablieren, ihn der Politik „für die neue deutsche Schule“, wie Petersen 1935 schreibt, anzudienen,112 damit scheitert Petersen. Das Reichserziehungsministerium ordnet 1935 eine Visitation der Universitätsschule an und hält als Ergebnis dieser Prüfung fest, der Jenaer Schulversuch könne „nicht als ein Versuch hingestellt werden, der unserem gesamten deutschen 108 Petersen: „Jena-Plan“ (wie Anm. 88), S. 259; der Beitrag ist im Zusammenhang mit dem zu diesem Zeitpunkt in Planung befindlichen westfälischen Landschulprojekt entstanden. 109 Julius Gebhard: Das Landeserziehungsheim Schloss Heiligenstedten, Hamburg 1948, S. 22. Gebhard war sowohl ein Freund und Weggefährte Osbahrs aus der Hamburger Schulreformszene wie auch mit Petersen bekannt und zudem Vorstandsmitglied des deutschen Zweigs der New Education Fellowship. 110 Hein Retter: Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Metahermeneutische Anmerkungen zu einer Kontroverse, in: ders.: Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Beiträge zur Pädagogik Peter Petersens, Weinheim 1996, S. 25–82, hier S. 34. 111 Torsten Schwan: Zum Scheitern Peter Petersens und des Jena-Plans im NS- und im sich formierenden SED-Staat, in: Hein Retter (Hg.): Reformpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004, S. 168–185, hier S. 171–178. 112 Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 89).

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Schulleben etwas Neues und Bedeutendes zu sagen hat.“113 Man müsse im Gegenteil darauf achten, dass sich der Jenaer Impuls nicht weiter verbreite.114 Die Universitätsschule ist damit ein typisches Beispiel für viele jener Schulen der Weimarer Zeit, die sich selbst als „Neue Schulen“ bezeichnen. Sie werden nach 1933 nicht sofort geschlossen, aber doch argwöhnisch beobachtet, behindert und erst in letzter Konsequenz auch aufgelöst; letzteres immerhin bleibt der Universitätsschule erspart. Ohnehin beruht die Wirkung dieser Schulen nicht auf der Quantität ihres Vorkommens, als vielmehr auf dem diffus-anregungsreichen Potential, das sie langfristig entfalten.115 Ganz in diesem Sinne reichen die Wirkungen der Universitätsschule und des dort entwickelten Jena-Plans bis in unsere Gegenwart. DER JENA-PLAN 1933 BIS 1945: ANMERKUNGEN ZU EINER ERNEUT AKTUELLEN DEBATTE Der hier vorgelegte Beitrag konzentriert sich auf die Entstehungshintergründe des Jena-Plans und ist deshalb im Wesentlichen auf den Zeitraum vor 1933 begrenzt. Gleichwohl soll er nicht enden ohne einige wenigstens skizzenhafte Anmerkungen zum Jena-Plan nach 1933. Dies nicht zuletzt deshalb, weil seit den späten 1980er Jahren nach einer langen Phase der unkritischen Rezeption die Erziehungsphilosophie Peter Petersens und auch der Jena-Plan wiederholt zum Gegenstand äußerst kritischer bis ablehnender Diskussionen geworden sind. Dabei folgten diese Debatten stets demselben Muster. Während der Jena-Plan und die Rolle seines Schöpfers im erziehungswissenschaftlichen Raum kontrovers beurteilt werden, zeigen sich die Praktiker – allen voran die der Jena-Plan-Bewegung – von diesen Diskursen weitgehend unberührt. Insbesondere leisten sie der Empfehlung, aufgrund des unbestreitbar problematischen Gehalts vieler Äußerungen Petersens nach 1933 auf den Jena-Plan als Quelle schulreformerischer Ideen Verzicht zu leisten, keine Folge. Im Gegenteil. Als erstmals in den späten 1980er Jahren in einesteils diskussionswürdigen,116 andererseits aber auch eher nachlässig gearbeite113 Zit. in Retter: Konzeption (wie Anm. 24), S. 132. Zur Verbreitung des Jena-Plans im Nationalsozialismus vgl. auch: Robert Döpp: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit, Münster u.a. 2003, S. 197–263. 114 Der Erlass ist – ebenso wie der Visitationsbericht von 1935 – abgedruckt in: Hein Retter: Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe – Dokumente, Weinheim 1996, S. 167–174. Paradoxerweise unternimmt Petersen mit ministerieller Unterstützung in den 1940er Jahren einige Auslandsreisen, um dort seinen JenaPlan zu propagieren. 115 Schon für die 1950er Jahre bestätigt Herbert Chiout: Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland: neue Wege und Inhalte in der Volksschule, Dortmund 1955, eine beachtliche Breitenwirkung des Jena-Plans in der Bundesrepublik; vgl. auch die Ausführungen zu den JenaPlan-Schulen der unmittelbaren Nachkriegszeit in: Bernd Dühlmeier: Und die Schule bewegt sich doch. Unbekannte Reformpädagogen und ihre Projekte in der Nachkriegszeit, Bad Heilbrunn 2004. 116 Z.B. Peter Kaßner: Peter Petersen – die Negierung der Vernunft?, in: Die Deutsche Schule (1989), Hf. 1, S. 117–132; Wolfgang Keim: Peter Petersens Rolle im Nationalsozialismus und die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft, in: Die Deutsche Schule (1989), Hf. 1, S. 133–145.

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ten Beiträgen117 die Rolle Petersens im Nationalsozialismus kritisch hinterfragt wird, bekennt sich die Jena-Plan-Bewegung ohne Zögern zu ihrem Protagonisten und zu dem von ihm konzipierten „in sich stimmige[n] Schulkonzept“ einer „kinder- und lehrerfreundlichen Schule“.118 2010 löst dann die von Benjamin Ortmeyer verfasste Frankfurter Habilitationsschrift119 erneut eine kritische Beschäftigung mit Petersen aus. Auch hier ist es wieder so, dass die Vertreter der Jena-Plan-Bewegung zwar keineswegs leugnen, dass Petersen „in den Jahren nach 1933 irritierende Äußerungen und auch Handlungen getätigt [hat], die ihn und sein Denken in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt haben“,120 was man einerseits mit Nachdruck verurteilt, wie andererseits der Jena-Plan verteidigt wird. Auch in diesem Fall verweist man auf die lebendige Jena-Plan-Praxis in den Niederlanden, einem Land, das unter dem Nationalsozialismus schwer gelitten hat, oder auf die humane Praxis Petersens in seiner Universitätsschule nach 1933, die unlängst in einer Publikation Hein Retters eine umfassende Würdigung erfahren hat.121 Regelmäßig melden sich noch lebende ehemalige Schülerinnen und Schüler der Universitätsschule zu Wort, um den Gründer ihrer alten Schule entschieden gegen alle Angriffe zu verteidigen. Tatsächlich – das nur am Rande – kann man sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, mit Petersen werde strenger verfahren, als mit manch anderem (Reform-) Pädagogen. Hat man je von vergleichbar scharfer Kritik an Hermann Lietz gehört? Lietz, dies nur zur Erinnerung, war ein glühender Nationalchauvinist und bekennender Antisemit. Noch dazu hat Lietz eine Erziehung praktiziert, die auf Unterwerfung, brutalen (Körper-)Strafen und regelmäßigen Spitzeldiensten der Schüler in seinen Einrichtungen basierte.122 Wahrlich kein Vorbild! Dennoch hat noch niemand die Empfehlung ausgesprochen, die Hermann-Lietz-Schulen in Haubinda, Hohenwehrda und Bieberstein sollten geschlossen werden oder möchten doch wenigstens ihren Namen ablegen. 117 Ein besonders tristes Beispiel: Jürgen Eierdanz: Wir wollen gehorchen lernen! Peter Petersen und der „Jena-Plan“, in: demokratische erziehung (1987), Hf. 3, S. 16–21, ein Beitrag, in dem Zitate aus dem Zusammenhang gerissen werden, Petersen Äußerungen in den Mund gelegt werden, die er so nicht getan hat, dafür Ausführungen Petersen, die die Aussageabsicht des Autors (Eierdanz) widerlegen, weggelassen werden u.ä.m. So wird z.B. aus der oben erwähnten Rede Petersens zur Übernahme der Schulleitung an der Lichtwarkschule das Bekenntnis zur Völkerversöhnung fortgelassen. 118 Erwin Klinke: Ich bleibe bei Petersen!, in: demokratische Erziehung (1987), Hf. 7/8, S. 4 u. 66, hier S. 4. 119 Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009. Zur Kritik an Ortmeyer vgl. Hein Retter: Warum ich Benjamin Ortmeyer widerspreche. Neue Befunde zu Peter Petersen (Unveröff. Manuskript), Braunschweig 2010; Heinz-Elmar Tenorth: Rez. Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos, Weinheim/Basel 2009, in: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010) 4, S. 632–638. 120 Leserdebatte. In: Erziehung und Wissenschaft, 2011, Hf. 1, S. 27; vgl. auch Kinderleben. Zeitschrift für Jena-Plan-Pädagogik, Hf. 1, Juli 2010, S. 5–16. 121 Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus. Zugleich eine Kritik der Fragwürdigkeiten jüngster Petersen-Forschung, Jena 2010. 122 Vgl. dazu Jürgen Oelkers: Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011, S. 89ff.

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Dabei ist die Kritik an Petersen nicht unberechtigt, denn zweifellos hat sich Petersens Denken spätestens in den 1930er Jahren in bezeichnender Weise profiliert. Vier Beispiele. Erstes Beispiel: Im dritten, 1934 erschienenen Band des Großen Jena-Plans, ist unübersehbar von Eugenik, Rassenlehre und Erbwissenschaft die Rede, für die „unsre Erziehungswissenschaft und Pädagogik“ „von jeher“ „offen“ gewesen sei, wie Petersen entgegen allem Augenschein nunmehr versichert.123 In den beiden vorausgegangenen und vor 1933 erschienen Bänden des Großen Jena-Plans sucht man allerdings, wenn ich recht sehe, diese Begriffe noch vergebens. Ebenfalls erst im dritten Band von 1934 fällt der Name des sächsischen NS-Kultusministers Wilhelm Hartnacke. Dabei kennt Petersen den besagten Hartnacke samt seiner Thesen über die angeblich in den „Grenzen der Erbanlagen“ liegenden Bildungsgrenzen schon eine ganze Weile, nämlich seit 1916, wo er Hartnacke im Sonderausschuss des Deutschen Ausschusses für Erziehung und Unterricht zum Begabungsproblem begegnet ist.124 Erst zwanzig Jahre später wird Hartnacke zitiert, nicht früher. Zweites Beispiel: Die offene Unterstützung, die Petersen der Montessori-Pädagogik bis in die frühen 1930er Jahre hinein hat zuteilwerden lassen, ist oben am Beispiel seines Eintretens für das Jenaer Kinderhaus deutlich gemacht worden. Soweit ihn Fragen der vorschulischen Erziehung interessierten, gehörte Petersens Sympathie der Montessori-Pädagogik. Nach 1933 ändert sich das. In dem Maße, wie die neuen Machthaber die Montessori als „undeutsch“ verunglimpfen und ihre Pädagogik aufs Abstellgleis schieben,125 wendet sich auch Petersen ab. Schon vor der „Machtergreifung“ hatte er stattdessen Kontakte zu dem Leipziger Psychologieprofessor, Parteigänger des Nationalsozialismus und Vorsitzenden des Deutschen Fröbel-Verbands Hans Volkelt geknüpft. Der 1934 an der Erziehungswissenschaftlichen Universitätsanstalt eingerichtete und von Petersen geleitete Kindergarten ist ausdrücklich ein Fröbel-Kindergarten. Zwar steht Petersen hier unter einem gewissen äußeren Druck, ist doch die einzige im nationalsozialistischen Staat zugelassene vorschulpädagogische didaktische Schule eben die Fröbel-Pädagogik. Petersen aber intensiviert aus eigenem Antrieb seine Beschäftigung mit Fröbel, publiziert zu Fröbel und feiert ihn in zahlreichen Fest- und Gedenkreden. Allerdings tut er nichts, um die verfälschende Fröbel-Rezeption der Nationalsozialisten zu korrigieren. Im Gegenteil. Petersen feiert Fröbel als „Deutschlands größte[n] Erzieher“,126 was sich nahtlos in das vorherrschende Deutungsschema einfügt. Drittes Beispiel: Schülerparlamente, Schülerausschüsse, Schülergerichte, alles, was gemeinhin an einer auf Demokratie fokussierten amerikanischen Progressive Education so gelobt wird, habe Petersen abgelehnt, heißt es. Anfangs jedoch ist Petersen derartigen Einrichtungen mit Offenheit und Zustimmung begegnet. Zum Schulleben der Lichtwarkschule gehörte der sogenannten „Schulgemeindeausschuss“ 123 Petersen: Praxis (wie Anm. 76), S. 4. 124 1916 war Hartnacke Schulinspektor in Bremen gewesen; 1930 hatte er das einflussreiche Buch „Naturgrenzen geistiger Bildung. Inflation der Bildung – Schwindendes Führertum – Herrschaft der Urteilslosen“ veröffentlicht. 125 Franz-Michael Konrad: Der Kindergarten. Seine Geschichte von den Anfängen bis in die Gegenwart, Freiburg i. B. (2. erg. Auflage) 2012, S. 159f. 126 Peter Petersen: Friedrich Fröbel. Deutschlands größter Erzieher, Gotha 1942.

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wie selbstverständlich dazu. Von „parlamentarischen Formen“, in denen „das Schulleben“ an seiner Schule organsiert sei, sprach Petersen in diesem Zusammenhang.127 In dem Maße nun, in dem wie bei vielen anderen Zeitgenossen – nicht nur auf der antirepublikanischen Rechten! – auch bei Petersen das anfangs vorhandene Zutrauen in den Weimarer Parlamentarismus, dieser werde die Zerrissenheit des Volkes überwinden, schwindet,128 wachsen auch seine Zweifel an der Schuldemokratie. Vielleicht ist es doch besser, schon das Schulleben als „Gemeinschaft“ zu inszenieren und auf Formen der Regulierung des Miteinander zu verzichten, die – in den alten, im deutschen Denken so tief verwurzelten dichotomischen Kategorien von „Gemeinschaft“ und Gesellschaft“ gedacht –129 typisch sind für „Gesellschaft“. Der Jena-Plan von 1927, der einen Schulparlamentarismus, welcher Lehrer und Schüler in einem Verhältnis der Gleichberechtigung sieht, nicht kennt, wäre dann ein prominentes Dokument dieses Sinneswandels. Erst nach 1933 aber schlägt die vorsichtige Abkehr von einstmals vertretenen Positionen in kompromisslose Ablehnung um, erst jetzt ist die Rede von „jenen törichten [sic!] Formen wie Schülerparlament, Schülergericht u.a.m.“130 Viertes Beispiel: Wo Petersen im Jena-Plan von „Gemeinschaft“ schwärmt, vergleicht er diese mit „der um ihre Führer gescharten Rechtsgemeinde Freier“ und spricht davon, dass es „geistige Ideen“ seien, die das Gemeinschaftsleben bestimmten, wobei diese geistigen Ideen wiederum „durch Führer repräsentiert [würden], um die sich jene Menschen wie eine Art Gefolge freiwillig scharen“.131 Auch in zahlreichen weiteren Texten im Umfeld des Jena-Plans findet sich die Rede vom Lehrer als dem „Führer“ und von der „Gefolgsgemeinschaft“ der Schüler und Schülerinnen. Aber erst nach 1933 verliert diese Wendung vom Führer und seiner Gefolgschaft ihren bildhaft-metaphorischen Charakter, den sie bis dahin besessen hatte. Während Petersen 1927 die Klassengemeinschaft noch „im Sinne und in der Form der um ihre Führer gescharten Rechtsgemeinde Freier“ auftreten beziehungsweise „wie eine Art Gefolge“ um den Lehrer geschart sieht, wird die Schülergruppe 1934 kurz und bündig zu der „um ihren Führer gescharte[n] Gefolgsgemeinschaft“.132 Auch von Freiwilligkeit ist jetzt keine Rede mehr. Dass Petersen die Lehrer-Schüler-Beziehung mit dem seinerzeit nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft133 diskutierten „Führer-Gefolgschafts-Prinzip“ vergleicht, ist also evident. Unübersehbar ist zudem Petersens Kritik am Individualismus, wie sie sich in seinen Arbeiten ab den späten 1920er Jahren findet.134 Ebenso ist Petersens wachsende Nähe zu „altdeutschen genossenschaftliche[n] Vorstellungen“ 127 Peter Petersen: Bericht über die Entwicklung der Realschule in Winterhude zur „LichtwarkSchule“ im Schuljahre 1920/21 (1921), wiederabgedruckt in: ders.: Schulreform (wie Anm. 17), S. 172–181; vgl. dazu den Abschnitt „10.2 ‚Demokratiepädagogische‘ Qualität“ in dem Beitrag von Peter Fauser in diesem Band. 128 Z.B. Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 8), S. 37. 129 Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887. 130 Petersen: Praxis (wie Anm. 76), S. 8. Ein Beispiel für den frühen, nüchternen Umgang mit dem Thema: ders.: Gemeinschaft (wie Anm. 16), S. 38. 131 Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 23), S. 8, 10. 132 Petersen: Praxis (wie Anm. 76), S. 9 (Hervorhebungen in Zitaten FMK). 133 Petersen hat u.a. in Leipzig bei Karl Lamprecht Geschichte studiert. 134 Z.B. Petersen: Ursprung (wie Anm. 95), S. 80ff.

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im Geiste Otto von Gierkes in der Forschung längst bemerkt worden.135 Zweifellos zeigt sich die Theorie des Jena-Plans von einem zunehmend autoritären Geist durchwirkt. Nicht zufällig pflegt Petersen ab 1931 enge Kontakte zu Ernst Krieck, einem offen nationalsozialistischen Erziehungswissenschaftler. Aber: Darf daraus schon „Petersens Weg zu Hitler“136 gefolgert werden? Genau das geschieht in einem Beitrag, der im Rahmen der von der Ortmeyer-Studie ausgelösten Kontroverse um Petersen publiziert worden ist.137 EXKURS: „FÜHRUNG“ BEI PETERSEN. Befasst man sich mit Petersens Reden von „Führer“, „Führung“ und „Gefolgschaft“ genauer, wird man schnell feststellen, dass der Jenaer Reformpädagoge mit diesen Vokabeln unter den Pädagogen seiner Zeit keineswegs allein steht. Nehmen wir nur als Beispiel den Österreicher Siegfried Bernfeld, in vieler Hinsicht der Antipode Petersens schlechthin. Bernfeld führt in seinem 1928 erschienenen Büchlein „Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf“ aus, für die von ihm, Bernfeld, konzipierte neue Erziehung sei nicht mehr länger die klassische Erzieher-ZöglingPaarbeziehung charakteristisch. In seiner Pädagogik, so Bernfeld, habe „sich die Erzieher-Zögling-Beziehung zu einer Gruppenangelegenheit, zum Gemeinschaftserlebnis; eben zur pädagogischen Form: Führer-Gefolgschaft“138 weiter entwickelt. Überhaupt gründet die ganze reformorientierte Sozialpädagogik, wie sie im Lindenhof (Karl Wilker), in Baumgarten (Siegfried Bernfeld), in Hahnöfersand (Walther Herrmann und Curt Bondy) und anderswo praktiziert wird, in dem der Jugendbewegung entlehnten Grundsatz, wonach „Erziehung ohne persönliche Bindung an den Führer und die Gemeinschaft nicht erfolgversprechend [ist]“.139 Dass auch Petersen an die Jugendbewegung gedacht haben könnte, als er sich lange vor seiner Berufung nach Jena an die Skizzierung der Lehrerrolle gemacht hat, zeigt seine frühe Empfehlung, der Lehrer, auch der Oberlehrer, müsse selbstverständlich „an den Veranstaltungen der Jugendpflege“ teilnehmen.140 Zu diesem Zeitpunkt war Petersen noch fest in der Hamburger Schulreformbewegung verankert, für die Wilhelm Lamszus später feststellen wird, „im Mittelpunkt“ einer jeden der Hamburger Reformschulen stehe „die kleine Gemeinschaft“, die sich „um den selbstgewählten Führer [schart]“.141 135 Z.B. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 110), S. 44. 136 Karl-Heinz Heinemann: Peter Petersens Weg zu Hitler. Entzauberung eines reformpädagogischen Mythos, in: Erziehung und Wissenschaft (2010), Hf. 11, S. 23. 137 Neu ist eine derartige Behauptung nicht. Erinnert sei nur an Heinz J. Heydorns Charakterisierung Petersens als „Fabrikateur einer faschistischen Bildungsideologie“ (in: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Frankfurt a.M. 1970, S. 237). 138 Siegfried Bernfeld: Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf, Berlin 1928, S. 47f. 139 Curt Bondy: Die deutsche Jugendbewegung, in: Handbuch der Pädagogik, hg. v. Hermann Nohl u. Ludwig Pallat. 5. Bd., Langensalza 1929, S. 114–129, hier S. 127. 140 Peter Petersen: Das Problem der Begabung und der Berufswahl auf den höheren Schulen, in: ders. (Hg.): Aufstieg (wie Anm. 4), S. 78–94; hier S. 83. 141 Wilhelm Lamszus: Vom Weg der Hamburger Gemeinschaftsschulen, in: Franz Hilker (Hg.): Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 263–276, hier S. 265.

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Daneben sollte man nicht die kritischen Einlassungen zur Reformpädagogik übersehen, die sich Mitte der 20er Jahre stärker denn je Gehör verschaffen. Eine Wortmeldung, wie die Theodor Litts, der 1926 von einem „allmählichen Ausschwingen einer gewaltigen Welle von pädagogischem Enthusiasmus“142 spricht, erfährt jetzt viel Zuspruch. Und Litt ist es auch, der 1927 in einer Wendung gegen das „Wachsenlassen“, wie es, so jedenfalls Litt, zahlreiche Reformpädagogen propagierten, den „guten Sinn des ‚Führens‘“143 beschwört. Zwar hält Petersen in dieser schwierigen Lage Kurs und steht zu seinen reformpädagogischen Überzeugungen. Er markiert aber auch Grenzen und sorgt für Distanz zu anderen, von ihm abgelehnten Positionen innerhalb dieses heterogenen diskursiven Geflechts „Reformpädagogik“. So möchte er zum Beispiel deutlich machen, dass er bei aller Sympathie für die von Hamburg ausgegangene Bewegung „vom Kinde aus“144 nicht alles teilt, was da propagiert und vertreten wird, vor allem nicht jenes antipädagogische Ressentiment gegen das Eingreifen in die kindlichen Selbstäußerungen, eben gegen das „Führen“. „Eine falsch verstandene ‚Pädagogik vom Kinde aus‘ in der öffentlichen Schule“145 – so wird es später die Petersen-Biographin Ingeborg Maschmann auf den Punkt bringen –, will Petersen eindeutig nicht. Die Rede vom Schöpfertum des Kindes ist für ihn mehr ein Slogan, und zwar ein solcher, „mit dem sehr viel Unfug getrieben wird“. „So setzt man voreilig schöpferisch gleich genial und spricht“ – eine Anspielung auf eines der Kultbücher der Kunsterziehungsbewegung –146 „verallgemeinernd vom ‚Genius im Kinde‘.“147 Petersen dagegen betont 1930 in seiner schon erwähnten Rede auf dem Pariser Kongress, die vom „Begriff der Autonomie“ handelt, des Begriffes „zweite[n] Teil: Nomos, Gesetz“ und stellt fest: „Autonomie ist im echten Sinne Bindung!“148 Dass er sich damit noch nicht einmal gegen die Hamburger Schulreform stellt, sondern sich eben nur innerhalb dieser entsprechend positioniert, zeigt sich nicht nur an der oben wiedergegebenen Äußerung Lamszus’, sondern ebenso an Theodor Gläss, der in seiner Dissertation von 1932 über die Hamburger Gemeinschaftsschulen und deren pädagogische Prinzipien feststellt, „der Lehrer [ist] Führer kraft seiner Persönlichkeit. Er braucht keine äußere Autorität, denn sehr bald fühlt sich die Klasse 142 Theodor Litt: Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik. Abhandlungen zur gegenwärtigen Lage von Erziehung und Erziehungstheorie, Leipzig/Berlin 1926; hier zit. nach der 2. Auflage 1931, S. 2. 143 Theodor Litt: Führen oder Wachsenlassen. Die Erörterung des pädagogischen Grundproblems, Leipzig 1927, S. 75ff. 144 Dazu: Vom Kinde aus. Arbeiten des Pädagogischen Ausschusses der Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg, hg. v. Johannes Gläser, Braunschweig 1920. 145 Ingeborg Maschmann: Zur Biographie und Zeitgeschichte Peter Petersens, in: dies./Jürgen Oelkers (Hg.): Peter Petersen. Beiträge zur Schulpädagogik und Erziehungsphilosophie, Heinsberg 1985, S. 25–53, hier S. 33. 146 Gustav Fr. Hartlaub: Der Genius im Kinde. Ein Versuch über die zeichnerische Anlage des Kindes, Breslau 1922. 147 Peter Petersen: Zur erziehungswissenschaftlichen Begründung des neuen Schullebens, in: Vladimir J. Spasitsch (Hg.): Die Lehrerfrage in der neuen Schule. Eine geschichtliche und grundsätzliche Darstellung des Problems Fach-, Klassen- oder Gruppenlehrer in der Alten und in der Neuen Schule, Weimar 1927, S. V–XXIV, hier S. XVIII. 148 Petersen: Disziplin (wie Anm. 72), S. 681.

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als Gemeinschaft, will ihre Rechte wahren, versucht ihrerseits Widerspenstige zu erziehen oder stößt den von sich, der sich dauernd gegen ihre Gesetze und Ordnungen verstößt. Dabei braucht sie den Lehrer, den Führer.“149 Sodann darf an das Jahr 1921 erinnert werden, jenes Jahr, in dem sich der „seinerzeit bekannteste Reformpädagoge Deutschlands“,150 Gustav Wyneken, einem Strafprozess ausgesetzt sieht, weil er sich an zwei Schülern der von ihm geleiteten Freien Schulgemeinde Wickersdorf sexuell vergangen haben soll. Wyneken wird zu einem Jahr Haft verurteilt. Die Tat und das Urteil polarisieren. Viele stellen sich hinter den Verurteilten. Ebenso groß aber ist die Schar derer, die erkennbar kein Verständnis für Wyneken haben. Wyneken selbst wehrt sich vor Gericht mit einer engagierten Einlassung, in der er unter Bezug auf die Knabenliebe der Antike sein Verhältnis zu den ihm anvertrauten Jungen als ein von gegenseitiger Zuneigung und wechselseitiger Verantwortung, freilich gänzlich entsexualisiertes Verhältnis zu erklären sich bemüht. Unter dem Titel „Eros“ veröffentlicht, wird die kleine Schrift zu Wynekens bekanntestem Buch werden.151 Was Petersen zum Thema „Führung“ schreibt, lässt sich geradezu als Antwort auf diese Vorkommnisse lesen. „Führung“, sagt Petersen nämlich, bedeute nichts anderes, als dass der eine über den anderen – horribile dictu – „Macht“ ausübe. Nun gehöre Macht nicht nur zwangsläufig zu „Führung“, sie sei, so Petersen weiter, in Verantwortung ausgeübt, durchaus nicht falsch. Vielmehr sei es erst „die im Erwachsenen als dem reiferen Menschen ruhende, von ihm ausgehende Macht“, die „zwischen dem Erzieher und dem Zögling die unbedingt erforderliche und wichtige Distanz [herstellt]; denn rechte Führung ist ohne solche Distanz unmöglich.“152 Wyneken nun, um auf diesen wieder zurückzukommen, ein – so Petersen – „allzu dämonischer Führer“, habe seine Macht eben nicht verantwortlich eingesetzt und es deshalb auch nicht geschafft, „die Jugend wirklich freizulassen“.153 Wyneken hat seine Macht – und in der Folge auch die ihm Anvertrauten – missbraucht, weil er jene Distanz, derer die „Führung“ bedarf, nicht gewahrt hat. Wirft man nun endlich noch einen kurzen Blick auf die Erziehungstheorie Petersens, wird man schnell bemerken, dass Petersens Idee von „Führung“ nichts zu tun hat mit den herbartianischen Konzepten von „Zucht“ und „Regierung“. Vielmehr erweist sich Petersen gerade in seinem Philosophieren über „Führung“ als Reformpädagoge, weil er zwar die Bedeutung der pädagogischen Führung betont, ebenso entschieden aber auf deren Grenzen verweist. Führung ist limitiert durch die Personalität des Geführten. „Von dem Erzieher ist [nämlich] als erstes zu fordern die Achtung vor dem Eigenen, der ‚Sendung‘ des Menschenkindes, das vor ihm sitzt, mit dem er 149 Theodor Gläß: Die Entstehung der Hamburger Gemeinschaftsschulen und die pädagogische Aufgabe der Gegenwart, Diss. Gießen 1932, S. 87f. 150 Utfried Geuter: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1994, S. 196. Zum „Fall Wyneken“ ebd., S. 195–210. 151 Gustav Wyneken: Eros, Lauenburg/Elbe 1921. 152 Peter Petersen: Erziehung und Führung. Ein Grundproblem der allgemeinen Erziehungswissenschaft, in Erich Feldmann (Hg.): Pädagogische Antithesen. Mainzer Abhandlungen zur Philosophie und Pädagogik, 2. Heft, Karlsruhe 1926, S. 73–102, hier S. 100. 153 Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 8), S. 58.

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umgeht.“154 Sodann spielt die in der Naturseite des Zöglings liegende Begrenzung des erzieherischen Handelns eine wichtige Rolle. „Der neue Erzieher“, so resümiert Petersen die Einsichten der Kinder- und Entwicklungspsychologie, auf die sich die „neue Erziehung“ stützt, müsse „darauf bedacht sein, Menschenleben sich gestalten zu lassen und der eigenen Kraft des Aufwachsenden vertrauen, die stärker ist als die Macht des Lehrers.“155 Führung und Freiheit bilden so gesehen zwei komplementäre Begriffe, die beide nicht unabhängig voneinander gedacht werden können, weshalb zur erschöpfenden Behandlung des Führungsproblems eben auch die „Beschreibung dessen, was unter dem Problemkreis ‚Freiheit‘ verstanden wird“,156 gehört. Ohnehin handelt es sich bei jenem Teilgebiet, in dem es um die „Pädagogie“ geht, also um die „planvolle Führung von Kindern und Jugendlichen“ beziehungsweise, ausführlicher, um „denjenigen Umkreis des Geschehens unter Menschen, in welchem bewusst und planvoll daran gearbeitet wird, Kinder und Jugendliche allseitig zu bilden“,157 nur um einen Ausschnitt aus dem größeren Ganzen der Erziehungswissenschaft Petersens. So wie Petersens Erziehungsbegriff nicht zuletzt allgemein das Einwirken der Umwelt auf den Zögling (etwa in Gestalt von „Gemeinschaft“) meint, umfasst auch seine Erziehungswissenschaft „weit mehr in sich als nur das bewusste Erziehen von Mensch zu Mensch“,158 nämlich Vieles, was wir heute als Sozialisation oder funktionale Erziehung bezeichnen würden. Da ist Petersen ganz nah bei Emile Durkheim, und insofern sind die Bezugnahmen auf die Erziehungstheorie des französischen Soziologen Durkheim, wie sie sich in Petersens Werk finden, alles andere als Zufall.159 Schließlich und endlich möchte ich das „Führungs-“Problem noch aus einer pragmatischen Perspektive in den Blick nehmen. Die hohe Wertigkeit von „Führung“ bei Petersen scheint mir nämlich auch aus der Alltags- und Praxisnähe seines JenaPlans heraus nachvollziehbar. Mir ist nicht bekannt, ob Petersen im Moment der Niederschrift der Beiträge, die um die Lehrerrolle und das Problem der „Führung“ kreisen, an Max Webers 1919 erschienenen Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ gedacht hat. In jener vor der Münchner Freistudentenschaft gehaltenen Rede hat Weber auch zu der Frage Stellung genommen, ob und inwieweit der Lehrer sich zum „Führer“ (das Wort fällt bei Weber) berufen fühlen dürfe. Weber hat diesen Anspruch – freilich mit Bezug auf den Hochschullehrer – zurückgewiesen. Das Lehramt beziehe sich auf das Mitteilen akademischer Wahrheiten und habe nichts mit Führertum zu tun.160 Abgesehen davon, dass Weber auch in der akademischen Welt ziemlich allein steht mit dieser Position, die meisten seiner Kollegen hingegen sehr wohl einen gesellschaftlichen Bedarf an „Führung“ und Orientierung erkennen,161 hat Petersen 154 Petersen: Erziehung (wie Anm. 152), S. 94. 155 Petersen: Lehrer (wie Anm. 68), S. 231. 156 Peter Petersen: Die Philosophie in erziehungswissenschaftlicher Beleuchtung, Weimar 1929, S. 21. 157 Petersen: Pädagogik (wie Anm. 82), S. 1 und 119. 158 Ebd., S. 43. 159 Z.B. ebd., S. 148f. 160 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1995, S. 35f. 161 Richard Pohle: Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009.

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nicht den Universitätsprofessor vor Augen, der sich politisch orientierungslosen Studenten gegenüber sieht, sondern den Volksschullehrer, wie er vor seiner Klasse steht. Zu dessen pädagogischer Verantwortung gehört es eben auch, „den rechten Augenblick“ zu erkennen, jenen Moment, wo beim Schüler „das Interesse erwacht und wo die Führung, die Aufklärung vom Lehrer erwartet wird“.162 Eine gewiss realistische und unprätentiös pragmatische Haltung. So viel zum Begriff der „Führung“ bei Petersen. Wobei mit diesen Erläuterungen eines nicht beabsichtigt ist, nämlich Petersen Absolution zu erteilen. Man kann und darf nicht übersehen, was neben Ortmeyer auch Torsten Schwan, um einen weiteren Protagonisten der jüngsten Welle der Petersen-Kritik zu nennen, noch einmal deutlich ins Bewusstsein gehoben haben: Eine in den 1930er Jahren zunehmende Radikalisierung in den von Petersen vertretenen grundlagentheoretischen Positionen. Vor diesem Hintergrund davon auszugehen, die Annäherung Petersens an die Jenaer nationalsozialistische Universitätsleitung bis hin zu den damit unvermeidbar gewordenen Kontakten zur SS sei mehr als nur taktischem Kalkül geschuldet, erscheint trotz mancher noch aufzuklärender Einzelaspekte nicht unplausibel.163 Nach 1933 tut Petersen einiges, um seine Pädagogik den neuen Machthabern anzudienen. Dabei geht es ihm nicht nur darum, sich in einem Akt der äußerlichen Anpassung dem geänderten Zeitgeist entsprechend zu positionieren. Petersen möchte jetzt vielmehr glauben machen, immer schon gewollt und gemeint zu haben, was mittlerweile zur offiziellen erziehungspolitischen Linie geworden ist. Das lässt seine Erziehungstheorie nicht unberührt und ihren Urheber vieles sagen und schreiben, was besser nicht gesagt und geschrieben worden wäre. Die antisemitischen und rassistischen Auslassungen Petersens nach 1933 sind zu verurteilen und werfen einen dunklen Schatten auf den Jenaer Schulreformer. Dennoch bleibt vieles erklärungsbedürftig. Angenommen, nach 1933 sei Petersens ganzes Sinnen und Trachten auf den Anschluss an den Kreis um den nationalsozialistischen Rektor der Universität Jena, Astel, und darauf gerichtet gewesen, sich als nationalsozialistischer Pädagoge zu stilisieren, warum hat er dann zugelassen, dass die von ihm geleitete Schule auch von Kindern jüdischer Abstammung besucht worden ist? Zwar beschäftigt Petersen an der Universitätsschule Lehrer, die offen mit dem Nationalsozialismus sympathisieren. Zwar finden sich unter seinen Doktoranden auch Mitglieder der SS. Sein wissenschaftlicher Assistent, Heinrich Döpp-Vorwald, macht sich ebenfalls zum willfährigen Diener der neuen Herren und ihrer Weltanschauung. Und schließlich finden sich an der Universitätsschule die üblichen Formen nationalsozialistischen Schullebens wie Fahnenappell, Absingen von Kampfliedern, Treuegelöbnisse, das feierliche Begehen nationalsozialistischer Gedenktage und so weiter. An der Universitätsschule ist aber auch für ein Klima gesorgt, dass die Kinder jüdischer Abstammung vor Schikanen schützt, wie sie ihnen an anderen öffentlichen Schulen mit Sicherheit gedroht hätten. Und schließlich: Wie lässt sich erklären, dass ungeachtet der nach 1933 sich häufenden Bezüge Petersens auf „Erbwissenschaft 162 Petersen: Lehrer (wie Anm. 68), S. 233. 163 Torsten Schwan: „. . . um die aus der Weimarer Zeit übernommene Substanz zu sichern“? Peter Petersen, der Nationalsozialismus und die defensiven Traditionen aktueller Rezeptionsentwicklungen, Frankfurt a.M. 2011.

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und Eugenik“ an der Universitätsschule auch geistig behinderte Kinder am Unterricht teilnehmen und in das Schulleben integriert sind.164 Die Petersen-Schülerin Frieda Stoppenbrink-Buchholz bemüht sich, wissenschaftlich nachzuweisen, dass auch so genannte „Hilfsschulkinder“ wertvolle Glieder der „Volksgemeinschaft“ sind.165 All dies hätte eigentlich unterbleiben müssen. Vielmehr hätte Petersen angesichts des oben schon angesprochenen Umstands seiner nach 1933 permanent drohenden Marginalisierung nicht nur als Schulreformer, sondern auch im Blick auf seine universitäre Position alles unternehmen müssen, um Zweifel an seiner politischen Zuverlässigkeit zu zerstreuen. Bis hin zum Parteieintritt, den er bekanntlich nicht vollzieht. Nein: Nicht erst seit 1933 – aber eben auch ab 1933 – ist Petersens Handeln von Ambivalenzen geprägt, die sich nicht leicht erklären lassen. Zu diesen Ambivalenzen gehört auch das hier abschließend mitzuteilende Phänomen. Es fällt nämlich auf, dass antisemitisches und rassistisches Gedankengut nach 1933 vorzugsweise in Beiträgen eine Rolle spielt, die sich, wenn überhaupt, nur peripher mit dem Jena-Plan beschäftigen.166 Um das Gemeinte an einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Jahr 1935 veröffentlicht Petersen den Beitrag „Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jena-Planes im Lichte des Nationalsozialismus“.167 In diesem Beitrag geht es – anders als der Titel nahelegt – nur sehr am Rande um den Jena-Plan. Im Mittelpunkt steht vielmehr das, was Petersen die „volkstheoretisch“ begründete „neue Erziehungswissenschaft“ nennt. Hier ist die Rede von der „germanischen Welt“ und von „nordischer Auffassung“, von „Hygiene“ und „Eugenik“, von der „Erbwissenschaft“ und vom „Erbcharakter der Schüler“. In dem ganzen Text findet sich aber kein einziger Pädagoge genannt, dafür werden Ernst Moritz Arndt und Friedrich Nietzsche erwähnt, und es fallen die Namen von Walter Darré, Wilhelm Frick, Hans Schemm und anderer Nazigrößen mehr. Die reformpädagogische Bewegung wird von Petersen jetzt plötzlich als urdeutsches Phänomen charakterisiert, und überhaupt bezieht er entschieden gegen allen „Internationalismus“ Stellung, mit dem die neue Erziehungswissenschaft, seine Erziehungswissenschaft, rein gar nichts zu tun habe. Im selbigen Jahr 1935 erscheint aber auch der Beitrag „Gruppenarbeit nach dem Jena-Plan“,168 eine nüchterne, sachliche Darstellung des Jena-Planes und seiner wesentlichen Elemente. In diesem Aufsatz begegnen dem Leser auf nahezu jeder Seite Hinweise auf die deutsche und die internationale reformpädagogische Szene. 164 Petersen: Praxis (wie Anm. 76), S. 60. 165 Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 113), S. 471–476. 166 Das hat Folgen bis hinein in die aktuelle Sekundärliteratur. In einem Beitrag aus dem Jahre 2010, in dem der Nachweis für Petersens Verstrickung in den Nationalsozialismus geführt werden soll, zitiert der Autor nahezu ausschließlich aus sehr knapp gehaltenen Rezensionsarbeiten Petersens, also Texten, in denen Petersen sich mit Büchern fremder Autoren befasst. Dagegen wird nicht aus Arbeiten Petersens zitiert, in denen dieser den Jena-Plan erläutert, begründet usw. (Vgl. Torsten Schwan: „Ich werde rücksichtslos gegen den Liberalismus, Demokratie und das Judentum schreiben und reden.“ Zum Rassismus und Antisemitismus in der Jena-Plan-Pädagogik nach 1933, in: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010), Hf. 3, S. 414–436). 167 Peter Petersen: Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jena-Planes im Lichte des Nationalsozialismus, in: Die Schule im nationalsozialistischen Staat 11 (1935), Hf. 6, S. 1–5. 168 Peter Petersen: Gruppenarbeit nach dem Jena-Plan, in: Die deutsche Schule 39 (1935), Hf. 9, Sonderheft Jena-Plan, S. 393–403.

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Diese internationale Szene wird repräsentiert durch Gustave Le Bon, Ovide Décroly, Gerard Boon, Roger Cousinet, Henri Bouchet und William Heard Kilpatrick. Petersen hätte, ohne seiner Darstellung des Jena-Plans etwas zu nehmen, auf diese Galerie reformpädagogischer Gewährsleute gut und gerne verzichten können. Er tut es nicht – sieht man davon ab, dass der Name Montessoris nunmehr fehlt. Die Gründe hierfür sind schon dargelegt worden. 1935 wird im führenden erziehungswissenschaftlichen Organ der Zeit, „Die Erziehung“, eine Rezension des im Jahr zuvor erschienenen dritten Bandes des „großen“ Jena-Plans abgedruckt. Autor ist Wilhelm Flitner,169 der den Jena-Plan ebenfalls explizit in die internationale Reformpädagogik einrückt und zu diesem Zweck, wie Petersen, die ganze Reihe der prominenten Auslandspädagogen Revue passieren lässt. Allerdings, man muss es zugeben, wenn man die Beiträge Petersens der folgenden Jahre analysiert: Mit der Zeit werden die Bezugnahmen auf das Ausland seltener. Und auch in Flitners Rezension finden sich diesbezügliche Absetzbewegungen, so wenn er feststellt, „über Daltonplan, Montessoriplan und alle ähnlichen ‚Arrangements‘ sind wir heute hinaus“, um dann auch noch – in diesem Fall die Grenze zum Skurrilen streifend – für die Bezeichnung „Jenaer Plan“, „wie man statt der fremden Sprachform ‚Jena-Plan‘ lieber sagen möchte“, zu plädieren.170 Petersens Beitrag „Nationalpolitische Bildung der menschlichen Sittlichkeit“171 dagegen, ebenfalls aus dem Jahr 1935, vermeidet jeden Hinweis auf die internationale Reformbewegung. Bei dem Aufsatz handelt es sich um die schriftliche Fassung eines Vortrages, den Petersen im September 1934 auf dem VI. Kongress für sittliche Erziehung in Krakau gehalten hat. Auf dem Vorläuferkongress 1930 in Paris hatte Petersen noch ausdrücklich und mehrfach seine Verbundenheit mit der „Neuen Erziehung“ betont. Davon jetzt kein Wort mehr; auch nicht vom Jena-Plan. Dafür geht es nachdrücklich um „Blut“, „Sippe“, „Mythus“, den „nordisch bestimmte[n] Menschen“. Renaissance, Humanismus und Aufklärung werden als „Überfremdungen“ verworfen. Bezüglich eines Textes aus dem Jahr 1936 lässt sich dagegen wieder anderes vermelden. Vereinzelte Hinweise auf Oswald Kroh und Charlotte Bühler; einmal wird die Lagererziehung der NSDAP erwähnt, die, wie Petersen bemerkt, das Prinzip der Altersmischung, das dem Jena-Plan zugrunde liegt, bestätige. Der Publikationsort des Aufsatzes, eine Zeitschrift des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, hätte den Autor dazu verleiten können, mehr als diese äußerst knappe und harmlos-anbiedernde Referenz an die Machthaber im NS-Staat abzuliefern.172 Es unterbleibt. Ansonsten finden wir eine schlichte Darstellung des Jena-Plans, seiner einzelnen Elemente und ihres Zusammenwirkens. 169 Flitner kennt die Jena-Plan-Schule aus eigener Anschauung, denn er selbst hat bis zu seiner Berufung an die Pädagogische Akademie Kiel eng mit Petersen zusammengearbeitet. Die älteste Flitner-Tochter ist Schülerin an der Universitäts-Schule gewesen. 170 Wilhelm Flitner: Die Praxis der Schulen nach Peter Petersens Jena-Plan (1935), wiederabgedruckt in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 4: Die Pädagogische Bewegung. Beiträge – Berichte – Rückblicke, Paderborn u.a. 1987, S. 374–378, hier S. 374, 376, 171 Peter Petersen: Nationalpolitische Bildung der menschlichen Sittlichkeit, in: Die Erziehung 10 (1935), S. 208–218. 172 Peter Petersen: Was kann die Privatschule vom Jenaplan lernen?, in: Privatschule und Privatlehrer 36 (1936), H. 4, S. 73–79.

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Zweifellos ist das nur ein schmaler Ausschnitt aus der Gesamtpublizistik Petersens nach 1933 gewesen, der aber doch eine bestimmte Tendenz hat deutlich werden lassen. Immer wenn es um die Darstellung des Jena-Plans geht – und zwar des JenaPlans in seinem organisationellen Kern –, vermeidet Petersen Antisemitisches und Rassistisches. Das erleichtert es, den Jena-Plan als das zu rezipieren, was ihn bis heute so wertvoll macht, als Organisationsmodell nämlich. Nur auf diese Weise konnte der Kleine Jena-Plan jene Dauer gewinnen, die es erlaubt von seiner „Permanenz“ zu sprechen.173 Und als Organisationsmodell dürfte und sollte er ganz unberührt von den mitunter chamäleonhaften Wandlungen seines Schöpfers ein Dokument überzeitlicher Bedeutung bleiben.

173 Will Lütgert: Die Permanenz des Jena-Plans, in: Ralf Koerrenz/Will Lütgert (Hg.): Jena-Plan – Über die Schulpädagogik hinaus. Weinheim/Basel 2001, S. 145–158.

Jürgen John „EINE SCHULE – EIN LEHRERSTAND“.1 LEHRERBILDUNG, ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTLICHE ANSTALT UND UNIVERSITÄTSSCHULE ALS PETER PETERSENS JENAER HANDLUNGSFELDER 1923 BIS 1933 Inhalt: Petersens Berufung 1923 (I) (77) Der landespolitische Kontext (79) Die „Ära Greil“ und der „Thüringer Hochschulkonflikt“ (83) Berufungskonflikte 1922/23 (88) Petersens Berufung II (92) Konzeptioneller Vorlauf: „Ein Volk, eine Schule, ein Lehrerstand!“ (94) Die Thüringer Schulgesetze 1922/23 (99) Lehrerbildung und Erziehungswissenschaftliche Abteilung 1923/24 (101) Nachwirken und Konflikte (105) Die „Umwandlung der Übungsschule“ 1923/24 (108) Erziehungswissenschaftliche Anstalt und „Neuordnung der Lehrerbildung“ 1924 (113) Die Universitätsschule und ihr Freundeskreis (117) Pädagogisches Institut und „Rückbildung der Lehrerbildung“ 1927/28 (125) Die „Ära Frick“ 1930/31 und der „Abbau der Lehrerbildung“ (131) Geistig-politische Profile (138) Petersens Weimarer Standort (150)

PETERSENS BERUFUNG 1923 Am 20. Juli 1923 berief das Thüringer Volksbildungsministerium den 39jährigen Hamburger Schulreformer, Lehrer und Privatdozenten Peter Petersen in die ordentliche Lehrstelle für Pädagogik an der Landesuniversität Jena. Es war seine erste akademische Stelle. Und es sollte – von einer kurzen Hallenser Episode 1945/46 abgesehen – seine einzige bleiben. „Der Aufgabenkreis“, schrieb der unterzeichnende Regierungsrat Julius Schaxel, „ist Ihnen aus unseren Vorverhandlungen bekannt. Sie werden mit Ihren Universitätskollegen im Mittelpunkte der schulischen und erziehungswissenschaftlichen Neugestaltungen stehen, deren Durchführung in Thüringen im Gange ist und die mit der Errichtung des über das ganze Land ausgedehnten pädagogischen Institutes ihren vorläufigen äußeren Abschluß finden werden.“2 1

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„Die e i n e Schule des deutschen Volkes erfordert e i n e n Lehrerstand, der einmütig in wahrem Gemeinschaftsgeist zusammenarbeitet im Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit als Diener an der Vollendung der inneren Einheit unseres Volkes.“ – Erklärung Peter Petersen & Co. in der Vollsitzung zum Bericht des Ausschusses „Schulaufbau“ am 19.6.1920, in: Die Reichsschulkonferenz 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen. Amtlicher Bericht, erstattet vom Reichsministerium des Innern, Leipzig 1921, S. 1030; ich danke Peter Remmert (Vechta) und Hein Retter (Gifhorn/Braunschweig) für Unterstützung, Anregungen und Hinweise. PPAV, Mappe: Peter Petersen Personalien; Reproduktion des Schreibens bei Barbara Kluge: Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte. Auf dem Weg zu einer Biographie, Heinsberg 1992, S. 134; auf S. 133–135 wird die Berufung Petersens nur sehr lückenhaft dargestellt, ebenso in späteren, weitgehend auf diese Biographie aufbauenden Aufsätzen Kluges – vgl. dies.: Peter Petersen und der Jena-Plan, in: Jürgen John/Volker Wahl (Hg.): Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt Jena-Weimar (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 2), Weimar/Köln/Wien

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Die Philosophische Fakultät sei mit seiner Berufung einverstanden. Am 26. Juni hatte ihr das Ministerium die Absicht mitgeteilt, Petersen als „vorwiegend theoretisch und philosophisch-historisch eingestellten Paedagogen“ zum Nachfolger des emeritierten Wilhelm Rein zu berufen. Für einen neu eingerichteten zweiten Pädagogik-Lehrstuhl sah das Ministerium einen „paedagogischen Praktiker“ aus Nürnberg vor. Die Fakultät möge sich in möglichst kurzer Frist zu beiden Kandidaten äußern.3 Am 17. Juli antwortete der Dekan. Die Fakultät lehne den „paedagogischen Praktiker“ ab und wolle über diese Lehrstelle weiter verhandeln. Petersen aber akzeptiere sie trotz mancher Einwände. Er sei „ohne Zweifel eine Persönlichkeit von wissenschaftlicher Befähigung. Doch ist diese Befähigung und ihr entsprechend auch das wissenschaftliche Arbeiten Petersens in erster Linie auf philosophischem, genauer auf philosophiegeschichtlichem Gebiete hervorgetreten. Auf pädagogischem Gebiete liegen nur einige kleinere Abhandlungen von mehr populärer, als wissenschaftlicher Art vor.“ Doch habe die Fakultät keine Bedenken gegen Petersens Berufung auf den Lehrstuhl für theoretisch-geschichtliche Pädagogik. „Der Umstand, dass Petersen in seinen Vorlesungen die Pädagogik pflegt, sich ausserhalb dieser mit den anderen Schulbestrebungen befasst, dass ferner in seinen philosophischen Hauptwerken sich eine gewisse wissenschaftliche Durchdringung eines wesentlichen Gebietes der allgemeinen Bildungsgeschichte bekundet und dass vor allem endlich auch ein grösseres, ausgesprochen pädagogisches Werk jetzt von ihm in Aussicht steht, giebt Grund zu der Erwartung, dass er falls er entschlossen sein sollte, sich künftig ganz der wissenschaftlichen Pflege der Pädagogik zu widmen, auch dazu befähigt sein dürfte.“4 Das Ministerium teilte dem Rektor am 30. Juli mit, es nehme diese Stellungnahme zur Kenntnis, werde aber seine Entschlüsse nicht ändern und über die zweite Lehrstelle für den „paedagogischen Praktiker“ nicht weiter verhandeln.5 Für sie ernannte der Minister am 25. September 1923 die Berliner Oberlehrerin Mathilde Vaerting zur ordentlichen Professorin der Erziehungswissenschaft.6 Dabei überging

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1995, S. 161–180; dies.: Zur Biographie Peter Petersens und zur Theorie und Praxis des Jenaplans in seiner historischen Entwicklung, in: Inge Hansen-Schaberg/Bruno Schonig (Hg.): JenaplanPädagogik (= Basiswissen Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte 3), 2 Baltmannsweiler 2007 (1. Aufl. 2002), S. 11–54; zu einzelnen Aspekten der Berufung Petersens vgl. auch Andreas v. Prondczynsky: Universitätspädagogik und lokale pädagogische Kultur in Jena zwischen 1885 und 1933, in: Alfred Langewand/Andreas v. Prondczynsky (Hg.): Lokale Wissenschaftskulturen in der Erziehungswissenschaft (= Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft 20), Weinheim 1999, S. 75–187, hier S. 147–149; Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens (= Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte 1), Frankfurt a.M. 2007, S. 114–120. UAJ, Best. BA, Nr. 928, Bl. 323r; zur Vorgeschichte des Pädagogik-Ordinariats Reins vgl. Anm. 59. UAJ, Best. M, Nr. 630/1, Bl. 22r–24r (Unterstreichungen im Original); dieser Teil des Schreibens ist auch bei Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 118f. zitiert; PhF-Dekan war der Altertumswissenschaftler Heinrich Walter Judeich; bei dem erwähnten Werk handelt es sich um Petersens „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ (wie Anm. 98). UAJ, Best. BA, Nr. 928, Bl. 330r; Best. M, Nr. 630/1, Bl. 39r (Abschrift). UAJ, Best. D, Nr. 2938 (PA Vaerting); Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2),

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er universitäre Einwände gegen die nicht habilitierte Pädagogin. Petersen hingegen ernannte er am 4. September 1923 – rückwirkend zum 1. August – einvernehmlich als ordentlichen Professor der Erziehungswissenschaft. Er sicherte ihm zu, dass „unter Einbeziehung des bestehenden pädagogischen Seminars der Universität mit dem Mittelpunkt in Jena für Thüringen eine erziehungswissenschaftliche Anstalt errichtet werden soll, deren Leitung Ihnen mit den anderen hauptamtlichen Fachvertretern übertragen wird. Die Entscheidung über die geschäftliche Leitung bleibt vorbehalten.“7 Am gleichen Tage informierte er den Rektor und ersuchte ihn, Petersen im Senat eidlich zu verpflichten und einzuführen.8 Das erfolgte am 10. November. Am 3. November 1923 hielt Petersen seine Antrittsvorlesung „Der Bildungsweg des neuen Erziehers auf der Hochschule“ als entschiedenes Plädoyer für die Hochschulausbildung aller Lehrergruppen.9 Seit November übernahm er die Vorstandsgeschäfte für das Pädagogische Seminar und die Universitäts-Übungsschule. Der landespolitische Kontext Dieser Berufungsvorgang ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Er verweist auf die „Neuordnung der Lehrerbildung“ als zentrales bildungspolitisches Gestaltungsanliegen, auf kontroverse Ansichten und entsprechende Berufungskonflikte. Er zeigt die Absicht des sozialdemokratischen Volksbildungsministers, im Anschluss an die Schulreformgesetze 1922/2310 die schulische und pädagogische Landschaft Thüringens neu zu gestalten. Und er lässt dessen Ziel erkennen, das Universitätsstudium der Volksschullehrer durchzusetzen, dafür neue Strukturen, Fächer und Lehrstellen zu schaffen und sie mit geeigneten Personen zu besetzen. Unklar blieb zunächst, wie die neuen Strukturen zu gestalten seien und wer sie leiten solle. Im weiteren Sinne verweist der Vorgang auf die gesamten Thüringer Um- und Neugestaltungsprozesse nach dem revolutionsbedingtem „Aufbruch 1918“, der Republik- und Landesgrün-

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S. 151–154; Margret Kraul: Jenas erste Professorin: Mathilde Vaerting. Leben und Werk im Kreuzfeuer der Geschlechterproblematik, in: Gisela Horn (Hg.): Die Töchter der Alma mater Jenensis. Neunzig Jahre Frauenstudium an der Universität von Jena (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 2), Rudolstadt/Jena 1999, S. 91–112; Tina Naumann: Mathilde Vaerting – Stieftochter der Alma mater Jenensis. Ein ungeliebter Querkopf in der Saalestadt, in: Gisela Horn (Hg.): Entwurf und Wirklichkeit. Frauen in Jena 1900 bis 1933 (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 5), Rudolstadt/Jena 2001, S. 245–265. UAJ, Best. D, Nr. 3196 (PA Petersen), Bl. 7r–8r (Abschrift); auch zitiert bei Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 149. UAJ, Best. BA, Nr. 928, Bl. 353r; Best. M, Nr. 630/1, Bl. 42r (Abschrift). Peter Petersen: Der Bildungsweg des neuen Erziehers auf der Hochschule, in: ders.: Innere Schulreform und Neue Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze (= FWE 2), Weimar 1925, S. 32–50; zuerst abgedr. in: ZpP 25 (1924), S. 1–16. Vgl. Anm. 117, 118 u. 120 sowie Paul Mitzenheim: Die Greilsche Schulreform in Thüringen. Die Aktionseinheit der Arbeiterparteien im Kampf um eine demokratische Einheitsschule in den Jahren der revolutionären Nachkriegskrise 1921–1923, Jena 1965; ders.: Die Greilsche Schulreform 1921 bis 1923 – wesentliche Ergebnisse und Schlussfolgerungen, in: Rot-Rote Gespenster in Thüringen. Demokratisch-sozialistische Reformpolitik einst und heute, Jena 2004, S. 79–100; ders.: Thüringer Pädagogen und bildungspolitische Bestrebungen der Arbeiterbewegung, (Jena 2000), S. 50–56.

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dung11 und auf die linkssozialdemokratische Reformpolitik in den mitteldeutschen Ländern Sachsen, Thüringen, Anhalt und Braunschweig.12 Das Land Thüringen entstand 1920 aus sieben Kleinstaaten, die bis 1923 noch als „Gebiete“ fortlebten. Deren unterschiedliche Schul- und Verwaltungsstrukturen mussten in dieser „Übergangszeit“ umgestaltet und vereinheitlicht werden. Damit wollten die Landesgründer in der Thüringer Gründungsregion der Weimarer Republik einen vorbildlichen demokratischen „Einheitsstaat“ schaffen, nachdem der Zusammenschluss- und Neugliederungs-Gedanke hier „im Herzen des Reiches“ erstmals „zur Tat reifte“.13 Die zuvor von vier Kleinstaaten getragene ErnestinischSächsische Gesamt-Universität Jena ging als Thüringische Landesuniversität auf das Land über.14 Sie gehörte zu den kleineren der damals 23 reichsdeutschen Universitäten und wurde von der industriellen Carl-Zeiss-Stiftung finanziell mit unterstützt.15 1919/20 passte sie sich mit Rektorats-, Senats-, Fakultäts- und StudentenrechtsReformen den neuen Verhältnissen an, behielt aber bis 1923/24 ihre überkommene Fakultätsstruktur. 1924 löste eine neue Hauptsatzung das Universitätsstatut von 1907 ab. Landeshochschulen waren das 1919 gegründete Staatliche Bauhaus Weimar und 11

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1918. Aufbruch in die Weimarer Republik (= ZEIT Geschichte 2008/3); Bernhard Post/Volker Wahl (Hg.): Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Parlament, Regierung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995 (= Veröffentlichungen aus thüringischen Staatsarchiven 1), Weimar 1999; Jürgen John: Thüringer Verfassungsdebatten und Landesgründung 1918 bis 1921, in: 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung (1919–1999) (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 14), Weimar 1999, S. 67–122; ders.: „Land im Aufbruch“. Thüringer Demokratie- und Gestaltungspotenziale nach 1918, in: Justus H. Ulbricht (Hg.): Weimar 1919. Chancen einer Republik, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 17–46. Demokratie in Mitteldeutschland. Demokratische Bewegungen und Politik in Sachsen, Thüringen und Anhalt 1830–1930 (1992–1995), Abschlussbericht Bochum 1995 (MS-Druck); Karsten Rudolph: Zum mitteldeutschen Format der demokratischen Bewegung in Sachsen, Thüringen und Anhalt (1848–1933), in: Jürgen John (Hg.): „Mitteldeutschland“. Begriff – Geschichte – Konstrukt, Rudolstadt/Jena 2001, S. 269–281; für Thüringen vgl. Beate Häupel: Die Gründung des Landes Thüringen. Staatsbildung und Reformpolitik 1918–1923 (= Demokratische Bewegungen in Mitteldeutschland 2), Weimar/Köln/Wien 1995; zur „kultursozialistischen“ und „linken Prägung“ der Thüringer Sozialdemokratie vgl. auch Steffen Kachel: Ein rot-roter Sonderweg? Sozialdemokraten und Kommunisten in Thüringen 1919 bis 1949 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 29), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 162–179. (Carl) Freiherr v. Brandenstein: Der Zusammenschluß Thüringens, in: Gerhard Anschütz u.a. (Hg.): Handbuch der Politik, Bd. 5, 3 Berlin/Leipzig 1922, S. 345–347, hier S. 345; Brandenstein (SPD) war 1920/21 Thüringer Innenminister; der Thüringer Zusammenschluss sei – so der RMdI a.D. – ein Schritt zur gesamten Reichs-Neugliederung gewesen – Erich Koch(-Weser): Die Neugliederung des Reichs, ebd., S. 336–345, hier S. 342; die Gründung des Landes Thüringen blieb die einzige größere Territorialreform der Weimarer Zeit; vgl. auch Jürgen John: „Unitarischer Bundesstaat“, „Reichsreform“ und „Reichs-Neugliederung“ in der Weimarer Republik, in: ders.: „Mitteldeutschland“ (wie Anm. 12), S. 297–375. Jürgen John/Rüdiger Stutz: Die Jenaer Universität 1918–1945, in: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 270–587, hier S. 306–316; Jürgen John: Namenswechsel – Wendezeiten? Die Jenaer Universitätsnamen 1921/34 und ihre Kontexte, in: Helmut G. Walther (Hg.): Wendepunkte in viereinhalb Jahrhunderten Jenaer Universitätsgeschichte, Jena 2010, S. 87–138; 1934 erhielt die Universität ihren heutigen Namen „Friedrich-Schiller-Universität Jena“. Christoph Matthes: Finanzier, Förderer, Vertragspartner. Die Universität Jena und die optische Industrie (1886–1971), Diss. Phil. Jena 2012 (MS).

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die 1921 von den Bauhaus-Gegnern gegründete Weimarer Hochschule für bildende Kunst. In der ersten Thüringer Landesregierung 1920/21 – einer DDP-SPD-Koalition unter Vorsitz Arnold Paulssens (DDP) – lag die Hochschulaufsicht bei dem von Paulssen geleiteten Ministerium für Justiz und Volksbildung. Erst die zweite Thüringer Landesregierung – eine von der KPD parlamentarisch tolerierte SPD-USPD-Koalition unter Vorsitz August Frölichs (SPD) – richtete im Oktober 1921 ein eigenes Ministerium für Volksbildung unter Max Greil (USPD, seit 1922 SPD) ein.16 Dessen Amtszeit 1921/24 wurde als „Ära Greil“ zur ebenso markanten wie umstrittenen Chiffre linksrepublikanisch-sozialistischer Reformpolitik. Wie seine Schul- und Universitätspolitik und seine mitunter kulturkämpferische Feier- und Gedenkpolitik17 stießen auch Greils Republikschutz-Maßnahmen auf Widerstände. Nach dem Mord an Reichsaußenminister Walther Rathenau am 24. Juni 1922 schritt Greil entschieden gegen rechtsradikal-„völkische“ – ausländische und jüdische Studierende diskriminierende – Positionen in der Jenaer Studentenschaft ein, die dem „Volksganzen schädlich“ und einer Universität unwürdig seien. Kein Staat, begründete dies Greil, könne „eine Unterscheidung zwischen Ariern und Nichtariern anerkennen oder dulden. Wohin diese völkischen Bestrebungen führen, zeigen die letzten politischen Ereignisse“.18 Seine Eingriffe und Verbote verband Greil mit Aufrufen zum republikund verfassungstreuen Verhalten und mit Maßnahmen „staatsbürgerlicher Aufklärung und Bildung“.19 Er schlug zudem eine Zulassungs- und Berufungspolitik ein, die das Ausländerstudium erleichtern, die Landesuniversität sozial öffnen und demokratiefähig machen sollte. Im „Bauhaus-Streit“20 stellte er sich hinter das von der 16

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Josef Schwarz: Die linkssozialistische Regierung Frölich in Thüringen 1923. Hoffnung und Scheitern. Schkeuditz 2000; Post/Wahl: Thüringen-Handbuch (wie Anm. 11), S. 275 f., 585; Max Greil (1877–1939) war von 1898 bis 1919 Volkschullehrer; 1919 Vorsitzender des Reußischen Lehrerrates, 1919 bis 1921 Bezirksschulrat für das Gebiet Gera des Volksstaates Reuß; bislang gibt es keine Greil-Biographie. Beate Schreier: Die Gründung der Thüringer evangelischen Kirche und ihr Weg während der Weimarer Republik, in: Thomas A. Seidel (Hg.): Thüringer Gratwanderungen. Beiträge zur fünfundsiebzigjährigen Geschichte der evangelischen Landeskirche Thüringens (= Herbergen der Christenheit. Sonderbd. 3), Leipzig 1998, S. 16–32, hier S. 27–29; Herbert Gottwald: Kirchenpolitik im Thüringer Landtag von 1920 bis 1933, in: Kirchen und kirchliche Aufgaben in der parlamentarischen Auseinandersetzung in Thüringen vom frühen 19. bis ins ausgehende 20. Jahrhundert (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 23), Weimar/Jena 2005, S. 133–154, hier S. 141–143. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 223r, 223v (Erlass Greils v. 12.7.1922); zum Kontext vgl. Martin Sabrow: Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar (= Schriftenreihe der VjZ 69), München 1994; John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 329–333. Abl ThMfV 1 (1922), S. 161–169 („Aufruf an die Thüringer Lehrerschaft!“ v. 11.8.1922), 170– 172 („Richtlinien für die Mitwirkung der Schulen und Hochschulen zum Schutze der Republik“ v. 11.8.1922), 193 (Bekanntmachung über die Flugblattserie „Republik und Jugend. Blätter zur staatsbürgerlichen Aufklärung und Bildung“ v. 11.8.1922); die Flugblätter wurden v. Herbert Kühnert (wie Anm. 25) herausgegeben. Volker Wahl (Hg.): Das Staatliche Bauhaus in Weimar. Dokumente zur Geschichte des Instituts 1919–1926 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Große Reihe 15), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 511–636; Ute Ackermann/Kai Uwe Schierz/Justus H. Ulbricht (Hg.): Streit ums Bauhaus, Jena 2009.

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kulturellen Rechten als „artfremd“ und „undeutsch“ angefeindete Weimarer Zentrum europäischer kultureller Avantgarde. 1922/23 hob Greil das Kuratoramt an der Landesuniversität auf. Er übertrug dessen Kompetenzen auf das Ministerium, wandelte das Jenaer Kuratelbüro in eine Ministerialgeschäftsstelle um und baute die Hochschulabteilung des Ministeriums aus.21 Deren Leiter Friedrich Stier war als Oberregierungsrat für Rechts-, Finanz-, Stiftungs-, Kliniks-, Bau- und Verwaltungsangelegenheiten der Universität zuständig.22 Er arbeitete dabei eng mit dem für das Kultur- und Stiftungswesen zuständigen Ministerialdirektor Ernst Wuttig zusammen.23 Die weiteren Aufsichtskompetenzen übertrug Greil neu ernannten Regierungsräten. Der Jenaer Zoologieprofessor Julius Schaxel (SPD) – ein bekannter Protagonist der Hochschulreform- und Arbeiterbildungsbewegung24 – erhielt die Aufsicht über wissenschaftliche Anstalten, Zulassungs-, Studenten-, Personal-, Berufungs-, Organisations- und Hochschulreformfragen. Der Lehrer und parteilose Sozialist Herbert Kühnert übernahm das Lehrund Prüfungswesen, die Lehrerbildung und die politische Bildungsarbeit.25 Das Volkshochschul- und Volksbüchereiwesen Thüringens betreute der Geschäftsfüh21 22

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UAJ, Best. C, Nr. 54, Bl. 57r, 58r (Erlass Greils v. 12.10.1922), 69r–71r (Erlass Greils v. 15.2.1923); Abl ThMfV 1 (1922), S. 250 (Bekanntmachung Greils v. 30.10.1922); John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 334f. Friedrich Stier (1886–1966), DNVP, seit 1933 NSDAP, war seit 1918 im Weimarer Kultusdepartement bzw. Volksbildungsministerium tätig und seit 1920/21 (kommissarischer) Vorsitzender des Verwaltungsdirektoriums der Universitätskliniken; 1924 erhielt er auch Schaxels Kompetenzen; bis zu seiner Entlassung 1945 stellte Stier eine Schlüsselfigur der Thüringer Hochschulpolitik dar – ThHStAW, PABV 4738 (PA Stier) u. NL Friedrich Stier, Bd. 6 (Erinnerungen). Der Jurist Ernst Wuttig (1876–1935) war seit 1908 im Weimarer Kultusdepartement tätig, nach 1918 maßgeblich an der Gründung der Thüringer evangelischen Landeskirche beteiligt und seit April 1921 als Ministerialdirektor im Volksbildungsministerium für die Weimarer Kulturstätten, die Thüringer Kulturstiftungen und die Carl-Zeiß-Stiftung zuständig; 1930 wurde er vom NSDAPMinister Frick in den Wartestand, 1933 in den Ruhestand versetzt – ThHStAW, PABV 34580 (PA Wuttig). Der Haeckel-Schüler Schaxel wirkte im Jenaer Nichtordinarien-Ausschuss, vertrat diesen seit 1920 im VDH und gehörte 1924 zum Gründerkreis der Gesellschaft und Zeitschrift „Urania“; am 8.3.1924 entzog ihm der neue Minister Leutheußer das Referat für Hochschulangelegenheiten und übertrug es Stier – UAJ, Best. BA, Nr. 1861, Bl. 26r+v; zum 1.5.1924 versetzte Leutheußer Schaxel in den Wartestand – ThHStAW, PABV 27428 (PA Schaxel); Dieter Fricke: Julius Schaxel (1887–1943): Leben und Kampf eines marxistischen deutschen Naturwissenschaftlers und Hochschullehrers, Jena u.a. 1964; Nick Hopwood: Producing a Socialist Popular Science in the Weimar Republik, in: History Workshop Journal 41 (1996), S. 117–153; ders.: Biology between university and proletariat: The making of a red Professor, in: History of Science 35 (1997), S. 367–424. ThHStAW, PABV 175667 (PA Kühnert); Karl Eichhorn: Dr. Herbert Kühnert 1887–1970. Lernen – Lehren – Forschen, Sonneberg/Steinach 2003; Kühnert war seit Januar 1922 zunächst als Referent für das höhere Schulwesen und die Landesuniversität im Ministerium tätig; 1922/23 gab er im Auftrag des Ministeriums die Schriftenreihe „Republik und Jugend. Blätter zur staatsbürgerlichen Aufklärung und Bildung“ heraus; im Spätsommer 1923 übernahm er auch das Personalreferat für das höhere Schulwesen; am 23.4.1924 wurde er als Studienrat an das Gymnasium Rudolstadt versetzt; die Aufsicht über das Prüfungs- und Lehrerbildungswesen ging an Ministerialrat Schnobel (vgl. Anm. 192) über.

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rer der Volkshochschule Thüringen Reinhard Buchwald seit 1922 nebenamtlich als Regierungsrat im Volksbildungsministerium.26 Die „Ära Greil“ und der „Thüringer Hochschulkonflikt“ Diese Maßnahmen hingen zweifellos auch mit Greils gespanntem Verhältnis zur Jenaer Universität zusammen. Dort gab es vor allem an der Philosophischen Fakultät massive Widerstände gegen seine Politik. Zu ihren Wortführern gehörten die Philosophie-Ordinarien Bruno Bauch und Max Wundt.27 Ersterer wirkte seit 1911 in Jena, letzterer – der Sohn des Leipziger Psychologen und Philosophen Wilhelm Wundt – seit 1920 als Nachfolger des Nobelpreisträgers Rudolf Eucken. Beide gehörten zum programmatischen Kern der Deutschen Philosophischen Gesellschaft und des völkisch-antisemitischen Lagers deutscher Universitätsphilosophie.28 Von Wundt stammt eine der programmatischen Schriften der „völkischen Bewegung“, die den „Volks-“ Gedanken kulturell, ethnisch und rassisch überhöhte, aggressiv-ausgrenzend anwandte und so gegen die Weimarer Demokratie richtete.29 Parteipolitisch standen Bauch und Wundt dem völkischen Flügel der DNVP nahe. Sie propagierten einen „deutschen Idealismus“,30 knüpften an den Kriegsnationalismus der Weltkriegsjahre

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ThHStAW, PABV 3448 (PA Buchwald); Reinhard Buchwald: Miterlebte Geschichte. Lebenserinnerungen 1884–1930 (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte 44), hg. mit einem biographischen Abriss von Ulrich Herrmann, Köln/Weimar/Wien 1992; Bettina Irina Reimers: Die Neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933 (= Geschichte und Erwachsenenbildung 16), Essen 2003, S. 44–46; Buchwald (1884–1983) wurde 1930 vom NS-Volksbildungsminister Frick in den Wartestand, 1933 dann in den zwangsweisen Ruhestand versetzt. UAJ, Best. D, Nr. 102 (PA Bauch), Nr. 3153 (PA Wundt); Hans-Joachim Dahms: Jenaer Philosophen in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und der Folgezeit bis 1950, in: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): „Kämpferische Wissenschaft“ Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 723–771, hier S. 728–732; Wundt wechselte 1929 nach Tübingen; Bauch blieb bis zu seinem Tode 1942 in Jena. Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Teil 1, Berlin 2002. Max Wundt: Was heißt völkisch? (= Schriften zur politischen Bildung 16/Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin 987), Langensalza 1924; vgl. auch den Beitrag von Justus H. Ulbricht in diesem Band sowie Uwe Puschner: Völkisch. Plädoyer für einen ‚engen’ Begriff, in: Paul Ciupke u.a. (Hg.): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik (= Geschichte und Erwachsenenbildung 23), Essen 2007, S. 53–66, hier S. 54f; Stefan Breuer: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 147–264. Bruno Bauch: Von der Sendung des deutschen Geistes. Rede bei der von der Universität Jena veranstalteten Feier zur 51. Wiederkehr des Jahrestages der Gründung des Deutschen Reichs, gehalten am 18. Januar 1922, in: Deutschlands Erneuerung. Monatsschrift für das deutsche Volk 6 (1922), Hf. 4, S. 193–206, hier S. 199, 202; ders.: Jena und die Philosophie des deutschen Idealismus. Rede gehalten zur Feier der akademischen Preisverleihung am 17. Juni 1922 in der Stadtkirche zu Jena, Jena 1922; Max Wundt: Der Sinn der Universität im deutschen Idealismus, Stuttgart 1933.

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an31 und übertrugen dessen Feindbilder auf die aus ihrer Sicht „volksfremde“, von den Siegermächten „aufgezwungene“ Weimarer Demokratie. Das verband sie im eigenen Fachgebiet mit Wundts Vorgänger Rudolf Eucken und seinem 1920 gegründeten Eucken-Bund,32 im Fakultätsmaßstab etwa mit dem deutschnational gesinnten, radikal antisemitisch eingestellten Zoologen und Haeckel-Nachfolger Ludwig Plate.33 Und sie konnten gewiss sein, dass solche Ansichten – offen oder latent, ausgeprägt oder verhalten – an der Universität recht verbreitet waren. Für Bauch, Wundt und ihre Gesinnungsgenossen war der Weimarer Staat Ausdruck „deutscher Schwäche“ und „nationaler Unfreiheit“, „undeutsch von der Wurzel bis zum Gipfel“.34 Er müsse durch einen auf „völkischer Einheit“ beruhenden „starken nationalen Staat“ überwunden werden.35 Als „politische Philosophen“ erlangten beide mit ihren Reden, ihrer Publizistik, ihren politisch-intellektuellen Netzwerken und ihrem Anspruch, einem angeblich allgemeinen „Zeitgeist“ Ausdruck zu verleihen,36 reichsweiten Einfluss. So beeinflusste Wundt über die 1920 von ihm gegründete Gesellschaft „Deutscher Staat“ und über die damals viel gelesenen Reihen „Schriften zur politischen Bildung“ und „Friedrich Mann’s Pädagogisches Magazin“ (Beyer-Verlag Langensalza) in starkem Maße das politisch-pädagogische Denken.37 Bauch gehörte zum rechtsintellektuellen Umfeld des Weimarer Nietzsche-Archivs und zu den Vertrauten Elisabeth Förster-Nietzsches, deren Jenaer Ehrenpromotion 31

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Matthias Schöning: Bruno Bauchs kulturphilosophische Radikalisierung des Kriegsnationalismus. Ein Bruchstück zum Verständnis der Ideenwende von 1916, in: Kant-Studien 99 (2008), Hf. 2, S. 200–219; ders.: Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933, Göttingen 2009, hier S. 63–70. Rudolf Eucken: Unsere Forderung an das Leben. Mit einem Anhang: Aufruf zur Gründung eines Euckenbundes, o.O. (Jena) 1920; Uwe Dathe: Der Philosoph bestreitet den Krieg. Rudolf Euckens politische Publizistik während des Ersten Weltkrieges, in: Herbert Gottwald/Matthias Steinbach (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur Universität Jena im 20. Jahrhundert, Jena 2000, S. 47–64; Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, S. 15–35; vgl. auch Max Wundt: Rudolf Eucken. Rede, gehalten bei der Eucken-Gedächtnisfeier der Universität Jena am 9. Januar 1927 (= Schriften aus dem Euckenkreis 22), Langensalza 1927. Zum „Fall Plate“ vgl. John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 340–345 u. Anm. 399. Max Wundt: Vom Geist unserer Zeit, München 1920, S. 130; Bruno Bauch: Der Geist von Potsdam und der Geist von Weimar. Eine Rede bei der von der Universität Jena veranstalteten Feier des Jahrestages der Gründung des Deutschen Reiches gehalten am 18. Januar 1926 (= JAR 1), Jena 1926; ders.: Nationale Freiheit (= Schriften zur politischen Bildung X/9), Langensalza 1931. Max Wundt: Die Zukunft des deutschen Staates (= Schriften zur politischen Bildung 6), Langensalza 1925; ders.: Staatsphilosophie. Ein Buch für Deutsche, München 1923 (J.F. Lehmanns Verlag). Wundt: Geist (wie Anm. 34); Norbert J. Schürgers: Politische Philosophie in der Weimarer Republik. Staatsverständnis zwischen Führerdemokratie und bürokratischem Sozialismus, Stuttgart 1989; Sven Schlotter: Die Tyrannei der Werte. Philosophie und Politik bei Bruno Bauch, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.): Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900–1940 (= Kritisches Jahrbuch der Philosophie 5), Würzburg 2002, S. 89–101; ders.: Die Totalität der Kultur. Philosophisches Denken und politisches Handeln bei Bruno Bauch, Würzburg 2004. Jörg Opitz: Die Gesellschaft „Deutscher Staat“. Akademiker im Banne des Konservatismus, Magisterarbeit Jena 1997 (MS).

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er 1921 maßgeblich betrieb.38 Beide arbeiteten auch mit rechtsradikalen Verlagen und Zeitschriften wie dem Münchner Lehmanns Verlag und der dort erscheinenden Monatsschrift „Deutschlands Erneuerung“ zusammen.39 Als Rektor der Jenaer Universität (April 1922 bis März 1923) wurde Bauch zu einem unmittelbaren Gegenspieler Greils. Die Gruppe um Bauch und Wundt bekämpfte schon aus weltanschaulich-politischen Gründen dessen linksrepublikanische Reformpolitik. Das geschah aber auch aus wissenschafts- und universitätspolitischen Gründen. Mehrten sich doch seit 1918 die Sezessionstendenzen, vor allem das Bestreben mathematisch-naturwissenschaftlicher und wirtschaftswissenschaftlicher Fächer, sich aus dem Verbund der Philosophischen Fakultät zu lösen. Greils Reformpolitik gab dem ebenso Auftrieb wie dem Bestreben, neue pädagogische und sozialwissenschaftliche Fachgebiete einzurichten. Das bedrohte die dominante Stellung der Philosophischen Fakultät und minderte den Einfluss der Philosophie. Dabei ging es nicht nur um ideelle Fragen, sondern auch um Status, Prestige, Macht, Einfluss und Hegemonie. Bauch, Wundt und ihre Gesinnungsgenossen bemühten sich nach Kräften, die Sezessions- und Ausbautendenzen zu unterbinden. Als Gralshüter der „deutschen Universitätsidee“ und ihrer philosophisch verbürgten „universitas li[t]terarum“40 beschworen sie Jenas Tradition als „philosophische Universität“,41 die nicht preisgegeben werden dürfe. Und sie waren bestrebt, neue Lehrstellen und Fächer, wenn sie sich schon nicht verhindern ließen, philosophisch-geisteswissenschaftlich auszurichten. Gegen Kandidaten, die das zu verbürgen schienen, hatten sie nichts einzuwenden, wohl aber gegen jene, die sich von der Philosophie emanzipierten, eigene Wege gingen, neue Ideen vertraten, republikanischen Parteien angehörten oder Außenseiter ohne den gewohnten akademischen Habitus waren. Auf entsprechende Berufungsabsichten reagierten sie und andere betroffene Fächer mit eigenen Listen, um die Ziele und Vorschläge des Ministeriums zu unterlaufen oder mit offener Obstruktion. Wenn solche Kandidaten gegen ihren Willen oder gar auf Initiative des Ministeriums berufen wurden, dann pochten sie auf universitäre Rechte und appellierten an den akademischen „Korpsgeist“, um sich Rückhalt zu verschaffen. Das fand durchaus 38

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Justus H. Ulbricht: „Goethe-Schiller-Universität Jena-Weimar“? Die Salana im politischintellektuellen Netzwerk der Doppelstadt – eine Skizze, in: Hoßfeld u.a.: „Wissenschaft“ (wie Anm. 27), S. 321–360, hier S. 327; vgl. auch Manfred Riedel: Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig 1997; Erhard Naake: Nietzsche in Weimar. Werk und Wirkung im 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000. Vgl. Anm. 30 u. 35 sowie Vierzig Jahre Dienst am Deutschtum 1890–1930, J. F. Lehmanns Verlag München 1930; Sigrid Stöckel (Hg.): Die „rechte Nation“ und ihre Verleger. Politik und Popularisierung im J. F. Lehmanns Verlag 1890–1979, Berlin 2002. Wundt: Sinn (wie Anm. 30); zum Diskurs-Kontext vgl. Sylvia Paletschek: Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 183–205; Jürgen John: „Not deutscher Wissenschaft“? Hochschulwandel, Universitätsidee und akademischer Krisendiskurs in der Weimarer Republik, in: Michael Grüttner u.a. (Hg.): Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 107–140. UAJ, Best. BA, Nr. 1350 (Schreiben Bauch und Wundt v. 29. 6. 1921 an Weinel, Abschrift); Bauch: Jena (wie Anm. 30); Max Wundt: Die Philosophie an der Universität Jena in ihrem geschichtlichen Verlaufe dargestellt, Jena 1932.

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Gehör. Auch andere Gruppen des universitären Establishments lehnten aus Solidarität, Standesdünkel, Besitzstand-Denken oder weltanschaulich-politischen Gründen Greils Maßnahmen als unberechtigte Eingriffe „störender Außengewalten“ in die akademische Gemeinschaft und Selbstverwaltung ab.42 Greil und Schaxel reagierten mit Alleingängen und reglementierenden Maßnahmen, die der universitären Seite als „Maulkorbverfahren“ und „Präventivzensur“ erschienen.43 So spitzte sich das stets heikle Verhältnis von Hochschule und staatlicher Verwaltung44 in Greils Amtszeit drastisch zu. Dabei handelten beide Seiten politisch. Greil erklärte Ende Oktober 1923, er lasse sich bei seiner Berufungspolitik ganz bewusst auch von „politischen Gesichtspunkten“ leiten, um Gegengewichte gegen „reaktionäre Elemente an der Universität“ zu schaffen.45 Die Universitätsvertreter entrüsteten sich zwar darüber. Das trage die Politik in die Universität. Sie selbst aber ließen schon längst keine Gelegenheit mehr aus, Öffentlichkeit, Parteien, Landtag, Presse, Studentenschaft und Hochschulverband gegen Greils Hochschulpolitik zu mobilisieren. Ihr „traditioneller Korpsgeist“ – schrieb ein davon Betroffener – gebe sich zwar „unpolitisch“. Er sei aber tatsächlich „national“ ausgerichtet und wende sich gegen alles, was irgend als „links“ gelte.46 Wie der „Bauhaus-Streit“ erregte dieser „Thüringer Hochschulkonflikt“ reichsweites Aufsehen. Zudem überschnitt er sich mit der Reichskrise Ende 1923 und mit den Reichsmaßnahmen gegen die Landesregierungen in Sachsen und Thüringen, die im Oktober 1923 Koalitionen mit der KPD eingingen. Vom 6. bis 8. November ließ die Reichsregierung Thüringen von Reichswehrtruppen besetzen. Das Land befand sich im Ausnahmezustand. Die KPD-Minister – darunter der Justizminister und Jenaer Universitätsprofessor Karl Korsch – traten am 12. November aus der Regierung aus und gingen in die Illegalität. Die Rumpfregierung Frölich-Greil erklärte am 7. Dezember ihren Rücktritt. Sie amtierte nur geschäftsführend und stand gleichsam unter Reichskuratel. Aus den vorgezogenen Landtagswahlen (10. Februar) ging am 21. Februar 1924 eine von der völkischnationalsozialistischen Landtagsfraktion tolerierte Thüringer „Ordnungsbund“-Regierung (DVP, DNVP, ThLB) unter Vorsitz Richard Leutheußers (DVP) hervor. Sie revidierte viele Maßnahmen Greils und verdrängte seine Vertrauten aus dem Ministerium. Schaxel wurde in den Wartestand, Kühnert an ein Gymnasium in Rudolstadt 42

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UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 74r–76v, 91r (Schreiben des Rektors Henkel v. 8./23.10.1923 an Greil); das Bild der „störenden Außengewalten“ verwendete der Wirtschaftsrechtler und Prorektor Justus Wilhelm Hedemann in seiner Immatrikulationsrede v. 3.5.1919 – vgl. JUZ 2 (SS 1919), Nr. 2 (9.5.1919), S. 65; Rektoren in der Amtszeit Greils waren (jeweils vom 1.4. bis zum 31.3. des folgenden Jahres) der Theologe Heinrich Weinel (1921/22), der Philosoph Bruno Bauch (1922/23) u. der Mediziner Max Henkel (1923/24), PhF-Dekane der Agrarwissenschaftler Wilhelm Edler (1921/22), der Historiker Alexander Cartellieri (1922, Rücktritt), der Mathematiker Robert Haußner (1922/1923) und der Altertumswissenschaftler Walther Heinrich Judeich (1923/24). UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 97r, 98r (Protokoll einer Aussprache von Universitäts- und Regierungsvertretern am 26.10.1923). Günther Grünthal: Hochschulautonomie und Verwaltung in historischer Sicht, in: Ramona Myrrhe (Hg.): Geschichte als Beruf. Demokratie und Diktatur. Protestantismus und politische Kultur, Halle 2005, S. 149–160. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 96r (Greil in der Aussprache am 26.10.1923). Wilhelm Peters: Thüringer Universitätspolitik, in: Berliner Tageblatt v. 24.10.1923.

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versetzt. Leutheußer schloss die Volksbildungs- und Justizressorts wieder zu einem Ministerium für Volksbildung und Justiz zusammen, das er über das Ende der „Ordnungsbund-“ Regierung (April 1927) hinaus bis November 1928 leitete. Mit seinem Ausscheiden wurden die beiden Ressorts wieder getrennt. Als sein Nachfolger übernahm Arnold Paulssen (DDP) bis Januar 1930 das – nun wieder – Ministerium für Volksbildung. Wie unter den Zeitgenossen ist Greils Hochschulpolitik auch historiographisch umstritten. Er wird zwar durchweg als linker Reformpolitiker gekennzeichnet, oft aber geringschätzig behandelt. Bis heute hält sich das Negativbild einer wenig durchdachten, systematisch universitäre Rechte verletzenden Politik eines ins Ministeramt geratenen unbedarften Volksschullehrers. Umso berechtigter sei der „Kampf der Jenaer Universität mit dem Ministerium Greil“ gewesen.47 Dieses Bild ist unzutreffend. Die Quellen zeigen eine konzeptionell wohl durchdachte, engagierte und anfangs maßvolle Struktur-, Wissenschafts-, Berufungs- und Zulassungspolitik, die in bestimmten Grenzen Neues schuf. Sie unterstützte aus der Universität selbst kommende Umgestaltungskonzepte und wollte ihrerseits mit neuen Fächern, Professoren und Studentengruppen einen wissenschaftlich und politisch „neuen Geist“48 an die Universität bringen. Buchwald beschrieb Greil rückblickend als einen eher besonnen Handelnden,49 den Pressekampagnen, universitäre Abwehrhaltung und akademischer Dünkel allerdings zunehmend frustrierten und verbitterten.50 Das gilt auch für Schaxel, der in einem solchen Maße in Konflikte mit der Universität geriet, dass der Senat am 15. Dezember 1923 den Dienstverkehr mit ihm verweigerte und der in seiner Autobiographie schrieb, er habe damals in Thüringen „mit dem Mute der Verzweiflung [. . . ] auf dem verlorenen Posten der Hochschulreform“ gekämpft, sei aber ein „General ohne Armee“ geblieben, „umgeben von verlogenen Saboteuren und offenen Gegnern“.51 Um überhaupt etwas erreichen zu können, griffen beide 47

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Rudolf Hübner: Der Kampf der Universität Jena mit dem Ministerium Greil. Ein Rückblick, in: MVDH 4 (1924); Hf. 2, S. 26–33 (Referat auf der eigens nach Jena einberufenen Tagung des Hauptausschusses des VDH am 13./14.3.1924); vgl. auch UAJ, Best. V, Abt. I (NL Hübner), Nr. 1 („Der Thüringer Hochschulkonflikt“) u. Anm. 140; mit dieser Interpretation beschreibt Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2) die universitären Berufungsstrategien; im Gegensatz zu den übrigen universitären Protagonisten des „Kampfes mit dem Ministerium Greil“ stand Hübner aber auf republikanischen Positionen – vgl. Anm. 373, 375. G. Mamlock: Lehrfreiheit. Zum Jenaer Universitätskonflikt, in: Berliner Tageblatt v. 12.12.1923: Es schade nichts, wenn auch mal ein „neuer Geist“ in die Universität einziehe, auch wenn man die dabei angewandten Mittel missbillige. Buchwald: Geschichte (wie Anm. 26), S. 325. In der den Konflikt dämpfend gedachten, tatsächlich eskalierenden Aussprache am 26.10.1923 erklärte Rektor Henkel, der Minister sei ja „aus einem ganz anders gearteten Entwicklungskreise hervorgegangen“ und stünde deshalb „der akademischen Einstellung fremd gegenüber“; Greil reagierte scharf: er „müsse es sich verbitten, daß ihm seine nicht-akademische Bildung vorgeworfen werde“ – UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 95r, 96r; in der Pressekampagne war von „Greil’scher Diktatur“ (ThAZ v. 14.10.1923), „Terror gegen die Landesuniversität“ (UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 112r, Pressemeldung November 1923), „Greils Regiment“ (JZ v. 6.12.1923) sowie von „diktatorischen Maßnahmen des Ministers Greil“ (UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 28r+v, Senatsbeschluss und Presseerklärung 15.12.1923) die Rede. Julius Schaxel: Autobiographie (MS), S. 28; Schaxel (vgl. Anm. 24) schrieb diese Autobiographie 1938 im Exil im Gefängnis des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes; zum erwähnten

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zu umstrittenen, oft recht fragwürdigen und geltendes Hochschulrecht verletzenden Methoden. Die nötige Kritik an solchen Methoden muss aber auch die Kritik am Verhalten jener universitären Gruppen einschließen, die das Hochschulrecht für ihre Zwecke missbrauchten. Und sie darf nicht den Blick dafür verstellen, dass die „Ära Greil“ ein markantes Beispiel für die „Reformpraxis der Deutschen Republik“ und für jene Innovationskultur darstellt, die die Zeit der Weimarer Republik allen wohlfeilen Deutungsmustern permanenter „Krise“ und „Not“ zum Trotz kulturell und wissenschaftlich so faszinierend erscheinen lässt.52 Die Liste der in Greils Amtszeit an die Jenaer Universität berufenen prominenten Wissenschaftler ist beachtlich. Auf den universitären Gegenlisten stand kein einziger wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamer Name. Greils Berufungspolitik brachte erstmals Frauen in den Jenaer Lehrkörper. Das geistige Klima an den unter Greil neu geschaffenen Strukturen unterschied sich deutlich von den meisten anderen. Es war kein Zufall, dass sich an der Psychologischen Anstalt des Sozialdemokraten Peters mit Annelies Argelander 1926/27 erstmals eine Frau in Jena habilitieren konnte. Das blieb allerdings – bezeichnend für das ansonsten eher Frauen abweisende Klima – die einzige Jenaer Frauen-Habilitation der Weimarer Zeit.53 Mit dem Psychologen Wilhelm Peters und dem Naturheilkundler Emil Klein berief Greil zwei Hochschullehrer jüdischer Herkunft. Davon gab es in Jena wie an den meisten deutschen Universitäten nur sehr wenige. Vordergründig ging es beim „Thüringer Hochschulkonflikt“ um Hochschulrecht und Hochschulautonomie, im tieferen Sinne aber um geistige, weltanschaulich-politische und wissenschaftspolitische Gegensätze, Richtungskämpfe und Berufungskonflikte. Berufungskonflikte 1922/23 Einen Vorgeschmack gab Anfang 1922 der „Fall Grisebach“, als vier Professoren der Philosophischen Fakultät den Antrag stellten, den Kulturphilosophen, Privatdozenten und Eucken-Schüler Eberhard Grisebach zum außerordentlichen Professor zu ernennen. Dagegen mobilisierten Bauch und Wundt die Fakultätsmehrheit und verschickten diffamierende Rundschreiben. Die Gründe: Grisebach war Geschäftsführer des Jenaer Kunstvereins, ein Förderer moderner Kunst und damit „Außenseiter“. Er schuf eine „kritische Philosophie“ als Basis späterer Konfliktpädagogik und Friedensforschung, galt als republikanisch gesinnt, hatte sich mit Eucken überworfen und war 1919 maßgeblich an der Gründung der Philosophischen Gesellschaft in Jena in Kontrast zu der von Bauch und Wundt dominierten Deutschen Philosophischen Gesellschaft

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Senatsbeschluss und zum gesamten „Fall Schaxel“ vgl. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 149r; ThHStAW PABV 27428 (PA Schaxel); John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 355–357. Konrad Haenisch: Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der deutschen Republik, Stuttgart/Leipzig 1921; Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a.M./New York 2005; John: Not (wie Anm. 40). Stefanie Marggraf: Sonderkonditionen. Habilitationen von Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus an den Universitäten Berlin und Jena, in: Feministische Studien. Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung 1 (2002), S. 40–56.

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beteiligt.54 Mit seinen beliebten Kollegs stellte er eine lästige Konkurrenz dar. Und er gehörte zu den Protagonisten der um ihre Gleichberechtigung kämpfenden Jenaer „Nichtordinarien“. Greil setzte sich über das ablehnende Mehrheitsvotum der Philosophischen Fakultät hinweg und ernannte Grisebach im Antragssinne. Während die Fakultätsmehrheit die Hochschulautonomie bedroht sah, beklagte der Dekan Alexander Cartellieri – ein Historiker – den „Ordinarienwahn“ seiner Kollegen. Er appellierte an den Rektor, die Fakultätsbeschlüsse nicht auszuführen und trat schließlich aus Protest gegen das Verhalten seiner Kollegen als Dekan zurück.55 Der „Fall Grisebach“ überschnitt sich mit konfliktträchtigen Absichten, die Fächer Soziologie und Psychologie zu etablieren, mit denen Jena reichsweit zu einem Schwerpunkt solcher Anstöße wurde.56 Die Soziologie-Initiativen erhielten vom Dritten Deutschen Soziologentag 1922 in Jena Auftrieb.57 Sie führten 1922/23 zur Gründung eines Soziologischen Seminars unter Franz Jerusalem – einem weiteren Vertreter der Jenaer „Nichtordinarienbewegung“ – und zur Berufung des Juristen, Sozialphilosophen und „kritischen Marxisten“ Karl Korsch.58 Die Psychologie-Frage verband sich mit den Debatten um die „Neuordnung der Lehrerbildung“. Sie floss so in den Streit um die pädagogischen Stellen ein. Schon Greils Amtsvorgänger Paulssen sondierte 1921 Möglichkeiten, mit der universitären Ausbildung von Volksschullehrern zu beginnen. Wie in den meisten Philosophischen Fakultäten verhielten 54

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UAJ, Best. D, Nr. 9671 (PA Grisebach); Dahms: Philosophen (wie Anm. 27), S. 733f.; Eberhard Grisebach: Konfliktpädagogik als Friedensforschung (Texte aus dem Nachlaß), hg. von Michael Freyer, Rheinstetten 1978; Klaus-Michael Kodalle: Krise und Kritik: Eberhard Grisebachs nachmetaphysische Ethik, in: ders.: Angst (wie Anm. 36), S. 183–198; Käte Meyer-Drawe/Katharina Schmidt: Eberhard Grisebach: Eine Pädagogik der Endlichkeit, ebd., S. 199–210; Volker Wahl: Jena als Kunststadt. Begegnungen mit der modernen Kunst in der thüringischen Universitätsstadt zwischen 1900 und 1933, Leipzig 1988, S. 30–32; Grisebach nahm 1931 einen Ruf nach Zürich an; 1926 gehörte Grisebach zu den Teilnehmern der Weimarer Tagung verfassungstreuer Hochschullehrer – vgl. Anm. 373. ThULB, HSA, NL Alexander Cartellieri, Nr. 1, Kasten 5: Tagebücher 1918–1922, Einträge v. 14. und 21.5.1922; UAJ, Best. BA, Nr. 928, Bl. 175r (Schreiben v. 17.5.1922 an Cartellieri); vgl. auch Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland, Frankfurt a.M. 2001; ausführlich zum „Fall Grisebach“ vgl. Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 130–136. John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 324–329, 336–338; Erhard Stölting: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986; Mitchell G. Ash/Ulfried Geuter (Hg.): Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, Opladen 1985, S. 45– 82, insb. S. 58–62. Verhandlungen des Dritten Deutschen Soziologentages am 24. und 25. September 1922 in Jena. Reden und Vorträge von Ferdinand Tönnies, Leopold von Wiese, Ludo Moritz Hartmann und Debatten über Das Wesen der Revolution, Tübingen 1923; Silke van Dyk/Stephan Lessenich (Hg.): Jena und die deutsche Soziologie. Der Soziologentag 1922 und das Soziologentreffen 1934 in der Retrospektive, Frankfurt a.M./New York (2008), mit einem Reprint des Verhandlungsprotokolls. Michael Buckmiller: Marxismus als Realität. Zur Rekonstruktion der theoretischen und politischen Entwicklung von Karl Korsch, in: Claudio Pozzoli (Hg.): Jahrbuch Arbeiterbewegung, Bd. 1: Über Karl Korsch, Frankfurt a.M. 1973, S. 15–85; Michael Buckmiller/Michel Prat/Meike G. Werner (Hg.): Karl Korsch. Briefe 1908–1939 (Karl Korsch Gesamtausgabe 8), Amsterdam 2001, S. 19–21, 283–312; Matthias Steinbach: „Das verschlossene Tor der Universität“. Karl Korsch (1886–1961), in: ders./Michael Ploenus (Hg.): Ketzer, Käuze, Querulanten. Außenseiter im universitären Milieu, Jena 2008, S. 288–299.

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sich auch Jenas Fakultätsvertreter seit 1919 sehr reserviert gegenüber solchen Plänen, zeigten sich nun aber verhandlungsbereit. Sie verlangten ein drei- statt nur – wie von der Regierung vorgesehen – zweijähriges Studium der theoretischen Fächer und eine entsprechend kürzere praktische Ausbildungszeit. Auch reiche Reins Pädagogikprofessur für die Lehrerbildung nicht aus. Man brauche zwei neue Lehrstühle für Geschichte der Pädagogik und für experimentelle Psychologie.59 Daran konnte das Ministerium Greil anknüpfen, das die Lehrerbildungsfrage zur Chefsache machte, sie mehrfach mit Vertretern der Universität beriet und von ihr entsprechende Leitsätze (Wilhelm Rein) und Denkschriften (Herman Nohl, bis 1920 Jena, dann Göttingen) vorgelegt bekam.60 Mit dem Lehrerbildungsgesetz vom 8. Juli 1922 beschloss der Landtag zwei neue Lehrstellen für praktische Pädagogik und experimentelle Psychologie. Sie sollten möglichst im Konsens mit der Universität eingerichtet werden. Doch ließ das Ministerium keinen Zweifel, dass es die neuen Stellen und Reins frei werdendes Ordinariat mit Personen besetzen wollte, die für Schul- und Lehrerbildungsreformen sowie für moderne pädagogische und sozialwissenschaftliche Methoden aufgeschlossen waren. Dem widersetzte sich nun die Philosophische Fakultät, obwohl ihre Vertreter 1921 einen solchen Psychologie-Lehrstuhl für nötig hielten. Sie wollte die experimentellen Tendenzen gering halten, diese Stellen philosophisch ausrichten, gegen reformpädagogische Ideen absichern und die von den Namen Stoy und Rein repräsentierte Jenaer Herbartianismus-Tradition61 wahren. Dafür schlug die Fakultät Reins Schwiegersohn Georg Weiß als pädagogischen Praktiker vor, der seit 1920 wieder als Lehrer an Reins Übungsschule unterrichtete und 1921 eine nicht besoldete Professur für systematische Pädagogik erhielt.62 Das berufungspolitische Tauziehen zog sich monatelang hin, bis Greil am 4. April 1923 der Fakultät mitteilte, er wolle zwei Lehrstellen dem Mannheimer Psychologen Wilhelm Peters und einem Wiener Pädagogen anbieten. Über die dritte Stelle werde später entschieden.63

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UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 65r, 67r, 74v; zur Vorgeschichte der 1912 in ein persönliches, 1920 in ein etatmäßiges Ordinariat umgewandelten Reinschen Professur vgl. UAJ, Best. C, Nr. 475; Best. BA, Nr. 925; Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 115–118; bis 1918 verfügten nur die Universitäten Wien, München, Jena und die 1914 gegründete Universität Frankfurt a.M. über pädagogische Professuren – vgl. Peter Petersen: Pädagogische Professuren an deutschen Hochschulen (1918), in: ders.: Innere Schulreform (wie Anm. 9), S. 22–31; Eva Matthes: Die Pädagogik konstituiert sich als universitäres Fach, in: Uwe Sandfuchs/Jörg-W. Link/Andreas Klinkhardt (Hg.): Verlag Julius Klinkhardt 1834–2009. Verlegerisches Handeln zwischen Pädagogik, Politik und Ökonomie, Bad Heilbrunn 2009, S. 81–94. UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 74r–75v, 79r+v, 86r–91v. Georg Weiss: Herbart und seine Schule (= Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen VIII. Die Philosophie der neueren Zeit II/35), München 1928; ders.: Wilhelm Rein 1847–1929, in: Günther Franz (Hg.): Thüringer Erzieher, Köln/Graz 1966, S. 283–299; Rotraud Coriand/Michael Winkler (Hg.): Der Herbartianismus – die vergessene Wissenschaftsgeschichte, Weinheim 1998. ThHStAW, PABV 33305 (PA Weiß); UAJ, Best. D, Nr. 3199 (PA Weiß); Best. BA, Nr. 928, Bl. 25r–32r; Michael Koch/Matthias Schwarzkopf: Pädagogische Konzepte der Jenaer Erziehungswissenschaft in der NS-Zeit, in: Hoßfeld u.a.: „Wissenschaft“ (wie Anm. 27), S. 772–793, hier S. 774–776. UAJ, Best. BA, Nr. 928, Bl. 292r.

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Peters kam Greils Absichten sehr nahe. Er setzte sich für die Hochschulausbildung aller Lehrer ein64 und stand für eine experimentell-pädagogisch ausgerichtete Psychologie. Außerdem war er Sozialdemokrat und jüdischer Herkunft. Damit widersprach er in jeder Hinsicht den Vorstellungen der Fakultätsmehrheit. Deren Widerstände schlossen gezielte Indiskretionen und eine regelrechte Presse- und Rufmordkampagne gegen Peters und Greil ein. Rektor und Senat stellten sich hinter die Fakultät. Das veranlasste Greil zu Eingriffen in das Universitätsstatut65 und Schaxel, am 14. April 1923 im Haushaltsausschuss des Landtages zu erklären, die Universität müsse „von Grund auf erneuert“ werden.66 Gegen den universitären Widerstand ernannte Greil im Mai 1923 Peters zum ordentlichen Professor für Psychologie.67 Außerdem kündigte er an, das Universitätsstatut ändern zu lassen, um „für die Ausgestaltung des erziehungswissenschaftlichen Faches an der Universität“ auch nicht habilitierten, „im Schuldienst stehende[n], gereifte[n] und erfahrene[n] Persönlichkeiten“ nebenberuflich die Lehrbefugnis an der Universität erteilen zu können.68 In diesem Sinne ernannte die Staatsregierung dann im August/September 1923 die Pädagogen Anna Siemsen, Reinhard Strecker und Otto Scheibner zu Oberschulbeziehungsweise Oberstudienräten im Thüringer Staatsdienst und zu Honorarprofessoren mit erziehungswissenschaftlicher Lehrbefugnis an der Jenaer Universität.69 Das dürfte den universitären Unmut gegen Greil weiter gesteigert haben. Alle drei waren akademische Außenseiter, Anna Siemsen zudem eine bekannte Sozialistin und Mitglied des Bundes entschiedener Schulreformer. Strecker kam aus dem hessischen, Scheibner aus dem sächsischen Schuldienst. Scheibner war in Leipzig Volksschullehrer und Seminarleiter gewesen, nicht promoviert und zudem mit Peters befreundet. 64 65

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Wilhelm Peters: Die Gestaltung der Lehrerbildung an der Hochschule, Langensalza 1921. Er ordnete an, die PhF habe bis auf Weiteres alle amtlichen Schreiben vor ihrer Herausgabe dem Rektor und Senat zur Einsicht vorzulegen und hob den § 13/1 des Universitätsstatuts auf, wonach ein von der Regierung für eine Lehrstelle ausgewählter Universitätslehrer noch förmlich von der Universität zu berufen sei; künftig sei der Berufungsvorgang mit der Ernennung durch das Ministerium abgeschlossen. UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 54r–56r (Bericht über die Ausschuss-Sitzung), Zit. Bl. 56r. UAJ, Best. D, Nr. 2246 (PA Peters); Georg Eckhardt: Die Gründung der Psychologischen Anstalt in Jena (1923), in: WZUJ GSR 23 (1973), S. 517–559; ders.: Der schwere Weg der Institutionalisierung – Wilhelm Peters, in: ders. (Hg.): Psychologie vor Ort – ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Entwicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 303–335; Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 139–147. UAJ, Best. BA, Nr. 92, Bl. 205r (Schreiben Greils v. 15.5.1923 an Rektor und Senat). ThHStAW, PABV 26674 (PA Siemsen), 30696 (PA Strecker), 27480 (PA Scheibner); UAJ, Best. D, Nr. 2738 (PA Siemsen), Nr. 2832 (PA Strecker), Nr. 2503 (PA Scheibner); Inge HansenSchaberg: Anna Siemsen (1882–1951). Leben und Werk einer sozialistischen Pädagogin, in: Horn: Töchter (wie Anm. 6), S. 113–136; Cornelia Amlacher: Anna Siemsen – eine Sozialistin zwischen den Stühlen, in: Horn: Entwurf (wie Anm. 6), S. 267–286; Bärbel Steinhöfel: Zu den pädagogischen und schulpolitischen Auffassungen des Reformpädagogen Otto Scheibner (1877–1961), Diss. Päd. Leipzig 1992 (MS); Albert Reble: Otto Scheibner (1877–1961), in: Jürgen Kiefer/Werner Köhler (Hg.): Jenaer Universitätslehrer als Mitglieder der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Beiträge zum Leben und Werk, 1. Lieferung, Erfurt 1995, S. 135–139; Scheibner war Schüler Hugo Gaudigs u. Wilhelm Wundts sowie Mitherausgeber der ZpP und der Zeitschrift „Die Arbeitsschule“.

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Dass er die „Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik“ mit herausgab und ein führender Vertreter der Arbeitsschulpädagogik war, dürfte an der Jenaer Universität auch nicht gerade Sympathien für ihn ausgelöst haben. PETERSENS BERUFUNG Diese Vorgänge gingen der Berufung Petersens unmittelbar voraus. Wie und wann sich Greil für Petersen entschied, ist unklar. Doch wählte er ihn offenkundig als schulerfahrenen Reformpädagogen aus, der in „Gemeinschaftsschule“ und vollakademischer Lehrerbildung „Wege zur neuen Schule des deutschen Volkes“ sah.70 Als aktives Mitglied des Bundes für Schulreform (seit 1915 Deutscher Bund für Erziehung und Unterricht),71 Gymnasiallehrer und Leiter der ersten Reformoberschule Hamburgs (seit 1921 Lichtwarkschule) hatte Petersen reichlich Erfahrungen als Schulpraktiker wie als Reformpädagoge sammeln können, die er auf der Reichsschulkonferenz 1920 und mit seinen Schriften über die Hamburger Reformschulen publik machte.72 Damit passte Petersen zu Greils reformorientierter Bildungs- und Berufungspolitik. Mit seinem bisherigen wissenschaftlichen Werdegang war er aber auch für Greils Widersacher akzeptabel. So konnte Greil in diesem Falle einen Konflikt mit der Philosophischen Fakultät vermeiden. Petersen hatte 1908 in Jena extern bei Eucken mit einer Arbeit über seinen Leipziger Lehrer Wilhelm Wundt promoviert; 1920 habilitierte er sich an der neu gegründeten Hamburger Universität mit einer Studie

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Peter Petersen: Der Weg zur neuen Schule des deutschen Volkes (1920), in: ders.: Innere Schulreform (wie Anm. 9), S. 16–21; vgl. auch Hein Retter: Der Reformpädagoge Peter Petersen (1884–1952). Zur Durchsetzung seiner Schul- und Lehrerbildungskonzeption in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: ZfP 41 (1995), S. 205–223; ders.: Peter Petersens Konzeption von Schule und Lehrerbildung im Wechsel der politischen Systeme, in: ders. (Hg.): Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Beiträge zur Pädagogik Peter Petersens, Weinheim 1996, S. 105–160. Petersen wurde – nach eigenen Angaben 1912 – als Schriftführer in den Vorstand des 1908 bis 1910 gegründeten Bundes gewählt und gehörte der Hamburger Ortsgruppe an, die seit 1915 de facto die Bundesgeschäfte führte – vgl. Der Deutsche Bund für Erziehung und Unterricht 1908– 1916 (Zweite Flugschrift), (Hamburg) 1917, S. 36f; Petersen: Innere Schulreform (wie Anm. 9), S. III; Peter Dudek: Der Bund für Schulreform, in: ders.: Jugend als Objekt der Wissenschaft. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890–1933, Opladen 1990, S. 100–115; zu Petersens Biographie bis 1923 vgl. aus der Fülle der Literatur die in Anm. 2 genannten Titel; der Text von Heinrich Döpp-Vorwald: Peter Petersen 1884–1952, in: Franz: Erzieher (wie Anm. 61), S. 365–412 ist als Beispiel einer unkritisch-apologetischen Schrift eines Petersen-Schülers aufschlussreich. Reichsschulkonferenz (wie Anm. 1), S. 701; Petersen: Schulreform (wie Anm. 9), S. 151–229; vgl. auch Thomas Alexander/Beryl Parker: The New Education in the German Republic, New York 1929, die die Lichtwarkschule als „child of the war and revolution“ und als „pioneer in secondary education“ (S. 156) charakterisierten sowie Klaus Rödler: Auf der Suche nach einer freien Gesellschaft. Die Hamburger Gemeinschaftsschulen 1919–1933, in: Heike Neuhäuser/Tobias Rülcker (Hg.): Demokratische Reformpädagogik (= Berliner Beiträge zur Pädagogik 2), Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 63–88.

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zur Geschichte der aristotelischen Philosophie.73 Beides empfahl ihn aus Fakultätssicht für eine „vorwiegend theoretisch und philosophisch-historisch“ ausgerichtete Professur. Petersens Engagement für Schul- und Lehrerbildungsreformen überging man. Entsprechende Schriften wurden als „populär“ abgetan. Das stellte sich dann freilich bald als Fehleinschätzung heraus. Denn der so nach Jena Berufene agierte fortan in einer ganz anderen Rolle als der von der Fakultätsmehrheit erwarteten. Mit Petersen kam 1923 erstmals in Deutschland ein Protagonist der SchulreformBewegung auf einen universitären Pädagogik-Lehrstuhl, der mit seinen erziehungswissenschaftlichen und schulpolitischen Konzepten das öffentliche Schulwesen verändern wollte und seit 1924 selbst einen Schulversuch unternahm. Dafür wandelte er Reins Pädagogisches Seminar in eine Erziehungswissenschaftliche Anstalt (EA) und dessen Übungsschule zur Universitätsschule um. Seine dem „pädagogischen Aufbruch“ nach 1918 entstammenden programmatischen Texte über den „Weg zur neuen Schule“ (1920) und über die Hamburger Reformschulen (1920/23) sowie seine Jenaer Antrittsvorlesung über den „Bildungsweg des neuen Erziehers auf der Hochschule“ (1923) erwiesen sich dabei als richtungweisend.74 Mit dem „Jenaplan“ und der „pädagogischen Tatsachenforschung“ schuf Petersen Konzepte, die Maßstäbe setzten, bis heute Impulse geben und markante Beispiele für die Innovationskultur der Weimarer Republik darstellen.75 Damit wirkte ein Pädagoge als Nachfolger des Herbartianers Wilhelm Rein, der maßgeblich dazu beitragen wollte, eine von der Philosophie emanzipierte – wie er es nannte – „realistische Erziehungswissenschaft“ zu etablieren. Nicht zufällig veröffentlichte Petersen seine Antrittsvorlesung und seine Ansprache zur EA-Eröffnung am 14. Mai 1924 zuerst in der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik“.76 Hingegen erschien die Gegenschrift zu Petersens Kritik an Reins Übungsschule in der „Vierteljahrsschrift für philosophische Pädagogik“.77 „Die neue Lehrerbildung“ – erklärte Petersen in seiner Ansprache am 14. Mai 1924 – erfordere „eine allseitig und tiefgründig durchforschte und ausgebaute Erziehungswissenschaft“, die sich mit den Ergebnissen und Methoden der „reich entfalteten jungen Sozialwissenschaften“ ernstlich auseinandersetzen müsse.78 73

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Peter Petersen: Der Entwicklungsgedanke in der Philosophie Wundts. Zugleich ein Beitrag zur Methode der Kulturgeschichte, Leipzig 1908; ders.: Die Geschichte der Aristotelischen Philosophie im protestantischen Deutschland, Leipzig 1921; vgl. auch ders.: Wilhelm Wundt und seine Zeit, Stuttgart 1925. Vgl. Anm. 9, 70 u. 72. Vgl. den Beitrag von Franz-Michael Konrad in diesem Band. Vgl. Anm. 9 sowie Peter Petersen: Die „Erziehungswissenschaftliche Anstalt der Thüringischen Landesuniversität“, in: ZpP 25 (1924), S. 305–320, Nachdr. in: Petersen: Schulreform (wie Anm. 9), S. 55–73; die ZpP wurde seit dem Zusammenlegen der beiden Zeitschriften für „pädagogische Psychologie“ und „experimentelle Pädagogik“ 1911 mit wechselndem Titel u.a. von Otto Scheibner (wie Anm. 69) herausgegeben. Professor Petersen=Jena und sein Angriff auf die Übungsschule des Pädagog. Universitäts=Seminars zu Jena (1886–1923), im Auftrag früherer Klassenlehrer hg. von Schulrat Scholz zu Hildburghausen, Sonderdruck aus Hf. 2 der Vierteljahrsschrift für philosophische Pädagogik 1926, Osterwieck 1926; sie wurde zuvor von Rein, nun von Weiß herausgegeben. Petersen: Anstalt (wie Anm. 76), S. 61, 63.

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Konzeptioneller Vorlauf: „Ein Volk, eine Schule, ein Lehrerstand!“ Die Reformen 1919/20 betrafen nur die Verfassung, nicht das Fakultäts- und Fächergefüge der Jenaer Universität. Das war in vieler Hinsicht veraltet, behinderte Neuansätze und ließ Jena hinter anderen Universitäten zurück bleiben. Deshalb wuchsen der Reformdruck, das Fusionsbedürfnis der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und das Sezessionsstreben mathematisch-naturwissenschaftlicher Fächer. Greil unterstützte das. So wurde die Juristische Fakultät 1923 recht konfliktfrei zu einer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät erweitert.79 Die Teilung der Philosophischen Fakultät stieß auf erheblich größere Widerstände. Das gefährde den „Geist der Universität“ und beschleunige ihren „Zerfall in Fachschulen“, warnte ein Gegengutachten.80 Doch war eine eigene Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät nicht mehr zu verhindern. Sie wurde 1924/25 nach Greils Amtszeit gegründet. Greil leistete diesen Vorgängen vor allem in der Absicht Vorschub, eine Erziehungswissenschaftliche Abteilung als Vorstufe einer eigenen Lehrerbildungsfakultät zu schaffen. Dafür gab es personellen, gesetzlichen und konzeptionellen Vorlauf. Personell standen die neu ernannten Professoren und Lehrbeauftragten zur Verfügung. Den reichs- und landesgesetzlichen Vorlauf schufen das Reichs-Grundschulgesetz vom 28. April 1920, das die für alle gemeinsame vierjährige Grundschule als „Teil der [achtjährigen] Volksschule“ und als „Grundstufe aller mittleren und höheren Schulstufen“ einführte sowie die Greilschen Schulgesetze 1922.81 Konzeptionell konnten Greil und sein Umfeld82 auf ihre schulreformerisch inspirierten Bildungskonzepte zurückgreifen. Alles was Greil plante und unternahm, diente – so Buchwald – der Idee der „Bildungseinheit“, einer „Volksgemeinschaft im Geiste“.83 Bildung war für Greil eine Frage sozialer Gerechtigkeit und sozialen Ausgleichs, „Volksbildung“ im weitesten Sinne, auf die sich auch die Hochschulen einzustellen hätten. Die „Bildungshöhe eines Volkes“ hänge von der „Leistungsfähigkeit der Volksschule“ ab. Deshalb müsse man die Volksschule aus ihrer „jetzigen Aschenbrödelstellung“ befreien, ihr Niveau heben und ihre Lehrer universitär ausbilden.84 Die Volksschule sei „Hauptsache“ und „Unterbau“ eines gestaffelten Bildungssystems mit den höheren Schulen und Univer79 80 81 82

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John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 345–347. UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 81r–82r (Sondergutachten Plate, Haußner, Bauch und Leitzmann v. 2.8.1924). RGBl 1920, S. 851; Anm. 10, 117 u. 119; die zitierten Definitionen entstammen den bei Eugen Löffler: Das öffentliche Bildungswesen in Deutschland, Berlin 1931, S. 8f. abgedruckten RMdIRichtlinien v. 28.4.1923. Zum schul- und hochschulpolitischen Mitwirkungs- und Beraterkreis Greils gehörte neben Schaxel, Kühnert und Buchwald (wie Anm. 24–26) auch der aus dem linken Gothaer Schulmilieu stammende Hermann Brill (USPD, dann SPD), der seit Oktober 1921 im Volksbildungsministerium tätig war, 1923 in das Innenministerium wechselte und von der Leutheußer-Regierung 1924 in den Wartestand versetzt wurde; völlig überzogen ist freilich das Urteil, dass Greil bloß „eine personale Verkörperung des Brillschen Programms“ gewesen sei – so Manfred Overesch: Hermann Brill in Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte 29), Bonn 1992, S. 69. Buchwald: Geschichte (wie Anm. 26), S. 323. Greil zur Begründung des Lehrerbildungsgesetzes – Stenographische Berichte des II. Thüringer Landtages von Thüringen, 80. Sitzung (24.5.1922), S. 2302, 2307.

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sitäten als Überbau, denen aber keine abgehobene „Sonderstellung“ zukomme.85 In diesem Sinne plante Greil nach dem Schulreformer-Motto „Ein Volk, eine Schule, ein Lehrerstand!“ die „Neugestaltung des gesamten Thüringer Schul- und Bildungswesens vom Kindergarten bis zur Universität im Sinne der Einheits-, Gemeinschaftsund Arbeitsschule, im Geiste der Gewissensfreiheit und Duldsamkeit, im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“ (Artikel 148 WRVf).86 Dem lag ein demokratisch-republikanisches „Volks“-Denken87 zugrunde, das vom „Volk“ als Souverän und Träger der Staatsgewalt – vom „Volksstaat“ – ausging und das die „Pflege des Volksgedankens zur Überbrückung innerpolitischer Gegensätze“88 für nötig hielt. Das war integrierend und versöhnend gedacht. Es schloss die Visionen einer republikanischen „neuen Volksgemeinschaft“, einer durch Bildung und „geistige Werte“ fundierten „Volks- und Reichseinheit“ und einer entsprechenden „Schule der Volks- und Kulturgemeinschaft“ ein.89 Solches Denken entsprach dem Verfassungsgebot, im „Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“ zu erziehen. Es war mit dem Bestreben, „Abneigung oder Haß gegen fremde Völker zum Bindemittel der eigenen Volksgemeinschaft zu machen“, unvereinbar.90 Damit stand es in diametralem Gegensatz zur aus- und abgrenzend gemeinten aggressiven „Volks“- und „Volksgemeinschafts“-Rhetorik der „völkischen Bewegung“ von rechts.91 Greils Grundsätze entsprachen sozialdemokratischer Bildungspolitik wie den Leitgedanken der Schulreformer, der Volkshochschul-Bewegung und der neu an die Jenaer Universität Berufenen. Nur die „einheitliche Gestaltung“ des Schulwesens und der Lehrerbildung könne den „großen Riß“ zwischen höheren Schulen und Volksschulen überwinden, schrieb der Sozialdemokrat Konrad Haenisch.92 „Einheitsschule“, 85 86 87

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Greil in der Aussprache mit Universitätsvertretern am 26.10.1923 – UAJ, Best. BA, Nr. 1859, Bl. 96r. Abl ThMfV 1 (1922), Nr. 1, Geleitwort Greils v. 1.1.1922. Christoph Gusy: Fragen an das „demokratische Denken“ in der Weimarer Republik, in: ders. (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik (= Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 16), Baden-Baden 2000, S. 635–663, hier S. 647–655; zum „Volks“-Begriff in den Weimarer Verfassungsdebatten vgl. Heiko Bollmeyer: Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik (= Historische Politikforschung 13), Frankfurt a.M./New York 2007, S. 150–153. Carl Heinrich Becker: Kulturpolitische Aufgaben des Reiches, Leipzig 1919, S. 48; vgl. auch Anm. 333. Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, Berlin (1919); Becker: Aufgaben (wie Anm. 88); Wilhelm Paulsen: Die Schule der Volks- und Kulturgemeinschaft, in: Heinrich Deiters (Hg.): Die Schule der Gemeinschaft, Leipzig (1925), S. 54–63; Deiters war SPD-Mitglied; Paulsen gab 1924–1926 zusammen mit Fritz Karsen die Zeitschrift „Lebensgemeinschaftsschule. Mitteilungsblatt der neuen Schulen“ heraus; zum damaligen Gebrauch der „Volks“-, „Gemeinschafts-“ und „Volksgemeinschafts-“ Begriffe von links bis rechts vgl. Michael Wildt: Die Ungleichheit des Volkes. „Volksgemeinschaft“ in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Frank Bajohr/Michael Wildt (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2009, S. 24–40. Haenisch: Bahnen (wie Anm. 52), S. 97; vgl. auch Anm. 218. Vgl. Anm. 29 und den Beitrag von Justus H. Ulbricht in diesem Band. Haenisch: Bahnen (wie Anm. 52), S. 35, 120; als preußischer Kultusminister (1919/21) hatte er 1919 dafür erste Schritte unternommen, um bereits im Schuldienst stehenden Volkschullehrern

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„Gemeinschaftsschule“ und entsprechende „Neuordnung der Lehrerbildung“ waren zentrale Forderungen der Schulreformbewegung,93 „Volkseinheit durch Bildung“94 , „geistige Arbeitsgemeinschaft aller Volkskreise“95 und entsprechendes Zusammenwirken von Schule, Universität und Volkshochschule96 Grundsätze der VolkshochschulBewegung. Wie Greil ging auch Petersen von einem dem Schulreformer-Motto „Ein Volk, eine Schule, ein Lehrerstand!“ entsprechenden „Volks-“ und „Gemeinschaftsdenken“ aus.97 Doch grenzte er schulische „Gemeinschaft“ von der „Gesellschaft“ ab und betonte die Differenz von „Volk“ und „Staat“, in dem er ein notwendiges Übel sah und dessen parlamentarischen Formen er skeptisch gegenüberstand.98 Petersen strebte eine „freie allgemeine Volksschule“99 als Schulwesen autonomer, nicht von Staat und politischen Parteien kontrollierter „Schulgemeinden“ an. Der für die „neue Schule des deutschen Volkes“ nötige „Bildungsweg“ aller Erzieher einschließlich der Volksschullehrer gehöre an die Universitäten, nicht an besondere pädagogische Hochschulen oder Akademien, wie sie Eduard Spranger (Berlin) empfahl.100 Dafür setzte sich Petersen schon seit seiner Wirkungszeit im Bund für Schulreform ein.101 Mit der „Neuordnung der Lehrerbildung“ – schrieb der Psychologe Wilhelm Peters – stehe und falle eine Schulreform: „Die neue Schule kann nur ein Werk des mit neuer Bildung erfüllten Lehrers sein, oder sie wird nicht sein.“102 Selbst Petersens Vorgänger Wilhelm Rein, der die Frage, ob die Universität die Ausbildung der Volks-

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ein universitäres Zusatzstudium zu ermöglichen – UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 79r (Abschrift der Verordnung v. 19.9.1919, die eine Protestswelle an den Universitäten auslöste). Johannes Tews: Ein Volk – eine Schule. Darstellung und Begründung der deutschen Einheitsschule, Osterwieck 1919; Deiters: Schule (wie Anm. 89); August Riekel: Die Probleme der Lehrerbildung. Gedanken und Vorschläge, Braunschweig 1925. Zit. nach Reimers: Richtung (wie Anm. 26), S. 20. Zur Volkshochschulfrage. Amtliche Schriftstücke, hg. v. (preußischen) Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Leipzig 1919, S. 7 (Erlass Haenischs v. 25.2.1919). Reinhard Buchwald: Der Lehrer als Volkserzieher, in: MEA 2 (1925), S. 3–8; Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft. Probleme einer Soziologie des Wissens, Leipzig 1926, Kapitel „Universität und Volkshochschule“, S. 489–537. Vgl. Anm. 1; Peter Petersen: Zehn Jahre Lebensgemeinschaftsschule (1919–1929), in: Die Volksschule 25 (1929), S. 129–139, 177–189; ders.: Das Gemeinschaftsleben der Jugend in der Schule, in: Deiters: Schule (wie Anm. 89), S. 90–105; zur zentralen Rolle des „Gemeinschafts“Denkens für Petersens Schulmodell vgl. Anm. 418, zur missdeutenden Interpretation als „totalitär“ Anm. 218 u. 229. Peter Petersen: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin/Leipzig 1924, S. 230–276 (Kapitel „Volk“); zu Petersens späterer „volkstheoretischer“ Interpretation dieser Schrift vgl. MEA 6 (1934), S. 31, zu Petersens Parlamentarismuskritik Anm. 438. Peter Petersen: Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule, Langensalza 1927. Eduard Spranger: Gedanken über Lehrerbildung, Leipzig 1920; Reichsschulkonferenz (wie Anm. 1), S. 261–264 (Leitsätze Sprangers), 632–636 (Bericht Sprangers); vgl. auch Anm. 260; die „Einheit des Lehrerstandes“, argumentierte Spranger, beruhe „nicht auf der Gleichförmigkeit der Berufsbildung, sondern auf der Gemeinschaftlichkeit des Erziehungsgeistes und der Gleichwertigkeit der Leistung“ – Reichsschulkonferenz Ostern 1920 (Einladungsschrift für die zunächst vom 7.–17. 4.1920 vorgesehene Konferenz), (Berlin 1920), S. 39 (Zit. aus den Leitsätzen Sprangers). Arbeiten des Bundes für Schulreform 6, Leipzig/Berlin 1913, S. 163f. (Diskussionsbeitrag Petersens auf dem 2. Deutschen Kongress für Jugendbildung und -kunde 3.–5.10.1912); vgl. auch Anm. 9 u. 70. Peters: Gestaltung (wie Anm. 64), S. 23, 33.

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schullehrer übernehmen könne, 1919 noch mit einem „runden Nein“ beantwortete,103 trat seit 1922 dafür ein. Erst die Revolution 1918 und die neue Reichsverfassung – schrieb Rein nun – hätten die „Leidensgeschichte des Volksschullehrerstandes“ beendet und den Weg zur Erfüllung dessen gebahnt, was schon in der Revolution 1848 gefordert wurde.104 Das alles stieß auf den Widerstand einer „bildungsbürgerlichen Koalition“ von Philologen und Hochschullehrern, die ihre Bildungsprivilegien, Bildungskonzepte und Standesinteressen gefährdet sahen.105 Ihre Argumente reichten von finanziellen Bedenken gegen entstehende Mehrkosten über soziale Einwände, eine höhere Bildung werde die Volksschullehrer den „einfachen Volksschichten entfremden“, bis zum ideologisch geprägten Argument, das führe zum Bildungs- und Werteverfall. Radikale Gruppen argumentierten sozialrassistisch gegen den „Bildungswahn“, alle Volksschichten bilden und fördern zu wollen.106 Die Universitäten wehrten sich meist mit dem Argument, das Volksschullehrerstudium führe ihnen „eine neue Klasse ungenügend vorbereiteter Leute“ zu, bringe die „Gefahr lähmender Überfüllung“ und mindere ihre Leistungsfähigkeit.107 Eine höher qualifizierte Volksschullehrerausbildung sei ebenso unnötig wie längeres gemeinsames Lernen in den Schulen. Die Grundschule müsse vierjährig bleiben. Eine „weitere Ausdehnung des gemeinsamen Unterrichtes“, wie sie Schulreformer forderten, ginge zu Lasten der begabten Schüler und der höheren Schulen.108 Die Hochschullehrer stünden „den Hoffnungen der Schulreformer skeptisch gegenüber. Die Schule wird niemals die soziale Versöhnung fördern“.109 Als „Pflegestätte der Wissenschaft“ habe die Universität nur Lehrer für höhere Schulen und keine Volksschullehrer auszubilden, schrieb der Leipziger Pädagoge und Philosoph Theodor Litt. Dem „pädagogischen Enthusiasmus“ der Schulreformer warf er fatales Sendungsbewusstsein und einen „wahrhaft imperialistischen Eroberungsdrang“ vor.110 103 Wilhelm Rein: Kann die Universität die Ausbildung der Volksschullehrer übernehmen?, in: Die Neue Erziehung (1919), Hf. 3/4, S. 107–110, Zit. S. 107. 104 Wilhelm Rein: Forderungen zur Lehrerbildung, in: Die Freie Deutsche Schule 4 (1922), Nr. 2, S. 9f. 105 Hans-Christoph Laubach: Die Politik des Philologenverbandes im Deutschen Reich und in Preußen während der Weimarer Republik. Die Lehrer an höheren Schulen mit Universitätsausbildung im politischen und gesellschaftlichen Spannungsfeld der Schulpolitik von 1918–1933 (= Europäische Hochschulschriften III/258), Frankfurt a.M. u.a. 1986. 106 Wilhelm Hartnacke: Bildungswahn – Volkstod! Vortrag, gehalten am 17. Februar 1932 im Auditorium Maximum der Universität München für die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene, München 1932; Hartnacke war Stadtschulrat in Dresden und nach 1933 NS-Kultusminister in Sachsen. 107 So der Dekan der Jenaer Philosophischen Fakultät Gottlob Linck (Mineraloge) am 19.12.1919 mit Zitaten aus einer Tübinger Erklärung – UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 12r. 108 Prof. Binder/Stuttgart in seinen Leitsätzen zur Einheitsschule, in: Reichsschulkonferenz (wie Anm. 1), S. 81. 109 So der Jenaer Germanist Victor Michels in den Beratungen über Schulaufbau und längeres gemeinsames Grundschullernen, ebd., S. 699. 110 Theodor Litt: Wissenschaft und höhere Schulen, in: Monatsschrift für höhere Schulen 20 (1921), S. 274–278; ders.: Die gegenwärtige pädagogische Lage und ihre Forderungen, in: Georg Ried (Hg.): Die moderne Kultur und das Bildungsgut der deutschen Schule. Bericht über den Pädagogischen Kongreß des Deutschen Ausschusses für Erziehung und Unterricht, veranstaltet in

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Die Gegensätze damaliger „Schulkämpfe“ prallten auf der Reichsschulkonferenz 1920 in aller Schärfe aufeinander. Gemessen an ihren Zielen der „Vereinheitlichung“ und „freiheitlichen Ausbildung“ des deutschen Bildungs- und Erziehungswesens111 blieb sie ohne greifbare Ergebnisse. Sie bot aber Schulreformern ein Forum und habe so – meinte Petersen – „die Entwicklung nach vorwärts beträchtlich verstärkt“.112 Ohnehin wurde „Einheit“ zu einem Schlüsselbegriff der Reformabsichten der frühen Weimarer Republik. Freilich scheiterten die auf eine „Einheitsschule“ oder – so Petersen – auf eine „Allgemeine Deutsche Volksschule“ gerichteten Reformpläne damals ebenso wie die mit den Schlagworten von der „Bildungseinheit“ und vom „kulturellen Unitarismus“ umschriebene Absicht, sie reichseinheitlich zu verwirklichen.113 Die Gründungs- und Schulkompromisse der Weimarer Republik schrieben die Bildungshoheit der Länder fest. Sie beschränkten die Bildungskompetenzen des Reiches und die Reichweite der Schul- und Bildungsreformen.114 Die Erwartung, dass die Zusammenarbeit von Reich und Ländern im Reichsschulausschuss (1919/23) und die Reichsschulkonferenz 1920 „die Bahn frei“ machten „für die Verwirklichung von Reformgedanken, die seit Jahrzehnten erörtert worden sind“,115 erfüllte sich nicht. Es blieb im Ermessen der Länder, ob sie den von den Schulartikeln der Weimarer Reichsverfassung eingeräumten Handlungsspielraum für Schulgestaltung und Reformen nutzten oder nicht.

Weimar vom 7. bis 9. Oktober 1926, Leipzig 1927, S. 1–21, hier S. 1. 111 Reichsschulkonferenz (wie Anm. 1), Vorwort, S. 11; zu den „Schulkämpfen“ Haenisch: Bahnen (wie Anm. 52), S. 77f. 112 Petersen: Weg (wie Anm. 70), S. 17. 113 Becker: Aufgaben (wie Anm. 88); Haenisch: Bahnen (wie Anm. 52); vgl. auch das Protokoll der mit Beckers Schrift befassten Coburger Hochschulkonferenz v. 8.–10.9.1919 – UAJ, Best. C, Nr. 96, Bl. 4r–6r. 114 Ludwig v. Friedeburg: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt a.M. 1989, S. 202–268; Franz-Michael Konrad: Geschichte der Schule. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2007, S. 86–92; Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 5: 1918–1945. Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, Kapitel Schulen, S. 155–208; Löffler: Bildungswesen (wie Anm. 81), S. 1 bezeichnete das Schul- und Bildungswesen der Weimarer Republik als Ergebnis zweier Entwicklungsreihen – historisch-mannigfaltig in den Ländern, vereinheitlichend im Reich. 115 Reichsschulkonferenz (wie Anm. 1), S. 441 (RMdI Erich Koch(-Weser) zu Beginn der 1. Vollsitzung am 11.6.1920); vgl. auch Gernot Koneffke: Die Reichsschulkonferenz von 1920. Ihre Vorgeschichte und Vorbereitung und ihre Verhandlungen, Berlin, 11.–19. Juni 1920, in: HeinzJoachim Heydorn/Gernot Koneffke: Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung II: Aspekte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, München 1973, S. 238–280; Christoph Führ: Zur Schulpolitik der Weimarer Republik. Die Zusammenarbeit von Reich und Ländern im Reichsschulausschuß (1919–1923) und im Ausschuß für das Unterrichtswesen (1924–1933). Darstellung und Quellen, 2 Weinheim 1972.

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Die Thüringer Schulgesetze 1922/23 Greil jedenfalls wollte ihn mit den Thüringer Schulgesetzen entschieden ausschöpfen und das öffentliche Schulwesen Thüringens möglichst einheitlich regeln. Das nach Artikel 146 WRVf116 erlassene Schulaufbaugesetz („Einheitsschulgesetz“) vom 24. Februar 1922 vereinheitlichte das früher einzelstaatliche Schulwesen Thüringens. Das Gesetz sah einen „Einheitsschulaufbau“ in Grund-, Unter-, Mittel- und Oberschulen mit jeweils eigenen Abschlussmöglichkeiten vor. Es wies die achte Volksschulklasse der Mittelschule zu und neben den traditionellen höheren Schulen auch „deutsche Oberschulen“ aus. Die 1925 modifizierte Fassung glich das Thüringer Schulwesen wieder stärker den reichsgesetzlichen Vorschriften an, ließ aber „Aufbauschulen“ ab der achten Schulklasse mit Mittel- und Oberstufen zu.117 Schulunterhalt, staatliche Schulaufsicht und innere Schulverwaltung wurden durch das Schulunterhaltsgesetz vom 8. Juli 1922 und das Schulverwaltungsgesetz vom 9. Mai 1923 einheitlich für alle Schulformen geregelt. Die 1926 modifizierten Fassungen beider Gesetze differenzierten dann wieder zwischen Volksschule und höheren Schulen. Neben dem Staat räumten sie nun auch den Gemeinden Unterhalts- und Aufsichtsrechte ein. Das Schulverwaltungsgesetz regelte zudem das Elternrecht an öffentlichen Schulen. Wie zuvor schon in Preußen (1919/20) und Hamburg (1920) ermöglichte es die Wahl von Elternbeiräten für eine „lebendige Wechselwirkung zwischen Schule und Haus“ mit begrenzten Mitwirkungsrechten.118 Mit dem Gesetz über die Lehrerausbildung („Lehrerbildungsgesetz“) vom 8. Juli 1922 regelte Thüringen als erstes Land nach 116 „Das öffentliche Schulwesen ist organisch auszugestalten. Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf.“ Für diesen Aufbau sei die „Mannigfaltigkeit der Lebensberufe“, „nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis“ der Eltern maßgebend. 117 GTh 3 (1922), S. 40f.; Abl ThMfV 1 (1922), S. 49–51; Die Thüringer Schulgesetze unter Berücksichtigung der reichsgesetzlichen Bestimmungen, hg. u. erläutert v. Carl Schnobel, 4 Hefte Weimar 1926/27, Hf. I, S. 3–8 (modifizierte Fassung v. 31.3.1925); vgl. auch Anm. 10 sowie Carl Schnobel: Zum Einheitsschulplan für Thüringen, in: Abl ThMfV 1 (1922), S. 13–15; O. Karstädt: Aufbauschule und Deutsche Oberschule (= Schulpolitik und Volksbildung. Schriftenreihe des Preußischen Lehrervereins 2), Osterwieck 1920; Paul Mitzenheim: Aufbauschulen in Thüringen (1922–1945), in: BVThG 6 (1996), Hf. 1, S. 37–48. 118 Thüringer Schulgesetze (wie Anm. 117), Hf. III, S. 27–33, Zitat S. 31f.; die an öffentlichen Schulen auf 4 Jahre gewählten Elternbeiräte hatten die Möglichkeit, Einblick in den Schulbetrieb zu nehmen und konnten in Absprache mit Lehrern und Lehrerversammlung auch am Unterricht teilnehmen; Aufsichts- und Beschwerderecht standen ihnen nicht zu; gewählte Elternvertretungen waren ein Ergebnis der Revolution und Republikgründung; das Elternrecht wurde durch Landesgesetzgebung, nicht reichsgesetzlich geregelt; die WRVf (Art. 146) räumte dem „Willen der Erziehungsberechtigten“ Mitsprachemöglichkeiten bei der Wahl der Schulform ein; zum Elternrecht der Weimarer Republik und seiner Rolle in der politisch-weltanschaulichen Auseinandersetzung um konfessionelle Bekenntnis- und weltliche Gemeinschaftsschulen vgl. Fritz Blättner: Das Elternrecht und die Schule. Eine schulpolitische Monographie, Leipzig 1927; Josef Dolch: Das Elternrecht (= Fr. Manns Pägagog. Magazin 1154 / Philosophische und pädagogische Arbeiten IV/7), Langensalza 1928; Luise Wagner-Winterhager: Schule und Eltern in der Weimarer Republik. Untersuchung zur Wirksamkeit der Elternbeiräte in Preußen und der Elternräte in Hamburg 1918–1922 (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte 7), Weinheim/Basel 1979.

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Artikel 143 WRVf119 die Lehrerbildung neu. Es schrieb nach einer Übergangszeit bis 1927 für alle (wissenschaftlichen) Lehrer öffentlicher Schulen Abitur, Hochschulstudium und „praktisch-pädagogische Schulung“ vor und übertrug die Lehrerbildung der Landesuniversität in Jena.120 Die bisherigen Lehrerseminare mit ihren Übungsschulen sollten bis 1927 abgebaut werden. Nur bis dahin galten noch ihre Abschlüsse. Die meisten von ihnen wurden bis 1927 in „Deutsche Aufbauschulen“ umgewandelt. Nach Thüringen führten auch Sachsen (1923), Hamburg (1926) und Braunschweig (1927) das Hochschulstudium der Volksschullehrer ein. Preußen und andere Länder bildeten dafür gesonderte pädagogische Akademien, Anstalten oder Institute. In Bayern blieben die alten Lehrerseminare bestehen.121 „Altes und Neues“, kommentierte Rein 1925 die sich abzeichnende Situation, „stehen sich schroff gegenüber. Das Neue vertreten von Sachsen und Thüringen; das Alte von Bayern. Dazwischen Preußen, das einen Mittelweg einschlägt.“122 Mit den Schulaufbau- und Lehrerbildungsgesetzen 1922 kam ein Prozess in Gang, mit dem das sozialistisch regierte Thüringen „Pionierarbeit“ leistete123 oder – in anderer Interpretation – ein „Kuckucksei ins akademische Nest“ legte.124 Diese Gesetze hatten erhebliche struktur-, zulassungs- und wissenschaftspolitische Folgen. Für Greil 119 „Die Lehrerbildung ist nach den Grundsätzen, die für die höhere Bildung allgemein gelten, für das Reich einheitlich zu regeln.“ Das Ziel dieses Artikels sei die „Vereinheitlichung der Lehrerbildung“ gewesen, nicht unbedingt die umstrittene universitäre Volksschullehrerausbildung – so (Hans) Richard Seyfert: Reichsverfassung und Lehrerbildung. Eine Erinnerung an Weimar, in: Die Neue Lehrerbildung 1 (1931/32), S. 65–69, hier S. 65; Seyfert (DDP) war maßgeblich an der Erarbeitung des Art. 143 beteiligt und wurde im Oktober 1919 sächsischer Volksbildungsminister. 120 GTh 3 (1922), S. 295f.; Abl ThMfV 1 (1922), S. 137–139; Thüringer Schulgesetze (wie Anm. 117), Hf. IV, S. 1–5; Die akademische Lehrerbildung an der Universität Jena. Verordnungen, Einrichtungen, Ratschläge (= MEA 1), Jena 1925, S. 5f. 121 Alfred Eckardt: Der gegenwärtige Stand der neuen Lehrerbildung in den einzelnen Ländern Deutschlands und in außerdeutschen Staaten, Weimar 1927, S. 11–66, zu Thüringen/Jena S. 16–24; August Riekel: Die akademische Lehrerbildung. Idee und Gestalt, 2 Berlin/Leipzig 1931, S. 57–126, zu Thüringen/Jena S. 59–64; Thomas Alexander: The Training of Elementary Teachers in Germany (= Studies of the International Institute of Teachers College, Columbia University 5), New York 1929, S. 27–58 zu Thüringen/Jena S. 37f., 216–236; als äußerst knappen Überblick vgl. auch Langewiesche/Tenorth: Handbuch (wie Anm. 114), S. 241f. 122 Wilhelm Rein: Zur Neugestaltung der Lehrerbildung in Deutschland, in: Monatshefte für deutsche Sprache und Pädagogik, Jahrbuch 1925, S. 52–60, Zit. S. 58; Preußen richtete nach einer 1925 vorgelegten Denkschrift „Die Neuordnung der Volksschullehrerbildung in Preußen“ seit 1926 Pädagogische Akademien für die Volksschullehrer-Ausbildung ein. 123 Helmut Möller: Aufbau einer vollakademischen Lehrerbildung in Thüringen zur Zeit der Weimarer Republik, in: Manfred Heinemann (Hg.): Sozialisation und Bildungswesen in der Weimarer Republik, Stuttgart 1976, S. 291–311, hier S. 309; für den Text sind keine Akten verwendet worden; der Überblick stützt sich lediglich auf Petersens Schriften und auf das Buch von Eckardt: Stand (wie Anm. 121). 124 Matthias Steinbach: Kuckucksei im akademischen Nest? Zum Einfluss von Lehrerbildung und Pädagogik auf eine deutsche Traditionsuniversität im 19. und 20. Jahrhundert, in: JbUG 6 (2003), S. 139–160; Steinbach beschreibt hier am Jenaer Beispiel die „Pädagogisierung der Universitäten“ – von Greil bis zu den beiden deutschen Diktaturen – als Prozess ihrer „Politisierung“ mit entsprechenden „Angriffsflächen für doktrinär staatsutilitaristische und systemideologische Einflüsse“ (S. 145); empirisch gesicherte Aussagen zur Lehrerbildung enthält der Text nicht; die entsprechenden Angaben sind fehlerhaft.

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stellten sie allerdings nur Stufen auf dem Wege zum „Endziel“ einer alle Bildungs-, Status- und Standesschranken überwindenden „Einheitsschule“ dar.125 Das war für ihn auch die Konsequenz der auf einen „Einheitsstaat“ gerichteten Landesgründung. Die Weimarer Schulkompromisse und die Widerstände im eigenen Lande banden ihm allerdings die Hände. Dennoch begrüßten die Schulreformer die Thüringer Gesetze als wegweisend. Ihren Gegnern hingegen erschienen sie als schematisierende, zentralisierende und verstaatlichende „Gleichmacherei“, die alle „geistigen und seelischen Kräfte in der Erziehung“ ersticke,126 als marxistisches Teufelswerk gleichsam, vor dem sich „das ganze bürgerliche Deutschland bekreuzigte“.127 Lehrerbildung und Erziehungswissenschaftliche Abteilung 1923/24 In Ausführung des Lehrerbildungsgesetzes erließ Greil am 22. Januar 1923 „Richtlinien einer vorläufigen Prüfungsordnung für das Lehramt an der Volksschule“. Sie verlangten vier Semester Universitätsstudium der Philosophie und Pädagogik, davon zwei in Jena. Von universitärer Seite war hingegen ein dreijähriges Studium der theoretischen Fächer gefordert worden. Während dieses zweijährigen Studiums sollten sich die Prüflinge die erforderlichen Fertigkeiten für den Pflichtunterricht der Volksschule erwerben und sich mit einem entsprechenden „Gebiete des Wissens und Könnens“ besonders eingehend beschäftigen. Auf die praktisch-pädagogische Ausbildung und Prüfung nach dem zweijährigen Universitätsstudium gingen die Richtlinien nicht weiter ein. Hier verwiesen sie nur auf die Prüfungsordnung zur Anstellung im Thüringischen Volksschuldienst vom Januar 1922.128 Für diese praktisch-pädagogische Ausbildung plante das Ministerium ein – wie es in Schaxels Berufungsschreiben an Petersen vom 20. Juli 1923 hieß – „über das ganze Land ausgedehntes pädagogisches Institut“.129 Es werde – erläuterte Kühnert wenige Tage später am 26. Juli Strecker 125 Greil zur Begründung des Lehrerbildungsgesetzes, in: Berichte (wie Anm. 84), S. 2303. 126 Georg Witzmann: Thüringen von 1918–1933. Erinnerungen eines Politikers (= Beiträge zur mitteldeutschen Landes- und Volkskunde 2), Meisenheim am Glan 1958, S. 67–71; vgl. auch ders.: Probleme des Bildungswesens im Lichte Thüringischer Kulturpolitik, Gotha/Stuttgart 1925; Witzmann (DVP) war Wortführer der Thüringer Opposition gegen Greils Schulpolitik. 127 Buchwald: Geschichte (wie Anm. 26), S. 330; ein freilich überzogenes Urteil; die DDP-Fraktion im Thüringer Landtag z.B. stand den Greilschen Vorlagen „freundlich gegenüber“ und war bereit, an ihnen mitzuarbeiten – vgl. etwa: Berichte (wie Anm. 84), S. 2309. 128 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 94r–103r (Bekanntmachung Greils v. 22.1.1923 zur Einsetzung eines Prüfungsausschusses [Vorsitz Kühnert; Rein und Bauch als Universitätsprofessoren; ein Gothaer Schulrat und ein Jenaer Oberlehrer als Beisitzer] mit den Richtlinien als Anlage); die Bekanntmachung über den Prüfungsausschuss ist abgedr. in: Abl ThMfV 2 (1923), S. 20f., die Richtlinien in: MEA 1 (1925), S. 6–10; vgl. auch Abl ThMfV 1 (1922), S. 3–6 (Prüfungsordnung v. 1.1.1922), zur universitären Forderung nach einem dreijährigen Universitätsstudium vgl. Anm. 59 u. zur entsprechenden Neuordnung der Lehrerbildung Ende 1924 Anm. 191. 129 Vgl. Anm. 2; in seiner Vorbemerkung zum Abdruck der Richtlinien v. 22.1.1923 fasste Petersen die weitere Entwicklung zusammen und verwendete dabei diese Formulierung aus dem Berufungsschreiben – MEA 1 (1925), S. 6; Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 158 zitiert das irrtümlich als Teil der Richtlinien und schlägt auf dieser Grundlage einen direkten Bogen zum 1927/28 eingerichteten PI, das aber einen ganz anderen Charakter trug und mit der 1923 geplanten Organisationsstruktur nur den Namen gemeinsam hatte; ähnlich

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dieses „Thüringer System“ eines dezentralen Pädagogischen Institutes – in fünf Schulaufsichts- und Ausbildungsbezirke gegliedert, „sein Zentrum in der pädagogischen Abteilung der philosophischen Fakultät an der Universität Jena“ haben und über „Außenposten“ in vier weiteren thüringischen Orten (Rudolstadt, Gera, Gotha, Eisenach) verfügen. An deren Spitze sollten Oberschulräte treten, um das Schulwesen dieser Bezirke zu beaufsichtigen und an den genannten Orten pädagogische Aus- und Fortbildungs-Seminare zu leiten. Diese Seminare seien für die praktische Ausbildung der Lehrerstudenten wie für die „planmäßige Fortbildung“ der Lehrerschaft aller Gattungen gedacht. Das Schulwesen dieser Orte könne so „gleichsam als Uebungsschule“ genutzt werden. Der Zusammenhang der Oberschulräte und Seminarleiter mit der Universität solle darin zum Ausdruck kommen, dass sie als Honorarprofessoren und Mitglieder der pädagogischen Abteilung (Fakultät) der Jenaer Universität zum Halten von Vorlesungen und zur Mitwirkung bei der pädagogischen Universitätsprüfung berechtigt seien.130 In diesem Sinne handelte Greil, nachdem er die Gründung der in zwei Abteilungen gegliederten Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät genehmigt hatte. Am 24. September 1923 teilte er dem Rektor mit, er beabsichtigte, in ähnlicher Weise die Philosophische Fakultät in eine Philologisch-Historische, eine MathematischNaturwissenschaftliche und eine Erziehungswissenschaftliche Abteilung zu gliedern. Letztere solle sofort, die anderen danach gebildet werden. Die Entwicklung der in der Fakultät vertretenen Wissenschaften und die Übernahme der Lehrerbildung durch die Universität hätten diese Schritte erforderlich gemacht.131 Fakultät, Rektor und Senat erhoben Einspruch. Unterdes spitzte sich die politische Lage im Lande zu. Anfang November griff das Reich ein. Trotzdem richtete Greil am 10. November 1923 nach Regierungsbeschluss vom 29. Oktober die Erziehungswissenschaftliche Abteilung der Philosophischen Fakultät ein, die sich am 21. November mit der vom Ministerium erlassenen Satzung konstituierte.132 Die Geschäftsleitung sollte laut Satzung jährlich wechseln und zunächst dem dienstältesten Ordinarius übertragen werden. Entsprechend ernannte Greil den Psychologen Wilhelm Peters zum Abteilungsleiter für das erste Geschäftsjahr. Abteilungsmitglieder im engeren Sinne waren laut Erlass vom 10. November die ordentlichen Professoren Peters, Petersen und Vaerting, im missverständlich ist die Darstellung bei Möller: Aufbau (wie Anm. 123), S. 197. 130 ThHStAW, PABV 30696 (PA Strecker), Bl. 1r+v sowie Herbert Kühnert: Die akademische Lehrerbildung in Thüringen, in: Abl ThMfV 2 (1923), S. 249–252, hier S. 251f. 131 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 1r–4v (Schreiben mit Entwurf der Satzung); Abschriften in: Best. M, Nr. 732, Bl. 1r–2v. 132 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 10r+v (Erlass Greils v. 10.11.1923, fälschliches Datum 10.10. hs. korrigiert), 11r–13r (Satzung), 14r (Mitteilung Peters’ v. 22.11.1923 an den Rektor über die Konstituierung); Best. M, Nr. 732, Bl. 7r (Abschrift des Erlasses), Bl. 15r (gedruckte Satzung v. 26.10.1923), Bl. 12r (Mitteilung Peters’ v. 22.11.1923 an den Dekan der PhF über die Konstituierung), Bl. 16r (in der konstituierenden Sitzung der Abteilung am 21.11.1923 gefasste Beschlüsse); mit falschem Datum wird der Gründungserlass v. 10.11.1923 erwähnt bei Robert Döpp: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit (= Pädagogik und Zeitgeschehen. Erziehungswissenschaftliche Beiträge 4), Münster/Hamburg/London 2003, S. 110; für die auf die Weimarer Zeit bezogenen Abschnitte über Lehrerbildung, EA und Universitätsschule hat Döpp zwar Akten verwendet, aber sehr selektiv und oberflächlich ausgewertet.

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weiteren Sinne die unbesoldeten außerordentlichen Pädagogik- beziehungsweise Philosophieprofessoren Georg Weiß und Paul Ferdinand Linke (SPD), der Privatdozent Wilhelm Flitner, ein vorlesungsberechtigter Studienrat Dr. Lämmel sowie die drei Honorarprofessoren des geplanten dezentralen Pädagogischen Institutes: Anna Siemsen als Oberschulrätin für das Schulgebiet Weimar-Jena, Reinhard Strecker als Oberschulrat für das Schulgebiet Eisenach-Meiningen-Hildburghausen und Otto Scheibner als Oberstudienrat für die Jenaer Ortsschulen.133 Strecker und Siemsen wurden zudem – gegen den Widerstand der jeweiligen Lehrer- und Elternschaft – als Schulleiter eingesetzt, Strecker an der Ernst-Abbe-Schule Eisenach, Anna Siemsen am Lyzeum Jena. Fakultät und Universitätsleitung erhoben erneut Einspruch gegen die „noch nicht spruchreife“134 Dreigliederung der Fakultät und gegen die Satzung, die der neuen Abteilung gleichsam Fakultätsrechte einräumten: sie mache nicht zum eigentlichen Lehrkörper gehörende Personen in der Philosophischen Fakultät sitz- und stimmberechtigt; die Abteilung könne Berufungs- und Habilitationsvorschläge unterbreiten, den „Dr. phil.“ verleihen und sich eine künftige pädagogische Promotion vorbehalten. Das alles seien statutenwidrige Eingriffe in Fakultätsrechte.135 Dekan und Senior der Philosophischen Fakultät forderten dringende Schritte, „dass Einhalt getan werde der weiteren Zerstörung altbewährter Einrichtungen und des wissenschaftlichen Ansehens der Universität, wie es jetzt dauernd geschieht durch das Vorgehen des Volksbildungsministerium“.136 Der Rektor schaltete den Großen Senat ein. Peters’ Bitte, „ihm und seiner Gruppe“ die Möglichkeit zu geben, ihre Position dort darzulegen, lehnte der Rektor ab.137 Am 15. Dezember schloss sich der Große Senat mehrheitlich diesem Vorgehen an und versagte der Erziehungswissenschaftlichen Abteilung die Anerkennung. Die Mitteilung über diese Senatsbeschlüsse gegen einen „neuen unerträglichen Eingriff in die Befugnisse und das Selbstverwaltungsrecht der Universität“ ging unter der Überschrift „Ein Höhepunkt in dem Konflikt der Universität mit dem Ministerium Greil“ an den Hochschulverband und an die Presse.138 Die Universitätsleitung holte bei anderen Universitäten Auskünfte ein. Der Reichsinnenminister bot ihr am 5. Januar 1924 an, sich wegen der „Bedeutung für 133 Zu den drei Honorarprofessoren vgl. auch die in Anm. 69 aufgeführten Personalakten; die Abteilung beschloss am 21.11.1923, für Linke ein planmäßiges Extraordinariat oder ein persönliches Ordinariat zu beantragen, um seine volle Arbeit für die Abteilung zu sichern; am 10.12.1923 ernannte ihn Greil zum Abteilungsmitglied im engeren Sinne – UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 16r, 31r; zu Linke vgl. auch Dahms: Jenaer Philosophen (wie Anm. 27), S. 732f. 134 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 16r; Best. M, Nr. 732, Bl. 13r, 14r (Proteste der PhF v. 26.11.1923). 135 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 24r–25v (Gutachten des den Rektor in Rechtsfragen beratenden „Ordinarius” Rudolf Hübner, Abschrift). 136 Ebd., Bl. 26r (Schreiben v. 12.12.1923 an den Rektor); Dekan war der Altertumsforscher Judeich, Senior der Mineraloge Linck. 137 Ebd., Bl. 27r (Notiz des Rektors v. 13.12.1923). 138 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 28r–30r; bei der Abstimmung zum Senatsbeschluss, sich hinter den Rektor zu stellen, enthielten sich Petersen, Vaerting und der ebenfalls von Greil berufene Betriebswirtschaftler Ernst Pape laut Protokoll der Stimme, weil sie nicht genügend informiert seien; der zweite Beschluss gegen die Abteilung wurde gegen zwei – im Protokoll nicht genannte – Stimmen gefasst.

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das deutsche Hochschulwesen insgesamt“ der Angelegenheit anzunehmen.139 Die Landesregierung stand ja ohnehin unter Reichsaufsicht. Wie tief die Gräben und wie vergiftet das politische Klima an der Jenaer Universität nunmehr waren, zeigt der Beschluss des Rektors, ein Disziplinarverfahren gegen Peters wegen dessen Zuschrift an die „Vossische Zeitung“ mit dem Titel „Der Jenaer Universitätsstreit“ einzuleiten, weil er damit „die Würde und das Ansehen der Universität und ihrer Organe“ herabgesetzt habe.140 Unter diesen Umständen hatte die Abteilung keinen Bestand. Das Ende der Frölich-Greil-Regierung bedeutete auch ihr Ende. Nach dem Regierungswechsel beantragte die Philosophische Fakultät am 29. Februar und am 10. März 1924 beim Ministerium die vom Senat befürwortete sofortige Auflösung der Abteilung.141 Am 1. April entband der neue Minister Leutheußer Peters „auf dessen Wunsch“ als Abteilungsleiter; am 13. Mai 1924 hob Leutheußer die Erziehungswissenschaftliche Abteilung auf. Ihre Aufgaben sollte ein mit eigenem Beratungs- und Antragsrecht ausgestatteter Erziehungswissenschaftlicher (Pädagogischer) Ausschuss übernehmen. Außerdem werde ein Landesausschuss für Erziehung und Unterricht gebildet.142 Damit entfiel die ohnehin noch rudimentäre Konstruktion eines dezentralen Pädagogischen Institutes. Diesem Erlass hatte eine von der Fakultät eingesetzte Redaktionskommission (Petersen, Michels, Stroux) vorgearbeitet. Ihre „Erziehungswissenschaftlichen Organisationspläne“ vom 19. März 1924 empfahlen den (neuen) Pädagogischen Ausschuss und ein künftiges Pädagogisches Institut Thüringen nur dann, wenn es „allmählich ins Leben trete“ und zuvor „sorgfältig durchberaten“ werde.143 Die Lehrerbildung wurde im Sinne dieser Organisationspläne der am 14. Mai 1924 gebildeten Erziehungswissenschaftlichen Anstalt Petersens übertragen. Siemsen und Strecker versetzte die neue Regierung in den Wartestand. Anna Siemsen behielt zwar ihre Jenaer Honorarprofessur, blieb aber beurlaubt. 1932 wurde sie vom NS-Volksbildungsminister Wächtler entlassen. Strecker entzog die Universität 1925 Lehrbefugnis und Honorarprofessur. 1933 wurde er aus dem Schuldienst entlassen. Scheibner übernahm in Petersens Erziehungswissenschaftlicher Anstalt die praktische Lehrerbildung. 1928 wechselte er an das neue Pädagogische Institut und 1929 an die Pädagogische Akademie in Erfurt. 1934 wurde er zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Linke erhielt 1925 ein planmäßiges Extraordinariat am Philosophischen Seminar, Flitner 1926 einen Ruf an die Pädagogische Akademie Kiel. Im Juli 1924 beschloss die Philosophische Fakultät mehrheitlich, sich zunächst in zwei Abteilungen, dann zum 1. April 1925 in zwei Fakultäten zu teilen.144 Peters’ 139 Ebd., Bl. 42r (Abschrift). 140 Ebd., Bl. 67r, 68r; Peters’ Zuschrift vom 8.1.1924 an die Vossische Zeitung war die Antwort auf den dort am 17.12.1923 erschienenen Artikel von Rudolf Hübner „Der Kampf der Universität Jena“. 141 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 69r, 70r; Best. M, Nr. 732, Bl. 38r+v, 48r (dieses 2. Schreiben flankierte eine für den 10.3.1924 vom Ministerium angesetzte Beratung über die „Stellung der Erziehungswissenschaftlichen Abteilung“). 142 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 71r (Schreiben an Peters v. 1.4.1924), 72r (Auflösungserlass v. 13.5.1924); Abschriften in: Best. M, Nr. 732, Bl. 56r, 58r . 143 UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 50r–51v. 144 UAJ, Best. BA, Nr. 96, Bl. 73r–76v; John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 362–364

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naturwissenschaftlich-experimentell ausgerichtete Psychologische Anstalt kam zur Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät; Petersens Erziehungswissenschaftliche Anstalt mit der Universitäts-Übungsschule verblieb bei der Philosophischen Fakultät. Beide Fakultäten bildeten unter dem Vorsitz des Dekans der PhF einen gemeinsamen Pädagogischen Ausschuss (Pädagogische Kommission). Nachwirken und Konflikte Greils Absicht, im Anschluss an die Thüringer Schulgesetze schrittweise eine Lehrerbildungsfakultät zu schaffen, war damit schon in der Vorform gescheitert. Die Gründung einer eigenen Pädagogischen Fakultät an der Jenaer Universität – der ersten deutschen überhaupt – gelang erst 1945 unter ganz anderen Konstellationen. Doch bedeutete die „Neuordnung“ 1924 keine völlige Revision der in der „Ära Greil“ ergriffenen Maßnahmen. Die Jenaer Universität war Mitte der 1920er Jahre in vieler Hinsicht verändert und neu profiliert. Sie hatte neue Fächer und eine neue Fakultätsstruktur, übernahm die Lehrerbildung und stellte ein universitäres Zentrum pädagogischen Denkens und Handelns dar.145 Es blieb bei der durch Greils Maßnahmen vermehrten Zahl pädagogischer Professuren. Nach wie vor war Jena die einzige Universität, an der mit Petersen ein Protagonist der Schulreform-Bewegung ein pädagogisches Ordinariat innehatte. Allerdings wurde die Lehrerbildung seit 1927/28 wieder aus der Universität ausgelagert. Jenas pädagogische Kultur blieb zerklüftet und von Konflikten belastet.146 Das betraf nicht nur das Verhältnis der neu Berufenen zu Rein, Weiß und dem Herbartianismus, sondern auch ihr Verhältnis untereinander. Vor allem Mathilde Vaerting war oder fühlte sich in einer universitären Männerwelt rundum angefeindet und ausgegrenzt. Sie legte sich deshalb nicht nur mit ihren eigentlichen Gegnern an der Universität wie dem Zoologen Plate an, sondern auch mit Petersen und Peters.147 Zwischen letzteren gab es ebenfalls ein sehr gespanntes Verhältnis. Möglicherweise sah sich Petersen zurückgesetzt, als Greil Peters zum Abteilungsleiter ernannte. Dieser wiederum dürfte in Petersen den Nutznießer der Abteilungsauflösung gesehen haben. Neben den persönlichen gab es auch politische Differenzen zwischen dem SPDMitglied Peters und dem sich unpolitisch gebenden, parteipolitisch nicht festgelegten Petersen, der seine Fäden in viele Richtungen spann. Schulpolitisch vertraten sie 145 Heinz-Elmar Tenorth: Pädagogisches Denken, in: Langewiesche/Tenorth: Handbuch (wie Anm. 114), S. 111–119, hier S. 117f; Andreas Flitner: Das pädagogische Jena, in: Jürgen John/Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 139–146. 146 Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2). 147 Die von der „Ordnungsbund“-Regierung 1924 zunächst beurlaubte, dann meist in Berlin weilende Mathilde Vaerting wurde weder an der Leitung der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt (vgl. Anm. 181) noch an den Prüfungsausschüssen beteiligt; Leutheußer lehnte am 7.1.1925 ihre Forderung ab, in das Prüfungsamt aufgenommen zu werden; dafür bestehe kein Bedarf – UAJ, Best. M, Nr. 630/2, Bl. 224r; Plate griff Mathilde Vaerting, die nur wegen ihrer „radikalen Gesinnung“ von Greil berufen worden sei (ebd., Bl. 226r), ständig an; sie selbst löste zahlreiche Streit- und Disziplinarfälle aus; am 22. 11.1926 schrieb Peters, angesichts der „geistigen Verfassung der Frau Vaerting“ nehme er davon Abstand, sich mit ihren Vorwürfen gegen ihn auseinanderzusetzen – UAJ, Best. BA, Nr. 502, Bl. 163r+v.

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zwar ähnliche Positionen, in ihrem Wissenschaftsverständnis unterschieden sie sich jedoch beträchtlich. Beide sahen sich als Schüler Wilhelm Wundts, vertraten aber deutlich unterschiedliche Ansichten. Dem Experimentalpsychologen Peters wird der vorwiegend kultur- und geschichtsphilosophisch argumentierende Reformpädagoge Petersen als ein Vertreter „spekulativer Wissenschaft“ erschienen sein. Über Petersens Reformschule äußerte sich Peters ebenso abwertend wie über die Lehrerbildung an Petersens Anstalt.148 Beide gehörten seit 1925 verschiedenen Fakultäten an, in denen sie sich etablierten und (Petersen 1930/31, Peters 1932/33) als Dekane fungierten. 1933 trennten sich ihre Wege endgültig. Die anderen wie Petersen 1923 von Greil für die Lehrerbildung Berufenen erhielten 1933 (Peters, Vaerting, Strecker, Scheibner; Siemsen schon 1932) Berufsverbot. Peters ging ins Exil. Petersen hingegen behielt seine Jenaer Professur. Auch um das Verhältnis zwischen Petersen und Greil war es seit 1924 nicht zum Besten bestellt. Der gestürzte Minister wird den an der Universität etablierten Professor wohl kaum als Sachwalter seines Erbes angesehen haben. Trennend wirkte zudem Greils publizistischer „Entscheidungskampf“ gegen die „Kirchenschule“ und für die „weltliche Staatsschule“.149 Der protestantisch geprägte Reformpädagoge Petersen lehnte eine religionsfreie Schule ab. Zwar gab es an seiner Universitätsschule zunächst kein Fach „Religionsunterricht“, sondern wie an weltlichen Schulen nur „Lebensunterricht“. Doch maß Petersen der Religion große pädagogische Bedeutung bei. Er verstand sich selbst als Religionspädagoge und betonte an seiner Schule später das religiöse Moment auch durch religiöse Feiern.150 Die Impulse der „Ära Greil“, das Trauma ihres Scheiterns und die Konflikte zwischen den Beteiligten wirkten über die NS-Zeit hinaus in den „pädagogischen Neubeginn“ nach 1945 hinein. Die Gründung der Sozialpädagogischen Fakultät 1945 mit Petersen als Dekan knüpfte an Greils Absichten und an die Pädagogik-, Schulund Lehrerbildungskonzepte der Weimarer Zeit an. Mit der Namenswahl griff sie auf jene Traditionen der „Sozialpädagogik“ zurück, die gesellschaftliche Probleme mit pädagogischen Konzepten oder – wie es Petersen 1923 formuliert hatte – „mit Hilfe des Schulunterrichts die ‚soziale Frage‘ lösen helfen“ wollte.151 Der Linkssozialist 148 In einer Sammelrezension neuer Literatur zur Heilpädagogik schrieb Peters sarkastisch, man müsse „über die Naivität eines der ‚neuesten’ Pädagogen staunen, der die Hilfsschule für entbehrlich hält, wenn nur an die Stelle der heutigen Volksschule eine in Gemeinschaftsgruppen aufgebaute, neue, freie Volksschule tritt. In einer solchen Schule will er ‚ausgesprochene Hilfsschüler’ in zwei bis drei Jahren für die normale Volksschule reif gemacht haben. Es geschehen noch Zeichen und Wunder!“, in: ZpP 28 (1927), S. 526–528, Zit. S. 527; zu Peters’ Kritik an der Lehrerbildung der EA vgl. Anm. 255. 149 Max Greil: Das Reichsschulgesetz. Der Entscheidungskampf um das Schicksal der deutschen Volksschule. Staatsschule oder Kirchenschule?, Gera 1925; die Schrift bezog sich auf den im Anhang abgedruckten Gesetzentwurf zur Ausführung des Art. 146 WRVf über Religionsunterricht in den Volksschulen. 150 Ralf Koerrenz: Peter Petersen, in: Klaus Petzold/Michael Wermke (Hg.): Ein Jahrhundert Katechetik und Religionspädagogik in Ostdeutschland, Leipzig 2007, S. 114–121; Hein Retter: Die Bedeutung der Religion in der Pädagogik Peter Petersens und John Deweys, in: Michael Wermke (Hg.): Religionspädagogik und Reformpädagogik. Brüche, Kontinuitäten, Neuanfänge (= Arbeiten zur Historischen Religionspädagogik 8), Jena 2010, S. 31–65. 151 Peter Petersen: Die Neueuropäische Erziehungsbewegung (= FWE 4), Weimar 1926, S. 49–

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und erste Jenaer Nachkriegs-Kurator Carl Theil erinnerte im Juli 1945 mahnend an die „reaktionären Umtriebe“ in der „Ära Greil“ und an die Widerstände gegen Greils Politik.152 Die hatte der engagierte Schulreformer und von Greil deshalb in den Thüringer Schuldienst übernommene Theil selbst zu spüren bekommen.153 Er gehörte zu den besonders aktiven Eltern in Petersens Universitätsschule, geriet aber in der Frage „Christliche Gemeinschaftsschule oder weltliche Schule“ in Konflikt mit Petersen, dem er 1930 „diktatorisches Auftreten“ und das Bestreben vorwarf, die gesamte Thüringer Lehrerbildung in seine Hand bringen zu wollen.154 Petersen wiederum begründete im Januar 1946 seinen Antrag, der SPD beizutreten, mit Greils Vertrauen bei seiner Berufung 1923 und behauptete, „seit mehr als dreißig Jahren das kulturelle Programm der SPD in seinen wesentlichen Teilen“ vertreten und verwirklicht zu haben.155 Das sah der „entschiedene Schulreformer“ Paul Oestreich,

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96 (Abschnitt: „Erziehungsgemeinschaften neuer Gesinnung“), hier S. 49 (bezogen auf die Schriften von Paul Natorp/1898) und John Dewey/1899); das gewann angesichts der Kriegsfolgen nach 1945 besondere Brisanz; zu den Kontinuitätslinien in Petersens Verständnis der Erziehungswissenschaft als gesellschaftlich relevanter „Wirklichkeitswissenschaft“ vgl. seinen aufschlussreichen Text „Die Sozialpädagogische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena“ aus dem Jahre 1947 (dem Vf. von Hein Retter zur Verfügung gestellt); zur Fakultätsgründung 1945 vgl. den Beitrag von Marc Bartuschka in diesem Band, zum ambivalenten Verhältnis Petersens zur Sozialpädagogik (im engeren wie im weiteren Sinne) Wolfgang Schröer: „Die Zeit der ‚Sozialpädagogik’ (. . . ) ist zu Ende“ – Peter Petersen und die Sozialpädagogik, in: Ralf Koerrenz/Will Lütgert (Hg.): Jena-Plan – über die Schulpädagogik hinaus, Weinheim/Basel 2001, S. 83–95, zur Kontinuität pädagogischen Denkens vor 1933 und nach 1945 Jürgen Oelkers: Pädagogische Reform und Wandel der Erziehungswissenschaft, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, München 1998, 1. Teilband, S. 217–243, hier S. 219–222. Im Schreiben v. 19.7.1945 an Landesdirektor Walter Wolf (KPD), mit dem er Wolf vorschlug, das Kuratoramt als Gegengewicht gegen den amtierenden „Stahlhelm-Rektor“ Zucker und andere „reaktionäre“ Bestrebungen an der Universität wieder einzuführen; abgedr. in: Jürgen John/Volker Wahl/Leni Arnold (Hg.): Die Wiedereröffnung der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1945. Dokumente und Festschrift (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 1), Rudolstadt/Jena 1998, S. 159f.; Wolf ernannte ihn danach zum Kurator; Theil verstarb aber bereits im August 1945. Carl Theil (1886–1945) hatte 1916 promoviert; seit 1920 leitete er die Reformschule Hellerau; 1922 legte er den Posten wegen des Verkaufs der Schule an ein privatwirtschaftliches Unternehmen nieder und bot dem Greil-Ministerium seine Mitwirkung am Aufbau der Thüringer „Einheitsschule“ an; Greil schrieb, er lege auf Theils Gewinnung für das Thüringer Schulwesen „ganz besonderes Gewicht“, ernannte ihn im Oktober 1922 zum Studienrat an der Aufbauschule am Lehrerseminar Weimar und im März 1923 – gegen den Protest der konservativen Lehrer- und Elternschaft – zum Direktor des Gymnasiums Weimar; 1924 wurde Theil von der „Ordnungsbund“-Regierung als Gymnasiallehrer nach Jena versetzt, wo er seine Kinder in Petersens Universitätsschule schickte, deren Elternrat (wie Anm. 206) u. Freundeskreis (wie Anm. 231) er angehörte; in Weimar und Jena war Theil Presseattacken und Elternbeschwerden ausgesetzt; 1933 wurde er wegen seiner „linkspolitischen und extrem schulpolitischen Betätigung“ aus dem Schuldienst entlassen – ThHStAW, PABV 3528 (PA Theil). Carl Theil: Thüringer Lehrerbildung von 1922 bis 1930. Oder: von Greil bis Frick, in: Aufbau 2 (1930), Nr. 4/5, S. 131–138, hier S. 135; vgl. auch Anm. 240, 241. PPAV, Ordner: Konflikte nach 1945/SPD/SED (Schreiben v. 24.1.1946 an die SPD-Ortsgruppe Jena); in seinem kurz zuvor verfassten Lebenslauf v. 19.12.1945 schrieb Petersen, er habe in diesem Sinne seit 1912 an führender Stelle im schulpolitischen Kampf um die Einheitsschule

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der 1923 zu Greils Berufungskandidaten für die dann mit Mathilde Vaerting besetzte Stelle gehört hatte, ganz anders. Er warf Petersen am 27. Dezember 1945 in einem häufig zitierten „Offenen Brief“ vor, versagt zu haben. Greil habe Petersen 1923 als „Kampfprofessor“ berufen. Doch dann sei Petersen in der „bürgerlichen Dumpfheit“ des universitären Milieus versunken, habe Bücher über Bücher geschrieben und die politisch indifferente Jenaplan-Pädagogik entwickelt, die „ebenso reaktionär wie fortschrittlich benutzbar“ sei. Das habe er dann ja nach 1933 unter Beweis gestellt.156 Die „Umwandlung der Übungsschule“ 1923/24 Bevor Petersen nach Jena kam, hielt er im Oktober 1923 in Kopenhagen Vorträge über die „neueuropäische Erziehungsbewegung“ mit ihrem Ziel, die „alte Schule“ zu überwinden.157 Die sah Petersen nicht zuletzt in der „Lernschule“ seines Vorgängers Rein verkörpert. Deren „starres System“ mit Musterlektionen, gereihten Schülerbänken, erhöhtem Lehrerpult und einer „an Folterinstrumente mahnenden“ Strafbank für unruhige Schüler beschrieb er 1925 sarkastisch im Kontrast zur lebendigen Welt seines eigenen Schulversuches.158 Petersen verleugnete die Tradition der Vorgängerschulen keineswegs. Er hob sie sogar ausdrücklich hervor.159 Doch war der Bruch mit der herbartianischen Vorgeschichte unverkennbar. Die hatte im Dezember 1844 begonnen, als der Herbart-Schüler Karl Volkmar Stoy seinem 1843 gegründeten Jenaer Seminar eine überwiegend privat finanzierte Schule anschloss, die städtischen Armenkindern einen Lebensraum bot. 1857/58 erhielt diese Seminarschule ein neues Gebäude und den Namen „Johann-FriedrichSchule“, der im Jubiläumsjahr der Jenaer Universität an deren Gründer erinnerte.

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gestanden – UAJ, Best. V, Abt. II (NL Petersen), Nr. 1, Bl. 2v; abgedr. bei Theodor F. Klassen (Hg.): Die erste Jenaplan-Schule. Texte zur Theorie und Praxis der Universitätsschule in Jena (= Lesehefte zur Jenaplanpädagogik 8), Heinsberg 1988, S. 8f. Abgedr. u.a. in: Universität Jena und neue Lehrerbildung (= Jenaer Reden und Schriften 1967), Jena 1967, S. 82 f. u. bei Dagmar Sommerfeld: Peter Petersen und „Der Kleine Jena-Plan“ im Spannungsfeld der Schulreform in der SBZ/DDR 1945–1950, Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 251–253; im PPAV sind der Brief und der anschließende offene Briefwechsel zwischen Petersen (11.2.1946) und Oestreich (26.3.1946) in mehreren Abschriften überliefert, u.a. im Ordner: Konflikte nach 1945/SPD/SED; zum BeS vgl. Ingrid Neuner: Der Bund entschiedener Schulreformer 1919–1933. Programmatik und Realisation, Bad Heilbrunn 1980. Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 151), S. 8–24 (Abschnitt: „Das Profil der ‚Alten Schule’ und ihre Theorie“), 25–48 (Abschnitt: „Die Grundlagen einer ‚Neuen Erziehung’ innerhalb einer neueuropäischen Kulturbewegung“); vgl. zur Metapher auch Ullrich Amlung u.a. (Hg.): „Die alte Schule überwinden“. Reformpädagogische Versuchsschulen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (= Sozialhistorische Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung 15), Frankfurt a.M. 1993. Peter Petersen/Hans Wolff (Hg.): Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschule (= FWE 3), Weimar 1925, S. 2; auf dieses bissige Urteil bezog sich die in Anm. 77 erwähnte Gegenschrift der Rein-Anhänger. So bei den 90. und 100. Jubiläen der Schulgründung 1934 und 1944, insb. in seiner Gedenkansprache am 9.12.1944 – UAJ, Best. V, Abt. II (NL Petersen), Nr. 1, Bl. 17r–22r; dabei bewertete Petersen hier wie in seinen Veröffentlichungen Stoy als Schulgründer und Pädagogen weitaus positiver als Rein.

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Während Stoys Heidelberger Zeit (1866/74) ging die Schule in städtischen Besitz über. Danach nahm Stoy den Schulbetrieb in Jena wieder auf. Nach seinem Tode 1885 fiel die Schule an die Stadt zurück.160 Sein Nachfolger Wilhelm Rein beschritt andere Wege. Er richtete 1886 am pädagogischen Seminar eine dreiklassige UniversitätsÜbungsschule ein, an der Seminaristen und Hospitanten das pädagogische Handwerk lernen konnten. Damit ersetzte er die private, zeitweise städtische Schule Stoys durch eine universitäre – die einzige ihrer Art in Deutschland. 1898 erhielt sie ein eigenes Schulgebäude in der Grietgasse 17a. Wie seine Pädagogik und Ferienkurse (seit 1889) trug sie zu Reins besonderem Ruf bei, der wie Haeckels und Euckens Namen die Jenaer Universität um 1900 weithin bekannt machte.161 Selbst Petersen konnte nicht umhin, die „geistige Kraft“ zu bewundern, mit der Reins Unterrichtsbetrieb „vielen tausend Lehrern Hilfe in der Not gewesen ist“.162 Das hinderte ihn aber nicht daran, mit seinem Dienstantritt Ende 1923 einen Schlussstrich unter diese Vorgeschichte zu ziehen. Als Reformpädagoge auf einem Universitäts-Lehrstuhl setzte Petersen nun alles daran, im Anschluss an die Berufungszusagen des Ministeriums möglichst rasch eine erziehungswissenschaftliche Forschungsanstalt nach seinen Vorstellungen zu bilden, dafür Reins „alte Schule“ zu schließen und so die Voraussetzungen für Forschung, Lehre, Lehrerbildung und Schulentwicklung ganz „neuer Art“ zu schaffen. Petersens Ziel war es, das öffentliche Schulwesen nach schulreformerischen Grundsätzen neu zu gestalten. Dafür wollte er seine neue Stellung als Universitätsprofessor mit ihren Forschungsmöglichkeiten nutzen. Ein eigener Schulversuch gehörte zunächst offenkundig nicht zu seinen Handlungsmotiven. Vor dem Hintergrund der Landeskrise, der Reichseingriffe und des sich abzeichnenden Regierungswechsels gewannen diese Umgestaltungs-Vorgänge ihre eigene Dramatik. Am 26. November 1923 – vier Tage zuvor hatte sich die Erziehungswissenschaftliche Abteilung konstituiert – beantragte Petersen beim Volksbildungsministerium, Reins Übungsschule aufzulösen.163 Er benötige das Gebäude Grietgasse 17a für den ihm zugesagten Ausbau des Pädagogischen Seminars zur Erziehungswissenschaftlichen Anstalt. Von den 49 Kindern in drei Klassen solle nur die obere „Kon160 Rotraud Coriand: Karl Volkmar Stoy und die Idee der Pädagogischen Bildung (= Erziehung Schule Gesellschaft 22), Würzburg 2000, S. 123–133; Matthias Steinbach: Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre. Professorensozialismus in der akademischen Provinz, Berlin 2008, S. 197–246. 161 Gerhard Schreiber: Der Pädagoge und Sozialreformer Wilhelm Rein. Eine Auseinandersetzung mit den ideologischen Grundlagen seiner Pädagogik und den Grundzügen seiner Schulorganisationspläne bis zum ersten Weltkrieg, Diss. Päd. Berlin 1962 (MS); Horst-Erich Pohl: Die Pädagogik Wilhelm Reins, Bad Heilbrunn 1972; Coriand/Winkler: Herbartianismus (wie Anm. 61), S. 129– 280; Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 101–119; Steinbach: Ökonomisten (wie Anm. 160), S. 246–277; die Feststellung Prondczynskys, die praktisch-methodische Arbeit an Reins Übungsschule sei nicht systematisch dargestellt (S. 111), gilt immer noch; als informative Selbstdarstellung vgl. Wilhelm Rein: Ziel und Arbeit der Übungsschule, in: Angriff (wie Anm. 77), S. 2–9. 162 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 158), S. 2. 163 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 1r+v; der damit beginnende Vorgang ist in einigen Aspekten dargestellt bei Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 125f. u. bei Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 122–125 sowie in den in Anm. 70 erwähnten Vorgängerschriften Retters.

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firmandenklasse“ bis Ostern 1924 weiter geführt und erst dann aufgelöst werden. Die Schüler der mittleren und der unteren Klasse seien schon zum 1. Dezember 1923 auf entsprechende Stadtschulen zu verteilen. Von den drei unterrichtenden Seminarassistenten solle dem Dr. Freytag rechtzeitig gekündigt und der Oberlehrer Böhm mit Bibliotheksarbeiten beschäftigt werden. Reins Schwiegersohn Weiß möge man eine Studienratsstelle oder einen besoldeten Lehrauftrag anbieten, damit er sich seinen wissenschaftlichen Arbeiten – vor allem der Biographie Herbarts – hingeben könne.164 Diesem rigorosen Vorgehen erteilte Schaxel allerdings eine Absage. Was Petersen da verlange, sei nicht durchführbar, notierte er am 30. November 1923.165 Stattdessen verhandelte er mit dem Elternrat, der sich mit der Auflösung der drei Klassen zum 1. April 1924 einverstanden erklärte, sofern bis dahin die Umschulung ohne Nachteile für die Kinder erfolgen könne.166 Auch Petersens Mittel-Forderungen für die erziehungswissenschaftliche Forschungsanstalt erhielten einen Dämpfer. Wegen schlechter Finanzlage müssten bis auf weiteres alle Anschaffungen und dergleichen unterbleiben.167 Währenddessen erhoben Petersens Amtsvorgänger Rein und die Philosophische Fakultät Einspruch gegen die Auflösung der Schule. Sie sei integrierender Bestandteil der Universität und könne nicht aufgrund einseitiger Berufungszusagen aufgelöst werden, ohne zuvor Fakultät und Senat zu hören.168 Petersen suchte Auswege. Er schrieb nun nicht mehr von der „Auflösung“ sondern von der „Umwandlung der Übungsschule“ und kam offenbar erst jetzt auf die Idee, selbst einen Schulversuch zu unternehmen. Da die Philosophische Fakultät behilflich sein wolle, neue Seminarräume zu beschaffen, könne er den Ausbau der Forschungsanstalt zunächst zurückstellen und die beantragte Auflösung der dritten Klasse rückgängig machen, teilte Petersen am 16. Dezember 1923 in mehreren Schreiben dem Ministerium, der Fakultät und dem Elternrat der Schule mit. Anstelle des ihm zugesagten Seminarassistenten beantrage er einen Assistenten für die Übungsschule, wofür der Lehrerstudent Hans Wolff eingestellt werden solle. Die Kinder seien sonst ab Januar ohne Lehrer. Er bitte, den Elternrat der Schule entsprechend zu informieren und werde sich ihm nach seiner Rückkehr aus Hamburg zur Aussprache stellen. Während seiner Abwesenheit vertrete ihn Oberlehrer Böhm als Leiter der Übungsschule.169 Zu diesem Zeitpunkt war die Rumpfregierung Frölich-Greil bereits zurück getreten und nur noch geschäftsführend im Amt. Obwohl Petersen 164 ThHStAW, ThVM C 356, Bl.1v, 18r (Schreiben Petersens v. 25.2.1924 an das Ministerium); in diesem Sinne erhielt Weiß nach Kündigung seiner Übungsschul-Stelle durch Petersen zum 1.4.1924 und positivem Fakultätsvotum vom 19.4.1924 am 28.5.1924 einen „Lehrauftrag für systematisch-historische Pädagogik mit besonderer Berücksichtigung Herbarts und seiner Schüler“ – ThHStAW, PABV 33305 (PA Weiß), Bl. 54r–59r. 165 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 2r. 166 Ebd., Bl. 7r (Schreiben Schaxels v. 13.12.1923 an Kühnert und Stier). 167 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310, n.p. (Schreiben des Ministerialdirektors Wuttig v. 16.12.1923). 168 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 12r, 13r (Schreiben des Dekans v. 12.12.1923 mit zustimmendem Votum des Rektors u. Senats v. 7.1.1924); das Schreiben ist auch überliefert in: UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 23r; hier auch das initiierende Protestschreiben Reins v. 27.11.1923 (Bl. 21r) u. Petersens erstes einlenkendes Schreiben v. 10.12.1923 an den Dekan der PhF, er werde die Angelegenheiten der Übungsschule so regeln, dass sich eine Sondersitzung der Fakultät erübrige (Bl. 22r). 169 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 8r (Schreiben an das Ministerium); UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 28r (Schreiben an den Dekan der PhF); Best. S, Abt. I, Nr. 310 (Schreiben an Mangold).

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mit diesem Antrag, wie Schaxel etwas genervt zu dem an ihn gerichteten Schreiben notierte, schon wieder eine neue Lage schuf, akzeptierte er Petersens weitere Schritte. Am 7. Februar 1924 genehmigte Schaxel den Namen „Erziehungswissenschaftliche Anstalt“ für das bisherige Seminar und ihren Ausbau im Rahmen der Zusagen vom 4. September 1923. Künftigen Anträgen solle Petersen aber die Stellungnahme der Erziehungswissenschaftlichen Abteilung und besonders der Frau Prof. Vaerting beifügen, „deren Mitwirkung bei der Leitung der Anstalt noch der endgültigen Regelung bedarf.“170 Auch möge sich Petersen bald zur „künftigen Gestaltung der Übungsschule“ äußern. Petersen antwortete nach dem Regierungswechsel am 25. Februar 1924, er schließe sich dem Verlangen von Senat und Fakultät an, die Schule „als eine Stätte freier schulischer Versuche zu erhalten“. Doch brauche er das Schulgebäude für die Forschungsanstalt. Das Schulamt biete in der „Talschule“ von Jena-Ziegenhain die Möglichkeit, Lehrerstudenten in die Schulpraxis einzuführen. Deshalb habe er gebeten, ihm dort einen Raum für eine jahrgangsgemischte Gruppe von Knaben und Mädchen der ersten beiden Grundschulklassen zur Verfügung zu stellen, die er später erweitern wolle. Die „räumliche Vereinigung meiner Übungsschule mit der Talschule“ biete Lehrern, Studierenden und Fachvertretern beste Studien- und Vergleichsmöglichkeiten. Die Schüler kämen aus „frei sich meldenden Familien“ und – wie er hoffe – auch vom größten Teil der bisherigen Elternschaft. Diese „Umwandlung der Übungsschule“ brauche aber einen dafür geeigneten Lehrer anstelle des bisherigen Lehrpersonals.171 Wilhelm Rein sah darin nur eine „verschleierte Auflösung“ seiner Schule. Man könne sie nicht einfach in eine Stadtbezirksschule verlegen, die an den allgemeinen Lehrplan gebunden sei. Die Übungsschule habe er 1886 mit Zustimmung des Staatsministeriums und mit vom Landtag bewilligten Mitteln eingerichtet. Wenn Petersen nun „grundstürzende Veränderungen“ plane und neue Räume brauche, müsse er das mit den zuständigen Gremien absprechen.172 Der Dekan der Philosophischen Fakultät antwortete Rein am 29. Februar 1924 beschwichtigend: die (alte) Pädagogische Kommission der Fakultät habe seine Beschwerde beraten, sehe aber seine Schule nicht so schwer und unmittelbar gefährdet wie er. Petersen habe erklärt, er wolle die Schule nicht auflösen, sondern nur „umformen und ausbauen“. Er halte auch ausdrücklich an ihrem Namen „Übungsschule“ fest. Die Rechte der Universität an 170 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 15r–16r (hs. Entwurf Schaxels v. 7.2.1924); UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310 (entsprechendes Schreiben des Ministerialdirektors Wuttig v. 7.2.1924 an Petersen); Wuttigs Schreiben ist reproduziert bei Kluge: Petersen/Biographie (wie Anm. 2), S. 140; am gleichen Tage erläuterte Wuttig dem Rektor die nach dem Ernennungschreiben v. 4.9.1923 für Petersen (wie Anm. 7) etwas undurchsichtige Lage: Vorläufig sei Petersen die Leitung des PS mit der Übungsschule übertragen worden, die künftig als EA bezeichnet würden; wegen der von ihm für nötig erachteten Änderungen sehe das Ministerium den Anträgen von Petersen und Vaerting entgegen, damit im Einvernehmen mit den zuständigen Stellen entschieden werden könne – UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 40r (Abschrift). 171 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 17r–18r. 172 UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 42r–43v; ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 19r+v (Schreiben Reins v. 24./28.2.1924 an den Dekan der PhF und an das Ministerium); vgl. auch Wilhelm Rein: Zur gegenwärtigen Lage der Lehrerbildung (= Sammlung pädagogischer Studien 30), Langensalza 1924, S. 27.

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dieser Schule würden so in keiner Weise geschmälert.173 Die Fakultät – schrieb ihr Dekan am 10. März 1924 an das Ministerium – lege größten Wert auf den Erhalt der von Rein gegründeten Übungsschule und dass Petersen ausreichende Seminarräume in einem städtischen oder staatlichen Gebäude erhalte.174 Die Lehrerschaft der Talschule wehrte sich aber gegen die Absicht des Schulamtes, sie in den „Dienst der Lehrerbildung“ zu stellen.175 Ähnlich reagierten auch andere Jenaer Schulen. Zudem mehrten sich öffentliche Proteste der Anhänger Reins. Eltern der Übungsschule, der Thüringer Lehrerverein und der Verein der Freunde wissenschaftlicher Pädagogik in Thüringen und Franken (mit Rein als Vorsitzendem) richteten Eingaben an Ministerium und Landtag. Sie protestierten gegen Petersens Vorgehen und seine Absicht, die Übungsschule zu Gunsten einer neuen Schule aufzulösen, die – so der Lehrerverein – „nach den neuen Arbeitsmethoden der extremsten Reformschule“ unterrichte. Davor könne er nur warnen. Solche Methoden und Gemeinschaftsschul-Ideen seien höchst umstritten. Er verwahre sich dagegen, eine solche Schule als Übungsschule für angehende Lehrer zu bestimmen.176 Es war höchst bezeichnend für die politische Wahrnehmung Petersens als eines vom Sozialdemokraten Greil berufenen Vertreters „linker Pädagogik“, dass sich ausgerechnet die NS-Landtagsfraktion des „Völkisch Sozialen Blocks“ zum Anwalt dieser Proteste machte. Sie richtete am 15. April 1924 eine „Kleine Anfrage“ an die Regierung, ob sie bereit sei, sich für den Erhalt der Übungsschule Reins einzusetzen und notfalls einen anderen Leiter als Petersen zu bestimmen.177 Seitens der Regierung entwarf Stier am 6. Mai die Antwort: Das pädagogische Seminar bestehe als „Erziehungswissenschaftliche Anstalt“ weiter. Sie benötige die Räume der Übungsschule, die deshalb zu Ostern 1924 in ihrer bisherigen Form zunächst aufgelöst worden sei. Wegen Raummangels habe Petersen in der Grietgasse 17a vorerst nur eine aus vier Jahrgängen bestehende einklassige Versuchsgrundschule eingerichtet. Das sei das gute Recht eines Universitätsprofessors, das zuvor Stoy und Rein in Anspruch genommen hätten und das man nun auch Petersen zubilligen müsse. Die Universität und die Fakultät räumten ihm dafür „volle Bewegungsfreiheit“ ein.178 Die musste sich Petersen freilich erst erkämpfen. Am 3. Mai verwahrte er sich dagegen, dass die Fakultät die Mitsprache bei Gestalt und Umfang der Übungsschule 173 174 175 176

UAJ, Best. M, Nr, 732, Bl. 45r. ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 20r; UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 46r. ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 55r–58r, 78r+v. Ebd., Bl. 35r–36r (Eingabe der Elternschaft beim Ministerium), 36v (Antwort Petersens v. 19.3.1924), 38r–40r (1. Eingabe des Lehrervereins v. 18.3.1924), 65r–68r (2. Eingabe des Lehrervereins v. 13.4.1924), 88r–89r (Eingabe des Pädagogikvereins v. 28.4.1924); Zit. Bl. 39r; die in dieser Akte nicht überlieferte Landtags-Anfrage der Eltern wird bei Rein: Lage (wie Anm. 172) auf S. 27 zitiert. 177 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 42r; hier zeigen sich gewisse Parallelen zu dem seit April 1924 als PhF-Dekan und PädA-Vorsitzenden amtierenden völkisch-antisemitisch eingestellten Zoologen Plate (wie Anm. 33), der sich wegen Petersens „bisherigem Vorgehen“ weigerte, an der Eröffnung der EA am 14.5.1924 teilzunehmen – UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 59r (Schreiben Petersens v. 17.5.1924 an Plate, in dem er seine weitere Mitarbeit im Ausschuss von der Klärung dieser Frage abhängig machte). 178 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 43r+v (Petersen zur Kenntnis geschickter Entwurf).

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beanspruche. Das mindere die „Forschungsfreiheit“ und widerspräche „der ganzen bisherigen aktenmäßig wie literarisch zu belegenden Geschichte dieser Schule.“179 Erziehungswissenschaftliche Anstalt und „Neuordnung der Lehrerbildung“ 1924 Diese Vorgänge und Schriftwechsel charakterisieren die Ausgangssituation der Petersen-Schule und -Anstalt im Frühjahr 1924. Petersen eröffnete sie am 14. Mai 1924 unter dem am 7. Februar vom Ministerium genehmigten Namen „Erziehungswissenschaftliche Anstalt der Thüringischen Landesuniversität“.180 Er selbst leitete die Gesamtanstalt, die Abteilung für Erziehungswissenschaft und die als „freie Versuchsschule“ angeschlossene Übungsschule; Scheibner übernahm die für Hospitationen, Schulpraktika, Schulreisen und Schulhelferzeiten zuständige Abteilung für Erziehungspraxis.181 Ihm wurde der Oberlehrer Böhm aus Reins Übungsschule zugeteilt, der zugleich als Lehrer an der Talschule tätig war. Bis zur „Neuordnung der Lehrerbildung“ 1927/28 entsprach diese Struktur Petersens Prinzip „engster Verbindung von pädagogischer Theorie und Praxis“. Später stand die „pädagogische Tatsachenforschung“ für dieses Prinzip. Ihre Analysen der Schulpraxis ermöglichten neue theoretische Einsichten, die auf die pädagogische Praxis der Lehrkräfte zurückwirkten.182 Personell verfügte die Anstalt über anfangs eine, dann drei Assistentenbeziehungsweise Lehrerstellen für die Schule, eine Stelle für den Anstalts-Assistenten und zwei Oberlehrerstellen (bis 1928). Sie nahm 1924 ihre Tätigkeit mit Petersen, Scheibner, seinem Mitarbeiter Böhm, dem Anstaltsassistenten Hermann Johannsen

179 Ebd., Bl. 76r+v (Abschrift des Schreibens Petersens an den Dekan für das Ministerium). 180 Vgl. Anm. 170 u. Petersen: Schulreform (wie Anm. 9), S. 55–73 (Eröffnungsansprache); die Anstaltsordnung ist abgedr. in: MEA 1 (1925), S. 19f; 1933 wurde der Name geändert in „Erziehungswissenschaftliche Universitäts-Anstalt“ – MEA 6 (1934), S. 21; 1942 erhielt er den Zusatz „Mit Universitätsschule und Abteilung ‚Das Kleinkind’: Universitäts-Fröbel-Kindergarten mit Tagesheim für Kinder erwerbstätiger Frauen der Firma Zeiss“; den Fröbel-Kindergarten gab es seit 1934; 1951 wurde die bis dahin von Petersen geleitete Anstalt in ein „Institut für theoretische Pädagogik“ umgewandelt – ThHStAW, ThVM C 374, C 377; UAJ, Best. C, Nr. 873; einen Überblick über die Anstaltsgeschichte 1924–1951 gibt Helmut Möller: Zur Geschichte der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: Hans Mieskes (Hg.): Jenaplan. Anruf und Antwort, Oberursel 1965, S. 295–312, einen aufschlussreichen zeitgenössischen Einblick Alexander: Training (wie Anm. 121), S. 216–236. 181 Petersen: Schulreform (wie Anm. 9), S. 52f ; MEA 1 (1925), S. 20–24; ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 61r–64v (Briefwechsel Stier-Scheibner v. 9./10.4.1924); UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310 (Auskunft Petersens v. 10.1.1926 an das Ministerium u. Ministerialschreiben v. 27.11.1926 über die Raumzuweisung für Scheibner u. Böhm in der EA); die Leitung der EA war nicht eindeutig geregelt; Petersens Ernennungsschreiben vom 4.9.1923 (wie Anm. 7), das Genehmigungsschreiben vom 7.2.1924 und das erläuternde Schreiben Wuttigs v. 7.2.1924 (wie Anm. 170) ließen das offen; Mathilde Vaerting verlangte 1924 vergeblich, an der Leitung der Anstalt beteiligt zu werden – PPAV, Ordner: Konflikte nach 1945/SPD/SED (Antwortschreiben des Ministeriums v. 23.5.1924 an Vaerting); 1929/30 prozessierte sie dafür wiederum vergeblich - UAJ, Best. D, Nr. 2938 (PA Vaerting), Bl. 36r–39r. 182 Vgl. Anm. 227.

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und dem Lehrer (Schulassistenten) Hans Wolff auf.183 Die Lehrveranstaltungen, Kurse und Praktika der Anstalt wurden von Petersen, Scheibner (bis 1928), Flitner (bis 1926), den Oberlehrern und Anstaltsassistenten sowie von Professoren verschiedener Fakultäten bestritten, nicht aber von Mathilde Vaerting und Anna Siemsen, die sich beide kaum in Jena aufhielten. Vaerting war aber an der Betreuung und Begutachtung von Dissertationen beteiligt. Einen beträchtlichen Lehranteil hatte der 1924 habilitierte Philosophie- und Pädagogikdozent Hermann Johannsen, der nach seiner Anstaltsassistenz 1924/25 einen besoldeten Lehrauftrag am Philosophischen Seminar wahrnahm, 1927 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde und Petersen 1929 während des Chile-Aufenthaltes als Leiter der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt vertrat.184 Im Wintersemester 1924/25 hatte die Anstalt 77 Mitglieder, darunter 40 Studierende für das Lehramt an Volksschulen, sechs Studierende für das Lehramt an höheren Schulen zur Fortbildung und zum Promotionsabschluss angemeldete Lehrer. Im Sommersemester 1926 waren 107 Studierende eingetragen, davon 16 Studentinnen und 37 Studierende für den Volksschuldienst.185 Die Studierenden der Anstalt bildeten die Erziehungswissenschaftliche Fachschaft.186 1925 bis 1934 erschienen „Mitteilungen aus der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt“, anfangs zweimal im Jahr, später in größeren Abständen. Sie informierten über Struktur, Innenleben, Personalbestand, Vorlesungen, Übungen, Kurse, Vorträge, Studienreisen und Dissertationen.187 Wie diese „Mitteilungen“ geben Petersens Publikationsreihen, die von ihm betreuten Promotionen und Publikationen oder die an der Anstalt angefertigten studentischen

183 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310 (Auskunft Petersens v. 10.1.1926 an das Ministerium über die Oberassistentenstellen); die Anstalts- und Schulassistenten 1924 bis 1933 sind verzeichnet in: MEA 5 (1929), S. 17 u. 6 (1934), S. 26; als Anstaltsassistenten: Hermann Johannsen (1924/25), Gerhart Sieveking (1925/27), Helmut Wiese (1927/29), Heinrich Döpp-Vorwald (1929/31, wieder seit 1932); Herbert Ruppert (1931/32); als Schulassistenten (Lehrer an der Universitäts-Übungsschule bzw. – seit 1926 – Universitätsschule): Hans Wolff (1924/28), Arno Förtsch (1925/28, wieder ab 1929), Robert Reigbert (1925/26), Wally Metz (1926/27), Karl Zeininger (1926/27 aushilfsweise), Alfred Sachse (1927/30), Ruth Gericke (1928/29), Heinrich Sesemann (1928/29), Wilhelm Ruhland (1929/30), Hildegard Borkenhagen (seit 1930), Käte Homack (1930/33), Melitta Müller (1930), Johanna Apelt (1931/32). 184 UAJ, Best. D, Nr. 1435 (PA Johannsen), Bd. 1; Best. M, Nr. 632, Bl. 420r, 421r; Dahms: Jenaer Philosophen (wie Anm. 27), S. 734f.; zu Anzahl und Inhalten der von Petersen selbst 1924 bis 1951/52 gehaltenen Lehrveranstaltungen vgl. Udo Decker: Zu Peter Petersens Wirken als Hochschullehrer, in: Reformpädagogik in Jena. Peter Petersens Werk und andere reformpädagogischen Bestrebungen damals und heute, Jena 1991, S. 25–29, hier S. 26f; eine Übersicht über Petersens Lehrveranstaltungen ist abgedr. bei Hein Retter (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe – Dokumente, Weinheim 1996, S.374–384. 185 MEA 1 (1925), S. 22; 4 (1926), S. 16. 186 PPAV, Ordner: Akten zur Erziehungswissenschaftlichen Anstalt (Fachschaft-Satzung v. 9.2.1924). 187 Neben den organisatorischen Mitteilungen vgl. insb. die Veranstaltungsverzeichnisse vom SS 1925 bis WS 1926/27 in: MEA 1 (1925), S. 20f; 2 (1925), S. 17–20; 3 (1926), S. 30–32; 4 (1926), S. 13–16 u. die Tätigkeitsberichte in: MEA 5 (1929), S. 13–16; 6 (1934), S. 21–27; knappe Angaben enthalten auch die Jahresberichte der EA 1930/31–1932/33 – UAJ, Best. C, Nr. 541–543 (Bde. XXIII–XXV der Jahresberichtssammlungen der Jenaer Universität).

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Abschlussarbeiten Einblicke in Lehr-, Forschungs- und Ausbildungsinhalte.188 Der durch Mittel der Carl-Zeiss-Stiftung und Kolleggelder ergänzte Anstaltsetat war zwar ausreichend, aber knapp bemessen und wurde von Petersen häufig überzogen.189 Prekär war die Raumsituation. Sie entspannte sich erst, als 1925/26 die zuvor vom Studentenwerk benutzten Räume Grietgasse 11 mit Mitteln der Carl-Zeiss-Stiftung umgebaut und der Anstalt zur Verfügung gestellt wurden.190 Nun konnte sie Sitz und Seminarräume dorthin verlegen. Die für Lehr- und Forschungszwecke genutzten Räume Grietgasse 17a standen der Schule wieder zur Verfügung. Das kam auch den Lehrerbildungsaufgaben der Anstalt nach der „Neuordnung der Lehrerbildung“ Ende 1924 zugute. Am 20. Dezember 1924 hoben Ausführungsbestimmungen zum Lehrerbildungsgesetz die Richtlinien vom Januar 1923 auf und verlängerten die universitäre Studienzeit von vier auf sechs Semester. Dem sollte sich nach bestandener Prüfung ein pädagogisch-praktisches Jahr als Hilfslehrer anschließen, in dem die Anstellungsfähigkeit für den Volksschuldienst geprüft wurde. Als Studienfächer schrieben die neuen Richtlinien Pädagogik, Philosophie, Psychologie und eine Fachwissenschaft nach freier Wahl für die künftige Berufstätigkeit vor. Pädagogik, Philosophie und Psychologie waren Pflichtprüffächer. Auf Antrag konnte anstelle eines Grundfaches im Wahlfach geprüft werden.191 Das entsprach der seit 1921 erhobenen universitären Forderung auf ein dreijähriges Universitätsstudium der theoretischen Fächer und einer anschließend einjährigen praktischen Ausbildung. Vorbereitet wurde diese „Neuordnung“ durch den Pädagogischen Ausschuss der Universität und durch den am 23. Juni 1924 unter Vorsitz Leutheußers konstituierten, dann vom Ministerialrat Carl Schnobel geleiteten Landesausschuss für Erziehung und Unterricht.192 Maßgeblichen 188 Petersen gab u.a. die FWE heraus; vgl. weiterhin die im UAJ, Best. T, Abt. I/M (Promotionsakten der PhF 1864–1976) überlieferten Promotionsakten der EA sowie die im UAJ, Best. F, Abt. V überlieferte Sammlung der seit 1925 an der EA bzw. am PI angefertigten schriftlichen Hausarbeiten nebst Prüfungsakten für das Lehramt an der Thüringischen Volkschule; beide Quellengruppen sind bislang nicht systematisch ausgewertet worden; eine Übersicht über die von Petersen begutachteten Dissertationen ist abgedr. bei Retter: Petersen (wie Anm. 184), S. 395–397. 189 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310 (Studien- und Finanzangelegenheiten PS/EA 1922–1932); zur finanziellen Förderung der EA durch die Carl-Zeiss-Stiftung vgl. auch Matthes: Finanzier (wie Anm. 15), S. 176–178. 190 UAJ, Best. C, Nr. 872, Bl. 1r, 129r, 150r. 191 Abl ThMfV 3 (1924), S. 166; MEA 1 (1925), S. 12–16; eine neue Prüfungsordnung v. 22.7.1926 präzisierte diese Neuordnung – Abl ThMfV 5 (1926), S. 227–230; zu den Richtlinien 1923 vgl. Anm. 128. 192 UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 67r–72r; MEA 1 (1925), S. 11f.; als Universitätsvertreter waren Haußner, Michels, Peters, Petersen, Scheibner, Wundt und der Dekan Plate an dieser „Neuordnung“ beteiligt; Carl Schnobel (1863–1944) war zunächst Gymnasialprofessor und Direktor des Gymnasiums in Arnstadt; 1921 wurde er als Oberregierungsrat Abteilungsleiter für die höheren Schulen im ThMfV und kam in dieser Funktion in ein Spannungsverhältnis zu Kühnert (wie Anm. 25), von dem er nach dem Regierungswechsel 1924 die Aufsicht über Lehrerbildung und Prüfungswesen übernahm; Schnobel war nach 1924 Herausgeber der Schulgesetzsammlung (wie Anm. 117), Vorsitzender des staatlichen Prüfungsamtes für wissenschaftliche Lehrer an höheren Schulen und an der Volksschule, Sachbearbeiter für Lehrerbildung und Angelegenheiten des PI, Ministerialvertreter im PädA der Universität und im Beirat des PI sowie zeitweise Leiter

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Anteil hatte Petersen, der seit März 1924 entsprechende, mehrfach überarbeitete Entwürfe mit dem Ziel vorlegte, die Lehrerbildung an seiner Anstalt zu konzentrieren.193 Die seit der Umwandlung der Übungsschule schwelenden Konflikte mit den Lehrervereinen konnte Petersen im Zuge dieser „Neuordnung“ etwas entschärfen. Der Bildungsausschuss des Jenaer Lehrervereins erklärte am 22. Juni 1924, er begrüße die von Petersen für wissenschaftliche Zwecke eingerichtete „Versuchsschule“, sofern sie tatsächlich nur der Forschung und nicht der Lehrerbildung diene. Allerdings müsse sie dann auch strikt von einer städtischen „Besuchsschule“ für hospitierende Lehrerstudenten und von einer noch einzurichtenden „Übungsschule“ für die praktische Berufsausbildung in der Tradition der Reinschen Schule unterschieden werden.194 Die „Neuordnung“ vom Dezember 1924 übertrug die Lehrerausbildung Petersens Erziehungswissenschaftlicher Anstalt. Damit wurde die thüringische Lehrerbildung – wie Petersen betonte – in damals einmaliger Weise „ganz und gar von der Universität aus aufgebaut“ und von einem Universitätsinstitut getragen.195 Das sahen auch Außenstehende so. „The new regulation of the academic training of elementary teachers represented the only one in Germany, outside that at Hamburg, which was entirely supported by a university“ – schrieb Thomas Alexander in seinem Buch über die deutsche Volksschullehrer-Ausbildung. „The program, as outlined by the university of Jena, is probably the most thoroughgoing of all the new planes in Germany“.196 Allerdings lagen die Jenaer Studentenzahlen deutlich unter denen großstädtischer Universitäten. Bis zur Auflösung aller Lehrerseminare war nur mit vergleichsweise wenigen neu Studierenden zu rechnen. In der von Schnobel geleiteten staatlichen Prüfungskommission waren Petersen, Scheibner und Weiß Fachprüfer für Pädagogik. In der Anstalt übernahm Petersen den theoretischen, Scheibner den praktischen Teil der Lehrerausbildung. Die Schulpraktika fanden an Jenaer Volksschulen, in beschränktem Maße auch an der Anstaltsschule statt. Das Tauziehen um entsprechende Jenaer „Besuchsschulen“ beendeten Ministerium und Schulamt im Juni/Juli 1924 mit dem Entscheid, dafür seien vor allem die Tal- und die Schillerschule zuständig und mit zusätzlichen Lehrkräften auszustatten.197 Über die Berufsausbildung der Volksschullehrer hinaus bemühte sich die Anstalt auch um deren Fortbildung. Seit 1925 bot sie „didaktische Kurse für allgemeine Fortbildung und Fachbildung“, Kurse zur Ausbildung von Schultechniken im Sinne der Arbeitsschulbewegung sowie Vorlesungen Scheibners zur „werktätigen Erziehung“ an.

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der Landesturnanstalt; 1932 wurde er in den Ruhestand versetzt – ThHStAW, PABV 36161 (PA Schnobel). Anm. 143; UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 73r–81r; MEA 1 (1925), S. 11f. UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 65r. Peter Petersen: Die akademische Lehrerbildung an der Universität Jena, in: Schulreform 5 (1926), S. 51–58, Zit. S. 54. Alexander: Training (wie Anm. 121), S. 217 u. 219; das sei das Verdienst Petersens, „[who] represents one of the most progressive groups of educators [... and has] come in sharp conflict with the reactionary element in the schools“, insb. „to the Herbartians, who reprensent the conservative element in the profession“ (S. 216 f.); Riekel: Lehrerbildung (wie Anm. 121), S. 62f. hob ausdrücklich Petersens Verdienst für die dreijährige universitäre Volksschullehrerausbildung hervor. ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 93r, 95r; UAJ, Best. M, Nr. 732, Bl. 61r, 64r.

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Innerhalb der Anstalt fanden vier- bis fünfmal pro Semester „Ausspracheabende“ zu aktuellen erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Problemen statt. An ihnen wie an den häufigen Studienreisen der Anstalt nahmen Lehrkräfte und Studierende teil. Schon vor Petersens mehrmonatigen Auslandsaufenthalten 1928/29 (USA, Chile) stand die Anstalt in internationalem Austausch und Verbindung mit dem Genfer Rousseau-Institut, der Pädagogischen Fakultät der II. Russischen Staatsuniversität Moskau, dem „Paedagogisk Studiekreds“ Kopenhagen, dem International Institut der Columbia Universität New York, dem Antioch College Ohio, dem Kreis um die „Revista de Pedagogía“ Madrid, der Vereinigung „De Nieuwe Opvoeding“ Hilversum und der New Education Fellowship in London. 198 Seit 1926 führte die Anstalt jährlich, mitunter auch mehrfach im Jahr „Pädagogische Wochen“ für auswärtige Interessenten und Hospitanten mit Vorträgen zu thematischen Schwerpunkten und mit Hospitationen an der Schule durch.199 Sie standen in gewisser Konkurrenz zu den Ferienkursen Reins, die dessen Schüler nach seinem Tode (1929) mit allerdings abnehmender Resonanz weiterführten. In erster Linie fanden diese „Pädagogischen Wochen“ wegen Petersens Schule „neuen Typus“ Zuspruch, nachdem sein Locarno-Vortrag 1927 diesen Jenaer Schulversuch als „Jena-Plan“ international bekannt gemacht hatte.200 Die Universitätsschule und ihr Freundeskreis Petersens ursprüngliche Absicht, den Schulversuch in der Talschule einzurichten, hatte sich zerschlagen. So begann er ihn Ostern 1924 in der Grietgasse 17a mit 21 Kindern (14 Knaben, 7 Mädchen) in einer von Hans Wolff geleiteten Grundschulklasse. Das Interesse an dieser neuen Schule war groß. Ein Jahr später lagen bereits über 60 Anmeldungen vor. Petersen verfügte unterdes über die bei den Umwandlungskonflikten 1924 von der Fakultät und dem Ministerium zugesagten zusätzlichen Räume. Auf dieser Grundlage teilte er Anfang 1925 dem Ministerium mit, er könne die 1924 aus Raumgründen auf eine Klasse beschränkte Schule nun – wie damals zugesagt – wieder auf drei Klassen ausdehnen, wofür er zwei weitere Lehrerstellen benötige.201 Im März 1926 zählte die Schule 69 Kinder in drei von Wolff (1. bis 198 MEA 5 (1929), S. 15. 199 PPAV, Ordner: Pädagogische Wochen; Möller: Geschichte (wie Anm. 180), S. 299; die insgesamt 24 Wochen fanden bis 1933 in dichter Folge meist im Juli statt, 1937 bis 1941 gar nicht, dann wieder 1942 u. 1943 und 1947 zum letzten Mal; mit Ausnahme der 4. Woche 1927 (in Etelsen bei Bremen), der 9. Woche 1932 (in Finsterwalde) und der 16. Woche 1934 (in Rahden) wurden sie in Jena durchgeführt; Kluge: Petersen/Biographie (wie Anm. 2) u. Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132) erwähnen einige dieser Wochen; die 4. Woche v. 3.–6.10.1927 fand in Verbindung mit der anschließenden Jahrestagung der Bremer Versuchsschulen am 7./8.10.1927 statt; zu diesen vgl. Tobias Rülcker: Die Bremer Versuchsschulen als Erprobungsfeld der Demokratie, in: Neuhäuser/Rülcker: Reformpädagogik (wie Anm. 72) S. 115–142. 200 Die Universitätsschule in Jena. Ein neuer Typus, in: ThAZ v. 24.2.1927; Zeitungsausschnitt in ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 119r u. PPAV, Ordner: Akten zur Erziehungswissenschaftlichen Anstalt; Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 99); Beitrag von Franz-Michael Konrad in diesem Band. 201 UAJ, Best. D, Nr. 2345 (PA Reigbert), n.p. (Antrag Petersens v. 31.1.1925 an das Ministerium zur Einstellung Reigberts).

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3. Schuljahr) und von den 1925 neu eingestellten Lehrern Arno Förtsch (4. bis 6. Schuljahr) und Robert Reigbert (7./8. Schuljahr) geleiteten Gruppen.202 Damit war ihre Kapazität freilich bereits ausgelastet. In den folgenden Jahren blieb es bei dieser Struktur und Größenordnung. Zu den Grundprinzipien seiner Schule zählte Petersen Gemeinschaft, Jahrgangsmischung, ein neues Lehrer-Schüler-Verhältnis und die enge Verbindung von „schulfroher Elternschaft“ und hoch motivierten Erziehern.203 Das war aus Petersens Sicht mit einem autoritären Erziehungsstil unvereinbar. Der Lehrer müsse sich vom Irrweg der Belehrung und autoritären Entscheidung verabschieden, nicht „Eiferer um ‚absolvierte‘ Stoffe“, sondern „Wecker jugendlicher Kräfte“ sein. „Schöpferische Arbeit“ und „selbst verantwortete Freiheit“ seien „des Kindes wahre[r] Erzieher“. Dafür habe der Lehrer das nötige Umfeld zu schaffen und nicht zu versuchen, auf Willen und Gesinnung der Schüler einzuwirken. Er dürfe dem Kind nur als „rein pädagogische Autorität“ gegenüber treten und den „natürlichen Trieb des Kindes zum Gehorsam“ nicht missbrauchen.204 Von den Eltern müsse erwartet werden, dass sie mit den Schul-Grundsätzen einverstanden seien und ihre Ansichten „in loyaler Weise zur Erörterung [zu] stellen“.205 Die Zusammenarbeit mit den Eltern erfolgte individuell wie über Versammlungen und einen Elternrat. Bei anfangs noch geringer Kinderzahl trafen sich die Eltern – erstmals am 2. Mai 1924 – zunächst nur zu Elternabenden und -versammlungen. Einen Elternrat wählten sie erst zu Beginn des zweiten Schuljahres am 27. März 1925.206 Petersen und die Lehrer nahmen regelmäßig an seinen Sitzungen und an den Elternversammlungen teil. Von Anfang an identifizierten sich die Eltern mit dem Schulversuch, der „dem freien Willen und den Veranlagungen der Kinder reichs-

202 MEA 3 (1926), S. 34; zu den ersten drei Lehrern liegen im UAJ und ThHStAW nur – zudem wenig ergiebige – Personalakten vor, Wolff (UAJ, Best. D, Nr. 3143), Reigbert (UAJ, Best. D, Nr. 2345) und Förtsch (ThHStAW, PABV 6681); alle drei promovierten bei Petersen – Wolff 1927 zum Thema „Die Kinderzeichnung“, Reigbert, der bereits 1926 wieder nach Nürnberg zurückging, 1929 extern über „Ausdruckspsychologie“ (vgl. Anm. 462) u. Förtsch 1933 über „Freies Werkschaffen und Gestaltungstypen. Ein Beitrag zur pädagogischen Charakterologie“ (= FWE 19), Weimar 1933; alle drei waren aktiv in die „Darstellung und Auswertung des Jenaer Schulversuchs“ einbezogen – vgl. Anm. 158 u. 223–225; zu den weiteren Lehrern der Universitätsschule bis 1933 vgl. Anm. 183. 203 Peter Petersen: Zur Entstehungsgeschichte des Jenaplans, undat. – UAJ, Best. V, Abt. II (NL Petersen), Nr. 1, Bl. 12r–16r, hier Bl. 14r; Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 99), S. 8. 204 Peter Petersen: Der Lehrer als „Führer“ im Unterricht (1924), in: ders.: Innere Schulreform (wie Anm. 9), S. 253–264, Zit. S. 256, 264; ders.: Gemeinschaftsleben (wie Anm. 97), S. 103; ders.: Jena-Plan (wie Anm. 99), S. 19; vgl. auch ders.: Erziehung und Führung. Ein Grundproblem der allgemeinen Erziehungswissenschaft, in: Pädagogische Antithesen. Vorträge von S. Behn, L. Bopp, M. Honecker, G. Kerschensteiner, Th. Litt, P. Petersen (= Mainzer Abhandlungen zur Philosophie und Pädagogik 2), Karlsruhe 1926, S. 73–102; zur sinnentstellenden Interpretation der Jenaplan-Pädagogik als „totalitär-autoritär“ vgl. Anm. 229. 205 Grundzüge der Schulordnung und des Schullebens für die Hand der Eltern bestimmt, abgedr. in: Peter Petersen: Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung (= Der Jena=Plan 1/FWE 13), Weimar 1930, S. 202–204, Zit. S. 204; Entwurf in: PPAV, Kasten 17, Nr. 9. 206 PPAV, Protokollbuch des Elternrates der Seminarschule/Universitätsschule Jena; die 1. Sitzung des Elternrates fand am 23.4.1925 statt; zum Elternrecht vgl. Anm. 118.

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te[n] Spielraum“ geben wolle.207 Sie waren „überzeugt von der Wichtigkeit des Versuchs und dem Segen, der für ihre Kinder aus dem Zusammenleben von Kindern der verschiedensten Stände und Schulbegabung“ erwachse.208 Als „Allgemeine Deutsche Volksschule“ („Einheitsschule“) nahm Petersens Schule „Kinder beiden Geschlechts, aller Begabungen und aller Stände ohne Unterschied des Bekenntnisses“ auf.209 Umso empörter reagierte Petersen auf den von den Regierungsparteien im Gesetzgebungsausschuss des Thüringer Landtages erhobenen Vorwurf, seine Schule sei eine „Standesschule“.210 Er überreichte am 15. Januar 1926 Friedrich Stier eine Liste der von den Vätern der eingeschulten 69 Kinder ausgeübten Berufe, die eine breite soziale Mischung zeige. Freilich müsse er der „Mitarbeit des Elternhauses sicher“ sein. Deshalb komme für seine Schule nur ein Elternkreis in Betracht, der „gesinnungsgemäß die Schularbeit stützt“.211 In diesem Sinne antwortete Stier am 25. Januar dem Ausschuss-Vorsitzenden Georg Witzmann, der als einstiger Wortführer der Opposition gegen Greils Schulpolitik wahrlich nicht zu den Sympathisanten der „Petersen-Schule“ gehörte.212 Am 19. Februar 1926 beantragte Petersen beim Ministerium, den Namen „Universitäts-Übungsschule“ in „Universitätsschule Jena“ zu ändern. Das sei nötig, weil die alte Bezeichnung „ständig zu missverständlichen Auffassungen in der pädagogischen Welt Anlass“ gebe und seine Schule keine bloße „Übungsschule zur Erlernung von Unterrichtstechniken und -methoden“ mehr sei. Solche Aufgaben übernehme das Schulpraktikum. Seine Schule diene „der Forschung und der pädagogischen Anschauung für die Studierenden der Erziehungswissenschaft“, nicht der praktischen Lehrerbildung.213 Nach Zustimmung der Philosophischen Fakultät genehmigte das Ministerium den beantragten neuen Namen zum 1. Juli 1926.214 Hingegen scheiterte 207 Ebd. (Petersen in der Elternversammlung am 11.7.1924). 208 ThHStAW, ThMV C 356, Bl. 130r (Erklärung der Elternschaft v. 26.10.1925 zur beantragten Oberstufe); Abschrift in: UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310. 209 Grundzüge (wie Anm. 205), S. 202. 210 ThHStAW, ThMV C 356, Bl. 106r (informierendes Schreiben Stiers v. 8.1.1926 an Petersen mit der Bitte um Auskünfte) 211 Ebd., Bl. 107r (Antwortschreiben Petersens v. 15.1.1926) mit beigefügter Liste (Bl. 108r); Abschriften in: UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310; zum sozial und politisch gemischten, freilich deutlich intellektuell und industriell geprägten, eher liberalen und linken Milieu der Schule vgl. auch Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus. Zugleich eine Kritik der Fragwürdigkeiten jüngster „Petersen-Forschung“ (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 13), (Jena) 2010, S. 85–110. 212 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 109r; zu Witzmann vgl. Anm. 126. 213 ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 116r; Abschriften in: UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310, n.p. u. Best. M, Nr. 704, Bl. 334r; die Schule war zwar bis 1927/28 in die Hospitationspraktika für Lehrerstudenten einbezogen; das war aber nicht ihre Hauptaufgabe; Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 127 f. erwähnt diesen Antrag Petersens, ohne von seiner Annahme abzurücken, Petersen habe den Schulversuch insb. für Lehrerbildungszwecke eingerichtet. 214 ThHStAW,ThVM C 356, Bl. 117r–118v; UAJ, Best. M, Nr. 704, Bl. 333r–336r; Best. C, Nr. 872, Bl. 136r; bei dem 1926 verliehenen Namen („Universitätsschule Jena an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der thüringischen Landesuniversität“, in gekürzter Form „Universitätsschule Jena“) blieb es bis zur Auflösung der Schule 1950; das Protokoll der letzten Elternversammlung am 11.8.1950, in der die Volksbildungsministerin Marie Torhorst (SED) die Auflösung der Schule als ein „reaktionäres, politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik“ unter

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Petersens Versuch, die Schule über das achte Schuljahr hinaus zu erweitern. Sein von der Elternschaft unterstützter Antrag vom 26. Oktober 1926 an das Ministerium, den Schulversuch durch einen „Oberbau der Volksschule“ auszudehnen, um die Kinder so zu einem „organischen Abschluss“ führen zu können, blieb ergebnislos.215 Dieser Versuch – schrieb Stier am 27. November 1926 an Petersen – könne allenfalls für die jetzt in der Schule befindlichen Kinder gestattet werden; die Universitätsschule müsse künftig auf die Volksschule beschränkt werden.216 Petersen zog daraus Konsequenzen. Er wolle – schrieb er am 3. August 1928 aus den USA an seine neue Lebensgefährtin Else (geb. Müller) – „zu einem möglichst reinen Volksschulversuch mit Richtung nur auf Aufbauschule“ und nur ganz vereinzelten Ausnahmen kommen. Die Last eines weiter reichenden Schulversuchs werde sonst untragbar.217 Eine reguläre Schulordnung erhielt die Universitätsschule erst 1930. Als „Allgemeine Deutsche Volksschule“ – hieß es darin – stelle sich die Universitätsschule auf die „Volksgemeinschaft“ und auf das für ihre Arbeit verbindliche Verfassungsgebot ein, „im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“ zu erziehen.218 Als „wissenschaftliche Versuchsschule“ war sie laut Schulordnung „der Universität angegliedert“ und „untersteht dem Ordinarius der Erziehungswissenschaft“. Darin drückt sich ihr besonderer Rechtsstatus als Institution der Thüringischen Landesuniversität aus. „Die Eltern, die ihre Kinder dieser Schule zuführen“, hieß es daran anschließend in der Schulordnung, „sind gebeten, sich den Versuchscharakter der Schule stets bewußt zu halten, und nicht Maßstäbe anzulegen, die dem überlieferten Schulwesen entnommen sind.“ Nach den Grundsätzen der Schulreformbewegung verstand Petersen seine Universitätsschule als eine jener „reformpädagogischen“ Versuchsschulen, die nach dem Motto „Aus der Schule als Ganzem etwas Neues machen“219 ein neues „Leitbild Schule“ und eine „Reformation der Schule an Haupt und Gliedern“ anstrebten.220 Dafür müssten solche Schulen aber „mitten im öffentli-

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Protest der Eltern bekannt gab, ist abgedr. bei Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 156), S. 298–306, Zit. S. 299; im PPAV ist es im Ordner: Zu Peter Petersen überliefert. ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 129r, 130r, 132r–136r. Ebd., Bl. 132r; Abschrift in: UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 310. PPAV, Ordner: Briefwechsel Amerika, Teil 2. Grundzüge (wie Anm. 205), S. 202; das entsprach dem „Gemeinschafts“-Denken und den Grundsätzen der Schulreform-Bewegung und der staatsbürgerlichen Erziehung gemäß Art. 148 WRVf – vgl. Haenisch: Bahnen (wie Anm. 52), S. 97–99; Gustav Radbruch: Die Aufgaben des staatsbürgerlichen Unterrichts (1924), in: ders.: Politische Schriften aus der Weimarer Zeit II. Justiz, Bildungs- und Religionspolitik (= Gustav Radbruch Gesamtausgabe 13), bearb. v. Alassandro Baratta, Heidelberg 1993, S. 239–250, hier S. 239f.; es sei Aufgabe der „neuen Erziehung“, zur „Vertiefung des Nationellen“ und zur „Verständigung der Völker“ beizutragen – so Wilhelm Flitner: Die Reformpädagogik und ihre internationalen Beziehungen (1931), in: ders.: Die Pädagogische Bewegung. Beiträge – Berichte – Rückblicke (= Wilhelm Flitner. Gesammelte Schriften 4), besorgt v. Ulrich Herrmann, Paderborn u.a. 1987, S. 290–307, hier S. 296; vgl. hierzu und zum Rechtsstatus der Schule auch den Beitrag von Peter Fauser in diesem Band; hingegen unterstellt Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132) der Jenaplan-Pädagogik einen ganz anderen – tendenziell in den Nationalsozialismus weisenden – Sinn; vgl. auch Anm. 87–90 u. 229. Petersen: Entstehungsgeschichte (wie Anm. 203), Bl. 14r. Franz Hilker (Hg.): Deutsche Schulversuche, Berlin 1924, S. 449; zum Sammelbegriff „Reformpädagogik“ als „stilmäßiger Einheit“ unterschiedlichster Ansätze „pädagogischer Erneue-

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chen Leben“ stehen. Trotz verdienstvoller Sammelwerke221 sei von ihrem Innenleben meist wenig bekannt. Er selber lege größten Wert darauf, dass über seine Schule berichtet werde. Deshalb verpflichte sie auswärtige Besucher zu längerer Hospitation und die Hospitanten, kritische Berichte zu schreiben, aus der die Schulleitung viel lernen könne. Dem seien aber bei einer noch „in der Entwicklung begriffenen und der Forschung dienenden Schule“222 Grenzen gesetzt, um Lehrer und Schüler nicht unvertretbar zu belasten. Umso wichtiger seien gedruckte Jahresberichte wie der Bericht seines ersten Lehrers Hans Wolff über das erste Schuljahr 1924/25.223 Sie könnten interessierten Eltern und Kollegen Einblick in das „innere Schulleben“ seiner Versuchsschule geben. Seit dieser Schrift und der – später „Kleiner Jenaplan“ genannten – ersten „Jena-Plan“-Schrift (1927) weitete Petersen die gedruckten „Berichte über die JenaPlan-Arbeit“ zu einem ganzen System der „Darstellung und Auswertung des Jenaer Schulversuchs“ aus.224 In dessen Zentrum standen die später „Großer Jena-Plan“ genannten drei Schulbeschreibungs-Bände.225 Intern sammelte die Schule die dem Unterrichtsprozess entstammenden Berichte und Schülerarbeiten.226 Zudem machte Petersen den Schulversuch selbst zum Forschungsgegenstand. Das gilt vor allem für die seit 1931 von Elsa Köhler (Wien), seit 1934 bis zur Auflösung der Schule 1950 dann von Else Müller-Petersen systematisch unterrichtsbegleitend betriebene „pädagogische Tatsachenforschung“ mit dem Ziel, die „neue Unterrichtsform und Schulwelt durch pädagogische Tatsachenforschung in sich selber [zu] erfassen, [zu] beschreiben und wissenschaftlich [zu] ordnen“.227 Diese Verbindung von

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rung“ und „neuer Erziehung“ vgl. Flitner: Reformpädagogik (wie Anm. 218); zur kritischkontroversen Debatte um die historische Reformpädagogik vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4 Weinheim/München 2005; Winfried Böhm/Jürgen Oelkers (Hg.): Reformpädagogik kontrovers (= Erziehung Schule Gesellschaft 3), Würzburg 1995; Hein Retter (Hg.): Reformpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004; ders.: Klassische Reformpädagogik im aktuellen Diskurs (= Pädagogische Reform 12), hg. v. Alexandra Schotte, Jena 2010. Fritz Karsen (Hg.): Die neuen Schulen in Deutschland, Langensalza (1924); Hilker: Schulversuche (wie Anm. 220); Deiters: Schule (wie Anm. 89). Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 158), S. VII. Ebd., S. 55–146; in einer Rezension des Buches schrieb Fritz Karsen, Petersen habe Reins Jenaer Universitäts-Übungsschule frei von alten Zwängen nach den Prinzipien der Versuchs- und Lebensgemeinschaftsschule „neu aufgebaut und sie in die Hände des Lehrers Hans Wolff gelegt“, in: Lebensgemeinschaftsschule. Mitteilungsblatt der neuen Schulen (1926), Nr. 1, S. 95; zu Wolff (1897–1984), der 1928 von der Universitätsschule in die Lehrerbildung wechselte, vgl. auch den Beitrag von Peter Fauser in diesem Band sowie seinen Erinnerungsbericht „Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte des Jenaplanes“, in: Theodor F. Klaßen/Ehrenhard Skiera (Hg.): Pädagogik der Mitmenschlichkeit. Beiträge zum Petersen-Jahr 1984, Heinsberg 1984, S. 33–42. MEA 6 (1934), S. 27–31; Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 99). Petersen: Schulleben (wie Anm. 205); ders./Arno Förtsch: Gestaltendes Schaffen im Schulversuch der Universitätsschule Jena 1925 bis 1930 (= Der Jena=Plan 2 / FWE 14), Weimar 1930; Peter Petersen (Hg.): Die Praxis der Schulen nach dem Jena=Plan (= Der Jena=Plan 3), Weimar 1934, S. 21–151 (Aus Leben und Arbeit der Universitätsschule Jena 1930–1934). UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 137–170 (Berichte der Unter-, Mittel- und Obergruppen 1925/26– 1944/45); PPAV, Ordner: Universitätsschule, Bd. 3 (Objektive Berichte 1928–1932); Sammlung von Schülerarbeiten. Petersen: Entstehungsgeschichte (wie Anm. 203), Bl. 15r; vgl. auch Peter Petersen: Eigenständige

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Schulversuch und empirischer Unterrichtsforschung war ungewöhnlich für die Reformpädagogik, international herausragend und in Deutschland bahnbrechend. Damit setzte Petersen ein Programm in die Tat um, das die geisteswissenschaftlichen Pädagogen seiner Zeit zwar forderten, aber nicht realisieren konnten. Neben den von der Schule selbst veröffentlichten Berichten gaben Besuchs- und Elternberichte – wie die Thomas Alexanders, Ellen Eppensteins und Ada Weinels –228 Einblicke in das reformpädagogische, von den Prinzipien der „Gemeinschaft“ und der „Erziehung zur Freiheit“ geprägte „innere Schulleben“ der Universitätsschule,229 das sich vom sonstigen schulischen Umfeld deutlich unterschied. Das betraf Unterricht und Schulleben ebenso wie ihre Nähe zum liberalen industriellen Milieu Jenas oder die Atmosphäre ihrer mit Bauhaus-Möbeln ausgestatteten, farblich unter anderem vom neuen Jenaer Kunstverein-Geschäftsführer Walter Dexel gestalteten Räume.230 Überhaupt setzten sich die Eltern sehr aktiv für „ihre Schule“ und dafür ein, dass sie sich erweitern und ihre Lehrmethoden in das öffentliche Schulwesen tragen könne. Dafür bereitete der Elternrat einen „Freundeskreis der Universitätsschule“ (anfangs „Freundeskreis der Neuen Erziehung“) als Förderverein vor. Ihm sollten sich über die (autonome) Erziehungswissenschaft und Jena-Plan im Dienste der pädagogischen Tatsachenforschung und der Lehrerbildung (= Pädagogische Studienhilfen 3), München 1951; die Protokolle der „pädagogischen Tatsachenforschung“ sind nicht geschlossen überliefert, einige z.B. in UAJ, Best. V, Abt. XXX (Ingeborg Maschmann), Nr. 2–4; umfangreiches Material enthält die Publikation von Peter Petersen//Else Petersen: Die pädagogische Tatsachenforschung(= Schöninghs Sammlung pädagogischer Schriften. Quellen zur Geschichte der Pädagogik), besorgt v. Theodor Rutt, Paderborn 1965; neben Einzelschriften – darunter die entsprechenden Beiträge in Koerrenz/Lütgert: Jena-Plan (wie Anm. 151) – gibt es bislang keine systematische Darstellung der Geschichte der „pädagogischen Tatsachenforschung“; in vergleichender Perspektive vgl. Karin Kleinespel: Schulpädagogik als Experiment. Der Beitrag der Versuchsschulen in Jena, Chicago und Bielefeld zur pädagogischen Entwicklung der Schule, Weinheim/Basel 1998. 228 Alexander: Training (wie Anm. 121), S. 226ff., 230ff.; Alexander/Parker: Education (wie Anm. 72) , S. 58–64; Die Jenaer Universitätsübungsschule. Nach einem von Frau E. Eppenstein vor den demokratischen Frauen gehaltenen Vortrage. Sonderdruck des „Jenaer Volksblattes“, in: ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 105r (am 16.12.1925 von Petersen übersandt); Ada Weinel: Aus dem Leben einer Jenaer Schule, in: Kindergarten 67 (1926), S. 265–267; beide Berichte sind abgedr. bei Retter (Hg.): Petersen (wie Anm. 184), S. 123–132; zu Ada Weinel u. ihrem Mann – dem liberalen Jenaer Volkskirchen-Theologen und Mitbegründer der Thüringer Volkshochschule Heinrich Weinel – vgl. Katharina Franz: Ada Weinel geb. Thoenes. Eine Lebensgeschichte aus den Anfängen von Frauenbildung und Reformpädagogik, Rudolstadt/Jena 1998 (mit einem Erinnerungsbericht der Weinel-Tochter Katharina an den Besuch der Universitätsschule S. 147– 152); Ernst Koch: Christentum zwischen Religion, Volk und Kultur. Beobachtungen zu Profil und Wirkungen des Lebenswerks von Heinrich Weinel, in: John/Wahl: Konvention (wie Anm. 2), S. 127–160; Weinel gehörte zu den Teilnehmern der Weimarer Tagung verfassungstreuer Hochschullehrer 1926 – vgl. Anm. 373. 229 Vgl. den Beitrag von Peter Fauser in diesem Band; Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 107–172 beschreibt den „Jena-Plan“ als eine vom „Gesetz der Gruppe“ diktierte, auf die „Überwältigung“ und „Unterwerfung“ der Schüler nach dem „Führer-Gefolgschafts“-Prinzip gerichtete, im „Grundzug totalitäre“ Schultheorie und -praxis, in der das „Gemeinschafts-“ Denken dazu diente, die Individualität der Schüler zugunsten der „gemeinschaftsorientierten Persönlichkeit“ zu überwinden. 230 Retter: Universitätsschule (wie Anm. 211); Matthes: Finanzier (wie Anm. 15), S. 176–178; Kluge: Petersen/Biographie (wie Anm. 2), S. 154–156; zu Dexel vgl. auch Wahl: Jena (wie Anm. 54), S. 219–244; Maria Schmid (Hg.): Dexel in Jena, Jena 2002.

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Elternschaft hinaus Sympathisanten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mit dem Ziel anschließen, die Schule zu fördern, die Ideen moderner Pädagogik zu propagieren und die Gründung einer dem Schulkonzept der Universitätsschule folgenden öffentlichen Volksschule in Jena vorzubereiten. Dieser „Freundeskreis“ wurde auf einer von Reinhard Buchwald geleiteten Versammlung am 10. Februar 1926 in den Jenaer Rosensälen gegründet.231 Der Verein gab sich eigene Satzungen und verabschiedete „Richtlinien für den Aufbau einer Versuchsschule als öffentlicher Volksschule der Stadt Jena“.232 Sie sollte nach den Grundsätzen einer freien „Gemeinschaftsschule“ unterrichtet werden, aber dem Schulamt Jena unterstehen. Bis Ostern lagen dafür bereits über 200 Anmeldungen vor. Deshalb beantragte der Vorstand des Freundeskreises bei Schulamt und Ministerium zunächst vier bis fünf Klassenräume in einer Jenaer Schule233 und richtete ein entsprechendes Gesuch an den Landtag.234 Das Ministerium lehnte das ab. Es könne eine solche Versuchsschule nicht „zu Lasten des Jenaer Schullebens“ einrichten, „ohne damit eine grundsätzliche Ablehnung von Schulversuchen zum Ausdruck bringen zu wollen“.235 Vergeblich protestierte der Freundeskreis mit einer öffentlichen Mitgliederversammlung am 9. Juni 1926 im Jenaer Volkshaus.236 Ein Jahr später empfahl Petersen Verhandlungen mit dem neuen Schulrat, wobei er selber – wie er dem Vorsitzenden des Freundeskreises aus Locarno schrieb – besser im Hintergrund bleiben wolle.237 Im Januar 1928 wandte sich der Vorstand erneut ergebnislos an den Landtag.238 Er schöpfte aber durch den Neubau der „Südschule“ wieder Hoffnung und beantragte im Dezember 1928 dort Räume für zwei Versuchsklassen.239 Der Antrag beschäftigte am 29. Januar 1929 die Mitgliederversammlung des Freundeskreises. Dabei warf Carl Theil dem Vorstand vor, nach längerer Untätigkeit 231 MEA 3 (1926), S. 34 (Mitteilung über die Gründung); Protokolle der vorbereitenden ElternratsSitzungen v. 14.1. u. 26.1.1926 u. der Gründungsversammlung v. 10.2.1926 in: PPAV, Protokollbuch ER (wie Anm. 206); ein weiteres hs. Protokoll der Gründungsversammlung in: UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 312 n.p. (Protokollbuch FK), eine ms. Abschrift in Nr. 315, n.p; Mitgliedskarten des FK befinden sich in Nr. 313, n.p.; den Vorsitz des FK übernahm Dipl.-Ing. Opitz; bis 1933 führte der FK eine öffentliche Versammlung (wie Anm. 236) und drei reguläre Mitgliederversammlungen (30.3.1926, 29.1.1929, 26.2.1931) durch; die beiden Mitgliederversammlungen 1933 (3.4./15.12.) und die Vorstandssitzung 1934 (12.1.) mit dem Rücktritt des bisherigen Vorsitzenden standen im Zeichen „sich anpassender“ Umgestaltung; erst im Dezember 1939 führte der FK wieder eine Versammlung durch und löste sich im Januar 1940 auf – UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 312; einzelne Aspekte der FK-Geschichte behandelt Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 198–202. 232 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 313; abgedr. in: MEA 4 (1926), S. 20f. (Richtlinien) u. 22f. (von der Mitgliederversammlung am 30.3.1926 verabschiedete Satzung). 233 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 315 (Abschriften des Schreibens v. 6.4.1926). 234 ThHStAW, ThVM C 356, 113r–115r (Schreiben v. 28.4.1926). 235 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 315 (Antwortschreiben v. 29.5.1926). 236 Ebd. (hs. Protokoll); vgl. auch den Bericht über die Versammlung im „Jenaer Volksblatt“ v. 12.6.1926 mit Abdruck des Antwortschreibens, Zeitungsausschnitt in: ThHStAW, ThVM C 356, Bl. 112r. 237 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 315 (Schreiben v. 2.8.1927). 238 Ebd. (Antrag v. 26.1.1928, Nachfrage v. 18.3.1929 u. Überweisung des Antrages an die Regierung „zur Erwägung“ am 23.3.1929). 239 Ebd. (MS des Schreibens v. 19.12.1928); im Gebäude der ehem. „Südschule“ befindet sich heute die 1991 gegründete „Jenaplan-Schule“.

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nun von den Gründungs-Richtlinien abzuweichen und sich nicht um den Inhalt des beantragten Projektes zu kümmern. Unterdes habe sich in Jena eine Ortsgruppe des Bundes Freier Schulgesellschaften (BFSD) gebildet, die hier eine rein weltliche Schule gründen wolle und bereits über so viele Anmeldungen verfüge, dass sie damit acht Klassen füllen könne. Der Vorsitzende und Petersen wiesen die Vorwürfe zurück. Petersen betonte, die Ausgestaltung der beantragten Klassen hänge vom Willen der Eltern ab. Er habe keinen Einfluss auf Schule und Lehrkörper. Letztlich ging es bei dieser Kontroverse um Theils linkssozialistisches Engagement für freie weltliche Schulen und um sein Bestreben, Petersens (christliche) Gemeinschaftsschule in eine (bekenntnisfreie) weltliche Schule umzuwandeln.240 Im Juni 1929 griff die Jenaer Ortsgruppe des BFSD den Freundeskreis der Universitätsschule auch öffentlich an. Er sei nur eine „geschickt aufgezogene Gründung des Herrn Professors Petersen zur Propagierung seiner persönlichen Ziele“. Die proletarische Elternschaft Jenas habe allen Grund, dem „bürgerlichen Professor“ und seinem ebenso bürgerlichen Freundeskreis-Vorsitzenden als „Ideologen der christlichen Gemeinschaftsschule“ zu misstrauen; zumal sie sich von einer kommunistischen Fraktion unterstützen ließen, die bei den Elternbeiratswahlen mit einer Liste „Proletarischer Schulkampf“ angetreten sei. Die wirklich proletarisch gesinnten Eltern sollten den vom Freundeskreis der Universitätsschule in der „Südschule“ beantragten Schulversuch boykottieren und ihre Kinder dort nicht anmelden.241 Auch dieser Antrag des Freundeskreises auf Versuchsklassen in der „Südschule“ scheiterte. Zwar erklärte sich die Stadtverwaltung grundsätzlich bereit, dem Antrag stattzugeben. Sie stellte aber Bedingungen, die – wie es ein Zeitungskommentar formulierte – einem „Begräbnis erster Klasse“ gleichkamen.242 Die Bemühungen des Freundeskreises hätten bislang – hieß es lapidar in den „Mitteilungen“ der Anstalt – 240 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 312 (Protokollbuch FK); ms. Abschrift des Protokolls in Nr. 315; zu Theil vgl. Anm. 153, zu seinem Engagement für die weltliche Schule den Bericht über den Görlitzer Verbandstag der AFLD in: Der Volkslehrer 12 (1930), Nr. 13, S. 159–161; Theil berichtete dort über den Lehrerstand an weltlichen Schulen; Marie Torhorst (vgl. Anm. 214) legte Leitsätze vor; in der Aussprache wurde bedauert, dass „Thüringen bei der Greilschen Schulreform keine weltlichen Schulen bekommen habe“; zum BFSD vgl. Heidi Behrens-Cobet/Norbert Reichling: „Wir fordern die freie Schule, weil sie die Schule des Sozialismus ist.“ Die Bewegung für freie weltliche Schulen in der Weimarer Republik, in: IWK 23 (1987), S. 485–505. 241 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 314 (Zeitungsausschnitt aus „Das Volk“ v. 22.6.1929 mit der Zuschrift der Ortsgruppe); Retter: Universitätsschule (wie Anm. 211), S. 96 vermutet, Theil habe diese Zuschrift verfasst; der Konflikt wirkte nach; in der Mitgliederversammlung am 26.2.1931 beklagte der FK-Vorsitzende, neben den Auslandsreisen Petersens hätten insb. die in die Schule getragenen „politischen Streitigkeiten“ die FK-Arbeit fast lahmgelegt; Petersen erklärte in der Mitgliederversammlung am 15.12.1933, die Schule habe „oft im Kampf der Meinungen gestanden“, das aber überstanden und sei ihren Weg gegangen; dabei erinnerte er insb. an die Auseinandersetzungen über weltliche Schule und an die kommunistische Zelle – UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 312. 242 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 314 (Zeitungsausschnitt v. Juni 1929); danach sollten dem Freundeskreis die beantragten Räume in der Südschule nur überlassen werden, wenn 1. nur im Südbezirk wohnende Kinder aufgenommen würden, 2. die Klassen die in den Volksschulen übliche Stärke von 48 Kindern bekämen, 3. das Stundenmaß dem der Volksschulen entspräche, 4. der Simultancharakter gewahrt werde u. 5. die Universitätsschule unter Aufsicht des Schulrates gestellt werde.

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„nicht zum Ziele [geführt], da sie weder im Volksbildungsministerium noch in der Jenaer Lehrerschaft die hinreichende Unterstützung fanden.“243 Der Vorstand begann zu resignieren. In der Mitgliederversammlung am 26. Februar 1931 empfahl der Vorsitzende, die Tätigkeit des Freundeskreises auf die Schuleltern zu beschränken. Dem widersprach Petersen zwar. Er verwies auf den Zweck des Freundeskreises, den „Jenaplan zu verbreiten“. Aber auch er bedauere sehr, dass „die Stadt Jena, die seinem Schulplan ja den Namen gegeben hat ‚Jenaer Plan‘, so wenig Interesse in dieser Angelegenheit zeigt.“244 Es gelang nicht, im öffentlichen Schulwesen Thüringens nach dem „Jenaplan“ zu unterrichten. Bis 1933 konnten nur in Preußen mit Unterstützung des sozialdemokratischen Kultusministers Adolf Grimme JenaplanSchulen unter anderem in Wittenberge und Finsterwalde eingerichtet werden.245 In Jena selbst blieben die Universitätsschule und die „Pädagogischen Wochen“ die einzigen „Lernorte“ für die Jenaplan-Pädagogik. Pädagogisches Institut und „Rückbildung der Lehrerbildung“ 1927/28 1927 endete die gesetzlich festgelegte Übergangszeit, in der Thüringer Volksschullehrer ihre Ausbildung noch an Lehrerseminaren absolvieren konnten. Nun wurden die letzten Seminare geschlossen, nachdem die meisten von ihnen in Aufbauschulen umgewandelt worden waren. Künftig war die Landesuniversität für die Ausbildung aller Volksschullehrer zuständig. Sie musste fortan mit einem größeren Zustrom an Lehrerstudenten rechnen, von denen viele das Abitur bereits an den neuen Aufbauschulen abgelegt hatten. Damit kamen die alten Ängste, Vorbehalte und Argumente gegen die „Gefahr lähmender Überfüllung“ durch „zu Lasten anderer“ studierende Volksschullehrer246 wieder zum Tragen. Das Ministerium bereitete eine erneute „Neuordnung der Lehrerbildung“ unter Revision des Ende 1924 Festgelegten und der Prüfungsordnung von 1926 vor.247 Damals war die vierjährige Studienzeit neu geregelt, das Universitätsstudium der theoretischen Fächer auf drei Jahre verlängert und die anschließende praktische Ausbildung auf ein Jahr verkürzt worden. Die nun geplante Neuordnung sah vor, die gesamte Ausbildungszeit zu verkürzen und dafür das Studium der theoretischen Fächer einzuschränken. Die praktische Ausbildung 243 MEA 5 (1929), S. 14. 244 UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 312 (Protokollbuch FK). 245 Petersen: Praxis (wie Anm. 225), S. 181–328; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 148– 152; diese seit 1929/30 eingerichteten Schulen wurden 1933 geschlossen; zu den nach 1933 im westfälischen Kreis Lübbecke zeitweise auf den „Jenaplan“ umgestellten Landschulen vgl. Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 255–257. 246 So im Rückgriff auf seine 1919 bezogene Position (wie Anm. 107) der Mineraloge Gottlob Linck am 29.1.1929 in einem Schreiben an den Rektor zur Begründung, warum die Fördergesellschaft der Universität keine Mittel für Lehrerstudenten mehr bereit stellen werde, um ihnen Studiengebühren zu ersparen – UAJ, Best. BA, Nr. 1881, Bl. 146r. 247 Zu den doppelten „Neuordnungs-“ Vorgängen 1924 u. 1927/28 vgl. auch Anm. 191, MEA 1 (1925), S. 11–18 u. 5 (1929), S. 17–28; PPAV, Ordner: Akademische Lehrerbildung; nur lückenhaft dargestellt sind sie bei Retter: Reformpädagoge (wie Anm. 70), S.212f.; Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 155–170; Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 129–132; Möller: Aufbau (wie Anm. 123) geht gar nicht auf sie ein.

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sollte bereits während des dreijährigen Universitätsstudiums erfolgen und von der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt in ein der Universität anzugliederndes Pädagogisches Institut verlegt werden. Die Prüfungen im Universitätsstudium wurden auf die Hauptfächer Pädagogik, Philosophie und Psychologie beschränkt. Die Möglichkeit, auch die für den künftigen Beruf ausgewählte Fachwissenschaft als Prüfungsfach zu wählen, entfiel. Dagegen regten sich unterschiedlich motivierte Widerstände. Petersens Anstalt verlor durch diese Neuordnung die Zuständigkeit für die praktisch-pädagogische Ausbildung und damit einen erheblichen Teil ihrer Lehrerbildungskompetenzen. Zudem war absehbar, dass mit der praktisch-pädagogischen Ausbildung auch ihr Leiter Otto Scheibner von der Anstalt zum künftigen Institut wechseln werde. Vergeblich lud die Erziehungswissenschaftliche Fachschaft deshalb einen Vertreter des Ministeriums zur Aussprache über die „praktische Ausbildung der studierenden Volksschullehrer“ in die Rosensäle ein. Dazu war das Ministerium nicht bereit.248 Eine andere Position bezog die Philosophische Fakultät, die sich auf einer gemeinsamen Sitzung mit der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät am 7. Juli 1927 von dem für Prüfungs- und Lehrerbildungsfragen zuständigen Ministerialrat Schnobel über das Vorhaben informieren ließ249 und sich danach vor allem gegen das eingeschränkte Studium theoretischer Fächer wandte. Wenn das wissenschaftliche Studium der Volksschullehrer derart „zurückgeschraubt“ werde, schrieb ihr Dekan Max Wundt am 13. Juli 1927 an das Ministerium, sei die „wissenschaftliche Durchbildung der künftigen Lehrer“ nicht mehr gewährleistet. Dann könne die Universität auch nicht mehr die Verantwortung für das Lehrerstudium übernehmen. Man solle es, so wie 1924 festgelegt, fortsetzen oder anderenfalls mit dem geplanten Institut von der Universität trennen.250 Unverkennbar spielte hier der Wunsch eine Rolle, auf diese Weise das ohnehin ungeliebte Kind der Volksschullehrer-Ausbildung wieder loszuwerden. Der Minister Leutheußer blieb von diesem Protest unbeeindruckt. Erst nach zwei Monaten antwortete er am 13. September 1927 kühl, es läge wohl ein Missverständnis vor, wenn die Universität in der geplanten Neuorganisation eine Schädigung ihrer Belange sehe.251 Unterdes hatte er längst vollendete Tatsachen geschaffen. Am 2. August 1927 verfügte Leutheußer, ein „besonderes Pädagogisches Institut in Verbindung mit der Universität Jena“ einzurichten, das für die praktisch-pädagogische Ausbildung der Lehrerstudenten, für die Pflege künstlerisch-technischer Fächer und für die Einführung in Schulleben, Didaktik und Methodik zuständig sein werde.252 Danach spitzte sich die Debatte über die geplante „Neuordnung der Lehrerbildung“ weiter zu. Auf einer Versammlung sozialdemokratischer Lehrer Ende November 1927 in Jena griff Max Greil diese Neuordnung in scharfer Weise an. Für ihn war das ein weiterer Schritt im Abbau der von ihm eingeführten universitären Volksschullehrer248 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 136r (Abschrift des Schreiben Wuttigs v. 12.5.1927 für den Rektor); eine solche Einladung eines Beamten durch Studierende sei „nicht angängig“. 249 UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 386r–389r; dazu und zu den weiteren Beratungen wurde auch Scheibner eingeladen; zu Schnobel vgl. Anm. 192. 250 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 137r–139r; Abschrift in: Best. M, Nr. 760, Bl. 400r, 401r; abgedr. in: MEA 5 (1929), S. 25f. 251 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 142r, 142v; Abschrift in: Best. M, Nr. 760, Bl. 405r. 252 Abl ThMfV 6 (1927), S. 89.

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Ausbildung.253 Anders sah das Wilhelm Peters, der Otto Scheibner protegierte und ihm aus seiner abhängigen Position in Petersens Anstalt heraushelfen wollte. Aus seiner Sicht versprach der „nun einmal eingeschlagene Kurs“ – wie Peters in anderem Zusammenhang schrieb – mehr Erfolg als der bisherige.254 In der Lehrerversammlung warf er Petersen vor, an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt Absolventen auszubilden, die nicht einmal „Halbakademiker“ seien.255 Auch Wilhelm Rein hielt die Trennung von theoretischer und praktischer Lehrerbildung für einen zwar nicht optimalen, aber hilfreichen Ausweg aus den „Verwirrungen“ der letzten Jahre, sofern das geplante Pädagogische Institut nicht außerhalb der Universität stehe.256 Die Universitätsleitung hatte sich aber bereits anders entschieden. Am 2./3. Dezember 1927 gaben Philosophische Fakultät, Pädagogischer Ausschuss, Rektor und Senat der Universität eine durch mehrere Beratungen und Schreiben vorbereitete, auch Landtag und Presse übergebene „Erklärung zur Stellung des Pädagogischen Instituts zur Universität“ ab und verlangten, dieses Pädagogische Institut der Universität nur an-, nicht einzugliedern.257 Wie in allen anderen Fachbereichen müsse auch bei den Pädagogen die praktische Berufsausbildung außerhalb der Universität unter staatlicher Aufsicht erfolgen. Forschungsarbeit sei für das Institut ohnehin nicht vorgesehen. Deshalb sei strikt zwischen der praktischen Ausbildung an diesem Institut und der wissenschaftlichen Arbeit an Petersens Anstalt zu unterscheiden. 253 Zur Neuregelung der Lehrerbildung in Thüringen, Bericht in: Jenaische Zeitung, 29.11.1927; Zeitungsausschnitt in: UAJ, Best. E, Abt. II, Nr. 2261e (Disziplinarstrafsache gegen stud. paed. Heinz Schröder als Verfasser des Artikels); Schröder wohnte mit seiner Familie im Hause Petersens, der ihm auf Vermittlung des Universitätsamtes „Freiwohnung“ angeboten hatte, damit er während der bevorstehenden USA-Reise Petersens das Haus hüte; der aus einer auslandsdeutschen Fabrikbesitzerfamilie in der Ukraine stammende, nun in Deutschland lebende Student (Jg. 1902) war „streng national denkendes“ Stahlhelm-Mitglied und nutzte diesen Artikel, um Petersen als „geistigen Marxisten“, seine Anstalt als „marxistische Brutstätte“ und die Fachschaft als „reine sozialistische Parteieinrichtung“ zu brandmarken; mit Interesse habe er – schrieb er in dem Artikel – beobachten können, wie sich die „roten Hähne untereinander bekämpften“; wegen dieses Artikels und weil der Student Petersen zudem „unsittlichen Lebenswandel“ vorwarf, strengte Petersen ein Disziplinarverfahren gegen ihn an; Schröder wurde mit einem Verweis wegen Verletzung der Pflichten als akademischer Bürger und mit der Androhung der Exmatrikulation bestraft; 1940 ließ er sich – nunmehr Lektor der Ordensburgen der NSDAP – von der Universität seine „aktivistische Tätigkeit“ während seiner Jenaer Studienzeit bis 1931 im Kampf gegen die „damals rot geführte Fachschaft“, „den jüdischen Prof. Peters“ und den „sozialdemokratischen Prof. Petersen“ bescheinigen. 254 UAJ, Best. M, Nr. 633, Bl. 270r (Schreiben Peters v. 21.1.1929 an den Dekan der PhF mit dem Vorschlag, den PädA einzuberufen, um zu prüfen, wie man den drohenden Weggang Scheibners nach Erfurt verhindern könne). 255 Bericht der Jenaischen Zeitung v. 29.11.1927 (wie Anm. 253); Petersen hatte kurz zuvor die Versammlung wegen eines Prüfungstermins verlassen; drei Jahre später bezeichnete Theil die Lehrerausbildung in Petersens Anstalt in ebenso scharfer Weise als „dilettantischen“, organisatorisch und inhaltlich „mißglückten Versuch“, kritisierte aber im Gegensatz zu Peters auch die Gründung des PI als Fehlkonstruktion – Theil: Lehrerbildung (wie Anm. 154), S. 135f. 256 Wilhelm Rein: Die Lehrerbildung in Thüringen. Ein Schlußwort, in: ThAZ, 4.12.1927, 1. Beiblatt; in der Vorbemerkung verwies die Schriftleitung noch einmal ausdrücklich auf den „wenig ersprießlichen Streit der noch von Greil berufenen Professoren Petersen und Peters untereinander“. 257 Best. BA, Nr. 532, Bl. 145r+v, 149r, 152r–157v; Best. M, Nr. 760, Bl. 409r, 410r, 413r+v.

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Der sah das freilich ganz anders. Am 3. Dezember 1927 verfasste Petersen eine – durch die Zusammenstellung der zu Beginn des Wintersemesters von den Studenten seiner Anstalt studierten Fächer258 vorbereitete – Gegenerklärung: „Eine Universität kann und darf nur für eine derartige Lehrerbildung eintreten, die sie in allen Stücken verantworten, aus ihrem Geiste heraus beherrschen und gestalten, auch beim Eintreten neuer Anforderungen von sich aus mit umgestalten kann. Deswegen muss sie auch organisatorisch innerhalb der Universität eingegliedert werden. Die Abspaltung eines Pädagogischen Instituts, seine Einrichtung neben der Universität zerreisst die innere Einheit des akademischen Studiums für die betr. Kommilitonen in unheilvoller Weise, wie die bestehenden dualistischen Lösungen bezeugen.“ Das übervölkere die Universität tatsächlich mit „Halbstudenten“ und habe verheerende Folgen. Deshalb trete er weiter für die bisherige „monistische Lösung“ ein. Und er verstehe auch nicht, warum es der Senat immer noch nicht für nötig halte, sich durch eine „eigene gemischte Kommission ein sachliches, nicht durch die politischen Verhältnisse Thüringens getrübtes Urteil“ in der Lehrerbildungsfrage zu verschaffen.259 Damit spielte Petersen auf das von der preußischen Denkschrift 1925 über Pädagogische Akademien260 stimulierte Bestreben an, die Thüringer Neuordnung vom Dezember 1924 zu revidieren. Dagegen legte Petersen schon im Oktober 1925 dem Ministerium eine „Denkschrift über den Stand der akademischen Ausbildung der Volksschullehrer an der Landesuniversität Jena“ vor. Sie unterstrich die Vorteile einer rein universitären Ausbildung der Volksschullehrer als „monistischem System“ gegenüber dem „preußischen Weg“ oder gegenüber „dualistischen Systemen“ mit teils universitärer, teils gesonderter Ausbildung. Der „thüringische Weg“ volluniversitärer Lehrerbildung sei der inhaltlich vernünftigste und zudem der billigste. Dafür müssten nur die Erziehungswissenschaftliche Anstalt räumlich und organisatorisch erweitert und die Stellung der Universitätsschul-Lehrer angehoben werden.261 In diesem Sinne warb Petersen in Zeitschriften und Presse für das „monistische System“ Jenas.262 Vergeblich legte er Eingaben und Gutachten gegen ein gesondertes Pädagogisches Institut vor263 , das die „innere Einheit“ des Lehrerstudiums „zerreiße“ und zu einer „großen Vergeudung an Geld und Raum“ führe.264 Mit diesem Institut begannen 258 UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 407r, 408r; UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 146r. 259 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 151r; die Formulierung „Halbstudenten“ bezog sich auf Peters’ Kritik (wie Anm. 255). 260 Zur Kritik an dem von Sprangers Schrift 1920 (wie Anm. 100) angeregten „preußischen Weg“ vgl. Riekel: Lehrerbildung (wie Anm. 121). 261 MEA 5 (1929), S. 18–23; vgl. auch Peter Petersen: Die thüringische dreijährige Universitätsausbildung der Volksschullehrer billiger als die zweijährige auf Pädagogischen Akademien preußischen Musters, in: Jenaer Volksblatt, 18.5.1926. 262 Petersen: Lehrerbildung (wie Anm. 193); ders.: Die Gegenwartsaufgabe der Volksschule und die neue Lehrerbildung. Ein Programm, in: Die Volksschule 22 (1927), S. 679–688, 767–772; ders.: Die Stimme der Universität. Für vollakademische Ausbildung der Volksschullehrer, in: ThAZ v. 20.11.1927. 263 PPAV, Ordner: Akademische Lehrerbildung (Eingabe der Erziehungswissenschaftlichen Fachschaft v. 23.11.1927; Gutachten Prof. Deuchler-Hamburg v. 20.9.1927); beide abgedr. in: MEA 5 (1929), S. 26–28. 264 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 151r (Erklärung Petersens v. 3.12.1927), 211r+v (Antwort Petersens v. 23.1.1930 auf eine Umfrage des Rektors über die Überfüllung der Universität durch

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aus Sicht Petersens und seines Umfeldes „Rückbildung“, „Reaktion“ und „Sturz“ der akademischen Lehrerbildung in Thüringen: eine „Vorburg der akademischen Lehrerbildung“ werde so geschleift; das neue Pädagogische Institut erweise sich als „Danaergeschenk für alle Freunde einer guten Ausbildung des Lehrernachwuchses“.265 Auch andere Verfechter volluniversitärer Lehrerbildung sahen darin einen Missgriff. Damit seien „jene Männer und Frauen, die zur Durchführung der akademischen Lehrerbildung nach Jena gerufen wurden, [. . . ] Opfer einer unter den ungünstigsten Umständen entstandenen Neueinrichtung geworden“.266 Petersen ließ fortan keine Gelegenheit aus, sich von dem Institut zu distanzieren. Dessen Kurse – schrieb er am 29. Januar 1929 dem Dekan der Philosophischen Fakultät – lehnten die an seiner Anstalt für das Lehramt an der Volksschule Studierenden in „heller Empörung“ ab. Sie bezeichneten diese Kurse als „Säuglingskurse“ und sähen sie als Versuch an, sie „zu Studenten zweiter Ordnung zu degradieren“.267 Die ministerielle „Denkschrift zur Neuordnung der Lehrerbildung“ berücksichtigte die universitäre Forderung, das Pädagogische Institut der Universität nur an-, nicht einzugliedern.268 Es wurde dem Ministerium direkt unterstellt, blieb aber mit der Universität verbunden. Sein Direktor gehörte dem Pädagogischen Ausschuss der Universität an. Es erhielt einen Beirat aus Instituts- und Universitätsvertretern,269 dem Ministerialrat Schnobel vorstand.270 Die Volksschullehrer-Studenten gehörten dem Pädagogischen Institut als Mitglieder an und waren zugleich an der Universität immatrikuliert. Zum 1. April 1928 berief das Ministerium Otto Scheibner zum Leiter des Instituts und den Oberstudiendirektor Barth (Sondershausen) zu seinem Stellver-

Lehrerstudenten); vgl. auch Anm. 302 u. 303. 265 Akten zur Rückbildung der Lehrerbildung in Thüringen, in: MEA 5 (1929), S. 17–28; Peter Petersen: Zur Reaktion in der Lehrerbildung Thüringens. Eine bitterernste Frage an die Deutsche Lehrerschaft (MS 1928), in: PPAV, Ordner: Akademische Lehrerbildung; Gerhard Steiner: Der Sturz der akademischen Lehrerbildung in Thüringen, in: Leipziger Lehrerzeitung 38 (1931), Nr. 31, S. 864f. (Zit.), Zeitungsausschnitt in: PPAV, Ordner: Briefwechsel, Bd. V (Steiner); Steiner promovierte 1929 bei Petersen, war dann Lehrer in Wölfis bei Arnstadt und leitete die „Arbeitsgemeinschaft akademisch gebildeter Volksschullehrer“ im Thüringer Lehrerverein. 266 Riekel: Lehrerbildung (wie Anm. 121), S. 61. 267 UAJ, Best. M, Nr. 704, Bl. 342r+v; Petersen beschwerte sich mit diesem Schreiben, dass in den Korrekturbögen des Vorlesungsverzeichnisses für das SS 1929 das PI als Universitätsinstitut und nicht als nur „angegliedert“ aufgeführt sei; auf Nachfrage des Dekans erklärte das Universitätsamt, das sei versehentlich weggelassen und unterdes korrigiert worden. 268 Die elfseitige gedruckte Denkschrift ist überliefert in: UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 143; Best. M, Nr. 760, Bl. 406; PPAV, Ordner: Akademische Lehrerbildung. 269 UAJ, Best. M, Nr. 704, Bl. 338r+v (Schreiben des PhF-Dekans v. 18.6.1928 an die Mitglieder des PädA mit dem Vorschlag des Unterausschusses [Dekan Debrunner, Scheibner, Wundt] für die Zusammensetzung des Beirates); im Juli 1928 wählte der Große Senat die Professoren Haußner, Macholz, Michels, Peters, Weiß und Wundt als Universitätsvertreter in den Beirat (Bl. 341r); bei Ersatzwahlen im Januar 1931 wurden die Professoren Bauch (statt Wundt), Mentz (statt Michels) und Petersen (statt Weiß) gewählt (Bl. 354r); anstelle des zunächst als Ersatz für Wundt vorgesehenen neuen Philosophie-Professor Leisegang hatte Peters Bauch vorgeschlagen, weil der mit den „hiesigen Verhältnissen vertraut sei“ – UAJ, Best. M, Nr. 718/1, Bl. 60/122v. 270 UAJ, Best. M, Nr. 704, Bl. 343r (Schreiben Paulssens v. 31.1.1929 an den Rektor); er genehmigte den Beirat mit der Auflage, dass Schnobel den Vorsitz erhalte.

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treter.271 Schulpraktikum, Didaktische Kurse und Organisation der Schulhelferzeit wurden von Petersens Anstalt dem neuen Institut übertragen. Scheibner und einige der für das Institut vorgesehene Dozenten hatten das im März 1928 mit dem Ministerium und mit Entwürfen für Lehrveranstaltungen und Wahlkurse vorbereitet.272 Mit Scheibner wechselte auch sein Mitarbeiter Böhm von Petersens Anstalt zum Pädagogischen Institut. Als Institutsgebäude war die im Bau befindliche Landesturnanstalt in der Seidelstraße vorgesehen.273 Bis dahin blieb die Geschäftsstelle in der Grietgasse 11. Lehrveranstaltungen und Kurse fanden zunächst in der Stoyschen Anstalt und in der Paradiesschule statt. Dort unterstützten sechs Lehrer die Lehr- und Kurstätigkeit der Institutsdozenten, die ihrerseits Unterrichtsstunden an der Schule übernahmen.274 Erst im Juni 1929 zog das Institut in die Landesturnanstalt. Scheibner konnte nun auch die Geschäftsstelle dorthin verlegen. Das für das Institut zuständige Prüfungsamt stand unter dem Vorsitz Schnobels und unter dem stellvertretenden Vorsitz von Scheibner und Weiß, der im April 1929 eine Oberstudienratsstelle am Pädagogischen Institut erhielt.275 Wie er standen die aus dem Thüringer Schuldienst stammenden Dozenten auf herbartianischen Positionen. Doch sorgte Scheibner anfangs für eine relativ offene Institutsatmosphäre. In seiner Amtszeit waren auch Peters, dessen Assistentin Annelies Argelander und Herbert Kühnert als nebenamtliche Lehrkräfte tätig.276 Das änderte sich freilich, als Scheibner 1929 einen Ruf an die im Aufbau befindliche Pädagogische Akademie im preußischen Erfurt erhielt und im Wintersemester 1929/30 aus dem thüringischen Staatsdienst schied.277 Vergeblich hatte Peters angeregt, eine weitere pädagogische Professur einzurichten, um ihn in Jena zu halten. Die Philosophische Fakultät setzte zwar eine entsprechende Kommission ein, lehnte aber im Mai 1929 mehrheitlich eine Entscheidung ab.278

271 ThHStAW, PABV 27480 (PA Scheibner), Bl. 116r. 272 ThHStAW, ThVM A 330, Bl. 1r–6v. 273 Hans-Georg Kremer: Die Geschichte der Landesturnanstalt und Universitätsturnhalle in Jena, in: Jenaer Beiträge zum Sport. Sonderheft 75 Jahre Landesturnanstalt, Jena 2004, S. 21–34; UAJ, Best. CB, Nr. 159, Bl. 217r, 229r. 274 ThHStAW, ThVM A 330, Bl. 9r (Ministerialschreiben v. 26.10.1928). 275 Ebd., Bl. 17r; ThHStAW, PABV 33305 (PA Weiß), Bl. 63r; Petersen weilte während dieser Gründungs- und Berufungsvorgänge meist im Ausland – von April bis Oktober 1928 in den USA, von April bis November 1929 in Chile. 276 ThHStAW, ThVM A 330, Bl. 11r–17v, 26r–31v (PI-Arbeitsprogramme SS 1929 u. WS 1929/30). 277 ThHStAW, PABV 27480 (PA Scheibner); vgl. auch Steinhöfel: Scheibner (wie Anm. 69) u. Regina Pannke: Die Pädagogische Akademie Erfurt 1929–1932, in: Reformpädagogik (wie Anm. 184), S. 219–238. 278 UAJ, Best. M, Nr. 635, Bl. 270r–276v, 281r, 284r, Nr. 718/1, Bl. 36r–38v; der im März 1929 eingesetzten Kommission gehörten Peters wie Petersen an, zwischen denen es erneut zum Konflikt kam, nicht aber Mathilde Vaerting, die deshalb Einspruch insb. gegen die Mitgliedschaft von Peters erhob.

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Die „Ära Frick“ 1930/31 und der „Abbau der Lehrerbildung“ Scheibners Ausscheiden fiel mit dem Regierungswechsel nach den Landtagswahlen vom 8. Dezember 1929 zusammen. Am 23. Januar 1930 bildeten ThLB, DVP, DNVP und WP eine Koalitionsregierung mit der NSDAP unter Vorsitz von Erwin Baum (ThLB). Damit trat die NSDAP erstmals in eine Landesregierung mit der Absicht ein, Thüringen zur regionalen Probebühne der NS-„Machtergreifung“ zu machen.279 Wilhelm Frick (NSDAP) erhielt die Schlüsselressorts als Volksbildungs- und Innenminister. Mit seinen Maßnahmen wurde das Land Thüringen 1930/31 zum Experimentierfeld nationalsozialistischer Politik.280 Fricks hochschulpolitische Maßnahmen betrafen Weimar wie Jena. In Weimar berief er den zum Kulturrassisten mutierten einstigen Kulturreformer Paul Schultze-Naumburg an die Spitze der vereinigten Bau- und Kunsthochschulen, in Jena den als „Rasse-Günther“ bekannten Philologen und Publizisten Hans F.K. Günther an die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät, um so die „Rassenkunde“ an der Jenaer Universität zu etablieren.281 Das flankierte Frick durch weitere Maßnahmen mit dem Ziel, NS-nahe Personen an die Jenaer Universität beziehungsweise an das ihr angegliederte Pädagogische Institut zu bringen. Sie bezogen sich auf den Weimarer Kulturantisemiten Adolf Bartels, den Heidelberger Philosophie-Dozenten Arnold Ruge und den Rein-Schwiegersohn Georg Weiß und betrafen damit – direkt oder indirekt – die Philosophische Fakultät. Erstmals wurde so eine Universität mit nationalsozialistischer Hochschul- und Berufungspolitik konfrontiert. Die Vorgänge erregten deshalb reichsweites Aufsehen. Die Universitätsleitung und die Dekane der beiden betroffenen Fakultäten gerieten in 279 Fritz Dieckmann: Die Regierungsbildung in Thüringen als Modell der Machtergreifung. Ein Brief Hitlers aus dem Jahre 1930, in: VfZ 14 (1966), S. 454–464; Karsten Rudolph: Nationalsozialisten in Ministersesseln. Die Machtübernahme der NSDAP und die Länder 1929–1933, in: Christian Jansen/Lutz Niethammer/Bernd Weisbrod (Hg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen, Berlin 1995, S. 247–266; Lothar Ehrlich/Jürgen John (Hg.): Weimar 1930. Politik und Kultur im Vorfeld der NS-Diktatur, Köln/Weimar/Wien 1998. 280 Günter Neliba: Wilhelm Frick und Thüringen als Experimentierfeld für die nationalsozialistische Machtergreifung, in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 75–94; die Koalition hielt nur ein Jahr; am 21.4.1931 musste Frick zurücktreten. 281 Uwe Hoßfeld: Die Jenaer Jahre des „Rasse-Günther“ von 1930 bis 1935. Zur Gründung des Lehrstuhls für Sozialanthropologie an der Universität Jena, in: Medizinhistorisches Journal 34 (1999), S. 47–103; Steffen Kaudelka: Die Berufung Hans F.K. Günthers im Jahr 1930 – der Beginn der „Machtergreifung“ an der Universität Jena?, in: Matthias Steinbach/Stefan Gerber (Hg.): „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena/Quedlinburg 2005, S. 103–126; zwar wurde die „Rassenkunde“ schon vorher universitär etabliert, insb. durch die Berufung des rassistisch orientierten Anthropologen und Völkerkundlers Otto Reche 1927 an die Universität Leipzig; doch nahmen die Zeitgenossen den Jenaer Berufungsfall 1930 als den maßgeblichen wahr; aus späterer NS-Sicht: Fricks „rassenpolitische Tat in Thüringen“ (Hans Fabricius: Dr. Wilhelm Frick. Ein Lebensbild des Reichsministers des Innern, Berlin 1938, S. 17) habe „die erste Bresche in die Wissenschaft des vergehenden System“ geschlagen – Lothar Stengel v. Rutkowski: Hans F. K. Günther. Der Programmatiker des Nordischen Gedankens, in: Nationalsozialistische Monatshefte 6 (1935), S. 962–997, 1099–1114, hier S. 962.

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schwierige Entscheidungssituationen und in Konflikte mit dem NS-Minister.282 Das betraf auch Petersen, obwohl er als Dekan der Philosophischen Fakultät nur indirekt mit dem zentralen Konflikt-„Fall Günther“ befasst war. Anfang März 1930 teilte Frick dem Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät Otto Renner seine Absicht mit, Günther als Dozenten für „Rassenkunde und Eugenik (oder auch Anthropologie)“ zu berufen. Daraufhin forderte Renner auswärtige Gutachten an und berief eine Kommission aus MNF- und PhFVertretern.283 Diese beschloss am 19. März 1930 einen „im wesentlichen ablehnenden Bericht“: der Publizist Günther sei für eine Universitätsprofessur ungeeignet; man könne ihm lediglich die Möglichkeit einer Habilitation einräumen.284 Nur Plate, der den Rassismus schon seit Jahren propagierte, stimmte gegen diesen Bericht. Er legte am 21. März ein Sondergutachten vor, das sich für die Berufung Günthers aussprach; dem schlossen sich der Mathematiker Haußner, der Chemiker Schneider und der Tierzüchter Stegmann von Pritzwalk an.285 Am 20. März teilte Renner das ablehnende Kommissionsvotum dem Ministerium mit.286 Der PhF-Dekan Mentz schrieb am 26. März im gleichen Sinne und fügte hinzu, man sehe überhaupt nicht ein, warum es notwendig sei, „dem noch so viel umstrittenen Gebiete der Rassenkunde Eingang an der Universität zu verschaffen“.287 Währenddessen entstand ein weiterer Konflikt um Ruge, den Frick der Philosophischen Fakultät aufzwingen wollte und den diese wegen mangelnder wissenschaftlicher Qualifikation ablehnte.288 Am 2. Mai berieten der seit dem 1. April amtierende Rektor Karl Heussi, Petersen als seit dem 1. April amtierender PhF-Dekan und der zuständige Fachvertreter Bauch den „Fall Ruge“ mit Frick. Sie bekräftigten die ablehnende universitäre Position. Man könne nicht – schrieben Heussi und der „Ordinarius“ Hübner am 9. Mai mit Verweis auf diese Aussprache vom 2. Mai an Frick – „das Vaterländische auf Kosten des Wissenschaftlichen [zu] pflegen“ und „Männer ohne sonderliche wissenschaftliche Leistung vorwiegend um ihrer vaterländischen Gesinnung willen an die Universität [zu] berufen“.289 Als Ausgleich boten Heussi, Petersen und Bauch in dieser Aussprache am 2. Mai Frick einen Kompromiss im „Fall Günther“ an. Anstelle der von der Universität abgelehnten Berufung könne man Günther widerruflich einen Lehrauftrag 282 John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 410–416; Rektoren in der Amtszeit Fricks waren der Geograph Gustav v. Zahn, vom 1.4.1930 bis 31.3.1931 der Theologe Karl Heussi, MNF-Dekane der Biologe Otto Renner, vom 1.4.1930 bis 31.3.1931 der Chemiker Adolf Sieverts, PhF-Dekane der Historiker Georg Mentz, vom 1.4.1930 bis 31.3.1931 Peter Petersen. 283 UAJ, Best. N, Nr. 46/1, Bl. 126r (Schreiben des Ministeriums v. 1.3.1930), 128r (Schreiben Renners v. 10.3.1930). 284 Ebd., Bl. 152r; der Kommission gehörten der Rektor v. Zahn, der MNF-Dekan Renner, Plate, Sieverts und Peters als MNF-Vertreter, der PhF-Dekan Mentz sowie Judeich u. Zucker als PhFVertreter an; die Kommission war gemischt zusammengesetzt, weil das Ministerium anfangs auch erwog, Günther eine Professur für Vorgeschichte und die Leitung des germanischen Museums der Universität zu übertragen. 285 Ebd., Bl. 159r–166r., abgedr. bei Hoßfeld: Jahre (wie Anm. 281), S. 97–100. 286 UAJ, Best. BA, Nr. 973, Bl. 29r+v; Abschrift in Best. N, Nr. 46/1, Bl. 153r–154r. 287 UAJ, Best. M, Nr. 635, Bl. 353r, 354r (Zit. Bl. 354r); Abschrift in Best. BA, Nr. 973, Bl. 31r, 32r. 288 UAJ, Best. M, Nr. 635, Bl. 359r–361r (Protokollabschrift v. 25.3. u. Schreiben des Dekans v. 27.3.1930). 289 UAJ, Best. BA, Nr. 1861, Bl. 52r–55r, Zit. Bl. 53r; zum Amt des „Ordinarius“ vgl. Anm. 135.

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erteilen.290 Am 6. Mai teilte der neue MNF-Dekan Sieverts dem Rektor mit, seine Fakultät erhebe gegen diesen – wie er zwei Tage später schrieb – „Notbehelf“, der als „äusserste Grenze des Entgegenkommens“ empfunden werde, keinen Widerspruch.291 Der Senat lehnte aber den Lehrauftrag für Günther ab.292 Es ist ohnehin zu bezweifeln, ob sich Frick darauf eingelassen hätte. Am 16. Mai berief er nach entsprechendem Beschluss des Staatsministeriums vom 14. Mai Günther zum 1. Oktober 1930 als ordentlichen Professor für „Sozialanthropologie“ an die MNF.293 Vergeblich protestierte der Senat gegen diese „Verletzung universitärer Rechte“ und versuchte in den folgenden Monaten ohne Erfolg eine Revision des Beschlusses zu erreichen.294 Der von einem NS-Studenten geführte Jenaer AStA stellte sich hinter Fricks Maßnahmen und gegen die Universitätsleitung, die so in einen Doppelkonflikt mit Ministerium und Studentenausschuss geriet. Die Universitätsleitung musste einlenken. Am 22. Oktober wurde Günther „statutengemäß“ im Senat verpflichtet und eingeführt. Am 15. November hielt er im Beisein von Hitler und anderen NSDAP-Führern seine Antrittsvorlesung in der Jenaer Universitätsaula. Petersen war als Dekan und Senatsmitglied an diesen Beratungen, Verhandlungen und Voten gegen die Berufung Günthers beteiligt und musste zudem im „Fall Bartels“ einen weiteren Konflikt mit dem Ministerium direkt austragen. Am 5. Mai 1930 290 UAJ, Best. BA, Nr. 973, Bl. 38r (Schreiben Rektor Heussis v. 9.5.1930 an Frick im Gefolge der Unterredung v. 2.5.); auf dieses Schreiben hat erstmals Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132) hingewiesen; Petersen hat in seinem 1941 verfassten, auf den 1.1.1942 datierten Lebenslauf, der – aus welchen Gründen auch immer – offenkundige Falschaussagen enthält, diesen Vorgang umgedeutet: in der von ihm auf den April 1930 datierten Unterredung hätten er, Heussi und die Dekane der naturwissenschaftlichen und der theologischen Fakultät Frick versprochen, Günthers Berufung an der Universität durchzusetzen; durch eine Indiskretion sei der Minister falsch informiert worden und habe die Berufung einseitig durchgesetzt; später behauptete Petersen in einer Erklärung v. 2.12.1948 gegen den Vorwurf der NS-Nähe das Gegenteil: er habe während seines Dekanats 1930/31 unter dem Rektorat Heussi zum ersten Mal Gelegenheit gehabt, „die Universität vor dem Eindringen nazistischen Geistes zu verteidigen (PPAV, Ordner: Konflikte nach 1945/SPD/SED); Heussi bestätigte das in einem Schreiben an Rektor Hund v. 3.5.1948: Petersen habe als Dekan „an dem von mir geführten Kampf der Universität gegen das ns. Ministerium Frick sich ganz eindeutig in antinazistischer Haltung beteiligt; er hat sich unserem Protest gegen die Oktroyierung des ‚Rassen-Günther’ angeschlossen; er hat gegen die Berufung von Arnold Ruge gearbeitet und diese mit abgewendet“ (ebd.); das war zwar „Persilschein“-Politik, dürfte aber nach Aktenlage der Wahrheit näher kommen als Petersens Aussage in seinem dubiosen Lebenslauf von 1941/42; Kluge: Petersen/Biographie (wie Anm. 2) hat diesen mehrfach überlieferten, oft zitierten Lebenslauf auf S. 15–23 abgedruckt und ihn dann unverständlicherweise als Leitfaden ihrer Biographie gewählt; zu seinem Kontext vgl. den Beitrag von Rüdiger Stutz in diesem Band, zum Verhalten Petersens 1930 auch die – freilich lückenhafte und tendenziöse – Darstellung bei Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 175–181. 291 UAJ, Best. BA, Nr. 973, Bl. 37r, 40r (Zit.). 292 Ebd., Bl. 37v (Abschrift des Senatsprotokolls v. 7.5.1930); der Beschluss wurde einstimmig bei zwei Stimmenthaltungen gefasst. 293 Ebd., Bl. 74r (Abschrift der Ausstellungsurkunde v. 16.5.1930); vgl. auch ThHStAW, PABV 6219 (PA Günther); UAJ, Best. D, Nr. 1010 (PA Günther); Günther wechselte 1935 nach Berlin, 1939 nach Freiburg. 294 Vgl. die Senatsprotokolle v. Mai bis Juli 1930 (UAJ, Best. BA, Nr. 1669d); diese Vorgänge u. die weitere Entwicklung sind bei Hoßfeld: Jahre (wie Anm. 281) u. John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 410–416 im Einzelnen dargestellt.

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teilte ihm Frick seine Absicht mit, Bartels einen Lehrauftrag für neuere Literatur an der Philosophischen Fakultät zu erteilen.295 Am 8. Mai sprach sich die Fakultät gegen einen solchen Lehrauftrag aus, für den es weder Bedarf noch auf Seiten Bartels’ die nötige Qualifikation gebe, was Petersen am 9. Mai dem Ministerium übermittelte.296 Auf Anraten Stiers stellte Frick in diesem Falle seine Absicht vorerst zurück.297 Anders verhielt er sich im „Fall Weiß“. Als Fricks Absicht ruchbar wurde, Weiß zum Nachfolger Scheibners als Direktor des Pädagogischen Institutes zu ernennen, intervenierte die Philosophische Fakultät. Obwohl das Institut der Universität nur angegliedert war, fühlte sie sich durch Vorgeschichte und Bezüge – PI-Beirat, Mitgliedschaft des PI-Direktors in dem vom PhF-Dekan geleiteten Pädagogischen Ausschuss – besonders herausgefordert. Nach einem dringlichen Antrag Petersens, Bauchs, Zuckers und des Dekans Mentz beschloss die Fakultät am 26. Februar, Petersens Vertrauten Johannsen als neuen PI-Direktor vorzuschlagen, um so die Berufung von Weiß zu verhindern.298 Da die Fakultät in diesem Berufungsfall eigentlich gar nicht zuständig war, hatte die Intervention freilich kaum Aussicht auf Erfolg. Frick konnte sie problemlos ignorieren und Weiß – kommissarisch zum 1. April, regulär zum 1. Juli 1930 – zum Leiter des Pädagogischen Instituts und der Landesturnanstalt ernennen.299 Dass Frick ausgerechnet Weiß als Herbartianer „of the oldest type“ an die Spitze des PI berief, sei ein „bad dream for it all depends of the present government“, schrieb Petersen am 18. Juli 1932 an Thomas Alexander (USA), der 1928 seine Amerika-Reise organisiert hatte, und fügte hinzu: das Reich müsse eingreifen „or we get here the first german faschist State“.300 Unter Weiß’ Direk295 UAJ, Best. M, Nr. 635, Bl. 363r. 296 UAJ, Best. M, Nr. 718/1, Bl. 50r+v, Nr. 635, Bl. 364r. 297 UAJ, Best. M, Nr. 635, Bl. 365r+v (Schreiben Stiers an Petersen v. 23.5.1930); Stier hatte Frick darauf verwiesen, dass sich die Fakultäten „gegen die Vermehrung der Lehrkräfte durch nicht habilitierte Personen grundsätzlich wehren“ und geraten, nicht auf diesem Lehrauftrag zu beharren; nach dem Rücktritt Fricks erhielt Bartels zwar die Erlaubnis, unbesoldete Vorlesungen zu halten, aber keinen förmlichen Lehrauftrag – ebd., Bl. 367r (Abschrift eines Schreibens Stiers an Bartels v. 30.4.1931). 298 UAJ, Best. M, Nr. 718/1, Bl. 48r (Antrag und Fakultätsbeschluss v. 26.2.1930), Nr. 704, Bl. 345r– 349r (Antrag u. Fakultätsbeschluss v. 26.2.1930, entsprechendes Schreiben des Dekans Mentz v. 4.3.1930 an das Ministerium); als Johannsens Stellvertreter und bewährten Praktiker schlug die PhF den mehrfach preisgekrönten und 1927 promovierten Burgauer Volksschullehrer Walter Reichert vor, der zu den ersten Mitgliedern der EA gehörte; zu Johannsen vgl. Anm. 184, zu Reichert Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 142. 299 ThHStAW, PABV 33305 (PA Weiß), Bl. 82r, 86r–87r, 89r; Weiß blieb bis zu seiner Entlassung 1945 an der Spitze des PI bzw. der (seit 1942) Lehrerbildungsanstalt; der politisch weit rechts stehende Weiß hatte 1926 zu den Unterzeichnern des Solidaritäts-Briefes im „Fall Bernhard“ (wie Anm. 374) gehört; zu Weiß’ Rolle in der NS-Zeit vgl. den Beitrag von Rüdiger Stutz in diesem Band. 300 Briefentwurf in: PPAV, Ordner Nr. 11 (Briefe USA/England); übersetzt ist diese Stelle zitiert bei Kluge: Petersen/Biographie (wie Anm. 2), S. 237 u. Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 177; Petersen erwähnt in diesem Schreiben ausdrücklich den Konflikt zwischen Universität und Regierung im „Fall Günther“ und seine Beteiligung an den Beratungen und Verhandlungen; zu Alexanders Publikationen über die deutsche Lehrerbildung und Schulreformbewegung mit ihren Berichten über Petersen, seine Anstalt und Schule und ihren Danksagungen an Petersen vgl. Anm. 72, 121, 180 u. 228; zum Verhältnis Petersen-Alexander nach 1945 vgl. den Beitrag von Marc Bartuschka in diesem Band.

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torat verschwanden Peters, Argelander und Kühnert aus den Listen nebenamtlicher Lehrkräfte.301 Unterdes begann im Zeichen deflationistischer Sparmaßnahmen eine neue Phase des Abbaus universitärer Komponenten der Jenaer Lehrerbildung. Der Pädagogische Ausschuss leistete dem Vorschub, als er im Dezember 1929 eine Fakultäts- und Institutsumfrage beschloss, um der Regierung Material zum Problem der „Überfüllung der Universität mit Lehrerstudenten“ vorlegen zu können.302 Obwohl die Umfrageergebnisse eine solche Belastung nur für das Philosophische (Bauch) und das Psychologische Seminar (Peters) belegten,303 lieferte diese Aktion dem Frick-Ministerium willkommenes Material für beschränkende Maßnahmen. Es teilte der Universität mit, im Zuge der durch Sparmaßnahmen erzwungenen geringeren Besoldung akademisch ausgebildeter Volksschullehrer habe das Staatsministerium beschlossen, ihre Ausbildung von drei auf zwei Jahre und die Lehrgänge am Pädagogischen Institut von sechs Semestern auf sechs Trimester zu verkürzen. Bei drohender Überfüllung des Volksschullehrer-Berufes werde das PI nur noch eine beschränkte Zahl von Studierenden aufnehmen. Außerdem prüfe man, ob auf ihre Immatrikulation an der Universität verzichtet werden könne.304 Das verstärkte Petersens Vorbehalte gegen die Bildungspolitik Fricks, der seinen Widersacher Weiß zum Leiter des Pädagogischen Institutes berufen hatte und nun den Abbau der Lehrerbildung forcierte. Petersens Schüler Gerhard Steiner kontrastierte diese Maßnahmen und Absichten Fricks mit der im NSDAP-Parteiverlag erschienenen Denkschrift des Physikers Johannes Stark, die sich für die uneingeschränkte Hochschulausbildung der Volksschullehrer an eigenen Pädagogischen Fakultäten aussprach: „Die Thüringer Erfahrungen vermögen der Lehrerschaft wenig Mut zu solchen verwegenen Hoffnungen zu geben.“305 Für den weiteren „Abbau der akademischen Lehrerbildung in Thüringen“306 blieb Frick allerdings keine Zeit. Im April 1931 zerbrach die Koalition. Er musste zurücktreten. Sein Amtsnachfolger Willy Kästner (WP) knüpfte aber an seine Maßnahmen an. Eine Thüringer Notverordnung vom 24. September 1931 hob die universitäre Immatrikulationspflicht für Volksschullehrer mit der Absicht auf, auf diese Weise Ausbildungskosten zu sparen und die Gehälter künftiger Volksschullehrer herabsetzen zu können.307 Am 8. März 1932 erging eine neue „Ordnung der 301 302 303 304

ThHStAW, ThVM A 330, Bl. 34r–40r (PI-Arbeitsprogramm SS 1930). UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 417r (Schreiben des Rektors v. 19.12.1929 an die PhF). Ebd., Bl. 419r–427r; UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 209r–230r. UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 416r (Abschrift des Schreibens v. 10.3.1930); Best. BA, Nr. 532, Bl. 238r (Schreiben v. 7.5.1930). 305 Gerhard Steiner: Nationalsozialismus und Lehrerbildung, in: Leipziger Lehrerzeitung 38 (1931), Nr. 34, S. 948f., Zit. S. 949; vgl. auch Johannes Stark: Nationalsozialismus und Lehrerbildung. Denkschrift, München 1931, insb. S. 8–13 sowie Anm. 328 u. zu Steiner Anm. 265. 306 Johannes Rockmann: Der Abbau der Lehrerbildung in Thüringen, in: Die Neue Lehrerbildung 1 (1931/32), S. 126–128; Peter Petersen: Abbau und innerer Verfall der akademischen Lehrerbildung in Thüringen. Was wird werden?, ebd., S. 154–158. 307 UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 434r–436r u. Best. BA, Nr. 532, Bl. 242r–244r (Auszug aus der „Verordnung zur Sicherung der Haushalte des Landes, der Kreise und Gemeinden“ v. 24.9.1931); ThHStAW, ThVM C 221, Bl. 101r+v (Antwort Stiers v. 26.9.1931 auf eine Hamburger Anfrage, ob die Thüringer Regierung tatsächlich beabsichtige, die universitäre Ausbildung der Volksschullehrer völlig aufzuheben); diese von Schnobel initiierte Maßnahme, schrieb Stier, sei weder mit

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wissenschaftlichen Prüfung für das Lehramt an der Thüringer Volksschule“, nach der die Teilnahme der Lehramtsstudenten an universitären Seminaren nicht mehr zwingend erforderlich war.308 Die neue Ordnung stärkte die Stellung des Pädagogischen Institutes. Seine Dozenten erhielten das Vorschlagsrecht für die Prüfungszulassung. Die Prüfungskandidaten mussten sich beim Institutsdirektor zur Prüfung anmelden. Gegen diese Maßnahmen intervenierten Petersen und der Pädagogische Ausschuss der Universität aus unterschiedlichen Gründen. Petersen erstrebte die Rückkehr zum „monistischen System“ seiner Anstalt. Mit einer Denkschrift vom 27. Oktober 1931 wandte er sich gegen die 1930/31 ergriffenen Maßnahmen, gegen das in „erschreckendem Maße aufgeblähte“ Pädagogische Institut und die „dualistische Lösung“, die unnötige Kosten verursache. Allein die Rückkehr zur alten Ordnung 1924/28 spare Kosten. Das sei auch ein grundsätzliches Gebot. Deutschland müsse schon aus kulturellen Gründen an der universitären Ausbildung der Volksschullehrer festhalten.309 Flankierend protestierte am gleichen Tage die Erziehungswissenschaftliche Fachschaft mit einer Denkschrift gegen die Aufhebung der Immatrikulationspflicht für Lehramtsstudenten. Die universitäre Ausbildung der Volksschullehrer sei keine Frage des Gehaltes, sondern eine „kulturelle Frage“ der Idee und des Ethos des Lehrerberufes.310 Gegen Petersens Denkschrift und ihre „unwahren Behauptungen“ protestierten die Dozenten des Pädagogischen Institutes am 24. November 1931 mit einer Erklärung für Presse, Ministerium und Landtagsparteien.311 Petersen antwortete am 18. Dezember 1931 mit einer ebenfalls öffentlich verbreiteten zweiten Denkschrift, die noch einmal die Vorzüge seines „monistischen Systems“ unter „bester fachmännischer Beratung durch Herrn Professor Scheibner“ hervorhob und am Schluss betonte: „Die Universitätsausbildung der Volksschullehrer ist eben schlechthin für jeden Staat zugleich der billigste und beste Weg!“312 Diese Position bezog und bekräftigte er 1932 noch mehrfach.313 Petersen beließ es nicht bei den konzeptionellen und strukturellen Vorwürfen gegen das Pädagogische Institut. Er griff Weiß im Zuge dieser Konflikte auch persönlich an, machte ihn für den Verfall der Thüringer Lehrerbildung verantwortlich, warf ihm wissenschaftliche Unfähigkeit und universitätsschädigendes Verhalten vor. Damit weitete sich der Sachkonflikt zwischen Petersen und Weiß zu einem persönlichen Konflikt aus, der mehrfach die Universitätsgremien und den Ehrenrat der Universität beschäftigte.314 ihm noch mit dem PädA der Universität besprochen worden; er halte sie auch nicht für vertretbar. 308 Abl ThMfV 11 (1932), S. 30–33. 309 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 257r–263r u. Nr. 505, Bl. 9r–10r (ThLZ, Nr. 42 v. 11.12.1931, S. 667–669); vgl. zu diesen Auseinandersetzungen mit dem PI auch PPAV, Briefwechsel, Ordner V (Steiner) sowie Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 181–184. 310 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 250r–252r. 311 UAJ, Best. BA, Nr. 505, Bl. 11v–12r (ThLZ, 11.12.1931, S. 672f.). 312 Ebd., Bl. 16r–21r. 313 Petersen: Abbau (wie Anm. 306); UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 289r–292r (Schreiben v. 3.7.1932 an Rektor Esau). 314 Zum hier nicht im Einzelnen darstellbaren Konflikt Petersen-Weiß vgl. UAJ, Best. BA, Nr. 504, 505 u. 532; Best. M, Nr. 631, 632 u. 760 sowie Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 2), S. 171–178; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 142–144; Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 184–187.

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Ganz andere Positionen bezogen der Pädagogische Ausschuss, die in ihm vertretenen Fakultäten und die Universitätsleitung. Der Rektor verwahrte sich gegen die Notverordnung, weil die Universität nicht gehört worden sei und weil sie eine für die Lehrerstudenten unklare Situation geschaffen habe. Er verlangte vom Ministerium eine klärende Aussprache.315 Die Philosophische Fakultät bedauerte den nun eingetretenen Zustand des Lehrerstudiums, der weder für die Studenten noch für die Universität erfreulich sei.316 Die Mathematisch-Naturwissenschaftliche und die Theologische Fakultät stellten sich hinter den Rektor und die Philosophische Fakultät.317 Die Universität – erklärte der Pädagogische Ausschuss – könne nur bei einem sechssemestrigen Universitätsstudium die Verantwortung für die Lehrerbildung übernehmen. Das Ministerium müsse sich entscheiden, ob es die Lehrerbildung völlig von der Universität lösen oder so gestalten wolle, „dass sie mit dem Wesen und den Zielen einer deutschen Universität vereinbar ist“.318 Gegen die neue Prüfungsordnung vom März 1932 erhob der Ausschuss Einspruch, weil sie ohne Rücksprache mit den universitären Gremien erlassen worden war, die Zielforderungen der Fächer Erziehungswissenschaft, Psychologie und Philosophie mindere, dem Leiter des Pädagogischen Institutes eine überragende Stellung einräume und den Einfluss der Universitätslehrer bagatellisiere.319 Der Senat billigte diese Position, stellte aber den Antrag zurück, das Institut nicht mehr als „der Universität angegliedert“ zu bezeichnen.320 Von Petersens Angriffen gegen das Institut distanzierte sich der Pädagogische Ausschuss,321 wollte aber Weiß veranlassen, sich aus dem Ausschuss zurückzuziehen. Seine Demission sollte eine Neuwahl ohne Weiß erzwingen.322 Am 23. Juni löste er sich auf. Dem am 30. Juni neu gewählten Ausschuss gehörte kein PI-Vertreter mehr an.323 Zu den „bittersten Erfahrungen“ seiner „Kämpfe um die Erhaltung der akademischen Lehrerbildung in Thüringen“ zählte Petersen die fragwürdigen Positionen der Lehrerschaft und der verschiedenen Regierungen.324 Im späteren Rückblick erschien ihm die im „Irrgarten der Politik“ erkennbare „Tendenz eindeutig, der akademischen

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UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 248r, 264r+v (Schreiben v. 23.10. u. 9.11.1931 an Kästner). Ebd., Bl. 254r u. UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 437r (Abschriften des PhF-Protokolls v. 5.11.1931). UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 265r, 267r. UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 459r u. Best. BA, Nr. 532, Bl. 272r (Protokoll der Sitzung des PädA v. 19.12.1931). UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 470r–473r (Abschrift des Protokolls der PädA-Sitzung v. 3.5.1932 mit dem Text der Erklärung); Best. BA, Nr. 532, Bl. 280r–284r (Abschriften des Protokolls der PädA-Sitzung v. 3.5.1932 u. der nach der Beratung mit Weiß am 23.6.1932 geänderten Erklärung). UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 285r (Abschrift des Senatsbeschlusses v. 4.7.1932); den Antrag hatte der PädA am 23.6. beschlossen – Best. M, Nr. 760, Bl. 497r. Zum Konflikt zwischen Ausschuss und Petersen vgl. UAJ, Best. M, Nr. 760, Bl. 437r–460r. Ebd., Bl. 470r–497r; der Auflösungsbeschluss wurde gegen die Stimme des PhF-Dekans und PädA-Vorsitzenden Debrunner gefasst; Petersen und Peters stimmten ihm zu. Ebd., Bl. 504r, 505r; Best. BA, Nr. 532, Bl. 286r; neu gewählte Mitglieder waren: Bauch, Gelzer, Haußner, Johannsen, Macholz, Mentz, Peters, Petersen, Renner, v. Zahn, Zucker. Brief v. 12.3.1932 an den preußischen Kultusminister Grimme (SPD), abgedr. bei Retter: Petersen/Dokumente (wie Anm. 228), S. 325f.; in Kopien auch im PPAV überliefert.

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Lehrerbildung um jeden Preis Abbruch zu tun.“325 Im Sommer 1932 hingegen schien er noch anzunehmen, die meisten Parteien stünden hinter dem Thüringer Lehrerbildungsgesetz. Deshalb werde es bestehen bleiben, auch wenn sich die NSDAP zum Wintersemester wieder an der Regierung beteiligen werde, schrieb Petersen am 3. Juli 1932 an den Rektor Abraham Esau326 – kurz vor den Landtagswahlen, die dann tatsächlich zu einer NS-Landesregierung führten.327 Dabei setzte er seine Hoffnungen wohl auf jene Gruppen der NSDAP, die sich für die universitäre VolksschullehrerAusbildung aussprachen328 und damit einen anderen Kurs versprachen, als ihn Frick 1930/31 verfolgt hatte. Obwohl – schloss Petersen dieses Schreiben an Esau – „ja manche Kollegen nichts von der Lehrerbildung oder doch nicht viel davon wissen wollen, so bleibt doch die Universität für sie verantwortlich; sie bleibt ‚akademische‘ Lehrerbildung. Darum ist ja nun auch in dem ‚Pädagogischen Ausschuss‘ dieser große Umschwung erfolgt. Wenn wir diese Lehrerbildung verantworten wollen, dann fordern wir Rückkehr zu der Form von 1924–28, die von der Universität gebilligt und mitentwickelt worden ist.“329 Geistig-politische Profile Die beschriebenen Vorgänge und Handlungsfelder Petersens lenken den Blick auf das geistig-politische Koordinatensystem seiner Wirkungsstätte. Eine Universität ist ein eigener geistiger Mikrokosmos, kann aber keineswegs nur für sich betrachtet werden. Universitäten gehören zum wissenschaftlichen Gesamtkosmos ihrer Zeit. Die Analyse ihrer geistig-politischen Profile bedarf vergleichender Perspektiven. Die jeweiligen Wissenschafts- und Hochschullandschaften sind dabei ebenso zu beachten wie Typologie und Wandel der Denk- und Verhaltensweisen oder die Bezugs- und Spannungsverhältnisse von Lang- und Kurzzeittrends, Kontinuitäten und Brüchen, Wissenschaft und Politik.330 Denk-, Deutungs- und Verhaltensmuster prägen sich 325 Peter Petersen: Die Lehrerbildung an der Universität Jena. Ein schulpolitischer Beitrag, in: Deutsches Bildungswesen 4 (1936), S. 20–31, Zit. S. 22. 326 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 289r–292r, hier Bl. 292r; Petersen verwendete hier die Abkürzung „NSPD“; vgl. auch: Die politischen Parteien und die akademische Lehrerbildung, in: Die Neue Lehrerbildung 1 (1931/32), S. 65–74, 87–91; an dieser Umfrage beteiligten sich SPD, Deutsche Staatspartei (ehem. DDP), KPD, NSDAP und Volkrechtspartei; Zentrum, DVP und DNVP verweigerten Stellungnahmen. 327 Aus den Landtagswahlen v. 31.7.1932 ging am 26.8.1932 eine Landesregierung unter Vorsitz des NSDAP-Gauleiters Fritz Sauckel mit ausschließlich der NSDAP angehörenden Staatsministern und dem Lehrer Fritz Wächtler (NSDAP) als neuem Volksbildungsminister hervor. 328 Dabei bezog sich Petersen insb. auf Stark: Nationalsozialismus (wie Anm. 305), dessen Denkschrift in Auszügen auch in der Parteien-Rundfrage (wie Anm. 326), S. 88–90 abgedruckt wurde; in ihm sah Petersen offenbar einen Repräsentanten derjenigen Gruppen der „nationalen Bewegung“, die sich „in Erziehungsfragen auf der gleichen Linie“ wie er bewegten – so am 3.4.1933 im FK der Universitätsschule (UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 312); vgl. auch Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 187–197 u. zur weiteren Entwicklung den Beitrag von Rüdiger Stutz in diesem Band. 329 UAJ, Best. BA, Nr. 532, Bl. 292r. 330 Horst Dreier/Dietmar Willoweit (Hg.): Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010; Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.): Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen

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langfristig aus. Sie wandeln sich nur allmählich. In exponierten Handlungs- und Konfliktfällen treten sie aber besonders deutlich hervor. Der „Thüringer Hochschulkonflikt“ der „Ära Greil“ ist dafür ein charakteristisches Beispiel. Er wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Bezugs- und Konfliktlagen von Wissenschaft und Politik. Beide galten lange Zeit als pure Gegensätze. Die neuere Forschung sieht in ihnen eher system- und konstellationsabhängige, oft konfliktgeladene „Ressourcen für einander“.331 Sie betont die engen Bezüge wissenschaftlichen und politischen Denkens und verweist auf den hohen Politisierungsgrad von Wissenschaften und Universitäten. Gern wird behauptet, die deutschen Universitäten seien erst durch das NS-Regime politisiert worden. Das ist unzutreffend. Sie haben sich in erheblichem Maße selbst politisiert. Und sie standen schon zuvor in engen Bezügen zur Politik. Trotz Korporationsrechten, Lehr- und Forschungsfreiheit waren die Universitäten staatliche Einrichtungen. Sie wurden staatlich finanziert und unterlagen der Hochschulaufsicht der Länder. Vor 1918 galten sie als verlässliche Stützen des Kaiserreiches. In der Weimarer Republik wurde das Verhältnis von Staat und Hochschule allerdings heikel. Die im Kaiserreich sozialisierten Hochschuleliten verhielten sich äußerst reserviert zum neuen Staat. Republikanische Politiker beklagten die „feindselige Haltung weiter Kreise unserer Akademikerwelt, insbesondere unseres akademischen Nachwuchses, der jungen republikanischen Staatsform gegenüber“.332 Ihre Appelle an das Hochschulwesen, sich auf den Boden der Nachkriegsordnung und des demokratischen Staates zu stellen, die Hochschulen zu reformieren, transnational auszurichten und sozial zu öffnen,333 verhallten meist ungehört. Republikanische

zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2002; Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/Aleksandra Pawliczek (Hg.): Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006; Grüttner u.a.: Wissenschaftskulturen (wie Anm. 40). 331 Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander, in: Bruch/Kaderas: Wissenschaften (wie Anm. 330), S. 32–51. 332 Konrad Haenisch: Staat und Hochschule. Ein Beitrag zur nationalen Erziehungsfrage, Berlin 1920, S. 5. 333 Haenisch: Staat (wie Anm. 332); ders.: Bahnen (wie Anm. 52); Carl Heinrich Becker: Gedanken zur Hochschulreform, Leipzig 1919; ders.: Vom Wesen der deutschen Universität, Leipzig 1925; auch abgedr. in: Reinhold Schairer/Conrad Hoffmann (Hg.): Die Universitätsideale der Kulturvölker, Leipzig 1925, S. 1–30; zu Becker vgl. Werner Richter: Carl Heinrich Becker. Bildungsminister der ersten deutschen Republik, in: Neues Europa. Halbmonatsschrift für Völkerverständigung 2 (1947), H. 18, S. 14–24; Guido Müller: Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1909–1930, Köln 1991; Bernhard vom Brocke: Preußische Hochschulpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Werner Buchholz (Hg.): Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2004, S. 27–56; Béatrice Bonniot: Die Republik, eine „Notlösung“? Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker im Dienste des Weimarer Staates (1918–1933), in: Andreas Wirsching/Jürgen Edler (Hg.): Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft (= Wissenschaftliche Reihe Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus 9), Stuttgart 2008, S. 299–309.

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Studenten,334 verfassungstreue335 oder vernunftrepublikanische336 Hochschullehrer blieben Minderheiten. Das sich selbst zur staatstragenden „gesellschaftlichen Mitte“ zählende „akademische Deutschland“337 war keine verlässliche Stütze der Weimarer Demokratie: „The universities were far from being democratic.“338 Das politische Denken der Hochschuleliten gehörte eher zum antidemokratischen als zum demokratischen Denken.339 Auch zeigten die deutschen Wissenschafts- und Hochschuleliten wenig Bereitschaft, sich in positiver Weise auf den Boden der internationalen Nachkriegsordnung zu stellen. Nur eine Minderheit war zur „geistigen Zusammenarbeit“340 mit den ehemaligen Kriegsgegnern bereit und bestrebt, „Reichs- und Weltverfassung“341 in Einklang zu bringen. Die meisten hielten sich bedeckt oder zogen ganz andere Schlussfolgerungen aus Krieg und Niederlage. Viele sahen den „Krieg der Geister“ in die Nachkriegszeit verlängert342 und meinten, das „Vaterlandsgewissen“ über das „Weltgewissen“343 stellen zu müssen. In solcher Denkperspektive setzten sie 334 Das Kartell der Deutschen Republikanischen Studentenschaft wurde nach dem Rathenau-Mord 1922 in Jena gegründet, der republikanische Deutsche Studenten-Verband 1928 nach dem preußischen Studentenrechtskonflikt als Sezessionsverband gegen die auf „völkisch-rassische“ Mitgliedschaftskriterien beharrende Deutsche Studentenschaft. 335 Wilhelm Kahl/Friedrich Meinecke/Gustav Radbruch: Die deutschen Universitäten und der heutige Staat. Referate, erstattet auf der Weimarer Tagung deutscher Hochschullehrer am 23. und 24. April 1926 (= Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart 44), Tübingen 1926; Herbert Döhring: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim (Glan) 1975; Dieter Fricke u.a. (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 4, Leipzig 1986, S. 368–370; Ralf Poscher (Hg.): Der Verfassungstag. Reden deutscher Gelehrter zur Feier der Weimarer Reichsverfassung, Baden-Baden 1999. 336 Den Begriff prägte Friedrich Meinecke: Verfassung und Verwaltung der deutschen Republik, in: ders.: Politische Schriften und Reden, hg. v. Georg Kotowski, 4 Darmstadt 1979, S. 280–296, hier S. 281; vgl. auch Wirsching/Edler: Vernunftrepublikanismus (wie Anm. 333). 337 Michael Doeberl u.a. (Hg.): Das akademische Deutschland, 3 Bde., Berlin 1930/31. 338 Samuel Dickinson Stirk: German universities – through English eyes, London 1946, S. 26; Stirk war 1930/33 Englisch-Lektor an der Universität Breslau. 339 Kurt Sontheimer: Die deutschen Hochschullehrer in der Zeit der Weimarer Republik, in: Klaus Schwabe (Hg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945 (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 17), Boppard a.Rh. 1988, S. 215–246; ders.: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 3 München 1978; Gusy: Denken (wie Anm. 87). 340 Margarete Rothbarth: Geistige Zusammenarbeit im Rahmen des Völkerbundes (= Deutschtum und Ausland 44), Münster 1931. 341 Friedrich Meinecke: Reichsverfassung und Weltverfassung (Rede auf der Verfassungsfeier des Deutschen Studenten-Verbandes am 23.7.1932 in Berlin), abgedr. in: Poscher: Verfassungstag (wie Anm. 335), S. 231–235. 342 Hermann Kellermann (Hg.): Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkrieg 1914, Dresden 1915; Karl Kerkhof: Der Krieg gegen die deutsche Wissenschaft. Eine Zusammenstellung von Kongreßberichten und Zeitungsmeldungen, Wittenberg 1921; Georg Karo: Der geistige Krieg gegen Deutschland, 2 Halle 1926. 343 Hermann Schwarz: Weltgewissen oder Vaterlandsgewissen (= Schriften zur politischen Bildung X/4), 2 Langensalza 1926 (erweiterter Text eines Vortrages v. 20.5.1918); ders.: Ethik der Vaterlandsliebe (Schriften zur politischen Bildung X/1), 2 Langensalza 1926; Schwarz war Philosophieprofessor in Greifswald u. gehörte wie Bauch und Wundt zum programmatisch-

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auf eine rigorose Politik zur Revision der Weltkriegsergebnisse und auf „geistige Autarkie“ statt „geistiger Zusammenarbeit“.344 Die Haltung zur internationalen Wissenschaftskooperation erwies sich so als Gradmesser und Scheidelinie universitärer Denk- und Verhaltensweisen. Das galt auch für die Haltung zu Bildungs-, Schulund Hochschulreformen. Nur eine Minderheit der Hochschuleliten wollte durch Bildung dazu beitragen, die Kriegsfolgen zu überwinden, die Republik geistig zu fundieren und das allgemeine Bildungsniveau zu heben. Die Mehrheit wehrte Bildungsansprüche ab, verteidigte Bildungsprivilegien und stand Reformen distanziert oder ablehnend gegenüber. Die Berufung auf Humboldt,345 Wesen, Wert und Idee der Universität346 trug weniger gestaltenden als abwehrenden Charakter. Die universitäre Volksschullehrer-Ausbildung und der Ausbau pädagogischer Fächer galten als politische Zumutung. Die „Pädagogisierung“ wurde in dieser Denkperspektive als „Politisierung“ der Universitäten wahrgenommen und abgelehnt.347 Die Klage über „politische Eingriffe“ und „parteipolitische Zersetzung“ der Hochschulen348 war im Hochschulmilieu weit verbreitet. Man gab sich „staatsfern“,349 „überparteilich“350 und „unpolitisch“,351 politisierte sich aber oft gerade in solchen Posen oder stellte das „wahrhaft Politische“ über „bloße Tagespolitik“. Der Typus des politikfernen „weltfremden Gelehrten“ im „Elfenbeinturm reiner Wissenschaft“ war – wenn es ihn denn je gegeben hat – im Weimarer Strukturwandel der Öffentlichkeit352 und seiner – nolens volens – öffentlichen Universität353 im Schwinden begriffen. Hingegen gewann der Typus des „politischen Professors“ „völkischen“ Kern der DPhG. 344 Brigitte Schroeder-Gudehus: Deutsche Wissenschaft und internationale Zusammenarbeit 1914– 1928. Ein Beitrag zum Studium kultureller Beziehungen in politischen Krisenzeiten, Genf 1966; Ulrich Wengenroth: Die Flucht in den Käfig. Wissenschafts- und Innovationskultur in Deutschland 1900–1960, in: Bruch/Kaderas: Wissenschaften (wie Anm. 330), S. 52–59; Gabriele Metzler: Deutschland in den internationalen Wissenschaftsbeziehungen 1900–1930, in: Grüttner u.a.: Wissenschaftskulturen (wie Anm. 40), S. 55–82. 345 Mitchell G. Ash (Hg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien/Köln/Weimar 1999; Sylvia Paletschek: Erfindung (wie Anm. 40); Ulrich Sieg: Humboldts Erbe. Eine Einleitung, in: ders./Dietrich Korsch (Hg.): Die Idee der Universität heute, München 2005, S. 9–24. 346 Gottlob Linck: Über Wesen und Wert der Universität, Jena 1920; Carl Jaspers: Die Idee der Universität, Berlin 1923; Eduard Spranger: Das Wesen der deutschen Universität, in: Doeberl u.a.: Deutschland (wie Anm. 337), Bd. 3, S. 1–38; vgl. auch Anm. 40. 347 Als Beispiel unkritischer Übernahme dieses Denk- und Wahrnehmungsmusters vgl. Steinbach: Kuckucksei (wie Anm. 124). 348 MVDH 12 (1932), S. 150 (Entschließung des VII. Deutschen Hochschultages 1932 in Danzig). 349 Günther Holstein: Hochschule und Staat, in: Doeberl u.a.: Deutschland (wie Anm. 337), Bd. 3, S. 127–142 350 Rudolf Smend: Hochschule und Parteien, ebd., S. 153–162. 351 Dirk van Laak: Alternative oder Attitüde? Agenturen des Unpolitischen im 20. Jahrhundert, in: Monika Gibas/Rüdiger Stutz/Justus H. Ulbricht (Hg.): Couragierte Wissenschaft, Jena 2007, S. 15–24. 352 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990 (Neuaufl., zuerst 1962). 353 Mathias Kotowski: Die öffentliche Universität. Veranstaltungskultur der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen in der Weimarer Republik (= Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 49), Stuttgart 1999.

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oder „Gelehrten-Politikers“354 an Profil. Dessen Protagonisten verstanden sich als öffentlich „eingreifende“ Denker, als Meinungsführer und „Deutungseliten“,355 als „Sinnstifter“ und „Propheten“356 oder ihr Fachgebiet als „politische Wissenschaft“. Dieser Typus prägte sich inhaltlich und wissenschaftskulturell sehr unterschiedlich aus. Seine Denk- und Verhaltensweisen konnten linke wie rechte, republikanische wie antirepublikanische Bahnen einschlagen. Sie waren vor allem in geistes-, sozial-, staats- und rechtswissenschaftlichen Disziplinen verbreitet. Zwar schwand deren Deutungshoheit im „naturwissenschaftlichen Zeitalter“. Öffentlich traten sie aber nach wie vor als Träger politischen Denkens hervor. In den Natur- und Technikwissenschaften, unter Physikern, Chemikern, Medizinern und Mathematikern gab man sich lieber „unpolitisch“. Doch das erwies sich gerade hier als Pose. Oft waren politische Ansichten in diesen Milieus viel schärfer ausgeprägt als bei den Geisteswissenschaften. Wo – wie in Jena bis 1924/25 – beide Wissenschaftskulturen in einer Fakultät zusammengeschlossen waren, stachen solche Kontraste besonders ins Auge. Die „politischen Professoren“ fanden einen beträchtlichen Resonanzboden. Sie spielten in der universitären Jubiläums- und Gedenkkultur357 eine ebenso maßgebliche Rolle wie auf dem weiten Feld akademischer Reden und Schriften, der Rektoratsreden358 oder der zu politischen Anlässen wie den jährlichen Reichsgründungsfeiern gehaltenen Reden. Sie traten auch parlamentarisch und parteipolitisch hervor. Zwar übernahmen Universitätsprofessoren in der Weimarer Zeit – im Kontrast zur 1848er Revolution – selten parlamentarische Mandate. Ihr Wahlverhalten lässt sich nur schwer ermitteln.359 Die meisten Professoren wahrten Distanz zu politischen Parteien. Doch war der Grad von Parteienzugehörigkeit keineswegs gering. Beim Lehrkörper 354 Friedrich Meinecke: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik, in: HZ 125 (1922), S. 248– 283; daran anknüpfend Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006. 355 Ulrich Prehn: Deutungseliten – Wissenseliten. Zur historischen Analyse intellektueller Prozesse, in: Karl Christian Führer/Karen Hagemann/Birthe Kundrus (Hg.): Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 42–69. 356 Max Weber und Ernst Troeltsch – beide selbst entschieden „politische Professoren“ – warnten nachdrücklich vor den professoralen „Sinnstiftern“ und „Propheten“, die den Boden wissenschaftlicher Professionalität verließen – Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1918), in: Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 17, hg. v. Wolfgang J. Mommsen/Horst Bauer, Tübingen 1992, S. 70–111; Ernst Troeltsch: Die Revolution in der Wissenschaft (1921), in: Ernst Troeltsch Lesebuch, hg. v. Friedemann Voigt, Tübingen 2003, S. 315–346. 357 Winfried Müller (Hg.): Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004; Paul Münch (Hg.): Jubiläum, Jubiläum . . . Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005; Rüdiger vom Bruch: „Universität“ – ein „deutscher Erinnerungsort“?, in: John/Ulbricht: Jena (wie Anm. 145), S. 93–99. 358 Dieter Langewiesche: Selbstbilder der deutschen Universitäten in Rektoratsreden. Jena – spätes 19. Jahrhundert bis 1948, ebd., S. 219–243. 359 Etwa dann, wenn sie Wahlaufrufe unterzeichneten oder durch auch Stadtbezirke – so die typischen „Professorenviertel“ von Universitätsstädten – einbeziehende Wahlanalysen; für Jena vgl. Rüdiger Stutz: Im Schatten von Zeiss: Die NSDAP in Jena, in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.): Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 119–142; Knut Oberländer: Jena in der Endphase der Weimarer Republik. Die Veränderungen der politischen Landschaft im Spiegel der Reichstagswahlergebnisse von September 1930 bis November 1932, Jena 2002 (MS).

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der Jenaer Universität erreichte er in der Endphase der Weimarer Republik 36 Prozent mit vorwiegender DNVP-Mitgliedschaft.360 Ähnliche Befunde zeigten auch andere Universitäten.361 Das Engagement für politische Rechtsparteien korrespondierte mit einem im Hochschulmilieu weit verbreiteten „nationalen Denken“,362 das einem unversöhnlichen Nationalismus nahe kam und „republikanisches Denken“ als „antinational“ ansah.363 Konrad Haenischs Schrift „Staat und Hochschule“ als „Beitrag zur nationalen Erziehungsfrage“ war eine Antwort auf permanente Angriffe mit dem Vorwurf „undeutscher, vaterlandsfeindlicher Gesinnung“.364 In Jena warf der Mediziner Rudolf Abel 18 Universitätslehrern, die sich nach dem Rathenau-Mord 1922 öffentlich zum Republikschutz bekannten, „anti-nationale Gesinnung“ vor.365 Gerade ihr Bekenntnis zum Republikschutz zeige wahrhaft „nationale Gesinnung“, hielten ihm die Angegriffenen entgegen.366 Das Engagement für republikanische und linke Parteien war im Hochschulwesen eher verpönt und fiel entsprechend gering aus. Nur wenige Professoren schlossen sich der SPD an. KPD-Mitglieder gab es an deutschen Hochschulen kaum. In der Regel fand die rechtsliberale DVP mehr Hochschulresonanz als die linksliberale DDP. Von der „politisch marktschreierischen“ NSDAP hielten sich die Hochschullehrer bis 1933 meist fern. Zur Reichstagswahl am 31. Juli 1932 riefen 51 deutsche Universitätsprofessoren dazu auf, die NSDAP zu wählen. Aus Jena schlossen sich nur sieben Professoren diesem Aufruf an.367 Hingegen gaben 91 Jenaer Hochschulleh360 John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 402f.; Sebastian Koch: Das parteipolitische Engagement der Universitätslehrer der Friedrich-Schiller-Universität Jena während der Endphase der Weimarer Republik, Staatsexamensarbeit Jena 2004 (MS). 361 Rainer Hering: Deutsch, völkisch, national. Parteipolitisches Engagement Hamburger Hochschullehrer in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, in: Walter Kertz (Hg.): Hochschule und Nationalsozialismus, Braunschweig 1994, S. 7–22; Christian Jansen: Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914–1935, Göttingen 1992, S. 300. 362 Christian Jansen: „Deutsches Wesen“, „deutsche Seele“, „deutscher Geist“. Der Volkscharakter als nationales Identifikationsmuster im Gelehrtenmilieu, in: Reinhard Blomert/Helmut Kuzmics/Annette Treibel (Hg.): Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt a.M. 1993, S. 199–278. 363 Vgl. auch Wilhelm Peters’ Urteil über den „national“ ausgerichteten akademischen Korpsgeist (wie Anm. 46) oder die Warnungen von Friedrich Meinecke (wie Anm. 341) und Wilhelm Flitner (wie Anm. 218) vor dem „deutschen Nationalismus“. 364 Haenisch: Staat (wie Anm. 332), Zit. S. 5. 365 UAJ, Best. BA, Nr. 502, Bl. 99r–136r; es beleidige sein „nationales Empfinden“, schrieb Abel an den Rektor (Bl. 131r), dass die 18 Universitätslehrer zu einer öffentlichen Versammlung aufriefen, an der sich auch Kommunisten beteiligten; deshalb sei der an dieser Aktion beteiligte Soziologe Franz Jerusalem kein Vertrauensmann in einer „nationalen Sache“ wie dem Aufruf zur Ruhrspende, wofür der Nichtordinarienverband Jerusalem benannt hatte; zu Abels Antisemitismus vgl. Anm. 398. 366 UAJ. Best. BA, Nr. 502, Bl. 127r. 367 Der Jurist Otto Koellreutter, der Rechtsphilosoph Karl August Emge, die Dermatologen Bodo Spiethoff u. Ernst Brill, der Tierzüchter Friedrich Persival Stegmann v. Pritzwalk, der Phylogenetiker Victor Franz u. der von Frick 1930 berufene Hans F.K. Günther – ThHStAW, ThMfV C 149, Bl. 5r; von 1930 bis 1933 sind im Jenaer Lehrkörper insgesamt 14 NSDAP-Mitglieder nachgewiesen; seit 1933 traten dann viele Professoren der NSDAP bei; im WS 1944/45 zählten

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rer – mehr als die Hälfte des Lehrkörpers – Anfang 1932 ihre Unterschrift unter Aufrufe zur Wiederwahl Hindenburgs als Reichspräsident. Nur ein Teil von ihnen bekannte sich so zu den Rechtsparteien. Denn diesmal wurde Hindenburg – anders als 1925 – als „überparteilicher Kandidat der Mitte“ gegen Hitler von der gemäßigten Rechten bis zur gemäßigten Linken (SPD) unterstützt. Und das spiegelte sich in der Unterschriften-Liste wider.368 Aufrufe und Liste bezogen sich 1932 auf Hindenburg als vermeintlichen Garanten der krisengeschüttelten Republik, weniger als Repräsentanten der politischen Rechten. Mit einigen Besonderheiten lag die Jenaer Universität im Grundtrend deutscher Hochschulen – was ihre geistig-politische Kultur, das überwiegend Reformen, Ausländer, „bildungsferne Schichten“ und Frauen abweisende Klima, das Verhältnis von „nationaler“ Mehrheit und „linker“ Minderheit oder die Haltung zu Republik, Reformen und internationaler Wissenschaftskooperation anbetrifft. Wie an den meisten deutschen Universitäten war der Anteil republikanisch und sozialistisch engagierter sowie „jüdischer“ Hochschullehrer in Jena niedrig – erheblich niedriger als in Berlin oder an den neuen großstädtischen Universitäten Frankfurt, Hamburg und Köln. Von den 1930/33 im Jenaer Lehrkörper nachgewiesenen 60 Parteimitgliedschaften entfielen zehn auf die DDP und nur sechs auf die SPD, 18 hingegen auf die DNVP und acht auf die DVP.369 Die SPD-Mitglieder waren fast alle von Greil berufen worden. Zwischen der Universität und dem in der Tradition Ernst Abbes entschieden liberalen Milieu der Jenaer Stiftungsbetriebe Zeiss und Schott gab es deutliche Kontraste.370 Das ohnehin recht schwache liberale Milieu der Universität erodierte. Ein bezeichnendes Beispiel bot der Strafrechtler, Otto-Schott-Schwiegersohn und DDP-Mitbegründer Heinrich Gerland, der 1924 die DDP verließ und sich politisch zunehmend nach rechts ausrichtete.371 Mit dem Tod des jüdischen Rechtswissenschaftlers, einstigen Abbe-Vertrauten und „Vaters“ der Thüringer Landesverfassung

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schließlich 63,5% des Lehrkörpers – darunter 49,3% der Ordinarien – zur NSDAP; die höchsten NSDAP-Anteile wiesen MF und MNF auf – John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 402 u. 533f. UAJ, Best. BA, Nr. 1944, Bl. 41r; zu den Unterzeichnern gehörten auch Hübner, Jerusalem, Linke, Weinel, der von Greil berufene und von Frick als Rektor verhinderte Nationalökonom Pape, die Pädagogen Petersen u. Johannsen sowie später NS-Entlassene (Argelander, Josephy, Klein, Leisegang, Peters, Vaerting, Weyermann), nicht aber Petersens Gegenspieler Weiß, dezidiert „rechte Professoren“ wie Bauch und Plate, die Unterzeichner des Wahlaufrufes für die NSDAP (wie Anm. 367) oder entschiedene Sozialisten wie Schaxel und Siemsen. John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 402; der einzige Kommunist im Jenaer Lehrkörper Karl Korsch (wie Anm. 58) war Ende 1923 kurzzeitig Thüringer Justizminister und wurde 1924 von der „Ordnungsbund“-Regierung als Professor entlassen; ein Arbeitsrechtsprozess führte zum Vergleich; bis zur förmlichen Entlassung durch das NS-Regime 1933 ruhte Korschs Arbeitsverhältnis an der Universität; 1925/26 brach Korsch mit der KPD. John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 386–393; Jürgen John: Thüringen und Jena in den 1920er Jahren. Zum landes- und kommunalpolitischen Wirkungsmilieu Adolf Reichweins, in: Martha Friedenthal-Haase (Hg.): Adolf Reichwein. Widerstandskämpfer und Pädagogik, Erlangen/Jena 1999, S. 23–49, insb. S. 37–48. Gerhard Lingelbach: Heinrich Gerland. Ein Jenaer Rechtsgelehrter zwischen Republik und Diktatur, in: Bernd-Rüdiger Kern u.a. (Hg.): Humaniora. Medizin – Recht – Geschichte, Heidelberg 2006, S. 191–214.

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(1920/21) Eduard Rosenthal verlor die Jenaer Universität 1926 einen weiteren bekannten Liberalen.372 An der Weimarer „Tagung (verfassungstreuer) deutscher Hochschullehrer“ 1926 nahmen aus Jena fünf Professoren teil und unterzeichneten die „Weimarer Erklärung“, die zu positiver Mitarbeit auf dem Boden der neuen Staatsordnung verpflichtete.373 31 Jenaer Professoren protestierten im gleichen Jahr öffentlich gegen vom preußischen Innenminister Carl Severing (SPD) angeordnete Hausdurchsuchungen bei dem in Putschpläne „vaterländischer“ Verbände verwickelten Berliner Professor Ludwig Bernhard. Sie sprachen ihm ihre „kollegialen Sympathien“ aus und schmähten die sozialdemokratischen Repräsentanten des neuen Staates. Es sei nicht hinnehmbar, wenn in einem Lande, in dem die „meineidigen Hochverräter von 1918“ unangefochten blieben, ein „aufrechter“, „vaterlandsliebender“, „hochverdienter deutscher Gelehrter“ verdächtigt und in seinen eigenen Wänden belästigt werde.374 Von den 1926 bis 1933 in der Reihe „Jenaer Akademische Reden“ erschienenen 16 Schriften bezog nur eine republikanische Positionen.375 Bezeichnenderweise wurde diese Reihe mit Bruno Bauchs antirepublikanischer Reichsgründungsfeier-Rede „Der Geist von Potsdam und der Geist von Weimar“ eröffnet.376 Professorale Bünde und Zirkel wie der Eucken-Bund (1920) und Max Wundts Gesellschaft Deutscher Staat (1920) 372 Gerhard Lingelbach: Eduard Rosenthal (1859–1926). Rechtsgelehrter und „Vater“ der Thüringer Verfassung von 1920/21 (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 25), Weimar u.a. 2006. 373 Kahl u.a.: Universitäten (wie Anm. 335), S. 38f.; aus Jena nahmen an der Weimarer Tagung, die dem „Weimarer Kreis (Vereinigung) verfassungstreuer Hochschullehrer“ den Namen gab, die Juristen Rudolf Hübner (wie Anm. 392) u. Otto Koellreutter, der Theologe Heinrich Weinel (wie Anm. 288), der Nationalökonom Gerhard Kessler u. der Philosoph Eberhard Grisebach (wie Anm. 54) teil; Koellreutter wandelte sich bald über die Kritik am „Parlamentsabsolutismus“ zum Befürworter der NS-Bewegung und zu einem Vordenker des NS-„Führerstaates“ (wie Anm. 367, 395); entschieden republikanische Positionen bezog Gerhard Kessler – vgl. z.B. ders.: Staat und Hochschule, in: Oscar Müller (Hg.): Krisis. Ein politisches Manifest, Weimar 1932, S. 277–284. 374 UAJ, Best. BA, Nr. 954, Bl. 1r (Jenaer Volksblatt v. 22.5.1926 mit dem Text des SolidaritätsBriefes für Bernhard und der Unterzeichnerliste); zu den 31 Unterzeichnern gehörten neben ohnehin deutlich politisch rechts stehenden Professoren (Bauch, Eucken, Haußner, Michels, Plate, Thümmel, Wundt u.a.) auch der Pädagoge, Petersen-Rivale und künftige PI-Leiter Weiß, der dem Stahlhelm angehörende Altphilologe Zucker u. die Physiker Wien u. Esau; der in der „bürgerlichen“ Jenaischen Zeitung veröffentlichte Brief löste einen Sturm der Entrüstung in der linken u. liberalen Presse u. eine Große Anfrage der KPD-Landtagsfraktion aus; nach Aussprachen mit dem Minister Leutheusser u. Vertretern der Unterzeichner missbilligten die Vertreter der Universitätsleitung (Rektor Gutbier, Prorektor Gerland, Ordinarius Hübner) das Schreiben u. erklärten es zur „reinen Privatangelegenheit“ der 31 Professoren; die Universität stehe mit dem Brief u. seiner Veröffentlichung in keinem Zusammenhang; die Unterzeichner (außer Plate) hätten zudem versichert, keine „monarchistische Restauration“ zu beabsichtigen u. in keiner Beziehung zu den an die Berliner Untersuchung beteiligten Kreisen zu stehen (Schreiben des Rektors an das Ministerium v. 5.6.1926, Bl. 30r+v). 375 Rudolf Hübner: Widerstände gegen den Einheitsstaat. Rede bei der von der Universität Jena veranstalteten Feier des Jahrestages der Gründung des Deutschen Reiches gehalten am 18. Januar 1929 (= JAR 7), Jena 1929; John/Stutz: Jenaer Universität (wie Anm. 14), S. 396; ConradAgilolf Blaschke: „Die Jenaer Akademischen Reden“, Magisterarbeit Jena 2005 (MS); insgesamt erschienen in dieser Reihe 1926 bis 1948/49 31 Schriften. 376 Bauch: Geist (wie Anm. 34).

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bildeten sich vor allem im politisch rechts stehenden Spektrum aus.377 Auf Beschluss des Verbandes der Deutschen Hochschulen begingen die deutschen Universitäten – auch die Jenaer – seit 1922 jährlich den 18. Januar als Reichsgründungstag und als Bekenntnis zu Bismarcks Reichsgründung.378 Sie weigerten sich aber, den 11. August als republikanischen Verfassungstag ebenso zu begehen.379 Ähnliche Befunde zeigten sich in der Studentenschaft. In diesem jugendlichen, stark fluktuierenden Milieu prägten sich die Typen und Kontraste weltanschaulichpolitischen Denkens und Handelns freilich radikaler aus als in der Professorenschaft. Teils mit Sympathie, teils mit Sorge konstatierten die Hochschullehrer den Aktivismus und „politischen Messianismus“380 der studentischen Jugend und ihrer heterogenen geistigen Strömungen.381 Zu Beginn der Weimarer Republik sah das noch anders aus. Damals stürzten sich die ersten Nachkriegssemester heimkehrender Frontstudenten nach dem „geistestötenden“, „abstumpfenden“ und „nervenzermürbenden Frontdienst“ des Weltkrieges mit „Feuereifer in ihr Spezialstudium“382 und zeigten wenig Interesse an Politik, nicht einmal an den neuen Studentenvertretungen.383 Bis dann eine nicht mehr vom „Fronterlebnis“, sondern von seiner nachträglichen Deutung geprägte „Kriegsjugendgeneration“ in die Hörsäle drängte und – so auch in Jena – einen hoch politisierten „völkischen Geist“ in die Universitäten trug.384 Nur eine Minderheit der Jenaer Studenten schloss sich dem 1922 hier gegründeten Kartell der Deutschen Republikanischen Studentenschaft an. Bei den AStA-Wahlen dominierten die „konservativ-nationalen“ Korporationslisten und die seit 1920 im „völkisch“–antisemitischen Sinne radikalisierten freistudentischen Gruppen.385 Auch die Jenaer Burschenschaften befolgten den Eisenacher Beschluss der Deutschen Burschenschaft 1920, nur „deutsche Studenten arischer Abstammung, die sich offen 377 Vgl. Anm. 32, 37. 378 Kotowski: Universität (wie Anm. 353); Jan Gerber: Die Reichsgründungsfeiern der Universität Halle-Wittenberg in der Zeit der Weimarer Republik, in: Hermann-J. Rupieper (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1502–2002, Halle 2002, S. 407–431. 379 Das blieb Einzelinitiativen überlassen – vgl. Poscher: Verfassungstag (wie Anm. 335); laut Herbert Koch: Geschichte der Stadt Jena, Stuttgart 1966 (Nachdruck Jena u.a. 1996), S. 362, hat die Jenaer Universität nur einmal (1924) eine Verfassungsfeier mit Heinrich Gerland (wie Anm. 371) als Redner veranstaltet, während die Stadt mit ihrem liberalen Oberbürgermeister seit 1928 solche Feiern durchführte, wobei 1930 Carl Theil (wie Anm. 153) die Festrede hielt. 380 MVDH 12 (1932), S. 266 (Prof. Schlink/Darmstadt in seinem Referat über „Studentenfragen“ auf dem VII. Deutschen Hochschultag 1932). 381 Justus Wilhelm Hedemann: Die geistigen Strömungen in der heutigen deutschen Studentenschaft, in: Doeberl u.a.: Deutschland (wie Anm. 337), Bd. 3, S. 385–398. 382 Zur Psychologie des heutigen Studenten, in: JUZ 2 (SS 1919), Nr. 10 (15.7.1919), S. 107. 383 Das zeigte sich bei der schwachen Resonanz der Freikorps-Werbung wie bei der geringen Beteiligung an den ersten AStA-Wahlen 1919, von der die „nationalen Listen“ der Korporationsstudenten profitierten – John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 283–296. 384 Konrad H. Jarausch: Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt a.M. 1984, S. 117–122; Ulrich Herbert: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 58), München 2003, S. 95–114, hier S. 97–102. 385 John/Stutz: Jenaer Universität (wie Anm. 14), S. 287f. (Übersicht über die Jenaer AStAWahlergebnisse 1919–1932) u. 403–410.

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zum Deutschtum bekennen“, aufzunehmen.386 Die Jenaer Klinikerschaft beschloss im November 1922, bei Vorlesungen die ersten Bänke für „Studierende germanischer Abstammung“ zu reservieren.387 Wie die meisten Studentenschaften vertrat die Jenaer Studentenschaft in der Mitgliedsfrage gegen jüdische und ausländische Studierende gerichtete „völkisch-rassische“ Positionen. Im Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit standen „nationale“ Themen, die „Grenzlandarbeit“ und eine Weltkriegs- und Niederlagen-bezogene Gedenk- und Erinnerungskultur.388 In den letzten Weimarer Jahren verstärkte sich die politische Radikalisierung der Studentenschaft. Das zeigte sich im rasch wachsenden Einfluss des NS-Studentenbundes wie in der zunehmenden Bereitschaft der in Jena stark vertretenen Korporationen, mit ihm zu kooperieren.389 An den skizzierten Konstellationen und Mehrheits-Verhältnissen konnten auch die Maßnahmen der „Ära Greil“ nichts ändern. Zwar gaben sich Greil und seine Mitstreiter größte Mühe, einen „neuen Geist“ in die Universität zu bringen, den Anteil republikanisch und sozialistisch gesinnter Hochschullehrer zu erhöhen und keine Rücksicht auf universitäre Vorbehalte gegen neue Fächer, engagierte Schulreformer, weibliche oder „jüdische“ Kollegen zu nehmen. Damit steht die „Ära Greil“ für entschieden republikanische Hochschulpolitik – im Kontrast zur antirepublikanischen Hochschulpolitik der „Ära Frick“. Es ist abwegig, beide Konfliktfälle gleichzusetzen und zu behaupten, Frick habe nur den von Greil eingeschlagenen Weg weiter beschritten.390 Das allein auf das Hochschulrecht fixierte Bild einer erst von links („Ära Greil“), dann von rechts („Ära Frick“) bedrängten Jenaer Universität bleibt zeitgenössischen Narrativen und einem allzu wohlfeilen „Mitte-Extremismus“Denken verhaftet. Es verstellt den Blick auf die tatsächlichen Konstellationen mit der Mehrheit derjenigen, die Greils linksrepublikanische Hochschulpolitik ablehnten und bekämpften. Diese Konstellationen zeigten sich noch einmal deutlich zu Beginn des NS-Regimes. In Jena wurden 17 Mitglieder des Lehrkörpers (8,5 Prozent) als „jüdisch“ und „politisch unzuverlässig“ entlassen.391 Die meisten von ihnen waren – wie 386 Helma Brunck: Die Deutsche Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, München 1999, S. 159. 387 Das löste eine KPD-Landtagsanfrage über den studentischen Antisemitismus an der Jenaer Universität aus – ThHStAW, ThMfV C10, Bl. 2r; UAJ, Best. BA, Nr. 1902, Bl. 83r, 84r; vgl. auch Steffen Raßloff: Antisemitismus auf parlamentarischer Bühne. Die „jüdische Frage“ im Thüringer Landtag 1920–1933, in: Mitgestaltung und Ausgrenzung. Jüdische Abgeordnete und jüdisches Leben als Thema in Thüringer Parlamenten (= Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 26), Weimar 2007, S. 351–383. 388 Diese Themen und Grundpositionen spiegelten sich in der AStA-Zeitschrift deutlich wider – vgl. Die Jenaer Studentenschaft. Nachrichtenblatt der Studentenschaft der Universität Jena 1 (1925/26) – 9 (1934/35). 389 John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 403–410; Gerhard Fließ: Die politische Entwicklung der Jenaer Studentenschaft vom November 1918 bis zum Januar 1933, Diss. Phil. Jena 1959 (MS); Mike Bruhn/Heike Böttner: Die Jenaer Studenten unter nationalsozialistischer Herrschaft 1933–1945, Erfurt 2001, S. 9–29. 390 So behauptet das Kaudelka: Berufung (wie Anm. 281), S. 123–126. 391 John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 428–434; Michael Grüttner/Sven Kinas: Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: VfZ 55 (2007), S. 123–186; Edward Yarnall Hartshorne: The German Universities and National Socialism, London 1937 (Neuaufl. 1982), S. 94f. errechnete für Jena eine Entlassungsquote von 8,5% ( Lehrkörper von 192 Personen im WS 1932/33) bei durchschnittlich 16,3% im Reichsmaßstab; damit

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die beiden Pädagoginnen Anna Siemsen und Mathilde Vaerting und die „jüdischen“ Hochschullehrer Wilhelm Peters (Psychologie) und Emil Klein (Naturheilkunde) – von Greil gegen den Widerstand des universitären Establishments berufen worden oder hatten – wie Julius Schaxel – Greils Politik unterstützt und sich deshalb den Zorn ihrer Kollegen zugezogen. Der „Thüringer Hochschulkonflikt“ der „Ära Greil“ erwies sich als Seismograph und Scheidelinie politischen Denkens. Dabei waren die universitären Interessenlagen und Handlungsmuster sehr komplex und keineswegs immer eindeutig. Der Jurist Rudolf Hübner vertrat zwar republikanische Positionen, stellte sich aber aus hochschulrechtlichen Gründen im „Kampf mit dem Ministerium Greil“ hinter die Universitätsleitung.392 Auch bei den von Greil neu Berufenen gab es sehr unterschiedliche Denk- und Verhaltensmuster. Doch gehörten sie zweifellos zu denjenigen, die seiner Politik nahe standen, von ihr profitierten, sie unterstützten und dazu beitrugen, dass zumindest in einigen Fachgebieten tatsächlich ein „neuer Geist“ in die Universität einzog. Das betraf vor allem die in der „Ära Greil“ neu eingerichteten beziehungsweise ausgebauten Fächer Soziologie, Psychologie und Pädagogik. Trotz aller Binnenkonflikte galt Jena fortan als ein deutlich gestärktes Zentrum pädagogischen Denkens. Nur in Jena erhielt mit Peter Petersen ein Schulreformer einen universitären Lehrstuhl. Mit Wilhelm Peters wurde Jena ein wichtiger Standort experimenteller Psychologie. Zwischen dem Deutschen Soziologentag, der 1922 in Jena unvoreingenommen über das „Wesen der Revolution“ debattierte393 und dem Jenaer Deutschen Physikertag 1921, dessen Organisator Max Wien ganz im Geiste „nationaler geistiger Autarkie“ und „vaterländischer“ Abwehr westlicher Kollegen agierte,394 lagen Welten. Zumindest die Wortführer universitärer Opposition gegen Greil gehörten – wie die Philosophen Bauch und Wundt oder der Zoologe Plate – zum republikfeindlichen „völkisch-nationalen“ Lager. Sie gaben auch nach dem Ende der „Ära Greil“ maßgeblich den Ton an der Universität mit an. Bis dann eine neue Gruppe „politischer Professoren“ – wie der 1921 nach Jena berufene, 1933 nach München wechselnde Jurist Otto Koellreutter –395 den „Völkischen“ im rechten Lager den Rang ablief und sich im Zeichen einer „Revolution von rechts“396 der NS-Bewegung öffnete. Die „völkische“ Komponente im Lager der Greil-Gegner schloss antisemitische Tendenzen ein. Niemals zuvor – beschrieb Preußens sozialdemokratischer Kultusminister Haenisch das Problem „Hochschule und Judenfrage“ – sei der Antisemitismus in

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lag Jena ähnlich München (8,3%), Münster und Marburg (jeweils 8,7%) weit unter den Quoten von Berlin (32,4%), Frankfurt (32,3%), Heidelberg (24,3%), Breslau (21,9%), Göttingen (18,9%), Freiburg (18,8%), Hamburg (18,5%) oder Köln (17,4%), nur wenig hinter Leipzig (11,6%) und deutlich vor Würzburg (6,2%), Rostock (4,2%) oder Tübingen (1,6%); Anna Siemsen hatte der NS-Volksbildungsminister Wächtler schon Ende 1932 die Lehrbefugnis entzogen. Vgl. Anm. 47, 135, 368, 373, 375. John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 329; Anm. 57. John/Stutz: Universität (wie Anm. 14), S. 364. Jörg Schmidt: Otto Koellreutter 1883–1972. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Frankfurt a.M. 1995. Hans Freyer: Revolution von rechts, Jena 1931.

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Deutschland so stark unter Gebildeten und studierender Jugend verbreitet gewesen.397 Dieser akademische Antisemitismus zeigte sich auch an der Jenaer Universität – latent oder offen, mitunter in erschreckend krasser Weise. Das betraf nicht nur das studentische Milieu, sondern auch den Lehrkörper. Die Widerstände gegen die Berufung von Peters und Klein waren vor allem hochschulrechtlich und wissenschaftspolitisch begründet. Sie wurzelten aber auch in antisemitischen Ressentiments. Der Mediziner Abel beschwerte sich 1923 beim Ministerium über den Zustrom jüdischer Auslandsstudenten an die Medizinische Fakultät. Man spotte anderenorts schon über Jena als „Volkshochschule für ausländische Juden“. Die „judenfreien Schichten“ der deutschen Bevölkerung empfänden es als Zumutung, dass „fremde Juden“ an den „Leibern unserer deutschen Kranken“ herum schnitten.398 Der Mathematiker und Logiker Gottlob Frege verband den Sozialistenmit dem Judenhass und schrieb in seinem „politischen Tagebuch“ 1924, man müsse die Juden öffentlich kennzeichnen, um sie vom „deutschen Volkstum“ fernzuhalten.399 Der Zoologe Plate entfaltete seine antisemitische Gesinnung mit der Botschaft „Als ‚gute Deutsche‘ können wir nur Antisemiten sein“ 1923/24 in seinen Kollegs. Er verstand das als „wissenschaftliche Aufklärung“ auch über die „jüdische Mimikry“, mit der sich Juden im „deutschen Volkskörper“ zu verbergen suchten. Als Beispiel verwies er auf seinen Jenaer Kollegen Wilhelm Peters, der früher „Pereles“ geheißen habe. Plates antisemitische Tiraden wurden durch Mitschriften öffentlich bekannt. Die daraus resultierenden Disziplinarverfahren zeigten aber, dass der „akademische Korpsgeist“ dazu neigte, sich hinter den „angegriffenen Kollegen Plate“ und gegen diejenigen zu stellen, die seine antisemitischen Ausfälle öffentlich gemacht hatten.400 Ohne solch krasse Ansichten zu teilen, waren juden- und fremdenfeindliche, sozial- und kulturrassistische Denkmuster und Vorbehalte gegen „zweifelhafte Elemente“ an der Universität recht verbreitet. Am 20. Dezember 1923 schrieb der Wirtschaftsrechtler Justus Wilhelm Hedemann – 1919/20 Vorsitzender des Reformausschusses der Jenaer Universität und seit 1920 Jenaer Ordinarien-Vertreter im Hochschulverband – an den VDH-Vorsitzenden: „Herr Schaxel hat eine Ausländer Politik betrieben, die uns eine völlige Überschwemmung mit ausländischen Elementen und zwar vor allem ausländischen Juden gebracht hat“; deshalb gehe die Universitätsspitze nun prinzipiell gegen diese Methoden vor.401 Seinen Kollegen Wilhelm Peters bezeichnete Hedemann im Januar 1924 als „Haupt der zersetzenden Tendenz, die zu eigenem Nutz und Frommen die alten Fundamente unserer Universi397 Haenisch: Staat (wie Anm. 332), S. 73–80, hier S. 73; vgl. auch Notker Hammerstein: Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871–1933, Frankfurt a.M./New York 1995. 398 UAJ, Best. BA, Nr. 1922, Bl. 40r, 41r; vgl. auch Anm. 365. 399 Gottfried Gabriel/Wolfgang Kinzler (Hg.): Gottlob Freges politisches Tagebuch, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), S. 1057–1098, insb. S. 1087; vgl. auch dies. (Hg.): Frege in Jena. Beiträge zur Spurensicherung, Würzburg 1997; Gottfried Gabriel/Uwe Dathe (Hg.): Gottlob Frege. Werk und Wirkung. Mit den unveröffentlichten Vorschlägen für ein Wahlgesetz von Gottlob Frege, Paderborn 2000. 400 Vgl. Anm. 33. 401 BArch, R 8088, Nr. 556, n.p.; vgl. auch Heinz Mohnhaupt: Justus Wilhelm Hedemann als Rechtshistoriker und Zivilrechtler vor und während der Epoche des Nationalsozialismus, in: Michael Stolleis/Dieter Simon (Hg.): Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Disziplin, Tübingen 1989, S. 107–159.

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tät am liebsten ganz zertrümmern möchte.“402 Bei diesem Denkhorizont ist es nicht allzu überraschend, wenn Hedemann acht Jahre später am 18. Januar 1931 in seiner Rede auf der universitären Jenaer Reichsgründungsfeier im Beisein des NS-Ministers Frick für ein „Bündnis der Generationen“ plädierte, dabei seine Sympathie für die „junge“ NS-Bewegung bekundete und dies mit Zitaten aus Hitlers „Mein Kampf“ unterstrich.403 Man war gerade dabei, sich nach dem Eklat um die Günther-Berufung wieder mit Frick zu versöhnen. Ohnehin arbeitete der „Geist der Universität[en]“404 in dieser Zeit der Staatskrise, der Präsidialkabinette und der Agonie der Weimarer Demokratie bereits einem künftigen „starken Staat“ zu, ohne damit nun unbedingt den späteren NS-„Führerstaat“ zu meinen, mit dem man sich dann allerdings bald arrangierte. Petersens Weimarer Standort Wie ist nun der Reformpädagoge Peter Petersen im skizzierten Spektrum universitärer Denk- und Verhaltensweisen zu „verorten“? Auf diese Frage konnten die Petersenund Jenaplan-Forschungen bislang keine überzeugende Antwort geben. Sie haben zwar viele Aspekte des Denkens und Wirkens Petersens erschlossen und in den Weimarer Zeitkontext eingeordnet, ohne aber dieser Frage systematisch nachzugehen. Die fachintern oder öffentlich geführten „Petersen-Debatten“ gaben erst recht keine brauchbaren Antworten. Dafür waren sie viel zu polarisiert, auf ein „pro oder contra Petersen“ und auf die NS-Zeit fixiert. Petersens Weimarer Zeit interessierte nur als Vorgeschichte oder Kontrast späteren Verhaltens. Entweder waren die Kontrahenten bemüht, Petersen anzuklagen und ihm tendenziell in den Nationalsozialismus weisendes Denken und Handeln vor 1933 „nachzuweisen“ – oder ihn zu verteidigen und „reinzuwaschen“. Von vorurteilsfreier sachlicher Analyse waren solche Positionen und Debatten weit entfernt. Bislang ist es nicht gelungen, Petersens geistig-politischen Standort der Weimarer Zeit mit Hilfe geeigneter Kriterien präzise zu bestimmen. Diese Lücke kann hier nicht geschlossen werden. Doch wird zumindest der Versuch unternommen, die beschriebenen Denk- und Verhaltenstypen und -kriterien auf Petersen und seine Handlungsfelder der Weimarer Zeit anzuwenden. Dem Typus des entschieden „politischen Professors“ lässt sich Petersen kaum zuordnen. Weder trat er mit politischen Reden, Programmen und entsprechender Publizistik hervor. Noch beteiligte er sich an politischen Aktionen, Erklärungen, Bünden oder Zirkeln. Vom Verständnis der Pädagogik als „politischer Wissenschaft“ war Petersen weit entfernt. Er wandte sich gegen die „Politisierung des pädagogischen Raumes“ und stand dem Staat als „Reich der Lebensnot“ recht skeptisch gegenüber. Ihm schwebten eher „volks-“ und „gottgewollte“ Ordnungen im Sinne „volkskonservativer“ Ideen und der „politischen Ethik“ Friedrich Gogartens vor.405 Petersen 402 BArch, R 8088, Nr. 556 (Schreiben v. 4.1.1924 an den VDH-Vorsitzenden). 403 Justus Wilhelm Hedemann: Jugend und Alter. Die Folge der Generationen. Ein Blick auf unsere Zeit (JAR 12), Jena 1931. 404 Der Geist der Ernst Moritz Arndt-Universität Greifswald, Greifswald 1933; Herausgeber dieser Sammelbandes war Hermann Schwarz (wie Anm. 343). 405 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 272–275 (Zum Begriff des „Politischen“ bei Petersen).

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verfasste in der Weimarer Zeit keine „politischen Schriften“. In den „Jenaer Akademischen Reden“406 war er nicht vertreten. Selten gab er seine Unterschrift unter Wahlaufrufe. Nur zweimal wurde Petersen in der Weimarer Zeit tages- und parteipolitisch aktiv – mit seinem Engagement bei den Schleswiger Abstimmungskämpfen 1920 und für den Christlich-Sozialen Volksdienst (Evangelischen Volksdienst) 1932/33.407 Beides blieb Episode. Es scheint also nahe zu liegen, ihn als „unpolitisch“408 und „politisch naiv“409 zu bezeichnen oder seine politische Biographie erst 1933 beginnen zu lassen.410 Das erweist sich bei genauerem Hinsehen freilich als wenig überzeugend. Petersen war sicher kein „homo politicus“. Es führt in die Irre, ihn in einer solchen Rolle stilisieren zu wollen.411 Petersen wirkt allgemeinpolitisch ausgesprochen indifferent. Schulpolitisch vertrat er aber klare Positionen. Er dachte und handelte sehr wohl politisch, um seine Schul- und Lehrerbildungskonzepte durchzusetzen.412 Dafür verfasste er zahlreiche Schriften und Artikel. An den schulpolitischen Kämpfen der Weimarer Zeit war Petersen in einem Maße beteiligt, dass es schwer fällt, ihn für völlig „unpolitisch“ oder „politisch naiv“ zu halten. Mit ihrem Engagement für „Neue Erziehung“, „Neue Schule“ und „Neue Erzieher“ war ja die gesamte Reformpädagogik „politisch“.413 Pädagogisches Wirken – schrieb Wilhelm Flitner 1931 – habe „echte politische Motive“; wer glaube, es „völlig entpolitisieren zu können“, der irre.414 Es liegt also auf der Hand, nach dem „politischen Petersen“ 406 Anm. 375. 407 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 75–83, 229–249; 1920 wirkte Petersen im Auftrag des sozialdemokratischen Staatskommissars für Schleswig als Agitator für die „deutsche Option“; zu den Thüringer Landtagwahlen vom Juli 1932 kandidierte er erfolglos auf der Liste des EVD (unter diesem Namen trat der 1929 durch Zusammenschluss des Christlichen Volksdienstes und der DNVP-Sezession Christlich-Soziale Reichsvereinigung entstandene CSVD in Thüringen auf), zu den Reichstagswahlen vom November 1932 und vom Mai 1933 – wiederum erfolglos – für den CSVD. 408 Jutta Wilhelmi: Peter Petersen. Als „Unpolitischer“ zwischen allen Stühlen, in: EuW (1993), H. 12, S. 24. 409 Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 106. 410 Tobias Rülcker: Zur erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Peter Petersen und seinem Werk, in: Hansen-Schaberg/Schonig: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 2), S. 132–166, hier S. 150–154. 411 So in Auseinandersetzung mit Positionen des Petersen-Schülerkreises auf der Basis seiner rezeptionsgeschichtlichen Forschungen v.a. Torsten Schwan: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1960. Die Darstellung und Resonanz Peter Petersens und des Jenaplans im Spannungsfeld von Pädagogik und Schulreform (= Braunschweiger Arbeiten zur Schulpädagogik 17), Braunschweig 2000; ders.: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1984. Die Jenaplan-Pädagogik zwischen „defensiver Rezeption“ und „einsetzender Petersen-Kritik“, Frankfurt a.M. u.a. 2007; ders.: Ein politisch naiver, opportunistischer Theoretiker? Peter Petersen und der Nationalsozialismus. Stand und Probleme der Forschung, in: Hoßfeld u.a.: „Wissenschaft“ (wie Anm. 27), S. 822–849; ders.: Petersens Entpolitisierung durch seine Schüler und Anhänger in der deutschen Nachkriegspädagogik, in: Retter: Reformpädagogik. Neue Zugänge (wie Anm. 220), S. 186–208. 412 Retter: Reformpädagoge; ders.: Konzeption (beide wie Anm. 70). 413 Tobias Rülcker/Jürgen Oelkers (Hg.): Politische Reformpädagogik, Bern u.a. 1998. 414 Flitner: Reformpädagogik (wie Anm. 218), S. 293.

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und seinen „Identitätsbalancen“415 zu fragen – und nach den Kriterien, mit denen sie sich bestimmen lassen, ohne sich erneut auf unfruchtbare Petersen-Debatten und ausgetretene Interpretationswege einzulassen. Lange Zeit haben Erziehungswissenschaftler und -historiker Petersens Denken und Wirken vor allem ideengeschichtlich aus seinen Erziehungstheorien erschließen wollen. Das geschah recht dichotom – entweder, um Petersen kritiklos zu würdigen416 oder um ihm völkisches, totalitäres, autoritäres, jedenfalls demokratieunfähiges Denken und Handeln zu unterstellen.417 Dieser rein oder vorwiegend ideengeschichtliche Ansatz zieht sich bis heute wie ein roter Faden durch die Petersen- und Jenaplan-Forschung.418 Er verleitet dazu, Petersens schul- und lehrerbildungspolitisches Wirken zu ignorieren, sein Schulmodell zu entkontextualisieren und die Jenaplan-Schulpraxis als bloßen Ausfluss erziehungswissenschaftlicher Theorien anzusehen. Dabei werden die konzeptionsbildenden Wirkungen der Jenaplan-Schulpraxis ebenso übersehen wie die evaluierende pädagogische Tatsachenforschung. Obwohl ja Petersen gerade nicht zu jenen Reformpädagogen gehörte, die sich Empirie und modernen wissenschaftlichen Methoden verweigerten. Dieser vorwiegend ideengeschichtliche Ansatz ist schon mehrfach kritisiert und gefordert worden, Petersens gesamtes Wirken in die Analyse einzubeziehen. Das setzt freilich gründliche empirische Forschungen und komplexe, ideen- und verhaltensgeschichtliche Perspektiven verbindende Herangehensweisen voraus.419 Sonst führt die Frage nach dem „politischen Petersen“ auf den Irrweg selektiver Methoden mit beliebiger Fakten- und Zitatenauswahl für wohlfeile Collagen, spekulative Interpretationen und willkürliche Konstruktionen.420 415 Hein Retter: Peter Petersens Identitätsbalancen vor und nach 1933, in: Rülcker/Oelkers: Reformpädagogik (wie Anm. 413), S. 563–589. 416 So Petersens Schüler Heinrich Döpp-Vorwald: Die Erziehungslehre Peter Petersens, Ratingen 1962 (2 1969) u. Theo Dietrich: Zur Bedeutung Peter Petersens und die Bedeutung seiner Erziehungsphilosophie für die Gegenwart, in: Klaßen/Skiera: Pädagogik (wie Anm. 42), S. 17–32. 417 So Wolfgang Keim: Peter Petersen und sein Jena-Plan – wenig geeignet zur Demokratisierung von Schule und Unterricht. Kritische Anmerkungen zu einigen Petersen-Beiträgen aus dem Jahre 1990, in: Pädagogik 45 (1991), S. 928–936 sowie weitere Texte Keims mit ähnlicher Tendenz; Margarete Götz: Der Jena-Plan – ein reaktualisiertes Schulmodell mit einer problematischen Erblast, in: Das Kind 20 (1996), 2. Halbjahr, S. 39-53; Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132) sowie Anm. 97, 204, 218, 227, 229. 418 So zuletzt Ralf Koerrenz: Schulmodell: Jena-Plan. Grundlagen eines reformpädagogischen Programms, Paderborn u.a. 2012; die insb. auf Petersens „Allgemeine Erziehungswissenschaft“ (wie Anm. 98) und die Jena-Plan Schrift 1927 (wie Anm. 99) gestützte Studie beschreibt Petersens „Gemeinschafts-“ Schulmodell als „Gegenöffentlichkeit“ und stellt die Schulpraxis nur „dem Programm nach“ (S. 8) dar; sie würdigt den Jena-Plan als das neben der Waldorf-Pädagogik erfolgreichste Alternativschulkonzept der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 419 So in der Petersen-Biographik bei Retter: Reformpädagogik und in Ansätzen – aber methodisch problematisch – Kluge: Petersen/Biographie (beide wie Anm. 2) 420 Döpp (wie Anm. 132, 417) hat zwar quellengestützt gearbeitet, aber äußerst selektiv und stets in der Absicht, Petersen und den Jena-Plan als totalitäre Vorgeschichte des NS-Zeit zu beschreiben; krasse Beispiele tendenziöser Darstellung bieten die Schriften des Rezeptions-Forschers Torsten Schwan: „Ich werde rücksichtslos gegen den Liberalismus, Demokratie und das Judentum schreiben und reden“. Zum Rassismus und Antisemitismus in der Jenaplan-Pädagogik nach 1933, in: ZfP 56 (2010), S. 414–436; ders.: „. . . um die aus der Weimarer Zeit übernommene Substanz zu

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Um Petersens geistig-politischen Standort der Weimarer Zeit zu analysieren, bedarf es geeigneter Kriterien. Dafür bieten sich die in der Profilskizze dargelegten Kriterien der Haltung zu Republik, Reformen und internationaler Wissenschaftskooperation an. Die Frage nach Petersens Haltung zu Reformen lässt sich leicht beantworten. Der Reform-Begriff war für ihn handlungsleitend. Petersen gehörte zu jener – zweifellos heterogenen, oft heillos zerstrittenen – reformpädagogischen Bewegung, die Schul- und Hochschulreformen für eine „Neue Schule“, „Neue Erziehung“ und „Neue Erzieher“ anstrebte.421 Ihre Akteure handelten nicht aus dem Gefühl der Krise, sondern des „pädagogischen Aufbruchs“ heraus. Ihr „pädagogischer Enthusiasmus“422 setzte auf die „pädagogische Aufgeschlossenheit“ des neuen Staates423 und auf seine Reformpraxis.424 Schulreformen wurden zwar schon vor 1918 gefordert. Durch den „politischen Umschwung vom November 1918“, die „pädagogische Begeisterung“ 1919 und die Kämpfe gegen die „Schulreaktion“ erhielt die Schulreformbewegung aber eine neue Dynamik.425 Sie war mit den Chancen, Möglichkeiten und Schicksalen der demokratischen Republik eng verknüpft.426 Petersen verdankte seinen Ruf an die Jenaer Universität der Reformpolitik Greils. Trotz mancher Frustrationen prägte der Reformgedanke auch Petersens späteres Denken und Handeln in der Lehrerbildung, an der Universitätsschule, in der gesamten Schulreformbewegung und seine anhaltenden Kontakte zu den Hamburger und Bremer Versuchsschulen.427 Auch Petersens Haltung zur internationalen Wissenschaftskooperation lässt sich leicht bestimmen. Die Reformpädagogik war ein internationales Phänomen.428 Ihre Protagonisten verstanden sich als Akteure einer „übervölkischen Verständigung der

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sichern“? Peter Petersen, der Nationalsozialismus und die defensiven Traditionen aktueller Rezeptionsentwicklungen, Frankfurt a.M. 2011; die hier in suggestiver Absicht zusammengestellten Befunde beruhen auf keiner eigenen systematischen Petersen-Forschung und sind überwiegend den Schriften anderer entnommen; Benjamin Ortmeyer: MYTHOS und PATHOS statt LOGOS und ETHOS. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009 stützt sich mit wenigen Ausnahmen auf zuvor von anderen bereits erschlossene Schriften Petersens aus der NS-Zeit; zur Kritik dieser Schriften vgl. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 211) u. seinen Beitrag in diesem Band. Anm. 9, 70, 151, 220, 221. Pejorativ gemeint bei Litt: Wissenschaft (wie Anm. 110), S. 1. Wilhelm Flitner: Die Erziehung und der neue Staat (1930), in: ders.: Bewegung (wie Anm. 218), S. 279–289, hier S. 279. Haenisch: Bahnen (wie Anm. 52). Petersen: Jahre (wie Anm. 97), S. 129–131. Neuhäuser/Rülcker: Reformpädagogik (wie Anm. 72), darin insb. Rödler: Gemeinschaftsschulen (wie Anm. 72); Rülcker: Versuchsschulen (wie Anm. 199); Wolfgang Keim: Chancengleichheit im Bildungswesen. Ideal der Weimarer Verfassung – politischer Auftrag heute, in: Die Weimarer Verfassung – Wert und Wirkung für die Demokratie, Erfurt 2009, S. 119–143. Petersen: Gemeinschaftsleben (wie Anm. 97); ders.: Jahre (wie Anm. 97); Bericht über die im Oktober 1927 gemeinsam mit den Bremer Versuchsschulen und in Verbindung mit deren Jahrestagung in Etelsen bei Bremen durchgeführten 4. Pädagogischen Woche der EA in: Klassen: Jenaplan (wie Anm. 155), S. 24; vgl. auch Anm. 198. Hermann Röhrs: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt, 3 Weinheim 1991; Jürgen Oelkers/Fritz Osterwald (Hg.): Die neue Erziehung. Beiträge zur Internationalität der Reformpädagogik, Bern u.a. 1999; Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Entstehungsgeschichten einer internationalen Bewegung, Zug 2010.

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Erzieher“.429 Petersen war in dieser internationalen „New Education“-Bewegung fest verankert. Er nahm ihre Impulse auf und wirkte mit seinen Schul- und Lehrerbildungskonzepten auf sie zurück. Das gilt für die Kopenhagener Vorträge über die „Neueuropäische Erziehungsbewegung“ 1923430 ebenso wie für Petersens Vortrag auf der „New Education Fellowship“-Tagung 1927 in Locarno, mit dem er sein – dort und seitdem „Jenaplan“ genanntes – Schulkonzept vorstellte.431 Die Jenaplan-Pädagogik war zweifellos ein Beitrag zur europäischen Verständigung.432 Petersen verfügte über umfangreiche internationale Kontakte, war vielsprachig und weilte häufig im Ausland.433 Keinesfalls gehörte er zur Gruppe jener „national denkenden“ Professoren, die nationalistische Positionen bezogen, auf „geistiger Autarkie“ beharrten und die internationale „geistige Zusammenarbeit“ ablehnten. Das Verfassungsgebot, „im Geiste deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung“ zu erziehen, stand sogar in der Schulordnung seiner Universitätsschule.434 Als „Weltbürger“ in der akademischen Provinz unterschied sich Petersen deutlich von einem großen Teil seiner professoralen Kollegen. So wurde er auch im Ausland wahrgenommen. Das zeigten etwa die Kontakte zu Thomas Alexander.435 Es freue sie ganz besonders, schrieb die Präsidentin des „Chicago Woman’s Club“ am 29. August 1930 an Petersen, das ausgerechnet er als alter Bekannter dem Jenaer Universitätskomitee für die Gedenktafel vorsitze, die an die erste Promotion einer Ausländerin in Deutschland erinnern sollte.436 Petersens Haltung zum Weimarer Staat lässt sich nicht so leicht bestimmen. Da wirkt Petersen unklar, zwiespältig, nicht festgelegt. Anders als Flitner verwendete er keinen normativen, am „Idealbild eines Volksstaates“ ausgerichteten DemokratieBegriff.437 Parlamentarischen Formen stand Petersen skeptisch bis ablehnend ge429 Flitner: Reformpädagogik (wie Anm. 218), S. 303. 430 Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 151); zu Vorträgen zur „Neueuropäischen Erziehungsbewegung“ 1923: Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 151); vgl. auch Theodor F. Klaßen: Der Beitrag Peter Petersens zur neueuropäischen Erziehungsbewegung, in: Tobias Rülcker/Peter Kaßner (Hg.): Peter Petersen. Antimoderne als Fortschritt? Erziehungswissenschaftliche Theorie und pädagogische Praxis vor den Herausforderungen ihrer Zeit, Frankfurt a.M. 1992, S. 51-86. 431 Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 99); vgl. auch den Beitrag von Franz-Michael Konrad in diesem Band. 432 Hein Retter (Hg.): Jenaplan-Pädagogik als Chance. Kindgerechte Schulpraxis im Zeichen europäischer Verständigung, Bad Heilbrunn 1993; dieser Tagungsband bezieht sich insb. auf die Jenaplan-Rezeption seit 1990. 433 Susan Freudenthal-Lutter: Peter Petersens Beziehungen zu ausländischen Reformpädagogen und Reformbewegungen, in: Klaßen/Skiera: Pädagogik (wie Anm. 223), S. 43–61; vgl. auch Petersens Selbstdarstellung „Ausland und Jenaische Pädagogik 1923–1948“ in: UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 5r–11r sowie die im PPAV überlieferten Briefwechsel, darunter Ordner Amerika, Bd. 1 u. 2 u. Ordner Nr. 11: Briefe USA/England. 434 Anm. 218. 435 Anm. 72, 121, 300. 436 UAJ, Best. M, Nr, 704, Bl. 365r–367v; die dann im Januar 1933 enthüllte Tafel war eine vom „Chicago Woman’s Club“ vermittelte Stiftung Rowena Morse-Manns zur Erinnerung an ihre Promotion 1904 an der Jenaer PhF bei Rudolf Eucken; zum Gesamtvorgang vgl. Bl. 359r–466r. 437 Flitner: Erziehung (wie Anm. 423), S. 284–289, Zit. S. 284; ders.: Reformpädagogik (wie Anm. 218), S. 294–296.

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genüber.438 Das war damals freilich bis ins linke Spektrum hinein weit verbreitet. Keineswegs richtete sich das unbedingt auch gegen die Republik. Dagegen spricht im Falle Petersens vor allem sein vom „pädagogischen Aufbruch“ der Weimarer Zeit stimuliertes schulpolitisches Engagement. Das Streben nach einem auf Individualität, Liberalisierung und Humanisierung wie Chancengleichheit, Integration und Gemeinschaft ausgerichteten neuen „Leitbild Schule“ machte das „demokratische Bewusstsein“ der Reformpädagogik aus.439 Hier lagen die eigentlichen Demokratiepotenziale der Jenaplan-Pädagogik.440 Aus den tagespolitischen Kämpfen wollte Petersen sich und seine Schule offensichtlich heraushalten.441 Er beteiligte sich weder an republikanischen442 noch – anders als sein Gegenspieler Weiß – an deutlich antirepublikanischen443 Kundgebungen. Man wird Petersen wohl dem Typus des „Vernunftrepublikaners“444 zurechnen können. Der Weimarer Staat bot ihm pädagogische Entfaltungsmöglichkeiten. Er stand ihm und seinen Reformpolitikern deshalb aufgeschlossen gegenüber. Das zeigte sich vor allem bei seiner Berufung durch Greil – mitten im „Thüringer Hochschulkonflikt“. Als Ausdruck republikanischer Hochschulpolitik und Scheidelinie politischen Denkens liefern die „Ära Greil“ und der „Thüringer Hochschulkonflikt“ wichtige Kriterien für die Analyse universitärer Denkund Verhaltensweisen. Petersen stand Greils schul- und lehrerbildungspolitischen Vorstellungen nahe. Er profitierte von dessen Reformpolitik. Zwischen beiden gab es deutliche konzeptionelle Affinitäten. Beide verband das Volks-, Reform- und Gemeinschaftsdenken. Petersen gehörte zwar nicht zum engeren politischen Umfeld Greils, keinesfalls aber zu den Gegnern seiner Reformpolitik. Er wurde denn auch als ein von Greil berufener Vertreter „linker Pädagogik“ wahrgenommen,445 von entschieden linkssozialistischen Gruppen allerdings als „bürgerlicher Professor“, der sich von Greil losgesagt und von der „Neuordnung der Lehrerbildung“ Ende 1924 profitiert habe.446 Zu Petersens Ruf eines auf dem geistigpolitischen Boden der „Weimarer Kultur“ stehenden Vertreters liberaler und „linker 438 Das „heutige parlamentarische System“ sei „viel zu grob und ungenügend, um die Volksinteressen zu vertreten“ – Petersen: Erziehungsbewegung (wie Anm. 151), S. 36f.; „rein parlamentarische Formen“ schulischer Selbstorganisation lehnte Petersen ab (dem wird man – mit Blick auf heute bewährte Formen wie Schulkonferenzen und Schülervertretungen – widersprechen, teils aber auch – mit Blick auf die problematischen Wirkungen wechselnder Mehrheiten und formalisierter Mehrheitsentscheidungen auf Kinder – Recht geben müssen), verband das aber mit der generalisierenden Aussage, der „demokratische Parlamentarismus“ sei als „sittlich minderwertig“ zu verwerfen – Petersen: Gemeinschaftsleben (wie Anm. 97), S. 104. 439 Neuhäuser/Rülcker: Reformpädagogik (wie Anm. 72); Keim: Chancengleichheit (wie Anm. 426); Fritz Osterwalder: Demokratie in den Konzepten der deutschen Reformpädagogik, in: Böhm/Oelkers: Reformpädagogik (wie Anm. 220), S. 139–174; Hein Retter: Demokratisches Bewusstsein in der Reformpädagogik. Eine Kontroverse, in: Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hg.): Demokratiebewusstsein. Interdisziplinäre Annäherungen an ein zentrales Thema der Politischen Bildung, Wiesbaden 2007, S. 193–208. 440 Vgl. den Beitrag von Peter Fauser in diesem Band. 441 Anm. 241. 442 Anm. 373. 443 Anm. 374. 444 Anm. 333, 336. 445 Anm. 177, 253. 446 Anm. 154, 156, 241.

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Pädagogik“ trugen viele Faktoren bei – sein ganzes Umfeld, die Bauhaus-Nähe, die Kontakte zum Jenaer Kunstverein-Geschäftsführer Walter Dexel, die engen Beziehungen zur Carl-Zeiss-Stiftung und zum liberalen Milieu des „industriellen Jenas“, das Zusammenwirken mit der Volkshochschule Thüringen, ihrem Geschäftsführer Reinhard Buchwald und dem Volkshochschul-Mitbegründer und liberalen Volkskirchen-Theologen Heinrich Weinel.447 Ebenso das in zeitgenössischen Berichten wie späteren Erinnerungen stets hervorgehobene offene geistige Klima der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt und der Universitätsschule. Das zog freilich ganz verschiedene Gruppen an. So sprach im Februar 1926 der Sozialist Julius Schaxel in Petersens Anstalt über das Schul- und Bildungswesen in Sowjetrussland.448 Im Dezember 1927 hielt Theodor Scheffer – Leiter der Heimatschule Bad Berka und Hauptvertreter „völkischer Erwachsenenbildung“ in Thüringen – bei der LagardeGedächtnisfeier der Anstalt den Festvortrag über „Paul de Lagarde, ein deutscher Mensch und Volkserzieher“.449 In solchen Kontakten zeigten sich Berührungspunkte zwischen dem „volkstheoretischen“ und „volkskonservativen“ Gedankengut Petersens einer- und der Ideenwelt „völkischer Gruppen“ andererseits. „Volk und Heimat“ waren auch für Petersen ideelle Leitbilder. Auch er verwendete – obwohl selten und nur im kulturanthropologischen, nicht biologistischen Sinne – die Begriffe „Rasse“, „Blut“ und „Boden“.450 „Volkskonservativ“-kulturkritische Bezüge ergaben sich ebenso zum Jenaer Kulturverleger Eugen Diederichs.451 Petersen verlegte nicht bei Diederichs, abonnierte aber dessen Zeitschrift „Die Tat“. Der kulturkritische Bezug auf Lagarde war im damaligen reformpädagogischen Denken weit verbreitet. Offenbar konnte dieser Vordenker eines modernen „völkischen Antisemitismus“452 damals auch ganz anders und ohne jeden antisemitischen Bezug als kulturkritischer Bahnbrecher rezipiert werden. Thomas Alexander stellte dem Kapitel über die Hamburger „Deutsche Oberschule“ ein Lagarde-Zitat voran.453 „So führen wir“, beschrieb Wilhelm Flitner 1931 den kulturkritischen Grundzug der Reformpädagogik, „unsere pädagogische Kritik und die erneuerte Erziehung auf die Kritik an der jüngeren deutschen Kultur, auf Nietzsche, Lagarde, Langbehn, Hildebrandt u.a. zurück.“ Zugleich trete die Reformpädagogik als „Wiedererweckung Pestalozzis, Schleiermachers und Fröbels“ auf.454 Dem 447 Anm. 23, 190, 228, 231. 448 MEA 3 (1926), S. 33. 449 MEA 5 (1929), S. 14; zu Scheffer vgl. Justus H. Ulbricht: „Die Heimat als Quelle der Bildung“. Konzeption und Geschichte regional und völkisch orientierter Erwachsenenbildung in Thüringen in den Jahren 1933 bis 1945, in: 1919 bis 1994. 75 Jahre Volkshochschule Jena, Rudolstadt/Jena 1994, S. 183–217, insb. S. 194–206; Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 281–288. 450 Ausführlich dazu Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 275–295. 451 Ebd., S. 288, 293; Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996; Justus H. Ulbricht/Meike G. Werner (Hg.): Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949, Göttingen 1999. 452 Ulrich Sieg: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007. 453 Alexander/Parker: Education (wie Anm. 72), S. 156. 454 Flitner: Reformpädagogik (wie Anm. 218), S. 291.

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entsprachen Petersens Lagarde- (1927), Pestalozzi- (1927) und Fröbel-Ehrungen (1932).455 Nach wie vor fällt es schwer, Petersens geistig-politischen Standort exakt zu bestimmen. Mit den hier angewendeten Kriterien lässt er sich zumindest grundsätzlich im skizzierten Spektrum universitärer Denk- und Verhaltensweisen „verorten“ – und zwar eher im Minderheits- als im Mehrheitslager deutscher Hochschulprofessoren. Doch bleiben viele Fragen offen. Offen und ambivalent wirkt Petersens gesamte Entwicklung. Generationszugehörigkeit und biographische Vorprägungen unterstreichen diesen Eindruck relativer Offenheit. Mit dem Geburtsjahrgang 1884 gehörte er zur Alterskohorte jener im späten Kaiserreich Sozialisierten, die beim „Aufbruch 1918“ noch recht jung waren. Als aus dem Schuldienst kommender Quereinsteiger war Petersen am Beginn seiner professoralen Jenaer Karriere 39 Jahre alt. Er hatte seine eigentliche Wirkungszeit also noch vor sich und war für viele Impulse offen. Das Spektrum geistiger, religiöser und politischer Vorprägungen Petersens reichte von der frühen „deutschtumspolitischen“ Posener Tätigkeit über sein Engagement im Bund für Schulreform, beim Aufbau der Hamburger Gemeinschaftsschulen und in der Hamburger Volkskirchenbewegung bis zu seinem Agitationseinsatz im „Abstimmungskampf um Schleswig“ 1920.456 Im sozialdemokratischen Auftrag wohlgemerkt, nicht – wie Petersen später behauptete – der „nationalen Kreise Hamburgs“. Da bleibt vieles schillernd und zweideutig. Aber es stellt sich doch ganz anders dar als das, was Petersen sich dann in der NS-Zeit selbst andichtete, um sich als durchweg stramm „national gesinnt“ auszugeben.457 Petersen spann seine Fäden in verschiedene Richtungen, hielt sich politisch bedeckt und möglichst viele Optionen offen. Doch blieben seine geistigen Bezüge „nach rechts“ begrenzt. Geistig radikal auftretende, politisch rechts stehende Bünde wie den Eucken-Bund oder Max Wundts Gesellschaft „Deutscher Staat“ mied er, obwohl Petersen einst bei Rudolf Eucken über Wilhelm Wundt promoviert hatte.458 Keinesfalls gehörte er zum „völkischen Lager“ und zu den Vordenkern einer „völkischen Pädagogik“, wie ihm oft vorgeworfen wird und wie er selbst nach 1933 glauben ma455 MEA 5 (1929), S. 14 (Lagarde- und Pestalozzi-Ehrungen); UAJ, Best. BA, Nr. 1944, Bl. 28r– 32r; ABl ThMfV 11 (1932), S. 21 (Programm der Fröbel-Gedächtnisfeier Bad Blankenburg unter dem Thema „Friedrich Fröbel, ein Führer aus den Nöten der Gegenwart“ mit zwei Vorträgen Petersens); zur Thüringer Fröbel-Bewegung, zur Beziehung Petersens zu dem von der Frölich-Greil-Regierung zum Landesbeauftragten für Jugendwohlfahrt berufenen, in der FröbelBewegung aktiven Waldemar Döpel und zur Einrichtung des Fröbel-Kindergartens der EA vgl. Kluge: Petersen/Biographie (wie Anm. 2), S. 163–166. 456 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 17–113; Anm. 407. 457 Vor allem mit dem Lebenslauf 1941/42 (wie Anm. 290); hier stellte sich Petersen wahrheitswidrig als Mitglied der Hamburger Bürgerwehr im Kampf gegen die „Novembermeuterer“ dar (tatsächlich wirkte er nur an ihrer Auflösung und Waffenabgabe mit), weshalb er im „roten und demokratischen Hamburg“ keine Berufungschance gehabt habe, dann von Bauch und Wundt ins „damals verschriene Thüringen“ vermittelt worden sei, wo er eine „völkisch-realistische“, „antiindividualistisch“ und „antiliberalistisch“ ausgerichtete Erziehungswissenschaft geschaffen und sich schließlich 1930 für die Berufung des „Rasse-Günthers“ eingesetzt habe; vgl. zu dem Lebenslauf und zu den ganz anders lautenden Angaben in der REM-Hochschullehrerkartei den Beitrag von Rüdiger Stutz in diesem Band. 458 Anm. 32, 37, 73.

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chen wollte.459 Petersen vertrat keine völkischen, rassistischen oder antisemitischen Grundpositionen, Welt- und Gesellschaftsbilder, mit denen man ihn diesem Lager zuordnen könnte. Er veröffentlichte – um einige Kriterien aufzugreifen – vor 1933 keine solchen Schriften, publizierte nicht in völkischen Verlagen460 und beteiligte sich nicht an entsprechenden Publikationsprogrammen anderer Verlage.461 Weder er noch sein Umfeld beriefen sich vor 1933 ausdrücklich auf entsprechende Vordenker.462 Publikationen über „völkische Wissenschaft“ erwähnen ihn nicht.463 Erst nach 1933 verwendete Petersen – zum Erstaunen früherer Weggenossen – völkische und NS-affine Begriffe und begann, sein Gedankengut entsprechend umzucodieren. Vom antisemitisch-rassistischen Gewaltpotenzial der Nationalsozialisten waren seine „volkstheoretischen“ und „volkskonservativen“ Ideen aber ebenso weit entfernt wie seine christlich-theologischen Positionen.464 Ob und inwieweit sich mit dem Wandel der politischen Kultur der Weimarer Republik und des Landes Thüringen seit 1930 auch Petersens Denken und Handeln wandelten, wäre noch genauer zu prüfen. Manches deutet darauf hin. So mehrten sich seine Kontakte zu „völkischen Pädagogen“ wie Ernst Krieck und dessen Schülern Philipp Hördt und Franz Kade,465 vor allem aber zum „völkischen Erwachsenenbildner“ Theodor Scheffer. Petersen führte Studienfahrten nach Bad Berka in dessen Heimatschule durch und hielt dort Kurse ab.466 Petersen, Scheffer und der völkische Prähistoriker Hans Hahne (Halle) bildeten 1932 eine „Mitteldeutsche Arbeitsgemein459 Vgl. den Beitrag von Justus H. Ulbricht in diesem Band; die Behauptung von Ortmeyer: MYTHOS (wie Anm. 420), Petersen habe eine „völkische Pädagogik“ vertreten, schließt an Petersens Lebenslauf 1941/42 (wie Anm. 290, 457) an und beruht auf dem Trugschluss, die Verwendung des „Volks-“ Begriffes impliziere „völkisches Denken“. 460 Anm. 39. 461 Wiebke Wiede: Rasse im Buch. Antisemitische und rassistische Publikationen in Verlagsprogrammen der Weimarer Republik (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 34), München 2011; untersucht werden hier der Gustav Fischer Verlag Jena, der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen und der Georg Westermann Verlag Braunschweig – dieser auch für das Fachgebiet Pädagogik (S. 70–77). 462 Nachweisbar sind nur Verweise Reigberts auf Hans F.K. Günther; Reigberts interessierte sich offenbar schon vor seiner Zeit an der Jenaer Universitätsschule 1925/26 (Anm. 183 u. 202) für Günthers „Rassenkunde“ u. erwähnte sie 1927/29 zweimal – Robert Reigbert: Ausdruckspsychologie und Praktische Pädagogik (= FWE 8), Weimar 1929, S. 68 (hier als einen Typologieansatz unter vielen); ders.: Die Physiognomik im Dienste der Praktischen Pädagogik, in: MEA 5 (1929), S. 1–13, hier S. 10 (er habe versucht, „den Anregungen von Günthers Rassenkunde des Deutschen Volkes folgend, Charaktereigenschaften und rassenkundliche Merkmale zueinander zu bringen“); das belegt aber noch keine grundsätzlich „rassistische Orientierung“ der EA-Forschungen – so Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 288–303 (in Bezug auf die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden in der „pädagogischen Tatsachenforschung“) u. S. 293 (unter Verweis auf Reigberts Günther-Erwähnung 1927) oder Schwan: Rassismus (wie Anm. 420). 463 Ingo Haar/Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008; Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hg.): Völkische Wissenschaften und Politikberatung im 20. Jahrhundert. Expertise und „Neuordnung“ Europas, Paderborn u.a. 2010. 464 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 275. 465 Ebd., S. 295–304. 466 Anm. 448; Reimers: Richtung (wie Anm. 26), S.231; PPAV, Ordner Akten zur EA.

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schaft“.467 Ende 1932 beteiligte sich Petersen am Umbau des bis dahin freien Thüringer Volkshochschulwesens, den Scheffer im Auftrag des NS-Volksbildungsministers Wächtler durchführte.468 In Wächtler sah Petersen offenbar einen jener NSDAPBildungspolitiker, die sich für die allgemeine universitäre Lehrerbildung aussprachen und auf die er setzen zu können glaubte.469 Die „Dankbarkeit“, „Bewunderung“ und „Verehrung“, die Petersen in seiner Ansprache zum 85. Geburtstag Elisabeth Förster-Nietzsches 1931 und in seinem Briefwechsel mit ihr zum Ausdruck brachte, galten sicher auch der Person des Philosophen. Doch ließ Petersen keinerlei Distanz zu den fragwürdigen Aktivitäten der Nietzsche-Schwester und zur politischen Rolle des von ihr geleiteten Nietzsche-Archivs im rechten Lager erkennen.470 Solche und ähnliche Symptome sind ernst zu nehmen. Sie müssen aber im Gesamtspektrum der Denk- und Verhaltensweisen Petersens seit 1930 gewichtet werden. Sie reichen bei weitem nicht aus, einen grundsätzlichen Wandel des geistigpolitischen Koordinatensystem Petersens anzunehmen. Schon gar nicht, um eine „Radikalisierung“ Petersens auf dem Wege ins „Dritte Reich“ mit einem nun ontologischbiologistisch geprägten Weltbild zu behaupten.471 Dafür gibt es keine wirklich belastbaren Belege. Die Annahme zuvor bereits vorhandener, tendenziell in den Nationalsozialismus weisender Grundpositionen Petersen, die er seit 1930 „radikalisiert“ habe, ist abwegig. Vielmehr legen die genannten Symptome den Schluss nahe, dass Petersen seine Kooperations-, Netzwerk- und Bündnisversuche seit 1930 weitete und pluralisierte und dabei seine Fühler zunehmend auch „nach rechts“ ausstreckte. Dem standen nach wie vor ganz andere – „linke“ – Tendenzen, Kommunikationsnetze und Bezüge entgegen – zu liberalen und sozialistischen Milieus, zum „industriellen Jena“ und seiner von Abbe geprägten Ideenwelt, zur Familie des Theologen Weinel, zu Fritz Karsen und zur sozialdemokratisch geprägten Gemeinschaftsschul-Bewegung, zum sozialdemokratischen preußischen Kultusminister Adolf Grimme, zu den von diesem geförderten Jenaplan-Schulen in Preußen und so weiter. Auch Petersens Unterschrift unter den – gegen Hitlers Kandidatur gerichteten – Aufruf zur Wiederwahl Hindenburgs Anfang 1932472 und sein Engagement für den Christlich-Sozialen Volksdienst473 sprechen für die relative Offenheit seiner Haltung 467 UAJ, Best. C, Nr. 543, Bl. 47r+v (Jahresbericht der EA 1932/33); in deren Rahmen fanden in der EA Ausspracheabende u.a. zu den Themen „Nationale Wirtschaft“, „Nationalpolitische Erziehung“ u. „Blut und Boden“ statt; Hahne leitete von 1912 bis 1935 die Landesanstalt für Vorgeschichte (seit 1934 für Volkheitskunde) Halle; vgl. Irene Ziehe: Hans Hahne (1875 bis 1935), sein Leben und Wirken. Biographie eines völkischen Wissenschaftlers, Halle 1996. 468 Reimers: Richtung (wie Anm. 26), S. 279f.; daran beteiligt waren auch Paul Schultze-Naumburg und Hans F.K. Günther; zur Zusammenarbeit Petersens u. Scheffers nach 1933 vgl. Ulbricht: „Goethe-Schiller-Universität“ (wie Anm. 38), S. 343–346. 469 Anm. 305, 328. 470 PPAV, Briefwechsel Ordner IX; vgl. auch Anm. 38. 471 So Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 132), S. 219, 305, 318; Schwan: Petersen (wie Anm. 420), S. 158–169. 472 Anm. 368 – den Petersens 1930 von Frick an die Spitze des PI berufener Gegenspieler Weiß bezeichnenderweise nicht unterschrieb. 473 Anm. 407; zwar ist Petersens spätere Behauptung, er habe sich damit für eine „antinationalsozialistische Bewegung“ eingesetzt – so in seinem Lebenslauf v. 19.12.1945 (wie Anm. 155) –, stark übertrieben; haltlos aber ist die irrtümliche Annahme, bei dem CSVD habe

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– auf jeden Fall gegen die abwegige „Radikalisierungs“-These. Petersens JenaplanSchriften Anfang der 1930er Jahre – der erste Band des „Großen Jenaplanes“ (1930) wie die vierte Auflage des „Kleinen Jenaplanes“ (1932) – nahmen das Gedankengut wichtiger Autoren der Weimarer Zeit und seiner eigenen internationalen Erfahrungen auf. Erst spätere Schriften öffneten sich auch NS-nahen Ideen. Das von Petersen seit 1932 propagierte Konzept eines „Pädagogischen Realismus“ deutet nur begrenzt auf geistig-politischen Wandel hin. Mit diesem gegen den „Pädagogischen Idealismus“ verwendeten „Kampfbegriff“ verband sich zunächst recht Mehrdeutiges,474 bevor er dann nach 1933 in einem pro-nationalsozialistischen Sinne verwendet wurde.475 Aus der Sicht eines bereits im NS-Lager stehenden Theologen fiel Petersens Bestreben, sich so „in die Front dieser realistischen Pädagogik einzuordnen“, wenig überzeugend aus. Den „Irrweg idealistisch-liberalistischer Erziehung“ habe Petersen keineswegs überwunden. „Der angebliche Realismus Petersens ist daher noch nicht realistisch genug“, schrieb er Petersen ins Stammbuch.476 Das war symptomatisch für Petersens Eintritt in die „Zeitenwende“477 von 1933. Er gab sich zwar große Mühe, seine Pädagogik in die „neue Zeit“ und in den „nationalen Staat“ einzubringen. Doch mochte ihm das niemand so recht glauben. Einstige Weggenossen sahen das mit Befremden. Die Nationalsozialisten blieben misstrauisch. Sie hielten Petersen nach wie vor für einen Vertreter liberaler Pädagogik der Weimarer „Systemzeit“. Und sein Schulmodell erwies sich bald als völlig ungeeignet für die NS-„Erziehungsaufgaben“.

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es sich um eine antisemitische, objektiv faschistische Partei gehandelt – vgl. zum CSVD u. zur Kritik solcher Annahmen Hein Retter: Protestantische Milieus vor und nach 1933 – Der Christlich-Soziale Volksdienst und der Reichsverband deutscher evangelischer Schulgemeinden e.V., in: Michael Wermke (Hg.): Transformationen und religiöse Erziehung. Kontinuitäten und Brüche der Religionspädagogik 1933 und 1945 (= Arbeiten zur Historischen Religionspädagogik 9), Jena 2011, S. 242–280, hier S. 281f. u. 279f. Peter Petersen: Pädagogik, Berlin 1932; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 259–263. Heinrich Döpp-Vorwald: Pädagogischer Realismus als Gegenwartsaufgabe (= FWE 22), Weimar 1935. UAJ, Best. D, Nr. 3196 (PA Petersen), Bl. 56r+v – Abschrift der Rezension der „Pädagogik“ Petersens von dem seit 1934 in Münster, seit 1936 in Kiel lehrenden Theologen Martin Redeker aus: Deutscher Literaturzeitung 5 (1934), S. 2213f. Bernhard Harms: Universitäten, Professoren und Studenten in der Zeitenwende. Vornehmlich vom Standpunkt der Staatswissenschaften, Jena 1936; es handelt sich um seine Berliner Antrittsvorlesung 1935 nach zwei Jahren Auslandsaufenthalt; Harms (1876–1939) hatte 1906/08 in Jena die neue „Ernst-Abbe-Professur für Sozialpolitik“ inne und gründete 1911 das Kieler Institut für Weltwirtschaft, das er 1914 bis 1933 leitete.

Peter Fauser EINE DEMOKRATISCHE SCHULE? DIE UNIVERSITÄTSSCHULE JENA IN IHRER WEIMARER GRÜNDUNGSZEIT. VERSUCH EINER DEMOKRATIEPÄDAGOGISCHEN QUALITÄTSANALYSE IHRER PRAXIS1 Inhalt: Einleitung: Ein „theoretisches Experiment“ (161) Untersuchungsansatz und Übersicht (163) „Demokratiepädagogik“ (167) Ein Gründungsbericht: Petersen/ Wolff 1925 (173) Der Bericht von Hans Wolff (173) Momentaufnahme: „Schulgründung“ und Einstellung des ersten Lehrers (176) Das erste Schuljahr (178) Der erste Tag und die ersten Wochen (179) Beispiele für den Lehrplanbezug (179) Überlegungen und Beobachtungen (180) Lesen, Schreiben, Rechnen (181) Beispiel Individualisierung: Der „kleine Erich“, Gott und die Welt (182) Von „Italien“ nach „Indien“ (183) Gemeinschaftsleben und Verantwortung (185) Die Eltern (188) Zur Bedeutung des Lehrerhandelns: Die „adaptive Professionalität“ von Hans Wolff (189) Zum fachlichen Kontext: Die „alte“ und die „neue Schule“ (196) Zur Schulqualität: Eine „exzellente“ Schule? Die Universitätsschule im Spiegel des Deutschen Schulpreises (201) Zur demokratischen Qualität: Die Schule in Staat und Gesellschaft – „pädagogische Autonomie“ und „Selbstverwaltung“ (203) Vision: Staat und Gesellschaft als verfasste menschliche Gemeinschaften (208) Diskussion: Eine „demokratische Schule“? (210) Rechtlich-administrativer Rahmen (211) „Demokratiepädagogische“ Qualität (213) Schluss: Damals und heute (221)

EINLEITUNG: EIN „THEORETISCHES EXPERIMENT“ Der folgende Beitrag konzentriert sich vor allem auf die aktuelle Bedeutung der Jenaer Universitäts-Übungsschule in ihrer Weimarer Gründungszeit. Er unternimmt dazu eine Art von theoretischem Experiment. Seine Ausgangsfrage lautet: Was wäre, wenn Petersen sich mit seiner damaligen Schule heute um den Deutschen 1

Diese Studie ist die weitgehend neu geschriebene Ausarbeitung meines Beitrags zum Jenaer Workshop vom November 2010. Dort habe ich meine Thesen zur demokratiepädagogischen Qualität der Jenaer Universitäts-Übungsschule und späteren Universitätsschule bzw. Jena-PlanSchule mit Hilfe von Grafiken und Textbeispielen in freier Rede anhand einer Folienpräsentation entwickelt. Für vielfältige wertvolle Hinweise zu diesem Text danke ich Wolfgang Beutel, Jürgen John, Franz-Michael Konrad und Hein Retter. Er stützt sich mehr, als dies durch Anmerkungen nachgewiesen werden kann, auf meine Erfahrungen und Einsichten aus der Begleitung der 1990 gegründeten neuen Jenaplan-Schule, besonders die Zusammenarbeit mit Gisela John und Helmut Frommer sowie auf meine Mitarbeit beim Förderprogramm „Demokratisch Handeln“, beim Deutschen Schulpreis und beim „Entwicklungsprogramm für Unterricht und Lernqualität“ (E.U.LE.). Ulrike Feine, Arila Feurich und Ute Waldenburger danke ich für die Mitarbeit bei der Auswertung des Schulberichts von Hans Wolff.

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Schulpreis bewerben würde? Wie würde – auch im Vergleich mit sehr guten Schulen der Gegenwart – vor allem die demokratiepädagogische Qualität der Praxis seiner Schule beurteilt werden? Die Idee zu einem solchen Gedanken-Experiment ist im Vorfeld des PetersenWorkshops im Herbst 2010 im Zusammenhang mit der Frage entstanden, ob und wie – angesichts des Verhaltens von Peter Petersen in der NS-Zeit – Konzept und pädagogische Praxis der Universitätsschule in der Weimarer Zeit zu beurteilen seien: Bilden sie Vorläufer und Wegbereiter einer dann ab 1933 NS-geprägten, antipluralistischen und antidemokratischen Pädagogik, und ist die These Benjamin Ortmeyers richtig, dass der Jenaplan „mit einer demokratisch orientierten Schule [...] nichts zu tun“ habe?2 Oder ist die damalige Schule in Praxis und Theorie als Schulgemeinde von dem aus heutiger Sicht demokratiepädagogisch orientierten Gemeinschaftsdenken vor allem der Hamburger „Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschulen“ geprägt, deren Tradition Petersen zunächst fortführt, dann aber ab 1933 im Kontext einer zweiten von drei biografischen und politischen „Transitionen“ verläßt?3 Dann wäre ihr – unabhängig davon, ob in den zeitgenössischen Darstellungen von Demokratie gesprochen wird oder nicht – im Sinne heutiger demokratiepädagogischer Debatten und Konzepte eine demokratische Qualität und ein demokratisches Potenzial zuzusprechen. Diesen Erwägungen entsprang die Idee zu dem vorliegenden Beitrag. Dabei spielte vor allem eine Rolle, dass sich die Auseinandersetzung mit Petersen fast ausschließlich mit dessen theoretischen Schriften und deren Rezeption beschäftigt.4 Zumeist wird als Praxis der Schule nur der sogenannte „Kleine Jena-Plan“ berücksichtigt.5 Beim „Kleinen Jena-Plan“ in seinen verschiedenen Fassungen handelt 2

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Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim 2009, S. 130; vgl. dazu Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus. Zugleich Kritik der Fragwürdigkeiten jüngster „Petersen-Forschung“ (= Bausteine zur Stadtgeschichte 13, hg. v. Verein für Jenaer Stadt- und Universitätsgeschichte e.V., Jena, Stadtmuseum Jena), Jena 2010, insb. S. 74f. So interpretiert Retter im Anschluss an Welzers Theorie der Transition das Identitätsmanagement Petersens in den Übergängen vom Kaiserreich zur Weimarer Zeit und danach zur NS-Zeit sowie, nach 1945, zur DDR. Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens (= Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte, hg. von Gerd Biegel und Angela Klein, 1), Frankfurt a.M. 2007, S. 824ff. Dazu Harald Welzer: Transitionen. Zur Sozialpsychologie biografischer Wandlungsprozesse, Tübingen 1993. Genannt seien exemplarisch: Robert Döpp: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit (= Pädagogik und Zeitgeschehen. Erziehungswissenschaftliche Beiträge Bd. 4), Münster/Hamburg/London 2003; Jan Dirk Imelman/J.M. Paul Jeunhomme/Wilna A.J. Meijer: Jena-Plan. Eine begriffsanalytische Kritik, Weinheim 1996; Ralf Koerrenz: Schulmodell: Jenaplan. Grundlagen eines reformpädagogischen Programms, Paderborn 2012; Ortmeyer: Mythos (wie Anm. 2); Torsten Schwan: „... um die aus der Weimarer Zeit übernommene Substanz zu sichern“? Peter Petersen, der Nationalsozialismus und die defensiven Traditionen aktueller Rezeptionsentwicklungen, Frankfurt a.M. 2011. Das gilt auch für die Darstellung der Pädagogik Peter Petersens durch seinen Schüler Theo Dietrich: Im Kapitel „Schulwirklichkeit des Jena-Plans“ streift er nur knapp den praktischen Beginn mit Hans Wolff und spricht dann vom „Jena-Plan“, der schon als konzeptionelles Grundmuster gleichsam kanonisiert dargstellt wird. Theo Dietrich: Die Pädagogik Peter Petersens – eine Herausforderung an die Gegenwart, 3 München u.a. 1973, S. 38ff.

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es sich aber nicht eigentlich um eine empirische Quelle, sondern um eine modellhaft verdichtete Darstellung pädagogischer und didaktischer Erfahrungen, Grundsätze, Konzepte und organisatorischer Gestaltungsmittel, die mehrfach erweitert und revidiert – und überhaupt erst 1927 als pragmatische Lösung einer Präsentationsaufgabe bei der Tagung für internationale Erneuerung der Erziehung 1927 in Locarno geschrieben worden ist.6 Zum Zeitpunkt der Schulgründung im Frühjahr 1924 gab es keinen „Jena-Plan“. UNTERSUCHUNGSANSATZ UND ÜBERSICHT Die Frage, ob die von Petersen 1924 umgegründete Universitäts-Übungsschule7 aus heutiger Sicht eine demokratische Schule war, führt auf erhebliche theoretische, methodische und methodologische Probleme. Darauf hat besonders Hein Retter bei der Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik und mit Peter Petersen aufmerksam

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Die Bezeichnung „Jenaplan“ oder „Jena-Plan“ ist nicht erst, wie Hans Wolff in seinen Erinnerungen 1984 erzählt, in Locarno entstanden, sondern im Zuge der Vorbereitung auf die Konferenz von zwei Mitarbeiterinnen des Vorbereitungskomittees, Clare Soper und Dorothy Matthews, vorgeschlagen worden. Das berichtet Petersen im Vorwort zur ersten Auflage des später so genannten „Kleinen Jena-Plans“, das er am 31. Juli 1927 unterschreibt. Sein Vortrag in Locarno fand erst danach, am 14. August statt. Peter Petersen: Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule. Langensalza 1927, S. 3. Hans Wolff: Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte des Jenaplanes. In: Theodor F. Klaßen / Ehrenhard Skiera (Hg.): Pädagogik der Mitmenschlichkeit. Beiträge zum Petersen-Jahr 1984. Heinsberg 1984, S. 33–42, hier S. 42. Dazu: Theodor F. Klaßen: Stichwort Jenaplan, in: Reformpädagogik in Jena. Peter Petersens Werk und andere reformpädagogische Bestrebungen damals und heute. (Veröffentlichungen der Friedrich-Schiller-Universität Jena) Jena 1991, S. 68–98. S. auch den Beitrag von John/ Retzar/ Stutz in diesem Band. Gleichwohl wird die seither eingebürgerte Bezeichnung „Jenaplan“ oder „Jena-Plan“, und die publizistische Karriere des „Kleinen Jena-Plans“ mit der Initialzündung der Konferenz von Locarno verbunden. Erst die 1937 erschienene 7./ 8. („neu durchgesehene und erweiterte“) Auflage führt den Begriff „Kleiner Jena-Plan“ als Eigenbezeichnung. In der 1932 erschienenen dritten „neu durchgesehenen und vielfach erweiterten“ und der 1934 erschienenen 5./ 6. („neu durchgesehenen und erweiterten“) Auflage steht als Untertitel „Kleine Ausgabe“. Der Beltz Verlag vertreibt derzeit unter dem Titel „Der Kleine Jena-Plan“ auf der Grundlage der letzten handschriftlichen Korrekturen von Petersen an der 15.–17. Auflage von 1949 die 64. Auflage. Das Umschlagbild zeigt Fotos aus der 1991 neu gegründeten Jenaplan-Schule Jena. Zur Umwandlung der alten „Übungsschule“ 1924, zum Namenswechsel 1926 und zur Strukturund Funktionsgeschichte der Universitätsschule vgl. den Beitrag von Jürgen John in diesem Band.

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gemacht.8 Diese Probleme können im vorliegenden Zusammenhang nicht entfaltet werden. Etwas vereinfacht, besteht immer das Risiko, dass die Rekonstruktion durch Rückprojektion gegenwärtige Kategorien, Begriffe oder Wertmaßstäbe mit der zeitgenössischen Perspektive verwechselt. Besonders schwer wiegt dieses Problem bei Begriffen und Konzepten, die durch den verbrecherischen Verwendungszusammenhang im Nationalsozialismus missbraucht und fundamental umgedeutet worden sind – wie „Führer“, „Gemeinschaft“, „Nation“, „Volk“ beziehungsweise „Volksgemeinschaft“ –,9 weshalb nicht nur ihr Gebrauch, sondern auch der Zugang zur zeitgenössischen Bedeutung sehr erschwert ist. Das spielt auch bei der Petersen-Debatte eine große Rolle. Nicht nur in moralischer, sondern vor allem in inhaltlich grundlegender Hinsicht gilt ein solcher Vorbehalt auch im Blick auf die Bedeutung von Demokratie, von Moderne oder von Schule. Die Begriffe haben einen tiefgreifenden Bedeutungswandel erfahren, als Platzhalter einer Praxis und als Worte der Gemeinsprache nicht weniger als im Rahmen der Fachsprachen und der Forschung. Der Begriff Demokratie kommt in der Weimarer Reichsverfassung nicht vor. Politisch ist er weder eindeutig bestimmt noch als allgemeiner Leit- oder Bewegungsbegriff anerkannt.10 Heute hingegen ist Demokratie ein Verfassungsgebot, ein politisch universeller Leitbegriff und eine global wirksame politisch-gesellschaftliche Entwicklungsnorm – auch wenn Demokratie wissenschaftlich und praktisch sehr unterschiedlich konzipiert wird, die Demokratien in der politischen Wirklichkeit der Moderne sehr unterschiedlich ausgestaltet sind

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Ich folge weitgehend den methodologischen bzw. metahermeneutischen Überlegungen von Hein Retter, der, soweit ich sehe, als einziger an der Petersen-Debatte beteiligter Wissenschaftler ausführlich und selbstkritisch die hier aufgeworfenen Fragen erörtert hat. Allgemein geht es um die Frage nach dem erkennenden bzw. verstehenden Umgang mit Geschichte überhaupt. Hier kann man idealtypisch zwischen den Grundrichtungen „Aufklärung“ und „Historismus“ unterscheiden. Beide Grundrichtungen enthalten nicht allein eine wissenschaftliche, sondern durch ihre unausweichlich ethischen Implikationen auch eine erinnerungspolitische Dimension. Hein Retter: Zugänge zur Reformpädagogik – Einführung in die Thematik des Bandes. Zur gegenwärtigen Diskussion über die historische Reformpädagogik, in: ders. (Hg.): Reformpädagogik, Neue Zugänge, Befunde, Kontroversen. Bad Heilbrunn 2004, S. 5–18. Vgl. auch ders.: Universitätsschule (wie Anm. 2), insb. S. 183ff. Darauf kann ich nicht näher eingehen. Siehe dazu vor allem die Beiträge von John, Konrad, Retter, Stutz und Ulbricht in diesem Band sowie insb. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 39ff. Christoph Gusy: Fragen an das „demokratische Denken“ in der Weimarer Republik, in: ders. (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik (= Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 16), Baden-Baden 2000, S. 635–663. Vgl. auch Hein Retter: Demokratisches Bewusstsein in der Reformpädagogik. Eine Kontroverse, in: Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hg.): Demokratiebewusstsein. Interdisziplinäre Annäherungen an ein zentrales Thema der Politischen Bildung, Wiesbaden 2007, S. 193–208; ders.: Reformpädagogik (wie Anm. 3), insb. S. 94f., 707ff., 722ff., 731ff., 739ff., zusammenfassend zum Demokratieverständnis und -diskurs in der Weimarer Republik S. 841ff.

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und deren Zukunft in vieler Hinsicht bestandskritisch eingeschätzt werden kann.11 Darauf komme ich noch zurück.12 Die wichtigste Folgerung aus solchen – hier nur vereinfachend angesprochenen – wissenschaftstheoretischen Überlegungen besteht für mich darin, die eigenen theoretischen und methodologischen Vorentscheidungen möglichst transparent zu machen und anzuerkennen, dass Pluralität und Fehlerhaftigkeit von Argumenten und Darstellungen nicht aufzuheben sind.13 Was bedeuten diese Überlegungen im Blick auf die Realität der Jenaer Universitätsschule nach ihrer Gründung 1924 und die Frage nach ihrer demokratiepädagogischen Qualität? Der erste Punkt betrifft die Datenbasis, die uns für eine alltags- und praxisnahe Beschreibung der Schule als einer heterogenen pädagogischen Handlungsund Erfahrungswirklichkeit zur Verfügung steht. Welche Quellen können hier herangezogen werden? Als wichtigste Quelle stützt sich der vorliegende Beitrag auf den Bericht von Hans Wolff über das erste Schuljahr der „Schule der ‚Erziehungswissenschaftlichen Anstalt‘ der Thüringischen Landesuniversität Jena“ – also der von Petersen umgegründeten Universitäts-Übungsschule 1924/ 1925.14 Sein Bericht ist 11

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„Moderne“ und „Demokratie“ sind bei der folgenden begrenzten Auswahl von Publikationen leitende oder zumindest argumentativ wesentliche Gesichtspunkte. Peter Fauser: Droht ein Schulnotstand? Brennpunkte der Schulentwicklung nach der deutsch-deutschen Vereinigung, in: Neue Sammlung 34 (1994), S. 253–275. Wiederabgedruckt in Klaus Manger (Hg.): Jenaer Universitätsreden 6, Jena 1999, S. 7–46; ders.: Jena als Zentrum der Reformpädagogik. Notizen zu einem pädagogischen Topos, seiner Rezeptionsdynamik und Aktualität, in: Jürgen John/Volker Wahl (Hg.): Zwischen Konvention und Avantgarde. Doppelstadt Jena – Weimar, Weimar/Köln/Wien 1995, S. 331–342; ders.: Ein Plan ist ein Plan. Was haben wir eigentlich von der Jena-PlanSchule? Eine reformtheoretische Skizze, in: Ralf Koerrenz/Will Lütgert (Hg.): Jena-Plan – über die Schulpädagogik hinaus, Weinheim/Basel 2001, S. 111–132. Andreas Flitner: Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts, München 1992 (Erweiterte Neuausgabe München 1999); Heike Neuhäuser/Tobias Rülcker (Hg.): Demokratische Reformpädagogik, Frankfurt a.M. u.a. 2000; Hein Retter: Theologie, Pädagogik und Religionspädagogik bei Peter Petersen, Weinheim 1995, insb. S. 11ff; ders.: Reformpädagogik (wie Anm. 3); Tobias Rülcker/Peter Kaßner (Hg.): Peter Petersen: Antimoderne als Fortschritt? Erziehungswissenschaftliche Theorie und pädagogische Praxis vor den Herausforderungen ihrer Zeit, Frankfurt a.M. u.a. 1992; HeinzElmar Tenorth: Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundlagen ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Weinheim/München 1988; Heiner Ullrich: Die Reformpädagogik, Modernisierung der Erziehung oder Weg aus der Moderne?, in: ZfPäd 36 (1990), S. 893–918. S. unten, Kap. 11. Dabei ist die Pluralität der Zugänge und Perspektiven keineswegs nur von Nachteil, sondern kann gerade bei komplexen Untersuchungsgegenständen die bewusst und absichtlich gewählte Forschungsstrategie sein. Dafür bildet etwa die „Triangulation“ ein gutes Beispiel. Sie wird als im wörtlichen Sinne verstandene Kombination von drei unterschiedlichen Perspektiven eingesetzt, um deren jeweilige Schwächen – die „blinden Flecken“ – wechselseitig zu mindern, also systematische Fehler zu verringern und die Validität der Forschungsergebnisse zu verbessern. Ein wesentlicher Vorteil eines solchen Verfahrens besteht darin, dass es zu differenten Sichtweisen und Befunden führt und sich folglich zu vereinfachenden Interpretationen und Erklärungen sperrig verhält. Wenn man es mit Untersuchungsgegenständen zu tun hat, die ihrer Natur nach mehrperspektivisch sind – und das ist für die pädagogische Praxis konstitutiv und nicht nur eine erschwerende Randbedingung –, dann empfehlen sich mehrperspektivische Zugänge schon allein im Hinblick auf die Gegenstandsangemessenheit der Methoden.Vgl. hierzu Retter: Zugänge (wie Anm. 8), S. 14f.; Uwe Flick: Triangulation: Eine Einführung 2 Wiesbaden 2008. Hans Wolff: II. Teil: Jahresbericht 1924/25 der Schule der „Erziehungswissenschaftlichen Anstalt“

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während des Schuljahrs parallel zur praktischen Arbeit entstanden – drei Jahre vor Entstehung des Begriffs „Jena-Plan“ und vor der Niederschrift der ersten Auflage des erst ab der 1937 erschienenen 7./8. Auflage des so genannten „Kleinen JenaPlans“.15 Er stellt aus meiner Sicht so etwas wie den Gründungsbericht der späteren Jenaplan-Schule dar. Zur Ergänzung des Berichts von Hans Wolff werden neben den Protokollen des Elternrats und des Freundeskreises der späteren „Universitätsschule“ einige wesentliche Teile und Aspekte aus den Berichten von Ellen Eppenstein, Ada Weinel und deren Tochter Katharina Franz aufgegriffen.16 Sie bilden weitere, perspektivisch eigenständige Zeugnisse aus der Gründungszeit der Schule, methodisch gesehen im Sinne der „Triangulation“ als Korrektive des Berichts von Hans Wolff. Es geht dabei um den Versuch, das „innere Schulleben“, die tatsächliche Alltagspraxis der Jenaer „Universitäts-Übungsschule“ und späteren „Universitätsschule“ zu rekonstruieren sowie – in dem hier sehr begrenzten Rahmen – zu einer möglichst anschaulichen Momentaufnahme zu verdichten. Zweitens ist das, was wir heute unter demokratiepädagogischer Qualität verstehen, entfaltet und in Indikatoren oder Kriterien zu übersetzen, die sich auf die damalige Schule anwenden lassen. Leitend für die Darstellung und Bewertung der Praxis der Universitätsschule ist hier der Zusammenhang zwischen Schulqualität und Demokratie – ein Schwerpunkt der theoretischen und praktischen Bemühungen der Demokratiepädagogik – eines pädagogischen Arbeitsfeldes, das sich seit rund zehn Jahren im Schnittpunkt der Diskussion über Politische Bildung, demokratische Erziehung und Schulqualität entwickelt. Nach einer einführenden Darstellung der gegenwärtigen Demokratiepädagogik (Kapitel 2) wird der Bericht von Hans Wolff in den Kapiteln 3 und 4 ausführlich referiert. Daran anschließend wird die damit dokumentierte Praxis der UniversitätsÜbungsschule durch vier unterschiedliche Bezüge unter Qualitätsgesichtspunkten erörtert: Zuerst wird die Rolle des Lehrers Hans Wolff thematisiert. Welche Bedeutung hatten sein Handeln und seine außergewöhnliche professionelle Kompetenz für die Entstehung und Gestaltung der pädagogischen Praxis und Qualität der Schule?

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der Thüringischen Landesuniversität Jena, in: Peter Petersen/Hans Wolff (Hg.): Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschule (= Forschungen und Werke zur Erziehungswissenschaft 3), Weimar 1925, S. 55–146. S. oben, Anm. 6. Ellen Eppenstein: Die Jenaer Universitätsübungsschule (Nach einem von Frau Eppenstein vor den demokratischen Frauen gehaltenen Vortrage), in: Jenaer Volksblatt v. 22.12.1925, abgedr. in: Hein Retter (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan. Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte, Briefe, Dokumente, Weinheim 1996, S. 123–130; dazu ebd., S. 18: „Die Familien Petersen und Eppenstein waren eng miteinander befreundet. Ellen Eppenstein, die Dänin war, und Gertrud Petersen, geb. Zoder, übersetzten gemeinsam Bücher aus dem Dänischen ins Deutsche. Doch beide Ehen wurden geschieden. Petersens erste Frau Gertrud heiratete 1931 (vier Jahre nach ihrer Scheidung von Peter Petersen) Otto Eppenstein, in dessen Haus dann auch ihre Söhne aus erster Ehe lebten. Die Schwester Otto Eppensteins wurde im KZ ermordet“. Vgl. auch Ada Weinel: Aus dem Leben einer Jenaer Schule, in: Kindergarten, Jg. 1926, S. 265–267, abgedr. in Retter, a.a.O., S. 130–132; Katharina Franz, geb. Weinel: Schulzeit in der Universitätsschule Jena, ebd., S. 132–146. Katharina Franz ist die Tochter von Ada Weinel; ihr Bericht ist 1984, also im Rückblick rund 60 Jahre nach ihrem Schulbesuch verfasst worden.

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(Kapitel 5) Daran schließt sich die Darstellung der von Petersen und Wolff zu Wolffs Bericht rückblickend verfasste Einführung an, die man als erziehungswissenschaftliche und reformpädagogische Standortbestimmung im Verhältnis zur alten Schule verstehen kann. (Kapitel 6) Die Kapitel 7, 8 und 9 analysieren die UniversitätsÜbungsschule im Lichte schulpädagogischer und demokratiepädagogischer Qualitätsmaßstäbe; dabei werden der Deutsche Schulpreis und die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik mit den Vorstellungen von schulischer Selbstverwaltung und pädagogischer Autonomie verknüpft, die für Petersen und die Pädagogik der Weimarer Zeit charakteristisch waren. Kapitel 10 wendet sich zusammenfassend der Titelfrage des Beitrags zu. Kapitel 11 schließt den Beitrag mit vergleichenden Überlegungen zur Wahrnehmung demokratiepädagogischer Perspektiven in der Weimarer Zeit und der Gegenwart. „DEMOKRATIEPÄDAGOGIK“17 Im Kontext der Demokratiepädagogik wird Demokratie als pragmatisch-normatives Konzept aufgefasst, als ein Bewegungsbegriff der Moderne. Die Demokratiepädagogik geht von den grundlegenden Prinzipien demokratischen Denkens aus, wie sie im Theoriediskurs der Sozialphilosophie – in den Debatten zwischen Jürgen Habermas, Axel Honneth, Otfried Höffe, Richard Rorty, Colin Crouch und anderen – herausgearbeitet werden18 . Sie versucht – angesichts der Realität schulischer Praxis unter den Kontextbedingungen je unterschiedlicher institutioneller, kommunaler oder regionaler Verhältnisse – Konzepte, Kriterien und Entwicklungswerkzeuge zu erarbeiten und in die pädagogische Praxis zu tragen, die zu einer Verbesserung der demokratiepädagogischen Qualität der Schule führen. Demokratie ist in diesem Rahmen also ein Qualitätsbegriff. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Schule. Er repräsentiert innerhalb der Demokratiepädagogik den fachlichen Inbegriff von guter Schule. Als solcher beruht er auf allgemeinen Qualitätsmerkmalen, die in der Anwendung auf einzelne Schulen, das heißt als Evaluations- und Entwicklungshilfen im Hinblick auf deren je besondere Lage kontextualisiert werden. Für beide Dimensionen der Beschreibung und Bewertung guter Schule – Schule als Schule und Schule als Demokratie – bietet der Deutsche Schulpreis richtungsweisende Exem17

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Der folgende Abschnitt greift zurück auf Peter Fauser: Demokratiepädagogik, in: Dirk Lange/Volker Reinhardt (Hg.): Basiswissen Politische Bildung, Bd. 1: Konzeptionen politischer Bildung, Hohengehren 2007, S. 83–92. Für eine aktualisierte und ausdifferenzierte Sicht: Wolfgang Beutel/Peter Fauser/Helmolt Rademacher: Demokratiepädagogik, in: dies. (Hg.): Jahrbuch Demokratiepädagogik (= Jahrbuch Demokratiepädagogik 1), Schwalbach a.T. 2012, S. 17–38. Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008 (Originaltitel: Postdemocrazia, Roma-Bari 2003); ders.: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II, Frankfurt a.M. 2011; Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996, Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 2 2002; ders.: Ist die Demokratie Zukunftsfähig? Über moderne Politik, München 2009; Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1992; Richard Rorty: Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie, in: ders. (Hg.): Solidarität oder Objektivität?, Stuttgart 1988, S. 82–125.

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pel und differenzierte Qualitätskriterien.19 Auch für eine Analyse und Bewertung der demokratiepädagogischen Qualität von Schulen sind in den vergangenen zehn Jahren zunehmend konkretere und genauere Kriterien entwickelt und systematisiert worden. Beide kriterialen Ressourcen – der Deutsche Schulpreis und die Demokratiepädagogik – werden im vorliegenden Beitrag aufgegriffen, um die (demokratie-) pädagogische Qualität der damaligen Universitätsschule einzuschätzen.20 Von Demokratiepädagogik zu sprechen ist nicht selbstverständlich, zumal sich in Deutschland nach dem „Dritten Reich“ der Begriff „Politische Bildung“ als pädagogischer Grundbegriff durchgesetzt hat – sowohl für das Lernen von Erwachsenen als auch für die Schule. Wenn heute, vor allem im Kontext von Schulentwicklung und Projektlernen, von „Demokratiepädagogik“ gesprochen wird, so lassen sich dafür drei besondere theorie- und konzeptgeschichtliche Motive ausmachen: Erstens, die Veränderung der schulpädagogischen Perspektive durch die neue „Entdeckung“ oder „Erfindung“ der Schultheorie. Seit den 1970er Jahren21 gibt es 19

Der Deutsche Schulpreis wurde nach dem Tode von Robert Bosch jr. 2004 auf Anregung von Peter Fauser und Christoph Walter von der Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart und der Heidehof Stiftung, Stuttgart, eingerichtet und in Medienpartnerschaft mit ZDF, ARD und stern seit 2006 sechsmal ausgeschrieben. Insgesamt haben sich weit über 1.000 Schulen beworben. Der Jury und der begleitenden Expertengruppe gehören Wissenschaftler und Praktiker unterschiedlicher pädagogischer Provenienz an – reformpraktisch orientierte Entwicklungsträger ebenso wie Bildungsforscher und Vertreter aller Schularten. Der Deutsche Schulpreis gilt als wichtigste und angesehenste Auszeichnung für Schulqualität. Seine Qualitätskriterien bilden einen fachlichen Konsens über die verschiedenen schulpädagogischen Richtungen hinweg ab. Vgl. Peter Fauser/Manfred Prenzel/Michael Schratz (Hg.): Was für Schulen! Gute Schule in Deutschland. Der Deutsche Schulpreis 2006, Seelze-Velber 2007; dies. (Hg.): Was für Schulen! Profile, Konzepte und Dynamik guter Schulen in Deutschland. Der Deutsche Schulpreis 2007, Seelze-Velber 2008; dies. (Hg.): Was für Schulen! Wie gute Schule gemacht wird – Werkzeuge exzellenter Praxis. Der Deutsche Schulpreis 2008, Seelze-Velber 2009; dies. (Hg.): Was für Schulen! Individualität und Vielfalt – Wege zur Schulqualität. Der Deutsche Schulpreis 2010, Seelze-Velber 2010. Vgl auch http://schulpreis.bosch-stiftung.de/content/language1/html/index.asp (zuletzt abgerufen am 25.5.2012). 20 Vgl. hierzu vor allem Wolfgang Edelstein/Susanne Frank/Anne Sliwka (Hg.): Praxisbuch Demokratiepädagogik, Weinheim/ Basel 2009 sowie als evaluatives Konzentrat der Erfahrungen des BLK-Modellprogramms „Demokratie lernen und leben“ und der Bemühungen der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe): Merkmale demokratiepädagogischer Schulen – ein Katalog, hg. v. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin – Brandenburg, Potsdam 2010. 21 Zu den Vorläufern gehören das Handbuch von Nohl/ Pallat, Band 4, die Diskussion über „Schulverfassungstheorie“ bei Rein und eine Reihe von Einzelaufsätzen, u.a. von Reichwein, in den 20er Jahren. Vgl. Herman Nohl/Ludwig Pallat (Hg.): Die Theorie der Schule und der Schulaufbau. (= Handbuch der Pädagogik IV), Langensalza 1928; Wilhelm Rein: Pädagogik in systematischer Darstellung (2. Bd.) Bd. 1, Langensalza 1902, S. 497–545. – Dazu gehört auch Philipp Hördt: Theorie der Schule, Frankfurt a.M. 1939. Hördt, von dem Petersen die „Urformen des Lernens und Sich-Bildens“ übernimmt, macht den Versuch, die Schule als eine Institution theoretisch zu konzeptualisieren, in der pädagogische, gesellschaftliche, politische, rechtliche Funktionen und Dimensionen sich überschneiden. Vgl. Philipp Hördt: Grundformen volkhafter Bildung, Frankfurt a.M. 1932. S. dazu Peter Petersen: Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule. Kleine Ausgabe (= „Kleiner Jenaplan“ ab 7/8 1936) 5./6. neu durchgesehene und erweiterte Auflage Langensalza, Berlin-Leipzig 1934, hier S. 81ff. Zu einer differenzierteren theorie- und zeitgeschichtlichen Einordnung Hördts vgl. Klaus-Jürgen Tillmann (Hg.): Schultheorien, Hamburg 1987, insb. S. 10f. Die schultheoretische Debatte im engeren Sinne ebbt in den späten 80er

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einen, zunächst primär soziologisch orientierten systematischen Diskurs, der im Anschluss an das strukturfunktionale Paradigma nach gesellschaftlichen Funktionen und Wirkungen des Schulwesens insgesamt fragt. Die „Funktionen der Schule“, die dabei unterschieden werden – Fend beschreibt in der Folge der Theorie von Parsons die Funktionen der „Qualifikation der Selektion, der Allokation und der Legitimation“ –, lassen sich dabei fast unmittelbar als Hypothesen zum Beitrag der Schule zur politischen Sozialisation begreifen. Die Arbeiten von Bourdieu/Passeron (1971), Dreeben (1980), Fend (1980), Preuss-Lausitz (1975), Lenhardt (1984), Zinnecker (1975)22 und anderen stellen die Erkenntnis heraus, dass die Wirkungen der Schule keineswegs auf das begrenzt sind, was die vom bewusst geplanten Lehrerhandeln intendierten inhaltsbezogenen Lernprozesse im Unterricht zu erreichen suchen. Die pädagogischen und sozialisatorischen Wirkungen der Schule gehen vielmehr darüber hinaus. Die Schule als ganze erzieht: als Sozialisationsumwelt, als Agentur für die Zuteilung von Chancen, also als politisch relevanter Erfahrungs- und Lernraum. Gerade für eine umfassende Betrachtung politischer Bildung ist damit eine Erweiterung des Analyserahmens über den Unterricht und seine Inhalte hinaus notwendig. Zweitens, die Konzentration des schulpädagogischen Interesses auf die einzelne Schule als pädagogische Wirkungs- und Handlungseinheit. Vor allem durch die Vergleichsuntersuchungen zwischen dem gegliederten Schulsystem und Gesamtschulen in der BRD der 1970er Jahre ist – gewissermaßen als Nebenprodukt – deutlich geworden, dass im Blick auf die Unterschiede zwischen Schulen der Einfluss der Einzelschule größer ist als derjenige der Systembedingungen: „Gute“ Gymnasien unterscheiden sich von „schlechten“ Gymnasien stärker als von „guten“ Gesamtschulen. Diese Einsicht lenkt die Aufmerksamkeit über den Unterricht hinaus auf die Schule als ganze, betont dabei aber zusätzlich ihre Sicht als ein individuelles Ensemble von Handlungsverhältnissen – als Kultur – im Unterschied zur Betrachtung der Schule als Serienprodukt, das sich durch einheitliche, staatlich definierte Strukturelemente wie Stundentafel, Lehrplan und Personal zureichend beschreiben lässt.23 Für das Thema der politischen Bildung heißt das, dass die Schule nicht nur durch Inhalte bildet, sondern durch Strukturen, und dass sie sich überdies als eine Kommunität im Sinne eines Gemeinwesens betrachten lässt, die durch das gemeinsame und (mehr oder weniger bewusst) koordinierte Handeln der zugehörigen Personen geprägt wird. Die Schule erscheint auch in dieser Perspektive als eine politische Kommunität – sofern

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Jahren wieder ab. Eine Ausnahme bildet Helmut Fend: Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen, Wiesbaden 2006. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron: Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreich, Stuttgart, 1971; Peter Fürstenau u.a.: Zur Theorie der Schule, Weinheim/Basel 1972; Robert Dreeben: Was wir in der Schule lernen, Frankfurt a.M. 1980; Helmut Fend: Theorie der Schule, München/Wien/Baltimore 1980; Ulrich Preuß-Lausitz: Artikel „Politische Sozialisation“, in: Horst Speichert (Hg.): Kritisches Lexikon der Erziehungswissenschaft und Bildungspolitik, Reinbek 1975, S. 276–278; Gero Lenhardt: Schule und bürokratische Rationalität, Frankfurt a.M. 1984; Jürgen Zinnecker: Der heimliche Lehrplan: Untersuchungen zum Schulunterricht, Weinheim/Basel 1975. Peter Fauser: Nachdenken über pädagogische Kultur, in: Die Deutsche Schule 81(1989), S. 5–25; Helmut Fend: "Gute Schulen – schlechte Schulen". Die einzelne Schule als pädagogische Handlungseinheit, in: Die Deutsche Schule 3 (1986), S. 275–293. Dazu auch Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2009), insb. S. 13ff.

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sie gemeinsame Angelegenheiten durch gemeinsames Handeln regelt, und das ist Politik –, und zwar ob sie das will und wahrnimmt oder nicht.24 Drittens, die fundamentale Erweiterung des Verständnisses von Lernen und Bildung durch die Kompetenztheorie und die darauf aufbauende Bildungsforschung (PISA und so weiter) sowie deren Konkretisierung in verschiedenen Fachdomänen, unter anderem der Demokratiepädagogik. Kompetenzen sind „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“25 Werden durch die beiden erstgenannten Veränderungen der theoretischen Perspektive neben Zielen und Inhalten von Schule und Unterricht sowohl die Systemund Strukturbedingungen als auch die Handlungsverhältnisse als Wirkfaktoren der Schule im Sinne einer Sozialisationsumwelt, als Umgebung des Lernens in den Blick gerückt – also der institutionelle und soziale Kontext, die Peripherie des Lernens – so thematisiert die kompetenztheoretische Diskussion den Kern des Lernens der Kinder und Jugendlichen direkt. Wesentlich ist dabei, dass ein kompetenztheoretisch belehrter Lernbegriff die Aspekte der Motivation, Volition, der situativen Einbettung des Lernens, seinen konstruktiv-produktiven Charakter und das Gewicht von Erfahrung und Anwendungsbezug auf ganz neue Weise betont.26 Gleichzeitig wird die Bedeutung der besonderen inhaltlichen Kontexte hervorgehoben und werden Zweifel an der Übertragbarkeit von Kompetenzen verstärkt. Auf eine einfache Formel gebracht: Kompetenztheoretisch betrachtet, kann Politik oder Demokratie nur angemessen gelernt werden im Medium der für Politik und Demokratie domänspezifischen Kontexte. Wesentlich also ist die Auseinandersetzung mit Aufgaben und Problemen, die politisch und demokratisch von wirklicher, gegenwärtiger Bedeutung sind; und wesentlich ist die Erfahrung des Handelns. Handeln – und Politik ist die Sphäre menschlichen Handelns sui generis –27 lernt man nur durch Handeln. Es ist 24

Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.): Demokratisch Handeln. Dokumentation des Kolloquiums „Schule der Demokratie“ vom 24. bis 26. September 1989 an der Universität Tübingen, Tübingen 1990, 2 1995; dies. (Hg): Erfahrene Demokratie. Wie Politik praktisch gelernt werden kann, Opladen 2001; dies. (Hg): Demokratie erfahren. Analysen, Berichte und Anstöße aus dem Wettbewerb „Förderprogramm Demokratisch Handeln“, Schwalbach a.T. 2012. 25 Franz E. Weinert: Konzepte der Kompetenz, Paris 1999, S. 27; Gerhard Himmelmann/Dirk Lange: Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung; Wiesbaden 2005. 26 Die Bedeutung eigenen Tätigseins und eigener Erfahrung für das Lernen ist in einem umfangreichen Förder- und Entwicklungsprogramm theoretisch und praktisch entfaltet worden in einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen der „Projektgruppe Praktisches Lernen“, Tübingen, und der Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart. Dazu nur beispielhaft: Peter Fauser/Klaus J. Fintelmann/Andreas Flitner (Hg.): Lernen mit Kopf und Hand. Berichte und Anstößt zum praktischen Lernen in der Schule, Weinheim/Basel 1983; Praktisches Lernen. Ergebnisse und Empfehlungen. Ein Memorandum, hg. v. Akademie für Bildungsreform/Robert Bosch Stiftung GmbH, Weinheim/Basel 1993 (mit einem umfangreichen Literatur- und Quellenverzeichnis); Peter Fauser: Was heißt schon Erfahrung?, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 583–600. 27 Peter Fauser: Tätigsein und Lernen. Bildungstheoretische und schultheoretische Überlegungen im Anschluß an Hannah Arendt, in: ders./Heliodor Muszynski (Hg.): Lebensbezug als Schulkonzept?

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im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig, dass mit der Ausrichtung auf Kompetenz drei Dimensionen pädagogischen Denkens in die Debatte eingeführt und mit neuem Gewicht versehen werden, die von Anfang an zum Grundbestand einer aufgeklärt reformpädagogischen Sicht gehört haben: das Verständnis von Lernen als einem ganzheitlichen, konstruktiven, individuellen Prozess der bildenden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, die eminente Wirksamkeit praktischen Tuns und praktischer Erfahrung für alles Lernen und schließlich die Rolle der Zugehörigkeit zur Schule als einer der gesellschaftlich bedeutsamen Kommunitäten. Damit wird das Verständnis des Lernens mit Qualitäten verbunden, die stark mit denjenigen korrespondieren, die als Themen der Reform mit der Reformpädagogik in historischer wie in systematischer Perspektive verbunden werden.28 Zeitgeschichtlich kommen Veränderungen hinzu, die das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft betreffen. So haben sich im letzten Quartal des vergangenen Jahrhunderts tiefgreifende Änderungen in den Partizipationsformen und Partizipationserwartungen unserer repräsentativen Demokratie vollzogen, deren sichtbarster und folgenreichster Aspekt durch das Aufkommen der „neuen sozialen Bewegungen“29 letztlich die Partei Bündnis 90/Die Grünen im politischen System etabliert und damit dazu beigetragen haben, ein neues und bürgernahes Verständnis politischer Teilhabe und bürgerschaftlichen Engagements zu wecken, das zwischenzeitlich – in Verbindung mit den Bestrebungen um Kritik und Reform der Parteiendemokratie – begrifflich von Hildegard Hamm-Brücher eingeführt – als „Demokratiepolitik“30 diskutiert wird. Dieser skizzenhaft dargelegte Hintergrund ist zugleich die Basis für eine Reihe von auf Schulentwicklung und demokratische Jugendbildung ausgerichteten Initiativen, die zum Teil bis heute die Diskussion um das Demokratie lernen und damit die Demokratiepädagogik in Schule und Jugendarbeit mitbestimmen: Dazu gehören exemplarisch der Wettbewerb „Förderprogramm Demokratisch Handeln“ (DH)31 und die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung.32 Seit Ende der 1990er Jahre intensivierten sich die Bestrebungen verschiedener freier Träger, Schulen, pädagogischer Initiativen und auch der Politik in Bund und Ländern um eine Stärkung der demokratischen Erziehung insbesondere in den Schulen. Der mit der deutschen Wiedervereinigung ausgelöste Wandel der Lebensbedingungen und die damit einhergehende Transformation des Bildungswesen in den neuen Bundesländern sowie die ebenfalls seit

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Ein deutsch-polnisches Gespräch über Praktisches Lernen und Schulreform, Weinheim/München 1988, S. 149–172. Beispielsweise nennt Andreas Flitner in seinen Jenaer Vorlesungen hier: Individualität und Selbständigkeit der Kinder – Anderes Lehren und Lernen – Sozialkultur und Erziehung (Gemeinschaft über Konkurrenz setzen) – Demokratie und Zukunft. Flitner: Reform (wie Anm. 11), S. 218ff. Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1987. Hildegard Hamm-Brücher: Aktive Demokratiepolitik tut not, in: Aktive Bürgerschaft aktuell 2 (2001), S. 3; dies.: Lasst die Bürgergesellschaft wachsen. Plädoyer für eine Reform der Demokratie, in: Die ZEIT 40 v. 24.9.1998, S. 71. Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.): Politisch bewegt? Schule, Jugend und Gewalt in der Demokratie. Seelze, 1995. Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung. Eine Selbstdarstellung, in: Beutel/Fauser: Handeln (wie Anm. 24), S. 161–165.

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den 1990er Jahren entstandene Wahrnehmung zunehmender Gewalterscheinungen und -erfahrungen in der Schule33 haben diesen Trend unterstützt. Insbesondere die Einrichtung eines fünf Jahre arbeitenden Modellprogramms „Demokratie lernen und leben“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK)34 hat zu einer intensiven bundesweiten Diskussion demokratiepädagogischer Ansätze, Projekte und Erfahrungen auch im Feld von Theorie und Didaktik der politischen Bildung geführt. Als Dachorganisation zur Konsolidierung und Stärkung der Demokratiepädagogik in den verschiedenen Handlungsfeldern von Schule, Jugendarbeit und Bildungspolitik wurde die „Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik“ (DeGeDe) im Februar 2005 gegründet; das „Magdeburger Manifest zur Demokratiepädagogik“, das im Zusammenhang mit der Gründung der DeGeDe verabschiedet wurde, fasst in knapper Form Verständnis und Prinzipien der Demokratiepädagogik zusammen.35 In der Expertise für das BLK-Modellprogramm wird hervorgehoben, „dass Demokratie gelernt werden muss. ‚Demokratie‘ bezeichnet eine historische Errungenschaft, deren Erhalt und Entwicklung – als Lebensform, als Gesellschaftsform und als Regierungsform – sich nicht von selbst ergibt, sondern von dem Wissen, den Überzeugungen und der Bildung aller abhängt. Demokratie wird erfahren durch die Verbindung von Zugehörigkeit, Mitwirkung, Anerkennung und Verantwortung.“36 Fassen wir zusammen: Bei einer demokratiepädagogischen Perspektive wird der traditionelle Blick auf die Schule als Unterricht und der traditionelle Blick auf Demokratieerziehung als Aneignung von Wissen im Fachunterricht Politische Bildung, Gemeinschaftskunde, Sozialkunde und so weiter auf grundlegende Weise erweitert und verändert. Die Schule wird als ganze, als Handlungs- und Erfahrungsraum und Sozialisationsinstanz aufgefasst, Lernen wird als verständnisintensives Lernen entfaltet mit einer starken Betonung des Kompetenzerwerbs, was die Integration von interessentheoretischen, motivationstheoretischen, anthropologischen Aspekten und vor allem pragmatistischen Traditionen einschließt. Das Verständnis der Einzelschule wird mit dem Begriff der Kultur theoretisch konzentriert und im Hinblick auf die Qualitäts- und Gestaltungsfragen durch eine sozialökologische Differenzierung demokratiepädagogisch in Unterricht, Schule als Demokratie und Schule in der Demokratie konkretisiert.37 Die Module, die das BLK-Modellprogramm dann unterscheidet, fü33 34 35 36

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Klaus-Jürgen Tillmann: Gewalt in der Schule. Situationsanalyse und Handlungsperspektiven, in: Beutel/Fauser: Handeln (wie Anm. 24), S. 89–104. Wolfgang Edelstein/Peter Fauser: Demokratie lernen und leben. Gutachten für ein Modellversuchsprogramm der Bund-Länder-Kommission (= Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförderung, Hf. 96), Bonn 2001. Magdeburger Manifest zur Demokratiepädagogik, in: Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.): Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft, Schwalbach a.T. 2007, S. 200ff. Edelstein/Fauser: Gutachten (wie Anm. 34), S. 19. Die demokratiepädagogische Ausfaltung von Demokratie als Lebensform, Gesellschaftsform, Herrschaftsform ist zuerst im Anschluss an Dewey entwickelt worden von Gerhard Himmelmann: Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Studienbuch, Schwalbach a.T. 2001; John Dewey: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik (1916), übersetzt von Erich Hylla (1930), neu hg. v. Jürgen Oelkers, Weinheim/Basel 1993. Diese Strukturierung wird zuerst vorgeschlagen bei Peter Fauser: Erziehung zur Verantwortung in der Demokratie – Überlegungen zu einem Förderprogramm, in: Wolfgang Beutel/Peter Fauser

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gen zu diesen drei Ebenen oder Räumen schulischen Lernens und Gestaltens noch das Modul Projekt hinzu. Damit nennt die Expertise vier Module: Unterricht, Projekt Schule als Demokratie und Schule in der Demokratie. Die Expertise kombiniert mit der Unterscheidung zwischen Unterricht, Schule als Demokratie und Schule in der Demokratie die übliche schulpädagogischen Sichtweise der Schule als Organisation mit gleichsam konzentrisch angelegten Handlungsund Gestaltungsfeldern oder -ebenen auf der einen Seite, mit dem Projekt als eigenem Modul auf der anderen Seite. Es setzt mit dieser aus dem Pragmatismus stammenden didaktischen Großform im Modellprogramm einen eigenen Entwicklungsschwerpunkt. Denn die Form des Projekts ist „besonders dazu angetan, partizipatorische, handlungsorientierte, erfahrungsbasierte und verständnisintensive Lern- und Arbeitsformen anzuregen.“38 EIN GRÜNDUNGSBERICHT: PETERSEN/WOLFF 192539 „In der Praxis der Schule ließ mir Prof. Petersen völlig freie Hand. Er hatte nur einen Wunsch, dass ich meine Erfahrungen und Gedanken ohne irgendwelche Verschönerungen mit allem Auf und Ab ehrlich aufschriebe. Das habe ich getan, erst täglich und dann wöchentlich [...] auf diese Weise ist es ein absolut getreuer und gedrängter Bericht der Wirklichkeit geworden [...].“40

Der Bericht von Hans Wolff Will man sich ein möglichst realistisches Bild von der tatsächlichen (Jenaplan-) Praxis in der Gründungszeit der Schule machen, dann darf dem Bericht von Hans Wolff dabei ein ganz eigenes Gewicht zugesprochen werden. Er stellt das vielleicht wichtigste Dokument vom Ursprung des später berühmten Schulkonzepts41 dar. Dabei ist zunächst wichtig, dass es sich bei Wolffs Bericht wirklich um eine belastbare empirische Quelle handelt – es ist ein „absolut getreuer und gedrängter Bericht der

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(Hg.): Demokratisch Handeln. Dokumentation des Kolloquiums „Schule der Demokratie“ vom 24. bis 26. September 1989 an der Universität Tübingen, Tübingen 1990, 2 1995, S. 129–150. Edelstein/Fauser: Demokratie (wie Anm. 34), S. 25. Peter Petersen/Hans Wolff: Grundschule (wie Anm. 14). Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 37f. Den Begriff „Schulkonzept“ verwende ich im folgenden als Bezeichnung für den Gestaltungsund Handlungsrahmen einer Schule, der als handlungsleitende, teils explizite, teils implizite Vorstellung die Erfahrungen und Erwartungen, Routinen und Standards umfasst, an denen sich die alltägliche Praxis der Schule orientiert. Das „Schulkonzept“ liegt auf einer mittleren Ebene zwischen einer „Schultheorie“ einerseits, die auf der allgemeinpädagogischen Ebene von Bildungstheorie und Gesellschaftstheorie Ziele, Strukturen und Funktionen der Schule als Institution untersucht und expliziert, und der Ebene der Handlungspraxis andererseits. Das „Schulkonzept“ ist ein adaptiver, d.h. permanent revidierbarer Plan oder Entwurf von mittlerer Reichweite, vergleichbar mit Improvisationsregeln in der Musik, die ein Amalgam darstellen aus expliziten Kompositionsregeln – wie beispielsweise Kontrapunkt oder Generalbass – und dem performativen Können der Künstler. S. dazu ausführlich Peter Fauser: Erfahrene Aufklärung. Zur Rationalität und Anthropologie der Schule als Institution, Habil. Päd. Tübingen 1992 (Ms.).

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Wirklichkeit“, wie Wolff selbst formuliert. Für eine solche Einschätzung spricht mehrerlei: der Zweck, für den der Bericht geschrieben wurde, die Vorbildung des Verfassers – sein berufliches Wissen, seine Erfahrung, seine Handlungsroutinen und Überzeugungen –, die Textqualität als solche und der Vergleich des Berichts mit anderen einschlägigen Zeugnissen aus der Gründungszeit der Schule. Der Bericht umfasst die während des Schuljahres „erst täglich und dann wöchentlich“42 festgehaltenen Beobachtungen und Notizen von Hans Wolff. Aus methodologischer Perspektive lässt sich der Text als dichte Beschreibung charakterisieren.43 Wie ein Arbeits- und Beobachtungstagebuch begleitet er das Schuljahr. Wofür hat Hans Wolff seinen Bericht geschrieben? Petersen betont im ersten Satz des Vorworts, der im Band abgedruckte Jahresbericht sei „nicht von vornherein in der Absicht niedergeschrieben worden, einmal veröffentlicht zu werden.“ Vielmehr entspreche er der Form, in der alle Assistenten der Schule über ihre Arbeit zu berichten hatten, zusätzlich zu den allwöchentlichen pädagogischen Konferenzen.44 Die Berichte sollen Ersatz für das übliche Klassenbuch und Mittel der Selbstbesinnung sein, Gedächtnisstütze und Hilfe bei der „Umstellung des ganzen Menschen auf die rein erziehende Haltung“ die grundlegend sei für die „neue Schularbeit“. Hans Wolff erfährt von Petersen erst „in den allerletzten Wochen des Schuljahres“, dass sein Bericht veröffentlicht werden soll, „und zwar völlig unverändert“.45 Petersen begründet dies damit, dass übliche Beschreibungen in Aufsätzen nicht gewährleisten, dass die Arbeit an „neuen Schulen“ von denen, die sie in „ihren Einzelzügen nicht kennen“, überhaupt verstanden wird – ihnen fehlt, anders gesagt, das Fundament eigener praktischer Anschauung und damit auch für die je verschiedenen „Probleme [...], die einen hier, die andern dort und überall örtlich stark verschieden, was uns wirklich brennt, das bleibt verborgen. So brauchen wir [...] einfach solche trockenen Berichte, die es unternehmen, rückhaltlos den Alltag mit Erfolg und Misserfolg, Enttäuschung und Hoffnung, Niederlage und Sieg auszubreiten und gerade auch alle Schwierigkeiten des Übergangs zu neuem Schulleben mit zunächst anders eingeschulten Kindern“.46 Dabei verweist Petersen auf den Nutzen der von Besuchern der Lichtwarkschule in Hamburg erstellten Hospitationsberichte. Da Hospitationen an der neu gegründeten Universitäts-Übungsschule noch nicht möglich seien, solle nun der Jahresbericht allen Interessierten die Möglichkeit bieten, sich ein Bild von ihrer Arbeit zu verschaffen und durch Wort und Schrift hilfreich mitzuwirken.47 42 43

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Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 37. Im Sinne des Ethnologen Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M. 2003 (Erstauflage 1983). Dabei kommt es neben einer möglichst alltagsnahen Darstellung der Verhältnisse darauf an, dass der Beobachter seine eigenen Perspektiven und seine Rolle reflektierend mit aufnimmt. Das tut Wolff immer wieder. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14). Hans Wolff erinnert sich 1984: „Als ich ihm [Petersen, P.F.] meine Aufzeichnungen [gemeint ist hier der von Wolff verfasste Abschnitt im Einleitungstext, Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 21–54, P.F.] übergab, eröffnete er mir, daß diese zusammen mit meinen schon bestehenden Berichten publiziert werden sollten. Ich bekam einen Schreck! Meine Aufzeichnungen waren zweifellos ehrlich. Aber wieviel Dinge würden vor allem ausführlicher beschrieben worden sein.“ Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. VI. Ebd., S. VII. Vgl. dazu die Rezension von Fritz Karsen: Umschau, in: Lebensgemeinschaftsschule.

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Der Bericht soll also in erster Linie der Verbesserung der eigenen Arbeit des Lehrers und außerdem der kritisch-konstruktiven Beratung im Kreis einer fachlichen Öffentlichkeit dienen. Er verfolgt, in heutiger Wissenschaftssprache formuliert, einen evaluativen Zweck.48 Bezugsrahmen ist dabei nicht ein ausformulierter Plan, über dessen Umsetzung Rechenschaft abgelegt werden müsste; schon gar nicht steht die Schule, als der Bericht geschrieben wird, im Scheinwerferlicht einer später großen internationalen pädagogischen Fachöffentlichkeit. Er ist keine Rezeptsammlung, kein Handbuch, keine Demonstrationstext und keine Rechtfertigungsschrift. Um es pointiert zu formulieren: Hans Wolff setzt nicht ein im Kopf von Peter Petersen entstandenes, theoretisch vorgedachtes oder schriftlich niedergelegtes Modell praktisch um. Zwar weist die Praxis der Universitätsschule von 1924/25 wichtige Elemente und Merkmale dessen auf, was später als „Jena-Plan“ zum Konzept verdichtet wird und bildet als Initialphase wohl eine der wichtigsten praktischen Grundlagen, auf die dieses Konzept aufbaut. So gesehen hat die pädagogische Praxis der Universitätsschule Folgen für das Konzept des Jena-Plans, also für dessen Theorie im engeren Sinne. Wolffs Bericht wird auch zum Muster für die in den folgenden Jahren von seinen Kollegen erstellten Berichte, auf die sich dann der sogenannte Große Jena-Plan stützt, die ab 1930 publizierte dreibändige, breit entfaltete, empirisch reiche Darstellung der Schule und ihres Konzepts – parallel zum „Kleinen Jena-Plan“, den Petersen in weiteren Auflagen fortschreibt und erweitert, ohne dabei das Format eines kompakten Vademecums zu verändern.49

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Mitteilungsblatt der neuen Schulen in Deutschland, hg. unter Mitwirkung von Wilhelm Paulsen von Fritz Karsen und [bis incl. Jg. 2 (1925), Heft 4] von Johannes Hein, Jg. 1 (1924) – 3 (1926), Jg. 3 (1926), S. 93–95, hier S. 94f. Die Zeitschrift belegt durch Berichte, Portraits, Übersichten und Debatten eindrucksvoll die vitale Entwicklungsdynamik, Fachlichkeit und Internationalität der „Lebensgemeinschaftsschulen“. Nach einer Definition der OECD bedeutet Evaluation „Informationen sammeln, die Auskunft geben, wie gut ein System arbeitet; feststellen, welche Elemente nicht befriedigend arbeiten; versuchen eine Situation zu verbessern“. Zit. nach Helmut Frommer: Fremd- und Selbstevaluation als Werkzeuge demokratischer Schulentwicklung, in: Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.): Demokratie, Lernqualität und Schulentwicklung, Schwalbach a.T. 2009. S. 113–125, hier S. 113. Zum sogenannten Großen Jenaplan gehören (die folgenden bibliografischen Angaben entsprechen genau den etwas eigenartigen Angaben in den Erstausgaben): Peter Petersen: Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung. Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung (Der Jena-Plan), von Peter Petersen (Erster Band), Weimar 1930; ders./Arno Förtsch: Das gestaltende Schaffen im Schulversuch der Jenaer Universitätsschule 1925–1930. Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung (Der Jena-Plan), von Peter Petersen. Zweiter Band, Weimar 1930; Peter Petersen (Hg.): Die Praxis der Schulen nach dem Jena-Plan. Eine freie allgemeine Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung (Der Jena-Plan) Herausgegeben von Peter Petersen. Dritter Band, Weimar 1934. Zum „Kleinen Jenaplan“ s. oben Anm. 6. Zur Funktion der Berichte s. Petersen: Schulleben, S. 4. Auch für Petersen bildet die Praxis das Erste, die Theorie das Zweite: „Die allgemeine Erziehungswissenschaft ist für mich nicht eine ideale Begriffskonstruktion, sondern die Selbstbesinnung auf eine fast 17jährige Erziehungspraxis auf den verschiedensten Gebieten, nicht nur als Pädagoge.“ Die „schöpferischen lebendigen Kräfte liegen niemals in der erziehungswissenschaftlichen Wirklichkeit, sondern in der Erziehungswirklichkeit“. Peter Petersen: Erziehung und Führung. Ein Grundproblem der allgemeinen Erziehungswissenschaft, in: Pädagogische Antithesen (= Mainzer Abhandlungen zur Philosophie und Pädagogik 2), Karlsruhe 1926, S. 73–102, hier S. 73f.

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Indessen bildet diese Praxis keinesfalls eine deterministisch vorgeprägte Umsetzung des Schulkonzepts – also des „Kleinen“ oder des „Großen Jena-Plans“. Beide werden erst nach einem drei- beziehungsweise sechsjährigen praktischen Vorlauf veröffentlicht, womit nicht bestritten werden soll, dass pädagogisches Denken und pädagogische Praxis bei Petersen und seinen Mitarbeitern einen wechselseitigen Wirkungszusammenhang bildeten – oder dass die Erfahrungen und Überzeugungen Petersens vor allem aus seiner Hamburger Zeit eine für die Gestaltung und Entwicklung der Schule wichtige und wirksame Ressource bildeten. Auch Petersens vor 1925 entstandene Schriften sind in diesem Zusammenhang selbstverständlich von Interesse; allerdings stellen auch diese keine Schulkonzepte dar, sondern bewegen sich insgesamt auf einer allgemeinen erziehungswissenschaftlichen oder schulpädagogischen Ebene. Nicht zuletzt deshalb ist es für eine angemessene (demokratie-) pädagogische Einordnung und Bewertung der Universitätsschule von wesentlicher Bedeutung, deren tatsächliche Praxis wahrzunehmen, und zwar als Handlungswirklichkeit und als Gestaltungs- und Erkenntnisquelle eigenen Ursprungs. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage besonders Gewicht, woran Hans Wolff sich als Lehrer orientiert, was sein pädagogisches Handeln steuert und welche Rolle Petersen bei seiner konkreten Schularbeit spielt.50 Momentaufnahme: Schulgründung und Einstellung des ersten Lehrers Wolff begegnet Petersen im Wintersemester 1923/24 nach dessen Berufung an die Jenaer Universität im Studium. Er besucht dessen Vorlesung über „Angewandte Erziehungswissenschaft: Die Schulgemeinde und der Unterricht“ und ein Kolloquium über „Organisation der neuen Erziehung“. Er ist von Petersen beeindruckt: „Auf dem Katheder erschien ein Mann mittleren Alters, blondhaarig, die Haltung auffallend gestrafft, durch die randlose Brille blickten klar, frei und offen – ein bisschen streng – seine blauen Augen: ein Friese, als den er sich selbst gern bezeichnete. Schon mit seiner ersten Vorlesung eroberte er sich die Herzen seiner Zuhörer. Wir waren begeistert [...]. Ob es die alten Pädagogen waren oder die neuesten Reformbestrebungen des In- und Auslandes, alles wurde interessant und lebendig. Dann entwickelte er seine Gedanken mit dem Tenor: Erziehung geht vor Unterricht.“51 Wolff suchte Petersen auf, der sich vom ihm über bisherigen „Bildungsgang und Tätigkeit im Schuldienst“ berichten ließ. Wolff konnte nicht ahnen, dass Petersen ihm wenig später – per Te50

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Insgesamt kann ich hier durchaus der Einschätzung von Franz-Michael Konrad zustimmen, der schreibt: „Zwar stand im Hintergrund der Universitätsschul-Praxis nicht eine Theorie i.e.S., wohl aber die geballte und vielfach dokumentierte Erfahrung anderer Reformer und ihrer Initiativen. Das macht im Übrigen auch das Wesen eines reformpädagogischen ,Planes‘ aus, dass er nämlich unterschiedliche, bereits bekannte Praktiken in einen Gesamtentwurf einschmilzt. Die Planerinnen des Kongresses von 1927 müssen das ähnlich gesehen haben – sie kannten es ja aus Amerika mit seinen unzähligen ,Plänen‘ – und haben deshalb, auf der Suche nach einem Titel für Petersens Vortrag, zielsicher den Namen ,Jena-Plan‘ kreiert. Es muss also gerade für externe Beobachter schon 1927 so etwas wie ein Gesamtkonzept, das die Jenaer Schule getragen hat, erkennbar gewesen sein.“ (Pers. Mitteilung Konrad an Fauser v. 24.5. 2012). Wolff, Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 33.

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legramm in den Weihnachtsferien – anbot, Schulassistent bei ihm zu werden. Der sagte „mit Freuden zu und führte nach den Ferien die Oberklasse der Rein’schen Übungsschule bis Ostern zu Ende.“52 Tatsächlich war die Einstellung von Hans Wolff kurzfristig notwendig geworden und stand im Zusammenhang mit Petersens Einstieg in Jena, der alles andere als reibungslos verlief, sondern sich als höchst konfliktbeladen und hindernisreich darstellt.53 Petersen wollte ursprünglich die Reinsche Universitäts-Übungsschule auflösen und hatte am 26. November 1923 einen entsprechenden Antrag beim Volksbildungsministerium gestellt. Den bisherigen Mitarbeitern solle gekündigt, die Schülerinnen und Schüler sollten auf andere Jenaer Schulen verteilt werden. Eine Fortführung oder Neugründung der Schule hatte er nicht im Sinn. Das Gebäude Grietgasse 17a sollte im Rahmen der von Volksbildungsminister Greil gegen den Widerstand der Universität errichteten, am 21. November 1923 (!) neu konstituierten Erziehungswissenschaftlichen Abteilung beziehungsweise für den zugesagten Ausbau des Pädagogischen Seminars zur Erziehungswissenschaftlichen Anstalt genutzt werden. Der zuständige Regierungsrat, Julius Schaxel, lehnte Petersens radikalen Plan ab, sein Vorgänger Rein und die Philosophische Fakultät erhoben Einspruch gegen die Auflösung der Schule. Petersen lenkte ein und erklärte sich bereit, die Oberklasse der Schule bis zum Schuljahrsende weiter zu führen. Erst jetzt wurde der Aufbau einer eigenen Versuchsschule zum Thema, und Petersen beantragte am 16. Dezember anstelle des ihm zugesagten Seminarassistenten die Einstellung des Lehrerstudenten Hans Wolff als Assistent für die Übungsschule. Schaxel stimmte zu. Petersen brauchte jetzt rasch einen Lehrer – und telegrafierte an Hans Wolff. Am 7. Februar genehmigte Schaxel dann die Umbenennung des bisherigen Seminars in „Erziehungswissenschaftliche Anstalt“. Nach dem Rücktritt der Regierung Greil/Frölich am 7. Dezember 1923 – als Konsequenz der Besetzung Thüringens durch die Reichswehr am 6.–8. November – wurde auch die von Greil eingerichtete Erziehungswissenschaftliche Abteilung von Minister Leutheußer, dem Nachfolger Greils, auf Antrag der Philosophischen Fakultät am 13. Mai 1924 wieder aufgelöst. Am 14. Mai fand die feierliche Eröffnung der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt statt, bei der Petersen die Fortführung der „Übungsschule“ als „Herzensangelegenheit“ bezeichnet.54 52

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Ebd., S. 34. Hans Wolff bleibt als Lehrer in der Universitätsschule bis März 1928. Petersen würdigt ihn als „besonders bewährte[n] Mitarbeiter“ und gibt ihm, der ebenfalls ausscheidenden Kollegin Metz und den 22 Kindern, die nach drei Jahren auf andere Schulen wechseln, das aus dem Lukasevangelium stammende Motto der Schule (und seine spätere Grabinschrift) mit auf den Weg: „Der Größte unter euch soll sein wie der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener.“ (Lk 22, 26) Petersen: Schulleben (wie Anm. 49), S. 76ff. Wolff hat über Kinderzeichnungen als Mittel der Individualdiagnostik promoviert: Hans Wolff: Die Kinderzeichnung nach Inhalt, Form und Farbe. Ein Beitrag zur Individual-Diagnostik (= Forschungen und Werke zur Erziehungswissenschaft 10), Weimar 1929. Zur theologischen Dimension s. Hein Retter: Theologie, Pädagogik und Religionspädagogik bei Peter Petersen, Weinheim 1995, S. 19. Zur Grabinschrift s. Barbara Kluge: Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte. Auf dem Weg zu einer Biographie, Heinsberg 1992, S. 30. Der gesamte Vorgang, der hier nur knapp angedeutet werden kann, ist mitsamt seinen landes-, universitäts- und kommunalpolitischen Kontexten ausführlich im Beitrag von Jürgen John in diesem Band mit allen Belegen dargestellt. Hier wird deshalb auf Einzelnachweise verzichtet. Peter Petersen: Die „Erziehungswissenschaftliche Anstalt der Thüringischen Landesuniversität“,

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Mit dem Ende des Schuljahrs Ostern 1924 löste Petersen die Reinsche Übungsschule auf. Er behielt für seine Schule zunächst den Namen „Universitäts-Übungsschule“ noch bei und beantragte zwei Jahre später, am 19. Februar 1926, in einem Schreiben an das Volksbildungsministerium die Umbenennung in „Universitätsschule“. Das nun beginnende erste Jahr der neuen Schule erforderte, so Hans Wolff, „den Einsatz aller Kräfte.“ „In der kurzen Zeitspanne bis zu unserem Neubeginn musste ich mir neue Versuche der Arbeitsschule in Leipzig, Dresden und Berlin (Berthold Otto) anschauen. Das konnten natürlich nur Kurzbesuche sein. Doch sie vermittelten mir zusammen mit meinen bisherigen Kenntnissen der Arbeitsschule und eigenen schüchternen Versuchen ein brauchbares Bild.“55 Die „Universitäts-Übungsschule“ startet mit einer altersgemischten Gruppe von 21 Grundschulkindern, davon 14 Jungen und 7 Mädchen. Zwei der vorhandenen drei Klassenräume werden für die Studierenden der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt genutzt. Mit dem Schuljahr 1925/26 kommen eine Mittelgruppe und eine Obergruppe hinzu, und die Schule wächst auf insgesamt 72 Kinder, 40 Jungen und 32 Mädchen. Zur Untegruppe gehören dann die Jahrgänge 1–3, zur Mittelgruppe die Jahrgänge 4 und 5 beziehungsweise 6, zur Obergruppe 7 und 8.56 DAS ERSTE SCHULJAHR Im folgenden sollen aus dem Bericht von Wolff einige Passagen teils ausführlich wiedergegeben werden, um damit zum einen eine möglichst alltagsnahe Anschauung von der Schulpraxis und ebenso einen Eindruck von Wolffs professioneller Wahrnehmungs- und Berichtsqualität zu vermitteln. Der Bericht enthält sehr viele Detailbeobachtungen und -informationen über die räumliche, zeitliche, soziale Gestaltung der Schularbeit, über einzelne Kinder, oft verbunden mit der Darstellung von konkreten Lernsituationen; er dokumentiert den fachlich-stofflichen Aufbau und Verlauf des Schuljahrs mitsamt den Stundenplänen einschließlich der Modifikationen, die Wolff im Lauf der Zeit für erforderlich hält. Fast jeder Wochenbericht enthält eine mehr oder weniger ausführliche Auflistung der Inhalte, die Gegenstand der verschiedenen Lernbereiche geworden sind. Die ersten drei Wochen sind mit eigenen Überschriften versehen, die markieren, worin die pädagogische Hauptaufgabe der Woche gesehen wurde.

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in: ders.: Innere Schulreform und neue Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Weimar 1925, S. 55–73, hier S. 67. Ansprache, gehalten bei der Eröffnung der „Erziehungswissenschaftlichen Anstalt“ am 14. Mai 1924. Zuerst in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, September 1924. Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 34. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 4.; Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 39.

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Der erste Tag und die ersten Wochen57 „1. Woche: Eingewöhnung in die Gemeinschaft, in den Raum und die Arbeitsmittel 1. Schultag. 28.4.24 Ein von Morgensonne durchfluteter Raum empfängt die ankommenden Schüler und Eltern. Frische Blumensträuße grüßen aus farbigen Vasen von den Tischen. Die Buben und Mädel machen sich zögernd bekannt. Freunde setzen sich zueinander. Nun beginne ich über den Raum zu sprechen. [...] Beim Öffnen des Schrankes wird eine Pappuhr sichtbar, die gleich von Willi entdeckt ist ‚1/2 12!‘ ‚Kennst du die Uhr schon? – Wer noch nicht?‘ Hilde stellt an den Zeigern und die andern Kinder raten, ebenso Anna, bis sie sie von selbst weglegt.“58 (55) „2. Woche. Das Leben in der zeitlichen und örtlichen Ordnung“ (63) „3. Woche: Herausbildung eines Arbeitsrhythmus“ (69) Beispiele für den Lehrplanbezug „5. Woche – Naturbeobachtung – Lebensunterricht Wir gehen auf die Straße. Jeder soll sich ein Erlebnis aussuchen, das er dann schildert. Aus der großen Fülle des Straßenlebens fesseln doch einige Bilder besonders: der Postpaketwagen, ein Wagen mit Theaterrequisiten (Ritterrüstung ...). – Sagen – Rechnen – Schreiben und Lesen der I. Gruppe – Dichtung“ (77ff.) – „24. Woche – Muttersprache, Lesen, Schreiben – Rechnen – Lebensunterricht – Naturbeobachtung – Lebenskunde 57 58

Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf Petersen/Wolff, Grundschule (wie Anm. 14). Dieser schöne Text wird auch von Koerrenz/Lütgert zitiert. Sie schreiben: „Mit dieser Eingangspassage schildert Peter Petersen den ersten Schultag der von ihm übernommenen Universitätsübungsschule in Jena im Jahr 1924.“ Der Text stammt tatsächlich von Hans Wolff, und man kann sich fragen, warum dies nicht korrekt dargestellt wird; auch im nachfolgenden Textabschnitt, der die Gründungslage der Schule umreißt, wird Wolff nicht erwähnt, sodass der Leser den Eindruck gewinnen muss, die Schule sei voll und ganz Petersens „schulpraktisches und schultheoretisches Werk.“ Vgl. Koerrenz/Lütgert: Vorwort, in: dies. (Hg.): Jena-Plan (wie Anm. 11), S. 7.

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– Heimat- und Länderkunde – Werkarbeit“ (118f.) Überlegungen und Beobachtungen Neben den Details zu den Lernbereichen dokumentiert Wolff auch seine Überlegungen und Beobachtungen über Allgemeines sowie über besondere Probleme und über Gestaltungsaufgaben, denen er vermehrte Aufmerksamkeit zuwenden will. Beispiele: Pause, Aussprachen „9. Woche Das Problem der Pause. Ich habe mir zur Aufgabe gestellt, den Rhythmus festzustellen, in dem die Kinder im Lauf des Vormittags zeitlich schwingen, um die Verteilung der Arbeit daraus abzuleiten. Einschnitte können entstehen durch Verlangen nach Wechsel in der Betätigung (entweder andre geistige Arbeit oder reine Körperbewegung im Spiel) oder der Verrichtung der Notdurft.“ (88) Später, in der 21. Woche, zieht Wolff die Konsequenz aus den Erfahrungen. „Die Beobachtung über die Pause zeigt, daß wir mit einer größeren Pause (zugleich Eßund Lüftungspause, die kleinen Oberklappen sind dauernd oder größtenteils geöffnet) auskommen, da Bedürfnisse zu jeder Zeit verrichtet werden dürfen.“ (111) „22. Woche (10.–15.11.) Durch ein Gespräch in einer Elternversammlung59 sehe ich mich veranlasst, mindestens vor jedem Wochenschluß eine freie Aussprache über uns und unser Verhältnis zueinander einzuleiten, in der wir kleine Verkrampfungen in der Seelenlage durch ein offenes Wort auf einfache und natürliche Art lösen. Solche Aussprachen fanden schon in den ersten Wochen unseres Zusammenlebens statt. Sie waren damals aus der Not des ersten Zusammenfindens geboren und hatten dann nachgelassen, als wir uns aneinander gewöhnten. Charakteristisch ist die jetzt wieder eintretende Notwendigkeit mit beginnender Winterarbeit, bei der wir mehr auf das uns begrenzende Zimmer angewiesen sind.“ (115, Kursivdruck im Original gesperrt) 59

Es handelt sich vermutlich um die Elternversammlungen am 26.9. und am 11.11. 1924, bei denen Petersen und Wolff u.a. über das Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule sprachen. Petersen ersuchte die Eltern, den „Kindern zu Hause nicht mit irgend welchen Schulstrafen zu drohen“ (PPAV, Protokollbuch des Elternrates der Seminarschule/Universitätsschule Jena, Sitzung vom 26.9.1924). Wolff sprach über die gemeinsame Aufgabe von Schule und Elternhaus, „dem Kinde zu dienen“. Dafür sei „die größte Vorbedingung sich gegenseitiges Vertrauen entgegenzubringen“. Das werde durch das „übliche System des Zensurenerteilens“ erschwert, ein „Grund, das Zensurenerteilen in der früheren Weise in unserer Schule wegfallen zu lassen.“ Es folgte eine „recht ergiebige Aussprache über das Gehörte“ mit vielen „nützlichen Anregungen“. (PPAV, Protokollbuch des Elternrates der Seminarschule/Universitätsschule Jena, Sitzung vom 11.11.1924).

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Lesen, Schreiben, Rechnen Ergänzt wird der Bericht durch Erörterungen (grundschul-) pädagogischer Grundfragen, die zumeist anlassbezogen aufgeworfen und diskutiert werden und sich – wie inhaltliche Fragen zum Lernstoff oder die Überlegungen und Beobachtungen zum Erstlesen oder zum Schreiblehrgang – teilweise als kontinuierliche Themen mit sehr genauen und konkreten Einzelaspekten durch den Bericht ziehen. Solche Themen werden dann in den beiden, von Petersen und Wolff verfassten einleitenden, dem eigentlichen Bericht vorangestellten Texten etwas differenzierter verhandelt. Ein Beispiel sind die Ausführungen zum Lesen und Schreiben. Wolff bezieht sich auf die „große Streitfrage im Deutschunterricht der Grundschule“, mit welcher Schriftart das Lesen – Antiqua oder deutsche Fraktur – und mit welcher das Schreiben – mit deutschen Buchstaben, mit lateinischen oder „mit dem Malen der Antiqua“ – beginnen soll, und berichtet dann über seine Praxis und Erfahrung. Dabei wird sehr deutlich, dass Wolff dies nicht als eine theoretisch vorentscheidbare oder rein mechanisch zu lösende Frage betrachtet, sondern als praktische, durchaus experimentell verstandene Aufgabe. Auch hier ist das Lernen der Kinder maßgeblich. Es kommt darauf an, das Lernen genau zu beobachten und dann entsprechende Konsequenzen zu ziehen. „Wir begannen mit der Antiqua im Lesen und Schreiben – sofern man das Nachmalen dieser Schrifttype ein Schreiben nennen kann und will. Lesen und Schreiben gingen nicht genau parallel, sondern in gegen sich verschobene Wellen. Dies war nicht nur in der Gruppe als ganzes so, sondern auch bei den einzelnen Kindern individuell verschieden.“ (22) Das gilt nicht nur für das Lesen und Schreiben, sondern auch für das Verhältnis von Lesen und Schreiben zum Rechnen. Wolff berichtet: „Und die Leseunlustigen? Bei denen muß man auch etwas genauer hinschauen, ob nicht etwa eines der periodischen psychischen Tiefs oder eine Interessewelle auf anderem Gebiete kreuzt“ – so wie beim „kleinen Max im 1. Schuljahr. [...] Max las im ersten Halbjahr furchtbar gern. Vom Schreiben wollte er wenig wissen. An Nichtbegabung deswegen zu glauben, wäre vollkommen verfehlt gewesen. Das bewiesen seine Leistungen im Rechnen und sein scharfer Verstand im Unterrichtsgespräch. Nein, im Gegenteil, das Schreiben war ihm einfach zu langweilig, da brachte man nichts hinter sich. Da ging das Lesen schon flotter. Die übrigen Kinder seiner Jahresgruppe arbeiteten indes weiter an ihrer Schrift. Eines Tages bemerkte Max ihren großen Vorsprung und seinen Stillstand. Das vertrug er nicht. Nun setzte er sich dahinter und war in kurzer Zeit schon über dem Durchschnitt.“ Worin liegt die Aufgabe des Lehrers? Ein Strafen ist unnötig, nur ein Führen tut not. Die Kinder, die stärker als ihre Kameraden eine Führung brauchen, wird es in jeder Schule geben, die nicht mit ausgesuchten Kindern arbeiten kann. Hier liegt auch eine der Wirklichkeiten, an denen die modernste Schule nicht vorüber kann.“60 Zum Übergang von der Druckschrift zur Schreibschrift teilt Wolff die folgende Beobachtungen mit: „Als nun die Handmuskeln an die Schreibbewegungen gewöhnt waren, machten den Kindern die Buchstaben der deutschen Schreibschrift keine Schwierigkeiten mehr, die Kinder lernten sie sich selbst. Dies geschah in einer 60

Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 28.

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‚Schreibwelle‘ von durchschnittlich 14 Tagen.“ (22 f.) Ähnlich genau beschäftigt sich Wolff mit dem Schreibgerät. Die Schiefertafel wird durch „Hefte mit einfacher Lineatur“ ersetzt. Dem „weichen Blaustift“ folgt der „Bleistift, der durch seine dünnere Mine ein exakteres Schreiben zuließ. Dann folgten Feder und Tinte“ und „das Schreibgerät der Gegenwart, der Füllhalter, zum Ausprobieren. Die Behandlung des Halters machte keine Schwierigkeiten. Doch stellte sich im Laufe der Zeit heraus, daß die Goldfeder zur Gewinnung der rechten Federlage ein zu kostspieliges Instrument ist. Wenn eine Stahlfeder im Werte von 1–2 Pfg. verbiegt, so wirft man sie weg, [...] ‚Verschreibt’ man eine Goldfeder, [...] so beträgt das Defizit 3 Mk.“, weshalb der Füllhalter „für die Grundschule kaum in Betracht kommt – leider.“ (23f.) Beispiel Individualisierung: Der „kleine Erich“, Gott und die Welt Der „kleine Erich“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie genau Wolff die Entwicklung einzelner Kinder wahrnimmt und begleitet und wie er die von den Kindern mitgebrachten oder aufgeworfenen Themen aufgreift und weiterverfolgt. „Die Gewitter der letzten Tage geben Anlaß zum Unterrichtsgespräch. Blitz, Donner, Regenbogen, Entstehung es Regens. Kreislauf des Wassers [...]. Erich kommt im Anschluß an das Letzte (dies nur der äußere Anstoß) darauf zu behaupten, es gebe keinen Himmel und keinen Gott, da der Himmel nur Luft sei. Wir finden eine Art von Lösung im Anerkennen einer Schöpferkraft, die die großen Wunder des Lebens bewirkt (Keimen der Pflanzen, ihr Wachsen [...]).“ (4. Woche, S. 76). Später, in der 10. Woche, taucht das Thema Gott wieder auf anlässlich der Frage „Was war zuerst da: Eier oder Frosch?“ – „Diskussion über Gott, die wieder ergebnislos abgebrochen und zur Fortführung nächste Woche angesetzt wird.“ (89) Eine Woche später schreibt Wolff. „Wie schon einmal, ist das Gespräch auf Gott gekommen mit dem gleichen Ergebnis.“ Erich, der die Gottesfrage aufgeworfen hat, wird in Wolffs Bericht noch häufiger erwähnt. - „Erich bringt den versprochenen Baumschwamm mit. – Vergleich mit dem Tafelschwamm.“ (61) - „Unterwegs [bei einem Gang zum Landgrafen, P.F.] bildet sich eine gewisse Marschordnung heraus, die von Theo und Erich beaufsichtigt wird.“ (64) - „Erich wird für den Tafeldienst gewählt.“ (65) - „,Die Erde dreht sich. – Die Erde ist rund. Da müssen doch die Leute und Häuser runterfallen‘ [...] Der kleine Erich, ein Schulneuling, spricht auch schon von der Weltkugel und bittet mich ihm [auf dem Globus, P.F.] Rumänien zu zeigen, da sein Onkel dort sei.“ (66) - „[...] Verbindung zur modellierten Burg, die Erich mitbrachte [...].“ (78) - „Tageserlebnisse des vergangenen Sonntags. – Eines Jungen Mutter wurde am Blinddarm operiert. Wir sprechen vom Blinddarm und seiner Entzündung. Zeichnung. Theo bringt Sanitätsbücher seiner Mutter mit Abbildungen mit. Ein Kind kommt dabei auf ‚Brüche‘. Erich erzählt von seinem Nabelbruch.“ (80) - „Erzählungen von Ferienerlebnissen (Feuer auf der Löbderstraße, Feuerwerk,

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Hoch- und Untergrundbahn in Berlin (Erich), Geschichte von der See [...].“ (82) „1. Gruppe. Das Verkaufsspiel erlebt fast jeden Tag in freier Beschäftigung neue Auflagen. Aus mitgebrachten Kalenderzetteln schneiden die Kinder Preiszahlen heraus. – Erich und Ernst holen sich eines Tages den Stabrechenkasten und zählen mit den Stäben bis 200.“ (90) „Da auch die Rede von Kipploren und Drahtseilbahnen war, ist es nicht zu verwundern, daß Erich am nächsten Tage uns das Prinzip einer solchen zu veranschaulichen sucht. Eine Schnur, hoch befestigt, ein Holzkästchen, ein Drahtbügel und eine Garnrolle genügen dazu. ,Sie fährt!‘“ (94) „Kleines Gedicht vom Erich über die Kröte vorgetragen, das durch mehrfaches Nachsprechen zu lernen angefangen wird.“ (96) „Erich schenkt uns Bonsels ‚Biene Maja‘, aus der wir jeden Tag einen Abschnitt vorlesen. Die Abschnitte werden freiwillig von einzelnen Kindern übernommen.“ (101) „Durch Wegzug verloren wir den kleinen Erich, der uns allen lieb geworden war. Sein Scheiden rief Betrübnis hervor. Um den Abschied zu mildern, schenkte er uns ein Modell eines Schwarzwälder Bauernhauses, das er zusammen mit seinem Großvater baute. Gegenseitig gaben wir uns das Versprechen einander zu schreiben.“ (134) „Anfang der Woche kam Erich aus Berlin zurück. Großer Jubel auf beiden Seiten. Er war sofort wieder so im Leben der Gruppe, als wäre er immer bei uns geblieben. Die anderen Kinder teilten ihm eingetretene Veränderungen mit. Er selbst beteiligte sich beim Kreisgespräch sofort wieder wie sonst. Seine 12jährige Schwester nahmen wir auf ihre Bitte hin auch in unsere Gruppe auf.“ (144) Von „Italien“ nach „Indien“

Diese Momentaufnahmen fügen sich nicht nur zu einem kleinen Porträt von Erich. Erich ist beispielhaft dafür, wie Wolff die schulisch vorgesehenen Themen und Gegenstände, die Erfahrungswelt der Kinder und deren Interessen miteinander zu verweben versteht – sein Bericht enthält dafür zahllose Beispiele und lässt erkennen, wie manche der von den Kindern mitgebrachten Themen zu Anlass und Ausgangspunkt für eine gründliche Beschäftigung damit werden –,61 und wie dabei individuelle und soziale Dimension des Lernens beachtet werden. Wolffs Aufmerksamkeit gilt selbstverständlich nicht nur Erich; bei vielen konkreten Beobachtungen und Begebenheiten aus dem Schulalltag werden die daran beteiligten und damit angesprochenen Kinder namentlich benannt. Zählt man die Namensnennungen, so kommt man bei der Hälfte des Berichts, der insgesamt 91 Druckseiten umfasst, auf gut 150 namentliche Nennun61

Wenige seien genannt (Seitenangaben beziehen sich auf Petersen/Wolff: Grundschule, wie Anm. 14): Die Uhr (55), Gedichte, Märchen (56), Tierbücher (60), Baumschwamm, Rübezahl (61), Brand und Feuerwehr (62), Muschelschalen, Blumen, der Globus: „Die Erde ist rund. Da müssen doch die Leute und Häuser runterfallen.“ (64ff.), Pflanzennamen, Tag und Nacht, Jahreszeiten (72ff.), Krankheit und Gesundheit („Blinddarm“ 80ff.), Fliegen und Flugzeug (89ff.) usw.

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gen.62 Alle Kinder kommen dabei vor, individuell liegt die Anzahl der Nennungen zwischen 4 und 15. 6 Kinder werden mehr als zehnmal, 15 zwischen viermal und neunmal genannt. Besonders anschaulich sind die Schilderungen von Ellen Eppenstein, Ada Weinel und ihrer Tochter Katharina (verheiratete Franz), wie es im Schuljahr 1925/26 in der Obergruppe zum Thema „Mittelmeerländer“ beziehungsweise „Italien“ kommt, wie das Thema in intensiver arbeitsteiliger Kooperation aufgenommen, wie es gründlich behandelt und wie es wieder verlassen wird. Ellen Eppenstein stellt dies als Beispiel für den Gesamtunterricht dar. „Es war beschlossen, dass Italien bearbeitet werden sollte. Der Lehrer [Robert Reigbert, P.F.] warf die Frage auf: wie kommen wir nach Italien?“ Von hier aus entspringt eine vielstimmige und facettenreiche Arbeit mit geologischen und geographischen, historischen und geophysikalischen, kunstgeschichtlichen und touristischen, sozial- und kulturpolitischen Recherchen und Materialsammlungen, von Grafiken, Texten, Vorträgen, Diskussionen – vom Vogelfang und Schmuggel bis zu Nero und den Vulkanen. Fehlerkorrektur erfolgt an der großen Wandtafel.“63

Ada Weinel schildert, wie es nach „Italien“ weitergeht und welche Rolle dabei der Lehrer spielt. „Als der Oberstufe nach reichlich einem halben Jahr Italien langweilig wurde, erklärte die Gesellschaft dem Lehrer: ‚Wir wollen nun mal Indien haben.‘‚ Gut, aber dann macht’s allein.‘ Und siehe da, nach dem Muster von Italien suchten sie sich, mit Hilfe der Eltern, die Bücher über Indien zusammen, sammelten Stoff, stellten Themata, erteilten Referate – ganz allein. Es ging ausgezeichnet.“64

Besonders eindrucksvoll ist es, wie sich Ada Weinels Tochter Katharina an diese Unterrichtseinheit erinnert. Sie schildert die Arbeit wie ein gemeinsames Forschungsunternehmen. Ein besonderes Erlebnis ist es „als ich, in das Allerheiligste der Wissenschaft eingelassen, mich eines schönen Tages in der geheimnisvollen Stille des großen Lesesaals der Universitätsbibliothek befand.“ Aus einem Zeitungsband von 1911 informiert sie sich über das Erdbeben von Messina. „Der düstere Saal und die schweigenden Erwachsenen hinter ihren Bücherstößen wurden eine Kulisse, die plötzlich den Ausblick freigab auf das blaue Meer und die weiße Stadt, die dann so schrecklich in Trümmer fiel.“65

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Dabei sind Mehrfachnennungen auf einer Seite nur als eine Nennung gezählt. Wie Italien, so wird auch das Saaletal bearbeitet – mit dem Vorteil, dass man dieses durchwandern kann und Bauernmuseen besucht werden können. Ellen Eppenstein erzählt, „dass ein 11jähriges Mädchen dort etwa 12 verschiedene Typen von alten Lampen abgezeichnet hatte, wiederum ein Beweis für die Geduld und den Arbeitseifer der Kinder, wenn man ihnen ihre Freiheit lässt.“ Eppenstein: Universitätsübungsschule (wie Anm. 16), S. 127f. Weinel: Leben (wie Anm. 16), S. 132. Katharina Franz, geb. Weinel: Schulzeit in der Universitätsschule Jena, in: Retter: Petersen (wie Anm. 16), S. 136f.

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Gemeinschaftsleben und Verantwortung Eine wesentliche Qualität des Berichts von Hans Wolff machen neben den vielen individuellen Facetten seine Beobachtungen und Äußerungen zum Zusammenleben und zur Zusammenarbeit der Kinder untereinander und zu seiner Rolle dabei aus. In seinem Rückblick hebt Hans Wolff hervor: „Bemerkenswert für das Verhalten im Raum war die absolute Rücksichtnahme der Arbeitenden aufeinander. Es war erstaunlich, wie sich die Atmosphäre im Raum auf jeden der zahlreichen Besucher übertrug [...].“66 Der „Gedanke der Rücksicht auf den Anderen“,67 der „Achtung und Hochschätzung von Arbeit jeder Art“,68 ein Umgang, wie er „unter gesitteten Menschen üblich ist“69 sind Erwartungen und tägliche geübte Regeln für groß und klein. Hospitanten „fällt die Arbeitsruhe auf, die andauert, wenn ich mit einer Gruppe auf dem Flur bin. Die übrigen Kinder arbeiten genau so weiter, als wenn jemand im Zimmer wäre.“70 Auch im Blick auf das Verhalten der Kinder in Gruppen sowie Bedeutung und Funktion der unterschiedlichen Gruppierungen ist Wolff äußerst aufmerksam. In der fünften Schulwoche beispielsweise beobachtet er gezielt, ob die frei gebildeten Gruppen „Dauerkameradschaften oder Arbeitsgemeinschaften mit der Tendenz der Umformung, der jeweiligen Beschäftigung entsprechend“ sind und ob sich beim „Gemeinschaftsleben der Kinder“ „ästhetische“ oder „ethisch-religiöse“ Ordnungsmotive finden lassen.71 In der darauffolgenden Woche notiert Wolff: „Das freie Gehen in selbstgewählten Gruppen auf dem Unterrichtsgang bewährt sich. Das Aufgezwungene der Reihenordnung fällt weg. Dafür achten die Einzelnen in den Gruppen von 2–4 gegenseitig aufeinander. Kleine Eigenbrödler nehme ich selbst bei der Hand.“ 72 Für diverse Aufgaben und „Ämter“ werden Verantwortliche gewählt – durch „Zettel die beiden Blumenmütterchen Frieda und Anna“,73 durch „Armhochheben“ Günther und Ewald für die „Ordnung auf dem Hofe und beim Unterrichtsgespräch“, für „Sauberkeit im Zimmer Hilde und Karl, für die Tafel Willi, Walter, Herbert und Erich“.74 Die Kasse wird von Ewald und Herbert verwaltet.75 Später bemerkt Wolff: „Die Verteilung möglichst vieler Ämter bewährt sich. (Karl: ‚Das leide ich nicht in ‚meinem‘ Schranke!‘) Steigerung des Verantwortungsgefühls. Gegenseitiges Belehren und Zeigen der Kinder untereinander kann ich oft beobachten.“76 Mit der Erweiterung der Schule werden dann „Patenschaften“ von Kindern der Obergruppe für Schulanfänger eingerichtet. „Diese konnten sich mit ihren Anliegen vertrauensvoll an ihre Paten werden.“77 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Hans Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 38. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 58. Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 38. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 40. Ebd., S. 92. Ebd., S. 79. Ebd., S. 81. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 94. Ebd., S. 86. Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 41. Katharina Franz erinnert sich sehr lebhaft an die

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Störungen und Konflikte können nicht ausbleiben. Wie geht die kleine Schulgemeinde damit um? In seinen einführenden Nachbemerkungen schreibt Petersen, es müsse der „führende Lehrer darauf bedacht sein, das rechte Verhalten immer wieder einzuüben bis es zu einer selbstverständlichen Lebensform für die Kleinen geworden ist. [...] Die von uns angestrebten Verkehrsformen setzten als erstes voraus, daß das Kind voll und ernst genommen wird, genau so wie ein Erwachsener, und daß der Lehrer vorangeht als der Meister schöner, natürlicher, ungekünstelter und angenehmer Formen, im Verkehre mit jedermann.“ Für die vielen Hilfsmittel und Übungen (Beratungen in der Gesamtgruppe, Mahner wählen lassen, Finger auf die Lippen, Mahnzettel) freilich gelte: „Alle diese Dinge sind gut und haben allesamt keinen anderen Nachteil wie den, daß sie dem Gesetze der Gewöhnung erliegen und so um ihre Wirkung kommen.“78 Es bedürfe deshalb immer wieder neuer Einfälle und immer wieder der Übung. Wolff berichtet über vielerlei Mittel und Wege, immer wieder neu zu einem rücksichtsvollen, für alle zuträglichen Arbeits- und Gemeinschaftsleben zu kommen. Dazu gehört das „gegenseitige Belehren und Zeigen“, das Gespräch im Kreis, wie Ellen Eppenstein erzählt: „,Wir bildeten einen Kreis‘, sagen dann die Kinder. Wenn etwas die Gemüter ernstlich beschäftigt, setzen sie sich im Kreis und besprechen ungezwungen die Sache mit dem Lehrer, wobei dieser sich auch Kritik gefallen lassen muss, denn er will ja freie kleine Seelen erziehen und freut sich immer, wenn sie aufrichtig zu ihm sind.“79 Indessen kommt es auch zu durchaus strengen Sanktionen: „Das Problem der Strafen rollt auf. Es ist zu beobachten, daß die Kinder mit ganz wenigen Ausnahmen die feinere Abstufung verschmähen und gleich starkes Geschütz auffahren.“80 Willi und Martin werden als „Störenfriede“ „auf Beschluß mehrmals hinausgeschickt“,81 wie auch Gustav.82 Insgesamt kommen die Kinder nicht ohne lenkende und vermittelnde Mitwirkung des Lehrers aus. Das wird deutlich, als Gustav wieder auffällt oder selbsternannte Polizisten ihr Amt mißbrauchen. „Einmal gibt schlechtes Betragen auf dem Heimweg Anlaß zu einer lebhaften Auseinandersetzung. Besonders Gustav, der immer und immer wieder das Missfallen Aller erregt, steht unter Anklage. Ich gebe dem Gespräch plötzlich eine unerwartete Richtung: Wir haben alle teil an der Schuld und müssen in Zukunft besser auf ihn achten, indem wir uns seiner mehr annehmen.“83

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Patenschaft, die sie als eine „Art Geschwister-Spiel“ wahrgenommen hat und an die Begegnungen auch außerhalb der Schule. „Zu den ersten bescheidenen Bildern, die ich mit meiner ersten Kamera, einer primitive Box, geknipst habe, gehören auch Portraits meines Schulpatenkindes Dorothee und ihrer um ein Jahr älteren Schwester.“ Die Schulpaten hatten auch Gelegenheit, die Untergruppe in ihrem Schulraum zu besuchen, und Katharina Franz berichtet über die vielen Beobachtungen, die sie dabei machen konnte. „Das Patenverhältnis konnte also dem älteren Kind nicht nur eine neue Freundschaft geben, sondern gleichzeitig auch ein sachliches Interesse an der Entwicklung des jüngeren wecken. [...] Es war dann eigentlich gar nicht überraschend, dass einige von uns davon träumten, eine eigene Schule aufbauen zu können.“ (Franz: Schulzeit, wie Anm. 65, S. 145f.) Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 12f. Eppenstein: Universitätsübungsschule (wie Anm. 16), S. 128. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 59. Ebd., S. 56. Ebd., S. 61. Ebd., S. 92.

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„Nachdem die Kinder ihren Garten betreut haben, spielen wir ‚Tausendfuß‘. Kette hintereinander, Karl läuft als Kopf, seine Arme sind die Fühler. – Da einige die Wege nicht beachten, bildet sich eine Gruppe von ‚Polizisten‘. Werner wird vor das Forum gebracht. Das Problem: Ehre und Ansehen der Gruppe, Verantwortung gegen die Gruppe in seinem Handeln steht praktisch vor den Kindern. (Augen unserer Nachbarn, Hausbewohner.) Wir gehen ganz leise und ohne zu sprechen in die Stube. Walter erzählt eine Geschichte, das heißt in Stücken: denn die ‚Polizisten‘ stören. Sie setzen sich zusammen auf eine Bank und nehmen sich das Recht heraus, stören zu dürfen. Äußere Dinge wie Säbel, Schild, Papierhelm spielen bei ihnen die Hauptrolle, ohne daß sie auf die wahre Aufgabe achten. Rede und Gegenrede der Störenden und der Gestörten, deren Hintergrund Gesehenes oder Gehörtes bilden (Polizisten – Kommunisten). Ich muß eingreifen. Die Kinder setzen die ‚Polizisten‘ ab und wählen vier neue Ordner, die ‚Anständigen‘.“84 „Auch will ich gleich erwähnen, daß ich nach meiner Auffassung eine noch viel zu große Rolle spiele bei der Aufrechterhaltung der Ordnung.“85

Manche Regelung wird wieder abgeschafft, so etwa das Amt des „Mahners“.86 Über eine analoge Erfahrung berichtet Wolff bei der Leistungsbewertung. Zunächst lässt er die Kinder die „Prädikate mitfinden“, auch das jeweils betroffene Kind. Das gründet im Interesse der Kinder an ihrer „Leistungskurve“, die sie den offen zugänglichen Zensuren entnehmen können und dem Eindruck, dass daraus eine günstige „Anspannung“ erwachsen könne, gegebenenfalls „das Minus wieder auszugleichen“. Allerdings überwiegt bald die Befürchtung, dass es hierdurch „eher zu Schädigungen“ kommen würde. Es scheint einem Kind schwer zu fallen, die „seelische Lage eines Mitmenschen“ zu erfassen, Rücksicht auf störende körperliche oder häusliche Verhältnisse zu nehmen. „Als kleiner Rechtsstandpunkt-Fanatiker wird es diese Dinge mit einzelnen Ausnahmen übersehen. Dann spielen auch Zu- und Abneigung eine Rolle.“87 Die Erteilung von Ziffernzensuren wird dann im Laufe der Zeit an der (späteren Jenaplan-) Schule weitgehend durch (objektive und subjektive) (Lern-) Berichte ersetzt.88 Insgesamt bleiben bei Wolffs Darstellung der Schulleiter und der Lehrer selbst als Akteure fast völlig im Hintergrund; es ist kein Handlungsprotokoll aus der Perspektive eines Akteurs, der den Schulalltag wie eine Lehrprobe, eine Musterlektion nach vorgefasstem Plan wie ein Regisseur inszeniert. Im Mittelpunkt der Beschreibung stehen vielmehr Lernen und Arbeiten der Kinder; wir erleben aus der Perspektive des beobachtenden Teilnehmers die Entwicklung einer Lern- und Arbeitsgemeinschaft – 84 85 86

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Ebd., S. 69f. Ebd., S. 71. „Durch eine Beschwerde über die Tätigkeit der Mahner, von denen einzelne ein Sonderrecht für sich beanspruchen oder einen Druck auf die Kameraden ausüben oder ihr Amt vernachlässigten, kommt das Gespräch auf diese Angelegenheit. Die Mehrzahl der Kinder entscheidet sich dafür, das besondere Mahneramt abzuschaffen und das gegenseitige Mahnen beizubehalten.“ (Ebd., S. 105.) Ebd., S. 39. Diese Überlegungen sind entwicklungspsychologisch plausibel. Die Anwendung von Gütekriterien bei der Leistungsbewertung und die angemessene Gewichtung der sozialen, fachlichen und individuellen Bezugsnorm sind kognitiv voraussetzungsreich und gelingen bekanntlich auch ausgebildeten Pädagogen keineswegs ohne weiteres. Vgl. Silvia-Iris Beutel/Wolfgang Beutel (Hg.): Beteiligt oder bewertet? Leistungsbeurteilung und Demokratiepädagogik, Schwalbach a.T. 2010. Arno Förtsch: Unsere objektiven und subjektiven Berichte, in: Petersen/Förtsch: Schaffen (wie Anm. 49), Weimar 1930, S. 101–111.

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auch der Bericht sucht die Kinder „recht zu verstehen“, sich „ernstlich“ in sie hineinzuversetzen. Der Lehrer ist Begleiter und Helfer. Er erzieht – im Rosseauschen Sinne – indirekt und greift nur selten direkt in die Verhaltensverhältnisse ein, beispielsweise dann, wenn die Kinder überfordert sind oder seine Hilfe erbitten. Die Eltern Es erscheint als fast selbstverständlich, dass der Beteiligung der Eltern und der Zusammenarbeit mit ihnen große Aufmerksamkeit gilt; ihnen ist der „Versuchscharakter“ der Schule bewusst. „[Das, PF] immer sichere Gefühl, mit der Zustimmung und der ganzen inneren Teilnahme der Eltern zu arbeiten, ist uns die stärkste Stütze gewesen, hier wie an allen Orten, wo Schulen ähnlicher Art entstehen, und wie ich es selber bei einem noch größeren und gewagteren Unternehmen erlebt habe, bei der Umformung der Realschule in Hamburg-Winterhude zu einer neunjährigen höheren Schule völlig neuer Arbeitsformen und Gesinnung.“89

Die Eltern sehen sich, so Ellen Eppenstein, als Partner hoch willkommen. Jederzeit können Eltern „unangemeldet in jede Stunde hereintreten, mit dem Lehrer nach vorhergehender Anmeldung über ihr Kind sprechen. Der Lehrer besucht außerdem einmal im Jahre jedes Elternhaus.“ Der Elternrat, dem für jede Gruppe drei Elternpaare angehören, trifft sich mindestens einmal im Monat mit Lehrern und Schulleiter, oft werden alle Eltern zur Elternversammlung einberufen, sie sind gut besucht, die Beteiligung ist lebhaft. Überdies gibt es noch Gruppenelternabende, bei denen Gelegenheit besteht, die Arbeit der Gruppe und Leistungen einzelner Kinder kennen zu lernen. 90 Eltern kommen auch als „Lernende“ (sehen beim „Gruppenleiter“, wie er die Kinder beim Lernen unterstützt), helfen beim Sandkastenbau, bei Nadelarbeiten, fahren mit bei der Klassenreise, bei der Instandhaltung der Räume, halten Vorträge (über die Herstellung der Brillengläser bei Zeiß), beim Ausschmücken der Räume, dem grundhaften Überholen der Fußböden.91 Ein Gespräch in einer Elternversammlung veranlasst Wolff, wie in den ersten Schulwochen, so ab dem Beginn des Winterhalbjahrs

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Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 5. S. auch Peter Petersen: Innere Schulreform und neue Erziehung, Jena 1925, S. 165–229. Eppenstein: Universitätsübungsschule (wie Anm. 16), S. 128f. Vgl. dazu auch den Bericht von Hans Wolff, der hervorhebt, wie wichtig die Besuche im Elternhaus sind, um die für das Lernen wichtigen „Faktoren des außerschulischen Lebens zu ergründen“ (Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 47). Ebenso selbstverständlich sollen deshalb für die Eltern „die Schultüren nicht nur nominell, sondern wirklich geöffnet sein. [...] Die Eltern stören weniger als manche Fachhospitation. Außerdem fühlen sie bald, welche Sphäre im Zimmer herrscht, und passen sich schnell an. Gewiß haben sie meist keine Zeit. Doch ist es nicht ein schönes Zeichen, wenn [...] Mütter noch schnell mit der Markttasche sich eine Stunde ihrer wertvollen Zeit absparen für den Schulbesuch, oder wenn Väter als ihren ersten Gang im Urlaub den Weg zur Schule wählen oder einen arbeitsfreien Tag [...] zum Besuch des Unterrichts verwenden?“ (Ebd., S. 49). Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm 14), S. 49ff.

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„vor jedem Wochenschluß eine freie Aussprache über uns und unser Verhältnis zueinander einzuleiten, in der wir kleine Verkrampfungen in der Seelenlage durch ein offenes Wort auf einfache und natürliche Art lösen.“92

Auch Katharina Franz unterstreicht das Engagement der Eltern. Sie hatten sich ja bewusst für die Universitätsschule entschieden und „konnten also auch viel stärker teilnehmen an dem, was in der Schule geschah.“ Und das ist nicht wenig: die Mitwirkung bei der Weihnachtsfeier und den umfangreichen Vorbereitungen, die Mithilfe von Vätern im Werkraum, der Mütter als Betreuerinnen bei Wanderungen, „über viele Wochen hin“ die Vorbereitung der Schulspeisung.93 Eine Elternbibliothek wird eingerichtet. Elternabende werden nicht für Formalia und Nebensächliches verwendet, sondern für pädagogische Fragen und Beratungen. Auf einen Elternrat wird im ersten Jahr verzichtet, denn die „Gesamtheit der Eltern wollte teilhaben an den Dingen, die sonst der Elternrat erledigt hätte.“94 Nicht zuletzt wird auf Initiative von Eltern der Freundeskreis der Universitätsschule gegründet, der als eingetragener Verein von 1926 bis 1940 besteht und die Schule unterstützt.95 ZUR BEDEUTUNG DES LEHRERHANDELNS: DIE „ADAPTIVE PROFESSIONALITÄT“ VON HANS WOLFF Professionell gebildete Leser von heute besticht bei der Lektüre des Berichts von Hans Wolff unmittelbar dessen Lebendigkeit, Vielfalt und Genauigkeit, die Fähigkeit von Wolff, nicht nur genau zu beobachten, sondern das Beobachtete auch festzuhalten und schriftlich darzustellen. Um der Wahrnehmung des Berichts von Hans Wolff eine verstärkte intersubjektive Basis zu sichern, habe ich drei Kolleginnen – eine Doktorandin aus dem Förderprogramm „Demokratisch Handeln“ und zwei als Trainerinnen für Verständnisintensives Lernen ausgebildete, in Unterrichtsbeobachtung sehr erfahrene Lehrerinnen – gebeten, unabhängig voneinander den Bericht von Wolff zu lesen und in Form eines Ratings sowohl allgemein zu beurteilen als auch gemäß schul- und demokratiepädagogischer Qualitätskriterien einzuschätzen.96 Ihnen waren die „Einleitenden Bemerkungen“ von Petersen und Wolff nicht bekannt, sondern nur der Berichtstext von Wolff und dessen allgemeiner Entstehungskontext als mitlaufend verfasster Bericht über das erste Schuljahr der umgegründeten Universitäts-Übungsschule. Bei der allgemeinen Einschätzung war ein übereinstimmender Tenor der beeindruckten Leserinnen, es müsse sich um einen herausragenden Lehrer handeln. Sowohl das Wahrnehmungs- und Handlungsniveau im Einzelnen als auch die Gestaltungsdynamik insgesamt seien äußerst ungewöhnlich. Vor allem aber beeindruckt die dargestellte Praxis selber. Es erstaunt, mit welcher souveränen Gestaltungsfähigkeit Wolff von Anfang an Themen, methodische 92 93 94 95 96

Vgl. Anm. 59. Franz: Schulzeit (wie Anm. 16), S. 144f. Ebd., S. 51f. S. Anm. 113. Gemäß den Qualitätskriterien des Deutschen Schulpreises und der DeGeDe – Merkmale (wie Anm. 20).

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Arrangements, Formen der inneren und äußeren Differenzierung, von den Kindern mitgebrachte Fragen beziehungsweise Erlebnisse oder Themen einerseits und schulische vorgesehene Stoffe andererseits zu verbinden versteht. Wolff greift alltägliche Erfahrungen der Kinder auf, wichtige oder für die Kinder bedeutsame Ereignisse aus Nah und Fern, er setzt Methoden, Unterrichtsmedien und Arbeitsmittel flexibel und kontrolliert ein (Lob für die Thüringische Fibel, S. 23) – und verabschiedet sich davon (wie vom Katheder, den Bänken, der Schiefertafel oder der gruppenöffentlichen Ziffernbewertung, S. 39), wenn er feststellt, dass sie nicht förderlich sind. Er adaptiert den Stundenplan an die Aufmerksamkeitsspanne beziehungsweise das Erholungsbedürfnis der Kinder, an die Jahreszeit und an die veränderliche Balance der didaktischen Großformen (etwa bei der Einführung der Wochenanfangsund Schlußfeier, S. 110). Offensichtlich verfügt er nicht allein über ein sehr großes methodisch-didaktisches Repertoire und Stoff wissen, sondern auch über die Fähigkeit, tatsächlich zusammen mit den Kindern – also co-konstruktiv – eine Lern- und Arbeitsgemeinschaft entstehen zu lassen, deren Gegenstände und Sozialformen immer wieder an Möglichkeiten und Bedürfnisse der Kinder angepasst werden. Wir sprechen heute, um eine solche Qualität pädagogischer Berufskompetenz begrifflich zu fassen, von „adaptiver Routine“ oder „adaptiver Professionalität“, und, wenn es um die Fähigkeit geht, das Lernen und Verstehen der Kinder co-konstruktiv zu begleiten und zu verstehen, von einem „Verstehen zweiter Ordnung“. Ein solches „Verstehen zweiter Ordnung“ als Kern adaptiver Professionalität97 ist nicht allein als pädagogische Berufskompetenz im vollen Sinne des Wortes grundlegend, weil damit für die alltägliche und unmittelbare Interaktion, den praktischen Umgang mit den Heranwachsenden in der Verschränkung von Verstehen und Verstanden werden ein Fundament gegenseitiger Anerkennung geschaffen wird. Diese Struktur wechselseitiger Verständigung bildet zugleich den Kern demokratischen Handelns und demokratischer Erfahrung – das, was Jürgen Habermas mit dem Titel seiner Demokratietheorie als die „Einbeziehung des Anderen“ programmatisch postuliert.98 Es ist für die demokratiepädagogische Einschätzung nicht nur der Praxis der UniversitätsÜbungsschule, sondern darüber hinaus auch der Pädagogik Petersens von erheblicher 97

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Vgl. dazu Peter Fauser u.a.: „Verstehen zweiter Ordnung“ als Professionalisierungsansatz. Das Entwicklungsprogramm für Unterricht und Lernqualität – ein Arbeitsbericht, in: Florian H. Müller u.a. (Hg): Lehrerinnen und Lehrer lernen. Konzepte und Befunde zur Lehrerfortbildung, Münster 2010, S. 125–143 sowie Peter Fauser/Jens Rißmann/Axel Weyrauch: Das Entwicklungsprogramm für Unterricht und Lernqualität. Lehrerfortbildung als theoriegeleitete Intervention und Ausbildung adaptiver Routinen, in: Beiträge zur Lehrerbildung. Unterrichtsforschung und Unterrichtsentwicklung. Themenheft zum Kongress 2009 der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung und der Schweizerischen Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der Universität Zürich, 27. Jahrgang, Hf. 3 (2009), S. 361–371; Peter Fauser/Jens Rissmann/Axel Weyrauch: Das Entwicklungsprogramm für Unterricht und Lernqualität – Theoriegeleitete Intervention als Professionalisierungsansatz, in: Christian Kraler u.a. (Hg.): Kulturen der Lehrerbildung. Professionalisierung eines Berufsstandes im Wandel, Münster u.a. 2012. Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen: Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996. Zur demokratiepädagogischen Interpretation von „Verstehen zweiter Ordnung“: Peter Fauser: Warum eigentlich Demokratie? Über den Zusammenhang zwischen Verständnisintensivem Lernen, Demokratiepädagogik und Schulentwicklung, in: Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.): Demokratie, Lernqualität und Schulentwicklung, Schwalbach a.T. 2009, S. 17–42.

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Bedeutung, dass Petersen sich über die grundlegende Bedeutung dieser auf Wechselseitigkeit angelegten Interaktionsstruktur völlig im Klaren ist, sowohl im Hinblick auf die Dimension der Macht, also die Beziehungsebene, als auch im Hinblick auf den Inhalt, die kognitiv-strukturelle Dimension der Interaktion – ohne von einem „Verstehen zweiter Ordnung“ zu sprechen oder demokratietheoretisch zu argumentieren. Petersen stellt klar, dass die machtförmige Beziehungsstruktur der alten Schule überwunden werden muss: „Was zunächst die Stellung des Lehrers angeht, so ist abzulehnen die von Ziller ausgearbeitete Forderung, welche den Lehrer zu einem absoluten Fürsten innerhalb seiner Klasse macht.99 Die kognitiv-strukturelle Seite dieser aus unserer Sicht elementaren pädagogischen Berufskompetenz des „Verstehens zweiter Ordnung“ charakterisiert Petersen so: Der Erwachsene muß, um Kinder „recht zu verstehen, sich ernstlich in sie hineindenken und immer wieder von sich weg sich in sie hineinversetzen [...], um nicht seine Art zu denken und sich mit den Gegenständen auseinanderzusetzen, schematisch auf die Kinder zu übertragen.“100 99

So programmatisch bei seiner Ansprache bei der Eröffnung der „Erziehungswissenschaftlichen Anstalt“ am 14.5.1924, in: Petersen: Schulreform (wie Anm. 54), S. 70. 100 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 17f. Zum Verständnis des Lehrerberufs Peter Petersen: Der Bildungsweg des neuen Erziehers auf der Hochschule, in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S 32–54. Antrittsvorlesung in Jena am 3. November 1923. Zuerst in der Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Januar 1924. Sehr differenziert entfaltet Petersen die Spezifik dieser professionellen Interaktionsqualität in: Der Lehrer als „Führer“ im Unterricht, in: ders.: Schulreform (wie Anm 54), S. 253–264, der Niederschrift eines Vortrags während des Schulkongresses in Kopenhagen vom 12.–14.4.1924 unter dem Titel „Wann darf ein Lehrer in den Unterricht eingreifen?“ Hier wendet er sich gegen die „alte Seminarpsychologie, die Herbart folgte“. Nimmt man ihr folgend an, „daß des Menschen Seelenkräfte von außen her geformt werden müssen, so ergibt das die weitere Forderung, solche Methoden zu ersinnen, durch welche der Lehrer jene Kräfte heraustreibt und bildet. Das Frage- und Antwort-Spiel, die Katechese [...] usw. gehören in diesen Kreis.“ (S. 254f.) Petersen führt gegen diese Instruktionspädagogik die Erfahrungen und Erkenntnisse der neueren Kinderforschung und Schulreform ins Feld – Franz Cizek, A. S. Neill, Adolphe Ferrière, Maria Montessori, Berthold Otto, Ovide Decroly und die „Neuen Schulen“ und „Gemeinschaftsschulen in Deutschland, England, Frankreich, Belgien, Russland, Dänemark.“ Sie betonen die eigenen Wachstumskräfte der Kinder und deren Fähigkeit zu eigener Orientierung. „Immer soll der neue Erzieher darauf bedacht sein, Menschenleben sich gestalten zu lassen und der eigenen Kraft des Aufwachsenden zu vertrauen, die stärker ist als die Macht des Lehrers.“ (S. 260). Daraus ergibt sich für das Lehrerhandeln das Gebot einer zurückhaltenden aufmerksamen Begleitung – wenn auch nicht Passivität: Im normalen Unterricht muss demnach dem „Lehrer nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zugestanden werden, auch in Arbeiten [...] einzugreifen. Freilich nur unter dieser Bedingung: er muß in dem, was der Schüler schafft, so mitleben, mitschwingen, daß seine Korrektur oder ein ergänzender, weitertreibender Eingriff wie mit Notwendigkeit aus dem Gesetz entspringt, unter dem dieser Schüler arbeiten muß. [...] So erlebt der Schüler [...] nur die Freude an den neu geweckten Energien. In jedem Falle, wo eine andere Wirkung eintrat, bleibt dem Lehrer nur übrig zu schweigen, will er nicht nach alter Weise den Irrweg der Belehrung, d.h. des Überredens oder gar den einer autoritativen Entscheidung gehen. Er schweige und warte, bis er sich einen besseren Weg zum Schüler erschlossen hat“. (S. 258f.) In einem Bericht über die Hamburger Gemeinschaftsschulen fordert Petersen 1922 im Blick auf Verhalten und Stellung des Lehrers: „Weg mit dem Theater der Würde, Herblassung und Vollkommenheit! Fort mit der Pedanterie und dem Ordnungsteufel! [...] Der Erzieher mitten hineingestellt in die Kindergemeinschaft, er und die Kinder vor gemeinsame Aufgaben! [...] Für eine so hohe und freie Aufgabe musste [...] der Lehrer in erster Linie Mensch sein, daher nicht Beauftragter irgendeiner Zweckgemeinschaft, eines Standes, einer Partei, einer Kirche. Rein als Mensch dem Menschen sollte der Lehrer dem Kinde gegenübertreten können.“ Petersen:

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Ein solches „Verstehen zweiter Ordnung“ stellt das Interaktionsmuster, das Petersen in den „Musterlektionen“ der an Herbart orientierten Lehrerschule verkörpert sieht und scharf kritisiert, pädagogisch gleichsam vom Kopf auf die Füße. Die alte Schule und das ihr entsprechende pädagogische Handeln war eben nicht darauf ausgerichtet, dass Lehrpersonen „immer wieder von sich weg sich in sie [die Kinder, P.F.] hineinversetzen“. Im Gegenteil. Es ging um „Fixigkeit in der Auffassung des Gesprochenen, des Gemeinten, des als Antwort Erwarteten, bei hinreichend langem Einspielen mit dem Lehrer, als dessen Meinung und als von ihm erwartete Antwort aus seiner Art zu Fragen und seinem Mienenspiel zu Erratenden“.101

Was Hans Wolff praktiziert und offenbar professionell beherrscht, repräsentiert also einen schulpädagogischen Paradigmenwechsel, den wir heute als Wechsel vom „Lehren zum Lernen“ pointiert zum Ausdruck bringen.102 Mit einem solchen Wechsel von der „alten“ zur „neuen Schule“ verbindet sich – und das ist von weitreichender Bedeutung – nicht nur ein Wechsel der institutionellen Muster und didaktischen Formen, sondern auch ein Wechsel der grundlegenden pädagogischen Handlungsroutinen. Freilich: Die Unterrichts- und Lehrerforschung unterstreicht, dass ein solcher Wechsel von einer Routine der inszenierten Belehrung zum „Verstehen zweiter Ordnung“ professionell gelernt werden muss.103 Dabei ist es nicht mit einer Umstellung von sogenannten Theorien großer Reichweite getan – also dem Wissen und der Zustimmung zu fachlich anerkannten Prinzipien und Erkenntnissen, etwa von Ergebnissen der Lehr- oder Lernforschung. Ein solcher Wechsel stellt vielmehr hohe Ansprüche an das „Berufshandwerk“, an die praktischen Routinen, die zu erwerben spezifische Formen des beruflichen Lernens erfordert. Möglicherweise bildet überhaupt die Veränderung der pädagogischen Berufsroutinen eine zumindest notwendige, wenn nicht sogar die entscheidende Voraussetzung für pädagogische Reformen.104 Hans Wolff scheint, vor diesem Hintergrund betrachtet, im Blick auf die neu gegründete Universitätsschule ein Glücksfall gewesen zu sein, vielleicht sogar eine echte Ausnahmeerscheinung.105 Für die Überzeugungskraft eines Schulversuchs, der

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Gemeinschaftsschulen, S. 152f. Zum Bild des Kindes s. auch ders.: Jugendfürsorge als Erziehungsarbeit. Ein Versuch vom Standpunkte der „Neuen Erziehung“, in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 265–293, insb. S. 270ff. (= Niederschrift eines Vortrags in Lübeck am 1. September 1924). Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 7f. Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2008), S. 8ff. Grundlegend dazu: Jürgen Oelkers/Fritz Oser: Die Wirksamkeit der Lehrerbildungssysteme. Von der Allrounderbildung zur Ausbildung professioneller Standards, Zürich 2001; Arno Combe/Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt a.M. 1996; Fauser/Rissmann/Weyrauch: Entwicklungsprogramm (wie Anm. 97); Rolf Dubs: Lehrerbildung zwischen Theorie und Praxis, in: Eva-Maria Lankes (Hg.): Pädagogische Professionalität als Gegenstand empirischer Forschung, Münster u.a. 2008, S. 11–28. Zum Erwerb von Unterrichtskompetenzen insb. S. 18; Christian Kraler/Helga SchnabelSchüle/Michael Schratz/Birgit Weyand (Hg.): Kulturen der Lehrerbildung. Professionalisierung eines Berufsstandes im Wandel, Münster u.a. 2012; Lankes: Professionalität, insb. S. 201–260 zur „Verbreitung von Innovationen im Bildungssystem: Implementation und Transfer“. Vgl. dazu Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19 u.a., 2009, 2010). Wolff wurde auch von den Eltern offenbar sehr geschätzt. Das geht aus den Protokollen der Elternversammlungen deutlich hervor.

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modellhaft sein und werden und in die Breite wirken soll, würde dieser Glücksfall indessen auch ein Problem darstellen – denn er würde bekannten Abwehrargumenten Nahrung geben, die Reforminitiativen auf sich ziehen. Immer werden dabei, berechtigt oder nicht, besondere Bedingungen und unvergleichlich günstige Umstände als Argument gegen eine Übertragbarkeit ins Feld geführt. Dies weiß wohl auch Petersen, und er beeilt sich, solchen Einwendungen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er beschreibt den „Zweck des ersten Versuchs“ so, dass unter überall herstellbaren Bedingungen gezeigt werden soll, dass eine solche Schularbeit möglich sei. Deshalb werde man „die Arbeit [...] so durchführen, daß er an keinem Orte an den finanziellen Mitteln scheitern kann, mit anderen Worten an nichts außerhalb des Erziehungswillens.“106 Das soll auch für den Lehrer gelten: Der erste Lehrer der Universitätsschule, Hans Wolff, kam, so Petersen, aus einer „gewöhnlichen Landschule, war seminaristisch vorgebildet, hatte 4 Jahre hindurch die Grundschulklasse eines Dorfes geführt, kannte neuere Schulen nur aus der Literatur und von einer achttägigen Besuchsreise, die er nach Leipzig, Dresden und Berlin gemacht hatte. Auch für ihn war der Aufgabenkreis in dieser Klasse völlig neu; jedenfalls war er kaum anders vorbereitet, als es manch anderer sein dürfte [...].“107 Allerdings steht diese starke Betonung der Normalität der Übungsschule und ihres Lehrer in deutlichem Kontrast zu dem, was Petersen einige Seiten später unter der Überschrift „Lehrerwissen“ über die Berufskompetenz ausführt, die die neue Schule verlangt; das liest sich wie ein kompetenztheoretisch gewendetes Portrait von Hans Wolff: „Es ist natürlich, daß sich auch ganz neue Anforderungen an den Lehrer ergeben, der als der rechte Führer einer Gruppe solche Schularbeit meistern soll. Seine Kenntnisse müssen sich unter anderem erstrecken auf das ganze Naturleben der Gegend, was da wächst und was da kreucht und fleucht; denn an all diesem hat das Kind ein lebhaftes Interesse; auf das Leben und Treiben der Menschen in der Gegend, auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse dort, nicht so sehr in ‚volkswirtschaftlicher‘ als vielmehr in rein menschlicher Einstellung, sie ‚können‘, nicht davon wissen und darüber belehrt sein und Bücher gelesen haben. Dazu nun alle technischen Dinge beherrschen: die Wandtafel vor allen Dingen, Formen in Ton, Ausschneide-, Kleb-, Falz-, Hefttechniken, Arbeit in Holz und Pappe, am Sandkasten, die Behandlung von Aquarien, Terrarien. Dazu natürlich die Methoden des Lesens, Rechnens und Schreibens und nicht nur eine, sondern möglichst alle; es gibt nicht eine allein seligmachende Methode, sondern der neue Lehrer muß mehrere kennen und lehren können, um sich den Kindern anzupassen und nicht selber zum Sklaven der Methode zu werden und in sich zu verholzen.“108

Hans Wolff war von Petersen begeistert. Aber das erzeugt nicht die eminente Qualität einer adaptiven Professionalität, die seine Arbeit auszeichnet. Es ist auch kaum 106 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 5. Dass Wolff, der dann über Kinderzeichnungen promoviert, ein beeindruckend vielseitiger Mensch war, dafür bietet sein Rückblick von 1984 ein schönes Beispiel: Im Beethoven-Jahr 1927 bereitet er mit den SchülerInnen – im Musikzimmer der Familie Petersen – den Besuch eines Konzerts vor, bei dem Wilhelm Furtwängler im Jenaer Volkshaus u.a. Beethovens Neunte Symphonie dirigiert. Nach einer Einführung spielt Wolff auf Bitte der Schüler die ganze Symphonie aus dem Klavierauszug vor. Vgl. Hans Wolff: Anmerkungen (wie Anm. 6), S. 40. 107 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 5. 108 Ebd., S. 18.

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vorstellbar, dass Wolff nach dem Besuch einer Vorlesung und kurzen Stipvisiten an einigen Reformschulen aus dem Stand in der Lage gewesen ist, professionell auf dem Niveau zu handeln, das sein Bericht dokumentiert. Könnte es sein, dass von Petersen – durch unmittelbare, regelmäßige Präsenz und Zusammenarbeit im Unterrichtsalltag der Schule – eine routinebildende Steuerungswirkung für Wolff und damit für die Schule und das Lernen der Kinder ausging? Wie häufig Petersen während normaler Tage oder Wochen in die Schule gekommen ist, lässt sich aus dem Bericht Wolffs nicht sicher erschließen. Petersen erwähnt in seiner Einführung „wöchentliche pädagogische Konferenzen“.109 In seinem Bericht nennt Wolff Petersen ausdrücklich nur zweimal.110 An den insgesamt sieben Sitzungen des Elternrats im Schuljahr 1924/25 nimmt Petersen immer teil, wie auch an denen der darauffolgenden Schuljahre.111 Später, im Sommer 1925, erteilt Petersen den Religionsunterricht in einer Gruppe.112 Wie in den Beratungen des Elternrats und den Elternversammlungen, so ist Petersen auch bei denen des am 8. März 1926 gegründeten „Freundeskreises der Universitätsschule Jena“, sieht man von den Aufenthalten in den USA und Chile 1928 und 1929 ab, praktisch immer anwesend.113 Ellen Eppenstein berichtet in 109 Petersen: Schulleben (wie Anm. 49), S. 5; Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. V. Das wird durch Wolffs Erinnerung erhärtet: „Petersen fühlte sich durchaus als Glied dieser Gemeinschaft. Er gestaltete wie jeder Lehrer von uns die reihum gehende allmontägliche Morgenandacht mit dem Arbeitsspruch für die kommende Woche. In den Konferenzen an jedem Montagnachmittag herrschte ein kollegialer Ton der Offenheit.“ Ebd., S. 42. 110 Am 5. Schultag findet „Elise unter den Büchern ein herbäisches. Da ich es nicht lesen kann, will sie Herrn Prof. Petersen fragen. Als er uns besuchen kommt, ist sie auch schon mit dem Buche bei ihm. Natürliche rufen die fremden Laute bei den Kindern Heiterkeit hervor.“ Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 61. – In der 30. Schulwoche (26.1.–7.2.1925) wird Wolff krankheitsbedingt an einem Tag durch Petersen vertreten. Ebd., S. 133. Petersen erwähnt in seiner Einführung, dass er die Kinder „Ende Januar einmal im Sinne der alten Schule auf ihr Lesen und Rechnen systematisch prüfte, an Aufgaben, die ihnen fremd waren“ und berichtet, „wie hier bei jedem Kinde, das ich [Petersen, P.F.]‚vornahm‘, um einmal seine Leistung genau kennen zu lernen, nichts wie Freude erstrahlte, mit mir an einem Neuen zu lesen, zu rechnen, zu schreiben, nichts von Unterdrücktem, nichts von Befangenheit oder gar Angst.“ (Ebd., S. 19.). Diese Äußerung spricht jedenfalls nicht für eine regelmäßige Präsenz und praktische Mitwirkung Petersens im Alltag der Schule. 111 PPAV, Protokollbuch des Elternrates der Seminarschule/Universitätsschule Jena. Einen „Elternrat“, dem gewählte Vertreter der Eltern angehören, gibt es erst mit dem Schuljahr 1925/26. (Ebd., Protokoll v. 27.3.1925) Davor beschließen die Eltern, auf eine solche Wahl zu verzichten, weil die kleine Zahl noch die Beteiligung aller zulässt. (Ebd., Protokoll v. 2.5.1924.) 112 Das Protokoll des Elternrats vom 12.5.1925 berichtet: Nach einer „lebhaften Aussprache“ über die Gestaltung des Religionsunterrichts „zeigt sich dabei, wie schwierig die Klärung dieser Frage ist. Einstimmigkeit herrscht zunächst darüber, daß ein irgendwie dogmatisch gebundener Religionsunterricht nicht in Frage kommen kann.“ Der zehn Tage später stattfindenden Elternversammlung will man vorschlagen, dass Petersen den Religionsunterricht übernehmen solle. Er berichtet dort über die „Behandlung der Angelegenheit im Elternrat“. Das Protokoll der Elternversammlung hält dann fest: „Um einen Überblick zu gewinnen, wie die Kinder der dritten Gruppe selbst zu diesen Fragen stehen erklärt sich Herr Prof. P. [Petersen, P.F.] bereit, für diese Gruppe im Sommersemester den Unterricht zu übernehmen.“ Ebd., Protokolle des Elternrats v. 12.5.1925 und der Elternversammlung vom 22.5.1925. 113 Zu den internationalen Kontakten vgl. Susan Freudenthal-Lutter: Peter Petersens Beziehungen zu ausländischen Reformpädagogen und Reformbewegungen, in: Klaßen/Skiera: Pädagogik

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ihrer Darstellung der Universitäts-Übungsschule (!) von 1926 darüber, wie Petersen in einem Schlusswort auf die Beiträge zur Halbjahresfeier eingeht.114 Soweit die Protokolle dies erkennen lassen, hatte Petersen bei den Versammlungen immer einen aktiven Part – durch Vorträge, Berichte, Diskussionsbeiträge, von den vielen Eingaben, Anträgen, Verhandlungen in Schulangelegenheiten ganz abgesehen. Dass die Schule für Petersen immer wichtiger geworden ist – auch wenn er ursprünglich gar nicht im Sinn hatte, die Tradition der Universitätsschule weiterzuführen –, und dass er sich dann wissenschaftlich, administrativ, schulpolitisch und konzeptionell immer mehr mit der Schule beschäftigt hat, das kann nicht bezweifelt werden. Mit dem „Kleinen Jena-Plan“ und seiner internationalen Entdeckung begann eine enorme pädagogischfachliche und publizistische Dynamik, erst Recht aber entstand ein expandierendes Geflecht von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Der pädagogisch-praktische Anfang des späteren Jenaplans in der Universitätsschule allerdings stand wohl nicht unter dem unmittelbaren alltäglichen und handlungslenkenden Einfluss Petersens. Angesichts der unmissverständlich klaren Aussage von Hans Wolff – „In der Praxis der Schule ließ mir Prof. Petersen völlig freie Hand.“ – und angesichts des immensen sonstigen Arbeitspensums, das Petersen als neuberufener Ordinarius beim Aufbau seiner Erziehungswissenschaft und der Lehrerbildung in schwieriger Zeit und angesichts vielfältiger Konflikte zu bewältigen und sich vorgenommen hatte, man führe sich zudem die Fülle der Vorträge, Publikationen, die Betreuung der Dissertationen und so weiter vor Augen –,115 kann man sich eigentlich nicht vorstellen, dass Petersen etwa täglich steuernd in der Schule anwesend war.116 Das mag sich später, vor allem während des Zweiten Weltkriegs, geändert haben. Das Bild, das einer seiner späteren Schüler, Theo Dietrich, zeichnet, der Petersen in der Kriegszeit im Wintersemester 1940/41 kennengelernt und 1946 bis 1949 als Doktorand bei ihm gearbeitet hat, vermittelt jedenfalls einen etwas anderen Eindruck – auch dabei erscheint Petersen insgesamt eher in der Rolle eines Beraters und teilnehmenden Beobachters als in der eines im Alltag mithandelnden Kollegen. „Während des Krieges musste ich eines Morgens um 8 Uhr in der Universitätsschule sein. Auf dem Wege nach dort entdeckte ich zwischen den Dahineilenden einen Mann, rechts drei Kinder an der Hand, links vier. Es war Petersen. Das äußerste Kind trug seine verschlissene Aktentasche. Die (wie Anm. 40), S. 43–62. Der Freundeskreis wird auf eine Initiative von Eppenstein und Theil gegründet. Sie schlagen in einer Elternversammlung am 26.1.1926 vor, die Schule und ihre Arbeit bei einer öffentlichen Veranstaltung bekannt zu machen, um „einen größeren Freundesund Helferkreis zu schaffen.“ (PPAV, Protokoll v 26.1.1926) Zu dieser Veranstaltung in den Rosensälen mit einem Vortrag von Petersen kommen rund 200 Teilnehmer. Dort wird die Gründung des „Freundeskreises“ angekündigt. (Ebd., Protokoll v. 10.2.1926). Der Freundeskreis gründet sich am 8.3.1926 und besteht als eingetragener Verein bis zu seiner Auflösung am 23.2.1940. (UAJ, Bestand S, Abt. I, Nr. 312, Bl. 1r–19v.) 114 Ellen Eppenstein: Universitätsübungsschule (wie Anm. 16), S. 130. 115 Vgl. die Literaturlisten bei Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 4) und die Aufstellung der Lehrveranstaltungen und Vorträge bei Retter: Petersen (wie Anm. 16), S.105ff. 116 Rückblickend, im Abstand von 60 Jahren, schreibt Katharina Franz, geb. Weinel und Tochter von Ada Weinel, Schülerin an der Universitätsschule: „Wenn auch alles, was unser Schulleben so sehr von dem in anderen Schulen unterschied, auf ihn zurückging, so war er doch am meisten von uns entfernt durch die Distanz seines Amtes und seiner Autorität.“ Siehe Franz: Schulzeit (wie Anm. 16), S. 142f.

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Peter Fauser Kinder liefen neben dem fast doppelt so großen Manne einher und versuchten, durch schnelleres Laufen die weit ausgreifenden Schritte Petersens aufzuholen. Was sie sprachen, konnte ich nicht hören. Petersen lachte zwischendurch laut auf. Sie schienen zu scherzen. Dieses Bild konnte ich später wiederholt beobachten. Petersen ging dann meist mit den Kindern bis in die Gruppenräume der Schule. Er lebte in und mit seiner Universitätsschule. Oft saß er dort im Kreise der Kinder. Er war den Kindern und ihren Eltern vertraut, und diese hatten Vertrauen zu ihm. Sonnabends unterrichtete er in der Obergruppe ‚Religion‘. Er setzte sich mit zu den Schülern in den ‚Kreis‘ und verkündete das Evangelium in Form einer Feier.“117

ZUM FACHLICHEN KONTEXT: DIE „ALTE“ UND DIE „NEUE SCHULE“ Die „Einführenden Mitteilungen und Betrachtungen“ zu dem 1925 erschienenen ersten Schulbericht mit zwei einleitenden theoretisch-konzeptionellen Abschnitten (S. 1–20 von Petersen, S. 21–54 von Hans Wolff) sind nicht vor der Schulgründung beziehungsweise vor dem ersten Schuljahr verfasst worden. Sie sind deshalb, dies sei nochmals hervorgehoben, nicht im Sinne eines systematisch angelegten Gründungskonzepts zu verstehen, sondern bilden rückblickend geschriebene Einführungen und pädagogische Standortbestimmungen im Verhältnis zu dem nachfolgenden ausführlichen Schulbericht Wolffs. Der Leser wird von Petersen als dem Schulleiter und Wolff als dem Lehrer mit geteilten Rollen wie ein fachkundiger zeitgenössischer Besucher der Schule geführt. Petersen erläutert den weiteren Kontext: die schulische Vorgeschichte, die äußere Gestaltung (Schulraum, Pause) und den institutionellen Rahmen (Stofffrage und unterrichtliche Ziele) einschließlich der besonderen Anforderungen an Kompetenzen und Wissen des Lehrers sowie einige wichtige pädagogische Grundfragen. Hans Wolff geht aus einer spezielleren grundschulpädagogischen Perspektive auf Fragen des Lehrplans und der Grundschuldidaktik einschließlich der Zusammenarbeit mit den Eltern ein. Die Schule wird wie eine vorbereitete, pädagogisch gestaltete Umgebung, als Erfahrungs- und Lernraum beschrieben und als ganze charakterisiert. Bei der schulpädagogisch-konzeptionellen Standortbestimmung – auch im Verhältnis zur Tradition der Herbartianer und der bisherigen Universitäts-Übungsschule durch Peter Petersen – sind die einleitenden Bemerkungen Petersens zur Schulgeschichte, mehr aber noch seine Charakterisierung der alten und der neuen Schule durch einen Vergleich der Raumgestaltung besonders wichtig. Während Petersen bei seiner Ansprache anlässlich der Gründung der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt am 14. Mai 1924 auf abgrenzende Polemik gegenüber der „alten Übungsschule“ verzichtet und stattdessen in einer Rhetorik der erziehungswissenschaftlichen Kontinuität die neue „Versuchsschule“ mit deren neuen Akzenten nicht zuletzt als zeitgemäße Fortführung und Weiterentwicklung des Früheren erscheinen lässt, macht der vergleichsweise kurze Text über die Bedeutung des Schulraums klar, wie hart der konzeptionelle Bruch wirklich ist.118 117 Theo Dietrich: Die Pädagogik Peter Petersens – eine Herausforderung an die Gegenwart, 3 München (1 1958) 1973, S. 12. 118 Petersen geht in seiner Ansprache bei der Eröffnung der EA ausführlich auf die von Stoy und Rein geprägte Vorgeschichte der Jenaer Pädagogik ein, die den „Ruhm des Jenaer Universitätsseminars

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Zwar betont Petersen zunächst auch hier einerseits die Kontinuität im Verhältnis zu Vorgeschichte und Vorgängern, hebt die Verdienste von Stoy und Rein hervor und spielt den Konflikt über die Fortführung der Schule herunter.119 Der achtungsvolle Ton, mit dem Petersen seine universitären Vorgänger würdigt, mildert aber nicht den scharfen Kontrast, den er zwischen der alten Universitäts-Übungsschule und der neugegründeten Universitätsschule herausarbeitet – was dann eine heftige Reaktion Reins sowie seiner Schüler und Mitarbeiter auslöst. Es geht dabei um nichts weniger als eine radikale pädagogische Neuausrichtung, deren fundamentale Bedeutung mit der knappen Schilderung der Gestaltung des alten und des neuen Schulraums sinnfällig vor Augen geführt wird. „[...] Anordnung der Kinder in der heute noch an den allermeisten Schulorten üblichen Form auf Bänken mit schwarzen Tischen davor, die Bänke untereinander durch eiserne Laufschienen verbunden, ein starres System, aufgereiht von dem Podium, auf dem das Pult steht, der letzte Rest des die mittelalterliche Schulstube zierenden hohen Katheders; es fehlt nicht eine an Folterinstrumente mahnende verstellbare Strafbank, in die der unruhig sitzende Schüler zur Besserung seiner ‚Haltung‘ eingespannt werden konnte, dazu eine Bankreihe an zwei Wänden der Klassenräume für die Hospitanten, die dem Lehrer das ‚Handwerk‘ abzusehen haben, außerdem ein ‚Schulsaal‘ zur Vorführung der kurz vorher mit den Schülern eingeübten ‚Musterlektionen‘ und was dergleichen nur allzu Bekanntes mehr ist.“120

„In der alten Schule“, so erklärt Petersen diese Gestaltung des Klassenzimmers, „war alles darauf abgestellt, dass der Schüler ‚aufmerksam‘ sei, und zwar aufmerksam auf das, was [...] vom Katheder [...] ausgeht, vorzüglich immer auf Worte.“ Man habe den Raum so gestaltet, dass die „Kinder durch nichts ‚abgelenkt‘ würden. So richtig es ist, die Aufmerksamkeit zu pflegen, denn alles Arbeiten ist aufmerkendes Tun, so falsch ist es, alles auf diese vorherrschende Art der Aufmerksamkeit auf Worte einzustellen. Einmal wird dadurch in ungebührlich starkem Maße die nach außen gerichtete Aufmerksamkeit gezüchtet und in Verbindung damit alles, was innerhalb einer Massenverbindung von Menschen an wirkungsvollen Reaktionen gedeiht, wie Fixigkeit in der Auffassung des Gesprochenen, des Gemeinten, des als Antwort Erwarteten, bei hinreichen langem Einspielen mit dem Lehrer, als dessen Meinung und als von ihm erwartete Antwort aus seiner Art zu Fragen und seinem Mienenspiel zu Erratenden, wie äußere Anständigkeit in Haltung und Benehmen bei innerlicher Auflehnung gegen die erzwungene Haltung und noch mehr gegen die erzwungene unwürdige Art der Beschäftigung, oder, noch schlimmer, die oft schon nach einigen Jahren festzustellende geistige Schläfrigkeit als Folge der Tatsache, daß man doch nur in jeder Stunde ein paar Mal ankommt oder gar nicht, weil einmal immer die Antwort-Beflissenen die Fragen beantworten und sodann, weil der Lehrer überhaupt selten für Pädagogik durch Deutschland und über Deutschland hinaus getragen haben.“ (Peter Petersen: Die Erziehungswissenschaftliche Anstalt der Thüringischen Landesuniversität“, Ansprache bei der Eröffnung der EA am 14. Mai 1924, in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 55–73, zuerst in: ZpP 9 (1924), hier S. 56). Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Jürgen John in diesem Band. 119 Petersen schreibt: „ Er [Rein, P.F.] setzte durch, daß die Übungsschule fortan [als die Stadt die von Stoy mit privaten Mitteln errichtete Übungsschule nach dessen Tod hatte abreißen lassen, P.F.] als unerlässliche Ergänzung des pädagogischen Lehrstuhles an der Universität vom Staate errichtet und erhalten werden müsse. Und als das Ministerium Greil, wahrscheinlich in Unkenntnis dieser Verhältnisse, den Nachfolger Reins [also Petersen, P.F.] in Unklarheit über diese rechtliche Lage hielt, da ist es das weitere Verdienst Reins, mit aller Entschiedenheit für die bestehende Verfassung gekämpft zu haben, die er mit Recht als einen großen Fortschritt ansah“. Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 3. 120 Ebd.

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Peter Fauser alle darankommen lassen kann. So bietet jede Klasse, man mag hinkommen wo man will in Europa, dort, wo diese Aufmerksamkeit als die Vorbedingung von Schularbeit gepflegt wird, den bejammernswerten Anblick verschütteter geistiger Kräfte.“121

Einer solchen, aus der Herbartschen Assoziationspsychologie begründeten Außensteuerung des Lernens im Unterrichts, wie sie aus seiner Sicht die „alte Schule“ prägt, tritt Petersen unmissverständlich entgegen: „Ohne die Aufmerksamkeit dieser Art irgendwie ganz zu verwerfen, meinen wir, sie entschieden als die untergeordnete betrachten zu müssen. Wir möchten erziehen helfen zur inneren Sammlung der Kräfte. In der alten Schule [...] kommt es bestenfalls zu einer von außen her gegebenen Stoff zusammenstellenden Tätigkeit. Jene innere seelische Haltung, die wir meinen, ist ganz anderer Art: sie ist diejenige psychophysische Einstimmung des gesamten Menschen, welche die wahre Voraussetzung für eine von innen aufsteigende, von innen her getragene und durchgeführte und deswegen ‚schöpferisch‘ genannte Arbeit ist. Und nur, wenn wir uns, zusammen mit den Kindern, einen Schulraum schaffen können, der dieses Ziel erreicht, haben wir jeweils den Sinn des Schulraums verwirklicht.“122

Entsprechend wird der Schulraum verändert: An die Stelle der festgeschraubten Schulbänke in Reih und Glied treten leicht bewegliche Tische und Stühle mit flexibler Rückenlehne, die sich zu Gruppen ordnen, umstellen und auch ins Freie schaffen lassen; die Wände werden großflächig mit Tafeln ausgestattet, die nicht nur vom Lehrer, sondern von den Kindern benutzt werden können; und zwar wird auf Stille geachtet mit Rücksicht auf störungsfreies Arbeiten aller, aber Stillsitzen wird nicht gefordert. Die Kindern können sich im Raum frei bewegen – und selbstverständlich den Raum jederzeit verlassen, um ihre Notdurft zu verrichten. Außerdem ist es erwünscht, von zu Hause Blumen, Vasen, Blumentöpfe, Bilder mitzubringen und, soweit „im Schulraume aufgestellt und gebraucht werden konnten: technisches Werkzeug, Sammlungen, Spielzeug belehrenden Charakters, Tiere, Puppen im Puppenwagen, eigene Bücher für den Klassenbücherschrank usf.“

121 Ebd., S. 7f, i.O. gesperrt. 122 Ebd., S. 8, i.O. gesperrt. An anderer Stelle argumentiert Petersen noch erheblich schärfer: „Hinter all dem, was sich in europäischen Landen ‚Neue Erziehung‘ nennt, steht in erster Linie die Erkenntnis, daß die Mittel der Zucht in der ‚alten Schule‘ unzulänglich, veraltet, ja ungeeignet sind als sittliche Hilfen im Reifungsprozesse des Menschen während seiner Kindheit und Jugendperiode. Die Schule der Subordination, der von außen herantretenden und einwirkenden Autorität, der heteronomen Moral, wirkt auf nichts stärker hemmend und lähmend, verdrängend, ja vernichtend als auf die Erkräftigung des ‚guten Willens‘. [...] Diese Groteske [...] steigert sich noch, wenn man bedenkt, daß der sittliche Charakter ganz vorwiegend auf intellektuellem Wege durch Belehrung, Katechisation, Vernünfteln, Entwickeln, Ermahnung gestärkt und gebildet werden soll, durch jenen ‚Gedankenkreis‘, den der Lehrer entwirft und in den er die Schülerschar bannt, um in ihr ein ‚gleichschwebend vielseitiges Interesse‘ zu erzeugen“. Petersen: Gemeinschaftsleben (wie Anm. 54), S. 230, i.O. gesperrt. Und weiter zum Herbartianismus, als dessen Vertreter Wilhelm Rein ausdrücklich genannt wird: „Der Herbartianismus ist an dem ‚Geschäft der Erziehung‘ gescheitert, und er mußte es, weil der ohne Vertrauen in die im Kinde angelegten sittlichen Kräfte und ohne diese selber zur tätigen und verantwortlichen Mitarbeit aufzurufen, d.h. ohne auf Selbsterziehung der Kinder hinzuarbeiten, die Bildung des sittlichen Charakters einem andern als dem Menschenkinde selber zutraute.“ Ebd., S. 232, wie Anm. 1. Vgl. auch Petersen: Anstalt (wie Anm. 54).

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Die Kinder sollen sich im Schulraum wohlfühlen, er soll eine Verbindung von Wohnraum und Schulraum sein, Petersen spricht von „Schulwohnstube“,123 fügt indessen hinzu, der Raum solle auch „Arbeitsraum“ sein. Der Raum dient einem pädagogischen Ziel. Es geht darum, „das Gefühl zu wecken, unsere gemeinsame, auch meine, Arbeit gestaltet den Raum, erhält ihn, schmückt ihn.‘“124 Die Gestaltung des Raums als äußerer Umgebung korrespondiert mit Petersens Auffassung von Erziehung, Bildung, Lernen. Wir würden heute von einem aktivproduktiven Lernkonzept sprechen, sozialisationstheoretisch von einer Sicht auf den Einzelnen als „produktiv realitätsverarbeitendem“ Subjekt.125 Dabei sind Gemeinschaft und Arbeit Grunddimensionen und Grundbefindlichkeiten des Menschen, anthropologische Vorgegebenheiten. Kinder lernen demnach in einem erzieherischen Raum, der durch seine soziale Dimension – den Gemeinschaftsbezug – und durch die „Zucht des Gegenständlichen“, wie Petersen mit Otto Scheibner formuliert, Situationen ausprägt, die Lernen und Entwicklung anregen und herausfordern; „Unterrichtsleben“ ist für Petersen die „Welt problemhaltiger, Kinder und Jugendliche auf natürliche Weise zum Lernen anreizender Situationen.“126 „Situation“ ist für Petersen „1. ein problemhaltiger Lebenskreis von Kindern und Jugendlichen um einen Führer, 2. von diesem in pädagogischer Absicht derart geordnet, 3. daß jedes Glied des Lebenskreises genötigt (gereizt, aus sich herausgetrieben) wird, als ganze Person zu handeln, tätig zu sein.“127 Gemeinsam tätig sein ist, einfach gesagt, der Königsweg des Lernens und der Bildung. Arbeitsprinzip und Gemeinschaftsgedanke sind es folglich, durch die sich die neue von der alten Schule wesentlich unterscheidet. Die Aufnahme von Arbeit – zunächst als Handarbeit – in die Schule ist deshalb für Petersen ein „bedeutender Schritt“ von der alten Schule weg. Sie eröffnete die „Möglichkeit eines gegenseitigen Aushelfens und Beratens, eines von mehreren gemeinsam geplanten und durchgeführten Werkes, [...] wenn auch nicht in der Klasse, so doch innerhalb der Klasse“. Allerdings schränkt die normale, in 45-Minuten-Portionen organisierte Schule die 123 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 9f. 124 Ebd., S. 10. 125 Klaus Hurrelmann/Mathias Grundmann/Sabine Walper (Hg.): Handbuch Sozialisationsforschung. 7. vollständig überarbeitete Ausgabe, Weinheim/Basel 2008, insb. S. 14ff. 126 Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 6), S. 38. 127 Der Begriff der „Situation“ und die Gestaltung von „pädagogischen Situationen“ bilden einen Dreh- und Angelpunkt der (Schul-) Pädagogik Petersens und damit auch seiner Auffassung vom Lehrerhandeln. Die Abkehr von Herbart und der assoziationspsychologisch begründeten Vorstellung, Unterricht und Erziehung könnten auf Lernen und Bildung von Heranwachsenden auf direktem Wege einwirken, rückt zugleich die Gestaltung der Umgebung und damit die Perspektive einer indirekten Erziehung ins Zentrum. Die 1937 – zehn Jahre nach dem „Kleinen Jenaplan“ – veröffentlichte „Führungslehre des Unterrichts“ kann als eine Ausfaltung des Konzepts der pädagogischen Situation verstanden werden. Petersen sieht sie als „Ergebnis von 16 Jahren ununterbrochener praktischer Versuche, angestellt, um die Grundlagen einer neuen Schularbeit [...] zu gewinnen.“ Tatsächlich zieht sich dann das Konzept „pädagogische Situation“ nach einem systematischen Einleitungskapitel (S. 11–47) als roter Faden durch das gesamte Werk, mit dem das Konzept der Jenaplan-Schule in der Form eines Berufshandbuchs für Lehrer dargestellt wird. Peter Petersen: Führungslehre des Unterrichts, Langensalza/Berlin/Leipzig 1937, hier S. 4, i.O. gesperrt.

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Wirkung des gemeinsamen Arbeitens bei den Schülern ein. Petersen polemisiert: „[...] mit dem Klingelzeichen freilich fielen Werkzeuge und Werk ihnen aus der Hand, um etwa nach 2–3 Tagen, das heißt nach 50–70 Stunden oder gar nach einer ganzen Woche, aufgenommen zu werden, um nun wieder ein wenig daran zu arbeiten“. Das ist zu wenig für eine nachhaltige Verbesserung. „Erst als man [...] das Arbeitsprinzip hier und da in den Klassenunterricht einführte, und die Klasse in fast allen Fächern selbständig machte, ‚selbsttätig‘, da konnte eine wirkliche Arbeitsgesinnung, konnten sittliche Nebenwirkungen der Arbeit mit größerem Recht auf allen Gebieten erwartet werden. Und überall, wo man von ‚Gemeinschaftsschulen‘ spricht, liegt für das Methodische und für den Lernbetrieb all das zugrunde, was aus dem recht angewandten und durchgedachten Arbeitsprinzip folgt.“ Dieser Zusammenhang ist es, der Gemeinschaft und Arbeit auch schulpädagogisch auf grundlegende Weise miteinander verbindet. Deshalb postuliert Petersen: „Jede Gemeinschaftsschule ist an und für sich und notwendig Arbeitsschule.“128

In der neuen Universitätsschule hält nicht nur eine neue räumliche, sondern auch eine veränderte zeitliche Ordnung Einzug. Es gibt nach einigem Experimentieren und genauem Beobachten nur noch eine große Pause von einer halben Stunde Dauer, davor und danach folglich gut anderthalbstündige Arbeitsphasen. Die Möglichkeit, sich während des Unterrichts frei zu bewegen, führt im Gegenzug zu längerer Konzentration, und die große Pause erlaubt es, nach dem Frühstück den „Raum zu verlassen [...] und im Hofe sich auszutoben und, was immer sehr wichtig für viele ist, sich auch auszuschreien.“129 ZUR SCHULQUALITÄT: EINE „EXZELLENTE“ SCHULE? DIE UNIVERSITÄTSSCHULE IM SPIEGEL DES DEUTSCHEN SCHULPREISES Was können wir nun aus heutiger Sicht über die pädagogische, und spezieller, über die demokratiepädagogische Qualität der Universitäts-Übungsschule und späteren Universitätsschule in ihren ersten Jahren sagen? Wir gehen in zwei Schritten vor. Zuerst wird die pädagogische Qualität der Schule insgesamt anhand der zusammenfassend formulierten sechs Qualitätsbereiche des Deutschen Schulpreises – Leistung, Umgang mit Vielfalt, Unterricht, Verantwortung, Schulleben, Schulentwicklung – beurteilt. Dabei wird geprüft, wie weit die hier aufgegriffenen Berichte über die Schule dafür oder dagegen sprechen, dass die Schulpreis-Kriterien von deren Praxis erfüllt werden. Dazu werden im folgenden die offiziellen Thesen zu den Qualitätsbereichen wiedergegeben;130 in den kurzen, fortlaufenden Texten habe ich die Begriffe hervorgehoben, die konkrete Teilkriterien der einzelnen Bereiche repräsentieren. Für diese Teilkriterien wurde jeweils eingeschätzt, ob ihnen die Praxis der UniversitätsÜbungsschule entspricht (=+) oder nicht (=0). Dabei wurden auch die Äußerungen der KollegInnen mit herangezogen, die den Bericht von Hans Wolff unabhängig voneinander eingeschätzt haben.

128 Petersen: Gemeinschaftsleben (wie Anm. 122), S. 232, i.O. gesperrt. 129 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 13. 130 Fauser/Schratz/Prenzel: Schulen! (wie Anm. 19, 2010), S. 32–33.

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Thesen zu den sechs Qualitätsbereichen des Deutschen Schulpreises: Was gute Schulen auszeichnet. These 1: Leistung Gute Schulen verstehen und fördern Leistung als menschliches Grundvermögen (+) und Grundbedürfnis, dessen Ausbildung und Kultivierung für eine humane Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft (+) zukunftswichtig ist. Sie individualisieren (+), kultivieren, objektivieren Art und Maß dessen, was Leistung bedeutet, nach den Prinzipien der Fairness, Vielfalt und Transparenz (+). In guten Schulen wissen deshalb Schülerinnen und Schüler, ob sie sich in einer Situation (+) befinden, in der gelernt und Lernen gefördert werden soll, oder ob es darum geht, Leistungen zu messen und zu beurteilen. Regelmäßige Anwendung und vielfältige Verfahren (+) der Lernstandserhebung sowie unterstützender Rückmeldungen (+) schaffen ein förderliches Lernklima für Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler. Ein solches Leistungsethos ist demokratisch begründet (0). Es dient der individuellen Entwicklung und der des Gemeinwesens. In diesem Zusammenhang ist Evaluation nicht ein Mittel bürokratischer Kontrolle, sondern der Qualitätsverbesserung (+). Ergebnis: von 9 Kriterien werden 8 erfüllt („demokratisch begründet“ wurde als „nicht erfüllt“ bewertet, weil der Begriff „Demokratie“ nicht vorkommt). These 2: Vielfalt Gute Schulen individualisieren (+) Unterricht und Erziehung und fördern alle Kinder (+) mit gleichem Engagement und je nach Voraussetzung in unterschiedlicher Weise (+). Unterschiede der Begabung, der Herkunft, des Geschlechts, der Leistung oder Interessen werden wahrgenommen und angenommen (+), sie werden beim gemeinsamen Lernen so einbezogen, dass alle Kinder bestmögliche Entwicklungschancen erhalten. Gekonnter und achtungsvoller Umgang (+) mit Vielfalt wird für unser Leben und Lernen immer wichtiger – kulturell, fachlich, politisch, und wirtschaftlich gleichermaßen. Bei Lehrerinnen und Lehrern gehört dies zu den wesentlichen Bestandteilen beruflicher Kompetenz (+) und Entwicklung. Ergebnis: alle 6 Teilkriterien sind erfüllt. These 3: Unterricht Im Zentrum guter Schulen steht exzellenter Unterricht (+), und Unterricht wird hier durch kollegiales Lernen (+) systematisch verbessert. Entscheidend für guten Unterricht ist nicht die glanzvolle Inszenierung didaktischer Muster, sondern die wirksame Förderung jedes Einzelnen (+), seines Lernens und seiner Entwicklung in allen Bereichen. Unterricht kann als didaktische Inszenierung auch ganz unspektakulär sein, wenn er bei den Schülern persönlich wirksam wird. Unterricht und Erziehung (+) stehen in einem engen Zusammenhang. Sie sind an guten Schulen verbunden durch die Sorge der Erwachsenen (+) für die bestmögliche Gesamtentwicklung der Kinder (+) und Jugendlichen. Ergebnis: alle 6 Teilkriterien sind erfüllt.

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These 4: Verantwortung An guten Schulen übernehmen Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler und Eltern Verantwortung für das Lernen und für die Schule (+) insgesamt. Partizipation (+) und Demokratie werden in allen Bereichen des gemeinsamen Alltags, in Unterricht und Schulleben (+) ebenso wie auf der Ebene formaler Organisation und in Gremien (+) der Schulverfassung gepflegt und aktiv weiterentwickelt. Gute Schulen nehmen ihre Verantwortung für Kinder und Jugendliche nicht segmentär, sondern ganzheitlich (+) wahr und sie verantworten sich aktiv gegenüber den Beteiligten und der Öffentlichkeit (+). Ergebnis: alle 6 Teilkriterien sind erfüllt. These 5: Schulleben Gute Schulen zeichnen sich durch ein Schulleben aus, das der Dynamik einer aufgeklärten und sich aufklärenden demokratischen Öffentlichkeit (+) Raum gibt, das eine soziale Kommunität (+) darstellt, die Zugehörigkeit, Inklusion und Anerkennung verbürgt und die Entfaltung individueller Interessen und potentiale Gelegenheit bietet. Gute Schulen ächten Gewalt (+). Sie fördern als kulturelle Einrichtung die Rituale, Bräuche und Symbolisierungen, ästhetische Präsentation (+), Verfeinerung und Provokation gleichermaßen. Ergebnis: 5 von 6 Teilkriterien sind erfüllt („Provokation“ nicht gedeckt) These 6: Schulentwicklung Gute Schulen gleichen Unternehmen (+) ohne Erwerbscharakter. Sie handeln selbstständig und eigenverantwortlich (+) und zeichnen sich durch integrative, demokratische Führung (+) – Management und Leadership – aus. Sie kooperieren pädagogisch aktiv und herausfordernd mit ihrer Umgebung (+) und verbessern sich professionell selbstkorrigierend durch Evaluation (+) und Qualifikation. Sie erkennen Schwächen und haben gelernt, sich immer wieder neue Ziele (+) zu setzen. Gute Schulen haben ein individuelles Profil (+), das als produktives Zusammenspiel von Ressourcen und Aufgaben aus einer zumeist jahrelangen intensiven Entwicklungsarbeit (+) resultiert. Sie halten Verbindung mit anderen Schulen, mit der Öffentlichkeit, mit Wissenschaft, Politik und Einrichtungen von Wirtschaft und Kultur (+). Ergebnis: alle 9 Kriterien sind erfüllt. Betrachtet man dieses Ergebnis, dann ergibt sich nach Lage der vorliegenden Praxisberichte das Bild einer Schule, die auf eine beeindruckend umfassende Weise den Qualitätsmaßstäben genügt, die im Rahmen des Deutschen Schulpreises aus der Begutachtung exzellenter Schulen der Gegenwart gewonnen worden sind. Dabei ist nicht nur das Ergebnis der hier vorgenommenen Evaluation bemerkenswert. Vielmehr fällt auch auf, wie stark die implizite Entwicklungsperspektive der Qualitätskriterien des Deutschen Schulpreises mit den Merkmalen korrespondieren, die der reformpädagogischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg entsprachen. Zusammenfassend sollen Schulen heute gemäß dem Deutschen Schulpreis ihr Verständnis von - Leistung vom Nachweis geforderter Pensen zum Aufbau, sinnvoller Kompetenzen,

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- Vielfalt von der Steuerung des Lernens durch Homogenisierung zur Steigerung des Lernens durch Heterogenität, - Verantwortung von der Pflichterfüllung zur aktiven Verantwortungsübernahme - Unterricht vom Lehren zum Lernen - Schulleben vom freundlichen Beiprogramm zur demokratischen Lebensform und von - Schulentwicklung von der Inputsteuerung zur adaptiven Dynamik weiterentwickeln. Im Vergleich dazu: Retter charakterisiert den „Inhalt der reformpädagogischen Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg generell“ mit den Merkmalen „Lehrplanfreiheit, Freiheit der Unterrichtsgestaltung, freie Wahl des Kollegiums, Koedukation, Betonung von Gesamtunterricht und ganzheitlichem Lernen, Ächtung der Prügelstrafe, Herstellung eines kameradschaftlichen Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern, enge Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern als ‚Schulgemeinde‘, Ausweitung der Schule zu einer ‚Lebensstätte der Jugend‘“.131 Diese Merkmale lassen sich zwar nicht eins zu eins den Entwicklungszielen des Deutschen Schulpreises zuordnen, aber insgesamt – als Bild und Konzept guter Schule – korrespondieren beide Qualitätsvorstellungen sehr weitgehend miteinander. ZUR DEMOKRATISCHEN QUALITÄT: DIE SCHULE IN STAAT UND GESELLSCHAFT – „PÄDAGOGISCHE AUTONOMIE“ UND „SELBSTVERWALTUNG“ Petersen ist ein entschiedener Verfechter einer schulpädagogischen Autonomie, die über die pädagogisch-fachliche Gestaltungskompetenz hinaus auch die Vorstellung einer rechtlich-administrativ verankerten Selbstverwaltung mit einschließt – trotz der ausdrücklichen, politisch und rechtlich wohl unumgänglichen Anerkennung des rechtlichen Rahmens der öffentlichen Schule –, eine Auffassung, die er in seiner Hamburger Zeit entwickelt, schulpolitisch vertreten und als Schulleiter praktiziert hatte. Rechtliche Grundlage dafür bildete in Petersens Hamburger Zeit neben der Weimarer Reichsverfassung132 von 1919 das „Gesetz über die Selbstverwaltung der Schulen“ vom 13. April 1920. In diesem Gesetz wird dem „Lehrkörper“ und dem „Elternrat“ öffentlicher Schulen deren „unmittelbare Verwaltung“ überantwortet. Beide wählen beispielsweise den Schulleiter (für drei Jahre!) und haben auch sonst weitgehende Mitwirkungsrechte; schulübergeifend wird ein „Schulbeirat“ eingerichtet, der die Schulbehörde berät.133 Nach heutigen Maßstäben entspricht der dort gesetzte 131 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 85. 132 Die Berufung auf die WR hat keineswegs nur eine formale Bedeutung. Es gibt „in den zwanziger Jahren keine belegte Äußerung Petersens, die die Demokratie im Allgemeinen und die Weimarer Republik oder ihre Verfassung im Besonderen ablehnt“ – auch wenn Petersens Zustimmung zu deren fundamentalen Prinzipien eine äußerst skeptische Einschätzung des Parlamentarismus gegenübersteht. Vgl. dazu die differenzierte Analyse bei Retter: Übergang (wie Anm. 2), S. 799– 806, hier S. 799. 133 Peter Petersen: Die neueste deutsche Schulgesetzgebung und die Hamburger „Gemeinschaftsschule“, in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 159–164. (= „Bericht über die Ausführungen

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rechtlich-administrative Rahmen dem, was im vergangenen Jahrzehnt mit Versuchen wie der „eigenverantwortlichen“ oder der „selbstverwalteten Schule“ in verschiedenen Bundesländern erprobt worden ist; dabei haben die Schulen rechtlich erweiterte Gestaltungsspielräume erhalten.134 Als Schulleiter der Hamburger Lichtwark-Schule hatte Petersen Gelegenheit, mit einer durch und durch partizipatorisch verfassten Schule und deren anspruchsvollem Konferenzsystem Erfahrungen zu sammeln.135 Er ist von deren Richtigkeit überzeugt und hebt hervor, dass Hamburg – „stets eine Republik“ –, infolge der „freien und weitschauenden Gesetzgebung“ und durch die „große Freiheit“ für die Lehrer ermöglicht hatte, dass „seine Lehrerschaft schon vor 1900 anfing, eine führende Stellung in der deutschen Schulreform einzunehmen“.136 Sein knapper, für ein internationales Publikum bestimmter Bericht von 1923137 lässt erkennen, was für ihn eine autonome, „freie Volksschule“ ist, die sich einer „Reform von unten“ verdankt und was den Kern und die über Hamburg hinausgehende Bedeutung der Gemeinschaftsschulen ausmacht, der gemeinsamen Bezeichnung der drei 1919 neu gegründeten Versuchsschulen.138 Petersen sieht die Gründung von Gemeinschaftsschulen als Teil der internationalen Bewegung139 und stellt sie in einen Zusammenhang mit der Weimarer Reichsverfassung. Deren langer Abschnitt „Bildung und Schule durch die darin enthaltenen jüngsten und vorwärtsweisenden Ideen und Forderungen“ zeige, „wie sehr die Erziehungs- und Bildungsfragen in Deutschland eine allgemeine Volksangelegenheit sind“; er nennt unter anderem die Aufhebung der Vorschule und Einführung einer allgemeinen Grundschule, das Entscheidungsrecht der Eltern beziehungsweise der über 14jährigen über die Teilnahme am Religionsunterricht und die Einrichtung eines Schulamts im Reichsamt des Inneren und eines Reichsschulausschusses. Wenngleich Petersen die Internationalität der pädagogischen Bewegung herausstellt und betont, wie wichtig ihm eine reichsweite schulpolitische Perspektive erscheint, so betont er doch zugleich auch die eigenständige Rolle der Länder. Durch deren noch immer weitgehenden Rechte werde verhütet, dass ein „uniformes Schul-

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auf dem II. Internationale Kongreß des ‚New Education Fellowship‘ zu Montreux am 10. August 1923 für die englische, französische und schwedische Zeitschrift des ‚Arbeitskreises zur Erneuerung der Erziehung‘.“) Vgl. die Auszüge aus dem Gesetzestext bei Manfred Schwarz: „Selbstverwaltete Schule“. Chancen und Risiken, in: Hamburg macht Schule (16), Hf. 5, hg. v. der Behörde für Jugend und Sport, Hamburg 2004, S. 6–7. Ebd. Peter Petersen: An der Lichtwarkschule in Hamburg-Winterhude (1920 bis 1923), in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 165–229. Petersen: Schulgesetzgebung (wie Anm. 133), S. 160f. Ebd., S. 164. Ausführlicher ebd., S. 151–158. Zuerst in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 5 (1922), S. 55–57. Programmatisch in seiner Jenaer Antrittsvorlesung, „Der Weg des Erziehers“ in: Petersen: Schulreform (wie Anm. 54), S. 36; dieser Bezug wird freilich in allen einschlägigen Äußerungen Petersens hergestellt, ganz besonders bei seinen Vorträgen vor der „Pädagogischen Gesellschaft“ Kopenhagens auf einer pädagogischen Woche im Oktober 1923 – also kurz vor seiner Jenaer Antrittsvorlesung. Sie sind abgedruckt in: Peter Petersen: Die Neueuropäische Erziehungsbewegung (= Forschungen und Werke zur Erziehungswissenschaft 4), Weimar 1926. Zuerst unter dem Titel: Den nyeuropaeiske Skolebevaergelse, Kopenhavn 1923.

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wesen“ oder gar eine „Staatsschule“ entstehe und private Initiative abgeschwächt würde. Vielmehr sei zu erwarten, dass sich die „in einer kantonal verschiedenen und ihrer inneren Arbeit weithin freien Volksschulen voll entfalten“ könnten.140 Nun umreißt Petersen, was die aus seiner Sicht richtungweisenden Gemeinschaftsschulen charakterisiert. Schon deren Gründung ist ein freier Zusammenschluss: „Es bildeten sich drei Lehrkörper freier Wahl aus gleichgesinnten Lehrern und Lehrerinnen. Sie erhielten je eine Volksschule und auch den Eltern wurde es freigestellt, ob sie diesem Lehrkörper ihre Kinder überlassen wollten oder nicht; alle diese Schulen sind selbstverständlich Koedukationsschulen im vollen Wortsinne. [...] Es gibt heute [1923, P.F.] in Hamburg 9 Versuchsschulen i.e.S., aber insgesamt arbeiten 24 Schulen im Geiste der neuen Erziehung, etwa ein Zehntel aller Schulen Hamburgs, und sind in einer ‚Schulengemeinschaft‘ vereinigt.“141

Der „Schulbeirat“ ist ein „Parlament“, das auf städtischer Ebene, zwischen Schulen und oberster Schulbehörde, je 100 gewählte Vertreter der Eltern- und der Lehrerschaft vereinigt. Die Gemeinschaftsschulen sind als Versuchsschulen gleichwohl die „ganz gewöhnlichen öffentlichen staatlichen Volksschulen“. Gemäß dem neuen Selbstverwaltungsgesetz wurden etwa 280 Schulleiter abgesetzt und deren Nachfolger gewählt, ebenso wie „Elternräte“, eine Art Schulkonferenz aus Eltern, Lehrern und Schulleitung.142 „Gesamtunterricht“ spielt in den ersten Schuljahren die größte Rolle. Die „Schülerschaft“ gruppiert sich nach unterschiedlichen Prinzipien in Gruppen – nach Neigung, um einen Lehrer, als Jahresklassen aber auch jahrgangsübergreifend, erst mit dem 15./16. Lebensjahr setzt eine Differenzierung nach Abschluss ein. Gemeinschaftsschulen sind „Schulen ohne Zwang und Strafe“, für Disziplin und Ordnung ist die Gemeinschaft zuständig, teils Gruppen, teils die ganze „Schulgemeinde“, also die „Versammlung aller Kinder mit den Lehrern unter gleichem Recht.“ Im Unterricht gilt „volle Freiheit für Lehr- und Stundenplan“, Gegenstände und Methoden entsprechen dem, was international von den „Arbeitsschulen“ bekannt ist, Schulheime und monatliche Wandertage, oft über mehrere Tage, ergänzen den Unterricht.143 Wichtig ist dabei, Status und Funktion der Versuchsschulen richtig zu verstehen. Sie sind nicht „Versuchsschulen“ in dem Sinne, dass sie etwas „erproben und vormachen sollten, das dann andere übernehmen und nachmachen könnten.“ Vielmehr handele es sich dabei um einen „neuen Schulgeist, eine neue Schulgesinnung“. Die von Petersen als beispielgebend dargestellte „Verfassung“ der Hamburger Schulen organisiert deren Selbstverwaltung in einer partizipatorischen Struktur, die über die einzelne Schule hinausreicht. Insgesamt handelt es sich um ein gestuftes System von Zuständigkeiten, Rechten, Gremien und Verfahren, das den bürgerschaft140 Petersen: Schulgesetzgebung (wie Anm. 133), S. 159f., i.O. gesperrt. 141 Ebd., S. 160f. sowie Peter Petersen: Bildet Schulengemeinschaften!, in: ders.: Schulreform (wie Anm 54), S. 189–190; ders.: Schulgemeinschaft Winterhude, in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 185–189: „Zwischen Schulbeirat [auf Landesebene, P.F.] und Einzelschule fehlt das unentbehrliche,das wichtigste Mittelglied, und das ist eben die Schulengemeinschaft.“, hier S. 186, i.O. gesperrt. 142 Petersen: Schulgesetzgebung (wie Anm. 133), S. 161. Wie er die Stellung des Schulleiters versteht, macht er bei der Übernahme der Schulleitung der Lichtwarkschule deutlich: „ausgerüstet von vornherein mit dem Vertrauen der Lehrer und Eltern als einer ihrer Mitarbeiter am gleichen Werk zum gleichen Ziel, und nichts anderes.“ Petersen: Lichtwarkschule (wie Anm. 135), S. 166. 143 Ebd., S. 163f. S. auch Petersen: Schulgesetzgebung (wie Anm. 133), S. 151ff.

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lichen und fachlich-professionellen Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten im Verhältnis zur staatlichen Schulverwaltung und der Politik großes Gewicht verleiht. Formal fehlt nur wenig zu einer Verfassung, die der Schule den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gäbe – aus heutiger Sicht eine Schulverfassung, die dem im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Demokratieprinzip über das heute übliche hinaus konkret Geltung verschafft.144 Schon Jahre zuvor gehen Petersens Vorstellungen von Schulautonomie und Selbstverwaltung noch weiter: In seiner Einleitung zur 1916 erschienenen Sammelschrift „Aufstieg der Begabten“ berichtet Petersen, dass am 28. Dezember 1915 „Der Deutsche Ausschuß für Erziehung und Unterricht“ gegründet worden sei, und zwar auf Initiative des seit 1908 bestehenden „Bundes für Schulreform“ (seit 1915 „Deutscher Bund für Erziehung und Unterricht“), dem Petersen als Schriftführer seit 1912 angehörte.145 Die Gründung dieses Ausschusses stellt Petersen in eine historische Linie mit der von Wilhelm von Humboldt im Kontext der preußischen Reformen 1809 vorgeschlagenen Einrichtung einer „Wissenschaftlichen Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts“. Aus heutiger Perspektive könnte man diese Deputation als einen der Regierung auf Ministerebene unmittelbar zugeordneten Bildungsrat bezeichnen, der mit großer Unabhängigkeit und weitgehenden Kompetenzen ausgestattet ist – zuständig unter anderem für „neue Unterrichtsmethoden“ und „Erziehungssysteme“, Lehrpläne, Lehrbücher, Stellenbesetzungen, Prüfungen, „welchen alle, die künftig auf ein Schulamt Anspruch machen wollen, unterworfen werden sollen“ – und sich aus einem Kreis von Experten aller für Schule und Bildung wichtigen wissenschaftlichen Disziplinen zusammensetzt.146 Für Petersen ist Humboldts „Deputation“ trotz begrenzter Dauer und Wirkung147 ein Schritt in der 144 Petersen denkt durchaus so weit. In seiner „Allgemeinen Erziehungswissenschaft“ plädiert er für eine Einschränkung der staatlichen Befugnisse und eine Erweiterung der Rechte der Schule: „Die Schule würde ähnlich wie die Kirchen eine Institution öffentlichen Rechts werden, nur dass der Staat durch die Forderung der Schulpflicht und einer daraus abzuleitenden und danach zu begrenzenden Schulaufsicht, mindestens einstweilen und sicher noch auf Jahrzehnte hinaus, auch in die Schule hineinragte.“ Peter Petersen: Erziehungswissenschaft, Berlin/Leipzig 1924, S. 209. Ähnlich weit ist in neuerer Zeit erst wieder der Deutsche Juristentag 1981 in seinem Entwurf für ein Musterschulgesetz gegangen: DJT-SchGE: Schule im Rechtsstaat. 2 Bände, Band 1: Entwurf für ein Landesschulgesetz: Bericht der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages, München 1981; Band 2: Gutachten für die Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages erstattet von G. Kisker, R. Scholz, H. Bismark, H. Avenarius, München 1980. Dazu: Peter Fauser: Pädagogische Freiheit in Schule und Recht, Weinheim/Basel 1986, S. 127–129. 145 Vgl. Der Deutsche Bund für Erziehung und Unterricht 1908–1916 (Zweite Flugschrift), (Hamburg) 1917. 146 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einer Instruktion für die wissenschaftliche Deputation bei der Sektion des öffentlichen Unterrichts (1809), in: ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. IV (= Schriften zur Politik und zum Bildungswesen) hg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, 3 Darmstadt 1984, S. 201–209, hier S. 204. 147 „Und der Ausgang? 1816 verwandelte sich die Deputation in Wissenschaftliche Prüfungskommissionen, 1825 übernahmen die Provinzialschulkollegien ihre Aufgabe, und der große Gedanke war ins Bureaukratische gewandelt und solle doch nach dem, der ihn zuerst gedacht gerade dem Bureaukratismus entgegenwirken.“ Peter Petersen: Einleitung zur Sammelschrift „Aufstieg der Begabten“, in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 6f., zuerst in: Deutscher Ausschuß für Erziehung und Unterricht: Der Aufstieg der Begabten. Vorfragen, Im Auftrag herausgegeben und

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richtigen Richtung. Mit dem Deutschen Ausschuß für Erziehung und Unterricht, dem 1926 schon 32 deutsche Verbände angehören, verbindet er die Hoffnung, diesen ein Jahrhundert zuvor eingeschlagenen Weg beschreiten zu können. Die Schule ist für ihn nämlich nicht nur eine „Angelegenheit der Schulmänner“, sondern „das kostbarste Kleinod des gesamten [...] Volkes, ein Werk seiner Kulturkraft.“ Deshalb bildet der Ausschuss eine „freie Vereinigung, in der sich Vertreter großer gesamtdeutscher pädagogischer und beruflicher Verbände sowie in Fragen der Erziehung und des Unterrichts führende Persönlichkeiten zusammengeschlossen haben“ – „alle Kreise der deutschen Lehrerschaft von der Volksschule bis zur Universität, Vertreter von Schulverwaltungen und Laien [...], um die in den Bildungsfragen sich entgegenstehenden Anschauungen auszugleichen.“148

Ziel ist es, gegenüber der staatlichen Macht und besonders der Gefahr des „Bürokratismus“, eines „uniformen Schulwesens“ und der „Staatsschule“ die pädagogischfachlichen, wissenschaftlichen, bürgerschaftlichen Kräfte zu bündeln, damit einen Beitrag zur Schaffung eines Erziehungs- und Schulwesens zu leisten, das eine allein aus der pädagogischen Aufgabe als solcher und der aus ihr begründete Autonomie besitzt. Auf dieser Linie einer pädagogischen Autonomie als einem für Petersen grundlegenden sowohl wissenschaftspolitischen wie schulpolitisch-praktischen Ziel liegen aus seiner Sicht auch die Einrichtung von pädagogischen Lehrstühlen,149 einer akademischen Lehrerbildung und eine erziehungswissenschaftliche Tatsachenforschung.150 VISION: STAAT UND GESELLSCHAFT ALS VERFASSTE MENSCHLICHE GEMEINSCHAFTEN Petersen hegt also in der Zeit vor Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Anfangsjahre der Weimarer Republik sehr weitgehende Vorstellungen von Umfang und Grad der pädagogischen Autonomie in Wissenschaft und Praxis. Dabei ist die Forderung nach Autonomie zugleich auch Konsequenz und Ausdruck eines Schulwesens, das nach heutigen Maßstäben im Hinblick auf seine grundlegenden Struktur- und Organisationsmerkmale nicht allein unter pädagogischer, sondern auch unter bildungspolitischer Perspektive als demokratisch eingeschätzt werden muss: Einem koedukativen, inklusiven Schulwesen, das über eine partizipatorisch strukturierte, im wesentlichen von Eltern- und (akademisch gebildeter) Lehrerschaft getragene Selbstverwaltung von der Schulstube bis hinauf zur obersten Schulbehörde verfügt, stehen eine auf pädagogische Tatsachenforschung und neueste interdisziplinäre Erkenntnis gegründete Erziehungswissenschaft und ein Verbund von fachlich ausgerichteten Zusammenschlüssen unterschiedlicher Provenienz zur Seite – insgesamt ein zivilgesellschaftlich verantworteter und getragener, durch Staat und Gesetze abgesicherter eingeleitet von Peter Petersen, Leipzig 1916, S. 1–8. 148 Ebd., S. 8f. 149 Peter Petersen: Pädagogische Professuren an deutschen Hochschulen, in: Schulreform (wie Anm. 54), S. 22–31, zuerst in der Hamburgischen Schulzeitung v. 22.6.1918. 150 Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen John in diesem Band.

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Teilbereich der Kultur,151 gegründet auf einen Humanismus und eine Erziehungsphilosophie, die der Achtung vor dem Einzelnen und der ihn schützenden Gemeinschaft den höchsten Wert beimißt. Familie, Gruppe, Gemeinschaft, Volk, Menschheit sind für Petersen Ebenen und Formen menschlichen Lebens und menschlicher Kultur, die als Kommunitäten unterschiedlicher Größe, Zwecksetzung und Ausprägung in dieser gemeinsamen Perspektive gesehen werden. Seine Hoffnung prägt das Pathos, mit dem er einem internationalen Publikum gegenüber die neuen Gemeinschaftsschulen charakterisiert: „Es sind echte Schulen im Sinne der neuen Erziehungsideen der Freiheit und der schöpferischen Arbeit, der Gemeinschaft und der Bruderschaft aller Menschen Geist vom Geiste dieser großen, bei allen europäischen Völkern heute um Gestaltung ringenden Kulturidee, die einzig und allein imstande ist, auch ein neues, sittliche Werte verwirklichendes Europa zu bilden.“152 Eine solche Schule „lernt noch vom Schüler, sie macht ihn mitverantwortlich in Schulgemeinde, Selbstregierung, Schülerausschüssen und freien Arbeitsgemeinschaften und bildet dadurch die Schule aus zur Lebens-, Arbeits- und Kulturgemeinschaft mit ihren Lehrern und Führern.“153

Petersen steht mit seiner Vorstellung von einer umfassenden pädagogischen Autonomie keineswegs allein. Die Bemühungen um eine „autonome“ wissenschaftliche Pädagogik bilden für die Erziehungswissenschaft insgesamt vor allem nach 1918 ein zentrales Thema, das sehr unterschiedliche Aspekte umfasst: „Politisch-gesellschaftliche und professionspolitische Erwartungen an die Unabhängigkeit des Erziehungssystems von fachfremder Kontrolle, normative Auseinandersetzungen über die Rolle von Konfessionen in den Pflichtschulen, theoretische Aussagen über das spezifische Erkenntnisthema der wissenschaftlichen Pädagogik, strukturtheoretische Analysen des funktionalen Prinzips aller Erziehung und schließlich gesellschaftsgeschichtliche Fragen zum Zusammenhang von Erziehung und sozialem Wandel.“154

Wie Petersen die Schule prospektiv als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft denkt – man könnte sagen: als Lebensform –, so denkt er auch die großen Kommunitäten bis auf die Ebene von Staat und Gesellschaft prospektiv als Gefüge von Sozialgebilden, die von der gewachsenen Verbundenheit, der verständigen Zusammenarbeit und wechselseitigen Verantwortung ihrer Mitglieder getragen werden. Aus heutiger Sicht entspricht dem ein gesellschaftstheoretischer Blickwinkel, der insgesamt von der horizontalen Binnengliederung einer „funktional differenzierten“ Gesellschaft ausgeht. Wichtige Pädagogen der Weimarer Zeit wie Flitner, Nohl, Spranger, Litt, 151 „Für Deutschland forme ich die Aufgabe so: wie erhalten wir innerhalb des staatlich geschützten und geförderten deutschen Schulwesens die freie Volksschule? Und ich bin der festen Zuversicht, daß alle deutschen Regierungen Raum geben werden, wie es einzelne bereits getan haben.“ Petersen: Anstalt (wie Anm. 54), S. 68, i.O. gesperrt. Dem Aspekt der Inklusion – also der Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf – bei Petersen widmet Retter besondere Aufmerksamkeit. Vgl. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2). 152 Peter Petersen: Schulgesetzgebung (wie Anm. 133), S. 164. 153 Peter Petersen: Der Weg zur neuen Schule des deutschen Volkes, in ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 1621, hier S. 20. Zuerst in: Hilfe, Nr. 26 (1920), S. 390–391. 154 Heinz-Elmar Tenorth: Pädagogisches Denken, in: ders. (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. V 1918–1945: Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 111–154, hier S. 123. Vgl. auch Gertrud Schiess: Die Diskussion über die Autonomie der Pädagogik, Weinheim 1973.

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Frischeisen-Köhler haben – auch um ihre eigene Autonomie theoretisch fassen zu können – dabei im Rückgriff auf Dilthey ein „strukturtheoretisches Konzept“ genutzt mit einem „Verständnis der Wirklichkeit als eines differenzierten, in Kultursysteme gesonderten und zugleich durch funktionale Beziehungen zur Einheit strukturierten Zusammenhangs von ‚Leistungen‘“.155 Es überrascht nicht, wenn Petersen aus diesem Blickwinkel heraus im Staat eine am Ende („so fern wir im Augenblick noch der Verwirklichung dieser Idee sein mögen“) zu überwindende Form verfasster Gemeinschaft sieht. In einem Vortrag über den Religionsunterricht, den er am 10. Mai 1919 vor den Elternräten der höheren Staatsschulen in Hamburg hält, schlägt er einen Bogen von der Religion über den Sozialismus zu seiner Sicht auf den „neuen Staat und die neue Gesellschaft“.156 Religion werde als „höchsteigene Angelegenheit eines jeden Menschen“ betrachtet; das sei aber nur die halbe Wahrheit, da Religion „zur Gemeinschaft hindrängt und sich erst in ihr vollendet.“ Sie gehöre deshalb zu den Kulturgütern eines „sozialistischen Gemeinwesens“, denn eine der „höchsten Ideen des Sozialismus ist diejenige der Gemeinschaft, der Bruderschaft“. Erst aus ihr erwachse das „rechte Verantwortlichkeitsgefühl für das Ganze.“ Und nun spitzt Petersen zu: „Die Gemeinschaften tragen den Staat, geben ihm Leben und Kraft, und nicht umgekehrt. [...] Für den recht erschauten Sozialismus ist der Staat etwas, das überwunden werden soll, um mich paradox auszudrücken; denn in Wahrheit soll ein inniges Hinundher entstehen, vom Ganzen aus, zum Ganzen hin. Innerhalb solcher sozialistischen Gesellschaft ist eine Grundbedingung das gegenseitige Verständnis der Bürger untereinander und füreinander, die Aufhebung der Klassengegensätze und Standesklüfte. Dieses gegenseitige Sichverstehen, Achten und Anerkennen wird die Grundlage einer wahrhaften, rückhaltlosen Duldsamkeit, alles dieses aber der Boden zur Entfaltung freien Menschentums, zur Entwicklung charakterfester verstandesklarer und warmherziger freier Männer und Frauen.“157

In seiner 1924 erschienenen „Allgemeinen Erziehungswissenschaft“ begründet Petersen seine Überzeugung umfassend aus dem Verhältnis von Staat, Gesellschaft, Kultur, Schule und Erziehung und führt im Anschluss an Friedrich Wilhelm Dörpfeld sieben Vorteile einer Selbstverwaltung an. Er nennt: mehr Kräfte für das Gemeinwohl, größere Nähe zu den Problemen, Beteiligung der Interessierten, Schutz gegen einseitige Verzweckung, mehr öffentliche Aufmerksamkeit, Verantwortung der Eltern,

155 Tenorth: Denken (wie Anm. 154), S. 120. Für Petersen bildet später u.a. die soziologische Sicht von Theodor Geiger eine wichtige Argumentationshilfe. Vgl. Petersen: Schulleben (wie Anm. 49), S. VIIff., Theodor Geiger: Erziehung als Gegenstand der Soziologie, in: Die Erziehung 6 (1930), S. 405–427. 156 Petersen Verhältnis zum „Sozialismus“ fasst Retter so zusammen: „Als ,sozialistisch‘ lassen sich Petersens Nähe zum Gesamtschulgedanken und seine Forderung nach einer universitären Lehrerbildung insofern auffassen, als sich beide Forderungen politisch allein bei der Sozialdemokratie fanden. Als demokratisch ist auch seine Forderung nach Integration der ,Hilfsschulkinder‘ zu sehen – das wird erst sehr viel später, in den Gutachten des Deutschen Bildungsrates in den 1970er Jahren wieder gefordert.“ Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 121. 157 Peter Petersen: Neugestaltung des Religionsunterrichts in den höheren Schulen, in: ders.: Schulreform (wie Anm. 54), S. 114–128, hier S. 118ff. Zuerst in der Wochenschrift für Erziehung „Der Aufbau“, Nr. 9, Hamburg v. 31.5.1919. Vortrag, gehalten am 10. Mai 1919 im Heinrich-HertzRealgymnasium zu Hamburg vor den Elternräten der höheren Staatsschulen.

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„rechtes und echtes Leben schaffen“.158 Seine Sicht auf das Verhältnis zwischen „Bürger“, „Volk“ und „Staat“ charakterisiert Petersen unter Berufung auf den Artikel 148 der Weimarer Reichsverfassung mit dem Gebot der Völkerversöhnung bei seiner Antrittsrede an der Lichtwarkschule 1920 so: „Im Begriffe des Bürgers vollendet sich der Einzelne, und zu rechten Bürgern unsre Schüler zu erziehen, wird höchste Angelegenheit aller sein. Aber dieser Bürger unsres Staates wird nicht mit Überhebung auf Volksfremde herabblicken, wenn anders es uns gelingt, zu verwirklichen, was der Artikel 148 der Reichsverfassung vorschreibt: ‚In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Vokstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.‘“159

Aus heutiger Sicht handelt es sich um ein Plädoyer für die Stärkung einer bürgerschaftlichpartizipativ verfassten Zivilgesellschaft, in der sich – besser, als der Staat dies kann und daher zum Besten auch des Staates – auf organische Weise die berechtigten Interessen Einzelner für das Gemeinwohl verbünden und verbinden können. DISKUSSION: EINE „DEMOKRATISCHE SCHULE“? Wenn wir im Blick auf die Pädagogik Petersens und seine Universitäts-Übungsschule beziehungsweise Universitätsschule nach deren demokratischer Qualität fragen, dann bewegen wir uns dabei in zwei zusammenhängenden Kontexten. Zum einen – mit dem Blick ins Innere der Schule – ist mit Demokratie die rechtlich verfasste und praktisch existierende Form der pädagogischen (Selbst-) Organisation der Schule angesprochen, zum anderen – mit dem Blick nach außen – die rechtlich verfasste und praktisch existierende Form der politischen Selbstorganisation der Gesamtgesellschaft. Beide Blickrichtungen sind in der Gründungszeit der späteren Jena-Plan-Schule in andere theoretische und praktische Kontexte eingebettet als heute. Weder als gesamtgesellschaftliches noch als schulpädagogisches Konzept ist Demokratie damals der Inbegriff, und als ein von Prinzipien bestimmter Idealtypus, das Leitbild einer an den Menschenrechten orientierten Ausgestaltung gemeinschaftlicher Praxen auf den verschiedensten Ebenen und in unterschiedlichsten Bereichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit – im Sinne einer Ausfaltung als Regierungs-, Gesellschafts- und Lebensform. Im folgenden Abschnitt wird nun – mit Blickrichtung nach innen – der rechtlich-administrative Rahmen der Universitäts-Übungsschule dargestellt und sodann, davon unterschieden, deren demokratiepädagogische Qualität eingeschätzt. Dabei gehe ich speziell auch auf die Bedeutung der formalen Gremien beziehungsweise auf „parlamentarische“ Strukturen ein und auf die Frage, in welchem Verhältnis deren Existenz zur demokratischen Qualität, das heißt zur partizipatorischen Kultur der Schule insgesamt steht. Erst im daran anschließenden Schlusskapitel greife ich dann das Verhältnis von demokratiepädagogischen und demokratiepolitischen Aspekten und Entwicklungen auf.

158 Peter Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 144), S. 194ff. 159 Petersen: Lichtwarkschule (wie Anm. 135), S. 170, (i.O. gesperrt).

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Rechtlich-administrativer Rahmen In rechtlich-administrativer Hinsicht ist die Universitäts-Übungsschule als „freie Versuchsschule“ eine Universitätseinrichtung160 und untersteht dem „Ordinarius für Erziehungswissenschaft“.161 Eine geschriebene „Schulordnung“ gibt es meines Wissens 1924 noch nicht; eine solche wird erst 1930 publiziert. Die wichtigsten Elemente dieser Schulordnung finden sich im Entwurf von „Richtlinien für den Aufbau einer Versuchsschule als öffentlicher Volksschule der Stadt Jena“, mit dem sich der am 10. Februar 1926 gegründete „Freundeskreis der Universitätsschule Jena“ – unterstützt von „mehr als 300 Jenaer Familien“ – an das Schulamt und die Stadt wendet. Erreicht werden soll, um der großen Nachfrage entsprechen zu können, der Aufbau einer zusätzlichen „Allgemeinen Volksschule der Stadt Jena“ nach dem Muster der Universitätsschule. Die „Richtlinien“ sind inhaltlich eine Mischung aus Grundsätzen und Organisationsstrukturen der Universitätsschule und Elementen der Hamburger Gemeinschaftsschulen. Der Antrag wird vom Ortsschulvorstand am 30. März „auf unbestimmte Zeit vertagt“.162 Die Schulordnung beruft sich ausdrücklich auf den Art. 148 der Weimarer Reichsverfassung. „Artikel 148 In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben. Beim Unterricht in öffentlichen Schulen ist Bedacht zu nehmen, daß die Empfindungen Andersdenkender nicht verletzt werden. Staatsbürgerkunde und Arbeitsunterricht sind Lehrfächer der Schulen. Jeder Schüler erhält bei Beendigung der Schulpflicht einen Abdruck der Verfassung. Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“

160 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 3. Dazu auch Peter Petersen (Hg.): Mitteilungen der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Thüringischen Landesuniversität zu Jena (MEA), Hf. 1 (1925), S. 19–26, hier S. 23 und Petersen: MEA, Hf. 3 (1926), S. 34. Was den Status der „freien Versuchsschule“ angeht, ist zu sagen, dass es Bundes- und landesrechtlich einheitliche Richtlinien für Versuchsschulen in den 1920er Jahren wohl nicht gegeben hat. „Versuchsschulen (öffentliche) sind üblicherweise von Lehrervereinen, Parlamentarier, einzelnen Schulämtern oder auch von Einzelpersonen initiiert worden. Die Einrichtung war beim jeweiligen Landesministerium zu beantragen, das zu entscheiden hatte, ob der Antrag mit den geltenden Bestimmungen etwa über Stundenplan, Lehrverfahren, Klassenaufteilung, Gruppenarbeit, Notengebung, Stundentafel, Erziehungsziel usw. im Einklang stand. Bei wechselnden politischen Verhältnissen und einem Konglomerat alter und neuer, teils nur kurzlebiger Rechtsverordnungen, dazu den Sonderverhältnissen in den kreisfreien Städten kam es auch zu rechtlich wenig abgesicherten Versuchschulentwicklungen, vor allem dann, wenn die Eröffnung einer Versuchsschule mit Schulbezirkszwang verbunden worden war. Das konnte zu Klagen von Eltern, richterlicher Überprüfung und im Ergebnis zur Beendigung des Schulversuchs führen, zumal die Versuchsschulen häufig dazu tendierten, über den ihnen behördlich gesetzten Rahmen hinauszugehen.“ (Für diese per Email vom 12. 06. 2012 erteilte Fachauskunft danke ich G. Geißler vom DIPF, Berlin.) 161 Peter Petersen: Grundzüge der Schulordnung und des Schullebens, in: ders.: Schulleben (wie Anm. 49), S. 202–203. Wiederabgedruckt in Theodor F. Klaßen: Die erste Jenaplan-Schule. Texte zur Theorie und Praxis der Universitätsschule in Jena (= Lesehefte zur Jenaplanpädagogik 8), Heinsberg 1988, S. 12–14, hier Petersen: Grundzüge, S. 202. 162 Petersen MEA, Hf. 4, 1926, S.20 ff.

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Die Gesetze des Reichs und Thüringens werden anerkannt163 und die Schule übernimmt die Stundentafel der preußischen Richtlinien für die Grundschule. Beide genannten Rechtsgrundlagen bieten übrigens den Schulen einen nicht zu unterschätzenden Gestaltungsspielraum – ein Beispiel ist die Ermöglichung von Gesamtunterricht an Stelle von Schulfächern. In den Thüringer Richtlinien heißt es dazu: „Auf welchen Zeitraum der Gesamtunterricht auszudehnen ist, wann und für welche Stoffgruppen er jeweils in Frage kommt, muss der Erfahrung des Lehrers und den örtlichen Verhältnissen überlassen bleiben. Die allgemeine Auswahl der Lehrstoffe und ihre Verteilung nach Klassen, Geschlechtern und Jahrgängen erfolgt für die einzelnen Bezirke oder Orte durch besonders aufzustellende Lehrpläne. Diese dürfen aber den einzelnen Lehrer nicht hindern, nach eigenem Urteil über die besonderen Bedürfnisse seiner Klasse Stoffe und Übungen zu wählen und anzuordnen.“164 Insgesamt entspricht der schulpolitische und schulrechtliche Rahmen der Universitäts-Übungsschule dem jeder anderen normalen Schule – eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Erfahrungen und Einsichten als beispielgebend für andere anerkannt werden können. Dieses Motiv betont Petersen ausdrücklich.165 Wie heutige Schulen, so ist auch die damalige Universitäts-Übungsschule als Schule eine „nicht rechtsfähige öffentliche Anstalt“. Sie kann als solche keine Rechtsgeschäfte abschließen und ist insgesamt von den übergeordneten Behörden abhängig.166 Ihre 163 „Die Universitätsschule ordnet sich den Thüringer und den Reichsgesetzen insofern ein, als sie sich den Richtlinien für die Grundschule und für die Oberstufe der Volksschule im allgemeinen unterstellt, die vorgeschriebenen Wochenstundenzahlen für die einzelnen Jahrgänge übernimmt und Simultanschule ist.“ Petersen: Schulleben (wie Anm. 49), S. V. 164 Petersen/Wolff: Grundschule (wie Anm. 14), S. 33. Zum Zitat aus den Richtlinien vgl. Carl Schnobel (Hg.): Die Thüringer Schulgesetze unter Berücksichtigung der reichsgesetzlichen Bestimmungen, Band 1, Teil 1, Weimar 1926, S. 15f. 165 Ebd., S. 5f. Was den besonderen Rechtsstatus der Schule angeht, so dürfte es sich „um eine ähnliche Konstruktion handeln wie heute bei der Laborschule: Versuchsschule des Landes an der Universität, d.h. sie ist Schule (des Landes!) und zugleich Institut der Universität, untersteht also zwei ‚Herren‘, als Schule dem Kultusministerium, als Institut der Universität bzw. dem Wissenschaftsministerium.“ (Pers. Mitteilung von Hans-Peter Füssel, DIPF – dem für seine schulrechtlichen Hinweise zu danken ist –, an Peter Fauser v. 30.5.2012.) Das bedeutet im Konsensfalle u.U. einen erweiterten Handlungsspielraum, im Konfliktfall eine doppelte Abhängigkeit. Diese hat Petersen zu spüren bekommen; zunächst, als er die Schule auflösen wollte, und später, als es, wie dargestellt, auf Initiative des Freundeskreises um die Gründung einer weiteren öffentlichen Versuchsschule ging. 166 Hermann Avenarius/Hans Heckel: Schulrechtskunde. Ein Handbuch für die Praxis, Rechtsprechung, Wissenschaft, 6 Neuwied 2000, S. 108ff. Zur zeitgenössischen Rechtsauffassung: Walter Landé: Preußisches Schulrecht, Kommentar. Berlin 1933, S. 14: „Die öffentliche Schule ist Anstalt des öffentlichen Rechts (nicht Körperschaft, weil nicht auf einer Personenmehrheit aufgebaut) im Sinne der verwaltungsrechtlichen Lehre . . . “ Insgesamt bleibt es allerdings rechtlich bei einer umfassenden Zuständigkeit des Staates für alle „inneren Angelegenheiten“ – und das ist der institutionelle Kern der Schule. Dazu Gerhard Anschütz, der führende Kommentator der Weimarer Verfassung: „‚Innere‘ Angelegenheit ist alles, was sich auf die Gegenstände und die Formen des Unterrichts (Lehrplan, Lehrziele, Lehrmittel, Methode, Schulzucht) bezieht, und zwar nicht sowohl die Erteilung des Unterrichts als die den Unterricht regulierenden, leitenden, kontrollierenden Funktionen: die Schulaufsicht (s. u. Art. 144). Die ausschließliche Zuständigkeit im Bereiche der inneren Angelegenheiten und der darin enthaltenen Schulaufsicht macht den Staat zum eigentlichen Herren der Schule, vor allem der Volksschule. Die Gemeinde baut,

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rechtlich-administrative Verfassung bleibt damit hinter dem weit zurück, was Petersen seit über einem Jahrzehnt vertreten hatte. „Demokratiepädagogische Qualität“ Die demokratiepädagogische Qualität einer Schule insgesamt – also Umfang und Qualität der konkreten praktischen Gestaltung der partizipatorischen Formen und Normen – ist von ihrem rechtlich-administrativen Rahmen zwar nicht unabhängig. Aber obwohl eine volle rechtliche Autonomie im Sinne einer Körperschaft des öffentlichen Rechts Schulen auch damals nicht gegeben war, haben Schulen es damals wie heute verstanden, ihre partizipatorische Praxis und ihre demokratische Kultur erheblich weiter zu entfalten, als es bei einer restriktiven Interpretation des rechtlichen Status zu erwarten wäre – und als es von den meisten Schulen üblicherweise praktiziert wird. Teilweise bekommen hier die Förder- und Schulvereine aufgrund ihres Status als juristische Personen eine wichtige kompensatorische Bedeutung, und nicht selten bieten sie auch für Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler Spielräume, die als Teil der Schule erlebt werden, ohne dass sie rechtlich in deren Rahmen fallen.167 Im Deutschen Schulpreis gibt es sehr viele Bespiele, wie es auf diese Weise, aber vor allem durch eine demokratische Kultivierung der verschiedensten Formen des Zusammenwirkens und der Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen gelingen kann, die restriktiven Rahmenbedingungen des Anstaltsrechts in den Hintergrund treten zu lassen.168 als Trägerin der äußeren Schulverwaltung, der Schule das Haus; Herr im Hause aber ist der Staat.“ S. Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 14. Aufl. 1933, Nachdruck Bad Homburg, Art. 143, wie Anm. 2, hier S. 668, i.O. gesperrt. Zum Elternrecht schreibt Anschütz: „Auch die Eltern (der die Schule besuchenden Kinder) und sonstigen Erziehungsberechtigten gehören nicht zu den Faktoren, die bei der Gestaltung des öffentlichen Unterrichtswesens mitzuwirken haben. Ein dahingehendes ‚Elternrecht‘ läßt sich weder aus Art. 143 noch aus einem der anderen schulrechtlichen Artikel, noch insbesondere aus Art. 120 herleiten [...]. Die Einrichtung von Elternbeiräten an den öffentlichen Schulen [...] wird von der RVerf keinesfalls gefordert, steht aber mit ihr, soweit diese Beiräte lediglich beratende Hilfsorgane der staatlichen oder kommunalen Schulbehörden sind, auch nicht im Widerspruch.“ Ebd., S 669. 167 Fauser: Freiheit (wie Anm. 144). 168 Als Beispiele seien genannt: Die Grundschule Kleine Kielstraße, Dortmund, das Gymnasium Neckartenzlingen, die Jenaplan-Schule Jena, die Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim, die Sophie-Scholl-Schule in Bad Hindelang, die Wartburg-Grundschule in Münster. Helga Boldt: In der Welt bestehen. Die Grundschule Kleine Kielstraße, in: Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2007), S. 28–33; Peter Fauser: Auf mich kommt es an. Die Robert-Bosch-Gesamtschule, Hildesheim, in: Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2008), S. 28–35; Peter Fauser: „Haus für Kinder“. Die Wartburg-Grundschule, Münster, in: ders./Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2009), S. 30–39; Helmut Frommer: Gelebte Demokratie. Das Gymnasium Neckartenzlingen, in: Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2008), S. 68–73; Katrin Höhmann/Michael Schratz: Eine außergewöhnliche Schule für alle. Die Sophie-Scholl-Schule, Bad Hindelang, Allgäu, in: Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2010), S. 48–57; Roman Rösch: „... die beste Schule für mich“. Jenaplan-Schule Jena, in: Fauser/Prenzel/Schratz: Schulen! (wie Anm. 19, 2007), S. 40–45.

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Als kleine Gemeinwesen, in denen Menschen im Interesse gemeinsamer Angelegenheiten zusammenarbeiten, sich beraten, miteinander entscheiden, initiativ werden und ihre Aufgaben in gegenseitiger Achtsamkeit wahrzunehmen suchen – als partizipative oder demokratiepädagogische Kultur – schaffen gute Schulen eine praktische Wirklichkeit, die mit den formalen Kategorien ihrer rechtlichen Verfasstheit nicht angemessen beschrieben werden kann – ebenso wenig wie mit den verrechtlichten prozeduralen Formen parlamentarischer Verfahren. Pädagogisch wie politisch bilden die rechtlichen Bestimmungen lediglich eine, wenn auch wichtige, Ressource der Gestaltung von Handeln und Institutionen. Gerade im Hinblick auf die Schule als einer eigensinnigen Welt des gemeinsamen Handelns und der gemeinsamen Verständigung ist die von Gerhard Himmelmann eingeführte kategoriale Differenzierung von Demokratie als Lebens-, Gesellschaftsund Herrschaftsform sehr hilfreich, weil sie die Aufmerksamkeit auf die je eigenen praktischen und systemischen Gesamtverhältnisse lenkt. Im Blick auf die Praxis der Universitäts-Übungsschule seien hier im Sinne demokratiepädagogischer Koordinaten die drei für diesen Grundgedanken zentralen Thesen aus dem „Magdeburger Manifest zur Demokratiepädagogik“ der DeGeDe169 zitiert. Dort heißt es: „3. Demokratie als Gesellschaftsform bedeutet, diese als praktisch wirksamen Maßstab für die Entwicklung und Gestaltung zivilgesellschaftlicher Gemeinschaften, Verbände und Institutionen zu achten, zur Geltung zu bringen und öffentlich zu vertreten. 4. Demokratie als Lebensform bedeutet, ihre Prinzipien als Grundlage und Ziel für den menschlichen Umgang und das menschliche Handeln in die Praxis des gelebten Alltags hineinzutragen und in dieser Praxis immer wieder zu erneuern. Grundlage demokratischen Verhaltens sind die auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Achtung und Solidarität zwischen Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter, ethnischer Zugehörigkeit, Religion und gesellschaftlichem Status. 5. Politisch wie pädagogisch beruht der demokratische Weg auf dem entschiedenen und gemeinsam geteilten Willen, alle Betroffenen einzubeziehen (Inklusion und Partizipation), eine abwägende, am Prinzip der Gerechtigkeit orientierte Entscheidungspraxis zu ermöglichen (Deliberation), Mittel zweckdienlich und sparsam einzusetzen (Effizienz), Öffentlichkeit herzustellen (Transparenz) und eine kritische Prüfung des Handelns und der Institutionen nach Maßstäben von Recht und Moral zu sichern (Legitimität).“

Welches Bild ergibt sich, wenn man die pädagogische Praxis der Universitätsschule aus der hier formulierten Perspektive betrachtet? Die von der DeGeDe vor allem in These 5 formulierten Prinzipien könnten als Leitlinien auch aus der Praxis der Schule von Wolff und Petersen gewonnen sein. Freilich: Wolff und Petersen haben die Grundsätze ihrer Schule nicht demokratietheoretisch begründet. Sie resultieren vielmehr aus ihrer Pädagogik der „neuen Schule“, in der die Achtung vor jedem einzelnen Kind und die Überzeugung von einer universell humanisierenden Entwicklungsdynamik vernünftig organisierter, wissenschaftlich begleiteter und kritisch evaluierter 169 Magdeburger Manifest zur Demokratiepädagogik, in: Beutel/Fauser: Demokratiepädagogik (wie Anm. 35), S. 200–202. Das „Magdeburger Manifest“ wurde bei einer „Halbzeitkonferenz“ im Rahmen des BLK-Modellprogramms „Demokratie lernen und leben“ am 26.2.2005 von den dort anwesenden Teilnehmern verabschiedet. Der Text wurde auf Initiative von Peter Fauser und nach Diskussion durch die Teilnehmer von Wolfgang Edelstein, Peter Fauser und Gerhard de Haan formuliert.

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Gemeinschaften Gestalt gewinnt. Das partizipative Gemeinschaftsleben ihrer Schule folgt nicht einem aus dem politischen System auf die Schule heruntertransformierten Strukturmodell einer demokratischen Regierung oder des parlamentarischen Modells – es ist keine Übertragung von Demokratiepolitik in Demokratiepädagogik. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil die Weimarer Republik ein solches demokratiepolitisches Modell nicht bereithält. Auch für die Schule heute ist übrigens eine solche Vorstellung – die demokratiepädagogische Qualität einer Schule entspringe einer strukturellen Analogiebildung, bei der die Verfahrens- und Organisationsstrukturen des demokratischen, gewaltenteiligen Rechtsstaats auf die Schule übertragen werden – konzeptionell verfehlt und wird empirisch durch die großen Unterschiede bei der konkreten Ausgestaltung demokratischer Schulen widerlegt.170 Entscheidend ist auch hier, dass jede Schule ihren Weg findet, Mitwirkung, Mitverantwortung, Transparenz, Inklusion zu realisieren. Dabei ist auch zu sehen, dass Schulen – je nach Größe, Schülerpopulation und eigener Tradition – die Ausgestaltung der formalen Gremienarbeit auf die informellen Elemente der Mitwirkung und des Engagements produktiv abstimmen. Sie etablieren durchaus so etwas wie ein dynamisches Wechselspiel zwischen der innerschulischen „Zivilgesellschaft“ und der innerschulischen „Regierung“. Gleichwohl bildet für Kritiker Petersens die Bedeutung der Gremien einen, wenn nicht sogar den entscheidenden demokratischen Prüfstein. Seine Aussage zur Idee der Schulgemeinde im „Kleinen Jena-Plan“: „Sollten sich Schülerparlamente und Schülergerichte in ihr finden, so ist es nichts diese Schule Bezeichnendes.“ wird von Ortmeyer, Döpp unter anderem als Beleg herangezogen dafür, dass der Jenaplan „mit einer demokratisch orientierten Schule [...] nichts zu tun“ habe.171 Zu einer solchen Einschätzung kann man eigentlich nur kommen, wenn man „demokratische Kultur“ auf formale Organisation reduziert, und wenn man wesentliche Kontexte dieser Aussage Petersens ausblendet: die Praxis der Schulen (der Jenaer Universitätsschule wie die der Hamburger Gemeinschaftsschulen), die mehrfach und differenziert ausgeführten Vorstellungen Petersens zur pädagogischen Autonomie, zur Selbstverwaltung von Schulen und Schulengemeinschaften, die konkreten Erfahrungen mit der Rolle und Funktion des Parlaments in der Weimarer Republik und erst Recht seine Auffassungen zur Rolle von Macht und Gewalt in der Schule. In seiner pädagogischen Praxis werden Kinder, Eltern und Lehrpersonen in alle wichtigen Fragen der Erziehung, des Unterrichts und des Gemeinschaftslebens effektiv einbezogen – und zwar nicht nur gehört oder informiert, sondern partizipatorisch beteiligt. Der Grad der rechtlich-adminstrativen Gestaltungs- und Entscheidungsbefugnis – der Selbstverwaltung der Schulen über die einzelne Schule hinaus geht weiter als heute üblich und entspricht der einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Petersen will eine Schule ohne „Strafe und Zwang“, und er wendet sich mit äußerster Schärfe gegen pädagogische Positionen – wie die Zillers –, deren Bild vom Kind mit einer autoritären Unterordnungs- und Strafpädagogik gekoppelt ist, die pädagogisch dem entspricht, was rechtlich in der in der Weimarer Zeit – und in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit bis in die sechziger Jahre hinein mit der Figur des „besonderen 170 Vgl. die in Anm. 168 genannten Beispiele. 171 Ortmeyer: Mythos (wie Anm. 2), S. 130; Petersen: Jena-Plan (wie Anm. 6), S. 8; vgl. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 74f.

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Gewaltverhältnisses“ fixiert war.172 Demnach wurden Schüler rechtlich Soldaten und Strafgefangenen gleichgestellt und unter Einschränkung der Grundrechte der schulischen Gewalt unterworfen, zu der auch – in Bayern bis 1978 – die „Prügelstrafe“ gehörte.173 Für Petersen – und nicht nur für ihn – war das Parlament nicht der Hort einer kraftvollen, effektiv demokratischen, am Gemeinwohl orientierten, politisch richtungswirksamen Willensbildung und deshalb auch kein auf wirkliche Gemeinschaften, also auch Schulen, übertragbares Muster des Zusammenwirkens und gemeinsamer Verantwortung. Es ist vielmehr die „strukturelle Schwäche jenes von Bismarck zum Spielball seiner Machtpolitik degradierten Parlaments, dessen Fortführung Petersen anklagt“ und dem er „mangelnde Effektivität“, „Geringschätzung in der Öffentlichkeit“, fehlende Sachkompetenz, Desinteresse und parteipolitische Instrumentalisierung vorwirft.174 Vor einem solchen Hintergrund die Einrichtung von parlamentarischen Verfahren als womöglich bahnbrechenden Schritt und Nagelprobe der Demokratisierung der Schule anzusehen, ist nicht angemessen – ganz abgesehen von dem ganz grundlegenden Kategorienfehler, der in einer bloßen Übertragung von Demokratie als Regierungsform auf Demokratie als Lebensform liegt.175 Bis heute besteht im übrigen kein Grund, die demokratiepädagogische und demokratiepolitische Bedeutung der formalen Gremien in der Schule zu überschätzen. So lange die Schule als nicht rechtsfähige Anstalt der vollen Rechts-, Dienst- und Fachaufsicht der Schulverwaltung unterliegt und diese mit sehr weitgehenden Befugnissen für Verordnungen und Erlasse ausgestattet ist, die fast unbegrenzte Durchgriffe auf die Praxis legalisieren, bilden die Rechte der Eltern, der Schüler und der Lehrer nicht mehr als eine „Mitwirkung an Verwaltungsentscheidungen“.176 Es überrascht deshalb nicht, wenn Gremienarbeit, wie Doris Knab dies immer wieder formuliert hat, vielen noch immer als „Synonym für aufwendigen Leerlauf“ gilt.177 Es ist eine der Erfahrungen des Förderprogramms „Demokratisch Handeln“ seit gut zwei Jahrzehnten, dass formale Gremien in Schulen in dem Maß lebendig und für die Beteiligten interessant werden – also wirksam für Schulleben und Schuldemokratie –, in dem es dort um Themen geht, die den Beteiligten als „welthaltig und werthaltig“ – also 172 Fauser: Freiheit (wie Anm. 144). 173 Noch 1978 ging beispielsweise das bayerische OLG (Beschluss v. 4.12.1978, DÖV 1979, S. 416) davon aus, dass ein „gewohnheitsrechtlich zustehendes, maßvoll gegen Knaben an bayerischen Volksschulen ausgeübtes Züchtigungsrecht“ existiere. 174 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 696; zur Parlamentarismuskritik Petersens S. 695–701. Petersens Urteil über den Parlamentarismus fällt scharf und pessimistisch aus: „Wir haben den Glauben an die Macht, Wert und Ideal dieses Parlamentarismus verloren, seitdem er weder die Gesetze der Ehre und des Anstandes noch das Recht und eine vernünftige soziale Ordnung auch nur schützen kann. So sehen wir in Europa in manchen Ländern bereits einen Abfall vom alten Parlamentarismus, nicht unmöglich, dass andere bald folgen.“ Petersen: Neueuropäisch, S. 37f. Zit. auch bei Retter, der Petersens demokratiepolitische Einschätzung Europas als falsch zurückweist. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 696. Petersen: Schulreform (wie Anm. 54), S. 182f., S. 194. 175 Petersen ausführlich dazu in: Gemeinschaftsleben (wie Anm. 122), S. 230–252, hier S. 232f. 176 Ingo Richter: Theorien der Schulautonomie, in: RdJB, 42. Jg., Hf. 1 (1994), S. 5–16. 177 Doris Knab: Schritte auf dem Weg zu einer demokratischen Schulverfassung, in: RdJB, 35. Jg, Hf. 3 (1987), S. 247–254, hier S. 248.

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von wirklichem Belang für die Schule und darüber hinaus erscheinen. Hier ist die Gremienarbeit eine Funktion der Praxis und kein Selbstzweck. Es erstaunt daher auch nicht, dass Projekte, in denen die Arbeit mit und an Gremien Ausgangspunkt oder Mittelpunkt bilden, im Förderprogramm quantitativ eine geringe Rolle spielen.178 Für Petersen ist das Konzept der Schulgemeinde funktionales Äquivalent dessen, was wir heute als demokratisch verfasste Schule oder demokratische Schulkultur bezeichnen. Soweit es dabei in der Schule und über die einzelne Schule hinaus um fachliche und bürgerschaftliche Mitwirkung, Gestaltungsspielräume und Organisation geht, spricht er von Gemeinschaft, Autonomie und von Selbstverwaltung, nicht von Demokratie, von Volk und nicht von Gesellschaft.179 Seine mit „Selbstverwaltung“ verbundenen Vorstellungen übersteigen dabei, um es nochmals zu betonen, das, was heute möglich und üblich ist. In gewisser Weise könnte man stiftungsgetragene Verbünde freier Schulen als gegenwärtige Umsetzung einer solchen Unabhängigkeit und zivilgesellschaftlich bestimmten, gegenüber der staatlichen Schulverwaltung sehr weitgehend verselbständigten Organisationsform betrachten. Für Petersen, wie für viele seiner Zeitgenossen, ist Staat180 im Blick auf die Schule vor allem ein Synonym für bürokratische Konformität und für den alten autoritären Geist, Demokratie bestenfalls eine uneingelöste Vision, schlimmstenfalls Synonym für einen durch Parteiengezänk und opportunistische Machtpolitik bestimmten, nicht wirklich gestaltungsmächtigen oder gar vernunftgesteuerten Parlamentarismus. In einer Entgegnung auf die Kritik von Max Enderlin, einem Besucher der Schule, an der weitgehenden Partizipation der Eltern, erläutert Petersen, wie er das Verhältnis zwischen Staat und Schule sieht: „Die mir vorschwebende Schulorganisation will das staatliche Hoheitsrecht nicht beseitigen. Ich glaube aber (u.a. mit Fr. W. Dörpfeld), dass der Staat die Bildung von Schulgemeinden begünstigen muss, indem er weitgehendste Selbstverwaltung gestattet. Genau so wie die Städte aufblühten, als sie von der Regie des merkantilistischen Staats befreit wurden und Selbstverwaltung erlangten unter letzter Aufsicht des Staates, wird das Schulwesen sich entwickeln. Der Staat habe die oberste Verwaltung und wirke anregend im Geiste des Fortschritts, fördernd, unterstützend.“181 Tendenziell ist Petersens Demokratiebegriff – verstanden als der Sinn, den er dem Wort Demokratie gibt –, durch sein Urteil über den Parlamentarismus als einer in seinen Augen geradezu verwahrlosten, vom Parteiengezänk begleiteten Form ei178 Zum neuesten Stand: Wolfgang Beutel/Peter Fauser (Hg.): Demokratie erfahren. Analysen, Berichte und Anstöße aus dem Wettbewerb „Förderprogramm Demokratisch Handeln“, Schwalbach a.T. 2012. 179 Allerdings spricht Petersen in seinem Bericht über den Besuch in Nashville nicht von „Vergemeinschaftung“, sondern von „Vergesellschaftung“. Dabei dürfte entscheidend sein, dass „community“ im Englischen den Sinn der beiden deutschen Begriffe miteinander verbindet und daher die Aspekte der Zugehörigkeit, Bindung und Anerkennung einschließt, die für Petersen beim deutschen Begriff der Gesellschaft in den Hintergrund geraten. Vgl. Petersen: Schulleben (wie Anm. 49), S. 41. Dazu Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 187. 180 Dazu Petersen: Professuren (wie Anm. 149), S. 28ff. Insb. Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 144), S. 160–211. 181 Peter Petersen: Ein paar Ergänzungen zur kritischen Würdigung des „Jena-Plans“ von Max Enderlin, in: Neue deutsche Schule, 2. Jg. (1928), S. 750–751, hier S. 750. Auch bei Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 138, i.O. gesperrt.

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nes manipulativen Mehrheitsmanagements geprägt. Es erstaunt nicht, wenn er eine solche Form der Organisation für die Schule für völlig ungeeignet hält. Petersen ist – jetzt in heutiger Terminologie gesprochen – indessen demokratiepädagogisch und auch demokratiepolitisch keineswegs ohne Idee und Konzept. Politisch schwebt ihm eine Gesellschaft vor, in der der Staat zurückgenommen werden müsse „auf jenes Minimum an Autorität, das er benötige, um die freie Vergesellschaftung einer sich zu wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen Vereinigungen zusammenfindenden Bürgerschaft zu ermöglichen.“182 Sein politisches Bild entspricht dem korporatistischen Denken beziehungsweise der Vorstellung eines „Gildensozialismus“ mit genossenschaftlichen Organisationsformen. In der heutigen Debattenlandschaft entspräche dies einer kommunitaristischen Grundposition183 und einer partizipativen, durch starke direkte Mitwirkung aller bestimmten Demokratie. Am markantesten konturiert Petersen diese Vorstellung im demokratiepädagogischen Kontext, wenn es um pädagogische Autonomie und Selbstverwaltung der Schulen geht.184 Gesellschaftspolitisch allerdings wird von ihm weder der Gildengedanke konkret ausformuliert noch bietet er ein „Modell politischer Integration an“.185 Demokratie ist für ihn kein Synthese- und Bewegungsbegriff. Freilich werden in der gegenwärtigen Petersen-Debatte, wie schon bemerkt, auch Positionen vertreten, die zu der hier vertretenen Einschätzung in völligem Widerspruch stehen. Ein extremes Beispiel dafür bietet die Arbeit von Döpp, die tendenziell einen Determinationszusammenhang behauptet zwischen einem interpretativ gewonnenen, Petersen zugeschriebenen, metaphysisch bestimmten angeblich „totalitären“ Gemeinschaftsbegriff und den Sozialisationswirkungen der Universitätsschule. Döpps umfangreiche Auseinandersetzung mit Petersen konzentriert sich auf dessen Verhältnis zum Nationalsozialismus. Petersen hoffte nach 1932, so Döpp, „seine im Weimarer ‚Parteienstaat‘ gescheiterten bildungspolitischen Ziele unter den geänderten politischen Bedingungen endlich durchsetzen zu können. Er und sein Umfeld entwickelten deshalb erhebliche propagandistische Aktivitäten, die insbesondere das Ziel verfolgten, den ‚Jena-Plan‘ als Modell der erwarteten umfassenden NS-Schulreform durchzusetzen. Die ideologische Grundlage bildete dabei eine zwar radikalisierte, jedoch nicht fundamental veränderte Fassung des ursprünglichen politisch-pädagogischen Reformprogramms, in dessen Zentrum auch weiterhin die ‚Volksgemeinschaft‘ stand, die jedoch nunmehr als Beschreibung der nationalsozialistisch bestimmten Gegenwart verstanden oder doch ausgegeben wurde.“186 Grundlegend für Döpps These der „Kontinuität“ ist der Versuch, nachzuweisen, dass der Jena-Plan durch sein Verhältnis zur „Gemeinschaft“ schon in der Weimarer Zeit als ein „antipluralistisches und damit antidemokratisches Konzept“ beurteilt 182 Ebd., S. 699. 183 Vgl. dazu Charles Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?, Frankfurt a.M. 2001. 184 „Bei Petersen bilden Schulgemeinde-, Genossenschafts-, und Autonomiegedanke eine Einheit.“ Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 706. 185 Ebd., S. 699; Petersen: Bildungsweg (wie Anm. 100), S. 50. 186 Robert Döpp: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit (= Pädagogik und Zeitgeschehen. Erziehungswissenschaftliche Beiträge 4), hg. v. Kurt-Ingo Flessau, zugl. Diss. Päd. Hannover 2002, Münster/Hamburg/London 2003, hier S. 695, Hervorh. i.O.

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werden muss, das „sich gegen die entsprechend konstituierte ‚Gesellschaft‘ der Weimarer Republik richtete und das mit seinem absoluten Geltungsanspruch ‚totalitäre‘ Züge trug.“187 Dabei konzediert Döpp zwar, dass Petersens Reformposition auf „metaphysische“ und „kulturphilosophische“ Begründungen aufbaue und ebenso, dass Petersens Position weder von ihm selbst noch von der Petersen-Forschung ausdrücklich als „nationalsozialistisch“ in einem „allgemein vorausgesetzten ‚idealtypischen‘ Sinne“ bezeichnet werde beziehungsweise worden sei.188 Aber für den ideologischen „Anschluss“189 an den Nationalsozialismus und dafür, dass Petersen faktisch, wenn auch möglicherweise „(wider Willen) zu der (ideologischen) ‚kumulativen Radikalisierungsdynamik‘“190 im NS beitrug, bilde der Begriff der „Gemeinschaft“ und der Begriff „Volksgemeinschaft“ bei Petersen als der „alles entscheidende Schlüsselbegriff “191 die wesentliche Voraussetzung. Entsprechend dieser These bemüht sich Döpp zu zeigen, dass die „gottgewollte Gemeinschaft“ bei Petersen tatsächlich schon von Anfang an mit einem letztbegründenden umfassenden Geltungs- und Erklärungsanspruch verbunden wird – und zwar nicht allein als theoretisch- ideologischer Quellbegriff, sondern auch als „heilsgeschichtliches Ziel“, als „politischer Zielbegriff“, nämlich „Volksgemeinschaft“ und als praxisprägendes, wirkmächtiges Konzept.192 Um zu zeigen, dass Petersen sich nicht nur während der NS-Zeit der Sprache des „Dritten Reiches“ bedient und die Zusammenarbeit mit den Machthabern gesucht, sondern zu deren Wegbereitern gehört habe, setzt Döpp gleichsam alles auf eine ideologiekritische Karte. Seine Analysen der Begriffe „Erziehung“, „Gemeinschaft“, „Demokratie“, „Volksgemeinschaft“ ebenso wie seine Position zur Lehrerbildung, die Darstellung der „Praxis des Jenaplans“, schließlich auch Petersens „erkenntnistheoretischem Realismus“, der „pädagogischen Tatsachenforschung“, seiner „christlichen Orientierung“ und seiner „internationalen Orientierung“ folgen diesem Blickwinkel, und sie lenken auch zum intendierten Ergebnis. Bei seiner Interpretation des Gemeinschaftsbegriffs bei Petersen greift Döpp vor allem den Teil II von dessen Allgemeiner Erziehungswissenschaft von 1931 auf.193 So triftig und wichtig Döpps Arbeit für eine angemessene Sicht auf Petersens Verhalten ab 1932 ist, so wenig überzeugend ist seine „Beweisführung“ im Blick auf Petersens Denken und Handeln, seine Theorie und sein Praxiskonzept für die Zeit davor.194 Auch die Praxis der Universitätsschule 187 188 189 190 191 192 193

Ebd., S. 694, Hervorh. i.O. Ebd., S. 694f. Ebd., S. 697. Ebd., S. 695, Hervorh. i.O. Ebd., S. 697. Hervorh. i.O. Ebd. Peter Petersen: Der Ursprung der Pädagogik (= II. Teil der „Allgemeinen Erziehungswissenschaft“), Berlin/Leipzig 1931. 194 Retter erinnert gegen Döpps Argumentation an Petersens Hamburger Zeit: „,Gemeinschaft‘ war in der Schule, die Petersen zum Schulleiter wählte, nicht nur ein Prinzip, sondern artikulierte sich in jenen Formen und Verfahrensweisen der Partizipation Beteiligter, die kennzeichnend waren für den demokratischen Hintergrund der Hamburger Schulreformbewegung. Andererseits werden heute [von Döpp, P.F.] ‚Erziehung‘ und ‚Gemeinschaft‘ im Verständnis Petersens ‚durch ihre christlich-metaphysischen Letztbegründungen‘ als totalitäre Konzepte bezeichnet. Wer die realen Begründungszusammenhänge für die Bevorzugung des Gemeinschaftsbegriffs in

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wird bei Döpp ausgeblendet – oder zumindest nur strategisch, das heißt als Mittel zum Zweck der Beweisführung aufgenommen. Döpp erklärt im Kapitel mit der Überschrift „Die Praxis des ‚Jena-Plans‘“,195 es gehe „hier nicht darum, die praktische Realisierung des ‚Jena-Plans‘ detailliert darzustellen“196 und verweist diejenigen, die dies wollen, auf die „verschiedenen Auflagen des ‚Kleinen Jenaplans‘“. Dabei handelt es sich aber ja gerade nicht um Beschreibungen der Praxis, sondern um deren modellhafte Verdichtung.197 SCHLUSS: DAMALS UND HEUTE Der konzeptionelle Idealist in Petersen projiziert sein Bild von menschlicher Kommunität mit ihrem auf Gemeinschaft angelegten Individualismus von der Ebene der Lebensform auf die der Gesellschafts- und Regierungsform – und über Volk und Nation hinaus auf die Menschheit und die Völkergemeinschaft. Die Spezifik, der Anspruch und die Unausweichlichkeit der Regelungserfordernisse der Demokratie als Gesellschafts- und Regierungsform bleiben dabei unterbelichtet. Auch wenn man neben den Chancen auch die Risiken und die nicht aufzuhebende Ambivalenz der Formen moderner Rationalität in Organisation und Verfahren im Auge behält und zu Recht immer wieder kritisch analysiert, so muss doch gesehen werden, dass die angemessene Ausgestaltung und Weiterentwicklung repräsentativer und direkter demokratischer Formen zu den ganz großen konstitutiven Leistungen moderner Demokratien gehören, die diesen Namen wirklich verdienen. Die beklagenswerten Fehlentwicklungen in der parlamentarischen Realität sind kein Argument gegen die Stärkung und Entfaltung der Rechte, der Organisation und der Verfahren der Parlamente als den legitimen Repräsentanten der Völker. Im Gegenteil. den demokratischen Reformbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg untersucht und Petersens Bekenntnis zu den Verfahrensweisen der Schülermitbeteiligung zur Kenntnis nimmt, wie sie an der Lichtwarkschule unter seiner Leitung (und auch unter seinen Nachfolgern) praktiziert wurde, kann schwerlich zu einem solchen Urteil kommen.“ Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 90; Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 4), S. 49f. 195 Ebd., S. 133–172. 196 Ebd., S. 136, Anm. 788. 197 Es überrascht dann auch nicht, wie Döpp eine Äußerung von Katharina Weinel (später Franz), einer Schülerin der Universitäts-Übungsschule seit 1925, interpretiert. Katharinas Mutter Ada Weinel: „‚In unserer neuen Schule gibt es keinen Stundenplan‘, sagte Katharina nach dem ersten Schultag. ‚Wir dürfen alles tun, was wir wollen.‘ [...] Nach acht Tagen sagte sie: ‚Nun habe ich die neue Schule verstanden. Man darf alles, was man will, man darf aber nur wollen, was für alle schön und recht ist.‘“ Für Döpp ist dies ein Beweis für den totalitären Charakter der Gesamtkonzeption Petersens und ihren dem entsprechenden antiindividualistischen Zug – Unterwerfung unter den Gruppenzwang –, und nicht etwa ein Indiz dafür, dass bei Katharina ein soziomoralischer Lernprozess eingesetzt hat, der sie dazu anregt, das „Wollen“ im Kontext einer universalistisch orientierten Perspektive zu bedenken: Ihre Wendung „Man darf nur wollen, was für alle schön und recht ist“ kann man nämlich durchaus als Variante des kategorischen Imperativs auffassen. – Ada Weinel: Aus dem Leben einer Jenaer Schule, in: Kindergarten (gegr. 1860) (1926), S. 265–267. Abgedr. in: Retter: Petersen (wie Anm. 16), S. 130–132, hier S. 131. Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 4), S. 133, 170.

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Insgesamt fungiert in der heutigen Diskussion Demokratie weltweit durchaus als einer der großen Richtungs-, Synthese- und Entwicklungsbegriffe, mit dem wir Weg und Ziel einer an den Menschenrechten ausgerichteten politischen und gesellschaftlichen Selbstorganisation menschlicher Kommunitäten im Sinne eines Inbegriffs konzentrieren. Wir erwarten heute, dass es – sagen wir es einfach – nirgends undemokratisch zugeht. Selbst in den Bereichen, die aus zwingenden Gründen durch die Anwendung von Gewalt gegen Menschen geprägt sind wie etwa Gefängnisse, wird erwartet, dass diese Gewalt demokratisch legitimiert und kontrolliert wird. Wenn man Demokratie so als prägendes Prinzip der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit auffasst – als Sauerteig menschlichen Zusammenlebens –, dann ist auch klar, dass damit ein Qualitätsanspruch verbunden ist, der alle drei Ebenen der Demokratie und deren Wechselverhältnis umfasst. Es genügt nicht, dass Demokratie je für sich in kleinen sozialen Einheiten, in zivilgesellschaftlichen Zweckbündnissen oder als Regierungsorganisation existiert. Ihr Bestand erfordert vielmehr ihre lebendige und tragfähige Verwirklichung in allen drei Bereichen und, mehr noch, deren wechselseitige Verflechtung. In der Gegenwart gehört Demokratie also einerseits zu den pädagogisch wie politisch gleichermaßen allgegenwärtigen Ziel- und Grundbegriffen. „Der Siegeszug der Demokratie“, so konstatieren Werner A. Perger und Thomas Assheuer in einer Essay-Sammlung zur Jahrtausendwende, „ist unaufhaltsam. [...] Kein Land, vielleicht nicht einmal China, scheint dem gewaltlosen Versprechen der Freiheit und dem Anspruch auf Menschenrechte dauerhaft widerstehen zu können. [...] Der Weltgeist ist demokratisch und sein Domizil das Parlament.“198 Selbst der konservative Historiker Paul Nolte spricht in seiner aktuellen Studie davon, dass „die Alternativlosigkeit der Demokratie [. . . ] tatsächlich ein bemerkenswertes historisches Novum“ darstellt.199 Das ist die eine Seite der Entwicklung. Auf der anderen Seite werden fundamentale Gefährdungen der Demokratie von innen und von außen gesehen, vor allem infolge der „Aufweichung liberaler Strukturen und den Turbulenzen der globalisierten Ökonomie.“200 Die kritische Diagnose gilt nicht nur für den nationalstaatlichen Rahmen. Heute vielmehr, so charakterisiert Otfried Höffe die Ausgangslage im „Zeitalter der Globalisierung“, „drängt die gesellschaftliche Wirklichkeit über die einzelnen Demokratien mächtig hinaus. Von der Wirtschaft über Wissenschaft, Medizin und Technik bis zur Kultur und von Völkerwanderungen über Umweltprobleme bis zu Terrorismus und organisierter Kriminalität entsteht ein Handlungsbedarf, der sich nicht an Staatsgrenzen hält. Wird also der Handlungsbedarf global, so legt sich der Gedanke eines ebenso globalen Gemeinwesens nahe einer weltweiten Rechts- und Staatsordnung, die sich um der emphatischen Selbstorganisation willen als globale Demokratie, als Weltrepublik, etabliert.“201

Mit diesem Gedanken postuliert Höffe für seine demokratietheoretische Analyse der Gegenwart einen Horizont, der als ebenso zwingend wie durch seine Größe als kaum bewältigbar erscheint. Gleichwohl unternimmt Höffe – angesichts der Potentiale wie 198 199 200 201

Werner A. Perger/Thomas Assheuer (Hg.): Was wird aus der Demokratie?, Opladen 2000, S. 7. Paul Nolte: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 468. Ebd., S. 8. Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, München 2002, S. 9.

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der Gefährdungen und Probleme – den groß angelegten Versuch, ein „realistisches Ideal“ einer demokratischen „Weltordnung“202 zu skizzieren, die dazu dienen soll, durch ein gestaffeltes Geflecht von politischen und rechtlichen Institutionen die politische und vor allem die ökonomische Dynamik im regionalen und globalen Raum zu bändigen. Prozesse der Machtbildung und Machtausübung sollen an die Maßstäbe einer universalistisch ausgerichteten Vorstellung von Gerechtigkeit und Partizipation gebunden werden, wie sie dem Ideal demokratischer Handlungsverhältnisse und Systeme entsprechen, die in der Verfassung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats in einem nationalen Rahmen durchgebildet sind. Ein Beispiel tiefer Skepsis bieten die Analysen von Colin Crouch: Als Regierungsform ist heute die Demokratie „– weltgeschichtlich betrachtet – an einem Höhepunkt angelangt.“ Nimmt man freie Wahlen als einen der elementaren Indikatoren für demokratische Herrschaft, dann ergibt sich weltweit ein Anstieg von 147 Ländern mit freien Wahlen im Jahr 1988 auf 164 im Jahr 1995 und 191 im Jahr 1999. „Aber diese Zahlen“, so Crouch, „sagen noch nichts über die „Gesundheit des politischen Systems aus“. „Die Demokratie kann nur gedeihen“, argumentiert Crouch, „wenn die Masse der normalen Bürger wirklich die Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen – und wenn sie diese Gelegenheiten auch aktiv nutzt.“

Ein solches Idealbild von Demokratie beruht allerdings auf anspruchsvollen Voraussetzungen deren Beschreibung von Crouch an Wilhelm Flitners Überlegungen von 1931 erinnert: „Es setzt voraus, daß sich eine sehr große Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda beteiligt und nicht allein passiv auf Meinungsumfragen antwortet; daß diese Menschen ein gewisses Maß an politischem Sachverstand mitbringen und sie sich mit den daraus folgenden politischen Ereignissen und Problemen beschäftigen.“203

Crouch sieht die Demokratie vor allem durch einen Verfall bürgerschaftlichen Engagements und dessen verhängnisvolle Verstärkung durch ein Phänomen gefährdet, das er als „Postdemokratie“ bezeichnet, ein „Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle. [...] Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht“.204 202 Ebd., S. 11. 203 Colin Crouch: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008 (Original: Postdemocrazia, Roma-Bari 2003), S. 7ff.; ders.: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II, Frankfurt a.M. 2011. Mit ähnlicher Stoßrichtung, aber als Problem der Gesellschaftstheorie und eines „wahren“ Liberalismus im Sinne „engagierter Freiheit“, argumentiert Peter Sloterdijk: Streß und Freiheit, Berlin 2011. 204 Crouch: Postdemokratie (wie Anm. 203), S. 10. Schmotz spricht kritisch von „Wahlautokratien“. Alexander Schmotz: Freiheit als Dilemma. Ein wenig Demokratie stört Diktaturen nicht – vom

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In dieser Hinsicht wird die gegenwärtige Lage der Demokratie auch mit Gründen sehr kritisch beurteilt, die durchaus mit den skeptischen Einschätzungen Petersens und seiner Zeitgenossen korrespondieren und an die in der Weimarer Republik verbreiteten Zweifel an der politischen Tragfähigkeit der parlamentarischen Demokratie erinnern, die wiederum Petersens Überzeugung mitprägen – und nicht nur seine. Selbst Wilhelm Flitner, der in einer bedeutenden Rede zum Verfassungstag in Hamburg 1930205 die Notwendigkeit herausarbeitet, dass und wie Erziehung und Politik im „neuen Staat“ (gemeint ist die Weimarer Republik) zusammenwirken müssen – heute würden wir sagen: wie Demokratiepolitik und Demokratiepädagogik ineinander greifen müssten –, verwendet als politischen Synthese- und Zielbegriff für einen partizipatorisch geprägten Gesamtstaat nicht das Wort „Demokratie“, sondern spricht vom „Volksstaat“. Flitners Rede ist einer der wenigen pädagogischen Texte aus der Weimarer Zeit, in denen – unter der übergeordneten Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen der Erziehung und dem „neuen Staat“ das Thema „Demokratie“ explizit und, wenn auch kurz, so doch in einem systematischen Gedankengang positiv aufgegriffen wird und anschlussfähig ist an die gegenwärtige demokratiepädagogische Diskussion. Petersen merkt in seinem Nachwort zu dem von ihm in der Reihe „Pädagogik des Auslands“ 1935 herausgegebenen Band von Dewey und Kilpatrick zum Begriff „democratization“ an, das „Wort ‚democratization‘ wäre völlig falsch verstanden, wenn man dabei an die Formen europäischer Demokratie denken wollte; es muß ins Deutsche übersetzt werden mit: Volksgemeinschaft, in genau dem Sinne, den wir diesem Wort heute geben.“206 Angesichts des Verhaltens von Petersen gegenüber dem Nationalsozialismus kann man die Wendung „genau in dem Sinne, den wir diesem Wort heute geben“, auch so interpretieren, dass Petersen den Begriff „Volksgemeinschaft“ im Sinne des Nationalsozialismus auffasst – oder jedenfalls billigend in Kauf nimmt, dass er so verstanden wird. Das ist vor dem Hintergrund seines gesamten Schrifttums ab 1933 nicht auszuschließen; angesichts des unmittelbaren Kontextes im Buch über den Projekt-Plan ist eine solche Einschätzung nicht zwingend: Petersen beschreibt im Folgenden, wie sich das Schulwesen in den USA zu „einer wirklichen Volksschule als Schule des Volkes (im Original kursiv) entwickelt, mit starker kommunaler Verankerung, flacher Hierarchie, einem Board of Education – vom Volke gewählt, [...] dem Volke gegenüber verantwortlich“, fachlich-professioneller Supervision und intensiver Elternbeteiligung.207 Siegeszug der Wahlautokratien, in: Süddeutsche Zeitung v. 24.5.2012. 205 Wilhelm Flitner: Die Erziehung und der neue Staat, in: ders.: Die Pädagogische Bewegung. Beiträge – Berichte – Rückblicke (= Gesammelte Schriften 4), Paderborn u.a., S. 279–289. Zuerst in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 6 (1930). S 696–704. Der Aufsatz ist die Veröffentlichung einer Rede, die Flitner bei der Verfassungsfeier – am 11. Jahrestag der Ausfertigung der Weimarer Reichsverfassung (am 31.7.1919 in Weimar beschlossen, am 11.8. ausgefertigt und am 14.8.1919 verkündet) – des Hamburgischen Senats am 11.8.1930 gehalten hat. 206 Peter Petersen: Nachwort. Entwicklung eines eigenen Schulwesens in USA. – Ablösung von Europa, in: John Dewey/William Heard Kilpatrick: Der Projekt-Plan. Grundlegung und Praxis (= Pädagogik des Auslands VI, hg. im Auftrag des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht von Peter Petersen), Weimar 1935, S. 206–212, hier S. 206f. 207 Ebd., S. 209.

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Fassen wir zusammen. Petersen spricht nicht von Demokratie – weder wenn es um die partizipatorische Praxis im Schulwesen, noch wenn es um die partizipatorischen Strukturen des Regierungssystems geht –, während wir heute, wenn auch noch nicht sehr lange, den Begriff der Demokratie im Sinne einer umfassenden Gestaltungsnorm für beide Ebenen verwenden. Freilich ist es theoretisch und praktisch problematisch, wenn nicht genau geklärt wird, was Demokratie auf diesen verschiedenen Ebenen bedeutet, wo die Unterschiede und wo die Gemeinsamkeiten liegen.208 Für die gegenwärtige demokratiepädagogische Diskussion grundlegend ist eine Ausfaltung des Verständnisses von Demokratie als Herrschafts-, als Gesellschafts- und als Lebensform.209 Dabei schließt die Unterscheidung dieser drei Formen demokratischer Praxis die normative Erwartung ein, dass über die Unterschiede der konkreten bereichsspezifischen Ausgestaltung von Verfahren und Organisationen hinweg die Prinzipien demokratischer Gestaltung gewahrt und immer wieder erneuert werden. Willensbildung, Wahlverfahren, Abstimmungsprozeduren, Minderheitenschutz, Mitwirkungsrechte und so weiter können und müssen sich je nach Bereich unterscheiden: Innerhalb von Parteien, in Vereinen, im Parlament, in der Schule, in Betrieben oder Wissenschaftseinrichtungen können und müssen die formalen Prozeduren demokratischer Praxis unterschiedlich geregelt werden. Die Prinzipien Inklusion und Partizipation, Deliberation oder Transparenz müssen gleichwohl wirksam beachtet werden. Es ist eine demokratiepolitische und demokratiepädagogische Aufgabe, dies im Einzelfall zu gestalten und zu evaluieren. Gerade die Analyse exzellenter Schulen zeigt, dass Schulen, um ein Wort von Richard von Weizsäcker abzuwandeln, durchaus sehr verschiedene formale – das heißt durch ein Regelwerk fixierte – Verfassungen 208 Es erstaunt, dass überhaupt erst im Jahr 2000 der Versuch gemacht wurde – gleichsam als Gegenprogramm zu der von Kurt Sontheimer repräsentierten Sicht auf die Weimarer Republik als einer durch „antidemokratisches Denken“ geprägten politischen Gesamtlage –, auf einer interdisziplinären Tagung der Frage nach dem „demokratischen Denken“ in der Weimarer Republik nachzugehen. Retter zitiert bei seiner umfassenden Studie zur Pädagogik Petersens Schönberger mit zwei Ergebnissen der Tagung: Erstens kann „aus der heutigen Perspektive einer pluralistischen Demokratietheorie kaum einer der Weimarer Autoren als Demokrat gelten“; zweitens ergibt sich, dass fast alle Autoren der Weimarer Zeit sich selbst als Theoretiker demokratischer Ordnungen begriffen, ob sie nun Gegner oder Befürworter der Weimarer Republik waren“. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 749. In umgekehrter Blickrichtung gilt: „Prüft man jedoch die Wahlaufrufe der Parteien ab 1918 auf Leitbegriffe, dann wird man bei allen drei die Weimarer Verfassung tragenden Parteien, SPD, DDP und Zentrum [...] dem antidemokratischen Geist zugehörige Leitvorstellungen finden darunter selbstverständlich das deutsche Volk, der Volksstaat, die Volksgemeinschaft, die Volksgenossen, ebenso das Volkstum.“ (Ebd., S. 278f.), Christoph Gusy: Fragen an das „demokratische Denken“ in der Weimarer Republik, in: ders. (Hg.): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik (= Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 16), Baden-Baden 2000, S. 635–663. „Demokratisch“ im heutigen Sinne – in einer gewissermaßen fair abgewogenen Einschätzung, die den praktischen und theoretischen Bedeutungswandel nicht ignoriert, heißt aus der Sicht von Hein Retter „ab 1919: auf dem Boden der Weimarer Verfassung stehen – und dort stand Petersen bis 1932.“ (Persönliche Mitteilungen Retter an Fauser v. 28. und 29.10. 2011). S. auch Hein Retter (Hg.): Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Beiträge zur Pädagogik Peter Petersens, Weinheim 1996, insb. S. 105f., 255f.; ders., Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 39f., S. 85f. 209 Gerhard Himmelmann: Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform, Schwalbach a.T. 2001.

Eine demokratische Schule?

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haben und gleichwohl in einer vergleichbar guten demokratischen Verfassung sein können. Quasi-parlamentarische Prozeduren und Verfahrensordnungen sind noch keine Gewähr für demokratische Qualität, oder, um einen anderen Synthesebegriff zu verwenden, für die demokratische Kultur einer Schule. Mit dieser Unterscheidung von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts-, und Herrschaftsform lässt sich sehr gut deutlich machen, dass es unangemessen ist, eine der drei Formen für alle Ebenen und Bereiche der Gesellschaft als einheitliches demokratisches Organisationsmuster durchzusetzen. Die Gesellschaft insgesamt oder den Staat mit seinen Körperschaften im Sinne Deweys als „Great Community“, als Lebensform zu denken, ist ebenso verfehlt, wie die Schule – oder, noch extremer, die Familie – wie einen gewaltenteilig verfassten Staat mit Legislative, Exekutive und Jurisdiktion gestalten zu wollen. Im einen Fall wird ausgeblendet, dass die Gesamtgesellschaft sich nicht wie eine große, solidarische, verständigungswillige und konsensfähige Handlungsgemeinschaft organisieren lässt, sondern unter Bedingungen des Zeitknappheit, partikularer Interessen, bleibender Konflikte und mangelnder Solidarität auf die effiziente Organisation von Mehrheitsentscheidungen angewiesen ist, die es ermöglichen, Ziele zu verfolgen und Mittel anzuwenden auch und gerade dann, wenn dies nur um den Preis möglich ist, dass auf Konsens verzichtet, die Kommunikation abgebrochen und Gewalt angewendet wird. Politik verfolgt die Organisation von Mehrheiten mit dem Ziel, die Voraussetzung für die legale Ausübung von Macht und staatlicher Gewalt zu sichern. Im anderen Fall – der Betrachtung der Schule wie eine Regierungsform – wird die Natur der pädagogischen Praxis und die Eigenart der Schule als Organisation gleichermaßen verfehlt. Darauf hat auch Peter Petersen immer wieder aufmerksam gemacht, direkt und indirekt. Für ihn ist die Schule als „Gemeinschaftsschule“ und „Schulgemeinde“ zu gestalten, in heutiger Sprache hieße das, als eine „demokratische Lebensform“. Gesellschaftstheoretisch wird diese Lebensform bei Petersen aber nicht als integrierter Bestandteil von Demokratie als politischer Kultur im gesamtgesellschaftlich umfassenden Sinne verstanden, sondern als ideologie- und systemdistante Kommunität. Ihre gesellschaftliche Funktion kann in dieser Perspektive nicht als wesentlicher Teil der politischen Sozialisation, als demokratiepolitische Erziehung aufgefasst werden, sondern wird als soziale Integration in die Gemeinschaft und die Gemeinschaften verstanden. Für Petersen gibt es offensichtlich keinen notwendigen inneren und auch keinen funktional-empirischen Zusammenhang zwischen den heute unterschiedenen Ebenen von Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Regierungsform. In der Folge sind für ihn Gesellschaft und Staat gleichsam segmentär agierende und interagierende Bereiche der sozialen Wirklichkeit. Für ihn, wie für das Weimarer politische Denken, ist der Begriff und das Konzept des Volkes, nicht das der Demokratie, der Synthese- und Entwicklungsbegriff, der die segmentären Verhältnisse zu überwinden geeignet wäre. Auch wenn Petersen nicht im heutigen Sinne demokratietheoretisch gedacht und argumentiert hat: Aus heutiger Sicht lässt sich die Praxis der Universitätsschule der Weimarer Zeit als überzeugend und umfassend demokratiepädagogisch durchgebildete Lebensform begreifen, die den Prinzipien gegenwärtigen demokratiepädagogischen Denkens nicht nur genügt, sondern als exemplarische und richtungweisende Realisie-

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rung dieser Prinzipien angesehen werden kann. Praktisch gesehen – als Interaktionsund Handlungsrealität – erfüllt die am Anfang stark von Hans Wolff geprägte Schule die Prinzipien demokratischer Erziehung, die etwa im Magdeburger Manifest der DeGeDe formuliert worden sind. Auch insofern ist es „berechtigt, dem Jenaplan ein demokratisches reformpädagogisches Potenzial zuzubilligen.“210 Gleichwohl: Petersen kann den potentiellen Zusammenhang zwischen demokratiepädagogischen und demokratiepolitischen Prozessen – die Einheit eines demokratischen Wegs –, wie sie im Magdeburger Manifest der DeGeDe ebenfalls postuliert wird, nicht konzeptualisieren. Seine Pädagogik und sein Schulkonzept bleiben demokratiepolitisch und demokratietheoretisch unterbestimmt. Es erscheint mir als nicht abwegig anzunehmen, dass dieser Mangel Petersens politisch-ideologische „Systemverfallenheit“ mit erklärt. Er glaubt zwar an das Ideal einer Menschengemeinschaft, die auf der Ebene der kleinen wie der großen Kommunitäten Gerechtigkeit, Freiheit und verantwortungsgeleitete Individualität vereinigt und verwirklicht, aber er denkt diese Menschengemeinschaft nicht als politische Demokratie und demokratische Politik im heutigen Sinne.

210 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 3), S. 825.

Justus H. Ulbricht „VOLK-BILDUNG“ – „VÖLKISCHE BILDUNG“ – „VOLKSBILDUNG“. POLITISCH-IDEOLOGISCHE GEMENGELAGEN IM PÄDAGOGISCHEN DISKURS DER WEIMARER REPUBLIK „Wer sein Volk mit der wahren Liebe aus der Tiefe seiner Volksgemeinschaft heraus ergriffen hat, dem ist es heilig, allem profanen entzogen.“ (PETER PETERSEN 1924) Im Jahr 1924 erschien erstmals Peter Petersens „Allgemeine Erziehungswissenschaft“.1 Deren Schlusskapitel „Volk“ beginnt mit dem Satz: „Der Begriff Volk ist seltsam verworren“.2 Ein seinerzeit berühmter Exponent der Volksbildungsbewegung, der Dresdner und Leipziger Volksbibliothekar Walter Hofmann, teilte auf vergleichbare Weise diese Unsicherheit: „So viel auch über Volksbildung gesprochen und geschrieben wird, der Begriff, der in aller Munde ist, bleibt dunkel und rätselhaft. Daß wahre Volksbildung nur Bildung zum Volk, zum Volk-Sein bedeuten kann, glauben wir heute zu wissen. Aber gerade dieses Wissen stürzt uns in Abgründe des Nichtwissens – unseres Nichtwissens von Volkwerden und Volkbestehen.“3 Angesichts der Tatsache, dass eine grundlegende Diskursgeschichte der Wortfelder, Begriffe und Begriffskombinationen „Volkstum“, „Volkheit“, „völkisches Wesen“, „Volkstümlichkeit“, „Volksbildung“,4 „Volkstumsbildung“, „völkische Bildung“, „Volk-Bildung“ oder ähnlicher Komposita für das weite Feld der deutschen Erwachsenenbildungs1

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Peter Petersen: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin/Leipzig 1924; dort S. 230–276 das Kapitel „Volk“. Auf den Seiten 1–31 behandelt Petersen weitere zentrale „Grundbegriffe“ seiner Erziehungstheorie, nämlich „Masse, Gesellschaft, Gemeinschaft“ und liefert damit diejenigen Stichworte, die uns in den hier analysierten „volks-“ oder „nationalpädagogischen“ Diskursen weiter interessieren werden. – Als umfassende Analyse des Petersenschen Denkens Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens, Frankfurt a.M. u.a. 2007, dort bes. S. 275–295 („Stärkung der Volksgemeinschaft – frühe Empfänglichkeiten und Orientierungen“); vgl. auch ders.: Peter Petersens Identitätsbalancen vor und nach 1933, in: Tobias Rülcker/Jürgen Oelkers (Hg.): Politische Reformpädagogik, Bern u.a. 1998, S. 563–589. Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 230. Walter Hofmann: Gestaltende Volksbildung, Leipzig 1925, S. 8. In der Einleitung zu seiner kleinen Schrift behauptet Hofmann, der für seine Ausführungen grundlegende Begriff der Bildung sei „schon seit langem Allgemeingut aller wirklich Gebildeten.“ Ebd., S. 7. Nichts ist weniger zutreffend, denn es war gerade dieser bürgerliche Bildungsbegriff – und damit der gesellschaftliche Status der Gebildeten insgesamt – der seit längerem umstritten war. Zu Hofmanns frühem Wirken Felicitas Marwinski: Die Freie öffentliche Bibliothek Dresden-Plauen und Walter Hofmann. Ein Beitrag zur Geschichte des Volksbüchereiwesens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1983. Als frühen Beitrag dazu Hans Kappe: Volksbildung und Volkbildung. Geschichte und Idee des Reichsverbandes der deutschen Volkshochschulen, Diss. Phil. Münster 1964.

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theorie weder für die Zeit des Kaiserreichs noch für die der Weimarer Republik befriedigend geleistet ist, könnte der oben angedeuteten Verwirrung der Zeitgenossen (ebenso wie der mancher heutiger Forscher) eine Einsicht des allzu früh verstorbenen Germanisten und Kulturhistorikers Georg Bollenbeck aufhelfen. Dieser hat in seinen Arbeiten zu „Bildung“, „Kultur“, „deutscher Kunst“ und „Kulturbolschewismus“, den auch in unserem Wort- und Problemfeld auftauchenden Deutungsmustern deutscher Bildungsbürger, immer wieder betont, dass nicht die präzise Fassung eines Begriffs, sondern gerade dessen Vagheit dafür sorge, dass sich ein solcher Begriff sozial weit durchsetzen und breiter gesellschaftlicher Akzeptanz sicher sein könne.5 Zu solchen vagen und daher wirksamen Begriffen gehören neben „Bildung“ und „Kultur“ auch „Volk“ und „Krise“,6 „Gemeinschaft“, „Leben“, „neuer Mensch“, „Wiedergeburt“ und „Jugend“ – das heißt ein Großteil des semantischen und symbolischen Instrumentariums, mit denen Pädagogen, speziell aber die Volksbildner im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik für ihre Interessen geschrieben und gestritten haben. „Volkstums-“ Vorstellungen jeglicher Art avancierten damit zum ideellen Korrektiv der konkreten deutschen Gesellschaft, die erst zum Volke hinaufgebildet werden müsse – auch dies eine Idee schon des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Das Bild vom Volkspädagogen als Führer zur „Volkwerdung“; die Idee, erst müsse eine „Aristokratie des Geistes“ herangebildet werden, die dann wie das Salz der deutschen Erde wirken könne, begründete ein Apostolat der Andragogen und revitalisierte damit auch den alten bildungsbürgerlichen Traum vom Volksführertum der Intelligenz –7 Peter Petersen sprach vielfach von der „Gilde“ der Erzieher, um deren besondere Mission zu charakterisieren. Die folgenden Bemerkungen begeben sich auf die Suche nach den Begriffen „Volksbildung“ und „Volksgemeinschaft“,8 deren letzterer allenfalls in unseren Tagen, nach der Erfahrung des „Dritten Reiches“, eindeutig in die rechte Ecke gesellschaftlicher Diskurse und politischer Lager zu verweisen scheint. Es wird sich zeigen, dass es wenig sinnvoll ist, Peter Petersen pauschal ebenfalls dorthin zu stellen und dessen 5 6

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Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1994, insb. S. 11–30; ders.: Tradition. Avantgarde. Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt a.M. 1999, insb. S. 11–43. Zahlreiche einschlägige Belegstellen zu unserem Thema finden sich bereits in der frühen Arbeit von Hanspeter Mattmüller: Der Begriff der geistigen Krise in der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1975. Zur Problematik des damals inflationär verwendeten „Krisen-“ Begriffs Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a.M./New York 2005; dort vor allem Rüdiger Graf: Die „Krise“ im intellektuellen Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik, S. 77–106. Siehe den aussagekräftigen Titel von Hans Richert: Weltanschauung. Ein Führer für Suchende, Leipzig/Berlin 1922. Vom gleichen Autor stammt ein in unserem Zusammenhang einschlägigerer Titel: ders.: Die deutsche Bildungseinheit und die höhere Schule. Ein Buch von deutscher Nationalerziehung, Tübingen 1920. Anregend dazu Michael Wildt: Die Ungleichheit des Volkes. „Volksgemeinschaft“ in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik, in: Frank Bajohr/ders. (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 2009, S. 24–40; für die frühere Zeit Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, insb. S. 149–167 (Abschnitt „Staatsvolk und ‚Volksgemeinschaft‘“).

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problematische rhetorische Selbstgleichschaltungsversuche nach 1933 in die Jahre davor zurück zu projizieren.9 Allerdings ist hier nicht der Ort, Hein Retters differentialdiagnostischen Untersuchungen der pädagogischen Theorie und argumentativen Strategie Petersens zu wiederholen, die er zuletzt in der Auseinandersetzung mit den Thesen Benjamin Ortmeyers entwickelt hat.10 Am historischen Textbestand fallen eindeutige politische Zuordnungen nach den holzschnittartigen Kategorien „links“ und „rechts“ schwer, denn hier verraten sich die politischen Zugehörigkeiten nicht auf den ersten, oberflächlichen Blick. Titel wie „Deutsche Volksgemeinschaft“11 des jungen, seinerzeit herzenssozialistischen Alfred Kurella oder „Die deutsche Volksgemeinschaft“12 der jüdischen Frauenrechtlerin und Sozialpädagogin Alice Salomon mahnen zur Vorsicht – und zeigen zugleich die typische generations- und milieuübergreifende Verwendung dieses Begriffs in jenen Jahren. „Erziehung zum Volksbewusstsein ist Erziehung zur Selbstachtung.“ (Eduard Spranger 1924) Im März 1919 erschien im renommierten S. Fischer-Verlag zu Berlin eine „Denkschrift für das deutsche Volk“, die von der „Reichszentrale für Heimatdienst“13 verantwortet wurde. „Der Geist der neuen Volksgemeinschaft“14 heißt diese Veröffentlichung, an der sich ästhetisch, politisch und weltanschaulich höchst unterschiedlich orientierte Persönlichkeiten beteiligt hatten. Im Einzelnen handelt es sich dabei unter anderem um den katholischen Sozialphilosophen Max Scheler, den Ingenieur und Ökonom Wichard von Moellendorff, den Juristen und marxistischen Philosophen 9

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Allein aus Platzgründen unterbleibt hier eine ausführliche Debatte der Einschätzungen Döpps, zu denen sich in diesem Band Peter Fauser und Jürgen John äußern. So fleißig Döpp auch zitiert hat; er unterschlägt an vielen Stellen die Bedeutungsvarianzen der Begriffe „Volksgemeinschaft“, „Volk“ oder „Gemeinschaft“, die diese zwischen 1900 und 1945 durchlaufen haben. Vgl. Robert Döpp: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit, Münster/Hamburg/London 2003. Die kulturkritische Grundierung mancher Ideen Petersens aber scheint mir bei Döpp richtig herausgearbeitet zu sein. Die wesentlichen Kritikpunkte Retters an Ortmeyer finden sich gut zusammengefasst nun in Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus. Zugleich eine Kritik der Fragwürdigkeiten jüngster „Petersen-Forschung“, Jena 2010, S. 11–82. Alfred Kurella: Deutsche Volksgemeinschaft. Offener Brief an den Führerrat der Freideutschen Jugend, Hamburg 1918. Kurella bezog mit diesem Text Stellung in den freideutschen Nachkriegsdebatten um ein Bündnis der Jugend über alle politischen Trennungen hinweg. Dazu Dietmar Schenk: Die Freideutsche Jugend 1913–1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise, Münster 1991, insb. S. 163–205. Alice Salomon: Die deutsche Volksgemeinschaft. Wirtschaft. Staat. Soziales Leben, Leipzig/Berlin 1922. Bereits ein erster Blick in die Einleitung und das Inhaltsverzeichnis des Buches aber verrät, dass es der Autorin um staatsbürgerliche Erziehung für den „Volksstaat“ der Weimarer Demokratie geht – nicht aber um eine Erziehung zur „Volksgemeinschaft“. Grundlegend dazu Klaus W. Wippermann: Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimatdienst in der Weimarer Republik, Bonn 1976. Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk. hg. v. der Zentrale für Heimatdienst, Berlin (März) 1919.

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Karl Korsch,15 den Rechtsphilosophen und späteren Reichsjustizminister Gustav Radbruch,16 den Architekten Peter Behrens, den expressionistischen Literaten Kasimir Edschmid, den Schriftsteller Arnold Zweig und schließlich auch um den wohl einflussreichsten Kulturprotestanten jener Jahre, den Theologen Martin Rade. Alle Autoren wollten – so das Vorwort – mit ihren Aufsätzen „zu den volkserzieherischen Aufgaben beitragen“ und waren von der Hoffnung beseelt, dass die „Revolution der Anfang eines neuen Menschen [sei]. Sie ist der Anfang der Gemeinschaft des Volkes.“17 „Demokratische Kulturideale“ beschwor fast zur selben Zeit Anton Heinrich Hollmann in der neu verfassten Einleitung zur zweiten Auflage seiner für die Rezeption des dänischen Volkshochschulmodells in Deutschland maßgeblichen Studie „Die Volkshochschule“.18 Deren erste Auflage aus dem Jahre 1909 hatte durch ihren Titel gerade auf der politischen Rechten zu Missverständnissen eingeladen,19 hieß sie doch ursprünglich „Die dänische Volkshochschule und ihre Bedeutung für die Entwicklung einer völkischen [sic!] Kultur in Dänemark“.20 Nun aber, unmittelbar nach dem politischen Umbruch der Novemberrevolution, titelte der liberale, keinesfalls zum völkischen Lager zählende Volksbildner: „Die Volkshochschule und die geistigen Grundlagen der Demokratie“.21 Man stehe zwar an der „Schwelle einer neuen Zeit“,22 aber „die geistigen Grundlagen einer wirklichen 15

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In unserem Kontext eine Art Brückenfigur zwischen verschiedenen Aspekten des Themas. Korsch wurde maßgeblich geprägt in seinem Jenaer Studium von Herman Nohl, dem studentischen „Sera“-Kreis um den Verleger Eugen Diederichs (s.u.) und das Engagement in der Freistudentenschaft. All dies ist nachzulesen bei Meike G. Werner: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siecle Jena, Göttingen 2003. Zu dessen geistiger und politischer Ausrichtung, in der sich verwandte Züge mit den erwähnten Konrad Haenisch und Carl Heinrich Becker zeigen, vgl. Gangolf Hübinger: Wertideen und politische Transformation: Rudolf Hilferding und Gustav Radbruch in der Sozialdemokratischen Partei, in: ders./Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart/München 2000, S. 181–199. Geist (wie Anm. 14), S. 4. Zum Kontext Ulrich Herrmann: „Neue Schule“ und „Neue Erziehung“ – „Neue Menschen“ und „Neue Gesellschaft“. Pädagogische Hoffnungen und Illusionen nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: ders. (Hg.): „Neue Erziehung – „Neue Menschen“. Ansätze zur Erziehungs- und Bildungsreform in Deutschland zwischen Kaiserreich und Diktatur, Weinheim/Basel, 1987, S. 11–32. Die wesentliche Rolle Hollmanns für eine „neu akzentuierte Grundtvig-Rezeption“ (vgl. dort S. 150ff.) in Deutschland bezeugt vielfach Norbert Vogel: Grundtvigs Bedeutung für die deutsche Erwachsenenbildung. Ein Beitrag zur Bildungsgeschichte, Bad Heilbrunn 1994. Hollmann ist dort der am meisten bemühte Referenzautor. Er war als Vermittler der „nordischen“ Volksbildungsidee umso wichtiger, als man Grundtvigs theoretische Schriften auf Deutsch erst 1927 lesen konnte. Vgl. Nikolaj Frederic Severin Grundtvig: Schriften zur Volkserziehung und Volkheit. Bd. 1: Die Volkshochschule. Bd. 2: Volkheit. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet v. Johannes Tiedje, Jena 1927. Zu diesen Kontexten Justus H. Ulbricht: Pädagogik der „Volkwerdung“. Kontexte, Genese und Intention völkischer Erwachsenenbildung, in: Paul Ciupke/Klaus Heuer/Franz-Josef Jelich/ders. (Hg.): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 31–52. Erschienen in Berlin 1909. Berlin 1919. Anton H. Hollmann: Die Volkshochschule und die geistigen Grundlagen der Demokratie. Zweite,

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Demokratie sind bei uns nicht vorhanden.“ Deutschland habe noch „keine nationale Kultur“23 urteilte Hollmann vor dem Hintergrund seiner radikalen Kritik an der eben untergegangenen wilhelminischen Gesellschaft und empfahl ein – auch für andere Bildungsbürger seiner Zeit – probates Mittel zum Wiederaufstieg: „Das Volk, das die politische Macht erobert hat, muß an die alten Quellen des deutschen Idealismus geführt werden, und nur wenn dieses Bündnis zwischen dem Sozialismus und dem deutschen Idealismus zustande kommt, wird diese Revolution die mächtige Kulturbewegung hervorbringen, aus der das deutsche Volk eine Morgenröte erhoffen darf.“24 Nun sei „die Zeit für eine große Volkshochschulbewegung in Deutschland gekommen.“25 „Diese Schule heißt Hochschule, weil sie von den hohen Dingen redet, die die Volksgemeinschaft bewegen, und sie heißt Volkshochschule, weil sie sich an die ganze Volksgemeinschaft wendet und sich nur mit den Dingen befasst, die die ganze Volksgemeinschaft angehen. Ihr Ziel ist die Schaffung einer volkstümlichen nationalen Kultur. [. . . ] Der Weg zu diesem Ziele aber führt durch die Erziehung zur Persönlichkeit; denn nur aus der inneren Freiheit der Persönlichkeit kann sich ein Kulturbewußtsein entwickeln. Um dieses höhere Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln, muß der Mensch zuerst aus dem dumpfen Zwang der Masse befreit werden; er muß aus freier Selbstbestimmung wählen können. Deshalb ist die innere Freiheit der Persönlichkeit das oberste Gesetz dieser Schule; sie will nicht Untertanen züchten und den Geist uniformieren, sondern die Volksgenossen zu mündigen Gliedern der Gesellschaft erziehen. Mit einem Wort, der Geist dieser Volkshochschule ist der Geist der Demokratie.“ Bis auf den letzten Satz hätten dies wohl die meisten Pädagogen und Erwachsenenbildner jener Umbruchzeit unterschrieben. In diesem Zitat finden sich all diejenigen Begriffe und Argumentationsmuster wieder, die den Kernbestand andragogischer und nationalpädagogischer Diskurse der Weimarer Jahre ausmachen, auf die wir noch öfter rekurrieren werden: „Volksgemeinschaft“,26 „Volksgenossen“, „nationale Kul-

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neu bearbeitete Auflage der „Dänischen Volkshochschule“, Berlin 1919, S. III; dort auch das folgende Zitat. Ebd., S. V. Ebd., S. IX. Dabei steht die Koalition zwischen „Idealismus“ und „Sozialismus“ auch für die ersehnte Verbindung der „Gebildeten“ mit dem „Volk“; einer omnipräsenten Denkfigur in nahezu allen mir bekannten theoretischen Texten zur Volksbildung. Die ewige Klage über die Spaltung zwischen der Bildungsschicht und den übrigen Volksschichten ist ein Topos bildungsbürgerlicher Selbstverständigungsdiskurse, der sich bis in die Zeit um 1800 zurückverfolgen lässt. Franz Angermann spricht von der „ungeheure[n] und zu keinem anderen Zeitpunkt so fühlbare[n] Kluft zwischen dem ‚Gebildeten‘ und dem ‚Volke‘[. . . ]“. Franz Angermann: Die freie Volksbildung. Grundlagen – Ziele – Wege, Jena 1928, S. 15. Hollmann: Volkshochschule (wie Anm. 22), S. X; dort auch das folgende Zitat. Volksgemeinschaftsdiskurse sind im Feld der andragogischen wie der allgemein pädagogischen Theorie nicht systematisch erforscht und insgesamt bilanziert worden. Wichtige Hinweise jedoch bei Heinz-Hermann Schepp: „Volk-Bildung durch Volksbildung“. Bemerkungen zu einer politisch-andragogischen These der neuen Richtung in der Erwachsenenbildung der Weimarer Republik, in: Ingeborg Wirth u.a. (Hg.): Aufforderung zur Erinnerung. Vergessene Thesen und verkannte Ansätze aus der Geschichte der Erwachsenenbildung, Bonn 1986, S. 35–45; Stephan Sting: Die Fiktion des „Volks“ in den pädagogischen Reformbewegungen um 1900 in Deutschland, in: Tobias Rülcker/Jürgen Oelkers (Hg.): Politische Reformpädagogik, Bern u.a. 1998, S. 107–123; vgl. dort auch Hubert Steinhaus: Der Gemeinschaftsmythos als Gegenideologie zur

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tur“, „Erziehung zur Persönlichkeit“, „innere Freiheit“27 und Distanz zur „Masse“.28 Der quer durch alle politisch-weltanschaulichen Lager inflationär bemühte Begriff der geordneten, geschichteten, integrierten, integralen, intakten „Volksgemeinschaft“ ist in der Regel das strikte Gegenbild zur amorphen Masse, zur Massengesellschaft oder – wie Eduard Spranger zu formulieren pflegte – zur „nomadenhaft herumgeworfenen Industriebevölkerung“.29 Die Sehnsucht nach „Volksgemeinschaft“ gehörte zu den gesellschaftskritischen Diskursen schon seit der Reichsgründungszeit und hatte noch ältere Wurzeln im Intellektuellen-Konzept der deutschen „Kulturnation“, nach dem es die einheitliche (Hoch-) Kultur Deutschlands sei, die allein die Deutschen zu einem Volk mache.30 modernen Welt. Ferdinand Tönnies und die deutsche Reformpädagogik, S. 151–183. Das verweist auf die dominant protestantische Prägung klassischer, im Begriff der Persönlichkeit und der Autonomie wurzelnder pädagogischer Konzepte. Vgl. etwa das Diktum Wilhelm Flitners: „Jede Pädagogik, die auf protestantischem Boden wächst, wird in der sittlichen Autonomie einen Zielpunkt sehen.“ Wilhelm Flitner: Das Problem der Erwachsenenbildung. Eine akademische Vorlesung, gehalten am 11. November 1922, in: Die Deutsche Volkshochschule. Sammlung von Beiträgen, Hf. 28, hg. v. Wilhelm Rein, Langensalza 1923, Zit. S. 5. Vgl. dort S. 23: „Aber jene Lebensbedeutung aller Bildungsgüter unserer geistigen Welt, sie muß der gemeinsame Faktor bleiben, der die getrennten Bildungstypen einigt und damit auch die geistige Einheit unseres Volkes innerlich vorbereitet.“ 28 Diese Distanz von Bildungsbürgertum zur „Masse“ und zur „Massengesellschaft“ ist Teil des Persönlichkeitshabitus zahlreicher Gebildeter und ebenso Teil kulturkritischer Diskursformationen. Zahlreiche Hinweise zum ideologisch-mentalitären Syndrom von Massenangst und Massenekel bei Nori Möding: Die Angst des Bürgers vor der Masse. Zur politischen Verführbarkeit des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Berlin 1984; Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. 1994, insb. S. 225–288; ders.: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, insb. S. 199–232. 29 Eduard Spranger: Probleme der politischen Volkserziehung (1928), in: ders.: Volk. Staat. Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Leipzig 1932, S. 77–106, Zit. S. 87. Sprangers hier versammelte Texte sind – ebenso wie die Schrift „Das deutsche Bildungsideal der Gegenwart in geschichtsphilosophischer Bedeutung“ (Leipzig 1928; zuerst in mehreren Folgen in der Zeitschrift „Die Erziehung“ erschienen) – eine Fundgrube nationalpädagogischen Volksgemeinschaftsdenkens, das sich mit den politischen und kulturellen Erscheinungen der modernen, zugegebenermaßen oftmals krisenhaften, Weimarer Massendemokratie sichtlich schwer tat. Spranger wollte letztlich an die Stelle der parlamentarischen Demokratie einen an Platon orientierten Erziehungsstaat setzen. Vgl. dazu und zum Kontext Heinz-Elmar Tenorth: Erziehungsutopien zwischen Weimarer Republik und Drittem Reich, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München 2003, S. 175–198; zu Spranger S. 183f. 30 Zum Konnex von Intellektuellen-Geschichte und Nationskonzeption Bernhard Giesen/Kay Junge: Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der „Deutschen Kulturnation“, in: Bernhard Giesen (Hg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991, S. 255–303; dies./Christian Kritschgau: Vom Patriotismus zum völkischen Denken: Intellektuelle als Konstrukteure der deutschen Identität, in: Helmut Berding (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2, Frankfurt a.M. 1994, S. 345–393. Ausgeführte theoretische Grundlagen solcher Analysen bei Bernhard Giesen: Die Intellektuellen und die Nation, Frankfurt a.M. 1993, insb. S. 102–162; ders.: Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2, Frankfurt a.M. 1999, insb. S. 156–182. 27

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Bekanntlich entstand die Idee der deutschen „Kulturnation“ im Kontext der patriotischen Selbstbesinnung des gebildeten deutschen Bürgertums seit Mitte des 18. Jahrhunderts. In diesem Verständnis bildete die Hochkultur der (politisch noch nicht verwirklichten) deutschen Nation die integrative Klammer des territorialisierten, konfessionalisierten und ständegesellschaftlich zersplitterten Deutschlands. Zugleich verstand sich das gebildete, politisch wie gesellschaftlich oftmals marginalisierte Bürgertum als Verwalter dieser ideellen Habe. In der aufgeklärten Formulierung Herders und der national radikalisierten Volksidee Fichtes,31 der die Nation zudem als wehrhaften Erziehungsstaat imaginiert, entfaltet die Kulturnations-Idee im 19. Jahrhundert ihre Wirkung. Verstärkt wird die Macht dieses Diskurses durch die Tatsache, dass Ideen und Werke aus dem Ereignisraum Weimar-Jena sowie andere literarische, philosophische und künstlerische Spitzenleistungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Konzept der „deutschen“ oder „Weimarer Klassik“ verdichtet werden und ins Zentrum der – in heutiger Terminologie – kulturellen Identität der Gesamtnation rücken.32 Die auch damals schon zu hörenden Beschwörungen der anzustrebenden Einheit der Gebildeten mit dem „Volk“ sowie die alsbald einsetzende Faszination zahlreicher Gebildeter für Überlieferungen und Relikte der Volkskultur gehören ebenfalls zum ideellen Erbe des Kulturnations-Diskurses, dessen Spuren sich noch in vielen Texten unseres Untersuchungszeitraums finden lassen. Nun geschieht aber im 19. Jahrhundert wenig von dem, was an Hoffnungen oder Visionen zum Kulturnations-Diskurs gehört. Die Worte des im vierten Aufzug des „Wilhelm Tell“ sterbenden Attinghausen „Seid einig, einig, einig!“ werden zum Mantra deutscher Selbstbeschwörung in einer konkreten deutschen Gesellschaft, dessen Bürgertum sich selbst immer weiter differenziert, einer Gesellschaft, die neue Konfessions- oder Milieugrenzen eher entwickelt als alte beseitigt, die sich also mental, sozial, politisch und ökonomisch seit der Industrialisierung rasant pluralisiert und entfaltet. Dazu kommt, dass der nationalen Hochkultur in der entstehenden Massenkultur sowie in der sich international öffnenden Avantgarde-Kultur des modernitätseuphorischen Bürgertums konkurrierende Deutungsmächte entstehen.33 31

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Für unseren Zusammenhang einer nationalisierten, volkspädagogischen Zwecken dienstbar gemachten Fichte-Rezeption (besonders die Utopie des „Erziehungsstaats“) dürfte die – bisher nicht erforschte – Rolle des Philosophen Ernst Bergmann kaum zu überschätzen sein. Vgl. Ernst Bergmann: Fichte, der Erzieher zum Deutschtum. Eine Darstellung der Fichteschen Erziehungslehre, Leipzig 1915; ders.: J. G. Fichte. Der Erzieher, Leipzig 1928 (2. erheblich vermehrte Aufl.); vgl. auch ders.: Die Klassisch-Deutsche Bildungswelt, München 1921; ders.: Der Geist des Idealismus. Ein Vortrag, München 1919. Bekannt wurde Bergmann Anfang der 1930er Jahre durch die Gründung einer „Deutschen Nationalkirche“, die 1934 kurzfristig der „Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung“ angeschlossen war. Gestützt auf die wichtigste Sekundärliteratur und zahlreiche Quellen habe ich diese Deutungsmustergeschichten nachgezeichnet in Justus H. Ulbricht: Der „Weimarer Musenhof“ – vom Fürstenideal zur Finalchiffre. Eine erinnerungskulturelle Spurensuche, in: Anna Amalia, Carl August und das Ereignis Weimar (= Klassik Stiftung Weimar, Jahrbuch 2007), hg. v. Hellmut Th. Seemann, Göttingen 2007, S. 191–230; ders.: Was ist heut des Deutschen Größe? Weimarer Klassik, nationale Identität, kulturelles Gedächtnis, in: Das „deutsche Buch“ in der Debatte um nationale Identität und kulturelles Erbe, hg. v. Michael Knoche/Justus H. Ulbricht/Jürgen Weber, Göttingen 2006, S. 28–45. Diese Zusammenhänge werden breit entfaltet in den eingangs erwähnten Arbeiten Georg Bollen-

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Die Idee der „Volksgemeinschaft“ erfuhr gerade im Ersten Weltkrieg eine neuerliche, geradezu militante Aufwertung. Wer im seinerzeit mythisch überhöhten „Augusterlebnis“ die Vollendung der lange ersehnten „Volksgemeinschaft“ erblickte, im Laufe des langen Krieges immer wieder an die „Volksgemeinschaft“ appellierte34 sowie auch und gerade nach der katastrophalen Niederlage erneut „Volksgemeinschaft“ beschwor, der kam auch nach Revolution und staatlicher Umgestaltung nicht davon los.35 Kriegserlebnis, Kriegsende und Revolution sorgten zwar bei vielen schnell für die Enttäuschung überzogener Erwartungen, die eintretende Ernüchterung lässt sich nach 1918 jedoch auch produktiv machen für realitätsnähere Formen von Volksoder gar Arbeiterbildung. Der oftmals romantisierende Blick von Gebildeten auf das „Volk“ hatte sich zuvor auch schon entzaubert durch die konkrete Begegnung der Klassen und Milieus in der speziellen Gesellschaft der Schützengräben. Nicht wenige der im Hohenrodter Bund engagierten Volksbildner erklärten ex post ihre positiven Erfahrungen mit der „Mannschaft“ zur Grundlage der späteren Volksbildungsbestrebungen.36 Daran mag im Einzelfall Wahres sein, doch schreibt sich hier der Mythos vom inneren Adel des einfachen Volkes fort, der schon vor 1914 im Denken der Jugend- und Heimatbewegung präsent gewesen ist. Wer aber „Volksgemeinschaft“ (befördern) wollte, musste sich beizeiten um die Entwicklung eines „Volksbewußtseins“ und des „Volkstums“37 kümmern, also Schu-

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becks. Siehe auch Georg Bollenbeck/Werner Köster (Hg.): Kulturelle Enteignung – Die Moderne als Bedrohung (= Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik I), Wiesbaden 2003; Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln/Weimar/Wien 2001. In unserem Kontext wichtig ist Hugo Gaudig: Deutsches Volk – Deutsche Schule! Wege zur nationalen Einheit, Leipzig 1917. Dazu nun umfassend Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003. Hinweise dazu bei Joachim Burmeister: Wilhelm Flitner – Von der Jugendbewegung zur Volkshochschule und Lehrerbildung. Biographische Studien zur Vorgeschichte reformpädagogischer Reflexion, Köln/Wien, 1987, S. 11–16; Bettina I. Reimers: Die Neue Richtung der Erwachsenenbildung in Thüringen 1919–1933, Essen 2003, S. 21–25. Vgl. die Broschüre von Karl Reuschel: Das Volkstum in der Volkshochschule, in: Die Deutsche Volkshochschule. Sammlung von Beiträgen, Hf. 33, hg. v. Wilhelm Rein, Langensalza 1921. Reuschel (1872–1924), Mitbegründer und für zwei Jahre erster Leiter der Dresdner Volkshochschule, warb hier für die Integration volkskundlicher Methoden und Erkenntnisse in die Erwachsenenbildung zur Schaffung eines Volksbewusstseins. Er verband damit systematisch die beiden Felder seines eigenen kulturellen Engagements, die Andragogik und die sächsische Volkskunde, die der Oberstudienrat als Honorarprofessor an der Technischen Universität Dresden auch universitär zu verankern suchte. Im Satz „Besonders aber müssen wir den Spuren Rudolf Hildebrands folgen“ (ebd., S. 16) wird deutlich, dass Reuschel ein Parteigänger der „Deutschkunde“ war, deren grundlegende inhaltliche und methodische Prämissen er in den Kanon der Erwachsenenbildung integrieren wollte – getreu dem Motto: „Nötiger als die gewiß erwünschte Völkerversöhnung ist Verständigung der Volksgenossen.“ (Reuschel, Volkstum, Vorwort, n.p.). – Aus dem Kernbereich der Völkischen Bewegung hingegen stammt Heinrich Schröer/Edmund Neuendorff: Neues deutsches Volkstum. Lebensfragen der deutschen Zukunft (= Schriftenreihe „Deutschlands Erneuerung“, Bd. 2), München 1916. Heinrich Schröer, Stadtturnwart in Berlin, und Edmund Neuendorff, damals Direktor der Oberrealschule in Mülheim/Ruhr, waren Exponenten der Turnbewegung. Letzterer zählte 1919 zu den Mitbegründern der Mülheimer

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len und vor allem die Institutionen der Erwachsenenbildung primär als Einrichtungen zur Gesinnungsbildung denn als Institute reiner Wissensvermittlung verstehen.38 So argumentierte der andragogische Exponent der protestantischen „Dorfkirchenbewegung“, Georg Koch: „Um so eindringlicher nur kann und soll sein [Grundtvigs] Wort von der volkstümlichen Wiedergeburt einer ganzen nationalen Bildung uns allen vor Augen rücken das letzte und höchste Ziel einer jeden weiterblickenden Volksbildungsarbeit [. . . ]. Über der Volkshochschule soll letzten Endes eine nationale Gesamtkultur sich erheben.“39

Alfred Mann, Vorstandsmitglied im Reichsverband deutscher Volkshochschulen und Leiter der Breslauer Volkshochschule, verstand die Arbeitsgemeinschaft als „Methode zugleich der Volkbildung und der Wahrheitsfindung“40 und meinte, „die Volkshochschule [sei] ihrer Bestimmung nach in der glücklichen Lage, ‚Bildung rein um der Bildung willen‘ anstreben zu können ohne Rücksicht auf Examina, Berechtigungsnachweise und (heteronome) ‚Anwendung‘[. . . ].“41

Ebenfalls 1919, im Jahr des gesellschaftlichen Umbruchs, hatte der Jenaer Eugen Diederichs Verlag42 Eduard Weitschs Büchlein „Zur Sozialisierung des Geistes. Grundlagen und Richtlinien für die deutsche Volkshochschule“43 veröffentlicht. Die-

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Volkshochschule. Dahinter verbergen sich auch die zeitgenössischen Debatten um eine „extensive“ oder „intensive“ Volksbildung. Georg Koch: Von der Notwendigkeit und den Lebensbedingungen einer deutschen Volkshochschule (1917), in: ders.: Der Volkshochschulgedanke. Ausgewählte Aufsätze, Kassel 1928, S. 37–57, Zit. S. 45. Vgl. dort S. 132–151 auch den Aufsatz „Volksbildungsarbeit als Grundlage nationaler Erneuerung“ (1924) sowie S. 183–197 „Volkshochschule und Bildung zum Volke“ (1927). Zur Dorfkirchenbewegung und mithin zum Wirkungskontext von Koch siehe die ausgezeichnete Arbeit von Angela Treiber: Volkskunde und evangelische Theologie. Die Dorfkirchenbewegung 1907–1945, Köln/Weimar/Wien 2004; insb. S. 172–222 (Kapitel „Bewältigungsstrategien“). Alfred Mann: Denkendes Volk – Volkhaftes Denken. Grundsteine zum Bau der deutschen Volkshochschule, Frankfurt a.M. 1928, S. 30. Ebd., S. 14. Zu Mann siehe Hans Tietgens: Zwischenpositionen in der Geschichte der deutschen Erwachsenenbildung seit der Jahrhundertwende, Bad Heilbrunn 1994, S. 71–89. Das verlegerische Engagement von Eugen Diederichs für Reformpädagogik und Volksbildung ist gut dokumentiert und interpretiert bei Erich Viehöfer: Der Verleger als Organisator. Eugen Diederichs und die bürgerlichen Reformbewegungen der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M. 1988, S. 39–68; Irmgard Heidler: Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930), Wiesbaden 1998, S. 428–432 (dort auch zahlreiche verstreute Hinweise auf in unserem Zusammenhang wichtige Bücher und Autoren); Bettina I. Reimers: Der Verleger als Erzieher. Eugen Diederichs und die Thüringer Volksbildungsbewegung, in: Justus H. Ulbricht/Meike G. Werner (Hg.): Romantik, Revolution und Redform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900–1949, Göttingen 1999, S. 94–118. Zum Kontext vgl. dies.: Richtung (wie Anm. 36) – um dies Opus magnum führt bei unserem Thema kein Weg herum. Eduard Weitsch: Zur Sozialisierung des Geistes. Grundlagen und Richtlinien für die deutsche Volkshochschule, Jena 1919. Vorausgegangen war 1918 als „27. Tat-Flugschrift“ Weitschs Text „Was soll eine deutsche Volkshochschule sein und leisten.“ Zu Weitschs erwachsenenbildnerischen Engagement, nicht zuletzt in der berühmten Heimvolkshochschule Dreißigacker bei Meiningen Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hg.): Experimentiersozietas Dreißigacker. Historische Konturen und gegenwärtige Rezeption eines Erwachsenenbildungsprojektes der Weimarer

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ser betonte, dass „Demokratie [. . . ] nicht auf Verfassungsparagraphen und sonstigen Ergebnissen juristischer Groß- und Kleinarbeit, sondern auf dem Glauben an den Keim des Geistigen im Menschen, in jedem Menschen, in der Masse“ beruhe.44 Weitsch träumte von Volkshochschulen nach „nordischem“ Muster45 (gemeint sind die dänischen Volkshochschulen nach Grundtvig), die als „Kulturinseln“ in der „Flut der Massengedankenlosigkeit“46 seiner Zeit zur kulturellen Wiedergeburt Deutschlands beitragen könnten. Auf diesen Inseln würden auch diejenigen geistigen Führer herangebildet, derer die deutsche Bildung und Gesellschaft so dringend bedürfe.47 Auch bei Weitsch also ist eine kultur- und modernitätskritische Grundhaltung zur zeitgenössischen Industrie- und Massengesellschaft spürbar,48 die bei ihm jedoch einherging mit einem Bekenntnis zur Republik sowie Grundsätzen demokratischer Erziehung – auch und gerade für proletarische Jugendliche. Eine ähnliche geistige Gemengelage aus kulturkritischen, demokratischen, bildungselitären und sozialistischen Ideen ließe sich für Paul Honigsheim konstatieren, der sich die künftigen Volkshochschulen als „Treffpunkt[e] der Menschen innerer Sehnsucht“49 vorstellte und für pädagogische Institutionen plädierte, die durch eine „grundsätzliche Scheidung [. . . ] zwischen den Einrichtungen für die Masse und denjenigen für die seelische Elite“50 gekennzeichnet seien.

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Zeit, Essen 1997. Weitsch: Sozialisierung (wie Anm. 43), S. 109. Den auch in zahlreichen pädagogischen Schriften der Zeit anzutreffenden – auf den jeweiligen Argumentationszusammenhang passenden – Uminterpretationsversuchen des Begriffs „Demokratie“ müsste man einmal systematisch nachgehen. Ebd., S. 16. Ebd., S. 15. Vgl. die entsprechenden Überlegungen ebd., S. 15. Deutlich wird, dass Weitsch die von ihm ersehnten „apperzeptionsfähigen Führer“ nicht etwa in der vorhandenen Bildungselite vermutete, sondern theoretisch in jeder Schicht, die sich dem Volksbildungsgedanken öffne. Folglich auch jene ambivalente Haltung, die auch andere weimarrepublikanische Erwachsenenbildner auszeichnete; vgl. Bernd Faulenbach: Erwachsenenbildung und Weimarer Demokratie. Zur Ambivalenz einer Beziehung, in: Ciupke/Jelich: „Erziehung“ (wie Anm. 19), S. 11–27. Paul Honigsheim: Revolutionierung deutscher Volksbildung, in: Junge Republik. Bausteine zum neuen Werden, Hf. 7, hg. v. Walter Hammer), Werther b. Bielefeld 1924, S. 7. – Der Name des Reihen-Herausgebers verweist darauf, dass diese Schriften im Umfeld der deutschen Jugendbewegung und deren Nachkriegs-Ideen zu verorten sind. Ebd., S. 6. – Paul Honigsheim (* 1885) hatte in Heidelberg studiert, wo ihn u.a. Max Weber prägte. Er lehrte seit 1919 an der neu gegründeten Kölner Universität Soziologie, wo er sich 1920 auch habilitierte. Als Professor für Soziologie leitete er zugleich – ebenfalls ab 1920 – die Kölner Volkshochschule. Dieses Engagement endete 1933 mit der Emigration. Zwischen 1938 und 1950 lehrte er Soziologie an der Michigan State University; er gilt als einer der Gründerväter der deutschen Soziologie.

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„Wir wollen keine Chauvinisten erziehen, sondern ein Einheitsvolk.“ (Carl Heinrich Becker 1919) In Berlin hatte bereits am 19. Februar 1919 der frisch ernannte Preußische Kultusminister Konrad Haenisch die neuen „Kulturpolitischen Aufgaben“51 umrissen. Er träumte von einer „neuen geistigen Aristokratie“, die auf „dem Boden der Demokratie und des Sozialismus“ erstehen müsse.52 „Ich wünsche mir einen Zustand, wo wirklich die Aristoi, die Besten im intellektuellen und ethischen Sinne, die führenden Männer auch in Staat und Gesellschaft sein mögen. (Lebhafter Beifall)“53 „Volkserziehung im weitesten und umfassendsten Sinne des Wortes“54 sei die Kernaufgabe der neuen Regierung und einer Volkserziehung, die ihren Ausgangspunkt in der Bildung „führender Persönlichkeiten“ aus der „Masse des Volkes“ nehmen müsse.55 Dann erst könne man in ein „Zeitalter der Gemeinschaft“56 eintreten. „Es ist nach meiner Meinung eine der wichtigsten Aufgaben der Schule der Zukunft, wie wir sie ausbauen wollen, dass die ganze Erziehung und der ganze Unterricht in weit höheren Maße als bisher fest hineinverankert werde in den Mutterboden, den Wurzelboden unseres Volkstums. (Bravo!)“57 Noch als Volksbeauftragter hatte Haenisch bereits im Juni 1918 von einem „neuen deutschen Menschentyp“ – geprägt von „eisernster Pflichterfüllung, nüchternstem Tatsachensinn und höchstfliegendem Idealismus“ – geschwärmt,58 den man mittels einer „sozialdemokratischen Kulturpolitik“ schaffen müsse und von dem er sich die Rettung der Zukunft Deutschlands versprach. Zur Frage, in welchem Geiste dieser „neue Mensch“ erzogen werden müsse, äußerte Haenisch:

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Kulturpolitische Aufgaben. Aus dem Vortrag des Kulturministers Konrad Haenisch, gehalten Montag, den 3. Februar 1919 in der Handelshochschule zu Berlin, hg. u. verlegt v. der Arbeitsgemeinschaft für staatsbürgerliche und wirtschaftliche Bildung, Berlin 1919. Vgl. auch ders.: Neue Bahnen der Kulturpolitik. Aus der Reformpraxis der Deutschen Republik, Stuttgart/Berlin 1921. Dort bezeichnet der Autor als „tiefste[n] Sinn der Volkshochschule“ die Aufgabe „auf selbst gefundenen und selbst gebahnten Wegen zu einer einheitlichen deutschen Volkskultur und durch sie zu einem uns alle umschlingenden nationalen Kulturbewusstsein zu gelangen.“(S. 108). Ebd., S. 13. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Haenisch versuchte in seiner Rede zudem „Sozialismus“ und Demokratie“ aufeinander zu beziehen, sich gegen das „wahnsinnige Spartakusfieber“ (S. 16) abzugrenzen und „Sozialismus“ in seinem Sinne mit „Deutschtum“ zu versöhnen. Ebd., S. 17; dort im Weiteren auch wichtige Aussagen zur Bildung von Persönlichkeiten als künftigen Volkserziehern und Volksgenossen. Haenisch dachte an „Ausleseschulen“, an „Pflanzschulen für leitende Persönlichkeiten“ (ebd., S. 19). Ebd., S. 19. Ebd., S. 29; – Damit appelliert der Redner an seine Zuhörer, im Falle der künftigen Erziehung des deutschen Volkes zu sich selbst, die im politischen Alltagsgeschäft vorhandenen parteilichen und konfessionellen Schranken zu überwinden, denn „es gibt Gebiete“ – und das sind nicht zum mindesten diese Kulturgebiete –, bei denen wir alle miteinander ein großes Stück zusammengehen können“ (ebd., S. 30). Konrad Haenisch: Sozialdemokratische Kulturpolitik, Berlin (Ende November) 1918, Zit. S. 24. Bei diesem Text handelt es sich um den Druck der transkribierten, stenographischen Protokolle einer Sitzung im Preußischen Abgeordnetenhaus vom 5. Juni 1918.

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Justus H. Ulbricht „[. . . ] wir brauchen gewissermaßen eine Synthese von Alt-Potsdam, Alt-Weimar und Neu-Berlin, oder – anders ausgedrückt – wir brauchen eine Synthese zwischen Königsberg, der Stadt, wo die reine Vernunft und der kategorische Imperativ geboren sind, den stillen Tälern um Eisenach und Rothenburg herum, wo die blaue Wunderblume der deutschen Romantik blühte, und den Geländen um Dortmund und Oberhausen herum, wo die Schlote rauchen und die Hämmer dröhnen. Aus all diesen Gebieten, aus all diesen geistigen Elementen, wenn ich so sagen darf, muß der neue deutsche Mensch Keime mit in sich hineinbekommen. Er muß, wenn ich es etwas anders ausdrücken darf, eine Synthese darstellen zwischen Kant und Goethe auf der einen Seite und, wenn Sie Namen aus der neuen Welt hören wollen, Werner v. Siemens und Karl Legien auf der anderen Seite.“59

„Wir verlangen [. . . ], dass in den Mittelpunkt des gesamten Unterrichts auf allen Stufen des Schulwesens das Deutsche gestellt wird [. . . ]“60 heißt es weiter. Damit adaptierte der Demokrat Haenisch eine Denkfigur, die sich ansonsten eher – wenn auch in elaborierter, radikalisierter und manchmal gar rassistisch zugespitzter Form – im Schrifttum der „Deutschkunde-“ Bewegung61 sowie den Texten dezidiert völkischer Volksbildner62 bereits lange vor 1914 finden ließe. Haenischs damaliger Unterstaatssekretär, der Orientalist Carl Heinrich Becker, skizzierte in seinem Buch „Kulturpolitische Aufgaben des Reiches“63 im letzten Kapitel „Wege zu einer deutschen Einheitskultur“.64 Diese sei dringend nötig, da „unserem Volkscharakter“ die „Kategorie des Nationalen“65 fehle: „Uns fehlt also als 59

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Ebd., S. 24. Wie kaum eine andere Stelle kann diese belegen, wie stark die sozialdemokratische politische Elite am bildungsbürgerlichen Wertekanon partizipierte. Zu der geistigen Städtepartnerschaft „Potsdam und Weimar“ und ähnlichen Konstellationen Justus H. Ulbricht: „Goethe und Bismarck“. Varianten eines deutschen Deutungsmusters, in: Lothar Ehrlich/ders. (Hg.): Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach. Erbe, Mäzen und Politiker, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 91–128; ders.: „Kraftquell für die gesamtdeutsche Kultur“? Weimar und dessen Mythos im Kontext thüringischer Identitätskonstruktionen, in: Monika Gibas/Rüdiger Haufe (Hg.): „Mythen der Mitte“. Regionen als nationale Wertezentren. Konstruktionsprozesse und Sinnstiftungskonzepte im 19. und 20. Jahrhundert, Weimar 2005, S. 179–202. Haenisch: Kulturpolitik (wie Anm. 58), S. 27. Dazu Johannes Günter Pankau: Wege zurück. Zur Entwicklungsgeschichte restaurativen Denkens im Kaiserreich. Eine Untersuchung kulturkritischer und deutschkundlicher Ideologiebildung, Frankfurt a.M. u.a. 1983, dort (S. 141–194) wichtige Hinweise zu Rudolf Hildebrand und Konrad Burdach; außerdem Reiner Bessling: Schule der nationalen Ethik. Johann Georg Sprengel, die Deutschkundebewegung und der deutsche Germanistenverband, Frankfurt a.M. u.a. 1997. Die Rezeption deutschkundlicher „Klassiker“ – die vor allem den gymnasialen Unterricht entsprechend umbauen wollten – wie etwa Rudolf Hildebrand, Otto Lyon, Johann Georg Sprengel, Konrad Burdach oder Friedrich Panzer im theoretischen Schrifttum der Erwachsenenbildungsbewegung ist systematisch bisher nicht erforscht. Gregor Hufenreuther: Konzepte und Strukturen völkischer Erwachsenenbildung im Kaiserreich zwischen 1894 und 1918, in: Ciupke/Jelich: „Erziehung“ (wie Anm. 19), S. 173–186. Carl Heinrich Becker: Kulturpolitische Aufgaben des Reiches, Leipzig 1919. Ebd., S. 45–58. Beckers Einheitsträume könnten unter anderem inspiriert sein von dessen GeorgeLektüre. Zum pädagogischen Netzwerk in Georgeschem Geiste liest sich spannend wie ein Krimi Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 428–496 (Kapitel: „Die platonische Provinz“). Becker: Aufgaben (wie Anm. 63), S. 47. Auch in einem kanonischen Text der Kunsterziehungsbewegung hatte Alfred Lichtwark bereits 1901 verkündet: „Unserer Bildung fehlt noch die feste nationale Grundlage.“ Vgl. Alfred Lichtwark: Der Deutsche der Zukunft, in: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehertages in Dresden am 28. und 29. September 1901,

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Einzelwesen der politische Sinn, als Volk das Volksbewußtsein oder der nationale Gedanke“66 . „Nationale Geschlossenheit“ aber brauche das kommende Deutschland „unbedingt im Menschheitsrat der Völker“.67 „Die deutsche Seele“ sei in Gefahr und könne nur gerettet werden „in jahrzehntelanger Arbeit an uns selbst.“68 Man müsse sich nur entschließen, „die Traditionen der Bismarckisch-Wilhelminischen Ära zu vergeistigen“.69 Aus ganz Deutschland solle eine „Kulturgemeinde“ werden: „Auf diesem Boden können sich alle Parteien und Konfessionen zusammenfinden, sie werden und sollen diesen Ideen in ihrem Kreise ihre besondere Lokalfarbe und Temperatur verleihen, sie werden aber alle bereit sein, jeder auf seinem Wege, diesen ewigen Zielen zuzustreben, und dadurch unser zerrissenes Volk sich in einer höheren Einheit zusammenfinden lassen.“70

Ähnlich argumentierte der einflussreiche Protagonist der katholischen Volksbildungsbewegung, Anton Heinen, in seinem Vortragszyklus „Bürgerliche Gemeinschaft und Volkstum“: „Und doch ist es eine Lebensfrage für unsere gemeinsame Zukunft, ob wir aus der Zersetzung, die das Volkstum nun erlitten hat und vielleicht schicksalsnotwenig erleiden mußte, zu neuen Formen des Volkstums, zu neuen Wurzeln eines staatlichen Gemeinschaftslebens gelangen.“71

Solche Töne sind nicht neu, denn Sehnsüchte nach der kulturellen Einheit – jenseits sozialer, politischer und konfessioneller Distanzen – sind seit der Reichsgründungsära Teil bildungsbürgerlicher Selbstverständigungsdiskurse, in denen das gebildete Bürgertum nicht selten ausschließlich seine eigenen, spezifischen Problemlagen als gesamtgesellschaftliche Krisenerscheinungen diskutierte. Individuelle Sinnkrisen, die umstrittene Legitimität der eigenen gesellschaftlichen Position, der Verlust der hegemonialen Deutungshoheit der Gebildeten in einer wertepluralistischen Massengesellschaft und schließlich der Kursverlust klassischer Bildung wurden dabei manchmal versuchsweise kompensiert durch das Beharren auf einer angeblich angestammten Führungsfunktion der Gebildeten gegenüber „der Masse“ beziehungsweise durch den Versuch, die Differenz zwischen Gebildeten und „Ungebildeten“, „Intelligenz“ und „Volk“ zum Verschwinden zu bringen. Denn eine der wesentlichen Schwächen deutscher Kultur und Bildung sei die verhängnisvolle Distanz zwischen den „Gebildeten“ und dem „Volk“, die mal als „Riß“ mal als „Distanz“ oder „Desinteresse“, manchmal sogar als „Feindschaft“ stigmatisiert wurde. Folglich war ein zentrales Bestreben nationalpädagogischer Diskurse, diese Distanz zu überbrücken: „Das urgewaltige Streben, die tiefe Kluft zwischen ‚Gebildeten‘ und ‚Ungebildeten‘ zu überbrücken und auf neuen, nicht von oben her vorgeschriebenen, sondern auf selbst gefundenen und selbst gebahnten Wegen zu einer einheitlichen deutschen

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Leipzig 1902, S. 39–57, Zit. S. 46. Zum Kontext Peter Ulrich Hein: Die Brücke ins Geisterreich. Künstlerische Avantgarde zwischen Kulturkritik und Faschismus, Reinbek 1992, insb. S. 15–112. Becker: Aufgaben (wie Anm. 63), S. 47. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52. Ebd. Auch die eine Variante der ideellen Versöhnung von „Potsdam“ und „Weimar“. Ebd., S. 58. Deutlicher ist der integrative Charakter dieser Art der „Volksgemeinschafts-“ Ideologie nicht zu bezeichnen. Anton Heinen: Vom Volkstum, in: ders.: Bürgerliche Gemeinschaft und Volkstum (Feierabende. Plaudereien mit jungen Staatsbürgern), Mönchengladbach 1922, S. 76–82, Zit. S. 82.

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Volkskultur und durch die zu einem uns alle umschlingenden nationalen Kulturbewusstsein zu gelangen: das scheint mir die eigentliche Auftriebskraft und zugleich der tiefste Sinn der Volkshochschule zu sein.“72 Unmittelbar nach 1918 lassen sich solche Denkmuster aber auch in literarischen und publizistischen Texten finden, mit denen sich vor allem die künstlerische Avantgarde „den Massen“ als Führer und Vorbild anzudienen trachtete.73 Es wäre lohnend, der Beziehung zwischen dieser Form der „Literatenpolitik“74 und dem Selbstbild einzelner Pädagogen einmal systematischer nachzugehen. Dann könnte man deren diskursive Selbstverortungsstrategien als Facette einer Intellektuellengeschichte der Zwischenkriegszeit verstehen. – Den illusionären Charakter solcher Gemeinschaftssehnsüchte, die sich auch und gerade im Bereich der zeitgenössischen Volksbildungsdebatten finden, markiert treffend eine sarkastische Sentenz Helmuth Plessners: „Volkshochschulkurse verbinden den Intellektuellen so wenig mehr mit den anderen Volksschichten wie Spaziergänge den Fabrikarbeiter mit dem Landleben.“75 „So wie Bildung in letzter Linie das Zu-sich-selbst-kommen des Menschen, so ist Volksbildung das Zu-sich-selbst-kommen des Volkes.“ (Theodor Bäuerle 1921) Den Demokraten und Liberalen sekundierten im Feld einer kulturkritisch fundierten Nationalpädagogik mit appellativem Charakter an die „Volksgemeinschaft“ einflussreiche Rechtsintellektuelle. Noch im vorletzten Jahr des ersten totalen Kriegs in Europa hatte Wilhelm Stapel76 sein in der Nachkriegszeit viel rezipiertes und disku72 73

Konrad Haenisch: Bahnen (wie Anm. 51), S. 108. Vgl. als zeitgenössischen Beleg: Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution. Eine Sammlung, hg. v. Ludwig Rubiner, Leipzig 1971 (Erstausgabe Berlin 1919); ders.: Der Dichter greift in die Politik. Ausgewählte Werke 1908–1919, Leipzig 1976. 74 Analytisch überzeugend ist Britta Scheideler: Kunst als Politik – Politik als Kunst. „Literatenpolitik“ in der Revolution 1918/19, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart/München 2000, S. 117–137. 75 Helmuth Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2002 (Erstausgabe Bonn 1924), S. 18. Dazu knapp und präzise Wolfgang Bialas: Politischer Humanismus und „Verspätete Nation“. Helmuth Plessners Auseinandersetzung mit Deutschland und dem Nationalsozialismus (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 42), Göttingen 2010, S. 139–146. 76 Vgl. die Einschätzung bei Hans Peter Veraguth: Erwachsenenbildung zwischen Religion und Politik. Die protestantische Erwachsenenbildungsarbeit in und außerhalb der freien Volksbildung in Deutschland von 1919 bis 1948, Stuttgart 1976, S. 157: „Kaum eine andere Persönlichkeit hat als einzelner die protestantische Volksbildungsarbeit der Weimarer Zeit so stark beeinflusst wie der Theologe, Publizist und Volksbildner Wilhelm Stapel.“ Dort auch S. 157–162 eine knappe Interpretation der pädagogischen Ansätze Stapels. Zu dessen Rolle im rechtsintellektuellen Netzwerk der Epoche und seinen Beziehungen zum Deutschnationalen HandlungsgehilfenVerband (DHV) Siegfried Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im „Dritten Reich“, Frankfurt a.M. 1992. Vgl. auch Alexandra Gerstner: Die Zeitschrift Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben (1917–1938), in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine

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tiertes Konzept der „Volksbürgerliche[n] Erziehung“77 entwickelt, das Volkserziehung ausschließlich in der Erkenntnis des eigenen Volkstums und seiner „Volksideale“ zentrierte.78 Wirksam wurde dieser Ansatz in dem von Stapel seit 1917 geleiteten Hamburger Volksheim sowie vor allem in der 1916 ebenfalls in Hamburg gegründeten „Fichte-Gesellschaft von 1914“.79 Mit seiner Programmschrift und dem ihr inhärenten Konzept des „Volksbürgertums“80 markierte Stapel früh jegliche Distanz zu einer wie immer gearteten, demokratischen „staatsbürgerlichen“ Erziehung, zumal seiner Meinung nach „Volk [. . . ] ein primäres Phänomen, Staat ein sekundäres“ sei.81 Dies implizierte nach 1918 quasi automatisch die grundsätzliche Ablehnung sämtlicher republikanisch-demokratischer Erziehungsprojekte und -ideen. Ihm zur Seite trat 1920 der Pädagoge Ernst Krieck mit seinem programmatischen Text „Die Revolution der Wissenschaft“, dessen Untertitel „Ein Kapitel über Volkserziehung“82 deutlich signalisierte, worum es dem Autor eigentlich ging: „Die geistige 77

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Netzwerke (1890–1960), Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 203–218. Wilhelm Stapel: Volksbürgerliche Erziehung, Jena 1917 (erweiterte Neuauflage 1920). Das Büchlein geht auf zwei Vorträge Stapels im Hamburger Volksheim aus dem Februar und Juni 1917 zurück. Das Exemplar des Werkes aus der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek zeigt den Stempel „Erziehungswissenschaftliche Universitätsanstalt Jena“. – Siehe auch die knappe, präzise Einschätzung Stapels bei Franz-Josef Jelich: Die Weimarer Verfassung „ist eine Vergewaltigung des organischen Volkslebens.“ Volksbürgerliche Erziehungsaufgaben bei Wilhelm Stapel, in: Ciupke/Jelich: „Erziehung“ (wie Anm. 19), S. 149–158. Die Debatte um eine nationale Fundierung „deutscher Bildung“ wurde seit der Reichsgründungszeit geführt. Daran beteiligten sich nicht allein die zünftigen Pädagogen sämtlicher Schularten, sondern auch zahlreiche Universitätslehrer (vor allem Germanisten, Philosophen und Historiker) sowie Publizisten und Schriftsteller. Zahlreiche Hinwiese zu solchen Koalitionen bei Michael Kämper- van den Boogaart: Oberlehrer, Hochschulgermanisten und die Lehrerausbildung. Facetten einer nicht spannungsfreien Kooperation im Zeichen nationalpädagogischer Ideologien, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 2 (2010), Hf. 2, S. 265–289. Als Primärquellen vgl. etwa den Beitrag des einflussreichen Germanisten Gustav Roethe: Humanistische und nationale Bildung (1906), in: ders.: Deutsche Reden, Leipzig o.J., S. 223–241; oder Adolf Lasson: Deutsche Art und deutsche Bildung. Rede gehalten am 25. September 1914 (= Deutsche Reden in schwerer Zeit, Hf. 4) Berlin 1914. – Vgl. für unseren Zusammenhang Elke Peters: National-völkische Bildungspolitik in der Weimarer Republik, Weinheim/Basel/Wien 1972, insb. S. 13–39; siehe auch das Kapitel „Gemeinschaft, Volk, Erziehung“ in Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim/München 2005, S. 256–281. Dazu knapp Justus H. Ulbricht: Völkische Erwachsenenbildung. Intentionen, Programme und Institutionen zwischen Jahrhundertwende und Weimarer Republik, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/ders. (Hg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, S. 252– 276, insb. S. 269–271. Stapel: Erziehung (wie Anm. 77), S. 28–36. Ebd., S. 9. Auf der Differenz von „Volk“, „Nation“ und „Staat“ beharrte auch Petersen, freilich aus anderen Gründen als Stapel. Ihm ging es darum, den Volksbegriff von den problematischen Aspekten eines übersteigerten Nationalismus wieder zu reinigen. Vgl. dazu Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 231ff; siehe S. 236: „Man hätte nie Volk und Staat aneinander binden sollen.“ Ernst Krieck: Die Revolution der Wissenschaft. Ein Kapitel über Volkserziehung, Jena 1920 (auch bei Diederichs). Stapel und Krieck argumentieren volkspädagogisch auf dem Hintergrund einer radikal kulturkritischen Abrechung mit der modernen, zeitgenössischen Gesellschaft. Krieck ist jedoch – anders als der deutschnationale Protestant Stapel – an organlogische, volksbiologische Diskurse eng angebunden. – Eine lohnende, vergleichende Interpretation dieser beiden

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Not des deutschen Volkes bestimmt der Geisteswissenschaft ihre künftige Aufgabe: so nimmt die erneuerte Wissenschaft teil an der Wiedergeburt der Volksgemeinde.“83 Und an anderer Stelle proklamierte Krieck in prophetischem Ton: „Kehre ein zum ewigen Gott [. . . ]. Kehre heim zur Mutter Erde [. . . ]. Kehre dich zum guten Geist deiner Väter. Kehre ein zu dir selbst, zu Heimat und Vaterland mit Leib und Seele. Kehre heim zur Volksgemeinschaft. [. . . ] Volksgemeinschaft ist kein Haufen, keine gewürfelte Zahl von Einzelnen. Sie ist ursprünglich lebendiges Wesen, an dem Jeder dienendes Glied ist. Sie ist Einheit von Natur und Einheit in Gott, und mit ihrer Seele wurzeln Alle in diesem Urgrund der Gemeinschaft.“84

Dies Zitat sowie der gesamte Kriecksche Text „Höre, Volk!“ ist im Übrigen ein schlagendes Beispiel für eine besondere Mischung von Volksnomostheologie,85 rasseideologisch begründetem Sonderbewusstsein, reformpädagogischen Theoriepartikeln und national-sakraler Emphase, die sich auch in anderen, dem radikal rechten Rand des weltanschaulichen Spektrums entstammenden Texten jener Aufbruchsjahre finden ließen. Von „völkischer Bildung“86 und der „Erziehung zum deutschen Menschen“87 emphatisch und oft redeten in der Regel also nur die dezidiert völkischen Volksbildner, etwa Kurd von Strantz in seinem Aufsatz „Unsere völkische Bildung“,88 der

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wirkmächtigen Texte (und Autoren) muss an dieser Stelle unterbleiben. Ebd., S. 59. Die bisherige Forschung zu Krieck diskutiert dessen Werk zumeist ausschließlich im Blick auf dessen Beziehung zu Ideologie und pädagogischer Praxis des „Dritten Reiches“. Vgl. allein schon folgende Titel: Hermann Giesecke: Hitlers Pädagogen. Theorie und Praxis nationalsozialistischer Erziehung, Weinheim/München 1999; Ernst Hojer: Nationalsozialismus und Pädagogik. Umfeld und Entwicklung der Pädagogik Ernst Kriecks, Würzburg 1997; Karl Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a.M. 1987; Gerhard Müller: Ernst Krieck und die nationalsozialistische Wissenschaftsreform. Motive und Tendenzen einer Wissenschaftslehre und Hochschulreform im Dritten Reich, Weinheim/Basel 1978. Ernst Krieck: Höre, Volk!, in: Die Tat 11 (1920), Hf. 10, S. 721–723. Dazu immer noch orientierend Wolfgang Tilgner: Volksnomostheologie und Schöpfungsglaube, Göttingen 1966. Wer im Geiste von Liberalismus, Christentum und Humanität, manchmal gar von Weltbürgertum, Sozialismus und Demokratie, über Volksbildung sprach und schrieb, verwandte in der Regel die Begriffe „volkstümlich“, „national“ oder „volklich“, wenn er sein nationalpädagogisches Anliegen verdeutlichen wollte. Auch Petersen spricht in der „Allgemeinen Erziehungswissenschaft“ von „volklicher Gesinnung“, vgl. dort (wie Anm. 1) S. 235. So der DHV-Funktionär Max Habermann: Die Erziehung zum deutschen Menschen. Einführung in die Bildungsarbeit des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, Hamburg 1924. Voraus ging allerdings die programmatische Schrift ebenfalls in Hamburg aktiven radikal-völkischen Schriftstellers und Lebensreformers Adalbert Luntowski, der sich später „Reinwald“ nannte. Adalbert Luntowski: Die Geburt des deutschen Menschen (als Vortrag: „Die Germanische Moderne“), o.O., o.J. [(Hamburg 1914). Zum Kontext Justus H. Ulbricht: Pädagogik der „Volkwerdung“. Kontexte, Genese und Intention völkischer Erwachsenenbildung, in: Ciupke/Jelich: „Erziehung“ (wie Anm. 19), S. 3152. Kurd von Strantz: Unsere völkische Bildung, in: Deutschlands Erneuerung IV (1919), Hf. VI, S. 414–419. Auch dieser Autor formuliert eine fundamentale Kritik an der Rolle des „undeutsch[en] und volksfremd[en]“ (S. 414) Humanismus, der die Deutschen von ihrem eigentlich „germanischen“ Wesen entfremdet habe und wettert gegen „unsere sogenannten Gebildeten“ (S. 415) sowie gegen die „hellenistisch verbildeten und daher dem Volksgefühl entfremdeten

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1919 im antidemokratischem Zentralorgan „Deutschlands Erneuerung“ erschienen ist. Im Kern solch dezidiert „völkischer“ Erziehungskonzeptionen stand in der Regel eine rassenkundlich fundierte Lebens-, Volks- und Heimatkunde, um die sich dann andere Fächer gruppierten. Freilich war die in zahlreiche Gruppen zersplitterte Völkische Bewegung sich selten ganz einig darüber, was denn der wirkliche geistige und theoretisch fixierbare Kern ihrer Überzeugungen wäre.89 Doch auch heutige Spezialisten tun sich schwer, Wesen und Begriff des „Völkischen“ trennscharf zu definieren. Ich folge den Vorschlägen Stefan Breuers90 und Uwe Puschners,91 die für einen engen Begriff des „hybriden Nationalismus“ der Völkischen plädieren und nachvollziehbare Grenzen zum deutschnationalen, besonders aber zum konservativen Lager ziehen. Völkisches Denken enthält eindeutig exkludierende Ideen und Diskurse, definiert also die Substanz des hochgeschätzten eigenen „Volkstums“ zumeist ex negativo. Im Bereich positiver Definitionsversuche ist die Völkische Bewegung oftmals vage, um nicht zu sagen wirr und widersprüchlich. Die Feinde deutschen Volkstums kennt man genau, die Freunde waren mal zerstritten, mal konfus oder beides. Doch reichte die völkisch-radikale, oft antisemitische und antisozialistische Aggression der entsprechenden Diskurse, die politische und pädagogische Kultur der ersten Zwischenkriegszeit sichtlich zu zeichnen. „Völkische Erziehung“ bezweckt letzten Endes die Integration des einzelnen „Volks-“ oder gar „Rassegenossen“ in die integrale „Volksgemeinschaft“, die sich aller Formen „fremden Wesens“ vollkommen zu entledigen hatte. Einordnung, Unterordnung, gläubige Hinnahme „völkischen Wesens“ wären die Begriffe, die diesen nationalpädagogischen Diskurs umschreiben könnten, nicht primär „Persönlichkeit“, „Individualität“ oder „Freiheit“, die sich im pädagogischen Denken liberaler und demokratischer Volksbildner finden lassen. Will man nun wissen, was sich im pädagogischen Schrifttum der Völkischen Bewegung als „völkische“ Erwachsenenbildung formuliert und wie die entsprechende Praxis ausgesehen hat, so muss man sich an die Bauernhochschulen der Hellerauer Richtung Bruno Tanzmanns,92 an einzelne Dichter“ (S. 416). Darauf verweist ein Titel wie der des völkischen Philosophen Max Wundt: Was heißt völkisch?, in: Schriften zur politischen Bildung, hg. v. der Gesellschaft „Deutscher Staat“, Hf. 18; zugleich Fr. Manns Pädagogisches Magazin, Hf. 987, Langensalza 1924. Zu Wundt Hans-Joachim Dahms: Jenaer Philosophen in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und der Folgezeit bis 1950, in: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): „Wissenschaft“ Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 723–771, insb. S. 726–732. Die Jenaer Magisterarbeit von Jörg Opitz zur „Gesellschaft Deutscher Staat“ (1997) ist leider unveröffentlicht. 90 Stefan Breuer: Einleitung. Gesichtspunkte zur Differentialdiagnostik, in: ders.: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, S. 7–22; vgl. auch ders.: Grundpositionen der deutschen Rechten (1871–1945), Tübingen 1999, S. 80–89 (Abschnitt „Hybride: Die Völkischen“); ders.: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 96–99. 91 Uwe Puschner: Völkisch. Plädoyer für einen „engen“ Begriff, in: Ciupke/Jelich: „Erziehung“ (wie Anm. 19), S. 53–66. 92 Immer noch unverzichtbar in den Fakten ist die Darstellung von Hans Georg Miller: Die deutsche Bauernhochschule (Die ländlichen Volks- „und „Bauernhochschulen“) in entwicklungsgeschichtlicher, weltanschaulicher und agrarpolitischer Grundlage, Stuttgart 1928. Zum Kontext der Aktivitäten Tanzmanns Justus H. Ulbricht: Keimzellen deutscher Wiedergeburt. Die Völkischen 89

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„Fichte“-, „Arndt-“ oder „Bismarck“-Hochschulen,93 an die „Deutsche Heimatschule“ in Bad Berka,94 die „Deutschen Richtwochen“ des völkischen Dichters Georg Stammler,95 an die Schulprojekte des Lebensreformers Friedrich Schöll,96 zum Teil auch an den „Bund deutscher Volkserzieher“ sowie die pädagogischen Aktivitäten der völkischen Bünde innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegung halten – aber eben nicht an Peter Petersen. Dessen Problematik liegt woanders – was sich seit zwei Jahrzehnten an einer immer wieder aufflammenden kritischen Petersen-Debatte nachvollziehen lässt. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass Petersen nicht den Begriff „völkisch“ verwendet, sondern „volklich“. Damit adaptierte er einen Goetheschen Terminus, der seinerzeit auch den Jenaer Verleger Eugen Diederichs inspiriert hat, eine seiner wichtigsten weltanschaulich ambitionierten Buchreihen „Deutsche Volkheit“97 (und nicht etwa „Deutsches Volkstum“)98 zu nennen. Zum anderen besteht sicherlich eine Verwandtschaft mit dem dänischen Wort „folkelig“, das schon Hollmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts unzutreffend mit „völkisch“ übersetzt und damit

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in Hellerau und Dresden, in: Dresdner Hefte. Beiträge zur Kulturgeschichte 15 (1997), S. 80–86; Thomas Nitschke: Die Gartenstadt Hellerau als pädagogische Provinz, Dresden 2003. Vgl. auch ders.: Die Gartenstadt Hellerau im Spannungsverhältnis zwischen weltoffener Reformsiedlung und nationalistisch gesinnter völkischer Gemeinde, Wittenberg, Diss. 2008. Erwähnt in den Arbeiten Ulbrichts (vgl. die folgenden Anm.) sowie bei Hufenreuter: Konzepte und Strukturen völkischer Erwachsenenbildung, in: Ciupke/Jelich: „Erziehung“ (wie Anm. 19), S. 173–186. Genauer erforscht wurden diese in mehreren deutschen Städten angesiedelten „Hochschulen“ bisher jedoch nicht. Justus H. Ulbricht: „Die Heimat als Quelle der Bildung“. Konzeption und Geschichte regional und völkisch orientierter Erwachsenenbildung in Thüringen in den Jahren 1933 bis 1945, in: 1919 bis 1994. 75 Jahre Volkshochschule Jena, Rudolstadt/Jena 1994, S. 183–217. Hinweise zu Stammler, eine der Zentralfiguren im Netzwerk der völkischen Jugendbewegung und Erwachsenenbildung bei Justus H. Ulbricht: Bücher für die „Kinder der neuen Zeit“. Ansätze zu einer Verlagsgeschichte der deutschen Jugendbewegung, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 17 (1988–1992), S. 77–140. Dazu Christoph Knüppel: Friedrich Schöll – „Schulsiedlung Vogelhof“. Lebensreform als „Ausmerzung alles Wesensfremden“, in: Manfred Bosch u.a. (Hg.): Schwabenspiegel. Literatur vom Neckar bis zum Bodensee 1800–1950, Biberach 2006, Bd. 2.1: Aufsätze, S. 731–764; ders.: „Vorarbeiten zu einer geistigen Einheit des deutschen Volkes“. Friedrich Schöll als Leiter der Württembergischen Bauernhochschule und der Arbeitsgemeinschaft Vogelhof, in: Ciupke/Jelich: „Erziehung“ (wie Anm. 19), S. 187–216. Das Zitat „Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind, der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk“ stammt aus dem „Wilhelm Meister“ und zierte einen DiederichsVerlagsprospekt des Jahres 1925 unter dem Motto „Goethe sei das Panier!“ Vgl. dazu Heidler: Verleger (wie Anm. 42), S. 242–248, zur Buchreihe auch Justus H. Ulbricht: „Meine Seele sehnt sich nach Sichtbarkeit deutschen Wesens.“ Weltanschauung und Verlagsprogramm von Eugen Diederichs im Spannungsfeld zwischen Neuromantik und „Konservativer Revolution“, in: Gangolf Hübinger (Hg.): Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 335–374; hier S. 352–355. Der Begriff war eindeutig besetzt durch eines der Zentralorgane der antidemokratischen Revolte von rechts; vgl. Alexandra Gerstner: Die Zeitschrift Deutsches Volkstum. Monatsschrift für deutsches Geistesleben (1917–1938), in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.): Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960), Bern 2003, S. 203–218.

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missverstanden hat.99 Dass Petersens Volks(bildungs)idee nicht zuletzt durch den Grundtvigianismus beeinflusst gewesen ist, hat die Forschung vielfach nachgewiesen.100 Petersens „Liebe zum Volk“ ist gekoppelt an den Respekt vor anderen Nationen, Völkern und Kulturen. Er nennt die „Nationalisten“ die „ärgsten Verderber des Volksbegriffs und eines wahren Volksgeistes unter allen Völkern“ und ist der Überzeugung, dass der, dem „sein Volk erhaben und heilig ist“, auch jedes andere Volk als „gleich heilig“ achten werde.101 Und er folgert schließlich: „Es muß [. . . ] die oberste Forderung werden, dass jeder erzogen werde zur Achtung vor den andern Völkern und vor allem vor denen, die mit ihm in demselben Staatswesen vereinigt sind.“102 In seiner Distanz zu Staat und Nation geht er sogar so weit, vom „Volksbürger“, nicht vom „Staatsbürger“ zu reden, den er in der „freien allgemeinen Volksschule“103 – verstanden als Einheitsschule des gesamten Volkes –104 heranbilden möchte. Mit dem Terminus „Volksbürger“ ist jedoch nicht das gemeint, was Wilhelm Stapel mit „Volksbürgerlicher Erziehung“ umschrieben hat, denn Petersen beruft sich an mehreren Stellen auf die Weimarer Verfassung und deren Idee der demokratischen „Volksgemeinschaft“. Außerdem koppelt Petersen die Liebe zum eigenen Volk an die Idee der Menschheitsliebe. „Die Einzelvölker sind die Formen, innerhalb deren der einzelne Mensch allein Menschheit erleben kann, und der Weg dazu führt nur über die Liebe zu dem eigenen Volke. Diese Vaterlandsliebe entspringt zuletzt der Erkenntnis, dass Volk die Form der Darstellung des Ewigen ist.“105 Problematisch bei Petersen bleibt allerdings seine Aversion gegen die „Städte“ („sie sind alle Menschenfresser“),106 weil sich bei allen „sogenannten Kulturvölkern“ der soziale „Bodensatz“ besonders „dicht und dick“ in den Großstädten absetze,107 sowie gegen die „Masse“, von der er behauptet, „dass Massen naturgesetzlich unfähig sind, ethische Höchstleistungen zu erzielen.“108 Mit solchen und ähnlichen kulturkritischen Formulierungen, zu denen sich andere gegen die „internationalen Elemente in 99 100 101 102 103

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Vgl. hierzu Anm. 18. Zum Kontext Peter Brandt: Folkelighed – ein Übersetzungsproblem? Die deutsche Version dieses Aufsatzes gibt es nur online: http://www.brandt-kreis.de/pdf/brandt\ _Folkelighed.pdf zuletzt abgerufen am 18.02.2012. Zuletzt Retter: Universitätsschule (wie Anm. 10), S. 61–65: „Das ‚Volkliche‘ – Skandinavische Einflüsse.“ Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 257. Ebd., S. 258. Mit diesem Begriff der „Volksschule“ opponiert Petersen gegen die alte Klassen- und Standesschule. Damit ist er dem Schulreformer Wilhelm Paulsen sehr nahe; vgl. ders.: Die Schule der Volks- und Kulturgemeinschaft, in: Heinrich Deiters (Hg.): Die Schule der Gemeinschaft, Leipzig o.J. (1925), S. 54–63. Vgl. auch die Formulierungen in Peter Petersen: Der Weg zur neuen Schule des deutschen Volkes (1920), in: ders.: Innere Schulreform und Neue Erziehung. Gesammelte Reden und Aufsätze, Weimar 1925, S. 16–21, insb. S. 21. Peter Petersen: Das Profil der Neuen Schule und ihre Weltanschauung, in: ders.: Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar 1926, S. 97–133, Zit. S. 132f. Volk als „Darstellung des Ewigen“ – dies kommt der Volksnomostheologie nahe und reformuliert zudem Ideen Fichtes. Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 240. Ebd., S. 262. Peter Petersen: Das Gemeinschaftsleben der Jugend in der Schule, in: Deiters: Schule (wie Anm. 103), S. 90–105, Zit. S. 90.

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der Geschäftswelt“,109 gegen den „Krebs in Gestalt von Wucherei und Schiebertum, Korruption und Nepotismus, Unterschleifen, Parteikliquenwesen“110 gesellen, partizipiert Petersens Denken an den kulturkritischen Diskursen der Epoche, die allerdings ebenso wie der Volksbegriff lager- und parteiübergreifend verbreitet gewesen sind (was die Argumente nicht entschuldigt, doch eine ausschließliche Zuordnung solchen Redens zur politischen Rechten verbietet). Resümiert man nun das hier Skizzierte, wäre Folgendes abschließend zu konstatieren: Die Volksbildungs-Konzepte der Weimarer Zeit leisten zugleich Verschiedenes. Sie reaktivieren große Teile des alten bildungsbürgerlichen Kanons, nunmehr ergänzt um wesentliche Ingredienzien volkskundlich aufbereiteter Volkskultur. Sie versuchen, die alte Deutungshoheit klassisch gebildeter Gruppen des Bildungsbürgertums wieder zu gewinnen. Sie konkretisieren einen diffus gewordenen Bildungsbegriff111 inhaltlich im neuen Kanon der volksbildnerischen Gegenstände und Fächer und grenzen zudem all das aus, was in kulturkritischer Perspektive nicht zu den eigentlichen Bildungsgütern und -medien der Nation gehört. Sie erden diesen neuen Bildungsbegriff sozial in der ideal imaginierten großen „Volksgemeinschaft“ und in der kleinen oftmals schon verwirklichten „Gemeinschaft“ der „Bildner“ mit den „Gebildeten“ – so wird bei manchen Theoretikern das methodisch-pädagogische Instrumentarium der „Arbeitsgemeinschaft“ zum Idealbild wie zum Vorschein gelungener „volklicher“ Vergesellschaftung.112 Volksbildungskonzepte definierten neue Aufgaben für ein sozial bewusstes, politisch sensibilisiertes Bürgertum und schufen zudem faktisch zahlreiche neue Arbeitsmöglichkeiten, zumal die Volksbildungsbewegung in der Weimarer Republik Verfassungsrang erhielt. Die Masse der Volksbildner verblieb zwar in Distanz zur neuen Demokratie, doch finden sich im weiten Feld der Weimar-republikanischen Volksbildungsbewegung auch Konzepte und Institutionen, denen es um kulturell wie politisch anspruchsvolle staatsbürgerliche Bildung113 in der und für die Republik gegangen ist.114 109 Petersen: Erziehungswissenschaft (wie Anm. 1), S. 260. 110 Ebd., S. 262. 111 Als Versuch einer Reformulierung des Bildungsbegriffs Albert Böttger: Das Geistes- und Bildungsproblem. Grundlegung zu einer wahrhaft geistigen und sittlichen Volksbildung, Leipzig 1922. Dort (S. 1) heißt es ernüchtert: „Die Erziehung des deutschen Volkes hat demnach nicht geleistet, was von ihr vorausgesetzt worden ist. Wir haben geglaubt, sie übermittele w a h r e Bildung und echte Moral. Das hat sie nicht getan.“ 112 Weitere Hinweise dazu bei Paul Ciupke: „. . . mein Beruf wurde, das geistige Volksproblem lösen zu helfen.“ Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit zwischen Bildungsbewegung und pädagogischer Institution – eine Einleitung, in: ders./Franz-Josef Jelich (Hg.): Soziale Bewegung, Gemeinschaftsbildung und pädagogische Institutionalisierung. Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 1996, S. 7–13. 113 Vgl. die subjektive, zeitgenössische Bilanz eines ehemaligen Beamten im Preußischen Ministerium für Volksbildung: Hermann Schmitz: Revolution der Gesinnung! Preußische Kulturpolitik und Volksgemeinschaft seit dem 9. November 1918, Neubabelsberg (Selbstverlag des Verfassers) 1931. 114 Und dies nicht zuletzt in Thüringen. Dazu Jörg Wollenberg: „Völkerversöhnung“ oder „Volksversöhnung“? Volksbildung und politische Bildung in Thüringen 1918–1933, in: ders.: „Völkerversöhnung“ oder „Volksversöhnung“? Volksbildung und politische Bildung in Thüringen

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Zahlreiche gelungene pädagogische Projekte sowie zahllose beglückende zwischenmenschliche Erlebnisse sollten nun keinesfalls in einer kritischen mentalitätsund ideologiegeschichtlichen Perspektive diskreditiert oder wegretuschiert werden. Doch verweist Hellmuth Plessners oben zitierter ironischer Kommentar auf wesentliche Aporien volksbildnerischen Denkens und letztlich auf die überzogenen Erwartungen an die integrative gesellschaftliche Funktion einer „Volksbildung als Bildung zum Volke“. Auf der anderen Seite war die Weimarer Republik eine Blütezeit neuer Formen und Ideen der Erwachsenenbildung, die deren staatliche Formierungsphase unter nationalsozialistischer Herrschaft überdauerten, und die nach 1945 als Erfahrungsschatz in die neu aufgebaute pädagogische Arbeit mit Erwachsenen einfließen konnten – ebenso wie manche Legenden über die politische Rolle einzelner Väter der Volksbildung vor und nach 1933.

1918–1933, Erfurt o.J., S. 165–192. Andere Beispiele im zitierten Band von Ciupke/Jelich: Erziehung (wie Anm. 19).

Teil II: Die NS-Zeit

Hans-Christian Harten PETERSEN UND DER NATIONALSOZIALISMUS – SS-NAHE AKADEMISCHE NETZWERKE DER ERZIEHUNGSWISSENSCHAFT Die Zeit des Nationalsozialismus war eine Phase höchster „Intensität“, vergleichbar mit revolutionären Umbruchsituationen, in denen vieles möglich und wenig sicher erscheint, und in denen man noch nicht weiß, wie es ausgehen wird – dies macht es schwer, das Handeln einzelner Personen mit späteren Maßstäben moralisch und ethisch zu beurteilen. Wer irgendwie aktiv die gesellschaftliche Wirklichkeit mitgestalten wollte, musste, auch wenn er dem Nationalsozialismus fern stand oder ihn ablehnte, bis zu einem gewissen Grad auch immer die Rahmenbedingungen akzeptieren, die der Nationalsozialismus setzte und lief damit immer Gefahr, sich in das System zu verstricken. Das Leben, Arbeiten und Schreiben unter den Bedingungen eines staatsterroristischen Systems ist ein Ausnahmezustand. Diese schlichte Dialektik gilt es zu berücksichtigen, wenn man das Handeln Einzelner im „Dritten Reich“ beurteilen will. Jenseits dieser Dialektik kann man aber doch eine klare Grenze ziehen, die als Beurteilungsmaßstab dient, nämlich die Involviertheit einer Person in die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So begann auch die juristische Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus; allerdings muss man heute über die rein juristischen und juristisch relevanten Definitionen hinausgehen, nachdem in den vergangenen zwanzig Jahren vor allem der Anteil der Wissenschaften an den nationalsozialistischen Verbrechen immer deutlicher zutage getreten ist. Auch die Pädagogik war daran in vielfältiger Weise beteiligt: von beratender Tätigkeit für die Erbgesundheitsgerichte bis zur Ausarbeitung rassistischen Unterrichtsmaterials, von der Mitwirkung an der legitimationswissenschaftlichen Begründung des rassenpolitischen Paradigmas bis zum praktischen Einsatz in der weltanschaulichen Schulung der SS. War Peter Petersen daran beteiligt? Fragen wir zuvor: War er ein Nationalsozialist? Die Frage kann man eindeutig mit „jein“ beantworten, und es ist gerade diese (Un-)Eindeutigkeit, die es schwer macht, zu einem angemessenen Urteil über ihn zu kommen. Er war kein politisch aktiver Nationalsozialist, denn er gehörte weder der NSDAP, der SA oder der SS an. Seine Mitgliedschaft im NSLB ist ohne politische Signifikanz, weil es sich hier nur um den gleichgeschalteten Berufsverband handelte1 – es sei denn, er wäre aktiv an der politischen und weltanschaulichen Arbeit des NSLB beteiligt gewesen, was aber offensichtlich nicht der Fall war. Diese politische Abstinenz war alles andere als selbstverständlich: Der Anteil der Professoren, die während des „Dritten Reiches“ der NSDAP beitraten, dürfte an den verschiedenen Universitäten zwischen 40 und 60 Prozent gelegen haben, die Professoren der Psy1

So gehörten z.B. 1936 mit 97% praktisch alle Volksschullehrer dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) an.

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Hans-Christian Harten

chologie waren zu 70 Prozent, die Professoren und Dozenten an den Hochschulen für Lehrerbildung sogar zu 93 Prozent in der Partei.2 Trotzdem schaffte es Petersen, als Nationalsozialist zu gelten – wieweit dies nur äußerlich oder substantiell war, wird zu klären sein. Vielleicht vertrat er eine nationalsozialistische Pädagogik? Dies wäre schwer zu begründen, denn es gab keine „offizielle“ nationalsozialistische Lehre und daher auch keine „offizielle“ nationalsozialistische Pädagogik, sondern viele Lehren, die um die Deutungshoheit konkurrierten, es gab unterschiedliche Ausdeutungen, Adaptionen und Annäherungen, die nicht selten auch nur „rhetorischen“ Charakter hatten, um die eigene Position abzusichern. Man kann aber auch hier eine Grenzlinie ziehen, indem man das Rassenkonzept, die Rassenhygiene und die Rassenpolitik als Spezifikum des Nationalsozialismus und somit als Bezugspunkt nimmt, weil sie die wissenschaftliche und legitimatorische Grundlage des Völkermords und des staatlich organisierten Krankenmords bildeten. Zwar gab es auch hier heterogene und rivalisierende Konzepte, aber es gab doch Ämter, die eine Deutungshoheit beanspruchten und auch praktisch geltend machen konnten: das Rassenpolitische Amt (RPA) der NSDAP und das Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) beziehungsweise das Schulungsamt der SS.3 Und es gab einen quasi-offiziellen Kanon an rassentheoretischer und -politischer Literatur, die von diesen Ämtern empfohlen und beglaubigt wurde, und die insbesondere bei offiziellen Schulungsmaßnahmen eingesetzt wurde. Parallel dazu existierte ein „rassenpädagogischer Diskurs“, der diesen Kanon weitgehend abbildete beziehungsweise sich innerhalb dieses Rahmens kanonisierter Referenzliteratur bewegte. Daher bietet sich als Maßstab für die Beurteilung etwa pädagogischer Theorie und Praxis im „Dritten Reich“ die Rezeption dieser Werke und die Nähe oder Ferne zu diesen Ämtern oder zu den von ihnen vertretenen Konzeptionen an. In der rekonstruktiven Perspektive – das heißt vom Ergebnis her, dem rassenpolitisch motivierten und rassentheoretisch legitimierten Eroberungs- und Vernichtungskrieg – wäre insbesondere die Nähe zur SS als aktivistischer Kern dieser Politik hervorzuheben. Dies gilt, wenn man sich mit dem Anteil der Pädagogik beschäftigt, vor allem im Hinblick auf die Schulungsarbeit der SS, deren Aufgabe es war, eine Legitimationsgrundlage für das Handeln der SS zu schaffen und Grenzüberschreitungen der Akteure zu erleichtern.4 Anhand von Referenzanalysen lassen sich eine Reihe von Hauptautoren ausmachen, deren Werke einen Standardkanon bildeten, der sowohl in der pädagogischen Rezeption als auch in der weltanschaulichen Schulungsarbeit von RPA und SS zum 2 3

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Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin 2006, S. 108. Das RPA hatte die Aufsicht über die gesamte rassentheoretische und -politische Schulung und „Fortbildung“ in der NSDAP und ihren Gliederungen, ausgenommen die SS, die ihre Schulungsarbeit in eigener Regie betrieb; die Zuständigkeit lag hier beim Schulungsamt des RuSHA. Das Schulungsamt der SS wurde 1938 vom RuSHA ins SS-Hauptamt verlagert; es war unter anderem für die Erstellung von Unterrichtstexten und -materialien für die Schulungsarbeit in der SS zuständig. In seine Zuständigkeit fiel auch die Einsetzung von Schulungsleitern in der SS; während des Krieges ging diese Aufgabe auf die Abteilung für Weltanschauliche Schulung und Truppenbetreuung des Kommandoamtes der Waffen-SS im SS-Führungshauptamt über, bis sie 1944 wieder dem SS-Hauptamt übertragen wurde. Hans-Christian Harten: Schulungsarbeit und Schulungslager der SS, in: Paul Ciupke (Hg.): Elitenbildung, Schulung und NS-Lagergesellschaft, Essen 2012 (in Vorbereitung).

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Tragen kam: an erster Stelle die Schriften von Hans F.K. Günther, Ludwig Ferdinand Clauss5 und Fritz Lenz als Vertreter jeweils der Rassenanthropologie, Rassenpsychologie und Rassenhygiene, gefolgt von Eugen Fischer und Erwin Baur, die mit Fritz Lenz zusammen das zeitgenössische Standardwerk zur Rassenhygiene und Vererbungslehre verfasst hatten, sowie die Vererbungs- und Bevölkerungswissenschaftler Martin Staemmler, Otmar Freiherr von Verschuer (Josef Mengeles Doktorvater) und Friedrich Burgdörfer.6 Für die SS spielten darüber hinaus die Werke Richard Walther Darrés, der als Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes auch die Schulungsarbeit in der SS kontrollierte und dessen Schriften die nationalsozialistische „Blut-und-Boden-Ideologie“ repräsentierten, eine bestimmende Rolle. Darré stand dem mit ihm befreundeten Günther nahe, beide haben sich wechselseitig beeinflusst. Die wichtigsten Referenzautoren in der Schulungsarbeit der SS waren (in dieser Reihenfolge) Günther, Darré, Baur/Fischer/Lenz, Clauss, Staemmler, Burgdörfer, der Rassenhygieniker Werner von Siemens und natürlich – jenseits der fachwissenschaftlichen Literatur – Hitler und Rosenberg. Deren Werke bildeten einen Referenzrahmen, innerhalb dessen auch eigenständige „rassenpädagogische“ beziehungsweise für eine „Rassenpädagogik“ relevante erziehungswissenschaftliche Theoriebildungsprozesse und Forschungsansätze entstanden. Sie wurden insbesondere von Jaensch, Kroh und Pfahler angestoßen, die daher auch unter den meist genannten Referenzautoren in der rassenpädagogischen Literatur zu finden sind. Petersen hat einige dieser Schriften vielleicht gekannt, aber nicht ernsthaft rezipiert und schon gar nicht programmatisch zu adaptieren versucht. Er nimmt gelegentlich auf rassentheoretische Autoren Bezug, aber außer Darré sind nur wenige darunter, die zum genannten Referenzkanon gehören. Insbesondere fällt auf, dass Petersen sich weder mit den Standardwerken (Baur/Fischer/Lenz, Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“) noch mit Günther und Clauss als den führenden Theoretikern der „nordischen Idee“ auseinandersetzte, obwohl er sich doch selbst so offensiv zu dieser Idee bekannte. Günther zitiert er zwar lange vor seiner Hinwendung zum völkischen Denken in seinem 1925 erschienenen philosophischen Hauptwerk „Wilhelm Wundt und seine Zeit“, jedoch in kritischer Absicht: Am Ende dieses Werks formuliert er den „zuversichtlichen Glauben an neue sittlich höhere Möglichkeiten des Menschengeschlechtes“, der Fortschritt der Menschheit sei möglich durch „die Macht des tätigen Menschen als eines sittlichen Wesens“. Dieses Postulat grenzt er vom „rein naturgeschichtlichen zoologischen Standpunkt“ ab und nennt an dieser Stelle Günthers „Rassenkunde des Deutschen Volkes“. Darin werde die Idee der Menschheit als leerer Begriff verworfen, weil es in der Realität nur Rassen und Volkstümer gebe, abstrakte „Menschheitsideale“ förderten daher nur die Gefahr der 5

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Clauss fiel später in Ungnade, nachdem bekannt geworden war, dass er eine jüdische Mitarbeiterin beschäftigte. Er wurde daraufhin 1943 aus der Partei ausgeschlossen und aus dem Beamtenverhältnis entlassen, fand aber in der SS eine neue Heimat. Das SS-Ahnenerbe unterstützte ihn ab März 1944 mit 600 RM monatlich für ein Forschungsprojekt namens „Rassen im Kampf“, das er im Rahmen der Kriegsberichterstandarte der Waffen-SS „Kurt Eggers“ durchführen sollte. BArch, NS 21/39, n.p.; zum „Fall Clauss“ siehe Peter Weingart: Doppelleben. Ludwig Ferdinand Clauss: Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt a.M. 1988; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 144ff. Ebd., S. 95f.

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„Entwurzelung und Artlosigkeit“, für die Günther hier schon „das Judentum“ mitverantwortlich machte.7 Später behauptete Petersen zwar, er habe die Berufung Günthers nach Jena als Dekan unterstützt, tatsächlich hatte er jedoch versucht, diese Berufung zu verhindern.8 Er dürfte Günther auch eher als Widersacher empfunden haben, weil dieser ein entschiedener Gegner der akademischen Volksschullehrerbildung war.9 Günther konnte sich dabei auf seinen Mentor, den sächsischen Kultusminister Wilhelm Hartnacke berufen, der in zahlreichen Publikationen eine Schulreform unter sozialdarwinistischen und rassenhygienischen Gesichtspunkten propagierte. In einem Brief an Lothar Stengel- von Rutkowski vom März 1933 schrieb Günther, er fürchte „keine Besserung in Schulsachen“ durch die NSDAP, wenn Wilhelm Hartnacke nicht das deutsche Schulwesen übertragen werde: „Der NS-Lehrerbund scheint ja alte marxistische Ladenhüter aufzuwärmen, Einheitsschule, akademische Bildung der Volksschullehrer und anderes [. . . ].“10 Ebenso fällt auf, dass Petersen sich nicht auf Texte seiner Jenaer Kollegen bezog, unter denen es ja einige gab, die prononciert rassentheoretisch orientiert arbeiteten. In seinen während des „Dritten Reichs“ publizierten Schriften nennt Petersen als Vertreter der Rassenkunde und der Rassenbiologie ausgerechnet, wenn auch gewissermaßen nur im Vorübergehen, Walter Scheidt und Friedrich Keiter.11 Scheidt, der an der Hamburger Universität lehrte, war ein Außenseiter, der nicht nur in der Universität und in der Wissenschaft umstritten war, sondern auch als politisch unzuverlässig galt, weil er nicht der NSDAP angehörte, durch ironische Bemerkungen über Hitler auffiel und den Beitritt seiner Kinder zur HJ ablehnte. Scheidts Hamburger Assistent Keiter knüpfte an dessen „Kulturbiologie“ mit einer stärkeren Akzentuierung des „nordischen Gedankens“ an, fand aber damit wenig Resonanz, wie unsere Liste der Referenzautoren rassenkundlicher Schriften zeigt, auf der er erst an 126. Stelle auftaucht, während Scheidt immerhin noch den 17. Platz erreichte, weil er zu den schon vor 1933 anerkannten Vertretern der Rassenbiologie gehörte. Scheidt warf Keiter später opportunistisches und vom „Erwerbstrieb“ geleitetes Verhalten vor und hintertrieb deshalb erfolgreich dessen Berufung auf einen Lehrstuhl.12 Keiter hatte im Oktober 1941 als Assistent des im Krieg gefallenen Schmidt-Kehl die kommissarische Leitung des Rassenbiologischen Instituts an der Universität Würzburg übernommen, und Scheidt war daraufhin um ein Gutachten zur Neubesetzung der Professur für Rassenbiologie gebeten worden, sah sich aber außer Stande, ein Votum abzugeben, weil er aktuell überhaupt niemanden in Deutschland für eine solche Position als geeignet ansah. Scheidts Stellungnahme ist ein seltenes und bemerkenswertes Doku7 8 9 10 11 12

Peter Petersen: Wilhelm Wundt und seine Zeit, Stuttgart 1925, S. 301ff.; Hans F.K. Günther: Rassenkunde des Deutschen Volkes, 4 München 1923, S. 399f. Zu Petersens Rolle bei der Berufung Günthers siehe den Beitrag von Jürgen John in diesem Band. Hans F.K. Günther: Zur Frage einer akademischen Ausbildung der Volksschullehrer, in: Deutschlands Erneuerung 17 (1933), Hf. 4, S. 239–242. Nationalarchiv Prag, URP dodatky I, kr. 59. Zu Hartnacke siehe Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 177ff. Peter Petersen: Es gibt rassische Hochwertigkeit. Sie verpflichtet!, in: Heimat und Arbeit 14 (1941), Hf. 2, S. 38–41. Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 285ff.

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ment vernichtender Kritik an der Konjunktur der Rassenbiologie in der deutschen Wissenschaftslandschaft, der er pauschal vorwarf, unter dem Einfluss „zahlloser unberufener ‚Lehrer‘ der Rassenkunde“ die Bahnen „normaler“ Wissenschaft verlassen zu haben, was zu einem „völligen Kreditverlust“ des Fachs geführt habe. Dies war deutlich auf die Wirkung Günthers gemünzt.13 Zu Ehren Keiters muss man festhalten, dass dessen von Petersen zitiertes Hauptwerk „Rasse und Kultur“ (Band I und II) noch weitgehend dem Wissenschaftsverständnis Scheidts verpflichtet war und die Günthersche Richtung der Rassenkunde unberücksichtigt ließ. Auch Keiter betonte vor allem den Mangel an gesichertem Wissen und die „schmerzlichen Lücken der biologischen Kenntnis kulturellen Geschehens“, und sein eigenes Werk war nicht viel mehr als eine umfangreiche Programmschrift, aus der sich nicht viel folgern ließ – am Ende seines ersten Bandes listete er allein 83 offene Forschungsfragen zur grundlagentheoretischen Klärung der Zusammenhänge zwischen Rasse und Kultur auf. Der später erschienene dritte Band, den Petersen aber nicht zitiert, lässt diese wissenschaftliche Zurückhaltung jedoch vermissen: Hier bekennt sich Keiter zu Günthers Ideal des „nordischen Menschen“ und liefert in einem Anhang eine krude rassenbiologische Begründung des Antisemitismus.14 Es fällt auf, dass das für die Rezeption der Rassenanthropologie konstitutive Klassifizierungssystem für die Theoriebildung bei Petersen keine Rolle gespielt hat. Ähnliches gilt für seine Bezugnahme auf Konzepte der Rassenhygiene und Vererbungslehre, die allenfalls den Charakter von Lippenbekenntnissen hatte und nicht einmal programmatisch für seine Theoriebildung bedeutsam war. Petersens Bezugnahme auf Rassenanthropologie und -biologie blieb weitgehend oberflächlich und bewegte sich im Wesentlichen auf einer alltagswissenschaftlichen Ebene. Das zeigt sich beispielsweise an seiner Verwendung des Rassenbegriffs und speziell der Kategorie des „Nordischen“: So setzt er etwa „das Norddeutsche“ oder „Nordeuropäische“ mit dem „Nordischen“ gleich – die „nordische Rasse“ wies aber nach Günther in Nordeuropa lediglich die größte Verbreitung auf, aber auch in Norddeutschland und Nordeuropa hatte man es mit „gemischtrassischen Völkern“ zu tun, und „Norder“ gab es auch anderswo, beispielsweise auch in Polen. Wenn Petersen es vermied, sich auf Günther und Clauss zu beziehen, liegt der Schluss nahe, dass er die „nordische Rasse“ nicht als „Rasse“, sondern als „Volk“ verstand. Deshalb geriet er auch in Verlegenheit, als es darum ging, den Konflikt zwischen Dänen und Schleswig-Holsteinern rassengeschichtlich zu deuten – beide Völker sollten ja der gleichen „vorwiegend nordisch bestimmten Rasse“ angehören. So behauptete er essentialistisch einen Unterschied zwischen „dänischer“ und „jütischer Rasse“, war sich aber selber nicht ganz sicher und fügte in Klammern als Frage hinzu „oder Rassenteile?“15 Von einer solchen Differenzierung unterschiedlicher Anteile innerhalb der „nordischen Rasse“ war in der Rassenanthropologie aber noch nichts bekannt, und im rassenanthropologischen Selbstverständnis der Zeit verwies der Unterschied zwischen Dänen und Schleswig13 14 15

Das Gutachten ist wiedergegeben bei: Horst Seidler/Alois Soritsch: Rassen und Minderheiten, Wien 1983, S. 63f. Vgl. auch Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S. 537. Friedrich Keiter: Rasse und Kultur. Band I: Allgemeine Kulturbiologie, Stuttgart 1938, S. 293ff.; ebd., Bd. III: Hochkultur und Rasse, 1940, Anhang: Die Juden, S. 426ff. Peter Petersen: Rassische Geschichtsbetrachtung, in: Heimat und Arbeit 13 (1940), Hf. 8, S. 219.

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Holsteinern (die Petersen wohl den Jüten zuordnete) lediglich auf unterschiedliche „Volkscharaktere“, aber sicher nicht „Rassen“. Es lag Petersen aber daran, als einstiger Vorkämpfer für ein deutsches Nordschleswig einen energischen Vorbehalt gegen die Vereinnahmung der Schleswiger durch die Dänen geltend zu machen, die Ejnar Vaaben in seinem rassenkundlichen Beitrag zur dänischen Geschichte für Fahrenkrogs Aufsatzsammlung „Vom Wesen und Wirken der Rassen im europäischen Schicksalsraum“ aus dänisch-nordischer Sicht wie selbstverständlich vornahm.16 Während Petersen an rassengeschichtlichen Darstellungen des Bandes im Detail Kritik anmeldete, weil ihm offensichtlich selber klar war, dass es hier an wissenschaftlicher Fundierung fehlte, äußerte er sich scheinbar zustimmend zu den Beiträgen von Groß und Hüttig in der gleichen Aufsatzsammlung, die sich mit grundlegenden Fragen einer „rassischen Geschichtsbetrachtung“ beschäftigten. Walter Groß war Chef des Rassenpolitischen Amtes, Hüttig war Reichsstellenleiter im RPA und Dozent für Vererbungslehre und Rassenkunde an der Hochschule für Lehrerbildung Bonn; ihre Beiträge hatten daher parteioffiziellen Charakter. Petersen beschränkte sich hier auf ein kurzes Referat, das aber nur einige Aspekte herausgriff, die noch eine Nähe zu seiner Erziehungsphilosophie aufwiesen – so hob er aus dem Beitrag von Groß vor allem hervor, dass der Mensch aufgrund des neuen Primats der Vererbung „nicht mehr Objekt der Umweltkräfte“, sondern „selbstschöpferischer aktiver Gestalter“ sei – so die paradoxe Schlussfolgerung bei Groß, und dass der „Sinn der Geschichte“ im „Eintreten für völkische Selbstbehauptung und vielfältige, bunt, aber stets organisch gewachsene Nationalitäten“ bestehe. Vor allem der Beitrag von Hüttig enthielt stark rassistische und antisemitische Passagen, die zeigen, dass der vermeintlichen Vielfalt und Buntheit doch sehr enge Grenzen gesetzt waren – Passagen, die Petersen nicht erwähnt.17 Diese „Technik selektiven Referierens“ ist typisch für Petersen: Er erweckt den Anschein, als würde er den Inhalt eines Textes wiedergeben, und da er keine Kritik formuliert, kann der Leser dieses Referat als Zustimmung deuten; erst beim zweiten Hinsehen erkennt man, dass er nur das (anscheinend zustimmend) referiert, was er selber ausgewählt hat. Ohnehin ist es schwer, seine eigene Meinung zu erkennen, da er dem Leser meistens nur Literatur „zur Kenntnis bringt“, ohne sich kritisch und analytisch mit ihr näher auseinanderzusetzen. Studiert man Petersens Texte genauer, fällt auf, dass er zwar Begriffe aus dem rassentheoretischen Diskurs aufgreift, sie aber nicht kontextuell, sondern in selbstle16 17

Der Historiker und Journalist Ejnar Vaaben war Mitbegründer der Dänischen Nationalsozialistischen Partei; während des Krieges diente er in der SS-Kriegsberichter-Standarte „Kurt Eggers“. „Das deutsche Volk hat mit der nationalsozialistischen Bewegung den Anfang gemacht und ist auch bisher am weitesten in diese Aufgabe eingedrungen. Als Hüter nordischen Geistes und nordischer Art stellt es heute das Bollwerk aller germanischen Völker gegen den zersetzenden und volksvernichtenden Einfluß des jüdischen Bastardvolkes dar, das mit seiner bolschewistischen Lehre jede rassische Eigenart in der Welt zerstören und vernichten will. Nach Süden ist es der geistige Wall gegen die vom Vatikan aus vordringenden orientalischen Vernichtungslehren im geistlichen Gewande; nach Westen erhebt es warnend seine Stimme, um einem ihm früher rassisch nahe stehenden Volkstum die Gefahren aufzuzeigen, die durch das Einströmen afrikanischer Rassengemische in den europäischen Raum für die Kultur, die geistige Leistungsfähigkeit und die Lebenskraft aller europäischen Rassen drohen.“ Werner Hüttig: Biologische Soziologie, in: Rolf L. Fahrenkrog (Hg.): Europas Geschichte als Rassenschicksal: Vom Wesen und Wirken der Rassen im europäischen Schicksalsraum, Leipzig 1937, S. 439.

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gitimatorischer Absicht verwendet und dabei umdeutet. Zwei Beispiele mögen dies näher illustrieren: In seinem Aufsatz „Erziehungswissenschaftliche Grundlagen des Jenaplanes im Lichte des Nationalsozialismus“ (1935)18 bezieht sich Petersen mehrfach auf Darrés „Neuadel aus Blut und Boden“ und ruft ihn als Kronzeugen seines eigenen Konzepts des „germanischen Individualismus“ an. Den zentralen Punkt, nämlich dass dies bei Darré mit einem rassenhygienischen Züchtungsprojekt verbunden ist, in dem der „germanische Individualismus“ zum Vorrecht einer neuen, auf „Blut und Leistung“ gegründeten herrschenden Klasse wird (ein Projekt, das Darré in der SS zu verwirklichen suchte), lässt er unerwähnt – entweder hat er das Buch nicht zu Ende gelesen (er zitiert nur aus den ersten Seiten) oder er benutzt es lediglich, um seine Nähe zum „Regime“ beziehungsweise zu maßgeblichen Vertretern des Regimes zu demonstrieren. Im Aufsatz „Heimat, Volk und Vaterland“ (1933) nimmt Petersen beiläufig auf die Günthersche Rassentypologie Bezug (ohne Günther namentlich zu nennen), und zwar auf eine Weise, die Zustimmung signalisiert, während er tatsächlich Günthers Konzept ins Gegenteil verkehrt: Günthers Ziel war die Entmischung und „Rückzüchtung“ auf die bestimmende „nordische“ Rasse hin, Petersen hingegen deutet die Diversifikation positiv als eine Grundlage dynamischer Entwicklung („Spannkraft“).19 Petersen bezog sich zwar auch auf „hauptamtliche“ Autoren wie Groß und Darré, diese Bezugnahme blieb aber sehr selektiv und erscheint eher zufällig, zudem handelte es sich um insgesamt sehr kurze Auseinandersetzungen, die sich auf wenigen Seiten zusammenfassen lassen. Eine gewisse Systematik besteht aber doch. So erschienen Petersens Auseinandersetzungen mit der Rassenkunde im Wesentlichen in einigen kleinen Beiträgen für die Zeitschriften „Blut und Boden“ und „Heimat und Arbeit“. „Blut und Boden“ wurde von August Georg Kenstler herausgegeben, der auch dieses Wortpaar prägte, das Darré zu einem Schlagwort der „Bewegung“ machte. Kenstler war Mitbegründer des Bund Artam e.V., einer völkischen Jugendbewegung, die die freiwillige Landarbeit im Osten propagierte, um der polnischen Einwanderung entgegenzuwirken. Langfristig wollte man nordische Züchtungskolonien im östlichen Grenzland errichten; eine Idee, die Darré und Himmler, beide Mitglieder der Artamanenbewegung – der auch Hans F.K. Günther und der spätere Kommandant von Auschwitz Rudolf Höß angehörten –, später mit dem Projekt der Wehrbauernhöfe und SS-Siedlungsstützpunkte im Osten weiter entwickelten und zu realisieren suchten. Kenstler war eng mit Darré befreundet und vermittelte 1930 dessen Anstellung als Agrarexperte in der NSDAP. Vermutlich weil Darré das Copyright für „Blut und Boden“ für sich haben wollte, ließ er 1934 Kenstlers Zeitschrift verbieten.20 Damit war auch Petersens Mitarbeit, kaum dass sie begonnen hatte, schon wieder beendet. Dass seine Wahl auf diese Zeitschrift fiel, signalisiert seine Sympathien für die völkische Landdienstbewegung und war vermutlich vermittelt über Theodor 18 19 20

Peter Petersen: Die Erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jenaplanes im Lichte des Nationalsozialismus, in: Die Schule 11 (1935), Hf. 6, S. 1–5. Ders.: Heimat, Volk und Vaterland, in: Blut und Boden 5 (1933). Darré betrachtete Kenstler schon 1931 als Gegner des Nationalsozialismus: Nachlaß Darré, Stadtarchiv Goslar, Nr. 142.

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Scheffer, dessen Heimatschule Bad Berka ein Treffpunkt der Artamanenbewegung war. Kenstler gehörte zudem der Bewegung „Deutscher Christen“ an, mit der Petersen gleichfalls sympathisierte.21 Die Zeitschrift „Heimat und Arbeit“, in der seine beiden vierseitigen „rassentheoretischen“ Beiträge 1940/41 erschienen, wurde von Theodor Scheffer herausgegeben, mit dem Petersen befreundet war und dem er einen Lehrauftrag für Politische Pädagogik an der Jenaer Universität verschaffte. Für Kenstlers Zeitschrift verfasste Petersen 1933 vier, für „Heimat und Arbeit“ zwischen 1933 und 1943 nach der Auflistung bei Schwan 15 Beiträge,22 allerdings ganz überwiegend nur kurze Rezensionen, die diese Bezeichnung eigentlich nicht verdienen, weil es eher Literaturanzeigen waren, in denen oft nur in einem oder zwei Sätzen auf einen Titel hingewiesen wurde. Auch die beiden kleinen rassentheoretischen Beiträge von 1940 und 1941, die in „Heimat und Arbeit“ erschienen, hatten eher den Charakter von Rezensionen als eigener Ausarbeitungen – der eine Beitrag befasste sich im Wesentlichen mit Keiters Kulturbiologie, der andere mit dem Sammelwerk von Fahrenkrog. Die Auswahl erscheint auch hier zufällig und ist im Falle Keiters schwer nachvollziehbar. Bei Fahrenkrog mag eine Rolle gespielt haben, dass der Herausgeber der Sohn des bekannten völkischen Lehrers und Künstlers Ludwig Fahrenkrog war, der zusammen mit Wilhelm Schwaner, mit dem Petersen wiederum bekannt war, die „Deutschreligiöse Glaubensgemeinschaft“ gegründet hatte – für Schwaner und dessen Volkserzieherbewegung interessierte sich Petersen so, dass er einen seiner Schüler zu einer Dissertation über ihn anregte.23 Petersens Bezugnahme auf die Rassentypologie und den rassenwissenschaftlichen Diskurs der Zeit war nicht nur oberflächlich und stark selektiv, sondern sie blieb auch forschungsstrategisch weitgehend folgenlos. Petersen selbst hat keine entsprechenden Forschungsarbeiten in Angriff genommen und auch bei seinen Schülern spielen die rassenanthropologischen Ansätze und Klassifikationen keine Rolle. Insbesondere für Petersens eigentliches „Werk“, die Jenaplan-Pädagogik, blieb die nationalsozialistische Rassenbiologie bedeutungslos. Um die Diskussion über Petersens Rolle im Nationalsozialismus zu vereinfachen, schlage ich deshalb vor, die ganze „Jenaplan-Pädagogik“ aus dieser Diskussion herauszunehmen. Diese Pädagogik enthielt zwar Elemente, die „anschlussfähig“ waren – dies betraf primär Elemente des völkischen Denkens wie die zentrale Idee der „Volksgemeinschaft“ oder das Konzept charismatischer Führung; solche Ideen waren jedoch schon lan21

Petersen lud Kenstler zum Vortrag in seine Erziehungswissenschaftliche Anstalt ein: Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus, Jena 2010, S. 107. Zu Kenstler siehe Johann Böhm: August Georg Kenstler: Herausgeber der Monatsschrift „Blut und Boden“ und aktiver Vorkämpfer der nationalsozialistischen Agrarpolitik, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 15, Hf. 1 (2003), S. 19–53. 22 Torsten Schwan: „Ich werde rücksichtslos gegen den Liberalismus, Demokratie und das Judentum schreiben und reden.“ Zum Rassismus und Antisemitismus in der Jenaplan-Pädagogik nach 1933, in: Zeitschrift für Pädagogik 3 (2010), S. 214–236. 23 Peter Emil Becker: Wege ins Dritte Reich. Teil II: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke, Stuttgart 1990, S. 577; Justus H. Ulbricht: Pädagogik der „Volkwerdung“. Kontext, Genese und Intention völkischer Erwachsenenbildung, in: Paul Ciupke u.a. (Hg.): „Die Erziehung zum deutschen Menschen“. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 342.

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ge vor 1933 allgegenwärtig und weder für die völkische Bewegung noch für den Nationalsozialismus spezifisch. Dass die deutsche Reformpädagogik dafür anfällig war, ist bekannt, auch wenn dies gelegentlich übertrieben dargestellt wird, denn die Reformpädagogik hatte doch starke demokratische Ursprünge, die vor allem auf den französischen und englischen Frühsozialismus sowie radikalliberalistische Traditionen des angelsächsischen Raums zurückgehen.24 Insbesondere die Idee der „Volksgemeinschaft“ verband „rechte“ wie „linke“ Kultur- und Gesellschaftskritik und ließ entsprechend unterschiedliche Ausdeutungen zu. Im Prinzip gilt dies auch für das Konzept der „Führer-Erziehung“, wie das Beispiel Leonard Nelsons zeigt. Die Kategorie des Völkischen beinhaltete eine spezifische territoriale Bindung der „Volksgemeinschaft“ (ein mythisch überhöhter Boden); „völkisch“ in diesem Sinn kann man aber beispielsweise auch die frühe sozialistische Pädagogik Siegfried Bernfelds nennen, die wesentliche Anstöße für die Kibbuz-Bewegung der 1920er Jahre lieferte. – Der rassenpolitische Aktivismus des Nationalsozialismus entsteht geistes- und wissenschaftsgeschichtlich erst aus der Verknüpfung von völkischen Ideen mit Konzepten der Rassenanthropologie und der Rassenhygiene, also naturwissenschaftlichen Konzepten, die die Biologisierung des Sozialen begründeten. Solche Verknüpfungen stellte Petersen bei aller Rhetorik des „Lebensgesetzlichen“ nicht wirklich her und sie waren ihm von seinem Denken her auch fremd. Die Form, in der Petersen ab 1933 gelegentlich den Rassebegriff aufnahm, spricht eher dafür, dass dies möglicherweise in der Absicht geschah, sich als „systemkonform“ darzustellen, ohne substantielle Zugeständnisse in der Sache zu machen. Petersen war ja kein unpolitischer Mensch. Im Februar 1932 unterschrieb er den Wahlaufruf für Hindenburg, gegen Hitler als Reichspräsidenten,25 und von 1931 bis 1933 war er Mitglied des Christlich-Sozialen Volksdienstes (CSVD), für den er kurzzeitig auch zur Reichstagswahl kandidierte. Petersen betonte stets seine christlichen Bindungen und beklagte das Übermaß an „Gottlosigkeit“ in der nationalsozialistischen Bewegung, das ihn offenbar daran hinderte, der NSDAP beizutreten.26 Der CSVD, eine Splitterpartei, die bei den Reichstagswahlen im November 1932 etwa 1,5 Prozent und im März 1933 knapp 1 Prozent der Stimmen erreichte, war zwar spätestens seit 1930 antiliberal und antikapitalistisch eingestellt und hatte bereits 1930 die Einbeziehung der NSDAP in die Regierung gefordert, grenzte sich aber deutlich vom nationalsozialistischen Rassismus ab. So proklamierte er noch in einem Flugblatt vom Februar 1933 als Ziel: „Eine auf den Kräften des christlichen Glaubens und deutscher Art beruhende Volksgemeinschaft, die heute ebenso bedroht ist vom kapitalistischen Herrenstandpunkt und klassenkämpferischen Marxismus wie von dem Irrwahn, der von der Rasse allein das Heil erhofft.“27 Vom „rassetheoretischen 24 25 26 27

Hans-Christian Harten: Utopie und Pädagogik in Frankreich 1789–1860, Bad Heilbrunn 1996; ders.: Kreativität, Utopie und Erziehung. Grundlagen einer erziehungswissenschaftlichen Theorie sozialen Wandels, Opladen 1997. Christian Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Teil I, Berlin 2002, S. 181. Dies geht u.a. aus seinem Brief an Karl Alnor vom 27.3.1933 hervor, abgedruckt bei Hein Retter (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan. Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte, Briefe, Dokumente, Weinheim 1996, S. 329. Günter Opitz: Der Christlich-Soziale Volksdienst: Versuch einer protestantischen Partei in der

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und -politischen Kern“ des Nationalsozialismus war Petersen daher sowohl als politischer Mensch wie als Erziehungsphilosoph und erst recht als Schulpädagoge weit entfernt. Als Erziehungsphilosoph suchte er zwar Annäherungen, die aber nicht zu diesem Kern vordrangen. Für das Konzept der Jenaplanpädagogik blieben diese Annäherungsversuche ohne substantielle Folgen; und als Schulpraktiker suchte er die von ihm aufgebaute Universitätsschule von politischen Einflüssen freizuhalten.28 Anders Petersens Rolle als akademischer Lehrer – hier gibt es eine ganze Reihe von Auffälligkeiten, die ich speziell an seinen Beziehungen zur SS festmachen und in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen rücken möchte: vereinzelte antisemitische Äußerungen ab 1933, insbesondere in einem Vortrag an einer SS-Führerschule; Annäherungen an den Kreis um Karl Astel und in diesem Zusammenhang die Vorlesungen im KZ Buchenwald; sowie vor allem die Förderung von Schülern, die in der SS engagiert waren. PETERSENS ANTISEMITISMUS Im Oktober 1943 hielt Petersen einen Vortrag an der SS-Führerschule in Braunschweig, der eine deutlich antisemitische Passage enthielt. Zu solchen Vorträgen wurden nur in der SS angesehene und akzeptierte Dozenten geladen. Allerdings wurden auch oft „neutrale“ Wissenschaftler eingeladen, um den wissenschaftlichen Anspruch der SS zu unterstreichen. So etwa der Historiker Herbert Grundmann, der im gleichen Jahr einen Vortrag über „Reich und Kaisertum“ an der SS-Führerschule in Tölz hielt.29 An den Führerschulen der SS war man während des Krieges sehr um eine historische Legitimation der eigenen Politik bemüht, und in diesen Kontext passte auch der Vortrag von Petersen. Vielleicht war man in Braunschweig auf ihn aufmerksam geworden, nachdem er bereits im Mai und August des gleichen Jahres Vorlesungen an der dortigen Führerakademie der Hitler-Jugend gehalten hatte; ebenso wäre denkbar, dass der Kontakt über Karl Astel zustande kam, der gleichfalls Vorträge an der Junkerschule hielt. Petersens Einladung war in jedem Fall natürlich eine besondere Auszeichnung und Herausforderung, und sie bietet einen Anlass, festzustellen, wie weit zu gehen er bereit war. Petersens Vortrag befasste sich im Wesentlichen unter bildungsgeschichtlichen Gesichtspunkten mit Lagarde und Langbehn, enthielt aber auch einige deutlich politische Äußerungen. Lagarde präsentierte Petersen als antiliberalistischen Theoretiker und Wegbereiter aktueller nationalsozialistischer Ziele: „Er forderte z.B. (vor 60 Jahren) 1. reale Hilfsaufgaben im Dienst des Ostdeutschtums also Grenzlanddeutschtums. 2. Kampf gegen die Lügenpresse des Vaterlandes, Kampf gegen die schädlichen Reptile, die in den Büros der Zeitungen sitzen.“ Bei den „schädlichen Reptile[n]“ konnte man 1943 unschwer

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Weimarer Republik, Düsseldorf 1969; zu Petersens Engagement für den CSVD Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens, Fankfurt a.M. 2007, S. 229ff. Retter: Universitätsschule (wie in Anm. 21). Karen Schönwälder: „Lehrmeister der Völker und der Jugend.“ Historiker als politische Kommentatoren, 1933 bis 1945, in: Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997, S. 148.

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an das intellektuelle Judentum der Weimarer Republik denken. Petersen rekurriert aber nicht auf Lagarde als Wegbereiter des völkischen Antisemitismus, obwohl er seit den 1920er Jahren vor allem als solcher rezipiert wurde. Er feierte Lagarde als Vertreter des „germanisch-deutschen Individualismus“, während er in Langbehn den „Nordschleswiger“ und „echten Nibelungen“ erblickte. Das Vortragsskript endet dann mit der etwas kryptischen Bemerkung: „Langbehn war Antisemit. (1930 Kampf für und gegen Schiller, im Hintergrund die Juden. Goethe und Schiller zeigten zu viel urdeutsches, was der Einstellung jedes christlichen Juden zuwider sein muß.)“30 Vom Inhalt her war dies nichts Spektakuläres, sondern offensichtlich das, was Petersen seit Jahren verbreitete, allerdings erhielt es durch den Ort, an dem es ausgesprochen wurde, ein anderes Gewicht, und der Hinweis auf die „christlichen Juden“ war schon bemerkenswert, legt er doch den Schluss nahe, dass auch einem „assimilierten Juden“ das „Urdeutsche“ (im Unterschied zum „Kosmopolitischen“) in Goethe und Schiller fremd bleiben musste. Für den Petersen der nationalsozialistischen Ära begann die „neue Erziehung“ offenbar mit Lagarde; darauf hatte er sich schon mindestens acht Jahre vorher festgelegt, als er die pädagogische Reformbewegung mit dem Ziel einer „deutschbestimmten Schule“ auf die Kulturkritik Lagardes, Nietzsches und Langbehns zurückführte.31 Programmatisch lautete der Titel einer Vorlesung an der Universität Jena 1936: „Geschichte der deutschen ‚Neuen Erziehung‘ von Lagarde bis zur Gegenwart“. Der Bezug auf Lagarde (und Langbehn) dürfte sein Denken und seine Theoriebildung als völkischer Pädagoge („völkischer Realismus“) wesentlich bestimmt haben, und dieser Referenzrahmen dürfte auch die Reichweite und die Grenzen seiner Anschlussfähigkeit an nationalsozialistische Theoreme bestimmt haben. Dabei hat Petersen Lagarde nicht erst nach 1933 für sich „entdeckt“. Er hielt bereits im Wintersemester 1925/26 eine Übung „zur Geschichte der ‚Neuen Erziehungswissenschaft in Deutschland‘ (Nietzsche, Lagarde, Langbehn)“ ab, die er 1930 noch einmal wiederholte.32 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Petersen den Namen Lagardes je nach politischer Konstellation aufs Programm setzte: 1925 fand erstmals eine Regierungsbildung unter Beteiligung der Deutschnationalen Volkspartei auf Reichsebene statt, nachdem in Thüringen schon im Jahr zuvor eine rechtsnationale Landesregierung gebildet worden war und 1930 wurde erstmals die NSDAP an der Landesregierung in Thüringen beteiligt. Gleichwohl war Petersen vor 1933 kein völkischer Pädagoge, Lagarde und Langbehn rezipierte er nicht als völkische Theoretiker, sondern als Vertreter einer Kultur- und Bildungskritik, die für weite Teile der deutschen Reformpädagogik Anstöße lieferte. Auch von deutschnationalen Tönen waren seine pädagogischen Schriften in den 1920er Jahren 30

31 32

Prof. Dr. Petersen, Die Entwicklung der Erziehungssysteme (Lagarde und Langbehn). Braunschweig, den 4.10.43: Militärarchiv Freiburg, RS 5/310. Im gleichen Dossier befindet sich ein Hinweis auf einen – allerdings undatierten – Vortrag Astels über „Die biologische Lage Deutschlands“. Petersens Vortrag wird auch erwähnt in: Jay Hatheway: In Perfect Formation. SS Ideology and the SS-Junkerschule Tölz, Schiffer Publishing Ltd. 1999, S. 121. Hatheway stellt den Vortrag in den Kontext historischer Legitimationsbemühungen im Curriculum der Führerschule. Petersen: Grundlagen (wie Anm. 18). Insofern dürfte Lagarde für Petersen eine größere Bedeutung gehabt haben, als es Hein Retter in seiner Replik auf Benjamin Orthmeyer wahrhaben will. Vgl. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 21), S. 46.

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frei. In seinem 1926 erschienen Buch zur „Neueuropäischen Erziehungsbewegung“ wurden alle namhaften Vertreter der internationalen Reformpädagogik von Tolstoj bis zu A.S. Neill, von Decroly bis zu Maria Montessori unter einer „paneuropäischen“ Perspektive behandelt. Plausibel erscheint, dass Petersen erst später begann, Lagarde und Langbehn, mit deren Denken er ja vertraut war, anders zu lesen und andere Aspekte hervorzuheben, die im Nationalsozialismus eine neue Aktualität erhielten. So ließe sich etwa der Hinweis auf die „Hilfsaufgaben im Dienst des Ostdeutschtums“ verstehen: Lagarde hatte bereits eine deutsche Siedlungsbewegung im Osten und höhere Schulen auf abgeschlossenen Landgütern für die politische Elite propagiert; in mancher Hinsicht nahm er damit Ideen Darrés vorweg – vielleicht rekurrierte Petersen auch deswegen auf Darré, weil er in ihm gleichsam einen Vollstrecker der Lagardeschen Erziehungsvision erblickte. Darré kombinierte beides, elitäre Landerziehungsheime und Ostsiedlung, allerdings, wie erwähnt, ergänzt um ein Konzept rassenhygienischer Auslese und rassischer Differenzierung.33 Lagarde war jedoch noch kein Anhänger der Rassenanthropologie: „Das Deutschtum liegt ‚nicht im Geblüte, sondern im Gemüte‘“. Er vertrat einen radikalen völkischen, aber nicht rassenanthropologischen Antisemitismus: die Juden sollten entweder auswandern oder sich vollständig assimilieren – „Antisemiten, nicht Judenfeinde, sind wir“.34 Vielleicht gilt dieser Satz auch für Petersen – dies würde erklären, warum er an seiner Schule jüdische Kinder schützte und sich nicht an der 1943 von Theodor Scheffer organisierten Ringvorlesung über die „Judenfrage“ beteiligte.35 Der rassenanthropologische Antisemitismus geht dagegen in seiner radikalen, in der nationalsozialistischen Rassenpolitik wirksam gewordenen Variante von „schlechten Genen“ aus, die aus dem „Erbgang“ der Menschheit „ausgeschaltet“ werden müssten, was zunächst die „Asylierung“, in letzter Konsequenz die physische Vernichtung nach sich zog. Allerdings muss man auch festhalten, dass der Antisemitismus der völkischen Bewegung dem rassenbiologischen Antisemitismus kulturgeschichtlich den Boden bereitet hat und beide Konzepte, wie die Realität gezeigt hat, ineinander übergehen, denn die genozidale Dynamik entwickelte sich in den ersten Kriegsjahren vielfach erst aus den ganz praktischen Folgeproblemen der Deportationen, die mit Beginn des Krieges an die Stelle der erzwungenen Auswanderung traten. Eine andere Äußerung von Petersen, die sich dem völkischen Antisemitismus zurechnen lässt, findet sich in seiner schon mehrfach kritisch kommentierten Rezension zu Karl Beyers Buch „Jüdischer Intellekt und deutscher Glaube“.36 Beyer, ein 33

34 35

36

Paul de Lagarde: Noch einmal zum Unterrichtsgesetz (1881), in: ders.: Deutsche Schriften, München 1934, S. 305ff.; zu Darré siehe Hans-Christian Harten: De-Kulturation und Germanisierung. Die nationalsozialistische Rassen- und Erziehungspolitik in Polen 1939–1945, Frankfurt a.M. 1996, S. 39ff. Becker: Wege (wie Anm. 23), S. 75, 78. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 21); zur Ringvorlesung Uwe Hoßfeld: Von der Rassenkunde, Rassenhygiene und biologischen Erbstatistik zur Systematischen Theorie der Evolution: Eine Skizze der Biowissenschaften, in: ders. u.a. (Hg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u.a. 2003, S. 531. Blut und Boden 6 (1933), S. 285; die Rezension ist vollständig wiedergegeben bei Schwan: Rassismus (wie Anm. 22), S. 427; siehe auch Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit:

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nationalsozialistisch orientierter Lehrer und Oberschulrat, der zahlreiche Beiträge für Kriecks Zeitschrift „Volk im Werden“ verfasste, schloss eine „deutsch-jüdische“ Annäherung kategorisch aus, denn zwischen „Deutschen“ und „Juden“ bestünde ein unaufhebbarer Gegensatz, Eigenschaften und Wesensmerkmale „des Juden“ lägen in seiner Natur, das heißt in seiner Rasse begründet und seien durch Erziehung nicht veränderbar, der Jude sei „radikal anders“. Aus der Einsicht in diese „Andersheit“ resultierte für Beyer eine Abkehr vom „Judenhass“ hin zur „absoluten Entfremdung“. Als Kern des Judentums bestimmte er den reinen „Machtwillen“, dem alles – Intellekt ebenso wie Geld – zu Instrumenten der Macht wird, während der Deutsche durch Glaubensideale zu sich selbst findet. Beyer beschreibt Seele und Geist „des Juden“ als krank, denn vom reinen Machtwillen beherrscht könne die Seele nie zur Ruhe kommen, bleibe der Geist immer in die Form des instrumentellen Intellekts gebannt und damit zu jeder schöpferischen Aufbauleistung unfähig. Beyer lässt es allerdings offen, ob das Judentum sich jemals selbst aus diesen Begrenzungen befreien könne und in der „jüdischen Rasse“ mithin doch mehr liegt als er zuvor beschrieben hat: „Ob die jüdische Rasse jemals im Laufe der Zeiten die Zwangsform des Intellekts zerbrechen wird, ob sie jemals offen sein wird für die Idee, ob sie jemals noch von dem ideellen Tiefenstrom, der die eigentliche Lebenskraft der volkhaften Organismen ist, durchströmt werden kann – wir wissen es nicht. Das wird sich daran zeigen, ob sie jemals imstande sein wird, ein selbständiges Volkstum, eine selbständige Rechtsgemeinschaft, eine selbständige Volksgemeinschaft, einen selbständigen Staat zu bilden.“37 Petersen schließt sich Beyers Analyse an, wendet seine offene Frage mit Blick auf den Zionismus aber in eine positive Perspektive: „Ob nicht in den Kreisen des Judentums selber die Erkenntnis aufdämmert, dass seine Versuche, sich in fremde Kulturen einzuleben, mindestens in die deutsche Denk- und Fühlweise, wie sie seit dem 18. Jahrhundert immer wieder bis in die jüngste Zeit hinein gemacht worden sind, misslungen sind? Dann würde auch bei den in Deutschland lebenden Juden die Rückbesinnung auf die eigene Art zu einer Gesundung führen, wie sie ja im Zionismus mit bestem Erfolg bereits erfolgt ist.“38 Anders gesagt: auch Petersen glaubt nicht mehr an die Möglichkeit des Zusammenlebens von „Juden“ und „Deutschen“, erblickt aber in der zionistischen Auswanderung einen Weg der „Gesundung“. Er teilt daher nicht die rassenanthropologischen Begrenzungen, die Beyer seiner Analyse zugrunde gelegt hat, geht aber auch insofern über Lagarde hinaus, als er die Assimilation, bezogen aufs Kollektiv, offensichtlich bereits für gescheitert hält. Im völkischen Denken, dem wir Petersen hier zuordnen, ist dieses Scheitern jedoch kulturell, nicht biologisch bedingt; in dieser Hinsicht stand Petersen vermutlich seinem ehemaligen Jenaer Kollegen Max Wundt nahe, der einen dezidiert kulturreligiösen Antisemitismus vertrat, die Möglichkeit einer Assimilation jedoch verwarf.39 Max Wundt war der Sohn Wilhelm Wundts, über den Petersen promoviert hatte, und man kann davon ausgehen, dass Petersen nicht nur ihn persönlich gut gekannt hat, sondern auch mit seinen Schriften und

37 38 39

Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim 2009, S. 292. Karl Beyer: Jüdischer Intellekt und deutscher Glaube, Leipzig 1933, S. 51. Blut und Boden, 6 (1933), S. 286. Tilitzki: Universitätsphilosophie (wie Anm. 25), S. 509ff.

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Vorstellungen vertraut war. Möglicherweise hat Petersen auch die Rassentypologie auf dem Umweg über Wundt rezipiert. In seinem 1926 erschienen Werk „Deutsche Weltanschauung“ setzte sich Wundt kritisch mit der Rassenkunde auseinander. Er übernahm zwar in weiten Teilen Günthers Charakterisierungen der Rassentypen, hob aber hervor, dass es sich um geistige Gehalte, nicht körperliche Merkmale handle und lehnte, wie später Krieck,40 den „Rassen-Materialismus“ als „unvölkisch“ ab. Wundt verwendete den Rassenbegriff auf eine metaphorische Weise, wenn er von der „nordischen Rasse“ als der „edelsten Rasse“ sprach. Seine Formulierung, für das „deutsche Wesen“ sei die „nordisch-ostische Spannung“ charakteristisch, lässt ebenfalls an die oben erwähnte spätere Ausdrucksweise von Petersen denken. Nach Wundts Theorie war die „ostische Seele“, weil sie eine Neigung zum „Materialismus“ habe, für jüdische Einflüsse besonders anfällig, deshalb bedürfe es einer Stärkung des „nordischen Geistes“; es sei zu einer „Verkehrung des rechten Verhältnisses der Seelenteile“ gekommen, indem die „ostische Seele“ und mit ihr der (kapitalistische) „Wirtschaftsgeist“ das Übergewicht über den „nordisch-heldischen Geist“ erlangt habe, der allein den jüdischen Einfluss zurückdrängen könne. Das „rechte Verhältnis“ und damit die Einheit und Sicherheit des deutschen Volkes wiederherzustellen, wies Wundt der völkischen Kirche als Aufgabe zu – auch in der Betonung des deutschen Christentums als Garanten völkischer Harmonie konnte Petersen sich wieder finden.41 PETERSENS NÄHE ZUM KREIS UM KARL ASTEL Einer der prominentesten Vertreter des radikalen rassenanthropologischen und -biologischen Antisemitismus war Karl Astel, Professor für „Menschliche Züchtungslehre“, Leiter des Thüringischen Landesamtes für Rassewesen und ab 1939 auch Rektor der Universität Jena. Astel war zudem Rassefachberater des Rasse- und Siedlungsamtes der SS, Gauamtsleiter des Rassepolitischen Amtes der NSDAP und SS-Standartenführer. Seine Position lässt sich an einem Konflikt im RuSHA 1943 verdeutlichen, bei dem es um die Heiratsgesuche von SS-Angehörigen ging, die jüdische Vorfahren in der achten Generation entdeckt hatten; Astel, der um ein Gutachten gebeten worden war, zeigte sich kompromisslos, denn für ihn war das „Judenmischlingsproblem“ prinzipiell nicht durch „Resorption“ zu lösen, und sei der jüdische Blutsanteil auch noch so klein. So weit ging man nicht einmal im RuSHA: Dort gestattete man nach Rücksprache mit Himmler den Verbleib in der SS, weil ein solch „weit zurückreichender jüdischer Rasseneinschlag“ keine Gefährdung mehr darstelle. Allerdings durften die Betroffenen nicht in die „Sippengemeinschaft“ der SS aufgenommen werden, das heißt ihre Kinder blieben von der möglichen zukünftigen 40

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„Aus dem Instinkt des Blutes alleine können wir als Volk nicht wachsen, wäre er stark genug, hätte es keine Abirrungen gegeben, was wir jetzt mit völkischer Wiedergeburt aus nordischem Blut wiedergutzumachen haben.“ Ernst Krieck: Volkscharakter und Sendungsbewußtsein, Leipzig 1940, S. 23. Max Wundt: Deutsche Weltanschauung. Grundzüge völkischen Denkens, München 1926, S. 160ff. Max Wundt war von 1920 bis 1929 Professor für Philosophie an der Universität Jena; er wechselte zum Oktober 1929 nach Tübingen, sein Nachfolger wurde der Deutschnationale Hans Leisegang.

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Aufnahme in die SS ausgeschlossen.42 Schon 1935 hatte sich Astel aufgeregt in einem Brief an Himmler gewandt („Der Führer ist unerhört falsch beraten worden“) und eine rigorose Trennung der „Judenmischlinge aller Grade“ von „judenreinen Deutschen“ durch eine restriktivere Fassung der Rassengesetze gefordert: „Durch Aufkreuzen mit deutschen Erbströmen im Laufe der Zeit die jüdischen Erbanteile zu ‚eliminieren‘ ist überhaupt unmöglich.“ Es entstünden immer wieder „Menschen jüdischen Gepräges“: „Der Versuch eines ‚Aufsaugens‘ dieser sicher an Zahl geringen 1/4 bis 1/16 Mischlinge würde solche gefährlichen jüdischen Erbanlagen über das ganze Volk verteilen. Die Folgen wären unausdenkbar [. . . ]. Das tatsächliche Freisein von jüdischem Blut [. . . ] ist überhaupt der einzige Garant für eine Lösung der Judenfrage in der ganzen Welt [. . . ].“43 In der Literatur wird von persönlichen Verbindungen Petersens zu Astel und dem Kreis um dessen engsten Mitarbeiter Stengel- von Rutkowski ausgegangen. Uwe Hoßfeld erwähnt einen Tagebucheintrag des Biologen Günther Heberer, demzufolge Petersen Anfang 1941 Teilnehmer des „Rutkowski-Kreises“ gewesen sei, in dem sich ausgewiesene Experten des rassenpolitischen Aktivismus der SS trafen.44 Aus dem Eintrag geht jedoch nicht hervor, dass es sich dabei um Peter Petersen gehandelt hat – es könnte ebenso Asmus Petersen gewesen sein, der diesem Kreis näher gestanden haben dürfte, denn Astel selbst reiht ihn 1938 in seinem Plan für ein SS-Mannschaftshaus an der Universität in die Gruppe der in Frage kommenden Professoren ein, die der SS angehören oder nahe stehen, nicht jedoch Peter Petersen.45 Auch fachlich würde Asmus Petersen, der als Professor für Landwirtschaftswissenschaft auch für die Ausbildung der Landwirtschaftslehrer zuständig war, die ein bedeutsames Rückgrat im Schulungswesen der SS bildeten, besser in diesen Kreis passen. Allerdings zählte Astel Peter Petersen an anderer Stelle im März 1941 inzwischen zu den NS-nahen Professoren der Jenaer Universität, und einige Jahre später hatte sich Petersens Ruf offenbar so weit gefestigt, dass er verlässlich genug erschien, um an der berüchtigten Vorlesungsreihe Jenaer Professoren vor norwegischen Studenten im KZ Buchenwald beteiligt zu werden, die im März 1944 unter Leitung Astels eröffnet wurde. Die Vorlesungen, die etwa zeitgleich für eine andere im elsässischen Sennheim festgehaltene Gruppe durch Professoren und Dozenten der Universitäten Freiburg und Straßburg stattfanden, zielten darauf ab, diese Studenten für die „germanische Waffen-SS“ zu gewinnen, sie sollten aber keinen propagandistischen Charakter haben, sondern, so die Anweisung Himmlers, „in streng wissenschaftlicher Weise [. . . ] die germanische Gemeinsamkeit beleuchten.“46 42

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Isabel Heinemann: „Rasse, Siedlung, deutsches Blut“. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen 2003, S. 553; zu Astel siehe Brigitte Jensen: Karl Astel – „Ein Kämpfer für deutsche Volksgesundheit“, in: Barbara Danckwortt u.a. (Hg.): Historische Rassismusforschung. Ideologen, Täter, Opfer, Hamburg 1995, S. 152–178; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 305ff. BA Berlin, DS-B 26 Astel, n.p. Uwe Hoßfeld/Michal Simunek: Die Kooperation der Friedrich-Schiller-Universität Jenas und Deutschen Karls-Universität Prag im Bereich der „Rassenlehre“ 1933–1945, Erfurt 2008, S. 67. Wege der Wissenschaft im Nationalsozialismus. Dokumente zur Universität Jena 1933–1945 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 7), bearb. v. Joachim Hendel u.a., Jena 2007, S. 200ff. BA Berlin, NS 21/942 (23.1.1944).

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Ende November 1943 waren rund 1.200 Studenten der Universität Oslo wegen vermeintlichen Widerstands gegen die deutsche Besatzung festgenommen worden, etwa die Hälfte wurde wieder freigelassen, eine Gruppe von 289 Studenten, die als „rassisch wertvoll“ galten, kam direkt ins Ausbildungslager für germanische Freiwillige der Waffen-SS nach Sennheim, eine andere Gruppe von 349 Studenten wurde nach Verhören durch die Gestapo ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert und dort zunächst wie Häftlinge behandelt, im Februar aber in einem vom Häftlingslager getrennten eigenen Block untergebracht.47 Dort sollten sie in die weltanschauliche Schulungsarbeit der SS einbezogen werden, da man auch diese Studenten für die „germanische SS“ gewinnen wollte. Die Abteilung D I 5 des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes der SS, die für die weltanschauliche Schulung des SS-Personals in den Konzentrationslagern zuständig war, forderte deshalb im Februar 1944 zwei norwegische SS-Führer für die „Umschulung norwegischer Internierter“ in Buchenwald und Stutthof an, zu denen auch die Studenten in Buchenwald gehörten.48 Für die privilegierte Gruppe in Sennheim, die dort bereits SS-Uniformen, allerdings noch ohne SS-Symbole trug, hatte indes schon im Januar unter Federführung der Germanischen Leitstelle des SS-Hauptamtes ein anspruchsvolles wissenschaftliches Vortragsprogramm begonnen.49 Die ersten Vorträge hielt der Prähistoriker und Wikinger-Spezialist Peter Paulsen über Themen der germanischen Geschichte; Paulsen hatte vorher schon an der Führerschule Tölz unterrichtet und übernahm 1944 als SS-Oberführer die Leitung der Führerschule für germanische SS-Offiziere „Haus Germanien“ in Hildesheim. Unter den Referenten war auch Hans 47

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Die Buchenwald-Vorträge von 13 Jenaer Hochschullehrern vor inhaftierten norwegischen Studenten 1944 sind noch nicht vollständig untersucht worden. Erste größere Hinweise gaben die Studie von Susanne Zimmermann: Berührungspunkte zwischen dem Konzentrationslager Buchenwald und der Medizinischen Fakultät der Universität Jena, in: Christoph Meinel/Peter Voswinckel (Hg.): Medizin, Naturwissenschaft, Technik und Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 1994, S. 54–61 und die Magisterarbeit von Steffen Doerk: Norweger in Lagern und Gefängnissen des nationalsozialistischen Deutschland, Mainz 1999 (MS). Sie sind in die Studie von Ronald Hirte/Harry Stein: Die Beziehungen der Universität Jena zum Konzentrationslager Buchenwald, in: Hoßfeld: „Wissenschaft“ (wie Anm. 35), S. 361–398, hier S. 382–385 eingeflossen. Doerk hat seine Magisterarbeit unterdes zu einem Dissertationsprojekt erweitert, worüber er auf dem Jenaer Workshop „Peter Petersen und die Jenaplanpädagogik. Historische Befunde und Aktualität“ am 4./5. November 2010 referierte und dazu dreiseitige Thesen vorlegte. Dabei ging es vor allem um die inhaftierten norwegischen Studenten und weniger um die Vorträge und die Vortragenden. Diese noch erhebliche Forschungslücke wird in Jena durch differenzierende Forschungen geschlossen werden. Vgl. auch Michael H. Kater: Das Ahnenerbe der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1973, S. 185f.; Albert Ottenbacher: Richard Wolfram, Typoskript München 1999, Salzburger Institut für Volkskunde (online-Bibliothek des DÖW/Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands). – Die verschiedenen Darstellungen enthalten zum Teil widersprüchliche Angaben. BA Berlin, NS 3/1605 (11.2.1944). Der zuständige Abteilungsleiter Sewera nannte die Zahl von insgesamt 617 internierten Norwegern in Buchenwald und Stutthof, darunter 335 Studenten. Die angeforderten norwegischen SS-Führer sollten als Leiter der „Sonderlager für germanische Internierte“ eingesetzt werden und die „politische Umschulung“ leiten. Für die Organisation dürfte der Agrarwissenschaftler und Landwirtschaftslehrer Rudolf Jacobsen zuständig gewesen sein. Jacobsen war Leiter der Abt. „Germanische Erziehung“ im SS-Hauptamt, Herausgeber der „Germanischen Leithefte“ und seit Anfang 1944 auch Leiter des Ausbildungslagers Sennheim.

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F.K. Günther, der inzwischen an der Freiburger Universität lehrte und einen Vortrag über „Erblichkeitsforschung, Erbgesundheitslehre und Rassenforschung“ beisteuerte. Andere Vorträge hatten einen konventionellen akademischen Charakter, wiesen aber zumeist einen Bezug zur Gegenwart und zum „Dritten Reich“ auf. So trugen die Altphilologen Hans Oppermann und Wolfgang Aly über „Die politische Rede als Führungsmittel in der Antike“ und „Homer und wir“ vor, andere Vorträge befassten sich mit den „Grundgedanken der nationalen Arbeit in Deutschland“, „Grundgedanken des deutschen Strafrechts“ und ähnlichen Themen. Der Anatom August Hirt, der im KZ Natzweiler medizinische Versuche an Häftlingen durchführte und an der Straßburger Universität eine jüdische Schädel- und Skelettsammlung aufbaute, hielt einen Vortrag mit dem nach harmloser Wissenschaftsarbeit klingenden Titel „Probleme der Fluoreszenzmikroskopie“. Insgesamt versuchte man, wissenschaftlich-akademische Sachlichkeit und „Normalität“ zu suggerieren. Dazu gehörte auch der Einbezug politisch „neutraler“ Dozenten. Diese erste, akademische Vortragsreihe lief bis Mitte April, danach folgten Vorträge mit deutlicher politischen Inhalten durch Experten des SS-Hauptamtes, etwa zu den Themen „Rußland und Europa“, „Wirtschaftsraum Europas“ und „Das Reich und sein europäischer Auftrag in der Geschichte“.50 Eine weitere Vorlesungsreihe unter verstärkter Mitwirkung des Ahnenerbes wurde im Sommer 1944 wegen Terminproblemen wieder abgebrochen.51 Da die meisten Studenten in Sennheim sich widerspenstig zeigten und einen freiwilligen Beitritt zur norwegischen Legion der „germanischen SS“ ablehnten, plante Gottlob Berger, der Chef des SS-Hauptamtes, bereits Anfang März, eine Teilgruppe zur „härteren Behandlung“ nach Buchenwald zu überstellen. Der Stabsführer der Germanischen Leitstelle Erich Spaarmann riet davon ab, weil dies die Chancen einer erfolgreichen Umerziehung erst recht in Frage stellen würde, denn in Buchenwald hätten die Studenten noch den Status von Häftlingen, nachdem sie in Sennheim bereits wie SS-Angehörige behandelt worden waren.52 Von einer Verlegung nahm man daraufhin Abstand. Stattdessen entschied man sich offenbar dafür, sich verstärkt der Studenten in Buchenwald anzunehmen und das Sennheimer Konzept der akademischen Vorträge auch hier anzuwenden. Am 8. März besuchte Karl Astel die Studenten, und wenige Tage später begann unter seiner Leitung eine Vorlesungsreihe durch Professoren der Jenaer Universität. Dass die Wahl auf Buchenwald als Unterbringungsort und Astel als verantwortlichen Organisator fiel, hängt möglicherweise damit zusammen, dass Astel schon 1941 gegenüber Himmler Interesse an 50

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Unter den Referenten des SS-Hauptamtes waren Hans Lüdemann und Heinz Oertzmann. Lüdemann hatte in Jena Germanistik und Geschichte studiert und daneben auch Vorlesungen bei Günther besucht; er absolvierte das Referendariat und promovierte 1933 mit einer Arbeit über die „Verfassungsgeschichte Karthagos“ in Jena. Lüdemann war während des Krieges als Abteilungsleiter in der Regierung des Generalgouvernements tätig und wurde 1944 Leiter der Abteilung „Europäische Erziehungsarbeit“ im Schulungsamt der SS. Oetzmann, ein promovierter Studienrat, war 1940/41 als Regiments-Schulungsleiter bei der Totenkopf-Kavallerie der SS tätig, bevor er 1944 als „Lehrer für Weltanschauliche Schulung“ an die Führerschule Tölz kam. Die Totenkopf-Kavallerie gehörte zu jenen Verbänden der Waffen-SS, die bereits vereinzelt 1940 in Polen und dann systematisch zu Beginn des Rußland-Feldzuges Massentötungen an der jüdischen Bevölkerung durchführte. Dokumente und Materialien in: BA Berlin, NS 21/43 und NS 21/34a. BA Berlin, NS 21/942 (7.3.1944); Hirte/Stein: Beziehungen (wie Anm. 47), S. 384.

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rassenbiologischer Aufklärungsarbeit in Norwegen bekundet und drei Experten der Jenaer Universität als Mitarbeiter der SS-Leithefte für Norwegen-Fragen benannt hatte.53 Belegt sind insgesamt 38 Vorlesungen vom 17. März bis zum 17. Juli 1944. Die erste Vorlesung hielt der Biologe Gerhard Heberer, Hauptsturmführer im Rasseund Siedlungshauptamt, über die Abstammungslehre; nach seiner Ankunft im Lager notierte er in sein Tagebuch: „Prächtige Kerle, diese Norweger – ob es gelingt, sie auf unsere Seite – auf die Seite Germaniens zu bekommen.“54 Unter den Referenten waren ausgewiesene Experten des „nordischen Gedankens“ wie Bernhard Kummer, der Volkstumswissenschaftler Max Hildebert Boehm, der Verfechter einer „Deutschen Psychologie“ Friedrich Sander und der Musikwissenschaftler Otto zur Nedden, der sich zuvor schon mit Vorträgen über „Rasse und Musik“ einen Namen gemacht hatte und einst von Rosenberg als Schriftleiter der Zeitschrift des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ ausersehen worden war; sein Vortrag über Verdis „Rigoletto“ beschloss den Vorlesungszyklus. Zu den Referenten gehörten aber auch der Strafrechtler Richard Lange, der über „Das norwegische und deutsche Strafrecht“ sprach und der den Freiburger Kreisen nahestehende Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Erich Preiser mit vier Vorlesungen über „Ausgewählte Fragen der Wirtschaftstheorie“.55 Petersen hielt mindestens drei Vorträge, war also keineswegs nur am Rande vertreten, zumal er eigentlich jede Woche für einen Vortrag vorgesehen war, also eine ganze Vorlesungsreihe halten sollte, dem aber wegen anderer Verpflichtungen nicht nachkommen konnte. Den ersten Vortrag hielt er bereits wenige Tage nach Heberers Auftritt am 21. März über Fragen der Allgemeinen Erziehungswissenschaft („Die Wissenschaft im Dienste des Lebens“), der zweite folgte am 11. April über „Jesuitenerziehung“. Unmittelbar danach musste er zu einer Reise nach Luxemburg aufbrechen, wo er vom 13. bis zum 20. April Vorlesungen an der Akademie für Mädelführung hielt. Wieder zurück in Jena hielt er am 25. April den dritten Vortrag in Buchenwald, diesmal über die Jenaplan-Pädagogik.56 Petersen dürfte hier Themen variiert haben, mit denen er schon an der Akademie für Jugendführung reüssiert hatte und die er auch mit Überzeugung vortragen konnte. Wenn ihm denn selbst Zweifel 53

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BA Berlin, SSO Karl Astel, 26.2.1898 (Schreiben vom 25.7. und 14.11.1941). Astel erwähnt in diesem Zusammenhang auch einen eigenen Vortrag über nationalsozialistische Erb- und Rassenpflege an der Universität Oslo: „Die zahlreichen Hörer konnten – entgegen den mir vorher mitgeteilten Prophezeiungen – sogar zu lebhaftestem Beifall gebracht werden.“ Hirte/Stein: Beziehungen (wie Anm. 47), S. 384. Ferner hörten die norwegischen Studenten vom Direktor des Instituts für physikalische Chemie, Kurt Bennewitz, drei Vorlesungen zur Physikalischen Chemie, vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Siegfried Gabriel fünf Vorlesungen über „Hauptprobleme der Wirtschaftspolitik“, vom Geographen Joachim Heinrich Schultze drei Vorlesungen über „Politische Geographie der Großraumbildung“, vom Philologen und Volkskundler Karl Wesle vier Vorlesungen über Heinrich v. Kleist sowie vom Philologen und Volkskundler Arthur Witte zwei Vorlesungen zur deutschen Philologie. Am Ende der Vorlesungsreihe referierte auch Rektor Karl Astel am 5.6.1944 zum Thema „Infektionskrankheiten“. Ein weiterer, für die darauffolgende Woche geplanter Vortrag Astels entfiel hingegen. Übersichten über die Vorträge und Referenten geben Hirte/Stein: Beziehungen, S. 384f. u. die Thesen v. Doerk (beide wie Anm. 47). Torsten Schwan: Ein politisch naiver, opportunistischer Theoretiker? Peter Petersen und der Nationalsozialismus: Stand und Probleme der Forschung, in: Hoßfeld: „Wissenschaft“ (wie Anm. 35), S. 822–849, hier S. 839f.

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gekommen wären, dann hätte er sich möglicherweise damit beruhigen können, dass er hier lediglich Schulungs- und „Fortbildungsarbeit“ in Richtung des von ihm propagierten „völkischen Realismus“ und „germanischen Individualismus“ im Dienste der gemeinsamen nordisch-germanischen Idee für die Germanische Leitstelle des SS-Hauptamtes leistete. Dass Petersen bereit war, diese Arbeit im äußeren Rahmen eines Konzentrationslagers durchzuführen, auch wenn dies getrennt vom Häftlingsbereich geschah, bleibt in hohem Maße verstörend. Vielleicht war die Existenz des Lagers, das damals ja bereits seit sieben Jahren bestand, aber auch längst ein Stück „Normalität“ in der Region geworden. Nur am Rande sei bemerkt, dass Konzentrationslager auch generell „pädagogische“ Stätten waren, in denen akademische Vorträge und kulturelle Veranstaltungen für die Angehörigen der SS, für die man die Studenten ja gewinnen wollte, nichts Ungewöhnliches darstellten. Das SS-Hauptamt schickte während des Krieges zahlreiche Wissenschaftler, Dichter und Künstler auf „Tournee“ durch die Lager, und in allen größeren Konzentrationslagern existierten Abteilungen für „weltanschauliche Schulung und Truppenbetreuung“, die diese Veranstaltungen organisierten und den Auftrag hatten, die SS-Angehörigen in Rassenkunde und deutscher Geschichte zu unterrichten. In den meisten Fällen wurden diese Abteilungen von pädagogisch qualifiziertem Personal geleitet. In Buchenwald etwa nahm diese Aufgabe seit 1941 der Studienrat Gerhard Lutosch wahr. Sein Vorgänger war 1940/41 der Hauptlehrer Hermann Schröder gewesen. Schröder, der 1933 mit einer vererbungswissenschaftlichen Dissertation in Göttingen promoviert hatte, war 1934 Leiter einer Versuchsschule geworden, nachdem er im gleichen Jahr erste Ergebnisse einer groß angelegten Untersuchung zur Landschulpädagogik veröffentlicht hatte, in der er Ansätze einer völkischen Reformpädagogik vertrat. Der Untersuchung lag ein Fragebogen zugrunde, den Schröder in Zusammenarbeit mit dem Institut seines akademischen Lehrers Herman Nohl, des Göttinger Reformpädagogen erstellte. Schröder wechselte im Mai 1941 von Buchenwald zur Kraftfahrtechnischen Lehranstalt der Waffen-SS nach Wien, übernahm dort zunächst die Leitung der Abteilung für weltanschauliche Schulung und avancierte schließlich zum Kommandeur der SS-Ingenieurschule. Ich erwähne dieses Beispiel hier auch, um zu illustrieren, dass man in der SS für reformpädagogische Ansätze aufgeschlossen war, wenn sie nur „völkisch“ oder, noch besser: „nordisch“ gewandet daher kamen. Petersens Einsatz in Buchenwald war insofern kein Einzelfall.57 Den Bemühungen um die norwegischen Studenten in Sennheim und Buchenwald war indes wenig Erfolg beschieden. Nach Beendigung der Vortragsreihen im Juli 1944 wurden die Studenten neu aufgeteilt. Eine kleine Gruppe von 36 Studenten wurde einem Bericht von Schwalm zufolge für ein Studium an der Universität Freiburg ausgewählt. „Die anderen sind nach Ausscheiden der im Sinne des gesteckten Erziehungszieles als völlig destruktiv zu bezeichnenden Elemente in einer Kompanie zusammengefasst.“ Schwalm gab seiner Enttäuschung Ausdruck: unter den Betroffenen seien viele „nicht-nordische“ und trotz guter Versorgung kranke Studenten gewesen, viele seien politisch desinteressiert, individualistisch und materialistisch 57

Zu Schröder siehe BA Berlin: SSO Dr. Hermann Schröder, 20.11.1895; Wilhelm Seedorf/Hermann Schröder: Dem Landvolk die Landschule!, Langensalza 1934.

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eingestellt, insgesamt hätten sie keine Elite gebildet.58 Die Buchenwalder Studenten wurden in zwei Transporten im Juli und Oktober 1944 nach Sennheim gebracht. Im November wurde eine kleine Gruppe von Kranken freigelassen, einige Studenten wurden zum Studium in Freiburg und Heidelberg ausgewählt. Es gelang nur wenige Studenten für die „germanische SS“ zu gewinnen, die meisten wurden in Arbeitskommandos eingesetzt.59 Damit war das Experiment gescheitert, der immense akademische Aufwand hatte sich als Fehlschlag erwiesen. Die Vorlesungen in Buchenwald bilden den Endpunkt in einem fatalen Prozess, in dem sich Petersen zunehmend in das Regime verstrickte. In den ersten Jahren des „Dritten Reiches“ lassen sich lediglich rhetorische Annäherungen an den Nationalsozialismus feststellen, wenn auch mit deutlich antisemitischen Akzenten schon 1933. Spätestens mit seiner Südafrika-Reise 1937 (dazu später) zeichnete sich jedoch ab, dass Petersen auch zu einer aktiven Partizipation bereit war, und ab 1941 nimmt diese Partizipation eine besondere Qualität an. In einem Brief an Döpp-Vorwald vom 1. April 1944, in dem Petersen auch den „Sonderauftrag“ in Buchenwald erwähnt, schrieb er über seine rege Vortragstätigkeit: „Es ist ein wahrhaft großes Geschenk, für das ich auch unendlich dankbar bin, daß ich in all diesen Kriegsjahren so viel gebraucht werde und gerufen werde.“60 Nichts spricht dafür, dass er den „Sonderauftrag“ nur widerstrebend angenommen hätte. Diese Entwicklung wird plausibel vor dem Hintergrund seines Scheiterns in der Volksschullehrerbildung an der Universität und der Suche nach neuen Wirkungsmöglichkeiten, die er neben einem verstärkten Engagement in der Vorschulpädagogik in Feldern der außerschulischen Bildung zu finden hoffte, in denen man sich aber zwangsläufig auf die zuständigen Formationen der Partei einlassen musste.61 Dazu gehörten 1943/44 Vorlesungsreihen an der Akademie der Reichsjugendführung in Braunschweig und der Mädelakademie in Luxemburg, aber eben auch Vorträge für die SS sowie schon ab 1941 die Beteiligung an einer Vorlesungsreihe für Führerinnen des Reichsarbeitsdienstes, die auf Astels Initiative hin zum Studium nach Jena kommandiert worden waren. Im Sommersemester 1941 führten Astel, von Leers, Heberer sowie Petersen und Sander Vorlesungen für die RAD-Führerinnen durch, sodass Petersen jetzt im „engeren Kreis“ angekommen war – als einziger aber immer noch ohne Mitgliedsausweis der NSDAP. Für diese Vorlesungsreihe brauchte man wohl auch einen Erziehungswissenschaftler. Es scheint, dass Astel nach einer Initiative des Petersen-Schülers Karl Knoop Ende 1939 auf ihn aufmerksam geworden war. Knoop, der 1940 bei Petersen promovierte (Koreferent Sander), beklagte sich bei Astel über die schwindenden Wirkungsmöglichkeiten Petersens in der Lehrerbildung, obwohl dieser Nationalsozialist sei, was allein die Tatsache beweise, dass fünf seiner Schüler bei der SS seien. Ob Knoop diesen Brief aus eigenem Antrieb oder auf Veranlassung Petersens schrieb, muss offen bleiben. Denkbar ist, dass Petersen selbst zu diesem Zeitpunkt initiativ wurde; vermutlich wollte er sich auch mit der intensivierten Mitarbeit und den beiden rassentheoreti58 59 60 61

BA Berlin, NS 21/43 (Bericht vom 27.7.1944). Henri Mounine: Cernay 40–45. Le SS-Ausbildungslager de Sennheim. Editions du Polygone, Ostwald 1999, S. 106f. Zit. b. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 27), S. 446. Robert Döpp: „. . . doch irgendwie mittendrin. . . “: „Jena-Plan“ im Nationalsozialismus, in: Hoßfeld: „Wissenschaft“ (wie Anm. 35); Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 27), S. 428ff.

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schen Beiträgen in Scheffers Zeitschrift „Heimat und Arbeit“, die ja zugleich als „Führerzeitschrift des Reichsarbeitsdienstes“ gedacht war, 1940/41 für „neue Aufgaben“ empfehlen. Während der Vorlesungsreihe soll es allerdings 1943 zu einem Eklat gekommen sein, als mehrere Frauen unter Protest die Vorlesung verließen und sich bei Astel beschwerten, weil Petersen sich offenbar kritisch zum Krieg geäußert hatte.62 Es fällt wiederum auch auf, dass Petersen, wie erwähnt, nicht an der von Theodor Scheffer im gleichen Jahr organisierten Ringvorlesung über die „Judenfrage“ an der Jenaer Universität beteiligt war. Wenn es denn Annäherungen an Astel gab, so dürften sie weniger inhaltlich als praktisch begründet gewesen sein, weil Petersen, nachdem er entscheidende Positionen in der Lehrerbildung verloren hatte, auf die Unterstützung Astels als Universitätsrektor (und Sachbearbeiter für Bildungsfragen in der thüringischen Behörde für Inneres) angewiesen war, um inneruniversitäre Eingriffe abwehren und Mittel und Stellen sichern zu können. Festzuhalten bleibt aber, dass Petersen sich mit seinen Auftritten in Braunschweig und Buchenwald 1943/44 der SS näherte und an deren weltanschaulicher Erziehungsarbeit beteiligte. PETERSEN ALS AKADEMISCHER LEHRER – DAS „SS-NETZWERK“ Vor diesem Hintergrund überrascht es dann nicht mehr, dass Petersen eine große Zahl von Schülern hatte, die sich in den Dienst der SS und der rassenpolitischen Schulung stellten. Hier lässt sich ein bemerkenswertes akademisches Netzwerk nachzeichnen. Sechs Doktoranden von Petersen waren SS-Mitglieder: - Christoph Carstensen: Er wurde 1938 Assistent bei Petersen und promovierte 1941 mit einer völkisch-nationalsozialistisch ausgerichteten Arbeit über die „Volkserziehungsbewegung Wilhelm Schwaners“, in der er bedauert, dass Schwaner „in der Judenfrage keine konsequente Haltung eingenommen“ habe. Carstensen gehörte bereits seit September 1933 der SS und später dem Mannschaftshaus der SS an der Universität Jena an. - Karl Knoop: Er promovierte 1939 mit einer unterrichtswissenschaftlichen Arbeit ohne politischen oder weltanschaulichen Bezug, gehörte aber bereits seit 1933 der SS an und war als Schulungsleiter für die SS tätig. - Herbert Ruppert: Er promovierte ebenfalls mit einer unterrichtswissenschaftlichen Arbeit und war seit 1933 Mitglied der NSDAP und der SS, in der er als Schulungsleiter mitarbeitete. - Hans Heumann: Er hatte an der HfL Kiel studiert, gehörte dort bereits der NSDAP, der SS und dem SD an und war 1938/39 offenbar nur zum Zweck der Promotion nach Jena gekommen, wo er im SS-Mannschaftshaus wohnte. Er promovierte 1939 mit der Arbeit „Typenformung durch Anstaltserziehung an der Landesschule Schulpforta 1820–1910“. Heumann war unter anderem HJGefolgschaftsführer, Funktionär des Nationalsozialistischen Studentenbunds 62

Ebd., S. 434f.

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und Referent bei der Volksdeutschen Mittelstelle; 1938 bis 1939 leitete er die „Volksdeutsche Beratungsstelle im Ausländerdienst“ für den Reichsparteitag in Nürnberg. 1943 wurde er zum Obersturmführer der Waffen-SS ernannt, 1944 war er als Mitarbeiter des Amtes für Weltanschauliche Erziehung im SS-Hauptamt „WE-Führer“ bei der Waffen-SS. Nach dem Krieg war er als Realschullehrer und -direktor in Bad Godesberg tätig und machte sich einen Namen als Autor zahlreicher Texte für den Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht, die noch bis in die späten 1980er Jahre neu aufgelegt wurden. - Werner Pohl promovierte 1932 mit einer Dissertation über „Bündische Erziehung“, zu der Petersen ein Nachwort schrieb. Er hatte vorher einige Wochen an der Hermann-Lietz-Schule in Haubinda gearbeitet und wurde nach dem Referendariat Napola-Zugführer. Pohl trat 1933 der NSDAP und der SS bei, hatte aber schon 1931 als „alter Ludendorff-Anhänger“ dem Tannenbergbund angehört. Seit 1934 war er als Schulungsleiter für die SS tätig, 1937 wurde er zum Schulungsleiter beim Inspekteur der Ordnungspolizei in Kassel ernannt, 1938 folgte die Beförderung zum Hauptsturmführer und die Ernennung zum hauptamtlichen Polizeischulungsleiter, eine Position, die er bis zum Kriegsende innehatte, unter gleichzeitiger Ernennung zum Sturmbannführer der Waffen-SS und Major der Schutzpolizei. Als Polizeischulungsleiter beim Höheren SS- und Polizeiführer des Oberabschnitts Fulda-Werra war er für die Organisation und Überwachung der gesamten weltanschaulichen Schulung der Polizei in diesem Raum zuständig. - Rudi Herr, der ebenfalls bereits 1933 der SS beigetreten war, promovierte 1943 mit der Dissertation „Erziehung und gegenerzieherische Kräfte in der Strafvollzugsanstalt: Ein Beitrag zu den Fragen des Sondervollzugs an Gestrauchelten“ – dies war eine Arbeit, die explizit sozialeugenische Argumente aufnahm, indem sie die Sterilisation und Asylierung rückfälliger Krimineller forderte; Forderungen, die freilich nichts Neues waren, sondern schon seit der Jahrhundertwende den sozialeugenischen Diskurs begleiteten, sich bereits bei Nietzsche und in der Weimarer Republik auch bei sozialdemokratischen Ärzten fanden. Zu erwähnen wäre noch, dass Carstensen und Knoop auch erbbiologische Vorlesungen bei Astel und Stengel- von Rutkowski besucht hatten und Ruppert – wie übrigens auch Petersens Mitarbeiter Gerhard Steiner – nebenher als „Rassewart“ für Astels Landesamt für Rassewesen arbeitete. Auch Heumann hatte zuvor in Kiel und Berlin Erziehungswissenschaft und Vererbungslehre studiert, sodass – mit Ausnahme Pohls, dessen Studium und Promotion noch in die Zeit vor 1933 fällt – alle auch die „rassenkundliche Bildung“ aufwiesen, die für eine Mitarbeit in der SS qualifizierte. Weder dies noch die politischen Aktivitäten seiner Doktoranden kann man allerdings Petersen, der in der Zeit des „Dritten Reiches“ 67 Dissertationen betreute,63 persönlich zurechnen. Gleichwohl sind auch sechs SS-Mitglieder eine vergleichsweise hohe Zahl, und man muss festhalten, dass weitere Doktoranden Petersens in der NSDAP 63

Siehe die Zusammenstellung bei Retter: Petersen (wie Anm. 27), S. 388ff.

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und SA organisiert waren. Zieht man von den bei Retter aufgelisteten 67 Doktoranden diejenigen ab, die aus dem Ausland kamen sowie die, bei denen Petersen nur als Zweitgutachter fungierte, und berücksichtigt man nur die Männer, dann bleiben 30 Doktoranden, von denen mindestens 14 bis 15, also etwa die Hälfte in der NSDAP, SA oder SS engagiert waren. Dies weist doch darauf hin, dass Petersens Erziehungswissenschaftliche Anstalt für den aktivistisch-nationalsozialistisch orientierten wissenschaftlichen Nachwuchs besonders attraktiv gewesen sein muss. Ein spezifisch rassentheoretischer oder -politischer Bezug lässt sich bei den Dissertationen selbst jedoch nicht feststellen.64 Von Petersen gingen offensichtlich keine substantiellen Anstöße aus, an der Ausarbeitung und Entwicklung eines „rassenpädagogischen“ oder rassentheoretisch orientierten erziehungswissenschaftlichen Paradigmas mitzuwirken. Bemerkenswert ist, dass Carstensen, der in seiner Dissertation Petersen für die Anregung zur Arbeit sowie die stete Fürsorge und Betreuung dankt, in seinem 1942 für das RuSHA verfassten Lebenslauf nur Astel und Stengel- von Rutkowski als seine akademischen Lehrer nannte und sich als Doktorand von Astel bezeichnete, Petersen als Doktorvater jedoch verschwieg. Dies kann man als Indiz dafür werten, dass er den Bezug zu Petersen nicht als karrierefördernd in der SS ansah – vielleicht muss man hinzufügen: zu diesem Zeitpunkt, denn ein Jahr später wäre das möglicherweise schon anders gewesen. Einige Petersen-Schüler verfassten zwar spezifisch „rassenpädagogische“ Beiträge. Hier wären insbesondere Robert Reigbert und Arno Förtsch zu nennen. Reigbert, der 1928 bei Petersen mit der Dissertation „Die methodische Erfassung der werdenden Persönlichkeit unter besonderen Berücksichtigung der Physiognomik und der Graphologie“ promoviert hatte, veröffentlichte 1937 eine rassengeschichtlich-didaktische Darstellung, die sich im Wesentlichen auf Reche und Günther stützte. Förtsch, ein enger Mitarbeiter Petersens in der Jenaplan-Pädagogik, hatte 1934 ebenfalls einen didaktischen Beitrag zur Behandlung der Rassenkunde im Geschichtsunterricht geschrieben. Die familienkundlichen Beiträge von Steiner blieben demgegenüber unspezifisch. Bezogen auf die Gesamtheit der Veröffentlichungen aus dem Petersen-Kreis ist dies doch ein eher mageres Ergebnis.65 Dieses insgesamt relativierende Urteil über die wissenschaftliche Bedeutung des „Petersen-Netzwerkes“, das ich später in einem Vergleich mit anderen akademischen Netzwerken noch erhärten werde, gilt allerdings auch nur mit Einschränkungen. Zum einen wäre noch zu untersuchen, an welchen Promotionen Petersen als Zweitgutachter mitgewirkt hat und in welchen Dissertationen er als akademischer Lehrer hervorgehoben wird. So wird er, um nur ein Beispiel zu nennen, in der bei Max Hildebert Boehm geschriebenen Dissertation von Christian Vasterling über „Umvolkungsgefahren im Jugendalter“ ausdrücklich als Lehrer genannt. Um Petersens Rolle als akademischer Lehrer beurteilen zu können, müsste man zum anderen seine Vortrags- und Vorlesungstexte aus der Zeit des „Dritten Reiches“ näher kennen, die nur teilweise in seine Publikationen eingeflossen sind. Aus den Themen seiner Lehrveranstaltungen allein 64 65

Auch die Dissertation von Devi über Schulhygiene geht nur ganz beiläufig auf einer Seite auf die Rassenhygiene ein, ist aber insgesamt ein wissenschaftlich auch an damaligen Maßstäben gemessen mehr als dürftiges Werk. Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 177.

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lässt sich schließen, dass Petersen um einen Gegenwartsbezug bemüht war: „Geschichte der deutschen ‚Neuen Erziehung‘ von Lagarde bis zur Gegenwart“ (1936), „Systeme völkisch-politischer Erziehung von 1800 bis zur Gegenwart“ (Wintersemester 1938/39).66 In seinem 1937 erschienen Buch „Pädagogik der Gegenwart“, in das die erste Vorlesung eingegangen ist,67 bleibt dieser Bezug freilich sehr allgemein; er bekennt sich hier auch noch einmal zur Idee des „germanischen Individualismus“, die er offenbar bei Darré gut aufgehoben sah, die für ihn aber generell der „gesamten neueren norddeutschen Philosophie“ zugrunde lag, zu der er unter anderem auch Jaspers und Klages zählte.68 In diesem Kontext stand wohl auch seine Vorlesung „Norddeutsche Erzieher von Arndt bis Lietz“ (1937). Auf jeden Fall konnten seine Studenten den Eindruck einer historischen Legitimation nationalsozialistischer Führer- und Gemeinschaftserziehung durch Petersen gewinnen, und man kann davon ausgehen, dass seine Betonung der „nordischen Idee“ gerade bei Lehramtsstudenten ihre Wirkung nicht verfehlte, die sich von der SS als „nordischem Orden“ angezogen fühlten. So habe ich in meinen Untersuchungen zum Schulungswesen der SS mindestens acht Volksschullehrer gefunden, die in Jena das Staatsexamen machten und sich danach als Schulungsleiter in den Dienst der SS stellten. Ob sie alle auch als Schüler Petersens anzusehen sind, wäre noch genauer zu untersuchen – sicher aber werden sie Lehrveranstaltungen bei ihm besucht haben.69 Auffallend ist auch hier, dass fast alle in ihren für das RuSHA verfassten Lebensläufen angaben, auch Lehrveranstaltungen in Rassenkunde und Vererbungslehre besucht zu haben. Allerdings war dies vermutlich keine biographische Besonderheit, sondern wahrscheinlich war der Besuch solcher Lehrveranstaltungen in der Prüfungsordnung vorgeschrieben, so wie es an den Hochschulen für Lehrerbildung der Fall war. Die Hervorhebung dieser Lehrveranstaltungen in den Lebensläufen dürfte eher als Ausweis einer besonderen Kompetenz für die Schulungsarbeit in der SS zu lesen sein. Jena war ein Ausnahmefall, weil es hier nicht zur Errichtung einer Hochschule für Lehrerbildung kam. Vermutlich hat Astel diesen Teil der Lehrerbildung mit seinen fächerübergreifenden Lehrveranstaltungen mit abgedeckt. Er war ja zugleich durch das Landesamt für Rassewesen bereits an der rassen- und erbkundlichen Fortbildung der Thüringer Lehrerschaft beteiligt, an der bis Ende 1935 fast 9.000 Lehrer teilgenommen hatten. In diesem Rahmen dürften auch Ruppert und Steiner als „Rassewarte“ an der Arbeit des Amtes mitgewirkt haben. Die meisten dieser Lehrer, die in Jena studierten und im Schulungswesen der SS mitarbeiteten, stiegen übrigens während des Krieges ins Führerkorps der SS auf. Einige seien hier besonders hervorgehoben: Reinhard Eikermann, der in Hamburg und Jena Erziehungswissenschaft, Philosophie, Psychologie, Rassenkunde und Erblehre studiert hatte und bereits seit 1931 der HJ, seit 1932 der NSDAP und der SS 66 67 68 69

Hinzu kamen wiederkehrende Seminarveranstaltungen mit den Titeln „Pädagogik der Gegenwart“ und „Lektüre eines neueren pädagogischen Werks“. Döpp: „Jena-Plan“ (wie Anm. 61), S. 280f. Peter Petersen: Pädagogik der Gegenwart, 1937, S. 44ff. und 177f. Es handelt sich im einzelnen um Ernst Adam (* 1909), Otto Bloß (* 1912), Reinhard Eikermann (* 1911), Hermann Froebel (* 1909), Rudi Hössrich (* 1909), Rudolf Hotzel (* 1909), Fritz Rascher (* 1914) und Kurt Walther (* 1912). Sie legten das Examen zu einer Zeit ab, als Petersen noch für die Volksschullehrerbildung mit zuständig war.

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angehörte, wurde 1944 mit der Wahrnehmung der Geschäfte des „Führers im Rasseund Siedlungswesen“ beim Höheren SS- und Polizeiführer des Oberabschnitts Nord beauftragt und war dort damit unter anderem für die rassische Musterung und Schulung aller Rekruten der Waffen-SS verantwortlich. Hermann Froebel, der sich 1931 mit dem Ziel der Promotion in Erziehungswissenschaften an der Universität Jena immatrikuliert hatte und insofern noch zu den Petersen-Doktoranden gerechnet werden kann, das Vorhaben wegen Einberufung zum Volksschuldienst aber wieder aufgab, gehörte ebenfalls schon 1929 der NSDAP und ab 1931 der SS an; er war Schulungsreferent bei den Rassereferenten Mitte und Elbe, wurde 1937 zum Oberschulungsleiter ernannt und arbeitete 1941 als Hauptsturmführer und Lehrer für weltanschaulichen Unterricht an der Führerschule der Allgemeinen SS in Dachau.70 Eine einflussreiche Position erreichte auch Rudolf Hotzel, der 1933 die Lehramtsprüfung abgelegt hatte. Auch er gehörte bereits seit 1931 der NSDAP und seit 1932 der SS an; 1932/33 war er Dritter Vorsitzender der Jenaer Studentenschaft und leitete das Amt für politische Bildung sowie das Grenz- und Auslandsamt des Nationalsozialistischen Studentenbundes in Jena. Er machte später beim Sicherheitsdienst der SS Karriere, baute nach der Besetzung Polens den SD in Hohensalza auf und wurde 1940 Leiter des Referats „Nachwuchs“ in der Amtsgruppe IB des Reichssicherheitshauptamtes, die für Erziehung und Ausbildung zuständig war. In dieser Eigenschaft war er unter anderem für die organisatorische Vorbereitung der Untersturmführerprüfungen im Reichssicherheitshauptamt zuständig. 1942 wurde er Leiter der Führerschule der Sicherheitspolizei in Berlin-Charlottenburg, bevor er als Führer eines Sonderkommandos zur Einsatzgruppe B abgeordnet wurde. Man kann nur darüber spekulieren, ob Petersen von solchen Karrieren ehemaliger Doktoranden und Lehramtsstudenten wusste. Wenn ja, was mag er darüber gedacht haben? Um das Bild zu komplettieren: nicht nur Volksschullehrer sondern auch Gymnasiallehrer, die in Jena studiert und das Staatsexamen abgelegt hatten, stellten sich als Schulungsleiter oder Mitarbeiter des Schulungsamtes der SS zur Verfügung. Von ihnen werden sicher auch einige Vorlesungen bei Petersen im Rahmen des Philosophikums besucht haben. Rechnet man noch einige Landwirtschaftslehrer hinzu, die ebenfalls aus der Universität Jena hervorgingen,71 so erhält man ein beeindruckendes Tableau von etwa 35 Personen, die an der Universität Jena das Examen für ein Lehramt ablegten und im Schulungswesen der SS tätig waren (siehe Anhang). Hinzu kommen mindestens 20 weitere Absolventen der Jenaer Universität, die als Schulungsleiter oder Mitarbeiter des Schulungsamtes der SS arbeiteten, aber andere Studienund Berufswege einschlugen. Jena nahm in dieser Hinsicht eine Spitzenposition im 70

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Froebel veröffentlichte 1937 eine Aufsatzsammlung zur „politischen Erziehung der Jugend“ unter dem Titel „Wir kämpfen für Deutschland und Hitler“. Er war vermutlich mit Friedrich Froebel verwandt, denn 1983 war er Mitherausgeber einer Sammlung von Friedrich Froebels Mutter- und Koseliedern in Naumburg/Saale. 1928 war an der Universität Jena ein Pädagogisches Seminar für Landwirtschaftlehrer unter der Leitung von Wolfgang Wilmanns eingerichtet worden, der dem Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre vorstand; 1935 übernahm Asmus Petersen das Institut und damit auch die Zuständigkeit für die Ausbildung der Landwirtschaftslehrer: Günter Rubach/Arno Hennig: Geschichte des Studiums der Landwirtschaft an der Universität Jena, in: 5. Geschichtsheft der Thüringischen Landesanstalt für Landwirtschaft (1998), S. 60f.

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Deutschen Reich ein, keine andere Universität brachte so viele Schulungsexperten der SS hervor. Diese Besonderheit dürfte sich aus der großen Zahl von SS- oder SS-nahen Wissenschaftlern erklären, die in Jena als Professoren lehrten und den Ort für Studenten mit einer Affinität für das Gedankengut der SS attraktiv machten und eine entsprechende Wirkung entfalteten. Viele dieser Schulungsexperten hatten insbesondere Vorlesungen bei Günther während dessen Lehrtätigkeit in Jena 1930 bis 1935 und ab 1934 bei Astel besucht. Astel bot fakultätsübergreifende Lehrveranstaltungen zur Rassenkunde, Rassenbiologie, Vererbungslehre und zu „rassenpolitischen Tagesfragen“ an – wenn, wovon auszugehen ist, der Besuch rassenbiologischer Vorlesungen für Lehramtsstudenten obligatorisch war, dann konnte er hier eine nachhaltige Wirkung entfalten. Fächerübergreifende Vorlesungen bot auch der Historiker Günther Franz an – im Wintersemester 1937/38 beispielsweise über „Geschichte der Juden in Deutschland“.72 Franz, 1941 zum SS-Untersturmführer ernannt, war ausgewiesener Experte für Bauerngeschichte, Schulungsmann und Mitarbeiter des Rasseamtes im RuSHA, außerdem SD-Mann und Mitarbeiter des Ahnenerbe e.V. Unter den Historikern und späteren Geschichtslehrern, die beim SD, Ahnenerbe, Rasse- oder Schulungsamt der SS mitarbeiteten, hatten eine ganze Reihe bei ihm studiert und promoviert. An SS-Prominenz zu erwähnen wäre außer dem Biologen Günther Heberer und Astels Mitarbeiter Stengel- von Rutkowski noch der Dozent Johannes von Leers – auch er war Mitarbeiter des Schulungsamtes der SS. Von Leers verfasste etwa 37 Artikel, darunter besonders markante antisemitische Beiträge, für die „Leithefte“, die die Grundlage der weltanschaulichen Schulungsarbeit in der SS bildeten. Zusammen mit Asmus Petersen gehörte von Leers auch dem Prüfungsausschuss für Diplomlandwirte an. Seine Dozentur für „Rechts-, Wirtschafts- und politische Geschichte auf rassischer Grundlage“ wurde 1940 in einen Lehrstuhl umgewandelt. Im gleichen Jahr stieß Falk Ruttke, der mit Ernst Rüdin und Artur Gütt zusammen das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ formuliert hatte, als Dozent hinzu, er wurde 1941 zum Professor und Institutsdirektor für „Rasse und Recht“ ernannt. Ruttke hatte zahlreiche Ämter inne, war Oberregierungsrat im Reichsinnenministerium und gehörte der SS als Sturmbannführer an. Der Besuch rassenhygienischer und -biologischer Lehrveranstaltungen gehörte zum Pflichtprogramm künftiger Erbgesundheitsrichter, deshalb waren sie auch an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten verankert, und daher wurden Astels Lehrveranstaltungen auch bei den Juristen angekündigt. 1941 war an der Universität Jena, die Astel bekanntlich zu einer SS-Hochburg ausbauen wollte, somit ein starker Schwerpunkt im Themenfeld „Rasse und Recht“ entstanden, der nicht zuletzt auch die Vorreiterrolle Thüringens bei der Umsetzung des Erbgesundheitsgesetzes zum Ausdruck brachte. Peter Petersen gehörte sicher nicht zu diesem Kreis prominenter SS-Professoren. Ebenso gewiss ist aber, dass er mit einer großen Zahl von Studenten zu tun gehabt hat, die der SS angehörten oder ihr nahe standen.

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Die gleiche Vorlesung hatte er im Sommersemester 1936 noch in Heidelberg gehalten; danach bekam er eine Lehrstuhlvertretung in Jena, bevor er 1937 dort zum Ordentlichen Professor ernannt wurde.

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Abbildung 1: Das Netzwerk Jaensch–Kroh–Pfahler

DAS „NETZWERK PETERSEN“ IM VERGLEICH Im Kontext der rassenwissenschaftlich und -politisch relevanten Forschung war das Petersen-Netzwerk, bezogen auf seine Doktoranden, freilich unbedeutend. Weder in der Ausarbeitung eines grundlagenwissenschaftlichen Paradigmas noch in der anwendungsorientierten Forschung gingen von Petersen nennenswerte Impulse aus. Dies wird deutlich, wenn wir zum Vergleich andere akademische Netzwerke heranziehen. Für die Herausbildung eines am Rasse-Konzept orientierten erziehungswissenschaftlichen Paradigmas war das Netzwerk Jaensch-Kroh-Pfahler besonders wirksam und einflussreich. Die Dissertationen, die hier entstanden, unterschieden sich von denen des Petersen-Kreises grundlegend. Sie waren methodisch und theoretisch anspruchsvoller, und vor allem trugen sie zur theoretischen und empiriegestützten Grundlagenforschung einer rassen- und erbbiologisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft und speziell Pädagogischen Psychologie bei. Sie waren überwiegend auf die Ausarbeitung eines Paradigmas gerichtet und damit forschungsstrategisch bedeutsam, wie ein Blick auf die Themen der Dissertationen veranschaulicht: „Intelligenzprüfung unter völkischen und typologischen Gesichtspunkten“ (Becker); „Psychologisch-anthropologische Untersuchungen über das Wesen der nordi-

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schen Rasse“ (Huck); „Untersuchungen zur Rassenpsychologie nach typologischer Methode“ (Rau); „Erbpsychologische Gruppenuntersuchungen nach integrationstypologischer Methode“ (Lenz); „Die psychologische Anthropologie, ihre Stellung und Aufgabe in der Rassenkunde“ (Carspecken); „Psychophysische Auswirkungen der Inzucht. Vergleichende Untersuchungen in zwei hessischen Dörfern“ (Förster); „Erbcharakterologische Zwillingsuntersuchungen“ (Eckle); „Gestaltpsychologie und Erbcharakterkunde“ (Ostermeyer); „Integrationstypologie und Erbcharakterkunde. Experimentelle Untersuchung ihrer Beziehung“ (Lotz); „Erbcharakterologische Untersuchung einer Familie mit verhaltens- und experimentalpsychologischen Methoden“ (Weimer); „Die charakterologische Typologie im Hinblick auf die Ergebnisse der Rassenseelenkunde am Beispiel der Pfahlerschen Erbcharakterkunde dargestellt und untersucht“ (Quiehl). Daneben entstanden vor allem bei Kroh eine Reihe bildungsphilosophischer Dissertationen von Schülern, die in der SS engagiert waren. Die bei Petersen entstandenen oben erwähnten Arbeiten waren demgegenüber vorwiegend schulpraktisch ausgerichtet, und daher spielte auch das rassentheoretisch-erbpsychologische Paradigma hier so gut wie keine Rolle. Dieser Unterschied zeigt sich auch, wenn man die Beziehungen zur SS untersucht. Petersens Doktoranden nahmen, bis auf Werner Pohl, hauptsächlich Aufgaben in der praktischen Schulungsarbeit der SS wahr; Schüler von Jaensch und Kroh dagegen übten darüber hinausgehende organisatorische und leitende Funktionen im Schulungsamt des SS-Hauptamtes aus, waren an zentraler Stelle für die Schulungstexte, also für die Inhalte zuständig und beteiligten sich auch an Forschungsarbeiten der SS. Damit trugen sie ganz wesentlich sowohl zur praktischen Gestaltung als auch zur legitimatorischen Fundierung der SS-Schulungsarbeit und Rassenpolitik bei. So waren die Kroh-Schüler Karl Dambach und Ludwig Eckstein maßgeblich für die Arbeit des Amtes für weltanschauliche Erziehung der SS während des Krieges zuständig: Dambach als „Persönlicher Referent für weltanschauliche Fragen“ des SS-Hauptamtschefs Gottlob Berger, Eckstein als Wissenschaftlicher Referent und Adjudant des Schulungsamtschefs Webendörfer. Beide, Dambach und Eckstein, waren etwa zur gleichen Zeit in Esslingen als Seminarlehrer tätig gewesen, als Berger dort Stadtschulrat war und dürften sich von daher gekannt haben. Im gleichen Amt arbeiteten die Kroh-Schüler Ziegler, Wezel und Oesterle hauptamtlich mit. Ziegler, im Zivilberuf als Professor in der Lehrerbildung in Darmstadt tätig, leitete die Abteilung „Rassenpsychologie und Volksforschung“, Wezel die Abteilung „Schrifttum und Presse“. Oesterle war ebenfalls Mitarbeiter des Amtes, bevor er die Leitung der Abteilung für weltanschauliche Schulung der Gebirgsdivision der Waffen-SS „Prinz Eugen“ übernahm. Sie alle gehörten als Sturmbann- oder Standartenführer dem Führerkorps der Waffen-SS an. Zwar hatten sie eher „konventionelle“ Dissertationen aus dem Bereich der philosophischen Pädagogik geschrieben, doch gerade dies qualifizierte sie dazu, die weltanschauliche und historische Erziehungsarbeit der SS mit einer bildungsphilosophischen Legitimation zu versehen – während des Krieges stand die Begründung der militärischen und rassenpolitischen Praxis der SS aus der deutschen Geschichte im Mittelpunkt der Schulungsarbeit. So hatte sich Friedrich Berger, Professor an der Hochschule für Lehrerbildung in Braunschweig, Schulungsleiter und Obersturmführer im RuSHA, mit einer Arbeit über Herders Anthropologie bei Kroh

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habilitiert, und Bergers Schüler Amberger, der später Lehrer für weltanschaulichen Unterricht an der SS-Führerschule Braunschweig wurde, promovierte bei Berger über „Friedrich den Großen als Erzieher“. Beide, Berger und Amberger, waren 1938 in der von der SS organisierten Polizeischulung im Raum Braunschweig tätig. Hans-Willi Ziegler hatte bei Kroh eine Dissertation über Friedrich Schlegel verfasst, Wezel hatte sich mit dem Thema „Sprache und Geist“, Oesterle mit der „Anthropologie des Paracelsus“ befasst. Einzig Dambachs Dissertation über die „Mehrfacharbeit“ hatte eine schulpraktische Ausrichtung. Jene Schüler von Jaensch, Kroh und Pfahler, die unmittelbar zum rassenpsychologisch-erbbiologischen Paradigma arbeiteten, waren dagegen zwar mehrheitlich nicht in der SS, gehörten aber zumeist der NSDAP und der SA an und arbeiteten vielfach mit der SS zusammen. Erich Jaensch, Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Marburg und von 1936 bis zu seinem Tod 1940 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, war selbst seit 1932 „Förderndes Mitglied“ der SS. Seine Typenlehre beruhte auf der Dichotomie, oder besser Polarität von „Integrations- und Auflösungstyp“, und im „Integrationstyp“ ließ sich unschwer die nordische, im „Auflösungstyp“ die „jüdische Psyche“ wieder finden: Jaenschs Typologie: J-Typus (Integrationstypus): J1: das „verspielte Kind“ („mediterraner Typ“); J2: der „opferbereite und begeisterungsfähige Jüngling“ (die Gesellschaft brauche ihn als Träger von Idealen); J3: die in der Gesellschaft verwurzelte „nordische Führernatur“. S-Typus (Auflösungstypus): S1: labil ohne rationalen Oberbau; S2: Kompensation der Labilität durch einen rationalen Oberbau („Rassenmischtypen, Degenerierte und nicht heilbare Kranke“). Entlang der daraus sich ergebenden Skala von „festen“ zu „fließenden Gehalten“ platzierte Pfahler dann die Güntherschen Rassentypen. Diese polarisierende Typologie eignete sich für Skalierungen, die man mit rassenpsychologischen und -diagnostischen Konzepten verbinden konnte.73 Dieses Paradigma wurde besonders dezidiert von Gert-Heinz Fischer vertreten, der nach Jaenschs Tod 1940 dessen Nachfolge antrat und seine Doktoranden weiter betreute. Er bemühte sich um Aufnahme in die SS, die Bearbeitung seines Antrags wurde aber auf Weisung von Himmler persönlich für die Zeit nach dem Krieg zurückgestellt, weil Himmler Ärger mit Rosenberg vermeiden wollte, der zur gleichen Zeit versuchte, Fischer für seine „Hohe Schule“ 73

Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 89f. – In Konkurrenz, teils auch komplementär zur Jaenschen Integrationspsychologie stand die Leipziger Schule der Gestaltpsychologie Felix Krügers. Analog zu Jaenschs „Gegentypus“ führte sie den Begriff des „Gestaltfremden“ ein und schuf eine ähnliche Dichotomie von „gestaltet versus gestaltfremd“. Friedrich Sander etwa, Petersens Kollege in Jena, mit dem er auch mehrere Dissertationen zusammen betreut hat, sprach von einem „Gestaltgesetz der Abstoßung des Gestaltfremden“ und leitete daraus die Forderung nach „Ausschaltung aller fremdrassischen zersetzenden Einflüsse“ ab, mit denen er vor allem die Einflüsse „jüdischer Zersetzung“ meinte: Ulfried Geuter: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1984, S. 278ff.

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zu gewinnen.74 Fischer vertrat das ehrgeizige Forschungsprogramm, Kretschmers Konstitutionslehre und Jaenschs Integrationspsychologie mit der Rassentypologie zu verknüpfen; das Ziel sei „eine stufenweise[n] Ergänzung der Typenerfassung von der Rassengrundlage über die Konstitution zum seelischen Gefüge“. Er versprach sich davon Grundlagen für eine bessere Prognostik der „anlagebedingten Gesamtwertigkeit im Sinne der praktischen Anwendung der Rassenseelenkunde für die Aufgaben der Auslese“. Ein überaus gewichtiges Vorhaben, denn: „Verschiedene im Gang befindliche Untersuchungen meines Instituts an verschieden-völkischen Ausgangsfällen werden Beiträge hierzu liefern, die zugleich zeigen könnten, in welcher Weise und in welchem Umfang die rassenkundliche Forschung auch unmittelbar den Aufgaben einer Neuordnung Europas dienen kann.“75 Über Fischers diesbezügliche Forschungstätigkeit ist noch wenig bekannt. Es gibt in den Akten des Rasse- und Siedlungshauptamtes den Hinweis, dass Fischer, nachdem er „bereits umfangreiche Erforschungen französischen Menschentums im Gefangenlager Ziegenhain in die Wege geleitet“ hatte, seinen Assistenten Dr. Fahr damit beauftragte, „Voraussetzungen und Möglichkeiten eines planmäßigen Einsatzes psychologischanthropologischer Untersuchungen in Dänemark“ zu erkunden, um „die Eigenart der Dänen zu erforschen“. Danach sollte sich Fahr, der über entsprechende „rassenund konstitutionsdiagnostische Erfahrungen“ verfügte, zum 1. August 1941 für ein halbes Jahr zusammen mit seiner Frau zu vorbereitenden Arbeiten nach Kopenhagen begeben. Hier sollte ihm die Germanische Leitstelle des SS-Hauptamtes in Kopenhagen einen psychologisch geschulten Eignungsprüfer des RuSHA zur Seite stellen und ihn mit „germanischen Freiwilligen“, also dänischen Rekruten der Waffen-SS, für die Zwecke seiner Untersuchung versorgen. Nach der Vorbereitungszeit wollte Fischer die Ergebnisse „in eine Form bringen, die bereits auswertbare Hinweise für Haltung und Auftreten der in Dänemark tätigen deutschen Stellen enthielte und auch für entsprechende Schulung brauchbar wäre.“ Am Ende könnte dann die Gründung eines wissenschaftlichen Instituts für psychologische Anthropologie in Kopenhagen stehen. Der zuständige Sachbearbeiter beim Rassenamt, Rudolf Tack, leitete das Projekt mit dem Vermerk weiter: „Das geplante Unternehmen ist sehr zu begrüßen. Die Ergebnisse können auch für unsere Arbeit wichtig sein.“76 Fischers Institut war zudem 1942 „in Zusammenarbeit mit der SS in Belgien und dem Institut für Deutsche Ostforschung“ mit „wichtigen Untersuchungen des dort vorhandenen Volkstums“ befasst. Für die „Betreuung und Beaufsichtigung“ der beteiligten Mitarbeiter in Belgien war sein Assistent Ferdinand Carspecken zuständig, der 1940 seine Dissertation bei

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BA Berlin, DS-G 117 G.H. Fischer, n.p.; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 165. Gert Heinz Fischer: Wege, Ziele und Einsatz der rassenkundlichen Forschung, in: Rasse 9, Hf. 6 (1942), S. 208. – Der Aufsatz ging aus einem Vortrag hervor, den Fischer zuvor im Hörsaal der Berliner Universität im Rahmen einer von der Nordischen Gesellschaft veranstalteten Vortragsreihe „Der Nordische Gedanke und die Neuordnung Europas“ gehalten hatte. BA Berlin, NS 2/46, Bl. 96. Nationalarchiv Prag, URP dod. 2–57, n.p.; Rudolf Tack war Mittelschulrektor in Mecklenburg und hatte mit einer siedlungsgeographischen Arbeit über Bornholm bei Hermann Wirth, dem Mitbegründer des Himmlerschen Ahnenerbe e.V., promoviert.

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Fischer abgeschlossen hatte.77 Ebenfalls von „rassenwissenschaftlicher Relevanz“ war die Dissertation über „psychophysische Folgen der Inzucht“ von Herbert Förster, einem Jaensch-Schüler, dessen Dissertation nach Jaenschs Tod von Fischer weiter betreut und 1941 zum Abschluss gebracht wurde. Förster war zuvor SS-Schulungsleiter in Kiel und danach Lehrer für nationalsozialistische Weltanschauung sowie Leiter der Schule für die Kinder des Personals der Führerschule der Waffen-SS in Tölz gewesen. Zu erwähnen ist schließlich auch noch Kurt Rau, der 1935 mit der Arbeit „Untersuchungen zur Rassenpsychologie nach typologischer Methode“ bei Jaensch promovierte und anschließend als Heerespsychologe bei der Wehrmacht tätig wurde. Nach Auflösung der Wehrmachtspsychologie wechselte Rau im Juli 1942 zum RuSHA, wo er mit dem Rang eines Sturmbannführers übernommen und als Eignungsprüfer eingestellt wurde. Die Eignungsprüfer der SS führten die Musterung der SS-Bewerber durch, waren aber auch mit den rassischen Musterungen und Überprüfungen der Bevölkerung in den besetzten Gebieten befasst. Rau empfahl sich beim RuSHA mit der Absicht, seine wissenschaftliche Kompetenz einzubringen und eine „Prüfungsmethode“ zu entwickeln, die „die Rasseneignungsprüfung mit einfachen psychologischen Methoden verbindet“.78 Große Bedeutung maß man in der SS den erbcharakterologischen Forschungen des Pfahler-Kreises zu. Pfahler war 1938 Nachfolger Krohs auf dem Lehrstuhl für Pädagogik und Psychologie in Tübingen geworden, nachdem er zuvor in Gießen gearbeitet hatte. Er suchte auch die Nähe zur SS und sandte Himmler seine Arbeiten über die „Rassenkerne des deutschen Volkes“ zu mit der Bitte um Unterstützung bei der Drucklegung. Himmler bemühte sich persönlich um ihn, bot ihm, als er mit einem Oberschenkeldurchschuss im Wehrmachtslazarett lag, sein Prominenten-Lazarett Hohenlychen an und schrieb dem Chef des RuSHA Hildebrandt, er solle doch Verbindung zu Pfahler aufnehmen: „Vielleicht gelingt es Ihnen, Pfahler insgesamt für das RuSHA und für Ihre Arbeit zu gewinnen.“79 Aber er zog es vor, sich in die Chirurgische Klinik in Tübingen verlegen zu lassen, und politisch war Pfahler, der bereits 1923 zum ersten Mal der NSDAP beigetreten war, der SA verbunden, der er bis zum Kriegsende treu blieb.80 Er kündigte Himmler 1943 auch noch die Übersendung der „erbcharakterologischen Zwillingsuntersuchungen“ seines Schülers Christian Eckle an. Eckle war damals gerade Professor für Psychologie und Pädagogik an der Reichsuniversität Posen geworden. Sein Vorgänger war Rudolf Hippius, der an die Deutsche Universität Prag gewechselt war. Dort – in Prag – existierte ein anderes wissenschaftliches Netzwerk, das sowohl Beziehungen zum Netzwerk um Oswald Kroh als auch zu dem um Peter Petersen aufwies. Hippius war Professor für Sozial- und Völkerpsychologie an der Universität Prag und leitete zusammen mit Hans-Joachim Beyer das „Institut für Europäische Völkerkunde und Völkerpsychologie“ der dort 77 78

BA Berlin, R 4901/2027; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 358. Rau konnte sich mit seiner methodologischen Expertenschaft im RuSHA jedoch nicht etablieren. Er wurde 1944 von seinen Vorgesetzten wegen „Arroganz“ und „spielerischen Herangehens an anfallende Aufgaben“ negativ beurteilt. Negativ schlug außerdem seine frühe Zugehörigkeit zur „Schwarzen Front“ Otto Strassers zu Buche: BA Berlin, SSO Rau, n.p. 79 BA Berlin, NS 19/1328. 80 Auch Gert H. Fischer, Fahr und Carspecken gehörten der SA an. Bis auf wenige Ausnahmen waren im Übrigen alle genannten Schüler von Jaensch, Kroh und Pfahler NSDAP-Mitglieder.

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Abbildung 2: VSL= Volksschullehrer, BSL= Berufsschullehrer, La= Landwirtschaftsschullehrer, GL= Gymnasiallehrer, SL= Schulungsleiter, PSL= Polizeischulungsleiter, CI= Schulungsamt ab 1943, CIII= Amt für Leibeserziehung, MH(F)= Mannschaftshaus(führer), VI= Abt. weltanschauliche Schulung der Waffen-SS, VoMi= Volksdeutsche Mittelstelle, Rus-F= Führer im Rasse- und Siedlungswesen, WSL= Lehrer für weltanschauliche Erziehung

ansässigen „Reinhard-Heydrich-Stiftung“. Beyer war zugleich wissenschaftlicher Leiter der Stiftung und Professor und Direktor des „Instituts für Volkslehre und Nationalitätenkunde“ der Universität. Beyer hatte zuvor an der Hochschule für Lehrerbildung in Danzig und danach als Abteilungsleiter am Stuttgarter Auslandsinstitut gearbeitet; sein dort beschäftigter Mitarbeiter Othmar Feyl promovierte 1939 bei Kroh mit einer Dissertation über „grenzvölkische Erziehung“. Kroh und Beyer hatten sich offenbar auf einer Tagung des Stuttgarter Instituts kennengelernt, auf der Kroh zu einem Vortrag zur „Psychologie der Umvolkung“ eingeladen war, während Beyer über „Geschichtsbewusstsein und Umvolkung“ sprach – beide hatten offensichtlich gemeinsame Forschungsinteressen. Nach dieser erfolgreichen Zusammenarbeit meldete sich Beyer im gleichen Jahr an der Universität München, an die Kroh 1938 berufen worden war, zur Habilitation an; Kroh war einer der beiden Gutachter und

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sorgte für einen positiven Ausgang des Verfahrens. Beyer erhielt anschließend eine Dozentur an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät in Berlin, die er bis zu seiner Berufung nach Prag 1942 ausübte. Während Beyer SS-Hauptsturmführer und SDMitarbeiter war, gehörte Hippius der SA an, er war aber seit 1933 förderndes Mitglied der SS81 und übernahm Forschungsaufgaben, die von der SS finanziert wurden, zu denen unter anderem eine groß angelegte Untersuchung über „deutsch-polnische Mischlinge“ an der Posener Universität gehörte. Beide führten in Zusammenarbeit mit der Außenstelle des RuSHA in Prag in großem Maßstab völkerpsychologische und volkstumspolitische Untersuchungen zum osteuropäischen Raum durch.82 1943 berichteten Beyer und Hippius auf der Arbeitstagung der von Kroh geleiteten Deutschen Gesellschaft für Psychologie zu Fragen des Kriegseinsatzes der Psychologie über ihre Forschungen. Im gleichen Jahr war Hans Mieskes als Hippius’ Assistent nach Prag gekommen.83 Mieskes hatte zuvor (1941) mit der Dissertation „Die volkeigene Schule; Grundfragen einer neuen volksdeutschen Erziehungswissenschaft und Pädagogik, für Siebenbürgen dargestellt“ bei Petersen in Jena promoviert, eine Arbeit, mit der sich Mieskes selbst programmatisch der völkischen pädagogischen Bewegung zuordnete. Seine Arbeit war von den üblichen antiliberalistischen und antiurbanen Impulsen getragen. Die Seminarpädagogik der Vergangenheit habe „Zeichen des modernen Lebens“ und der „liberalistisch getätigten Gestaltung des Privatlebens“ an sich getragen, sie habe Lehrergenerationen dem bäuerlichen Dorfleben entfremdet, sodass das Lehrerhaus „nur zu oft die entwurzelte städtische Asphaltkultur“ verbreitet habe.84 Mieskes stammte selbst aus Siebenbürgen und war dort bereits als Lehrer und Jugendführer tätig gewesen; nach dem Krieg wurde er Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Gießen und erhielt 1961 das Bundesverdienstkreuz.85 Seine Tätigkeit in Prag liegt bislang im Dunkeln. Mit 81 82

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Alena Miskova: Die Deutsche (Karls-)Universität vom Münchener Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Prag 2007, S. 302. Karl Heinz Roth: Heydrichs Professor. Historiographie des „Volkstums“ und der Massenvernichtungen: Der Fall Hans Joachim Beyer, in: Peter Schöttler (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M. 1997; Hoßfeld/Simunek: Kooperation (wie Anm. 44), S. 90ff.; Harten: De-Kulturation (wie Anm. 33), S. 141ff. und 165ff.; Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 242ff. Miskova: (Karls-)Universität (wie Anm. 81), S. 266. – Hippius Institut in der „Heydrich-Stiftung“ war großzügig mit zehn Räumen ausgestattet, von denen vier für laufende rassenanthropologische Untersuchungen an Tschechen genutzt wurden: ebd., S. 170. Die Arbeit klang pathetisch aus: „So wie alles siebenbürgisch-deutsches Wollen und Tun aus dem Urgrund gesamtvölkischer Gegebenheiten entspringt, wird es auch wieder einmünden in das Bild des deutschen Volkes als einer gottgewirkten Gemeinschaft, es wird eine Strophe in dem Lebenslied dieser Gemeinschaft sein, ein Ton in dem Akkord: Deutschtum. – Dieser deutsche Gleichklang zeichnet die Grundlagen auch einer volksdeutschen Erziehungswissenschaft und Pädagogik.“ Hans Mieskes: Die volkeigene Schule; Grundfragen einer neuen volksdeutschen Erziehungswissenschaft und Pädagogik, für Siebenbürgen dargestellt, Diss. Jena 1941. Mieskes hielt noch 1978 eine Eloge auf Wilhelm Staedel, den ehemaligen Bischof der Volksdeutschen in Rumänien. Staedel war einer der eifrigsten Wegbereiter des Nationalsozialismus in Siebenbürgen, der die „Erlösung des Menschen durch den Nationalsozialismus“ predigte; unter anderem hatte er 1942 einen „Arbeitskreis zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben in Siebenbürgen“ gegründet, der sich die „Entjudung in Lehre und Leben“ zur Aufgabe machte: Johann Böhm: Hitlers Vasallen der deutschen Volksgruppe in

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Hippius, der aus Estland stammte, verband ihn die osteuropäische „volksdeutsche“ Herkunft, die sicher eine nützliche Eingangsqualifikation für die in Prag anstehenden Forschungsaufgaben war. Denkbar wäre, dass Mieskes Arbeiten im Zusammenhang mit den rassischen Untersuchungen der rumänischen Volksdeutschen durch die Prager Außenstelle des RuSHA stand. Offen bleibt die Frage, wie der Kontakt nach Prag zustande kam. Bekanntlich stieß auch Lothar Stengel- von Rutkowski 1944 zum Kreis der Prager Rassen- und Volkstumsforscher hinzu und arbeitete dort unter anderem auch mit Hippius in der „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der bolschewistischen Weltgefahr“ zusammen. Stengel- von Rutkowski strebte bereits 1941 eine Professur zunächst in Posen, dann in Prag an, die eng mit dem RuSHA verbunden sein sollte; so schlug er ein mit diesem Lehrstuhl verbundenes Institut für die Ausbildung von Eignungsprüfern, Sippenpflegern und Führern im Rasse- und Siedlungswesen vor, eine Art Führerakademie des RuSHA, an der Beyer, Hippius und andere Professoren der Prager Universität unterrichten sollten.86 Aber als Mieskes seine Stelle in Prag antrat, war Stengel- von Rutkowski noch im Rahmen der „Bandenbekämpfung“ bei der Waffen-SS auf dem Balkan im Einsatz. Nicht auszuschließen ist, dass Petersen Hans Joachim Beyer oder dessen Vater kannte. Beyer war wie Petersen von 1931 bis 1933 für den CSVD aktiv. Er hatte zeitweise als Chefredakteur der vom CSVD mitgetragenen „Täglichen Rundschau“ in Berlin gearbeitet und trat dort als Wahlund Versammlungsredner für den CSVD auf. Aufgewachsen war er in Hamburg, wo Petersen bis zu seiner Berufung nach Jena als Schulleiter wirkte. Beyers Vater war Volksschullehrer in Hamburg, Schriftleiter des „Hamburger Schulblatts“ und kandidierte 1931 ebenfalls für den CSVD bei der Hamburger Bürgerschaftswahl.87 Auf ein anderes „Netzwerk“ möchte ich abschließend noch zum Vergleich eingehen, das zugleich lehrt, mit allzu vorschnellen und eindeutigen Urteilen zurückhaltend zu sein: den Schülerkreis um Aloys Fischer. Fischer war Professor für Philosophie und Pädagogik in München; fünf seiner Schüler, die bei ihm promovierten, waren im Sicherheitsdienst oder im Schulungswesen der SS tätig, drei weitere verfassten rassenwissenschaftliche Beiträge. Es schadete ihrer Karriere nicht, dass Fischer selbst 1937 als „jüdisch versippter“ Hochschullehrer entlassen wurde – übrigens gleichzeitig mit dem von Petersen geschätzten Karl Jaspers; Fischer starb kurz darauf, seine Frau wurde später nach Theresienstadt deportiert.88 Vielleicht hatte er gehofft, mit der Vergabe NS-naher Themen und der Unterstützung junger Wissenschaftler aus der SS seine eigene Position zu sichern. Vermutlich war aber auch sein Wissenschafts-

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Rumänien, Frankfurt a.M. 2006, S. 121ff. NA Prag, URP dodatky II, Kr. 57, n.p.; Hoßfeld/Simunek: Kooperation (wie Anm. 44), S. 80ff. Alexander Hesse: Die Professoren und Dozenten der preussischen Pädagogischen Akademien (1926–1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933–1941), Weinheim 1995, S. 170f.; Roth: Professor (wie Anm. 82); zu Beyer siehe auch Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 242ff. Aloys Fischer erhielt 1935 ein Publikationsverbot; nachdem er es abgelehnt hatte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen, wurde er zum 1.7.1937 aus dem Hochschuldienst entlassen. Während eines darauf folgenden Urlaubs erlitt er eine Magenblutung, die zunächst gestillt werden konnte, wenig später aber wieder aufbrach; am 23.11.1937 starb er nach einer Operation an Herzversagen. Bernhard Stalla: Aloys Fischer (1880–1937): Biographie und Bildungstheorie, Frankfurt a.M. 1999, S. 48.

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verständnis, das die Pädagogik von der traditionellen Bindung an die Philosophie stärker zur Psychologie und Soziologie, also zur Lebenswirklichkeit öffnen wollte, für Studenten attraktiv, die gerade diese Lebenswirklichkeit aktiv mit umgestalten wollten. Hier liegt offensichtlich eine Parallele zu Petersen. Fischer bemühte sich besonders um die Förderung der Berufsberatung – er war Mitbegründer der akademischen Berufsberatung an der Universität München – und daher arbeiteten einige seiner Schüler auch später in der Arbeits- und Berufsverwaltung. So Albert Huth, der leitender Psychologe und Oberregierungsrat beim Landesarbeitsamt in München wurde; in mehreren Studien versuchte er, die Rassentypologie Clauss’ und Günthers für die Berufspädagogik und Arbeitseignungsforschung nutzbar zu machen. Huth war allerdings nicht bei der SS, sondern bei der SA.89 Willy Schuh, der den Beratungsdienst im Münchner Studentenwerk leitete, verfasste eine Dissertation zum Thema „Erziehung im Dienste der Rassenhygiene“; die Arbeit selber trägt keinen spezifisch nationalsozialistischen Charakter, sondern ist in großen Teilen der katholischen Sozialeugenik Heinrich Muckermanns verpflichtet. Schuh trat später aus der Kirche aus und war während des Krieges als Untersturmführer beim Inspekteur der Sicherheitspolizei in München tätig. Für den SD arbeitete auch Franz Xaver Vilsmeier, der bei Fischer mit einer Arbeit über den „Gesamtunterricht“ promoviert hatte und 1937 Dozent für Erziehungswissenschaft an der Hochschule für Lehrerbildung in Beuthen wurde; er war SS-Untersturmführer und beteiligte sich als Redner an der Schulungsarbeit von SD und Sicherheitspolizei. Heinrich-Josef Nelis, der 1933 über das Thema „Die Autorität als pädagogisches Problem“ promovierte und im Jahr darauf Professor für Philosophie und Pädagogik in Frankfurt am Main wurde, trat 1934 in die SS ein, arbeitete gleichfalls für den SD und war während des Krieges als Referent für kirchenpolitische Fragen beim Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Den Haag beschäftigt, wo er Nachrichtenmaterial zusammentrug, aufgrund dessen „erfolgreiche sicherheitspolizeiliche Aktionen“ durchgeführt werden konnten. Alfons Brendel, der seine Dissertation über „die psychologischen Voraussetzungen zu einer Rechtschreibreform“ geschrieben hatte, brachte es zum Sturmbannführer und Kommandeur der SS-Schule Avegoor in den Niederlanden, an der die „germanischen Freiwilligen“ aus den Niederlanden ausgebildet wurden. Fischers Schüler Eduard Kolb schließlich, Professor für Erziehungswissenschaft an der Hochschule für Lehrerbildung Bayreuth, war SS-Oberschulungsleiter sowie Gau-Schulungsleiter der NSDAP für die Bayrische Westmark und in dieser Funktion zugleich Lehrer für Weltanschauung und Geschichte an der „Gauführerschule“ Plassenburg. Seine Dissertation hatte er schon 1921 über „Die sittliche Entwicklung Heranwachsender im Lichte der exakten Forschung“ geschrieben. Fischers Schüler gelangten in politisch höhere und verantwortungsvolle Positionen. Welche Verflechtungen und Vernetzungen dies implizieren konnte, sei nur an einem Beispiel illustriert: Der Schulungsreferent des Inspekteurs der Sicherheitspolizei und des SD Hessen-Nassau, Heinz Kraus, nannte in seinem Verlobungs- und Heiratsgesuch an das RuSHA 1940 Josef Nelis als Bürgen – man musste bei diesem Gesuch jeweils den Vorgesetzten, den zuständigen SS-Arzt und zwei Bürgen nennen. Kraus, Studienreferendar in Wiesbaden, hatte zwar nicht bei Nelis studiert, 89

Harten/Neirich/Schwerendt: Rassenhygiene (wie Anm. 2), S. 168f. und 406.

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kannte ihn aber aus dem Gauschulungsamt der NSDAP Hessen-Nassau, in dem er als Hauptstellenleiter und Lehrer für „Raum- und Rassenfragen“ wirkte, während Nelis ebenfalls als Lehrer an der Gauführerschule unterrichtete und das Amt eines Schulungsreferenten des Gaudozentenbundes innehatte. Im Winter 1940/41 war Kraus als Dozent für weltanschauliche Erziehung an der Führerschule der Sicherheitspolizei in Pretzsch tätig, an der wenig später die Vorbereitung der Einsatzgruppen auf den Russland-Feldzug stattfand.90 Wir haben also unter politischen Gesichtspunkten ähnliche Schülerkreise mit völlig verschiedenen Lehrern, denn Aloys Fischer wird man eine Nähe zum Nationalsozialismus oder gar zur SS kaum unterstellen können. Man kann daher nicht unvermittelt von den Lehrern auf die Schüler schließen. Dennoch gibt es einige Zusammenhänge. Die Doktoranden von Jaensch und Pfahler arbeiteten an der Weiterentwicklung des von ihnen vertretenen Paradigmas mit, das eine wissenschaftliche Fundierung SS-naher und SS-spezifischer Forschung versprach. Schüler Oswald Krohs, dessen Arbeiten eher bildungsphilosophisch ausgerichtet waren, der andererseits wichtige Funktionen des Wissenschaftsmanagements wahrnahm, finden wir vor allem als „Generalisten“ und Organisatoren in leitenden Funktionen des SSSchulungswesens wieder. Bei Fischer-Schülern ist eine berufspädagogische und erziehungssoziologische Orientierung zu erkennen, die unter anderem für die Arbeit im SD von Nutzen war, während bei den Schülern von Petersen ein primär schulpraktisches Interesse charakteristisch ist, das in der Mitwirkung an der praktischen Schulungsarbeit der SS ein Umsetzungsfeld fand. FAZIT Rechnet man die oben genannten Volksschullehrer zum Schülerkreis hinzu, so stößt man im Falle Petersens auf die Besonderheit eines ungewöhnlich großen Kreises von Schülern, die im Schulungswesen der SS tätig waren. Die Frage, wie weit es sich dabei tatsächlich um Lehrer-Schüler-Beziehungen handelte, muss offen bleiben. Diese lokale Besonderheit dürfte zunächst einmal nur Ausdruck der besonderen Profilierung der Universität Jena als „SS-Hochburg“ gewesen sein. Die Universität war für viele Studenten attraktiv, die Lehrer werden und gleichzeitig politisch in der „Bewegung“ mitwirken und mitgestalten wollten. Gleichzeitig war aber auch Petersen ein Pädagoge und Hochschullehrer, der aufgrund seiner Reputation viele Studenten anzog. Wie auch immer man seine Schriften und sein politisches Verhalten im einzelnen nachträglich interpretiert – es gab genug Äußerungen von ihm, die ihn den Studenten mindestens als Sympathisanten des NS erscheinen lassen konnten, und die umso mehr Gewicht hatten, als Petersen ein hohes Ansehen hatte. Dass er kein Parteimitglied war, machte ihn in dieser Hinsicht nur noch glaubwürdiger. Sein Konzept einer lebensgesetzlichen Orientierung der Erziehungswissenschaft konnte man leicht biologistisch missverstehen und umdeuten. Zudem vertrat er eine Erziehungskonzeption, die als modern gelten konnte und für die man auch in der SS aufnahmebereit war. In der 90

Zu den Fischer-Schülern ebd., S. 167ff.; zu Kraus: BA Berlin, RS und SSO (Personalakte Heinz Kraus).

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Schulungsarbeit der SS wurden keine „autoritäre Pädagogik“ und keine Pädagogik des „Kadavergehorsams“ praktiziert.91 Man legte vielmehr Wert auf Lebendigkeit des Vortrags, Aussprachen und Gesprächsrunden, Anschaulichkeit und Lebensnähe der Inhalte. Die Verknüpfung von Unterricht, Feier, Sport, gemeinsamen Aktivitäten und so weiter, die Lagerpädagogik, in der man praktisches Gemeinschaftsleben und die Übernahme von Verantwortung einüben konnte – all dies bot für Petersen-Schüler ein Erfahrungsfeld, in das sie nützliche Erfahrungen aus der unterrichtspraktischen Arbeit einbringen konnten. In inhaltlicher und legitimationsideologischer Hinsicht dürften ihre Beiträge weniger relevant gewesen sein. Vermutlich war es die Kombination von völkischer Rhetorik und modernen pädagogischen Methoden, die Petersen vermittelte, die ihn für aktivistische Studenten attraktiv erscheinen ließ. Aber auch hier gilt, dass reformpädagogische Methoden, auch in der Form, die sie bei Hördt und Krieck etwa fanden, nicht spezifisch und substantiell nationalsozialistisch waren, sondern auch mit anderen Inhalten und Orientierungen verbunden werden konnten. Es gab einen Widerspruch in Petersens Person und in seinen Schriften, der schon kritische Zeitgenossen irritierte. In dem Bericht, den Petersen nach seiner Vortragsreise durch Südafrika verfasste, schreibt er, „von jüdischer Seite aus“ sei in der Presse „unter Ausbeutung eines Aufsatzes im Educational Yearbook, T.C., Columbia University“ Stimmung gegen ihn gemacht worden. Dort war Petersen aufgrund seines Essays „Bedeutung und Wert des Politisch-Soldatischen für den deutschen Lehrer und unsere Schule“ unter die nationalsozialistischen Pädagogen eingereiht worden; der Autor Isaac L. Kandel wunderte sich, denn vor 1933 habe Petersen ganz andere Werte vertreten: „His position then was definitely humanistic in favor of ideals of humanity and tolerance gaining in force and validity internationally.“92 Offensichtlich war ihm inzwischen der Ruf vorausgeeilt, ein nationalsozialistischer Pädagoge zu sein, sodass seine Vorträge auf ein geteiltes Echo stießen und von der „englisch eingestellten Lehrerschaft“ aufgrund ihrer „starken Judenhörigkeit“, so Petersen, mehr oder weniger boykottiert wurden, während er in den „Zentren des Afrikanertums“ die „beste Aufnahme“ gefunden habe.93 Petersen hob die positive Wirkung eines Empfangs beim „Administrator des Freistaates Mnr. van Rensburg“ hervor, der der Lehrerschaft jede Unterstützung auf dem Weg zu der von Petersen propagierten Schulreform zusagte. Van Rensburg, Führer der rassistischen „Ossewabrandwag“, war zugleich Vorstandsmitglied der Afrikaans-Deutschen Kulturvereinigung und vertrat einen an südafrikanische Verhältnisse angepassten Nationalsozialismus; er hatte 1936 und 1937 in mehreren Initiativen an das Auswärtige Amt des Deutschen Reichs vergeblich versucht, die Auswanderung deutscher Juden nach Südafrika zu unterbinden, die man in Deutschland gerade in die Emigration treiben wollte. Im Oktober 1936 war noch ein deutsches Schiff mit 500 jüdischen Emigranten in Kapstadt eingetroffen, danach wurden die Einwanderungsmöglichkeiten von südafrikanischer Seite aufgrund des Drucks der antisemitischen Bewegung finanziell erheblich erschwert.94 So 91 92 93 94

Harten: Schulungsarbeit (wie Anm. 4). Isaac L. Kandel: The Making of Nazis, in: Educational Yearbook of the international Institute of Teachers College, Columbia University, New York, 11 (1934), S. 464f. Der Bericht ist abgedruckt bei Ortmeyer: Mythos (wie Anm. 36). Albrecht Hagemann: Südafrika und das „Dritte Reich“. Rassenpolitische Affinität und machtpo-

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viel nur zum Kontext, in dem Petersens Reise stattfand; die Folgen des völkischen Antisemitismus dürften ihm schon zu dieser Zeit kaum verborgen geblieben sein. Der Wandel, den Kandel bemerkte, belegt die Außenwirkung Petersens, der mit seinen Essays und Vorträgen, den Eindruck erweckte, ein nationalsozialistischer Erziehungswissenschaftler geworden zu sein. Auch wenn seine Äußerungen inhaltlich wenig substantiell waren, entscheidend ist, dass er nichts tat, um diesem Eindruck entgegenzuwirken. Die Jenaplan-Pädagogik und die mit ihr verbundene erziehungswissenschaftliche Forschung hatten sich dagegen nicht wesentlich verändert. Nicht die Jenaplan-Pädagogik, sondern die Rolle Petersens als Hochschullehrer während des „Dritten Reiches“ ist problematisch. Offensichtlich fand er viel Resonanz unter nationalsozialistischen Studenten, und je mehr Resonanz er fand, desto größer dürfte auch die Versuchung gewesen sein, Elemente nationalsozialistischer Rhetorik zu übernehmen. Vermutlich war sein Wunsch, mitzugestalten zu groß, um sich zurückzuhalten und geduldig das Ende des Regimes abzuwarten (man wusste ja auch gar nicht, ob dieses Ende je kommen würde). Petersen suchte nach Übereinstimmungen mit seinem eigenen Denken und kehrte sie öffentlich heraus, weil er weiterhin aktiv mitgestalten wollte – damit wurde er aber auch zu einem Pädagogen des Nationalsozialismus, obwohl seine Pädagogik nur schwer mit den Zielsetzungen des Nationalsozialismus vereinbar war und die Jenaplan-Schulen während des „Dritten Reiches“ deshalb geschlossen wurden. Die aktive Partizipation ging auch über jedes „taktisch“ vertretbare Maß hinaus: Es bestand kein zwingender Grund für ihn, sich antisemitisch zu exponieren, Propaganda für das „Dritte Reich“ in Südafrika zu machen oder Schulungsvorträge für die SS zu halten. Man muss vielmehr von einer „Selbstverstrickung“ ausgehen. Sie mag anfangs von der Erwartung getragen gewesen sein, neue Fürsprecher für die Jenaplan-Pädagogik und seine Konzeption der Lehrerbildung zu finden. Aber von Anfang an war der Impuls da, an der „Wende“ mitzuwirken. Schon 1933 kehrte er in einem Brief an Alnor die Nähe zu nationalsozialistischen Kollegen hervor und sprach von Plänen, mit Erich Jaensch und dem „alten NSDAPer“ Hans Volkelt eine neue wissenschaftliche Zeitschrift herauszugeben.95 Petersen bemühte sich damals darum, eine Berufung Volkelts auf den Lehrstuhl für Psychologie in Jena zu bewerkstelligen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung von Hans Leisegang aus der Zeit unmittelbar nach Kriegsende. Leisegang, der 1930 die Nachfolge von Max Wundt auf dem Lehrstuhl für Philosophie in Jena angetreten hatte, war 1934 wegen abfälliger Äußerungen über Hitler aufgrund des „Heimtückegesetzes“ zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden, durfte seine Lehrtätigkeit daraufhin nicht mehr ausüben und wurde schließlich 1937 vom Dienst suspendiert. Nach dem Krieg verzögerte sich die Wiedereinsetzung in sein Amt zunächst, weil es Widerstände gab, für die Leisegang Petersen als damaligen Dekan der Philosophischen Fakultät verantwortlich machte; erst als Petersen in die neu gebildete Sozialpädagogische Fakultät wechselte, sei der Weg für ihn frei geworden. Die Gegnerschaft Petersens führte Leisegang darauf zurück, dass sie 1933/34 anlässlich der Besetzung des Lehrstuhls für Psychologie aneinander geraten seien. Petersen habe damals den „Ultranationalsozialisten Volkelt“ durchsetzen wollen: „Es 95

litische Rivalität, Frankfurt a.M. 1989, S. 125ff., 135, 262. Titel in: Retter: Petersen (wie Anm. 26).

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gelang mir damals, die Berufung Volkelts zu verhindern; aber ich hatte seitdem Herrn Professor Petersen zum Feinde. Wie weit diese Feindschaft sich auswirkte, kam mir erst zu Bewusstsein, als der mit der Reinigung der Universität betraute amerikanische Professor Katzenellenbogen mir seinen Bericht über Petersen zeigte, in den er den Vermerk auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden Akten aufgenommen hatte, dass Prof. Petersen mitschuldig an den Verfolgungen der Nationalsozialisten sei, die zu meiner Verhaftung führten [. . . ].“96 Der Vorwurf der Denunziation wiegt natürlich schwer. Was den Konflikt um Volkelt betrifft, so scheint aber, dass Leisegang den politischen Aspekt dabei überbetont hat. Der stattdessen berufene Sander war zwar politisch weniger exponiert als Volkelt, der schon 1932 der NSDAP beigetreten und als Ortsgruppenschulungsleiter in der Partei aktiv war, wurde aber auch 1933 Parteimitglied und tat sich mit offen antisemitischen Äußerungen hervor. Petersen arbeitete später offenbar reibungslos mit Sander zusammen, mit dem er alleine 19 Dissertationen zusammen betreute. Seine vehemente Parteinahme für Volkelt wird auch darin begründet gewesen sein, dass dieser deutlich stärker in der Lehrerbildung engagiert war als der von der experimentellen Psychologie kommende Sander. Man könnte daher zwar den Schluss ziehen, dass Petersen schon 1933 durch eine entsprechende Berufungspolitik an der nationalsozialistischen Wende mitwirken wollte, aber ebenso plausibel ist, dass es ihm stets in erster Linie darum ging, Verbesserungen in der Lehrerbildung und in der praktischen Pädagogik zu erreichen. Dass beide Lesarten möglich sind, macht die Widersprüchlichkeit seiner Person aus.

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Eckardt Mesch: Hans Leisegang: Leben und Werk, Erlangen 1999, S. 146; Tilitzki: Universitätsphilosophie (wie Anm. 25), S. 604.

Hein Retter ZUR DISKUSSION UM DIE UNIVERSITÄTSSCHULE JENA IM NATIONALSOZIALISMUS Inhalt: Thesen (292) Teil I: Fiktion, Arrangement, Manipulation in der Petersen-Rezeption (296) Petersen und die „Lehrervereinsbonzen“ (296) Jürgen Eierdanz (297) Karl-Heinz Heinemann (298) Torsten Schwan (299) Benjamin Ortmeyer (306) Mike Niederstraßer (308) Die Petersen-Kontroverse − kein Gewinnspiel (310) Teil II: Sozialisten und „Halbjuden“ bei Petersen (312) „Jüdische Kinder“ (312) Wie es zu dem Projekt „Universitätsschule“ kam (325) Eltern der Universitätsschule im Widerstand (327) Reaktionen (328) Der Gattungsbruch der Jenaer Erinnerungsgeschichte (331)

Die Petersen-Diskussion in Jena ab November 2010 war wesentlich durch die Veröffentlichung meines Buches „Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus“ entfacht worden. Der Band wurde bei seinem Erscheinen von Torsten Schwan (Osnabrück) und Benjamin Ortmeyer (Goethe-Universität Frankfurt am Main) mit dem Vorwurf bedacht, dass das, was ich schreibe, schlicht falsch oder frei erfunden sei. Der vorliegende Beitrag ist eine vorläufige Antwort; das Projekt ist im Fluss, sodass mir persönlich jede Kritik im Prinzip erwünscht ist – selbst wenn sie in grenzwertiger Form erfolgt. Die Diffamierungskampagne durch Gegner meines Buches traf allerdings auch eine Reihe von in hohem Alter lebenden Personen, deren Eltern/Familien unter dem Nationalsozialismus litten. Sie selbst besuchten die Jenaer Universitätsschule (Petersenschule) unter Leitung von Peter Petersen (1884–1952), 1923–1950 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Jena. Die Diffamierung beschädigt das Gedenken an jüdische Verfolgte des NS-Regimes und die Erinnerung an Jenaer Widerstandskämpfer, die ihre Kinder Petersen anvertrauten, da sie seine Schule als einen Ort des Schutzes sahen. Nachdem in Jena heute die Wogen der Erregung im Zuge der Umbenennung eines Platzes geglättet sind, ist die Historisierung des Streites um die Jenaer Universitätsschule eine Frage der Zeit, auch wenn die Auseinandersetzungen mit diesem Beitrag nicht beendet sein werden. Die Ergebnisse meines Projektes über die Jenaer Universitätsschule sind getrennt zu sehen von einer politischen Bewertung des Erziehungswissenschaftlers und Reformpädagogen Peter Petersen. Die eigentlichen, im Buch dargelegten Entdeckungen wurden in den Angriffen der Gegner bewusst ausgeblendet. Sie liegen in der Tatsache, dass Kinder von Eltern des sozialistischen Widerstandes in Jena gegen das NS-Regime ab 1933 die Universitätsschule besuchten. Dem kann weiter nachgegangen werden. Kinder sind in der Diktatur schon gefährdet, wenn deren Eltern gefährdet sind. Doch es ging in diesem Projekt nicht ausschließlich um Kinder aus sozialistischem Elternhaus, sondern auch um jene jüdischer Herkunft und um Kinder, die wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung in der Universitätsschule – ihren heutigen Aussagen nach – davor bewahrt wurden, dem gemäß NS-Ideologie auszumerzenden „unwerten Leben“ zugerechnet zu werden.

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Zur Strategie meiner Gegner gehörte, die Rahmenbedingungen und den definierten Selbstanspruch des vorliegenden Projektes, der bescheiden ist, zu missachten. So wurde von ihnen der Begriff der „Gefährdung“ im Nationalsozialismus ausschließlich für die Deportation und Ermordung „volljüdischer“ Kinder reserviert, um behaupten zu können, es habe in den dokumentierten Fällen keine Gefährdung gegeben. Deshalb sei die Universitätsschule kein „Zufluchtsort“ politisch oder rassisch Gefährdeter gewesen. Vielmehr seien diese Berichte „Ehemaliger“ über die Situation ihrer Familien und ihre Schulzeit bei Petersen ein Mythos oder die Erfindung nationalsozialistisch angehauchter Petersen-Anhänger. Letztlich bin ich meinen „Gegnern“ Benjamin Ortmeyer und Torsten Schwan zu Dank verpflichtet. Denn fast alle ihre Einwände beziehen sich auf Überschriften, Formulierungen, Definitionen. Der von mir zu Grunde gelegte Forschungsansatz, Namen aus der Jenaer Widerstandsliteratur mit Namen aus den Schülerlisten der Universitätsschule zu vergleichen, hat damit nichts zu tun. Die vorgebrachte Kritik stärkt vielmehr die von mir vertretenen Thesen. THESEN 1. In der Jenaer Universitätsschule (Petersenschule) gehörten unter dem NSRegime zur Schulgemeinde auch a) Väter, Mütter und Kinder, welche nach nationalsozialistischer Definition Juden oder jüdischer Abstammung waren, b) Eltern, die Mitglieder der (ab 1933 verbotenen beziehungsweise durch Terror bekämpften) sozialistischen Parteien SPD und KPD waren und ab 1933 im Jenaer Widerstand gegen den Nationalsozialismus arbeiteten, c) Kinder, die körperlich behindert beziehungsweise geistig retardiert waren und deshalb von staatlichen Exklusionsmaßnahmen wie dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 bedroht waren. Der Sachverhalt wurde durch Vergleich der Schüler- und Elternlisten der Universitätsschule mit den in der Jenaer Gedenk- und Widerstandsliteratur genannten Personen ermittelt.1 2. Mündliche Berichte aus dem Jahr 1995 von – heute überwiegend verstorbenen – im Nationalsozialismus gefährdeten Absolventen der Petersenschule, welche Jenaer Historiker durch Befragung veranlassten (ohne dass es zur Veröffentlichung der Protokolle kam), belegen einen Sachverhalt, der im Jahr 2010 durch „Ehemalige“ in meinem eigenen Projekt bestätigt wird: Als Kinder von Eltern, die unter dem NS-Regime litten, erlebten sie die Petersenschule während der NS-Zeit als einen Hort des Schutzes vor Willkür, Gewalt und möglichen behördlichen Eingriffen des NS-Staates sowie als Ort einer humanen Pädagogik.2 1

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Am Anfang der Recherche standen zwei Schriften (weitere folgten). A) Jenaer Arbeitskreis Judentum (Hg.): Juden in Jena, Jena 1998. B) Heinz Grün: Bürger aus Jena und Umgebung im Widerstand gegen das Naziregime 1933–1945. Eine Übersicht, Jena 2005. In beiden Bänden werden vom NS-Regime verfolgte Familien genannt, die, wie auf Schüler- und Elternlisten feststellbar ist, zur Schulgemeinde der Petersenschule gehörten. Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus, Jena 2010. (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte, Bd. 13); Dietmar Ebert, Sigrid

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Die Befragten betonen, dass sie in der Petersenschule rassistischen, auf die Kerninhalte der NS-Ideologie bezogenen Unterricht nicht erfahren haben. Die Aussagen stehen in krassem Widerspruch zu rassistischen Texten Petersens ab 1933. 3. Aus der Sicht der Befragten ist es unangemessen, die Universitätsschule Jena im Zeitraum 1933–1945 eine „Nazischule“ zu nennen – was auch immer Petersen an Fragwürdigem 1933–44 schrieb oder durch Gewinnung von Kontakten zu Organisationen des NS-Regimes in Vorträgen zum Ausdruck brachte. Dass die Verbreitung von NS-Ideologie eindeutige Distanzierung erfordert, ist heute so klar wie das Gebot, Aussagen von Personen, die mit ihren Eltern im NS-Staat von Diskriminierung und Gewalt bedroht waren, bei sorgsamer Prüfung der mitgeteilten Sachverhalte auf Fehler und Irrtümer nicht nur dem Generalverdacht reiner Erinnerungsverklärung auszusetzen. Zu erklären, ob und wie es für die Universitätsschule möglich sein konnte, sowohl eine öffentliche Schule im Nationalsozialismus zu sein, die auch von Kindern dreier prominenter Nationalsozialisten aus dem Kollegenkreis Petersens zeitweise besucht wurde und gleichzeitig – aus subjektiver Sicht von Betroffenen – ein Zufluchtsort von Kindern rassisch, rassenhygienisch oder politisch Bedrohter des NS-Regimes zu sein, bedarf weiterer Klärung. Das Buch, das Ende August 2010 in den Druck ging, ist in einzelnen, weniger relevanten Sachverhalten heute schon wieder ergänzungsbedürftig. Deshalb markiert es nur den Anfang der Spurensuche, die der Weiterbearbeitung bedarf. 4. Zwei Behauptungen von Torsten Schwan sind zurückzuweisen: Erstens die Behauptung, ich spreche „schamlos [sic!]“3 von jüdischen Kindern, könne jedoch „nicht einen ,volljüdischen‘ Schüler nennen, der nach 1933 die Universitätsschule besucht hätte“.4 Die meisten derjenigen, die als Schüler der Universitätsschule durch ihr eigenes Schicksal den Urhebern der Kampagne hätten direkt gegenüber treten können, sind verstorben. Die von mir Befragten aus Familien jüdischer Herkunft leben heute in und außerhalb Jenas in hohem Alter. Sie waren als Kinder der Universitätsschule ab 1933 mit ihren Eltern Demütigung und Entrechtung ausgesetzt, mit den Rassegesetzen wurden sie wie Vieh klassifiziert. Im November 2010 bewertete Torsten Schwan die Prozedur ein zweites Mal, um den Grad ihrer Demütigung zu überprüfen nach dem Motto: „Kein ,Volljude‘ – keine Bedrohung im Nationalsozialismus!“ Und Mike Niederstraßer (DIE LINKE) unterstützte diese Prozedur gemeinsam

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Lichtenfeld: Protokolle der Berichte von Berta Büchsel, geb. Voigt [Lehrerin] sowie von Johanna Großkurth, Lilo Czekalla, Ellen Körtge, Günther Schöppe, Jena 1995 (Stadtarchiv Jena). Torsten Schwan: Die Universitätsschule Jena – „Zufluchtsort“ für jüdische Kinder im Nationalsozialismus? Eine Analyse der von Hein Retter präsentierten neuen Petersen-Forschung, in: Dokumente der Auseinandersetzung zur Umbenennung des Peter-Petersen-Platzes in Jena. November 2010 – Dezember 2010, hg. von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Thüringen, GEW Studis Jena, GEW Kreisverband Jena-Saale-Holzland, Jena 2010, S. 112–160, S. 135. – Auf ein 2011 erschienenes Buch von Schwan, in dem dieser Aufsatz im Anhang ebenfalls abgedruckt ist, gehe ich hier nicht ein. Schwan: Universitätsschule (wie Anm. 3), S. 153.

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mit den Jenaer „GEW-Studis“ und der GEW Thüringen – von Benjamin Ortmeyer gar nicht zu reden. Was sind das für Menschenfreunde, deren Denken durch jene Strukturen geprägt ist, die Schwan zu bekämpfen meinte, wenn er Maß nahm bei denen, die davongekommen sind? Jenen, die in Nischen des Hitlerstaates oder durch Zufall überlebten, aber ein Schicksal hatten, das sie unterschied von Tätern, Mittätern, Mitläufern! Die Mutter von Margot P. und die Mutter von Rolf S. waren als Jüdinnen der Petersenschule sehr verbunden. Sie wurden 1942 beziehungsweise 1944 in Konzentrationslager verschleppt. Deren heute noch lebende Kinder waren nach der Deportation ihrer Eltern schutzlos. Als alte Menschen werden die damals Gefährdeten im NS-Staat in einer „Analyse“ von Torsten Schwan allesamt in Tabellen gebracht, in Kästchen gefasst, hin und her gewendet, bis zum Intimbereich durchleuchtet, ob sie denn den geforderten Klassifikationsansprüchen genügen. Sie wurden Opfer einer abstoßenden Rhetorik selbsternannter Fleischbeschauer, „furchtbarer“ Experten, vor denen zu fürchten sie Grund hatten; in einer Kampagne, in der sie nicht mehr, ohne selbst in Nazi-Verdacht zu geraten, sich trauten, für sich einen Satz auszusprechen, den ihnen bis zum Jahr 2010 niemand streitig machte, was immer an skandalösen Texten Petersens auch im Raum steht, nämlich: „Ich bin Petersen und seiner Schule dankbar!“ Niemand stellte sich öffentlich und unabhängig vom Parteiendisput hinter diejenigen, die im Buch über die Universitätsschule zu Wort kommen. Die Jenaer Presse (OTZ) verschwieg die Existenz meines Buches, sie lud stattdessen den als „Fachmann“ titulierten Schwan am 13. Dezember 2010 zum Interview. Eine „freie“ Presse würde alle Seiten zu Wort kommen lassen, vor allem Verfolgte des Naziregimes beziehungsweise deren Kinder, die bei Petersen in die Schule gingen. Doch einen Leserbrief von Rolf S. vom 20. Februar 2011 lehnte die Ostthüringer Zeitung zu drucken ab. Margot R. war 1944 nicht mehr Schülerin der Universitätsschule, bezieht aber ihre heutige Aussage, diese Schule als Ort des Schutzes und der Zuflucht erfahren zu haben, auf die Zeit ihrer Zugehörigkeit zur Petersenschule. Die Formulierung „Kinder aus jüdischen Familien“, an der Schwan Anstoß nimmt, taucht als Unterpunkt 4.3.3 im Inhaltsverzeichnis meines Buches über die Universitätsschule als Summenbegriff auf, was Schwan zu einer Kritik veranlasst, die nicht trifft, da jede dokumentierte Person in der Detaildarstellung mit dem durch die NS-Rassegesetze spezifizierten Terminus ausgewiesen ist. Ich führe diese barbarische Klassifikation nicht sprachlich weiter, sondern spreche im laufenden Text von jüdischen Kindern. Dies entspricht dem Bedürfnis der Betroffenen, in ihrer jüdischen Herkunft und Identität Anerkennung und nicht Abspaltung zu erfahren. Bei Schwan führt dies schließlich zu der abstrusen Behauptung, ich würde Judenkinder erfinden!5 Doch jene beiden Absolventen der Universitätsschule mit jüdischen Müttern haben nicht nur das Recht, sich jüdisch zu bezeichnen, sie sind jüdisch (nach dem Gesetz der Halacha). Dies entspricht bei den von mir geschilderten Schicksalen ganz dem personalen Selbstverständnis und dem Willen der Betroffenen, der ihnen von 5

Torsten Schwan: „Vertuschen, verdrängen, diskreditieren“, in: Erziehung und Wissenschaft. Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 63 (2011), Hf. 2, S. 34.

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niemandem zu nehmen ist. Die Tochter Elisabeth des jüdischen Ehepaars Aron und Anna S. besuchte vor und nach 1933 die Universitätsschule.6 1938 wurde die jüdische Familie im Zuge der „Polenaktion“ „abgeschoben“ und 1942 in Treblinka ermordet.7 5. Zweite Falschbehauptung von Schwan: Nicht „an einem einzigen Beispiel, schon gar nicht für die Zeit nach dem Novemberpogrom 1938“ wird von Hein Retter belegt, „dass Petersen jüdischen Kindern Schutz gewährte“. Auch diese Behauptung ist falsch! Schon der Jenaer Kulturwissenschaftler Dietmar Ebert hielt 2007 fest, dass der Sohn Rolf des Ehepaars S. „die Universitätsschule besucht hat und von Prof. Peter Petersen geschützt wurde“.8 Margot R. wie Rolf S. waren nach der Deportation ihrer Erziehungsberechtigten Waisen und aufs höchste gefährdet, ebenfalls deportiert zu werden. Margot R. erfuhr 1945 nach Kriegsende, dass sie auf einer Deportationsliste stand, während Torsten Schwan mit dem taxierendem Blick des „Metzgers“, der die „Qualität seines Schlachtviehs“ prüft, triumphiert, dass Margot P. nach NS-Gesetz „eben keine Jüdin“ sei.9 Für Leserinnen und Leser des Bandes über die Universitätsschule ist eindeutig, dass die Begriffe „Zufluchtsort“ und „Schutz“ authentische Erfahrung der Befragten sind, die mir mitgeteilt wurde und wie jede ihrer Aussagen der Dokumentation unterliegt. Wiederum tritt jemand auf, diesmal Benjamin Ortmeyer, der zu verstehen gibt: Dass dürfen sie gar nicht sagen, die haben ja Auschwitz nicht erlebt (siehe unten)! Die meisten der von mir Befragten (beziehungsweise ihre Eltern) lebten täglich näher am KZ als Ortmeyer. 6. Als Forscher habe ich die genannten Befunde nur zu registrieren, als engagierter Bürger, der in den sehr präsenten Erinnerungen das Leid der Familien aus den Berichten der Befragten unmittelbar erfuhr, setze ich mich dafür ein, dass diese Erinnerung von Opfern des Nationalsozialismus nicht beschädigt werden sollte. Sie haben einen moralisches Anspruch, öffentlich mit Respekt gehört zu werden. Wenn ihnen die Universitätsschule als Ort des Schutzes in der Diktatur der Entrechtung, Demütigung und Gewalt etwas bedeutete, wird ihre Aussage diskreditiert durch Schwans verächtlich machende Behauptung: Da sie nicht „Volljuden“ waren, brauchten sie keinen Schutz und waren nicht gefährdet, deshalb war die Schule Petersens kein Zufluchtsort und deshalb sind die Äu6 7

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UAJ, Bestand S Abt. I, Nr. 168 n.p.: 11. Pädagogische Rückschau, 11.3.1932 (Schuljahrsende 1931/32). Elisabeth Scheinok wird genannt auf der Rückseite des Programmblattes als im zweiten Schülerjahrgang, Margot R. verh. Pampel als im dritten Schülerjahrgang befindlich. Eberhart Schulz: Verfolgung und Vernichtung. Rassenwahn und Antisemitismus in Jena 1933 bis 1945, Jena 2007, S. 158 (in der von Schulz wiedergegebenen Deportationsliste sind die ermordeten Kinder nicht erfasst). Nach Schulz (S. 60f.) wurden Ende Oktober 1938 zwölf polnische Juden aus Jena Richtung Polen abgeschoben. Darunter befand sich Familie Aron Scheinok. Vgl. Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1), S. 96. Dietmar Ebert: „In die HJ, da hätten sie mich reinprügeln müssen.“ Die Lohnrechnerin Annemarie Metz (1916 bis 2000) und Winzerlas „lebende Chronik“. Gudrun Wohlfeld erzählt, in: Cornelia Amlacher/Dietmar Ebert/Gisela Horn (Hg.): Anpassung, Verfolgung, Widerstand. Frauen in Jena 1933–1945, Jena 2007, S. 189. Schwan: Universitätsschule (wie Anm. 3), S. 130.

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ßerungen der Betroffenen (die ich im Buch über die Universitätsschule zitiere und interpretiere) für Schwan nicht erfahrenes Leid, sondern „Spekulationen“ oder „Familienmythen“. 7. Die Forderung, den Erfahrungen und Bewertungen von „Ehemaligen“ der Universitätsschule, die selbst oder deren Eltern im Nationalsozialismus litten, mit Fairness zu begegnen, ist kein Urteil über den Reformpädagogen Peter Petersen und sein Verhalten im Nationalsozialismus. Es geht um die Darstellung des im Band über die Universitätsschule mitgeteilten Befundes, der diskutierbar, auch unterschiedlich bewertbar ist, jedoch nicht, wie im vorliegenden Fall geschehen, als „Lappalie“, „Märchen“ oder „Erfindung“ abgetan werden sollte. TEIL I: FIKTION, ARRANGEMENT, MANIPULATION IN DER PETERSEN-REZEPTION Petersen und die „Lehrervereinsbonzen“ In einem Brief an den preußischen Kultusminister Adolf Grimme vom 12. März 1932 beschwerte sich Petersen bitter über „die Lehrervereinsbonzen“, sei es in Thüringen oder im Deutschen Lehrerverein, die seine Vorstellungen zur vollakademischen Lehrerbildung boykottieren würden.10 Keine Frage, Petersen war kein Freund der Gewerkschaften, und dies aus mehreren Gründen. Das Umgekehrte gilt genauso: Von keiner Seite wurde Petersen derart angegriffen wie von Autoren, die der Erziehergewerkschaft zugehören oder ihr nahestehen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist nicht nur ein unverzichtbarer Faktor in der politischen Kultur der Bundesrepublik, sie ist wie jede freie Großorganisation in der Meinungsbildung ihrer Mitglieder durchaus pluralistisch geprägt. Die Jenaplan-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Wesentlichen von gewerkschaftlich organisierten Lehrkräften getragen. Heute bestehen über Petersens Jenaplan-Pädagogen extrem unterschiedliche Auffassungen. Die lautstarke Petersen-Kritik einer Gruppe von GEW-Mitgliedern war von Anfang an von der Absicht bestimmt, bislang verdrängte Mittäterschaft im Nationalsozialismus aufzudecken.11 In der allzu lange von der engeren Schülerschaft Petersens 10 11

Petersen an Grimme vom 12.3.1932, abgedruckt in: Hein Retter (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit, Weinheim 1996, S. 325–326. Mein eigener wissenschaftstheoretischer Ort liegt beim Kritischen Rationalismus (Karl R. Popper, Hans Albert). Auszugehen ist dabei von der Veränderbarkeit wissenschaftlicher Urteile durch erfolgreiche Falsifikation bestehender Theorien. Das schließt eine plurale Wissenschafts- und Deutungskultur nicht aus. Thesen sollten erfahrungsgeleitet und überprüfbar sein. Der Irrtum ist notwendiger Bestandteil wissenschaftlichen Denkens. Jede aus Forschungsbefunden resultierende These ist durch vernünftige Behauptung des Gegenteils in Frage zu stellen. Im Falle des Scheiterns eines Falsifikationsversuches kann die These aufrecht erhalten bleiben, im anderen Fall bedarf sie der Differenzierung. Sachurteile stehen in einem gesellschaftlichen Kontext. Geübte Kritik ist deshalb selbst wiederum der Kritik unterstellt. Vgl. Hein Retter: Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Anmerkungen zu einer Kontroverse, in: ders. (Hg.): Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung, Weinheim 1996, S. 25–

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bestimmten Rezeption seiner Pädagogik ist die Frage der politischen Belastung Petersens während der NS-Zeit immer wieder abgewehrt worden. Heute lassen sich in der Petersen-Rezeption mehrere Stränge unterscheiden,12 wobei in den letzten 25 Jahren die Kritik wuchs. So fruchtbar diese Kritik für die Petersen-Forschung wurde, bediente sie sich zuletzt auch Mittel, die über den wissenschaftlichen Diskurs im Rahmen einer liberalen Argumentationskultur hinausgehen. Davon im Folgenden mehr: Jürgen Eierdanz In einem Aufsatz von Eierdanz in einer der Gewerkschaftslinken nahestehenden Zeitschrift aus dem Jahr 1987 wurde der Petersen der zwanziger Jahre zu einem „dezidierten Gegner von Demokratie und Republik“,13 zum „Repräsentanten deutscher Strammstehpädagogik der Weimarer Zeit“ und zu einem völkischen Pädagogen, der den Jenaplan als eine „Methode für völkisch nationale Erziehungsziele sowohl in der Weimarer Republik wie im Faschismus“ eingesetzt habe.14 Tatsächlich war Petersen dem Gemeinschaftsdenken sozialistischer Lebensgemeinschaftsschulen verbunden. So betonte er etwa ab 1930 stärker den christlichen Charakter seiner Schule im Sinne der Dörpfeldschen Schulgemeinde. Dagegen behauptete Eierdanz: „Die völkische Gemeinschaft ist für Petersen die höchste irdische Instanz.“15 Eierdanz’ Thesen waren 12

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82. Man kann fünf verschiedene Stränge der Petersen-Rezeption unterscheiden: 1. Das von der akademischen Schülerschaft Petersens tradierte, von politischer Belastung frei gehaltene Bild; 2. das von der Dignität des Jenaplans als international beachtetem Reformversuch bestimmte Bild, in dem der „politische Petersen“ Erwähnung findet, aber nicht im Mittelpunkt des Interesses steht; 3. der vom Falsifikationstheorem bestimmte Forschungsansatz (siehe Anm. 11); 4. der gesellschaftskritisch linksliberale Forschungsansatz; 5. die linksideologisch-normative Sicht, die Petersen von vornherein in den Kontext von Antidemokratismus und Faschismus stellt. Jürgen Eierdanz: Wir wollen gehorchen lernen! Peter Petersen und der Jena-Plan, in: Demokratische Erziehung 13 (1987), Hf. 3, S. 16–21, Z. S. 16, 18. Eierdanz: Petersen (wie Anm. 13), S. 16. Dort, wo Petersen das Adjektiv „volklich“ benutzte, um es von „völkisch“ abzugrenzen, negierte Eierdanz diese Differenz und behauptete, die „völkische Gemeinschaft“ sei für Petersen „die höchste irdische Distanz“ (ebd., S. 18). Artikel 148, 1 WRV lautete: „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben.“ Petersen bezog sich in seiner Schulordnung ausdrücklich auf diesen Passus der WRV. „Im Geiste des Deutschen Volkstums“ war ein nationales Moment einer demokratischen Verfassung, die im Nationalsozialismus durch die alles „Nichtartgemäße“ exkludierende NSGesetzgebung ausgehöhlt wurde. Petersen benutzte ab 1933 „Volkstum“ und „Volksgemeinschaft“ als ideologisch problematische Brückenbegriffe, die jetzt suggerieren sollten, er habe mit ihnen schon vor 1933 dasselbe gemeint, wie das, was im NS-Staat darunter verstanden wurde. Vgl. Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens, Weinheim 2007, S. 355ff. Eierdanz: Petersen (wie Anm. 13), S. 18. Der Begriff „Volksgemeinschaft“ spielte ab 1919 im Sinne eines integrativen Verständnisses in allen demokratischen Parteien eine Rolle (vgl. Alice Salomon: Die deutsche Volksgemeinschaft. Wirtschaft, Staat, Soziales Leben. Eine Einführung, Leipzig 1922); in der SPD wird dies im „Görlitzer Programm“ (1921) deutlich. Das exklusivaggressive Verständnis von Volksgemeinschaft war im Rechtsextremismus schon vor 1918/1919

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fragwürdig, doch stilbildend für die gegenwärtige Petersen-Diskussion. Die Tatsache, dass Lagarde, Langbehn und Nietzsche als Vertreter der sogenannten „Kulturkritik“ in einer Aufzählung erwähnt wurden, ist gewiss kein Beleg dafür, dass sie für Petersen zentrale Bezugsgrößen völkischer Pädagogik darstellten, wie Eierdanz es geltend machte. Zweitens ist der Demokratiebegriff, den Eierdanz für die Weimarer Republik ohne Kenntnis ihrer Verfassung zugrunde legte, fragwürdig. Drittens stimmen die Relationen nicht, die Eierdanz setzte, denn jene Kräfte, die er als Gegner Petersens bezeichnete, arbeiteten mit ihm zusammen. Alle gegenteiligen Befunde, die seine These in Frage stellen, wurden von Eierdanz, der allein „gesellschaftskritische“ Reformpädagogen (entschiedene Schulreformer und Sozialisten) gelten ließ, von vornherein ausgeklammert. Das manipulative Moment im Aufsatz von Eierdanz bestand darin, dass zur Beweisführung der vertretenen These ein Foto Petersens von der Redaktion durch Retuschieren eines Schnurrbartes zu einem beeindruckenden Hitler-Bildnis umfunktioniert wurde. Mit Karikaturen die eigene Argumentation zu stärken und andere Auffassungen lächerlich zu machen, zeigt nur wessen (Un-) Geistes Kind der Autor ist. Von denen, die Eierdanz als Bestätigung eigener Gewissheiten zitierten, fiel niemandem auf, dass diese Art des „wissenschaftlichen“ Arbeitens die Basis totalitären Denkens ist. Karl-Heinz Heinemann Ein vergleichbares Beispiel bot 23 Jahre später ein Aufsatz mit dem Titel „Petersens Weg zu Hitler“ von Karl-Heinz Heinemann, veröffentlicht in der GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“ im November 2010.16 Der Beitrag war ein Loblied auf die Petersen-Interpretation Benjamin Ortmeyers in dessen 2009 erschienener Habilitationsschrift.17 Inhaltlich standen die Ausführungen Heinemanns dem Eierdanzschen Petersen-Aufsatz von 1987 nahe. Dazu wurde das Foto einer Schulklasse von Jungen gezeigt, die sich in fest verschraubten Schulbänken drängen. Der Text zum Bild lautete: „Pädagogik unterm Hakenkreuz: Die meisten Schulen standen unter nationalsozialistischem Einfluss, so auch die Jena-Plan-Modellschulen. In der Lehrer-Schüler-Beziehung spiegelte sich das Verhältnis von ‚Führer und Gefolgschaft‘

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präsent, das von den Verfassungsparteien in Anspruch genommene integrative Verständnis dominierte jedoch. In den Krisenzeiten der Republik veränderte sich dies. Vgl. Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003, S. 258–289. Völkische Utopien, wie sie sich im Umfeld des frühen Nationalsozialismus entwickelten, unterschieden sich in Sprache und Vorstellung sowohl von der bürgerlichen Volksgemeinschaft als auch vom sozialistischen Volksstaat. Vgl. Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1988, S. 113ff. Karl-Heinz Heinemann: Petersens Weg zu Hitler. Entzauberung eines reformpädagogischen Mythos’, in: Erziehung und Wissenschaft 62 (2010), Hf. 11, S. 22–23. Benjamin Ortmeyer: MYTHOS und PATHOS statt LOGOS und ETHOS. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim 2009. Ferner Benjamin Ortmeyer (Hg.): Peter Petersens Schriften und Artikel in der NS-Zeit. Dokumente 1933–1945, Frankfurt a.M. 2008.

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wider.“18 Es ist ganz offensichtlich, dass das Foto, das keine Quellenbezeichnung trägt, weder Petersens Schule in Jena zeigt, noch etwas mit dem Jenaplan zu tun hat. Im Jenaplan herrschte von Anfang an Koedukation; Schulbänke wurden zugunsten von Tischen und Stühlen abgeschafft. Es gab im NS-Staat auch keine „Jena-PlanModellschulen“.19 Das erwähnte Foto zum Aufsatz „Petersens Weg zu Hitler“ in der GEW-Zeitschrift macht einer Schulfabrik aus dem 19. Jahrhundert Ehre. Damit lässt sich der Lehrer als Führer und die Klasse als die Masse, die ihm Gefolgschaft leistet, veranschaulichen. Nur bedeutet der Begriff „Gefolgschaft“, der im Jenaplan keine Bedeutung hat, das „freie innere Kräftespiel der Gruppe“, dem sich Lehrerwissen und Lehrerautorität einfügen.20 Das Klassenfoto aus einer Schulkaserne dürfte die Leserschaft des GEW-Blattes dennoch als typisch für Jenaplan-Schulen angesehen haben; schließlich vertraute sie darauf, in einer Zeitschrift, die durch aktuelle Berichterstattung glänzt, sachgemäß informiert zu werden. Torsten Schwan Im Mai-/Juniheft 2010 der „Zeitschrift für Pädagogik“ veröffentlichte Schwan seinen Aufsatz mit dem Titel: „,Ich werde rücksichtslos gegen den Liberalismus, Demokratie und das Judentum schreiben und reden.‘ Zum Rassismus und Antisemitismus in der Jenaplan-Pädagogik nach 1933“.21 So sehr man Schwans wissenschaftliche Arbeiten in der Vergangenheit zu schätzen gewohnt war, bot dieser Beitrag Anlass zu einer Rückfrage an den Autor. Die Überschrift des Aufsatzes ist ein Zitat, ohne dass gesagt wird, von wem es stammt. „Natürlich von Petersen!“, dürfte die erste Reaktion 18

Erziehung und Wissenschaft 62 (2010), Hf. 11, S. 22. – Von „Führung und Gefolgschaft“ sprach der Nationalsozialist Herbert Sailer (1912–1944), 1935–39 Junglehrer bei Petersen, in seinem Aufsatz „Warum sehen wir im Jena-Plan eine Ausgangsform für die nationalsozialistische Bauernschule?“, in: Kind-Familie-Staat, 1 (1935), Hf. 6/7, S. 58–63, hier S. 61. 19 Das, was sich verschämt in Westfalen ab Herbst 1933 bis zum Verbot im Februar 1936 halten konnte, hieß heimatgebundener „Gruppenunterricht“ und ließ den aus Berlin angereisten Beobachter, Prof. Voigtländer, zu dem Schluss kommen, Petersens Pädagogik sei nicht nationalsozialistisch. Vielmehr sei es erforderlich, „die Gefahren abzuwenden, die sich aus dem unpolitischen und formalen Charakter der Jenaer Pädagogik ergeben können“. Retter: Petersen (wie Anm. 10), S. 289–293. 20 Peter Petersen: Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen Neuer Erziehung, Weimar 1930, S. 131f. 21 Torsten Schwan: „Ich werde rücksichtslos gegen den Liberalismus, Demokratie und das Judentum schreiben und reden.“ Zum Rassismus und Antisemitismus in der Jenaplan-Pädagogik nach 1933. Dietrich Benner zur Emeritierung am 31. März 2009 gewidmet, in: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010), S. 414–436. Schwan warf mir vor, ich hätte den Titel seines Aufsatzes falsch zitiert. Das ist lächerlich. Die Titelangabe seines Aufsatzes ist im Literaturverzeichnis meines Buches – Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 262 – korrekt wiedergegeben (ohne persönliche Widmung). Dort aber, wo es im Einführungstext darum ging darzustellen, was Petersen gesagt haben könnte (tatsächlich aber nicht sagte), habe ich zum Rassismus und Antisemitismus in der Pädagogik Petersens ab 1933 gesprochen, ohne dass Schwan namentlich Erwähnung findet (ebd., S. 14); dies geschieht erst im Literaturteil des Bandes. Die von Schwan als falsche Zitation bezeichnete Stelle (ebd., S. 14) ist Hervorhebung, die man ohne Bedeutungsverlust ebenso in Kursivdruck wiedergeben oder weglassen kann.

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der Leserin oder des Lesers sein, da der Untertitel des Beitrages von „JenaplanPädagogik“ spricht, den hinter dem Titelzitat erwarteten Namen „Petersen“ aber ausspart. Erst am Ende seiner Abhandlung informierte Schwan den Leser, dass die zum Titelzitat erhobene nazistische Aussage in einem Brief des Rumänen Nicolae Balca (1903–1983) an Petersens Assistenten Döpp-Vorwald am 22. März 1934 enthalten ist. Warum schrieb Torsten Schwan nicht hinter das Titelzitat in Klammern „Nicolae Balca“, der bei Petersen Anfang 1934 promovierte? Die Antwort ist einfach: Mit dem Namen Balca im Titel machte es keinen Sinn, den Rassismus Petersens zur Schau zu stellen. Es war ja Balca, der den Satz formuliert hatte – und er hatte ihn nicht an Petersen gerichtet. Zudem war Balca gar nicht mehr in Jena, als er ihn formulierte. Schwan versuchte nun einen Kompromiss. Er musste das Problem lösen, dass er einen Satz gefunden hatte, der schlimm war, den noch niemand kannte und der gut zu Petersen passte. Wie konnte man den Satz in Petersens Nähe bringen? Da die jüngste Petersen-Diskussion damit begann, dass alle von Ortmeyer frisch entdeckten rassistischen Sätze Petersens nur des Herumreichens bedurften, um Aufmerksamkeit zu wecken, war das ein toller Fund, mit dem Schwan zeigten konnte: Ich bin auch noch da! Nur stammte dieser Fund eben nicht von Petersen. Schwan sucht nun möglichst vollständig – durchweg Bekanntes – zusammen, nämlich: a) was heutige Erziehungswissenschaftler an Kritik über Petersen äußerten und b) was Petersen und seine Schüler an rassistischen Aussagen formuliert hatten. Schwan hätte ganz einfach im Titel „Balca“ als den Urheber des antisemitischen Zitates und im Untertitel etwa den „Petersen-Kreis“ mit Rassismus und Antisemitismus in Verbindung bringen können, dann wäre alles in Ordnung. Aber er wollte das namenlose Titelzitat auf Petersen münzen und setzte im Untertitel als Statthalter das ein, was Petersen am wichtigsten war: die Jenaplan-Pädagogik, die nun – anstelle von Petersen – mit Rassismus und Antisemitismus ausgestattet wird. Dies geschah, obwohl Schwan von der Person Balcas nur mitzuteilen wusste, was in den Briefen an Döpp-Vorwald stand. Über Balcas Werdegang schweigt sich Schwan aus, so dass Ortmeyer Balca einfach zu „einem der vielen [sic!] nazistischen Jenaplan-Pädagogen nach 1933“ erklärte.22 Ortmeyer dachte genau das, was Schwan dem Leser seines Aufsatzes nahelegte 22

Benjamin Ortmeyer: Zu den falschen Anschuldigungen gegen Torsten Schwan, in: Dokumente (wie Anm. 3), S. 207. Unklar ist, woher Ortmeyer sein Wissen über die „vielen [sic!]“ JenaplanPädagogen hat. Nicolae Balca aus Siebenbürgen war im März 1934 nach der Rückkehr in seine Heimat zu einem Bewunderer des Nationalsozialismus geworden – mit Äußerungen, wie dem von Schwan benutzten Titelzitat. Balca hatte nach der Jenaer Promotion in Rumänien eine Karriere als Religionspädagoge, Religionsphilosoph und Theologieprofessor vor sich, die bis weit in das sozialistische Rumänien der Nachkriegszeit reichte. 1970 wurde er pensioniert. Vgl. http://www. crestinortodox.ro/dictionarul-teologilor-romani/nicolae-balca-84543.html, zuletzt abgerufen am 12.3.2012. Balcas Auslandskontakte waren nicht auf Jena beschränkt, sondern betrafen auch Österreich und andere deutsche Universitäten. Anlässlich der 400-Jahrfeier der Universität Jena wurde Balcas Lob der Universität Jena „mit ihrer reichen Tradition“ unter der Rubrik „Sozialistisches Ausland“ festgehalten. (Vgl. Geschichte der Universität Jena 1548/58–1958, Bd. II, Jena 1962, S. 348.) Das von Schwan herausgestellte Briefzitat macht ebenso klar: Als einer der promovierten Vertreter der praktischen Theologie seiner Kirche in Sibiu/Herrmanstadt gab sich Nicolae Balca antidemokratisch (was auch antisozialistisch hieß) und bekundete deutlichen Antijudaismus. Ob er auch Rassist war, klärt Schwan nicht.

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zu glauben, ohne dass er selbst Balcas Identität näher beschrieb. Auf diese Weise wurde Ortmeyer das Opfer fehlender Information, die Schwan hätte geben müssen. Doch wer war Balca? Jedenfalls war er kein Jenaplan-Pädagoge. Er hatte sich (nach Volksschullehrerausbildung, Gymnasialbesuch und dem 1925 abgelegten Abitur) an der Theologischen Akademie „Andreiana“ in Hermannstadt/Sibiu als Mitglied der griechisch-katholischen Kirche Siebenbürgens theologischen Studien gewidmet. Gefördert von dem siebenbürgischen Metropoliten Nicolae Balan absolvierte er von 1929 bis 1933 ein Philosophiestudium in Jena, das er mit einer von Petersen begutachteten Dissertation abschloss.23 Dabei handelte es sich nicht um eine „konfessionelle“ Studie, wie Schwan schrieb (vielleicht meinte er „konventionelle“?), sondern um eine die Grenzen bekenntnisgebundenen Denkens weit überschreitende Arbeit, welche auf dem Boden der von Gogarten beeinflussten theologischen Anthropologie Petersens steht. Schwan ist weit entfernt davon, ihren theologischen Gehalt zu erfassen. Er verzichtete auf die Kenntnisnahme des Dissertationsgutachtens von Petersen, das nicht fehlenden Rassismus bemängelte, sondern eine von der orthodoxen Kirche geprägte Haltung Balcas, die es ihm erschwert habe, das lutherische „sola fide“ zu verstehen – in seiner ansonsten hervorragenden Studie. Aufhorchen lässt der Satz Schwans: „Jener Balca“ zeigte sich in seinen während der NS-Zeit geschriebenen Briefen als ein „leidenschaftlicher Anhänger der JenaplanPädagogik.“24 Anstatt dies zu belegen, nennt Schwan kein einziges Balca-Zitat mit Bezug zum Jenaplan. Wenn Schwan auch nur den geringsten Theorieanspruch hätte, müsste ihn die Frage interessieren, ob Balca, der ab 1936 auch Schulinspekteur für die religiöse Erziehung in Sibiu war, im Religionsunterricht seiner Denomination den Jenaplan praktizieren wollte. Doch Schwan lässt erkennen, dass ihm Biographie und Beruf Balcas unbekannt sind. In Annäherung an Ortmeyer hat Schwan mit diesem Aufsatz theoretische Ansprüche zugunsten der bloßen Präsentation von Rassismuszitaten aufgegeben, die aber wiederum zum Jenaplan oder zur Universitätsschule keinen Bezug haben. Schwan löst jenes Versprechen, es gehe in seinem Aufsatz 23

24

Petersens Gutachten findet sich im UAJ, Best. M 599, Bl. 12: Nicolae Balca: Die Bedeutung Gogartens und seines Kreises für die Pädagogik der Gegenwart, Weimar 1934. Die Arbeit erschien 1934 auch in einer Kurzfassung von 30 Seiten („Teildruck“), welcher ein Lebenslauf Balcas beigefügt ist, den Schwan offenbar nicht kennt. Denn Balca hatte sein Studium mit der "cum laude" bestandenen mündlichen Prüfung laut Promotionsregister am 13.1.1934 beendet, nicht aber, wie er fehlerhaft schrieb, am 13.1.1933. Das hätte Schwan auffallen müssen. Das vollständige Werk (115 Seiten) ist Band 9 der von Petersen herausgegebenen Reihe „Pädagogische Studien und Kritiken“. Balca bekannte sich hier (S. 106) als zugehörig zu der in Siebenbürgen ansässigen, mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche Rumäniens, die 1948 von der sozialistischen Staatsführung zwangsweise mit der rumänisch-orthodoxen Kirche vereinigt wurde. Balca betonte 1934 in seiner Dissertation (S. 69), dass die „Wirklichkeitspädagogik“ Gogartens bzw. Petersens sich mit der Erziehungslehre des Nationalsozialismus „berührt“, wobei er auf Ernst Krieck (Nationalpolitische Erziehung, Leipzig 1932) verwies. In der Tat bemühte sich Petersen ab 1932 mehrfach, seine geistige Nähe zu dem zum Nationalsozialisten mutierten Krieck auszuweisen, ohne dass dieser darauf erkennbar reagierte. Die von Balca (S. 9) zu Recht für Petersens Pädagogik als bedeutsam eingeschätzten Universitätstheologen Friedrich Delekat und Helmuth Schreiner wurden 1936/37 aufgrund ihrer bekenntnistreuen Einstellung vom NS-Staat ihrer Ämter enthoben. Schwan: Brief an Oberbürgermeister Albrecht Schröter, vom 28.10.2010, in: Dokumente (wie Anm. 3), S. 70.

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um den Rassismus in der Jenaplan-Pädagogik in keiner Weise ein. Rassistische Äußerungen setzte er zu vielerlei Personen und Sachverhalten in Beziehung, doch ausgerechnet nicht zur Jenaplan-Pädagogik. Der Jenaplan ist am Ende auch gar nicht gefragt.25 Denn Schwan kommt zu einem Ergebnis, das wiederum nicht die JenaplanPädagogik betrifft: „Antisemitismus war in Jena augenscheinlich alltäglicher, als das bisher angenommen worden ist.“26 Die Aussage bleibt völlig diffus, denn was „bisher angenommen“ wurde, sagt Schwan nicht, und welcher Autor kritischer Petersenstudien der letzten 15 Jahre hat nicht den Appell an das Ende der eigenen Ausführungen gesetzt, die heutigen Jenaplan-Pädagogen sollten sich mit dem ideologischen Erbe Petersens aus der NS-Zeit auseinandersetzen?27 Halten wir als Zwischenergebnis fest: Schwan hat einen bösen Satz im Titel seines Aufsatzes von einem Autor, den er nicht wirklich kennt, mit dem er aber Petersen, den Doktorvater des Zitatenspenders, ideologisch in Verbindung bringen möchte. Er verspricht im Untertitel den Antisemitismus und Rassismus in der Jenaplan-Pädagogik aufzuzeigen, ohne dies zu leisten.28 Denn die rassistischen Zitate Petersens, die Schwan in seinem Aufsatz präsentiert, betreffen NS-Ideologie, Geschichte und Weltanschauung. Die Rassismuszitate, die Schwan von Petersen oder seinen ehemaligen Doktoranden wiedergibt, enthalten den Begriff „Jenaplan“ nicht. Dennoch einen Bezug zum Jenaplan sehen zu wollen hieße, ihn zu konstruieren. Für die meisten der Doktoranden Petersens, die Schwan quasi alle in den Stand von Jenaplan-Pädagogen versetzt, existieren biographische Nachweise, wonach sie keine Jenaplan-Pädagogen waren. Für eine zweite Gruppe gehört guter Wille dazu, dies anzunehmen; für eine dritte Gruppe – Arno Förtsch, Robert Reigbert, Heinrich Döpp-Vorwald, Hans Mieskes, Christoph Carstensen – gilt, dass sie eine Zeit lang Assistenten bei Petersen waren. Zweifellos sind in einem Aufsatz von Förtsch und Reigbert, in der Publizistik von Döpp-Vorwald oder in der Dissertation von Carstensen völkisch-rassische Bezüge erkennbar. Doch im Vergleich zu den rassistischen Ausfällen Petersens in der Zeitschrift „Heimat und Arbeit“ ist der Rassismus in der Publizistik mancher seiner Mitarbeiter eher von minderem Gewicht und ohne erkennbaren Bezug zur Jenaplan-Pädagogik. Schwan legt seinen Bewertungen für Rassismus in der Jenaplan-Pädagogik nicht immer nachvollziehbare Beurteilungsmaßstäbe zugrunde, geschweige denn klare Definitionen. Richtig ist, dass kein anderer Universitätspädagoge im NS-Staat einen durch Mitgliedschaften in Gliederungen der NSDAP derart stark ausgewiesenen Schü25 26 27 28

Ebd., S. 431. Ebd. Retter: Protestantismus (wie Anm. 14), S. 872–874. Hier hätte sich angeboten, aus einer bei Wilhelm Flitner im „Dritten Reich“ geschriebenen Dissertation zu zitieren, die ausführlich auf die Schulpädagogik Petersens und den Jenaplan eingeht. Vgl. Caesar Hagener: Schule als gestaltete Lebenswelt des Kindes, Hamburg 1936, S. 64ff., passim. So macht Hageners Arbeit deutlich, dass im Jenaplan nicht der Rassismus, sondern der bruchlose Übergang vom volksbezogenen Denken in der Weimarer Republik zum völkischen Denken der NS-Diktatur ein unbewältigtes theoretisches Problem Petersens blieb. Neu ab 1933 sind die heute diskutierten rassistischen Äußerungen Petersens (die Hagener unbekannt waren). Deren exkludierender Tendenz zu folgen, hieße, gegen Schüler und Eltern mit jüdischem oder sozialistischem Hintergrund vorzugehen. Dies ereignete sich nicht in der Universitätsschule.

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lerkreis besaß wie Petersen. Dieses Faktum lässt im Sinne von Schwan die Hypothese zu, dass über die vorhandenen Lehrerberichte und die in vielen Forschungsarbeiten von Doktoranden festgehaltenen Kommunikationen eine rassistisch geprägte Schulwirklichkeit bei Petersen in Jena nachweisbar sei. Doch diese Behauptung bedarf der Prüfung, der Bestätigung oder der Zurückweisung. Schwan ist weit entfernt davon, sich auf die Prüfung von Hypothesen einzulassen. Für ihn ist die spätere Mitgliedschaft einiger Doktoranden Petersens in der SS ein untrügliches Zeichen für den in Theorie und Praxis der Jenaplan-Pädagogik vorherrschenden Rassismus. Gemessen an den rassistischen Texten Petersens ist die Vermutung, die Jenaplan-Pädagogik sei von vornherein oder durch Anpassung rassistisch rational. Dies könnte zutreffend sein. In der Tat: Sie könnte, das heißt, sie müsste überprüft und mit widersprechenden Sachverhalten konfrontiert werden. Petersens wichtigste Dissertationen zum Jenaplan in den dreißiger Jahren wurden in gemeinsamer Betreuung mit der in Schweden wirkenden Elsa Köhler zur empirischen Tatsachenforschung angefertigt – ohne Rassismus. Dort aber, wo vier Promovenden (Nichtpädagogen) mit nationalsozialistischen Dissertationsthemen von Schwan genannt wurden, beliebte es ihm, dem Leser die Fülle zu erwartender rassistischer Zitate zum Jenaplan vorzuenthalten (– die es dann wohl nicht gibt). Den Rassismus dieser vier Doktoranden gründete Schwan darauf, dass sie zur SS gingen beziehungsweise Karriere im NS-Staat machten. Um sie in gleicher Weise als Jenaplan-Kundige einzustufen war für Schwan hinreichend, dass sie bei Petersen promovierten. Selbst von Petersens Assistenten Döpp-Vorwald (NSDAP) präsentiert Schwan zwar NS-Bekenntnisse, doch kaum zum Rassismus. Dabei war Rassismus die Ideologie des „Dritten Reiches“. Wenn Petersen sich zum NS-Staat öffentlich bekannte – woran niemand zweifelt –, dann war das Auftauchen von Rassismus nichts Unerwartetes. Nach dem umfangreichen Erlass des Reichserziehungsministeriums „Vererbungslehre und Rassenkunde im Unterricht“ vom 15. Januar 1935 war es ausgeschlossen, in der öffentlichen Schule die „Rassenkunde“ im Unterricht unbeachtet zu lassen. Deshalb stellt sich in der Tat die Frage, wie in der Jenaer Universitätsschule mit dem politischen Pflichtthema umgegangen wurde. Wer dieser Frage mit theoretischem Anspruch nachgeht, analysiert Publikationsumstände und die Kontexte, in denen rassisch geprägte Aussagen auftreten. Schwan verweist demgegenüber auf Petersens persönliche Nähe zu Hans F.K. Günther und Theodor Scheffer. Das ist vielversprechend, doch eine Analyse findet nicht statt. Dass im Deutschen Reich ein amtierender Universitätspädagoge ab 1933 rassistische Auffassungen kritisierte, geschah selten. Dies unterschied Theodor Litt von Petersen. Gerade deshalb ist die Frage interessant, ob Petersens deutliche Anlehnung an den Rassisten Ernst Krieck und dessen Schüler ab 1932/33 zu einer rassistischen Begründung des Jenaplans führte. Gezeigt zu haben, dass der Jenaplan versuchsweise in der kriegswirtschaftlich relevanten Lehrlingsausbildung angewandt wurde, ist eine verdienstvolle Leistung Schwans früherer Tage.29 Die Frage seines Aufsatzes von 2010, ob dem ein rassistisches Konzept zu Grunde lag und die Praxis des Jenaplans im Alltag der Universitätsschule rassistisch war, beantwortete Schwan jedoch nicht. 29

Torsten Schwan: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1960, Braunschweig 2000, S. 93ff.

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Schwan erwähnt im Text und in den „gedruckten Quellen“ zum Rassismus der Jenaplan-Pädagogik eine Studie von Karl Gumpricht mit dem Titel: „Rassische Messungen an Schülern. Ein Stück aus der Arbeit des pädagogischen Seminars zu Jena.“ Hier ist in der Tat ein eindeutiger Bezug zwischen Rassismus und pädagogischer Praxis enthalten – bezogen auf Petersen wäre dies ein tragendes Beweisstück für rassistische Forschung an den Kindern, die ihm in seiner Schule anvertraut waren. Der kundige Leser stutzt allerdings beim Begriff „pädagogisches Seminar“ und fragt sich, ob damit wirklich die „Erziehungswissenschaftliche Anstalt“ Petersens gemeint ist. Wer sich den Text von gerade mal eineinhalb Seiten (!) besorgt, sieht sofort: Schwan, der wohl nur aus anderer Quelle abschrieb, jedenfalls den Aufsatz nicht kennt, gab den Untertitel unvollständig wieder; es muss richtig heißen: „[...] des pädagogischen Seminars am Gymnasium zu Jena“. Aufsatz und Autor (ein Studienreferendar am Jenaer Gymnasium) haben mit Petersen und der Universitätsschule nichts zu tun.30 Das theoretische Grundproblem, dem sich Schwan nicht stellt, ist: Der Jenaplan zielt auf Integration ab; Petersen will alle haben: Kinder von Juden und Nichtjuden, von Sozialisten und Kapitalisten, von Ausländern und ausländerfeindlichen Nationalsozialisten. Er hat in seiner Schule ab 1933 weiterhin Behinderte und Nichtbehinderte, Entwicklungsverzögerte und Hochintelligente. Es sind ja alles in ihren ursprünglichen Anlagen „gute Menschen“, mochte Petersen gedacht haben – oder was auch immer. Denn selbst vor den in Buchenwald 1944 internierten Norwegern schreckte Petersen nicht zurück, etwas über den Jenaplan zu erzählen. Das zeigt zugleich, dass seine Pädagogik dort zum Bestandteil des Rassismus der NS-Diktatur wurde, wo er sie zumindest konzeptionell tatsächlich – außerhalb seiner Schule – in den Dienst des NS-Regimes stellte. Der Jenaplan will Zusammenführung. Der NS-Rassismus zielte ab auf Trennung und Vernichtung aller unerwünschten „Elemente“. Wie löste Petersen das Problem, das er natürlich nicht wirklich lösen konnte? Er tat so, als ob es in seiner Schule den exkludierenden Alltag des NS-Systems nicht gäbe. Da stieß er an Grenzen, die aber die Kinder, auch die der bedrohten Familien, doch nur am Rande erfuhren. So gesehen war Petersens Schulwirklichkeit, wie es die 85-jährige, in den USA lebende Cornelia Cotton im Rückblick auf ihre eigene Erfahrung ausdrückte (siehe unten), ein „Paradies“ für Kinder – gerade auch im Vergleich zur nationalsozialistischen öffentlichen Schule. Als Forscher darf man skeptisch bleiben. Man muss aber auch bereit sein, diese Aussage zunächst zur Kenntnis zu nehmen und nachforschen, ob es nicht gegenteilige Auffassungen von „Ehemaligen“ gibt. Eine systematische Prüfung der Balancen, die Petersen einging, um die keineswegs gesicherte Position seiner Schule zu halten, müsste noch geleistet werden. Schwan leistet sie jedenfalls nicht. 30

Karl Gumpricht: Rassische Messungen an Schülern. Ein Stück aus der Arbeit des pädagogischen Seminars am Gymnasium zu Jena, in: Der Thüringer Erzieher 4 (1936), Hf. 2, S. 55–56; Schwan: Brief (wie Anm. 24), S. 70. Hier macht der Autor gleichsam nebenbei aus Gumpricht einen Doktoranden Petersens, was unzutreffend ist. Gumpricht promovierte 1935 in Jena im Fach Philosophie über „Das lebensphilosophische Denken des reifen Görres 1799–1808“ und war ab 1937 als Dozent für Deutsche Sprache an der HfL Cottbus tätig. Vgl. Alexander Hesse: Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926–1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933–1941), Weinheim 1995, S. 319–320.

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Wer sich ab 1933 öffentlich dem NS-Staat zuwandte und in dessen Ideologie eintauchte, wird sich vor der Geschichte von moralischer Belastung nicht freihalten können. Das gilt auch für Petersen. Dessen rassistische „Betrachtungen“ von 1940/41 machen ihn zur fragwürdigsten Gestalt der deutschen Reformpädagogik. Gleichzeitig existieren Personen, die nach eigener Aussage Petersen viel zu verdanken haben. Beides, die humane und die rassenideologische Seite Petersens im NS-Staat heute kritisch wahrzunehmen, löste bei den Befragten Unverständnis und Schmerz aus. Das war für sie nicht zu verstehen, und geht anderen auch so. Wird die menschenverachtende Ideologie, in der sich Petersen im NS-Regime bewegte, der eigenen Erfahrung gegenüber gestellt (was im Grunde unmöglich ist, aber die dichotome Struktur der Moral fordert), dominiert im Bewusstsein der Befragten das über Jahre hinweg erlebte humane Tun in der Petersenschule gegenüber dem inhumanen Wort in einer völkischen Zeitschrift, die niemand kennt. Dies war nicht ein mühsam der Erinnerung entrissener, unscharfer Eindruck, den ich wahrnahm, sondern ein lebensgeschichtlich verankertes, sofort präsentes Bekenntnis: „Wer wollte meine Erfahrung von Humanität in dieser Schule unter den Bedingungen der Diktatur außer Kraft setzen mit damals Geschriebenem, auch wenn das schrecklich und für mich nicht zu begreifen ist?“ Alles reine Ideologie? Vielleicht. Aber erlittenes Unrecht und Bedrohung sind keine Erfindung. Es sollte möglich sein, der Erfahrung der Betroffenen Ausdruck geben zu dürfen, ohne diskriminiert oder unter Verdacht gestellt zu werden. Über Petersen wird damit kein wissenschaftlich valides Urteil und schon gar nicht eines mit Endgültigkeitscharakter gefällt. Als Leser des Aufsatzes von Schwan will man vor allem wissen, was Petersen 1941 mit der Verpflichtung zu „rassischer Hochwertigkeit“31 genau meinte; hieß das: Jenaplan nur für „Arier“ – Juden raus? Das wäre nach „Polenaktion“ und Pogrom (Oktober/November 1938) nur konsequent. Oder wurde ihm der „SS-Lebensborn e.V.“ zum Vorbild? Oder handelte es sich vielleicht um den Aufguss des rassehygienischen Appells an die Kulturvölker, den genetischen Verfall zu verhindern, nachdem es in führenden Demokratien wie Amerika, Kanada, Schweiz schon vor 1933 gesetzliche Zwangssterilisation gab? Oder betete Petersen einfach nur das nach, was Rassetheoretiker des NS-Staates vordachten? Schwan klärt davon nichts auf. Er stellt lediglich vage Beziehungen zwischen Personen, Funktionen und Milieus her. Vorherrschend ist das inszenierte Erschrecken – Seht her, soviel Rassismus! –, das nicht kühle Differenzierung, sondern emotionale Entrüstung will. Nach den rassetheoretischen Grundlagen des Jenaplans zu fragen, setzt voraus, den heutigen Theoriestand von Rassentheorie und Rassenhygiene als Erziehungsideologie des NS-Regimes zu diskutieren. Das geschieht bei Schwan nicht. Es interessiert ihn schlicht nicht, dass Petersen in der „Volksgesundheit“ einen rassehygienisch relevanten Schlüsselbegriff fand, der in der 7./8. Auflage des Kleinen Jenaplans 1936 (bei gleichzeitiger Vermeidung des Wortes „Rassenhygiene“) wichtig wurde, da der Begriff „Volksgesundheit“ scheinbar nicht trennt.32 Petersen nährte die Illusion, damit die exkludierende Funktion des Rassebegriffs für die „artgemäße“, „blutbestimmte NS-Volksgemeinschaft“ vergessen 31 32

Peter Petersen: Es gibt rassische Hochwertigkeit. Sie verpflichtet!, in: Heimat und Arbeit. Monatshefte für pädagogische Politik 14 (1941), S. 38–41. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 232.

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zu machen. Er glaubte, er könne ohne moralisch und theoretisch Schaden zu nehmen, damit den sozial-integrativen Schulalltag der Universitätsschule weiterführen und die exkludierende Schärfe des NS-Rassebegriffs ausblenden. Tatsächlich befand er sich mitten im System und stützte es – wiederum auf seine Weise: Den Begriff „Rassenhygiene“ benutzte Petersen vor allem als strategisches Instrument, zum einen um die organische Verbindung von Kindergarten und Schule im Sinne der Fröbelschen Vermittlungsschule zu propagieren, zum andern um die Fürsorge für das „kranke Kind“ und für „den hilflosen oder doch stark behinderten Mitschüler“ als rassehygienisches Erfordernis umzudeuten. Die „erzieherische und sittliche Wirkung des ‚kranken‘ Kindes kann gar nicht überschätzt werden, aber ebensowenig die gesunde Kraft, die von solchem Helfen und Fürsorgen auf etwa gelähmte oder sonst wie aus Krankheit zurückgebliebene Kinder ausgeht.“33 So also sieht Petersens Deutung der „Rassenhygiene“ aus: Dem kranken Kind Zuwendung und dem behinderten Kind alle denkbare Unterstützung zu geben, ist oberstes Gebot. Ob man dies auf den Menschen oder auf die menschliche „Rasse“ bezieht, macht keinen Unterschied. Schwans Briefe von Balca aus dem Bundesarchiv sind durchaus von Interesse. Doch bedeutsam für ihn ist nur ein Satz Balcas, in dem er Liberalismus, Demokratie, Judentum verdammt und den Nationalsozialismus bewundert. Das Thema Jenaplan und Rassismus ist spannend, aber noch unerschlossen. Schwan aber meint, ich tue so, „als gäbe es keine antiliberalen, antidemokratischen und vor allem auch antisemitischen Aussagen von Petersen“.34 Weit gefehlt. Ich zitiere sie doch. Schwan entschuldigt sein grenzwertiges Vorgehen damit, dass es Aussagen von Petersen gäbe, die „in ihrer Konsequenz noch einmal deutlich über das verwendete Zitat hinausgehen“.35 Sage ich doch. Ebenso gilt: Angesichts der dünnen Theorielage des Aufsatzes von Schwan muss sich der Leser als Opfer einer Erwartungsfalle begreifen. Bleibt die Frage: Hätte Petersen nicht auch dieses Zitat aussprechen können? Er hätte, nur: Er hat nicht.

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34

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Peter Petersen: Familienhafte Erziehung in Kindergarten und Volksschule, in: Nachrichtendienst des deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 19 (1938), Hf. 6, S. 175–179, hier S. 176. – Zu Petersens Umdeutungen vgl. ferner Peter Petersen: Einführung, in: Irene Knoch/Sojamarie Mentz/Gertrud Stricker (Hg.): Kindergarten und Volksschule organisch verbunden, Weimar 1940, S. VII–XLV, hier S. XXXI. – Zum Stand der Forschung zur „Rassenhygiene“ im NS-Staat vgl. Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Mathias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin 2006. Schwan: Brief (wie Anm. 24), S. 71. – Ders.: Liberalismus (wie Anm. 21), S. 416 erwähnt als Beleg für Rassismus in der Jenaplan-Pädagogik die 1937 von Petersen begutachtete Dissertation von Prashila Devi, „Wandlungen in der Schulhygiene seit 1900“, die auch „Rassenhygiene“ thematisiert. Petersens Gutachten (UAJ, Best. M 602, Bl. 81r+v), belegt, worum es ihm (nach einem Wort Franz Schedes) geht: „Den Schulalltag gesund zu machen!“. Schwan gibt vor, die Arbeit zu kennen, deren Teil die Vita der Doktorandin enthält. Doch hatte er offenbar nur Ungeprüftes abgeschrieben, denn er ging davon aus, dass die Doktorandin Devi männlichen Geschlechts sei. Schwan: Brief (wie Anm. 24), S. 71.

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Benjamin Ortmeyer Eierdanz hatte in seinem Aufsatz die durch antisemitische Äußerungen bekannten Kulturkritiker Langbehn und Lagarde, ebenso auch Nietzsche als jene Vorbilder genannt, in deren „Nachfolge“ Petersens Jenaplan von Anfang an gestanden haben soll. Nur machte Eierdanz den Fehler, eine spätere Auflage des Kleinen Jenaplans, in welcher Lagarde, Langbehn und Nietzsche Erwähnung finden, der Erstauflage von 1927 zuzuordnen. Wie relevant ist dies für die Petersen-Interpretation? Petersen hat dem Zusatz später offenbar Bedeutung beigemessen. Bekanntlich legte er Wert darauf, den Eindruck zu erwecken, über die verschiedenen politischen Systeme hinweg immer dieselbe Meinung vertreten zu haben – was nicht zutraf. Könnte man ihm nicht schon 1927 eine Nähe zu Lagarde, Langbehn und Nietzsche unterstellen? Zweifellos, man könnte. Nur: Petersen hat dies 1927 in der Ausgangsschrift des Kleinen Jenaplans nicht gesagt. Dafür lassen sich Gründe finden. Der im Tagungsprogramm der Locarno-Konferenz als „The Jena Plan“ angekündigte Beitrag Petersens36 hätte bei den Zuhörern aus den USA und anderen Ländern für das innerdeutsche Thema „Kulturkritik“ kaum Verständnis voraussetzen können. Ohne seine Quelle zu nennen, schrieb Ortmeyer den erwähnten Hinweis auf Lagarde, Langbehn und Nietzsche aus dem Eierdanz-Aufsatz ab.37 Er übernahm damit dessen Fehler und vertrat in seinem Buch von 2009 die These, Petersen habe 1927 Lagarde und Langbehn in der Erstauflage des „Kleinen Jenaplans“ a1s seine völkischen Gewährsleute genannt.38 Doch das ist unzutreffend. Ortmeyers Beweisstück, der Jena-Plan sei antidemokratisch, bildet folgende Äußerung Petersens von 1935: Kennzeichnend für „das Schulleben nach dem Jenaplan von Anfang an“ (seit 1924) sei, „dass darin alles parlamentarische Wesen ausgeschaltet ist“.39 Ich setzte hinzu: Wie in der öffentlichen Schule, die in der Weimarer Republik kein „parlamentarisches Wesen“ kannte und auch heute kein Parlament ist. Petersen gründete mit der Universitätsschule eine Schulgemeinde, in der Eltern und Schüler sehr viel mehr Rechte der Mitbestimmung wahrnahmen als in 36 37

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Uwe-Karten Petersen: Der Jena-Plan. Die integrative Schulwirklichkeit im Bilde von Briefen und Dokumenten aus dem Nachlass Peter Petersens, Frankfurt a.M. 1991, S. 59. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 39ff. In der zweiten Auflage des Mythos-Buches korrigierte Ortmeyer den Fehler; sein freundlicher Dank freut mich. Das ganze Problem ist von kleiner Gestalt, und Ortmeyer arbeitet sonst durchaus genau. Meine eigene Fehlerquote ist vermutlich höher. Nicht Fehler, sondern Interpretationsansätze und -kontexte stellen das Problem dar. Ortmeyer: Mythos (wie Anm. 17), S. 130. Offener Brief von Benjamin Ortmeyer zur Absage der Peter Petersen Konferenz in Jena 2010, in: Dokumente (wie Anm. 3), S. 39–44, hier S. 43. Petersen gab 1935 einen Band heraus, in welchem die Projektmethode als Fundament demokratischer Erziehung gepriesen wurde. Dass es dabei um „Die Forderungen der Demokratie“ ging, machte bereits das Inhaltsverzeichnis deutlich. Petersens Nachwort, in dem er „democratization“ im Sinn von „Volksgemeinschaft“ den „Formen europäischer Demokratie“ gegenüber stellte (S. 207), konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die von demokratischem Bewusstsein durchdrungenen Beiträge des Bandes Sprengkraft besaßen und im Jahr der „Nürnberger Rassegesetzgebung“ ein Fremdkörper im NS-Staat bildeten. Vgl. John Dewey/William Heard Kilpatrick: Der Projekt-Plan. Grundlegung und Praxis (= Pädagogik des Auslands, Bd. 6), Weimar 1935; ferner Michael Knoll: Dewey, Kilpatrick und „progressive Erziehung“. Kritische Studien zur Projektpädagogik, Bad Heilbrunn 2011.

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der Regelschule. Gesagt hatte Petersen 1927 über die Jenaplan-Schule etwas völlig anderes, als das, was er 1935 behauptete; dies wiederum ließ Ortmeyer unerwähnt: „Sollten sich Schülerparlamente und Schülergerichte in ihr finden, so ist es nichts diese Schule bezeichnendes.“40 Eher könnte von basisdemokratischen, die Schulautonomie betonenden Vorstellungen in der Jenaer Universitätsschule gesprochen werden. Nicht auf Lagarde und Langbehn, wie Eierdanz und Ortmeyer fälschlicherweise behaupteten, sondern auf die „Lebensgemeinschaftsschule“ (an deren Begründung Fritz Karsen in Berlin maßgeblichen Anteil hatte), bezog Petersen sein Schulmodell bis zur vierten Auflage des „Kleinen Jenaplans“ 1932.41 Petersens Frau, Else (Müller-) Petersen, hatte bei Karsen hospitiert und den freien Mathematikunterricht in die Jenaer Universitätsschule eingeführt.42 Mike Niederstraßer In Jena führte die ganz unter dem Einfluss Ortmeyers stehende Gruppe der „GEWStudis“ unter Leitung von Mike Niederstraßer im November 2010 eine Plakat-Aktion mit ausgewählten Petersen-Zitaten durch. Unter der Überschrift „SA und SS als Vorbild“43 gab eines der Plakate eine Äußerung Petersens über „kameradschaftliche Gesinnung“ von „SA- und SS-Dienst“ wieder. Das Zitat entstammte einem Aufsatz von 1934, in dem Petersen wenige Sätze später ausführte, warum die Kinder der Universitätsschule nicht in Uniform zum Unterricht erscheinen44 und warum man in 40 41

Peter Petersen: Der Jena-Plan einer freien allgemeinen Volksschule, Langensalza 1927, S. 8. Zum Jenaplan als „Lebensgemeinschaftsschule“ vgl. ebd., S. 8; ferner in der 4. Aufl. des Kleinen Jenaplans 1932, S. 20. In der 5./6. Auflage 1934 (S. 21) fügte Petersen einen Hinweis auf Pestalozzi und Fröbel hinzu; Lagarde, Langbehn, Nietzsche sowie Hermann Lietz wurden erstmals namentlich erwähnt. Dass die Genannten zu den „Bahnbrechern und ersten Gestalten der Deutschen ‚Neuen Erziehung‘ gehören“, wird erst in die 7./8. Auflage 1936 eingefügt. Damit war die Endfassung der Aussage erreicht, die in den Nachkriegsauflagen erhalten blieb. Jene Wende „zur Nation und zu den Wurzeln des Deutschtums“ mit Verweis auf Pestalozzi, Herder, Jean Paul und Fröbel vollzog Petersen im Lehrbuch „Pädagogik“ 1932. Als Vertreter der „Bildungs- und Kulturkritik“ fanden hier Lotze, Eucken, Lagarde, Nietzsche und Langbehn Erwähnung. Die „Lebensgemeinschaftsschule“ aber wurde nun betont „deutsch“ verstanden. Sie habe die Aufgabe, den „organisch dem Gemeinwesen seines Volkes eingefügten, organisch in die Volksgemeinschaft hineingewachsenen jugendlichen Menschen zu erziehen“. Peter Petersen: Pädagogik, Berlin 1932, S. 12ff., hier S. 14. Die ökonomische und politische Krise beantwortete Petersen unter dem Einfluss der Theologie Friedrich Gogartens durchaus zeittypisch mit einem konservativen Ideal von „Volksgemeinschaft“, dessen ordungspolitische Problematik sich in der zweiten Auflage des Bandes, „Pädagogik der Gegenwart“ (1937), als Rechtfertigung des NS-Staates zeigte. Vgl. Retter: Protestantismus (wie Anm. 14), S. 249ff., 264ff. 42 Vgl. den Abschnitt „Rechnen und Mathematik“ von Else Müller-Petersen, in: Petersen: Schulleben (wie Anm. 20), S. 182–201; hier zu Fritz Karsen S. 185. 43 SA und SS als Vorbild, in: Dokumente (wie Anm. 3), S. 33. 44 Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die bereits vor der Zeit der Zwangsmitgliedschaft dem Jungvolk und der Hitler-Jugend bzw. dem BDM angehörten, war reichsweit bedeutend. Nach einer Statistik vom 23.8.1935 waren in Berlin 52% der Jungen und Mädchen gymnasialer Schulen Mitglied einer NS-Organisation. Vgl. Manfred Overesch: Einleitung, in: Wolfram Lietz/Manfred Overesch/Erich Kosthorst: Hitlers Kinder? Reifeprüfung 1939, 2 Bad Heilbrunn 1998, S. 34.

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der Universitätsschule vom vorgeschriebenen „Heil-Hitler-Gruß“ zu Beginn und Ende jeder Unterrichtsstunde absieht.45 Ein anderes Plakat gab eine Aussage Petersens wieder, in der er gegenüber „dem Juden“ seine Verachtung ausdrückte. Petersen machte sich damit in der Tat schuldig, im Nationalsozialismus als antisemitisch-rassistischer Erziehungswissenschaftler aufzutreten. Dem Forscher stellt sich die Frage: War er auch ein handelnder Täter im Sinne der NS-Ideologie? Hat er jüdische Eltern aus der Schulgemeinde oder Kinder aus „rassischen“ Gründen aus seiner Schule entfernt beziehungsweise ihre Aufnahme abgelehnt? Keineswegs! Zu gleicher Zeit, als er dies publizierte, nahm er Kinder auf, die in der Volksschule von nationalsozialistischen Lehrkräften diskriminiert wurden, sei es, dass die Lehrkraft das Kind demütigte, da es nicht dem „germanischen Rassetyp“ entsprach (wie am Beispiel der Lilo C.)46 oder es von der Lehrerin geschlagen wurde, wobei sie die Eltern des Kindes als „Kommunistenschweine“ bezeichnete (wie am Beispiel der Ellen S.).47 Hatte Petersen, der 1934 schon immer offen für „Hygiene, Eugenik, Rassenlehre und Erbwissenschaft“ sein wollte48 (wie Ortmeyer zutreffend zitierte), die behinderten Kinder seiner Schule, wie vom Schulrat Jena gefordert, an die Sonderschule, die in unmittelbarer Nachbarschaft der Petersenschule lag, ausgeliefert? Nein, im Gegenteil! Sie blieben in der Petersenschule, und Petersen nahm behinderte Kinder neu auf, so im November 1933.49 Ein Mädchen, das von der Volksschule an die Sonderschule übergeben werden sollte, wurde durch Petersen im letzten Augenblick dieser ihr behördlich zugedachten Bestimmung entzogen. Die durch infantile Cerebralparese (Littlesche Krankheit) schwerstbehinderte Johanna G. besuchte die Universitätsschule von 1934 bis 1942.50 Derartige Praxis entsprach offenbar Petersens Auffassung von „Eugenik“, denn 1935 bekräftigte er ein zweites Mal, dass er „offen [sei] für alle Forderungen der Hygiene und Eugenik, der Rassenlehre und der Erbwissenschaft“.51 Niederstraßer wollte mit der Plakataktion die Wahrheit über Petersen verkünden. Das hat sein Recht als politische Aktion, denn jeder Bürger darf Plakate hochhalten und damit auf eine Demo gehen. Petersens politische Fragwürdigkeiten müssen genannt werden. 45

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Dass Petersen bei offiziellen Anlässen der Grußvorschrift nachkam und in der Universitätsschule mehrere Möglichkeiten praktiziert wurden, die Vorschrift zu unterlaufen, kann belegt werden, widerspricht aber nicht dem Gesagten. Vgl. Peter Petersen: Bedeutung und Wert des PolitischSoldatischen für den deutschen Lehrer und unsere Schule. Eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung, in: Deutsches Bildungswesen 2 (1934), S. 1–17, hier S. 15f. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 143f. Ebd., S. 150f. Peter Petersen: Die Praxis der Schulen nach dem Jena-Plan, Weimar 1934, S. 3f. Die halb gelähmte 14-jährige Dorett, seit November 1933 in der Universitätsschule, verfügte nur über das rechnerische Können eines Kindes im vierten Schuljahr. Ein anderer Fall ist der des Karl-Heinz, der durch Encephalitis epidemica (Gehirnentzündung) jedes rechnerische Gedächtnis verloren hatte. Vgl. Petersen: Praxis (wie Anm. 48), S. 60. Ein Protokoll, das ein Ereignis „vor Ostern 1935“ im Kindergarten der Universitätsschule festhielt, lautet: „Hannele G., ein gelähmtes Kind der Untergruppe, sieht durch den Türspalt. Ingo läuft gleich zu ihr, stützt sie, stellt ihr einen Stuhl am Tisch zurecht“; zitiert nach: Gertrud Stricker: Kindergartenkinder als Schulanfänger, in: Knoch/Mentz/Stricker: Kindergarten (wie Anm. 33), S. 141–198, hier S. 149. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 169. Peter Petersen: Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jenaplanes im Lichte des Nationalsozialismus, in: Die Schule im nationalsozialistischen Staat 11 (1935), Hf. 6, S. 1–5, hier S. 3.

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Wissenschaftliche Wahrheitsfindung sieht allerdings anders aus. Niederstraßer scheute eine redliche Prüfung der Frage, ob seiner hochselektiven Zitatenmontage nicht andere Sachverhalte entgegenstehen. Die von ihm erzeugte moralische Polarisierung in politischer Absicht ist alles andere als ein Ausweis für das Vorhandensein einer pluralen Argumentationskultur. Denn Befunde, die die in Anspruch genommene Moral stören könnten, werden von denen, die diese Moral erzeugten, der öffentlichen Verachtung ausgesetzt. Ich wiederhole: Petersens rassistische Aussagen sind inakzeptabel, müssen genannt werden und können bei jedermann nur Distanzierung auslösen. Doch die Wahrheit im Fall Petersens ist schwerlich auf Plakaten präsentierbar. Sie ist komplex. Auf jedem der Plakate Niederstraßers stand nur ein vom Interpreten ausgesuchter Teil der Wahrheit. Die Teilwahrheit wurde zur Unwahrheit, da die entscheidende gegenteilige Hälfte der Aussage unterdrückt blieb. Ein Plakat mit der Aufschrift „Zur Schulgemeinde der Universitätsschule gehörten ab 1933 sozialistische Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, jüdische Mütter und Familien jüdischer Herkunft“ ist genauso richtig – mehr will das Buch über die Universitätsschule nicht aussagen. Wenn diese Wahrheit unterdrückt werden soll durch politischen Aktionismus – bitteschön. Im Vertrauen auf eine plurale Wissenschaftskultur in der liberalen Demokratie gehe ich davon aus, dass unspektakuläre, doch nachprüfbare wissenschaftliche Erkenntnisse auf die Dauer größeres Gewicht haben. Aber das wird der weitere Gang der Geschichte zeigen. Die Petersen-Kontroverse – kein Gewinnspiel War Petersen ein „Nazi-Pädagoge“, seine Schule eine „Nazi-Schule“, oder war Petersen ein Pädagoge, der viele Kinder seiner Schule vor Diskriminierung und Gewalt des NS-Regimes schützte? Wer glaubt, diese Frage in der einen oder in der anderen Richtung beantworten zu können, ohne die zu Grunde gelegten Kriterien für sein Urteil selbstkritisch zu diskutieren, begeht als Wissenschaftler einen methodischen Fehler. Viele Sachverhalte in der Petersen-Diskussion sprechen dafür, jedes apodiktisch formulierte Urteil zu meiden. Drei – bereits zum Petersen-Podium 2009 vorgestellte – Thesen scheinen mir wichtig für die Fortsetzung der Diskussion: 1. Die Jenaer Universitätsschule war ein Kind der Weimarer Republik und beinhaltete – unter Zugrundelegung des damals selbst in den drei Verfassungsparteien nur schwach entwickelten Verständnisses für die liberale Demokratie –52 ein demokratisches, nach Artikel 148 WRV als „verbindlich für ihre Arbeit“ 52

Die Verfassungslehren der als Juden ab 1933 vom Nationalsozialismus bedrohten Gerhard Leibholz und Hermann Heller (sowie die „Integrationslehre“ des Staatsrechtslehrers und evangelischen Kirchenhistorikers Rudolf Smend) belegen, dass gemeinschafts- und volksbezogene Positionen, die in der Weimarer Republik von Demokraten vertreten wurden, nicht als Prädiktoren für spätere NS-Hörigkeit taugen. Eine liberale Demokratietheorie, wie sie heute existiert, war in der Weimarer Republik Mangelware. Weder die geistigen Erben Max Webers noch sozialistische Theoretiker hatten dazu Ansätze entwickelt. Vgl. Retter: Protestantismus (wie Anm. 14), S. 777ff.

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bestimmtes Schulkonzept53 auf der Grundlage der „Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschulen“.54 2. Es sollte heute nicht der Eindruck aufkommen, dass diejenigen, die als Kinder, Lehrer, Eltern unter dem Nationalsozialismus gelitten haben, Menschen zweiter Klasse gewesen seien, oder dass es NS-Verfolgte bei Jenaplananhängern nicht gegeben habe oder dass die heutigen Jenaplan-Lehrer die geistigen Erben der NS-Pädagogik seien. 3. Petersen war ein Erziehungswissenschaftler mit ambivalenten Zügen, der von NS-Gewalt bedrohten Familien durch seine Schule Schutz bot.55 Die Frage stellt sich, ob die rassistischen Texte Petersens im Urteil der Geschichte größeres Gewicht haben als die Berichte ehemaliger Absolventen der Universitätsschule Jena, die ihre Schulzeit in der NS-Zeit als human und ihre Schule als Ort des Schutzes empfanden, während ihre Familie vom NS-Regime bedroht, verfolgt oder entrechtet wurde. Diese Frage endgültig zu beantworten ist weder Anliegen meines Buches noch dieses Beitrages. Ich halte es für zu früh, darüber Verbindliches sagen zu können. Es genügt, den Befund einfach neben andere Befunde zu stellen, ohne Übereinstimmung zu suchen. Niemand, der von dieser Frage wirklich betroffen ist, vermag das moralische Dilemma aufzuheben, das der Versuch einer sachgerechten Bewertung Petersens und seines Werkes sichtbar macht. Nur muss erlaubt sein, das Problem beim Namen zu nennen. Wer jede Dilemma-Situation bestreitet durch Verkünden einer als unantastbar hingestellten Wahrheit, anstatt moralisch festgefügte Urteile auf den Prüfstand zu stellen, ersetzt wissenschaftliche Diskursfähigkeit, die bereit ist, Zweifel zuzulassen, durch eine ideologisch verhärtete Sicht. Die erziehungswissenschaftliche Würdigung Peter Petersens als einer historischen Person, die durch die Jenaplanschulen bis in die Gegenwart hineinwirkt, ist kein Gewinnspiel, sondern birgt für diejenigen, die sich mit ihr als Forscher beschäftigen, das Risiko schmerzhafter Verluste. Sie ist aber auch kein Nullsummenspiel, das per definitionem nur Sieger und Verlierer hat, sondern führt in Paradoxien, welche der Sozialwissenschaftler aus der Figur des Gefangenen-Dilemmas kennt.56 Die Petersen-Kritik widersprach zu Recht jenem Petersen-Bild, das die akademische 53

Petersen: Schulleben (wie Anm. 20), S. 202. Obwohl die linkssozialistische Regierung Frölich und die „Ära Greil“ in Thüringen im November 1923 endeten, vertrat Petersen bis 1936 Positionen des von Greil initiierten und von späteren Regierungen wieder zurückgenommenen „Thüringischen Schulgesetzes“ von 1922. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der akademischen Lehrerbildung. Vgl. Retter: Rekonstruktion (wie Anm. 11), S. 115–120. Siehe ferner Josef Schwarz: Die linkssozialistische Regierung Frölich in Thüringen 1923. Hoffnung und Scheitern, Schkeuditz 2000. 54 Peter Petersen/Hans Wolff (Hg.): Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Arbeits- und Lebensgemeinschaftsschulen, Weimar 1925; Peter Petersen: 10 Jahre Lebensgemeinschaftsschule (1919–1929), in: Die Volksschule 25 (1929), S. 129–139, 177–189. 55 Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 110ff. 56 Die optimale Strategie beim iterativ gespielten Gefangenen-Dilemma mit einer großen Zahl von Jeder-gegen-jeden-Spielen ist, wie Computer-Simulationen zeigten, dem Gegenspieler im ersten Spiel Kooperationsbereitschaft mit beiderseits mittelhoher Gewinnerwartung anzubieten; wird

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Schülerschaft von ihrem Lehrer zeichnete. Dort, wo die Petersen-Kritik zu einer totalitären Sicht gelangt, die keinen Widerspruch duldet, ist sie selbst kritikwürdig – wie Petersen selbst. Denn seine Beteuerungen, er habe – über die Zeiten hinweg – in seiner Publizistik immer nur dieselbe Position einer humanen Reformpädagogik vertreten, ist widerlegbar. Schüler Petersens wie Heinrich Döpp-Vorwald, Hans Mieskes, Theo Dietrich und Ingeborg Maschmann trugen als Hochschullehrer an bundesdeutschen Universitäten nach seinem Tod die Beteuerungen ihres akademischen Lehrers weiter, ohne sie durch kritische Forschung auf den Prüfstand zu stellen.57 Vermutlich konnten sie das nicht leisten, weil ihre eigene Biographie zu sehr in die NS-Zeit hineinreichte. Der Lebenszusammenhang war zu eng. Da dominierte in der autobiographischen Darstellung des eigenen Berufslebens in erster Linie das Bemühen um Abwehr, mit der NS-Ideologie jemals zu tun gehabt zu haben, nicht aber das Bemühen, die fragwürdigen Verwicklungen aufzuzeigen, in die man als junger Mensch in dieses Unrechtsystem selbst eingebunden war – ganz zu schweigen von Petersen selbst, der allen seinen Mitarbeitern nach 1945 half, sie von Berührungen mit dem NS-Staat durch entsprechende Gutachten zu entlasten. Dennoch muss der Forscher in der Lage sein, zumindest nach einigem zeitlichen Abstand bisherige Sichtweisen zu prüfen, wenn gegenteilige Sachverhalte zu ihrer Revision auffordern. Dazu Anlass bot schon die Petersen-Diskussion der 1990er Jahre. Nach einer Auseinandersetzung mit Theo Dietrich in der Zeitschrift „Kinderleben“ brachte ich 1998 als damaliges Mitglied des Landesverbandes Niedersachsen der Gesellschaft für Jenaplanpädagogik in Deutschland e.V. auf der Mitgliederversammlung in Aurich eine Diskussion in Gang, deren Ergebnis eine „Erklärung“ war. Der Vorsitzende, Hans-Peter Schröder (Aurich), veröffentlichte sie im Vereinsorgan der Zeitschrift „Kinderleben“. Darin hieß es: „Dietrichs Unterstellung, Hein Retter würde Peter Petersen politische Belastungen ‚andichten‘, ist mit Entschiedenheit zu missbilligen, weil Dietrich damit nicht die Argumente Retters trifft, sondern dessen Redlichkeit als Wissenschaftler in Zweifel zu ziehen sucht. [. . . ] Wir haben Grund, uns insbesondere von jenen Aussagen Petersens oder seiner Schüler der Jahre 1933–45 zu distanzieren, die einen deutlichen Bezug zum Nationalsozialismus erkennen lassen.“

Durch die seit Oktober 2010 gegen mich erhobenen Vorwürfe, die das Erscheinen meines Buches über die Universitätsschule Jena im Nationalsozialismus auslöste,58 sehe ich mich in der gleichen Situation wie 1998. Die Vorwürfe kommen jetzt nur von der anderen Seite. sie vom Gegenspieler missbraucht (weil der Missbrauch per definitionem einen noch höheren Gewinnwert als die Kooperation erzielt), resultiert daraus in Folgespielen mit demselben Gegner Kooperationsverweigerung zum eigenen Schutz, die allerdings für beide Spieler kaum Gewinn bringt. Vgl. Robert Axelrod: Die Evolution der Kooperation, München 2005. 57 Hans Mieskes (Hg.): Jenaplan – Anruf und Antwort, Oberursel 1965; Heinrich Döpp-Vorwald: Die Erziehungslehre Peter Petersens, Wuppertal 1969; Theo Dietrich: Die Pädagogik Peter Petersens. Der Jenaplan – Beispiel einer humanen Schule, Bad Heilbrunn 1995; Ingeborg Maschmann: Hamburg – Jena – Lüneburg. 1921 bis 1950. Meine pädagogische Lebensreise im „Zeitalter der Extreme“, Norderstedt 2010. 58 Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2).

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TEIL II: SOZIALISTEN UND „HALBJUDEN“ BEI PETERSEN „Jüdische Kinder“ Die oben genannten akademischen Schüler Petersens haben im Sinne einer Mitwirkung durch Unterlassung der Aufdeckung problematischer Verhaltensweisen Petersens Anteil an der Ausbildung jener moralischen Fallgrube, die die JenaplanPädagogik für die große Mehrzahl deutschsprachiger Erziehungswissenschaftler zu einem unbegehbaren Terrain werden ließ. Kritik wird allerdings ebenso fragwürdig, wenn sie sich selbst der Diskutierbarkeit entzieht, indem sie nur noch eine moralische, personbezogene Qualität hat. Diese Position gewinnt ihr Urteil nicht aus einem Widersprüche aufdeckenden hermeneutischen Prinzip, sondern aus moralischen Zuweisungen. Am Ausgangspunkt der jüngsten Petersen-Debatte steht die Einstufung Petersens als „Kollaborateur“, „Nazi“, „Rassist“ und „Antisemit“. Das zu tun, bleibt jedem freigestellt und ist bis zu einem gewissen Grad auch nachvollziehbar. Doch Forschung hat man damit nicht geleistet. Die Inszenierung moralischer Entrüstung setzt gleichzeitig rationale Argumentation außer Kraft, die Sachfragen zu stellen und sich in Opposition zu sich selbst zu bringen vermag. Weder emotionale Bindung noch geäußerte Abscheu vermag Selbstwidersprüche aufzudecken. Der Autor, bei dem ich die normative Voreinstellung gegenüber einer historischen Aufgabe besonders deutlich wahrnehme, ist Benjamin Ortmeyer mit seiner im Sommer 2009 erschienenen Habilitationsschrift.59 Ortmeyer kommt das Verdienst zu, dass er in zwei von der Petersen-Forschung bisher kaum wahrgenommenen Zeitschriften rassistische Aussagen Petersens entdeckte, die abstoßend sind. Von daher besteht Grund, Petersens Rolle im „Dritten Reich“ weitaus kritischer zu betrachten, als dies bislang geschah. Die GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“ mit dem Artikel „Braune Schatten über Jena“ (Hf. 3/2011, S. 34) und die Ostthüringer Zeitung (OTZ) mit dem Lokalredakteur Frank Döbert sorgten in der Hochzeit der Jenaer Petersen-Kontroverse von November 2010 bis März 2011 für eine Berichterstattung, die schwerlich neutral zu nennen war, vielmehr auf den Spuren Schwans, Ortmeyers und Niederstraßers wandelte.60 Aus der Überschrift eines Buchabschnittes – die den Begriff „jüdisch“ 59 60

Ortmeyer: Mythos (wie Anm. 17). Vgl. mehrere OTZ-Artikel, in: Dokumente (wie Anm. 3), S. 22–26. Nachdem ich auf dem Petersen-Workshop in meinem Vortrag auf die politische Belastung Petersens und die moralischen Verlustpositionen in der Petersen-Debatte verwies, „entlarvte“ Frank Döbert in der OTZ am 5.11.2010 meine Aussagen als „vermeintlich Generalabsolution versprechende Thesen“ pro Petersen. Mein Buch über die Universitätsschule sei „fast euphorisch gefeiert“ worden. Nichts entsprach der Wahrheit. Der Verdacht des Lokalredakteurs, dass meine Argumente „kritischer Betrachtung“ nicht standhalten, stimmte: Denn jenen totalitären Sprachmustern der Berichterstattung und den Plakat-Aktionen der örtlichen GEW-Studis war mit rationaler Argumentation nicht zu begegnen. – Höhepunkt dieser Seilschaft der Biedermänner war das Interview, das Frank Döbert dem „Fachmann Dr. Torsten Schwan“ in der OTZ am 13.12.2010 einräumte. Dieser durfte darlegen, warum „das von der Stadt finanzierte Buch von Hein Retter“ im Kapitel über jüdische Kinder „grundsätzlich falsch” sei. Schwan durfte dann auch noch in dem inszenierten Rollenspiel die an eine Groteske grenzende Ungeheuerlichkeit vom Stapel lassen, ich behaupte, „Sauckel hätte den Holocaust nicht befürwortet“. Hier wurde von der OTZ jede journalistische

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summarisch enthält – leitet Schwan den Vorwurf ab, von mir seien „jüdische Kinder an Petersens Schule während der NS-Zeit“ erfunden worden. Retter „instrumentalisiert schamlos das Leid der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit“ – so Torsten Schwan einmal mehr in der GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“.61 Wer hier instrumentalisiert, möge in aller Ruhe die Leserschaft entscheiden. Die im Nationalsozialismus bedrohten Familien, die im Band über die Universitätsschule dokumentiert sind, waren jüdischer, sozialdemokratischer und kommunistischer Herkunft. Betroffen waren ferner Familien mit einem behinderten Kind sowie spezifisch religiöse Familien, deren Kinder die Universitätsschule besuchten. Für den publizistischen Angriff suchten sich die Akteure nur das aus, was sie am leichtesten kritisieren konnten, nämlich Fälle, die ich unter der zusammenfassenden Abschnittsüberschrift „jüdische Kinder“ beschrieb. Sie taten so, als ob ich ein ganzes Buch nur über jüdische beziehungsweise „jüdischstämmige“ Kinder geschrieben hätte.62 Was ein solches Vorgehen überhaupt noch mit Wissenschaft oder Analyse zu tun hat, bleibt unklar. Bezogen auf die jüdischen Kinder lautete das Argument meiner Kritiker: Die betreffenden Schülerinnen und Schüler (beziehungsweise deren Eltern) seien als überwiegend nur „Halb- oder Vierteljuden“ im NS -Staat keiner echten Bedrohung ausgesetzt gewesen. Falls sie die Universitätsschule als Ort des Schutzes im NS-Staat in dankbarer Erinnerung haben, sind sie aus diesem Blickwinkel betrachtet keineswegs Opfer des Nationalsozialismus, sondern ungefährdete Mitläufer des Systems, da Petersen – nach Ortmeyer, Schwan, Niederstraßer – „Nazi“ war. Daraus wurde dann: Weil Petersen „Nazi“ war, existierte keine Bedrohung für die Kinder seiner Schule, egal was die Betroffenen oder Akten – soweit vorhanden – dazu aussagen. Im Band über die Universitätsschule wird der Begriff „jüdisch“ von mir nach dem Vorbild des „Jenaer Arbeitskreises Judentum“ als zusammenfassender Leitbegriff für jüdische Kinder und Erwachsene einschließlich Personen jüdischer Herkunft gebraucht.63 Kein ernsthaftes sachliches Problem ist der von Schwan und Ortmeyer Sorgfaltspflicht missachtet, dem beschuldigten Wissenschaftler sowie den im Buch zu Worte kommenden Personen wenigstens eine Stellungnahme zu diesem Schwachsinn einzuräumen. Weil diese Personen zwar diskriminiert wurden, aber keine „Volljuden“ waren, durften sie das nicht. Vor allem mied Döbert, Jenaer Opfern des Nationalsozialismus bzw. deren Kindern als den von mir Befragten eine Chance zur Äußerung zu geben. 61 Schwan: Vertuschen (wie Anm. 5). – Zu den Unterstellungen, die Schwan aus der Formulierung „Kinder aus jüdischen Familien“ konstruiert, vgl. ders.: Universitätsschule (wie Anm. 3), S. 157. 62 Berechtigt ist die Frage, ob die Angaben zu den Widerstandsgruppen Jenas, auf die ich mich bei der Beschreibung sozialistischer Familien in der Universitätsschule stütze – im Wesentlichen übernehme ich Interpretationen von Heinz Grün –, so zutreffen, wie sie dort dargestellt sind. Vielleicht war der Widerstand gegenüber dem NS-Regime geringer, als ihn Grün darstellte – oder stärker, weil es Gruppen gegeben haben könnte, die von ihm nicht erfasst wurden. So nachzufragen ist legitim. Mir erschien die Darstellung von Grün (der nicht mehr ansprechbar ist) glaubhaft und umfassend, wenn auch sehr gerafft, was die Darstellung der Einzelschicksale anbelangt. Vgl. Grün: Bürger (wie Anm. 1). 63 Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1). Dementsprechend auch Schulz: Verfolgung (wie Anm. 7), S. 139–146, hier Überschrift S. 139: „Jüdische Bürger Jenas 1933 bis 1945 und ihr Schicksal.“ In der Liste werden 173 Einzelschicksale von „Juden“ und „Mischlingen“ sowie die Schließung

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erhobene Vorwurf, ich dürfe nicht von „jüdischen Kindern“ sprechen, wenn sie nach NS-Rassegesetzen nur „halbjüdisch“ oder „vierteljüdisch“ waren. Falls es den Kritikern nur um die Erfüllung einer Leser-Erwartung geht, ist zur Ausräumung jeder Fehlinterpretation möglich, einen gesonderten Hinweis zu geben, dass der Terminus „jüdisch“ im Band „Universitätsschule“ aus einsichtigen Gründen so benutzt wurde, wie dies geschah. Aus Respekt vor der Identifikation mit dem Judentum benutze ich den Leitbegriff „jüdisch“ in der erzählenden Wiedergabe von Schicksalen dort, wo dies im Sinne der Betroffenen angemessen erscheint. Ortmeyers Hauptvorwurf lautet, „das ganze System, die historische Einmaligkeit des NS-Regimes“ werde im Band „Universitätsschule“ „NICHT sichtbar“. Ortmeyer nennt den Maßstab: „Zur Vernichtung bestimmt und vernichtet wurden die jüdischen Kinder. [. . . ] Gibt es auch nur einen einzigen Hinweis oder gar Beweis, dass der NS-Kollaborateur Peter Petersen DIESEN von Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor, Chelmno, von den Gaskammern und der Ermordung bedrohten Kindern geholfen hat?“64

Zu unterstellen, dass dies behauptet oder auch nur der Eindruck erweckt wird, kann nur jemand, der in vollem Bewusstsein seines Tuns Intention und Selbstanspruch des Buches negiert. „Die reißerische Aufmachung ‚Zufluchtsort‘ verschleiert diesen Unterschied und lässt die im Einzelnen bei genauerer Quellenlage zu betrachtenden Hilfshandlungen in einem Licht erscheinen, als habe Petersen Kinder vor der Gaskammer gerettet.“65 Ortmeyer verbietet praktisch Mitbürgern jüdischer Herkunft, welche die Universitätsschule als Ort des Schutzes ansahen, dies zu empfinden. Das Problem, das Ortmeyer anspricht, ist klar, umso deutlicher muss man seinen Standpunkt zurückweisen. Wer von der Demütigung und Verfolgung durch das NS-Regime berichtet und dem die Erfahrung in der Petersenschule gegenüberstellt, der entwertet nicht das Leid anderer und relativiert auch nicht Auschwitz, zumal Gitta R., die Mutter einer Absolventin der Universitätsschule, in Auschwitz ermordet wurde. Doch dafür die Demütigungen von Ortmeyer und anderen zu erfahren, das ist bitter, denn die Betroffenen können sich nicht gegen die lautstarken Rhetoriker zur Wehr setzen – und die Gesellschaft schaut zu. Die Unredlichkeit der Argumentation von Schwan und Ortmeyer besteht darin, dass sie das Buch von vornherein schlecht machen, nicht trennen zwischen möglicher Kritik der gewählten Begrifflichkeit und den Erfahrungen Betroffener innerhalb und außerhalb der Universitätsschule. Mit einem billigen Vorwand wurden in der Kampagne gegen das Buch die Schicksale der kommunistischen und sozialdemokratischen Eltern im Jenaer Widerstand ausgeklammert, deren Kinder Petersen (soweit diese noch als Zeitzeugen ansprechbar waren) ebenso dankbar sind. Sie bildeten den Ausgangspunkt der Studie. Wenn ein wegen „Wehrkraftzersetzung“ verhafteter sozialistischer Widerstandskämpfer nach jüdischem Ritus lebte, dann war er nach Schwan und Ortmeyer „eben kein Jude“, war kein Fall für die „Rassengesetze“, die Familie nicht in Gefahr, nicht dem Terror des Regimes ausgesetzt, obwohl Franz R. im April 1945 völlig gebrochen aus der Haft

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aufgeführt. Ortmeyer: Brief (wie Anm. 39), S. 42. Ebd., S. 42.

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kam.66 Einfach unfassbar, was Schwan Menschen, die heute in Jena leben, zufügte – es waren eben keine „Volljuden“! Die Bezeichnung der Universitätsschule als Ort des „Schutzes“ und der „Zuflucht“ resultiert aus dem Erleben Betroffener während ihrer Schulzeit unter dem NS-Regime, in der die Eltern rassisch oder politisch Verfolgte waren, doch auch die Kinder selbst sich der Diskriminierung in der Öffentlichkeit ausgesetzt sahen, andererseits in der Petersenschule eigener Bekundung zufolge eine Stätte humanen Umgangs miteinander erlebten. Außerhalb der Schule herrschte Angst vor Diskriminierung und Schlimmerem. Alles in allem scheiden sich damit klar die Positionen zwischen mir und den Gegnern des Buches „Die Universitätsschule Jena“. Ortmeyers These, von „Zufluchtsort“ dürfe nur gesprochen werden, wenn dieser Ort die Ermordung von Kindern verhindert habe, hat keine hinreichende moralische Legitimation. Die im Naziregime Ermordeten dürfen nicht gegen diejenigen ausgespielt werden, die von dem Massenmord verschont blieben, aber Verfolgte, Diskriminierte oder aktive Gegner des NS-Regimes waren. In Jena konnte man im November 2010 durch die Plakat-Aktionen der „GEWStudis“ unter Leitung von Mike Niederstraßer, durch die Berichterstattung in der Ostthüringer Zeitung und ab Februar 2011 durch den von der GEW Thüringen (und der GEW-Kreisstelle Jena) herausgegebenen Dokumentationsband67 den Eindruck gewinnen, dass genau dies geschah: die Beschädigung der Erinnerung von ehemaligen Schülern der Universitätsschule, deren Eltern im Nationalsozialismus litten oder Gegner des Systems waren – ein Vorgang, der beispiellos ist, völlig unabhängig von der in Jena geführten Debatte über einen bis dahin nicht beachteten, 1991 nach Peter Petersen benannten Platz. Er wurde inzwischen in „Jenaplan“ umbenannt. Mir geht es in meinem Buch um die konkrete Gefährdung eines Kindes oder einer Familie der Universitätsschule im NS-Staat, wie dies Betroffene in Erinnerungsberichten oder wie es Dokumente von Fällen Betroffener zum Ausdruck bringen. Ich halte es für völlig inakzeptabel, die Deportation, den Tod oder auch nur erlittene Diskriminierung eines Elternteils, den ein „halbjüdisches“ Kind miterlebte, als nicht ganz so schrecklich hinzustellen angesichts des Faktums, dass in vielen Fällen beide Eltern und die ganze Familie im Konzentrations- oder Vernichtungslager umgebracht wurden. Zu welchen gedanklichen Höhenflügen diese Auseinandersetzung führte, macht der Vorwurf der „GEW-Studis“ klar, für die „Mär der geretteten ,jüdischen Kinder‘“ 66

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Wie Materialien des Heinz-Grün-Archivs (RLS Thüringen) ausweisen, war Franz R. mit dem gleichgesinnten Freund Fritz Grebe (nicht verwandt mit Hildegard Grebe), der 1938 vom Volksgerichtshof in Berlin zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, Mitglied im illegalen „Internationalen Sozialistischen Kampfbund“. Als ISK-Bezirksleiter für Berlin, Sachsen und Thüringen fungierte der jüdische Pädagoge Julius Philippson (*1894, 1943 in Auschwitz ermordet); vgl. Werner Link: Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK), Meisenheim 1964, S. 198; Grün: Bürger (wie Anm. 1), S. 56. Eine Beziehung zu Philippson schon vor 1933 ist denkbar, aber nicht belegt. Meine Versuche, das Schicksal des Widerstandskämpfers Franz Reitmeier (1904–1996) aufzuklären, nennt Schwan „kritik- und augenscheinlich auch gedankenlos“. Vgl. Schwan: Universitätsschule (wie Anm. 3), S. 153. Dokumente (wie Anm. 3).

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seien von mir „noch nie Nachweise vorgelegt“ worden.68 Ortmeyers Leistung in dieser Auseinandersetzung bestand darin, dass er als Torsten Schwans Echo auftrat und beide sich wechselseitig Absolution für Vorgehensweisen erteilten, denen man nur mit Kritik begegnen kann. Schwans Endurteil über den Band „Die Universitätsschule im Nationalsozialismus“ – ein „wissenschaftliches und politisches Totaldesaster“ – ist dann wiederum das Stichwort, das Ortmeyer in Empfang nimmt.69 Die Missachtung des Schicksals derjenigen, die darin zu Wort kommen, könnte nicht größer sein. In diesem Band verbinde ich bei der Beschreibung der Einzelfälle die in den Dokumentationen Jenaer Historiker auffindbaren Daten mit Schulberichten, Schülerlisten und Programmen von Schulveranstaltungen der Universitätsschule aus dem Universitätsarchiv der Friedrich-Schiller-Universität. Sofern ich noch lebende Ehemalige erreichen konnte, verwende ich darüber hinaus von ihnen zur Verfügung gestellte Berichte und Erinnerungen. Alle Befragten äußerten, soweit ich von ihnen Reaktionen erhielt, Dankbarkeit, dass dieses Buch geschrieben und ihre Erinnerung darin festgehalten wurde. Dabei handelt es sich um eine erste Bestandsaufnahme. Erst nachträglich wurde ich durch Margot Pampel (geborene Reinhardt) auf Elisabeth Scheinok aufmerksam gemacht, die mit ihr gemeinsam die Untergruppe der Petersenschule besuchte. Die Eltern, Aron und Anna Scheinok, waren Juden. Sie stammten wie die Jüdin Gitta Reinhardt (geborene Czerwinska, die Mutter Margots), aus Polen. Sie besaßen ein Pelz- und Lederwarengeschäft in Jena (1933 in der Leutrastraße 6a, seit 1937 in der Brüdergasse 7). Die Familie wurde im Rahmen der reichsweit durchgeführten „Polenaktion“ Ende Oktober 1938 mit anderen Juden polnischer Herkunft im Sammeltransport an die polnische Grenze verbracht, ausgewiesen und 1942 in Treblinka ermordet.70 Elisabeth Scheinok (*1. November 1923) ist als Schülerin der Universitätsschule im Programm der „11. Pädagogischen Rückschau“ vom 11. März 1932 sowie im Lehrerbericht der „Mittelgruppe II“ 1933/34 nachweisbar.71 Nach Margot Pampel verließ sie mit etwa zehn Jahren die Universitätsschule und wechselte auf eine höhere Schule. Eine Anwesenheitsliste des „Freundeskreises der Universitätsschule Jena“ belegt die Mitgliedschaft der Eltern Scheinok. Obwohl in meinem Buch über die Petersenschule im NS-Staat der Anteil dokumentierter „jüdischstämmiger“ Kinder geringer ist als der Anteil von Kindern aus sozialistischem Elternhaus, war der Prozentsatz der ersteren vor 1933 beachtlich. Dies muss vor dem Hintergrund des relativ geringen jüdischen Anteils in der Einwohnerschaft Jenas gesehen werden. Es gab nach dem Ersten Weltkrieg weder eine jüdische Schule noch eine Synagoge oder einen jüdischen Friedhof in Jena. Der Anteil des frommen Judentums war verschwindend gering. Zwischen den verschiedenen sozialen und religiösen Gruppen (arm – reich; orthodox – liberal; assimiliert christlich – assimiliert freidenkend) existierte kaum Kontakt. Dass jemand jüdisch oder jüdischer Herkunft war, war vor 1933 nur im rechtsextremen Milieu (mit negativem Vorzeichen), nicht aber im breiten Bürgertum von Belang; vielfach war es nicht bekannt. 68 69 70 71

Leserbrief der „GEW-Studis Jena“: „Mär wiederholt“, in: Erziehung und Wissenschaft 63 (2011), Hf. 3, S. 35. Ortmeyer: „Wissenschaftliches“ (wie Anm. 3), S. 162ff. Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1), S. 96. UAJ, Best. S Abt. I, Nr. 168, n.p. (Schuljahr 1931/32, Nr. 157 (1933/34), Woche 11.–16.9.1933, Seite 4).

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Tatsächlich leistete das Judentum Jenas für Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft der Stadt Bedeutendes. Jena hatte 1925 die niemals wieder erreichte Höchstzahl von 277 jüdischen Bürgern, die spätestens ab 1930, als die NSDAP in Thüringen an der Macht beteiligt wurde, drastisch zurückging und 1933 nur noch 111 Personen umfasste (bei knapp 60.000 Einwohnern).72 Dabei handelte es sich vielfach um ältere Einwohner, die nach Hitlers „Machtergreifung“ in Jena blieben. Vergleicht man diese Situation mit Frankfurt am Main, wo Ortmeyer vor zwei Jahrzehnten Berichte überlebender jüdischer Schülerinnen und Schüler sammelte, könnte die Differenz nicht größer sein: Die Main-Metropole war 1933 etwa zehnmal größer als Jena. In ihr lebten 1933 knapp 30.000 jüdische Bürger. Die Stadt besaß die zweitgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands, vier Synagogen und mehrere jüdische Schulen. Gewalt, Verfolgung, Deportation, die jüdische Familien in Frankfurt am Main im NS-Staat erfuhren, waren, quantitativ gesehen, bedeutender als in Jena. Deren Leid sollte nicht zum Maßstab für das Ausmaß des Leids von Kindern in Jena oder als Maßstab für die Bewertung der Universitätsschule herangezogen werden. Die Petersenschule als Stätte einer fortschrittlichen Reformpädagogik wurde nach ihrer Gründung 1924 von religiös freisinnigen und liberalen Familien mit jüdischem Hintergrund bevorzugt gewählt. Der Jenaer Dokumentationsband „Verfolgung und Vernichtung“ von Eberhart Schulz nennt für die Heirat von jüdischen (beziehungsweise „jüdischstämmigen“) und nichtjüdischen Ehepartnern in Jena einige stadtbekannte Beispiele,73 darunter die Ehepaare Koch, Wandersleb und Eppenstein, deren Kinder die Petersenschule schon vor 1933 besuchten. Bis zum Umzug 1926 nach Kiel traf dies ebenso für die Tochter Wilhelm Flitners und seiner Frau Elisabeth (geborene Czapski) zu. Für das fromme Judentum war die Universitätsschule in religiöser Hinsicht kaum attraktiv, weder als weltliche Lebensgemeinschaftsschule noch als evangelisch-christliche Bekenntnisschule. Der weitaus größte Teil von Kindern jüdischer Herkunft aus der Jenaer Universitätsschule stammte aus Familien, deren Väter bei der Firma Carl Zeiss arbeiteten, die assimiliert waren oder aber jüdische beziehungsweise assimilierte Ehepartnerinnen hatten. Ulrich Dannemann, „einer der ältesten Petersen-Schüler in der Jenaplan-Schule (Grietgasse)“,74 besuchte bis zum Umzug 1931 – der Vater führte ab da in Köln ein Schuhgeschäft – nur die Untergruppe. Ulrichs Eltern waren Juden, der Vater Geschäftsführer; die Mutter studierte bei Petersen.75 Margot Pampel schrieb mir dazu am 31. März 2011: „Mein lieber Freund Uli Dannemann war volljüdisch. Seine Eltern verzogen allerdings im zweiten Schuljahr nach Köln und dann nach Brasilien. Nach 72 Jahren fand ich ihn wieder, zurückgekehrt nach Deutschland. Wir besuchten ihn und seine Familie vor ca. 8 Jahren in Mönchengladbach, wo er als erster Geiger im städtischen Symphonieorchester bis zu seiner Pensionierung tätig war. Das Ganze ist eine sehr traurig-schöne Geschichte, die ich Ihnen demnächst genau erzählen möchte. Ja, und dann war noch Elizabeth Scheinok mit mir in der Untergruppe. Sie war volljüdisch. Ihre Eltern besaßen in der Leutrastrasse eine Pelz-/ Mantelhandlung.76 Elizabeth war ein bildschönes kleines Mädchen, intelligent und zeichnerisch hochbegabt. Sie ging ab 10 Jahre bis zur Deportation noch 72 73 74 75 76

Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1), S. 50f. Schulz: Verfolgung (wie Anm. 7), S. 35. Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1), S. 87. Ebd., S. 87f. Am 4.2.2010 schrieb Frank Döbert in der OTZ: „Jüdische Händler und kleine Geschäftsleute“ konnten auf den „Schutz durch Netzwerke, in denen Karl Astels Rasseforscher in der SS und

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auf das Lyzeum. Nach Jena zurückgekehrt ist sie mit ihrer Familie nicht. Sehr wahrscheinlich gab es noch andere volljüdische Kinder bei uns, wir sprachen in der Schule nie darüber. Ich wusste es nur von meiner Mutter. Dass die kleine Lolo eine jüdische Mutter hatte, erfuhr ich auch erst durch Ihr Buch.“

Soweit zum „Antisemitismus“ in der Petersenschule. Zu klären, ob Petersen 1933 und nach 1945 bei den Juden Jenas und den Familien jüdischer Herkunft als Antisemit beziehungsweise als „Nazi“ galt, ist für die lokale Erinnerungskultur wie für die Petersen-Forschung von Bedeutung. Mir ist es nicht gelungen, weder im Stadtarchiv noch im Universitätsarchiv in Jena, dafür den kleinsten Hinweis zu erhalten. Wenn mir Rolf Schrade versicherte, dass seine Eltern (Hugo und Erna Schrade) nach dem Ende der NS-Zeit mit größter Hochachtung von Petersen sprachen, dann spricht dies eher gegen eine solche Zuordnung. Das schließt andere Meinungen nicht aus, weshalb der Frage weiterhin Beachtung geschenkt werden sollte. Assimilation schützte nicht vor dem Konzentrationslager, doch der Verfolgung, Verhaftung und Deportation waren ab 1933 ebenso Sozialdemokraten und Kommunisten ausgesetzt. Ortmeyer und Schwan werden offenbar erst durch mein Buch genötigt, von jenem Zitat Petersens Kenntnis zu nehmen, in dem er 1948 „Mischlinge“ wie Kinder von Kommunisten in seiner Schule erwähnte. Seit 1992 ist es in der Petersen-Biographie von Barbara Kluge jedermann zugänglich.77 Jetzt plötzlich wertet Ortmeyer das Zitat als einen „Persilschein“, der von mir zur Freisprechung Petersens benutzt worden sei.78 Er hatte es zuvor gar nicht gekannt, die Schicksale, die sich dahinter verbergen, interessieren ihn nicht. Es ist auffallend, dass Petersen nur einen einzigen Namen der Kinder verfolgter Kommunisten nennt: Franz Reitmeier. Ihm stand ab 1946 im Erfurter Ministerium eine Karriere offen, die er dann in der DDR zugunsten eines anderen Berufswean der Universität eine Schaltstelle bildeten, nicht rechnen“, um bei Petersen ihr Kind unterzubringen. – Es wäre grotesk anzunehmen, Petersen hätte die Deportation am 27.10.1938 von Familie Scheinok mit weiteren jüdischen Familien verhindern können, falls Elisabeth S. noch die Petersenschule besucht hätte. Validität besitzt die Bezeichnung „Rassist“ vor allem dann, wenn Petersen als Schulleiter die gezielte Umsetzung der NS-Ideologie zur rassisch ausgelesenen „judenfreien“ Schule betrieben hätte. Schülerlisten und Berichte bestätigen diese Annahme nicht. Dieser nüchterne Befund stellt rassistischen Überschriften und Inhalten von Texten Petersens, die jeder seiner politischen Unschuldsbeteuerungen nach 1945 spotteten, keinen Freibrief aus. 77 Mein Buch über die Universitätsschule Jena (wie Anm. 2, S. 113) enthält auf Grund einer Verwechslung einen unzutreffenden Hinweis, den ich hiermit korrigiere: Petersens „Erklärung“ vom 2. Dezember 1948 wurde nicht „brieflich dem Rektor der Universität Jena“ zugestellt. Ob Petersen dieses Dokument dienstlich oder öffentlich überhaupt benutzte, ist fraglich. Bis jetzt gibt es dafür keinen Beleg. In der „Erklärung“ hieß es unter anderem: „Wir haben niemals unsere jüdischen Freunde und Bekannten verleugnet, selbstverständlich auch nicht in der Öffentlichkeit der Kleinstadt Jena (Zeugen: Herr Dr. Langer, Herr und Frau Dr. Wandersleb, Frau Dr. Eppenstein usw.). [. . . ] Während der Kriegsjahre wurde meine Universitätsschule der Zufluchtsort für sämtliche schulpflichtigen Kinder aus jüdischen Mischehen (Zeugen: Dr. Schrade und Frau, desgl. Dr. Hansen, Herr und Frau Michel, Dr. König) sowie von Kindern verfolgter Kommunisten, die meine Schulform besuchten (Zeuge: Herr und Frau Reitmeier, Jena).“ Peter Petersen: „Erklärung“ vom 2. Dezember 1948, in: Barbara Kluge: Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte. Auf dem Weg zu einer Biographie, Heinsberg 1992, S. 337–338, hier S. 338. 78 Der „Persilschein“ Zufluchtsort von Peter Petersen 1948 (Faksimile), in: Dokumente (wie Anm. 3), S. 49; Ortmeyer: Brief (wie Anm. 39), S. 41.

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ges nicht weiter verfolgte. Andere Kommunisten hatten es zum Teil schwer, nach Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft von der SED akzeptiert zu werden. Das spricht für eine gewisse Verbundenheit zwischen Reitmeier und Petersen. Dass Petersen die Erklärung aus Gründen politischer Selbstentlastung schrieb, ist anzunehmen. Für den heutigen Forscher geht es darum, anhand der vorliegenden Familiennamen nachzuprüfen, welche Schicksale sich hinter ihnen verbargen, nicht zuletzt um den Wahrheitsgehalt der Aussagen Petersens zu überprüfen. Mit dem Ausruf Persilschein! jedes Forschungsinteresse an dieser Frage ad absurdum zu führen, ist typisch für meine Gegner. Dass im Falle Rolf Schrades die Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, der Vater gleichzeitig von der „Organisation Todt“ zur Ableistung von Zwangsarbeit „verpflichtet“ wurde, spielt bei den „Antisemitismus-Experten“ Ortmeyer und Schwan keine Rolle. Dass die Mutter von Margot Pampel in Auschwitz ermordet wurde (ihr Vater war 1930 gestorben), findet in der 50-seitigen „Analyse“ Torsten Schwans79 keine Berücksichtigung. Die Tochter war doch schon längst aus der Schule. Also ist sie doch, selbst wenn Verbindungen zur Schule und zu Mitschülerinnen aufrecht erhalten blieben, gar nicht berechtigt, ihre Dankbarkeit gegenüber Petersen mit dem späteren Schicksal ihrer Mutter in einen autobiographischen Zusammenhang zu bringen. Ich hätte ihr das offenbar ausreden sollen: „Damit aber instrumentalisiert er [Hein Retter] die von den Nationalsozialisten als ‚jüdische Mischlinge‘ stigmatisierten Menschen nachträglich für eigene Zwecke.“80 Ich stigmatisiere demnach Margot Pampel. Sie ist nicht nur dankbar für mein Buch, sondern schrieb mir am 31. März 2011, dass sie nach der Deportation ihrer Mutter, „Entscheidungen [traf], die mich vor der Deportation bewahrten.“ Weiter: „Als ich nach Kriegsende wieder nach Jena zurückkehrte, sagte mir der damalige Leiter des Arbeitsamtes, Herr Weber, dass ich als Halbjüdin im letzten Halbjahr vor Kriegsende mit auf der Liste der zu deportierenden Personen stand. Aber ich war nicht da! Genaueres erzähle ich Ihnen demnächst. Wer kann sich heutzutage die Ängste die ich damals ausstand, weil ich nicht erwischt werden wollte, vorstellen? Wen interessiert es?“81

Das ist die rhetorische Frage an Schwan, Ortmeyer und Niederstraßer, die diese Angst wirklich nicht interessiert. Das wird als „Dramatisierung“ abgetan. Außerdem: Wenn Margot nicht mehr in der Universitätsschule war, hatte sie mit Petersen nichts mehr zu tun. Für die „Experten“ spielt keine Rolle, dass nicht nur die bleibende Verbundenheit mit anderen AbsolventInnen der Petersenschule, sondern auch jene Erfahrungen mit Schülern, Lehrkräften und Schulleitern der anschließenden Jahre entscheidend sind, die Petersenschule als Ort des Schutzes anzusehen. Schwan verunglimpft diejenigen, deren Leid im NS-System in meinem Band erstmals im Kontext der Universitätsschule dargestellt wird. Und wenn man als Opfer des Nationalsozialismus erfährt – durch die Medien, die Ostthüringer Zeitung oder die GEW-„Dokumentation“ (Thüringen) – wie dort mit ihrer Glaubwürdigkeit und ihrem Schicksal umgegangen wird – keine echten „Volljuden!“ – dann fragt man sich kopfschüttelnd, in welcher Epoche man lebt. 79 80 81

Dokumente (wie Anm. 3). Ebd., S. 131. E-Mail von Margot Pampel an Hein Retter v. 31.3.2011 (vom Autor übergeben an das Stadtarchiv Jena: Sammelmappe Universitätsschule).

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Die Betroffenen sind als alte Menschen kaum in der Lage, öffentlich ihre Stimme zu erheben, um gegen das ihnen und ihren Eltern zugefügte Unrecht zu protestieren. Sie wollen nicht als Objekte einer sie erniedrigenden Rhetorik in der Öffentlichkeit auftreten. Sie mussten sich vor den Nazis rechtfertigen, weil sie jüdisch waren, heute müssen sich vor unglaublichen „Experten“ rechtfertigen, dass sie damals nicht jüdisch genug waren, um heute als allzu wenig jüdisch vor dem Tribunal von Ortmeyer und Schwan abgeurteilt zu werden: Hört, ihr Halb- und Vierteljuden! Eure Angst war unnötig, sie wird von euch nur dramatisiert oder entspringt der Phantasie. Betroffene sehen sich von dieser Art des Umgangs mit ihnen in der Öffentlichkeit in übler Weise behandelt. Das braucht hier nicht detailliert geschildert zu werden. Das zeigt der „offene Brief“ von Rolf Schrade am Ende dieses Beitrages. Aber es gibt auch Ereignisse, die hoffen lassen, dass die Zeiten ideologischer Grabenkämpfe zuende gehen. Am 18. Juni 2011 gedachte der „Jenaer Arbeitskreis Judentum“ mit der Stadt Jena mehrerer Opfer des Nationalsozialismus durch einen „Stolperstein“. Das Gedenken galt auch der ermordeten Arbeiterin Gitta Reinhardt (* 14.6.1891, vermutlich 1943 in Auschwitz ermordet). Dies erfüllt alle „Ehemaligen“ der Petersenschule, die im NS-Regime Unrecht erlitten, mit Anteilnahme und Genugtuung. Die Tochter der Ermordeten, die heute 90-jährige Margot Pampel, konnte nicht anwesend sein. Worte des Gedenkens und der Erinnerung sprach ihre Enkelin Felicity Zwalf. Sie erwähnte ihre Mutter und die Universitätsschule. Erst das Buch über die Universitätsschule hatte ermöglicht, die in Jena weitgehend unbekannt gebliebene Gitta Reinhardt als Mutter von Margot Pampel zu identifizieren. Was die mir von Schwan unterstellten „eigenen Zwecke“ betrifft, bringt sie mein Band deutlich zum Ausdruck, nämlich die Erinnerung an die Universitätsschule als Ort des Schutzes bei denjenigen Schülerinnen und Schülern zu dokumentieren, deren Mütter oder/und Väter vom NS-Regime aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen bedroht wurden. Schwan, Ortmeyer und Niederstraßer zufolge sollen sie diese Erinnerung nicht haben dürfen. Dies sei „Petersen-Mythos“, „Einbildung“ oder „Spekulation“ und habe im Vergleich mit „Auschwitz“ keine Relevanz. Dass nach dem jüdischen Religionsgesetz der Halacha „Jude“ ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde (Margot Pampel demnach im Recht ist, wenn sie sich als Jüdin bezeichnet und Schwans Klassifikation zurückweist), spielt für den „Antisemitismus-Experten“ ebenso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass Ehen mit „Mischlingskindern“ in Bezug auf das Sorgerecht ab 1935 besonderen Gefährdungen ausgesetzt waren – wie ich im Buch über die Universitätsschule näher ausführte. Die NS-Vormundschaftsgerichte gingen dazu über, den Eltern ihr „halbjüdisches“ Kind wegzunehmen, zur Adoption freizugeben oder in Kinderheime zu überweisen, da der jüdische Elternteil aufgrund der ihm zugeschriebenen „Rassemerkmale“ den Rechtsanspruch des Kindes auf eine nationalsozialistische Erziehung nach Auffassung der NS-Juristen in Frage stellte.82 Wenn man Einwände gegenüber dem Projekt „Universitätsschule Jena im Nationalsozialismus“ einem rational diskutierbaren Rahmen zuweist, dann ist an die Frankfurter Studie Ortmeyers der hundert „Berichte gegen Vergessen und Verdrängen“ zu erinnern. Aus Briefen, die ihm zugesandt wurden, sammelte er Äußerungen 82

Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 172f.

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von einhundert ehemaligen jüdischen Schülerinnen und Schülern aus Frankfurt am Main über Diskriminierung und Gewalt, denen sie ab 1933 ausgesetzt waren. Auch wenn im Anhang „Dokumente der Schulbehörden aus der NS-Zeit“ genannt werden, steht hier der subjektive Bericht als Oral History beziehungsweise Written History im Mittelpunkt. Das Jenaer Projekt „Universitätsschule“ hat einen ähnlichen Ausgangspunkt. Ein anderer Forschungsansatz zu diesem Thema wäre, die Situation jüdischer Kinder, Familien und Einzelpersonen eines Ortes entsprechend der sich etappenweise verstärkenden Entrechtung durch den NS-Staat systematisch zu dokumentieren. Das ist ein sehr viel anspruchsvolleres Unternehmen, auf das Schwan seine Kritik stützt. Ein solches Projekt durchzuführen war im vorliegenden Fall weder geplant noch realisierbar. Sachkritik hat den Selbstanspruch eines Forschungsprojektes zu berücksichtigen, was meinen Gegnern fernlag. Mein Interesse konzentrierte sich a) auf mündliche Berichte und Materialien Betroffener, b) auf die Dokumentation verstorbener „Ehemaliger“ anhand von Schulakten sowie c) auf amtliche Anträge der Eltern „Ehemaliger“ als Opfer des Naziregimes in der DDR anerkannt zu werden. Bei der Zeitzeugenbefragung musste ich über das bloße Festhalten von Erinnerung hinausgehen, weil sie bekanntlich nachträglicher Umformung unterliegt. Auch war die Universitätsschule nicht frei von nationalsozialistischen Vätern und/oder Müttern (zum Teil auch Lehrkräften), und Petersens publizistische Einlassung in den Nationalsozialismus ist ein nicht relativierbares Faktum. Mündliche Angaben waren aus Registern des Standes- und Ordnungsamts sowie aus Unterlagen der verschiedenen Archive zu überprüfen. Die Erinnerung Betroffener kann durchaus fehlerhaft sein, wie sich in einzelnen Fällen zeigte. Dies alles ist in dem Band über die Universitätsschule nachvollziehbar dargestellt. Als Beispiel für doppelte „Fehlerhaftigkeit“ seitens Zeitzeugen und seitens heutiger Beurteiler sei die anlässlich des ersten Jenaer Podiums am 5. November 2009 gefallene Äußerung einer ehemaligen Schülerin erwähnt. „Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, dass wir die Flagge gehisst haben und ‚Heil Hitler‘ gesagt hatten“, zitierte Niederstraßer eine Petersen-Schülerin und stellt dieser Äußerung als Gegenbeweis den Bericht Jadwiga Jedrychowskas gegenüber. Die polnische Pädagogin hatte der Petersenschule am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien Anfang Januar 1936 einen Besuch abgestattet. In einem 1938 in Polen veröffentlichten Bericht erwähnte sie den für alle Schulen im NS-Staat vorgeschriebenen Fahnenappell und anschließend die Versammlung der Schulgemeinde „mit dem Gruß ‚Heil Hitler‘“.83 Auch Ortmeyer verwies darauf in seiner Habilitationsschrift.84 83 84

Jadwiga Jedrychowska, in: Retter: Petersen (wie Anm. 10), S. 174; s. dort auch meinen Kommentar S. 28–31. Ortmeyer: Mythos (wie Anm. 17), S. 293, Anm. 895. In meinem Skript „Warum ich Benjamin Ortmeyer widerspreche“, das ich als Onlinetext dem Forum der Stadt Jena zur Verfügung stellte, hatte ich Ortmeyers Zitation als „regelrecht manipuliert“ bezeichnet, da Begriffe und Sätze verändert gegenüber dem Quellentext wiedergegeben wurden. Schwan hatte das Problem als erster gesehen, aber aus verständlichen Gründen nicht weiter verfolgt. Ortmeyer versuchte selbstverständlich, meine Kritik zurückzuweisen (Die falsche Anschuldigung der „Textmanipulation“, in: Dokumente (wie Anm. 3), S. 215–219, auch im Vorwort zur Zweitauflage seiner Habilitationsschrift 2010 (wie Anm. 17)). Dabei verschweigt und übersieht er etwas; wirft mir

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Hitlerbild und -gruß können keine Beweise für den besonders stark ausgeprägten nationalsozialistischen Charakter einer Schule im Deutschen Reich unter Hitler sein, weil sie dienstliche Vorschrift waren. Nachweisen lässt sich, dass Petersen die Gruß-Vorschrift zu minimieren suchte, dies aber kaum bei offiziellem Anlass geschah. stattdessen vor, ich wolle nur seine Forschung in Frage stellen – nein, nur seine Methode. Er gab an, aus einem von mir edierten und von dem professionellen Polnisch-Übersetzer Janusch Daum ins Deutsche übertragenen Quellentext (Retter: Petersen (wie Anm. 10), S. 174) zitiert zu haben, teilte aber dem Leser nicht mit, dass die ersten fünf Sätze aus einem anderen (auch von mir herausgegebenen) Buch stammen, übersetzt von dem polnischen Kollegen Miroslaw S. Szymanski, in dessen Aufsatz über den Besuch der Universitätsschule Jena durch die Polin Jedrychowska 1936 (Retter: Rekonstruktion (wie Anm. 11), S. 251.) Beide Übersetzungen weichen voneinander ab, da Daum kontext- und situtionsbezogen den gesamten Bericht, Szymanski jedoch wörtlich und nur wenige Sätze übersetzte. So wird der Passus „treten uniformierte Gruppen auf“ (Übersetzung Daum) von Ortmeyer für den Leser unbemerkt ersetzt durch „treten militärische Formen auf“ (Übersetzung Szymanski). Das nenne ich Manipulation. Ortmeyer rechtfertigte sich damit, diesen begrifflichen Austausch dürfe er vornehmen, da der polnische Terminus „wojskowe formy“ eben genau „militärische Formen“ heiße (es handelte sich um eine HJ-Gruppe beim Fahnenappell in der Petersenschule). Ich sage, er darf es nach den Regeln wissenschaftlichen Arbeitens nicht, wenn er diesen Austausch, wie geschehen, dem Leser verschweigt. In der Zweitauflage seines Buches (Vorwort, S. II) sagt Ortmeyer, der Vorwurf, ein Zitat sei „inhaltlich manipuliert“ worden, habe sich „schnell widerlegen“ lassen. Wie denn, wo denn? Vielmehr korrigierte Ortmeyer die Unstimmigkeit jetzt erst in der Zweitauflage des Mythos-Buches, und dies heimlich. Das zeigen zwei Veränderungen: Er lässt im Vorwort der Zweitauflage (S. II), in dem er zur Frage von Textkorrekturen Stellung nimmt, den umstrittenen wojskowe-Satz am Anfang seines langen Jedrychowska-Zitates einfach weg. Später, im laufenden Text (S. 293–294), wiederholt er dieses ausführliche Zitat mit „wojskowe formy“, bleibt also bei jener „Manipulation“ (militärische Formen), die ich in der Erstauflage kritisierte. Er setzt aber nun bei der Angabe der Zitationsquelle das Wörtchen „weitgehend“ hinzu: „Aus dem Polnischen weitgehend [sic!] nach: Retter, Hein: Peter Petersen und der Jenaplan ... S. 174ff.“ (Zweitauflage, S. 294). Das Wort „weitgehend“ soll die kleine Manipulation unbemerkt aus der Welt schaffen. Das will ich nur festgestellt wissen, aber nicht sonderlich hochspielen. Dabei weiß Ortmeyer (jedoch keineswegs seine Leserschaft!), dass nicht nur „militärische Formen“, sondern die ersten fünf Sätze im Ganzen aus einer anderen als der angegebenen Quelle – Janusch Daum – stammen, nämlich Szymanskis Übersetzung sind. Und dies auch in der Zweitauflage des Mythos-Buches. Dabei entgeht Ortmeyer jedoch, dass Szymanskis Übersetzung Text ohne Kenntlichmachung ausließ und einen Satz von Jedrychowska sogar verkürzte, so dass das von Ortmeyer faksimile abgedruckte polnische Original von Jedrychowska (in Dokumente (wie Anm. 3), S. 218) mit der Übersetzung von Szymanski (aus: Retter: Rekonstruktion (wie Anm.11), S. 251), ab Satz 5 nicht mehr übereinstimmen. Fazit: Ähnlich dem aus Eierdanz’ Aufsatz von Ortmeyer übernommenen Petersen-Zitat über Lagarde und Langbehn zitiert er auch hier eine Quelle, ohne deren fehlerhaften Zustand zu bemerken (und ohne ihre Herkunft anzugeben). Das sei in aller Freundlichkeit festgestellt. Ortmeyer nennt meine Hinweise „eristische Mätzchen“ und „Ad personam“-Kritik. Nein, die Kritik gilt seiner Methode. Eine weitere Ungereimtheit: Ortmeyers Zitation Jedrychowskas enthielt 2009 den Satz: „So wird das westliche Programm zum Fahnenappell gestaltet.“ Daum übersetzte: „[...] festliche Programm [...]“. Der Term „westlich“ ist durchaus interessant in diesem Kontext. Mit Nichtangriffs-, Freundschafts- und Presseabkommen 1934 und 1936 war das rechtsnational regierte Polen zum Verbündeten Hitlers geworden, dem westlichen Nachbarn. Jedrychowskas Besuch war offiziell, ihr Bericht systemkonform: Sie machte die Jenaer Schule zum NS-Vorzeigeobjekt und erklärte in ihrem Bericht sogar Fritz Wächtler zum Schüler Petersens! Ortmeyer hatte Recht, die Polin pries die Universitätsschule als „Nazi-Schule“ – was seine Zuhörer 2009 in Jena nicht hören wollten. Vom „westlichen“, nämlich vormilitärischen Programm der Petersenschule zu sprechen macht deshalb Sinn, weil es dem

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Petersen hatte seit seinem Krakauer Vortrag 1934 besonders enge Beziehungen zu Polen, die ihn, wie ich 1996 schrieb, zu einem „Rädchen im Getriebe der Außenund Propagandapolitik des NS-Staates“ machten.85 Denn alle Besuche fanden mit Billigung offizieller NS-Stellen statt und wurden zum Teil von diesen inszeniert. Bei offiziellem Anlass war das „Heil Hitler“ der Schulversammlung für Petersen ein normaler Vorgang wie in jeder anderen Schule auch. Dass Niederstraßer nicht in der Lage ist, in der NS-Diktatur zwischen Alltag und öffentlicher Repräsentation (Auslandsbesucherin!) zu unterscheiden, überrascht. Wenn er für unterstellte Verdrängungsleistungen eines 1936 dokumentierten Ereignisses das Gedächtnis einer Petersen-Schülerin verantwortlich macht, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht auf der Welt war, ist dies erst recht nicht nachvollziehbar.86 Eine weitere Gruppe von ehemaligen Petersen-Schülern aus bedrohten Familien bereitete einiges Kopfzerbrechen. Es handelte sich um Schüler jüdischer Herkunft, deren Eltern Petersen in seiner „Erklärung“ vom 2. Dezember 1948 nur mit Nachnamen erwähnte. Niemand aus dem Kreis der noch lebenden „Ehemaligen“ in Jena kannte sie. Aufgrund fehlender Schülerlisten konnten weder Anschrift, Geschlecht und Vornamen der Kinder noch die Vornamen der Väter identifiziert werden. Die Situation schien aussichtslos zu sein. Eine Nachfrage im Carl Zeiss Archiv brachte endlich Klärung. Wolfgang Wimmer fand heraus, dass es sich um Angestellte der Firma Carl Zeiss handelte. Ihre Söhne, Holger Hansen und Hans Michel, hatten bis 1945 die Universitätsschule besucht. Da ihre Väter mit der ganzen Familie von Jena nach Westdeutschland umsiedelten, sind sie im heutigen Kreis der „Ehemaligen“ nicht mehr präsent. Ich setzte mich mit ihnen in Verbindung. Beide hatten weder eine aktuelle Beziehung zu Jena, noch kannten sie sich, wenngleich sie sich an den Fami-

85 86

Deutungsinteresse Ortmeyers entsprach, „uniformierte Gruppen“ gegen „militärische Formen“ auszutauschen. Nein, es war ein Druckfehler, sagt Ortmeyer jetzt. Es muss „festlich“ heißen. Sofort akzeptiert! Ein Druckfehler ist keine willentliche Textveränderung, die hier angesichts der Beziehung Polens zum „Dritten Reich“ 1936–38 etwas für sich gehabt hätte. In Summa: Alles, was ich an Rückfragen vorbrachte, sind Kleinigkeiten, wenn auch Merkwürdigkeiten. Fehler sind verzeihlich, kleine „Manipulationen“ werte ich nicht als böse Absicht, sondern als Produkt voreiliger Schlüsse. Das passiert mir auch – leider. Interessant ist nur, wie wir uns dabei verhalten. Ortmeyer zeigt sich menschlich, wenn er den Einwand erst mit großem Protestgeschrei abzuweisen sucht, dann nachträglich glaubhafte Gründe für das eigene Handeln präsentiert, um schließlich in aller Stille Schadensbegrenzung vorzunehmen. Hein Retter: Die Beziehungen Peter Petersens zu osteuropäischen Ländern in den dreißiger Jahren – unter besonderer Berücksichtigung Polens, in: ders.: Rekonstruktion (wie Anm. 11), S. 255–298, hier S. 286. Den von Niederstraßer als Erstunterzeichner verantworteten offenen „Brief an den Oberbürgermeister der Stadt Jena“ vom 25.1.2010 fand ich unter: http://www.jenapolis.de/42607/ offener-brief-an-den-oberbuergermeister-der-stadt-jena, zuletzt abgerufen am 1.5.2011. Berichte über die Universitätsschule von Besuchern in der NS-Zeit, welche Gegner des Nationalsozialismus waren, wie der des Theologen Hugo Schmitz (1934) oder der des finnischen Pädagogen Matti Koskenniemi (1939) stimmen mit den Vorwürfen, die Niederstraßers erhebt, nicht überein. Vgl. Matti Koskenniemi: Beobachtungen beim Besuch der Jena-Schule, in: Hein Retter (Hg.): Reformpädagogik: Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004, S. 140–146. Der Bericht von Hugo Schmitz zum Religionsunterricht wurde im „Evangelischen Schulblatt“ 1935 veröffentlicht. Auszüge sind abgedruckt in Hein Retter: Theologie, Pädagogik und Religionspädagogik bei Peter Petersen, Weinheim 1995, S. 89–91.

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liennamen des jeweils anderen dunkel erinnerten. Von mir befragt, äußerte Holger Hansen, dessen Vater „Halbjude“ war, „beste Erinnerungen“ an seine Schulzeit bei Petersen zu haben. Er sei als Kind „etwas schwierig“ und deshalb öfter zur Untersuchung beim Kinderarzt Jussuf Ibrahim gewesen. Hans Michel, heute bei München lebend, empfand die Schulzeit bei Petersen in der Rückerinnerung als gut beziehungsweise normal. Übereinstimmend berichteten Holger Hansen und Hans Michel von negativen Erlebnissen mit der Prügelstrafe in jenen Schulen, die sie nach Kriegsende in Westdeutschland kennenlernten. Das habe es bei Petersen nicht gegeben. Ihre Väter waren im Krieg bei Carl Zeiss Abteilungsleiter und mussten zeitweise Zwangsarbeit für die „Organisation Todt“ leisten. Die Familien wurden von den Ende Juni 1945 abziehenden Amerikanern gedrängt, mit in den Westen überzusiedeln. Ich fand es besonders beeindruckend, dass die „halbjüdische“ Mutter von Hans Michel in einer Tagebuch-Notiz, die er mir zur Verfügung stellte, im Rückblick auf seine Einschulung in die Petersenschule 1943 notiert hatte: „Wir wollten unsere Kinder lieber dorthin schicken als in die Südschule, zu der wir eigentlich gehörten. In der Petersenschule ging es durchaus nicht nationalsozialistisch zu, und die Kinder wurden liebevoll erzogen“.87

Wie es zu dem Projekt „Universitätsschule“ kam Seit einem Aufenthalt im Universitätsarchiv Jena Mitte der 1990er Jahre verfügte ich über zwei Schülerlisten der Mittelgruppe der Petersenschule vom Schulbeginn 1933 und 1934. Nach dem Jenaer Podiumsgespräch Ende Oktober 2010 fiel mir hierauf der Name Herta Langer auf. Sie war nach den NS-Rassegesetzen von 1935 „Mischling zweiten Grades“. (In den Durchführungsbestimmungen ist dann von „jüdischen Mischlingen ersten bzw. zweiten Grades“ die Rede.) Hatten ihre Eltern denn 1933 Anlass, besorgt zu sein? Durchaus! Eine SPD-Zeitung berichtete am 6. Februar 1933 unter der Überschrift „SA-Flegeleien in Jena“, dass hier 6.000 nationalsozialistische Jugendliche Lieder mit dem Refrain brüllten: „Köpfe werden rollen, Marxisten werden hängen, Juden werden heulen und HJ marschiert“.88 Vereine und Institutionen „judenfrei“ zu machen war 1933 Zeitungsmeldungen zufolge in Jena an der Tagesordnung. Wenn Petersen, im Juni 1933 einem antisemitischen Autor beipflichtete, dass die Juden in scharfem Gegensatz zu deutschem Wesen „ohne Gewissen und Treue und Ehre“ seien, dann musste das praktische Auswirkungen auf die Universitätsschule haben, pries er doch den NS-Staat sowie Adolf Hitler, den großen „Volkserzieher“.89 Ob eine Schülerin Jüdin oder nur „Halbjüdin“ beziehungsweise „Vierteljüdin“ war, spielte für einen antisemitischen Schulleiter, dem 87 88 89

Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 129. Ein Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen der Mutter Hans Michels ist einsehbar im Stadtarchiv Jena (Sammelmappe Universitätsschule). Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1), S. 51. Zu Herta Langer und dem Schicksal ihrer Mutter Helene Wally Langer vgl. ebd., S. 164–165; Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 116f. Peter Petersen: Bedeutung und Wert des Politisch-Soldatischen für den deutschen Lehrer und unsere Schule. Eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung, in: Deutsches Bildungswesen 2 (1934), S. 1–17, hier S. 5.

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alles Jüdische verhasst war, keine Rolle,90 wie die Kinder der Petersenschule nicht wussten, wer „jüdisch“ war. Falls es darum gegangen wäre, die Universitätsschule „judenrein“ zu machen, hätten Herta Langer und andere Kinder mit ihren Eltern hier nichts zu suchen. Dazu brauchte Petersen nicht die Rassegesetzgebung abzuwarten, da seine Schule einen Sonderstatus besaß. Hatte Petersen im Zusammenhang der Rezension einer antisemitischen Schrift 1933 das „Wesen“ der „in Deutschland lebenden Juden“, „als für uns zersetzend, verflachend, ja vergiftend“ bezeichnet, ihnen die „Rückbesinnung auf die eigene Art“, „die im Zionismus mit bestem Erfolg bereits erfolgt“ sei,91 nahe gelegt, dann ist für den Forscher naheliegend zu fragen, wie der hier offenbar werdende exkludierende Antisemitismus den Alltag der Universitätsschule prägte. Ortmeyer gab in seiner Dokumentation Beispiele für Gewalt und Diskriminierung, die jüdische Kinder im Schulalltag in Frankfurt am Main erfuhren: „Der Weg zur Schule war eine tägliche Qual.“92 Den Berichten aus dem Band Ortmeyers ist auch dann Glauben zu schenken, wenn nicht deutlich wird, dass beide Eltern jüdisch waren. Für Frankfurt am Main wie für Jena galt, dass die Feinde des NS-Regimes, insbesondere auch Kommunisten und Sozialdemokraten, ab 1933 in öffentlichen Schulen willkürlicher Gewalt, Demütigung, Verfolgung und Diskriminierung von Lehrkräften sowie Mitschülern ausgesetzt waren. Die Erinnerungen von „Ehemaligen“ der Universitätsschule, deren Eltern aus rassistischen Gründen vom NS-Regime verfolgt wurden, die Erinnerungen von Kindern sozialistischer Eltern, die dem Widerstandskreis um Magnus Poser nahe standen, ebenso die Erinnerungen eines schwerstbehinderten Kindes (J.G.) an ihre Schulzeit bei Petersen sind den dokumentierten Berichten zufolge in überwältigendem Maße geprägt von der Erfahrung, dass diese Schule für sie ein Ort des Schutzes und der Zuflucht war. Wenn ein siebenjähriges Mädchen 1933 aufgrund ihrer nicht „rassegemäßen“ Erscheinung und ein etwa gleichaltriges Kind 1940 aufgrund ihrer kommunistischen Familie in Jenaer Volksschulen Diskriminierung erdulden mussten, nach dem Wechsel in die Universitätsschule aber Menschlichkeit erlebten, und heute Petersen ein positives Andenken bewahren wollen, dann sollte dies möglich sein, ohne dass sie sich öffentlich diskriminiert sehen. In Jena war dies nach Presseberichten (OTZ) und den Online-Kampagnen von Ortmeyer und Schwan ab November 2010 nicht mehr möglich. Die heute 84-jährige Lilo Czekalla schrieb mir am 2. März 2011: 90

Für die Stadt Frankfurt am Main dokumentierte Ortmeyer, dass eine Schülerin im Februar 1933 „wegen ihrer jüdischen Abstammung von der Schule verwiesen wurde“; die Schulleitung, die 1961 von der Betroffenen, „Frau D.“, um eine Bestätigung des Sachverhaltes gebeten wurde, behauptete hingegen, es sei nicht bekannt, „dass jüdische Schüler wegen ihrer Abstammung von der Schule verwiesen wurden“, was Ortmeyer zu Recht als Bestandteil der „zweiten Schuld“ (Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987) wertete. Leider nannte er nicht den Namen der Schule. Es ist auch nicht klar, ob es sich um eine „Jüdin“ im Sinne der von Ortmeyer geforderten Sprachregelung handelte. Vgl. Benjamin Ortmeyer: Berichte gegen Vergessen und Verdrängen von 100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit in Frankfurt a.M., Witterschlick 1995, S. 177. 91 Peter Petersen: Rezension: Karl Beyer: Jüdischer Intellekt und deutscher Glaube (Leipzig 1933), in: Blut und Boden 5 (1933), Hf. 6, S. 285f. 92 Ortmeyer: Berichte (wie Anm. 90), S. 28.

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„Sehr geehrter Herr Prof. Retter, ich wollte Ihnen mitteilen, weshalb ich mich so labil auf die Beschuldigungen gegen Petersen verhalte. Ich bin einfach müde – ich kann gegen all diese Ungerechtigkeiten nicht mehr kämpfen. Es war zuviel. Meine Kindheit kennen Sie. [. . . ] Aber nun mit 84 Jahren verlassen mich die Kräfte. Ich habe mit großem Interesse Ihr Buch gelesen und würdige Ihre viele Kleinarbeit, die dahinter steckt. Wenn nicht – so war Ihre Arbeit für die Gerechtigkeit. Seien Sie vielmals gegrüßt, Ihre Lilo Czekalla.“

Überprüft man Eltern- und Schülerlisten der Petersenschule (soweit sie vorhanden sind)93 und parallel dazu die Dokumentationen von Heinz Grün über die verschiedenen Widerstandsgruppen Jenas im „Dritten Reich“,94 macht man eine erstaunliche Entdeckung: Namen von Eltern der Universitätsschule, die als führende KPD- und SPD-Mitglieder schon vor 1933 in der Öffentlichkeit Jenas eine Rolle gespielt hatten, gingen ab 1933 zum großen Teil in den Widerstand. Diese Eltern waren vor 1933 Mitglieder der Schulgemeinde der Universitätsschule und sie blieben es auch nach 1933. Ihre Kinder absolvierten in aller Unauffälligkeit ihre Schulzeit in der Universitätsschule. Eltern der Universitätsschule im Widerstand Von dem an der Jenaer Universität bis Mai 1933 lehrenden Volkswirtschaftler und Statistiker Paul von Hermberg ist seit langem bekannt, dass er als „Marxist“95 seine Professur an der Universität Jena aufgeben musste, weil er die Abgabe einer Austrittserklärung aus der SPD verweigerte. Doch erst aus der Dokumentation von Heinz Grün erfährt man, dass Hermberg eine zentrale Rolle bei der Eingliederung einer Anzahl von zum Kampf im Untergrund entschlossenen Sozialdemokraten in das gut entwickelte Widerstandsnetz der Jenaer KPD spielte.96 In seiner Villa, in die 1939 Ricarda Huch einzog, fanden konspirative Treffen statt. Bedeutsam für die Geschichte der Universitätsschule im NS-Staat ist der Sachverhalt allerdings erst, wenn man die Namen zweier seiner Kinder, Edzard und Siebwende Hermberg, in den Schülerlisten der Universitätsschule entdeckt. Beide besuchten bis zum Oktober 1935 die Petersenschule, um dann auf höhere Schulen zu wechseln. Man findet beide Kinder in Programmen der halbjährlich stattfindenden „Pädagogischen Rückschau“ aufgeführt, die den Eltern im Rahmen eines reichen musischen Beiprogramms den Lernzuwachs der ersten beziehungsweise der zweiten Schuljahrshälfte vorführten.97 Ein Lehrerbericht belegt, dass die Hermberg-Tochter 93

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96 97

Anders als ich im Band „Universitätsschule“ annahm, befinden sich im Jenaer Universitätsarchiv (UAJ, Best. S Abt I, Nr. 137–170) auch einige Schülerlisten von Untergruppen. Die Lehrerberichte und letztlich der archivalische Gesamtbestand zur Jenaer Universitätsschule 1924–1950 sind es wert, in Form einer Dokumentation der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zur werden. Grün: Bürger (wie Anm. 1). Helmut Heiber: Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1. Der Professor im Dritten Reich, München 1991, S. 319; Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 141; Jörg Opitz: Die Rechtsund Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Jena und ihr Lehrkörper im „Dritten Reich“, in: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität im Nationalsozialismus, Köln 2003, S. 471–518, hier S. 478. Grün: Bürger (wie Anm. 1), S. 42, 50, 53. Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 141f.

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ein halbes Jahr nach ihrem Wechsel in die Oberschule anlässlich eines Elternabends mit Vorführungen der Schüler ihre ehemaligen Mitschüler der Mittelgruppe besuchte.98 In demselben Lehrerprotokoll, das ich 1996 veröffentlichte, findet sich die Notiz, dass „Herr Ankele“ an einer Eltern-Vorbesprechung zur Vorbereitung der Schulreise teilnahm.99 Sein Sohn Hans war Schüler der Universitätsschule von 1929 bis 1937, ohne dass Näheres über ihn aus dieser Zeit bekannt ist. Er stammte nicht aus dem Bildungsbürgertum, sondern aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater, Heinrich Ankele, gehörte zum Freundeskreis der Universitätsschule. Nach der Angabe aus einer Schülerliste war er von Beruf „Nadler“ (Drahtzieher). Bei Heinz Grün wiederum findet sich, dass der Kommunist Heinrich Ankele ab 1933 im Nordbezirk Jenas in dem von Magnus Poser aufgebauten Widerstandsnetz eine Leitungsfunktion besaß und eine Gruppe von zehn Widerstandskämpfern anführte.100 Bei der Mithilfe im Schulleben, zu welcher sich die Eltern der Universitätsschule freiwillig verpflichteten, hatte sich Heinrich Ankele, so erfährt man aus einem Blatt der Schulakten, im Schuljahr 1935/36 für die Baumpflege und das Schneiden der Bäume auf dem Schulgrundstück gemeldet.101 Es war wohl kein Zufall, dass sich zu dieser Tätigkeit auch das frühere Mitglied der KPD-Opposition, Alfred Weißköppel, bereit erklärte, der nach Heinz Grün ebenfalls im Jenaer Widerstand agierte. Auf demselben Blatt sind beide Väter auch als Mitglieder der „Werkstatt-Gruppe“ genannt. Dieses Elternaktiv hatte die Aufgabe, in der Universitätsschule kleine Reparaturarbeiten durchzuführen. Neben Ankele und Weißköppel gehörte dazu auch der Kommunist Herbert Schöppe, dessen Frau Lina von Petersen 1943 die Stelle der Hausmeisterin der Universitätsschule erhielt.102 Zur Gruppe von sozialistisch gesinnten Vätern gehörte Schöppes Stiefsohn Fritz Grebhan, der im Jahr zuvor gerade die Petersenschule abgeschlossen hatte, eine Ausbildung absolvierte und als Ehemaliger an „seiner“ Schule mitwirkte. Und nicht zuletzt muss als Vater zweier Söhne, die die Petersenschule besuchten, auch der ehemalige SPD-Stadtrat Karl Nicolai im Werkstatt-Team genannt werden, der ebenfalls aktiv im Jenaer Widerstandsnetz wirkte. Reaktionen Der Band „Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus“ erschien Mitte Oktober 2010. In ihm wird folgende These dargelegt: Eine größere Anzahl von Personen, die in mehreren von Jenaer Historikern im Zeitraum 1998–2007 erstellten Dokumentationen Erwähnung finden, dort als ab 1933 dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus zugehörend und als dessen Opfer beschrieben, schickten ihre Kinder in die Petersenschule. Ein von mir formuliertes 98 99 100 101 102

Zu Edzard Hermberg ebd., S. 187. Ebd., S. 201. Grün: Bürger (wie Anm. 1), S. 13. UAJ, S I, Nr. 159, n.p.; Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 252, Anm. 376. UAJ, D 2588, n.p.; Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 146.

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Statement stellte sich als durch die Zeitereignisse überholt heraus. Gisela Horn hatte 2007 in ihrer beeindruckenden Abhandlung über „Jüdische Frauen in Jena“ auch das Schicksal von Hildegard Grebe, die „Halbjüdin“ war, geschildert. Ihr Antrag, nach der Scheidung 1935 erneut zu heiraten, wurde von den Behörden zurückgewiesen. Die Kreisleitung der NSDAP Jena forderte die vorherige Unfruchtbarmachung Hildegard Grebes mit der Begründung: „Wir haben in Deutschland schon genug Bastarde und wollen froh sein, wenn wir deren Zahl verringern können.“103 Hildegard Grebes Tochter Cornelia ging 1948 als Studentin der Berliner Universität (später HumboldtUniversität) in die USA. Sie lebt heute als Cornelia Cotton verwitwet im Staat New York. 1934 in die Universitätsschule eingeschult, bezeichnete Cornelia Cotton in ihrer 2008 erschienenen Autobiographie die Schulzeit in der Petersenschule als eine einzigartige Erfahrung von Humanität und deren Leiter als einen „wundervollen und weisen Lehrer“, während sie selbst auf der Straße als Kind mit den Worten verhöhnt wurde: „Deine Mutter ist eine Jüdin! Deine Mutter ist eine Jüdin!“104 Mein Kommentar dazu lautete: „Dass die Bewertung Petersens als ‚weisen Lehrer‘ von Cotton nach der jüngsten Enthüllung antisemitischer Texte noch so hätte geschrieben werden können, ist zu bezweifeln.“105 Cotton hatte am Ende ihrer Autobiographie im Rückblick auf den Nationalsozialismus betont: Niemand könnte sie „jemals dazu bringen, mich dafür zu schämen, wer und was ich war. [. . . ] Genau damals und dort wusste ich auch, dass ich diesen Teil meiner selbst, der als verhasst galt, – den jüdischen Teil – immer schätzen würde.“106 Doch meine Vermutung erwies sich als falsch. Im September 2010 fand ein Wiedersehenstreffen von 62 ehemaligen Petersen-Schülern in Jena statt. Die 82jährige Cornelia kam aus den USA nach Jena und hielt eine kleine Ansprache im Kreis ihrer ehemaligen Mitschüler und Mitschülerinnen. Darin hieß es über Petersen: „Er war ein Mensch mit Schwächen und Widersprüchen und gewissen Vorstellungen, die heute unbegreifbar erscheinen. Ich überlasse es anderen, sich mit diesen Sachen zu befassen – sie sind wichtig. Doch wichtig für uns, seine Schüler, ist, dass er ein Paradies für Kinder geschaffen hat, und dafür soll sein Andenken geehrt und bewahrt bleiben.“107

Wie hat der Forscher mit dieser Äußerung Cornelia Cottons umzugehen? Ich denke, weder sollte sie pro oder contra Petersen eingesetzt werden, noch sollte man ihr mitteilen, dass sie (da sie nicht „Volljüdin“ ist) im NS-Staat keiner Gefährdung ausgesetzt war – wie Gegner meines Buches immer wieder hervorheben. Deren Argument lautet: In der Universitätsschule Jena, welche zeitweise die Tochter von Hans F.K. Günther, die jüngste Tochter von Wolf Meyer-Erlach oder ein Sohn von Lothar Stengel- von Rutkowski besuchten, konnten ab 1933 nicht gleichzeitig Kinder sein, deren Eltern vom NS-Regime bedroht waren. Wenn Absolventen der Schule 103 Zitiert nach Gisela Horn: Jüdische Frauen in Jena, in: Amlacher/Ebert/Horn: Anpassung (wie Anm. 8), S. 56–90, hier S. 58. Ausführlich zu diesem Problem vgl. Alexandra Przyrembel: „Rassenschande“. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003. 104 Cornelia Cotton: Schaufenster. Ansichten eines Lebens, Jena 2008, S. 16. 105 Retter: Universitätsschule (wie Anm. 2), S. 247, Anm. 237. 106 Cotton: Schaufenster (wie Anm. 104), S. 106. 107 Dies.: Bemerkungen. Zum Anlass des Treffens ehemaliger Petersen-Schüler in Jena am 24. September 2010. (Ms., Stadtarchiv Jena, Sammelmappe Universitätsschule)

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dem „Rassisten“ Petersen dankbar für den Schutz sind, den diese Schule ihrer Familie bot, dann können die Betreffenden nicht Kinder von rassisch oder politisch Verfolgten gewesen sein. Das Bestehen auf dieser „Logik“ ignoriert die Faktizität dokumentierter Erfahrung, mit der Cotton zweierlei deutlich macht: Alle politischen Belastungen Petersens müssen aufgeklärt, nichts darf verdrängt oder beschönigt werden angesichts der Shoah und der nationalsozialistischen Verbrechen. Die andere Botschaft Cottons lautet: Ich habe als Kind in der Universitätsschule Petersen als einen guten und weisen Lehrer erfahren. Diese Erfahrung in einer Zeit, in der meine Eltern und ich selbst unter dem NS-Regime litten, sollte nicht durch Bagatellisierung des Unrechts und der Verfolgung, der eine Anzahl von Absolventen der Universitätsschule ausgesetzt waren, zu erneutem Unrecht führen. Beide Botschaften sind aus meiner Sicht beachtenswert. Dabei muss man sich nicht distanzlos die Aussagen von Absolventen der Petersenschule einverleiben. Der Forscher nimmt Anteil, aber er behält seine Distanz. So gesehen kann man nur empfehlen, jenen herabsetzenden Tonfall zu meiden, den Torsten Schwan an den Tag legte, als er meine von Teilhaben getragene Darstellung des Schicksals ihrer Mutter als „massiven Revisionismus“ abqualifizierte, der „erschreckende Verzeichnungen widerspiegelt“108 – nachdem ich Cottons Autobiographie nebst Daten aus dem Universitätsarchiv auswertete. Die „tatsächliche historische Realität“ der Universitätsschule, weiß Schwan, war völlig anders als Cornelia Cotton (oder andere Petersen-Schüler wie Rolf Schrade) sie berichteten. Wenn Schwan mit beißendem Spott „Retters heile Welt“ kritisiert, kann ich nur – ohne Spott – entgegnen: Nein, es war Cottons heile Welt, die ich wiedergab. Ansonsten konnte sie ihre Kindheit und die Situation ihrer Familie kaum als heil bezeichnen, nachdem die NS-Justiz die Lebenspläne ihrer Mutter aus „rassischen“ Gründen zerstört hatte. Ich erweise ihrem Schicksal und dem ihrer Familie gegenüber meinen Respekt,109 während Schwan sich als Entlarver von „Mythen“ gefällt und von Leid gezeichnete Schicksale missachtet. Die von ihm praktizierte Ideologie – keine „Volljüdin“ – keine Gefährdung – ist in ihrer Wirkung derart verletzend gegenüber lebenden Personen, die im Nationalsozialismus gedemütigt und entrechtet wurden, dass Schwans Versuche, mit herabsetzenden Begriffen wie „Erfindung von Judenkindern“ oder „Instrumentalisierung der Opfer“ sich eine rhetorische Herrschaft über Mitmenschen anmaßt, die zur traurigen moralischen Selbstentblößung wird. Wer als Forscher von konkret erfahrenem Leid im NS-Regime ausgeht, wie dies in den dokumentierten Fällen geschah, nimmt zuallererst diese Erfahrung ernst und versucht sie nicht gemäß der Nomenklatur der Rassengesetze in die Klassen der ihnen von den Nationalsozialisten zugewiesenen Schicksale aufzuteilen. In vielen Fällen hielt sich die Gewalt des NS-Regimes nicht an die eigenen Klassifikationen, sondern war reine Willkür. 108 Schwan: Universitätsschule (wie Anm. 3), S. 140. 109 In einem ausführlichen Brief vom 13.4.2011 aus den USA brachte Cornelia Cotton nach Erhalt meines Buches ihre Freude und Dankbarkeit zum Ausdruck, indem sie betonte: „dass Sie die Petersenschule, das eigentliche Lebenswerk von Prof. Petersen, so gründlich und so großmütig und auf alle Zeiten festgehalten haben“. Dabei nannte sie viele erinnerte Details zu einzelnen Mitschülern wie Felix König und Rolf Gruner. Ebenso erwähnte sie die Freundschaft ihrer jüdischen Großmutter mit der Jüdin Anna Herschkowitz, über die der Band „Juden in Jena“ (vgl. Anm. 1) berichtet. Cottons E-Mail ist archiviert im Stadtarchiv Jena (Mappe Universitätsschule).

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Anders als meine Kritiker mir nahelegen, sah ich es nicht als meine Aufgabe an, den Befragten einzureden, dass ihre Erinnerung an das, was sie und ihre Angehörigen im NS-Staat erfuhren, falsch sei und dass es ihnen im Nationalsozialismus relativ gut ging, da sie keine Juden, sondern nur „Halbjuden“, „Vierteljuden“ oder Kinder kommunistischer Eltern des aktiven Widerstands seien. Ich weigerte mich in der Tat, einem anerkannten Opfer des Nationalsozialismus, das als Kind die Petersenschule besuchte, vorzuhalten, dass bei ihm als „Halbjuden“ „nur“ die jüdische Mutter ins KZ deportiert wurde, nicht aber der Vater, der „nur“ Zwangsarbeit bei der „Organisation Todt“ leistete – entsprechend der von Ortmeyer und Schwan ausgegebenen Parole, dass „volljüdischen“ Kindern und ihren Eltern ein noch schlimmeres Schicksal drohte.110 Ich halte es für inhuman, heute wegzuschauen vom Unrecht, das diejenigen erfuhren, die nicht von vornherein zur Ermordung vorgesehen waren, gleichwohl verfolgt wurden unter dem Regime. Das Leid Betroffener zu bagatellisieren, um sie aus der öffentlichen Erinnerungskultur ausschließen zu können, ist inhuman. Richtig ist, dass „Auschwitz“ nicht relativierbar ist. Wie ist das Problem lösbar? Gewiss nicht durch eine Rhetorik, die sich um das Nichtvergessen des nationalsozialistischen Völkermords bemüht und gleichzeitig exkludiert. Der Gattungsbruch der Jenaer Erinnerungsgeschichte Der Holocaust111 bietet heute dem Erinnern nicht einen einzigen, sondern mehrere Zugänge. Theodor W. Adorno war legitimiert, über „Erziehung nach Auschwitz“ zu sprechen, und er tat dies in einer Weise, die damals, vor einem halben Jahrhundert, für viele vorbildlich war. Der Nobelpreisträger Imre Kertész besitzt diese Legitimation ebenfalls. Er erinnert in seinem „Roman eines Schicksallosen“ in einer Weise an die Shoah, die Adorno vermutlich missbilligt hätte. Und es gibt heute noch sehr viel mehr Möglichkeiten, die Erinnerung an den Holocaust wach zu halten. Dazu gehören Ruth Klügers „weiter leben“ und Hans Jonas’ Reflexionen über den Gottesbegriff nach Auschwitz.112 Niemand, der als Wissenschaftler über Antisemitismus und 110 Der Jenenser Jude Carl (Charles) Heinz Friedmann (* 1926), der dem Holocaust durch Emigration in die USA entkam, berichtete von seinem Unterricht als Kind in der jüdischen Religionsschule: „Wir haben ein einigermaßen gutes jüdisches Lernen gehabt. Das ging bis zum Jahr 1938. Danach [. . . ] wurden mein Bruder und ich in das Kinderheim nach Leipzig geschickt, das übrigens ganz koscher und orthodox geführt wurde. [. . . ] Mein ganzes jüdisches Wissen, das ich heute noch benutze, kam von den drei Jahren, die wir in Leipzig verbracht haben.“ Albrecht Schröter: Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Holocaust, in: Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1), S. 35–73, hier S. 56. 111 Ich verwende für den Völkermord des Nationalsozialismus an den europäischen Juden die drei Begriffe Holocaust, Shoah und Auschwitz in gleicher Bedeutung. Ebenso benutze ich anstelle von NS-Staat weitere Begriffe (wie NS-Regime u.a.) in gleicher Bedeutung. 112 Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1970, S. 92–109; Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, Reinbek bei Hamburg 2003; Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, München 2010; Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt a.M. 1987; Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 2002; Edith Devries: Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da. Eine jüdische Kindheit zwischen Niederrhein und Theresienstadt, Norderstedt 2008.

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Völkermord im NS-Staat Aussagen trifft, kann dies guten Gewissens tun, ohne die neunstündige Film-Dokumentation „Shoah“ von Claude Lanzmann gesehen zu haben.113 Nur vor diesem Erfahrungshintergrund lässt sich Ortmeyers Anliegen, „Nie wieder Auschwitz!“ voll verstehen. Ich nehme dieses Anliegen ernst. Doch wer um Familienangehörige trauert, die im Holocaust ermordet wurden, wird sich hüten, die Erinnerung derjenigen zu entwerten, die im NS-Regime „nur“ drangsaliert und gequält worden sind. Er wird sich vielmehr mit ihnen solidarisch fühlen. Wer als Jude der Shoah entkam, wird nicht das Wachhalten an die Verbrechen des Nationalsozialismus fordern, um gleichzeitig jenes Leid, das „Halbjuden“ oder „Vierteljuden“ erlitten, gegen Erfahrungen aufzurechnen – wie dies betroffene ehemalige Absolventen der Petersenschule jüdischer Herkunft angesichts der Bewertungen Ortmeyers und Schwans erfuhren, nachdem mein Buch erschienen war. In der Auseinandersetzung mit den Befunden zur Universitätsschule im NS-Staat lässt Ortmeyer differenziertere Sprachmuster erkennen, als dies in der totalitären Sprache Schwans der Fall ist. Es sind nur Sprachpartikel, aber ich nehme sie wahr, und mir ist wichtig, diesen Unterschied in der Sprache beider Rhetoriker zu benennen. Der Sinn für diese Differenz bildet sich aus, wenn man die Erfahrung des Leids von Opfern des Nationalsozialismus direkt erfährt. Ortmeyer hatte diese Erfahrung durch sein (oben erwähntes) Projekt Anfang der 1990er Jahre. Wenn man unter ihrem frisch gewonnenen Eindruck steht, wie ich in meinem kleinen, spontan durchgeführten Projekt, dann ist die Bereitschaft sich für sie, die Geschädigten, einzusetzen, besonders groß – so meine Erfahrung. Wenn Ortmeyer im Hinblick auf die Jenaer Universitätsschule „das Schicksal der ‚halbarischen‘ Kinder und der Kinder der Widerstandskämpfer“ als nur „bedrückend im Einzelfall“ bewertet,114 dann ist das diskriminierend für Menschen, die seine Nachbarn sein könnten. Doch immerhin: Ortmeyer hat sie als Opfer gesehen, was Schwan völlig fremd ist, wenn er mein Bemühen als „schamlos“ bewertet wissen will. Es ist durchaus erlaubt, ein Fragezeichen hinter den Untertitel meines Buches zu setzen, um dessen Diktion kritisch zu diskutieren. Das ändert nichts an den dargestellten Fällen. Doch die sichtbare Geringschätzung von Menschen, die im Nationalsozialismus litten, wie sie Schwan in seiner „Analyse“ zum Ausdruck brachte, fordert dazu auf zu fragen, wessen Anstand und Schamgefühl hier auf dem Prüfstand steht. Ortmeyer wusste offenbar nichts von der Jenaplan-Pädagogik in den Niederlanden (nur vom Schicksal Anne Franks), als er in seiner Habilitationsschrift über deren Vertreter in einer Weise urteilte, die leichtfertig und anmaßend, jedenfalls eines Hochschullehrers nicht würdig ist. Es geht um Sätze, die Ortmeyers ideologischem Feindbild entsprechen, gleichzeitig aber konkrete Personen treffen wiederum Menschen, die später für den Jenaplan eintraten und nicht nur etwas aus Büchern von Anne Frank wussten, sondern, unter deutscher Besetzung in Amsterdam selbst im Untergrund, in nachbarschaftlicher Nähe zu ihr lebten. Ich meine das Ehepaar Hans und Susan Freudenthal. Die Nestorin der niederländischen Jenaplan-Pädagogik, Susan Freudenthal-Lutter, war bekanntlich, 113 Claude Lanzmann: Shoah (Filmdokumentation 1985); zur (Auto-)Biographie siehe ders.: Der patagonische Hase. Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg 2010. 114 Ortmeyer: Brief (wie Anm. 39), S. 42.

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wie es im Nazi-Jargon hieß, „jüdisch versippt“. An diese Adresse richtete Ortmeyer eine „Botschaft“, die man nur fassungslos zur Kenntnis nehmen kann: „So gehörte es zu den demagogischen Floskeln, dass Peter Petersen ja nicht für die Nazis gewesen sein könnte, wenn es in Holland, dem Land, in dem Anne Frank versteckt worden sei, so eine Begeisterung für Petersen gäbe. [. . . ] Es muss allerdings auch bewusst sein, dass Anne Frank nicht nur versteckt, sondern auch verraten und wie 90 Prozent der Juden deportiert und ermordet wurde. Vielleicht wundert es dann weniger, dass Petersen angesichts einer starken Grundströmung holländischer Kollaboration mit den NS-Besatzern bei bestimmten Kreisen in den Niederlanden solche Zustimmung findet.“115

Freudenthal-Lutter hatte bereits 1984 Distanz zu Petersens nationalsozialistischer Vergangenheit bekundet, ohne dass zum damaligen Zeitpunkt das ganze Ausmaß seiner Mitwirkung im NS-Regime bekannt sein konnte. Die niederländische Germanistin war verheiratet mit dem in Luckenwalde geborenen und in Amsterdam lehrenden jüdischen Mathematiker Hans Freudenthal (1905–1990), der 1943 in das Arbeitslager Havelte (Drente) deportiert wurde. Mit Hilfe seiner Frau gelang ihm 1944 die Flucht. Er arbeitete bis zum Kriegsende im Untergrund.116 Mirjam Freudenthal, die Tochter der niederländischen Jenaplan-Gründerin, die von Ortmeyers Ausführungen Kenntnis erhielt, teilte mir in einem Brief vom 5. April 2011 mit: „Als Tochter von Susan Freudenthal-Lutter habe ich die Anfänge der niederländischen JenaplanEntwicklung als junge Frau intensiv miterlebt. Ich bin sehr schockiert durch die wissenschaftlich vollkommen unbegründete und unrealistische Verdächtigung der allerersten Befürworter und Pioniere des Jenaplan-Unterrichts in den Niederlanden. Praktisch alle betreffenden Personen sind inzwischen verstorben und können sich nicht mehr verteidigen. Es gibt aber mehrere Publikationen, die klar machen, dass es nach dem Bekanntwerden nationalsozialistisch gefärbter Texte von Petersen in den 80er Jahren bei meiner Mutter und in den pazifistischen und linkskatholischen Kreisen der Jenaplan-Pioniere eine spürbare Enttäuschung gegeben hat. Aber sie haben sich für die Sache des Jenaplans, das pädagogische Modell, nicht für eine Person entschieden. Dass Ortmeyer solche seltsamen Ideen über den angeblichen Einfluss einer ‚Nazi‘-Pädagogik Petersens auf ,bestimmte Kreise‘ der niederländischen Kollaboration in die Welt setzt, ohne jede nähere Kenntnis der Situation und der beteiligten Menschen damals, ist skandalös. Schon 1933 sind meine Eltern von Amsterdam nach Emmerich gereist um gegen Hitler zu wählen. Während des Krieges haben beide ernsthaft gelitten unter der deutschen Besatzung und der Judenverfolgung. Mein Vater als ausgebürgerter deutscher Jude ist inhaftiert gewesen und glücklicherweise auch geflüchtet.“

Es besteht wenig Hoffnung, dass diese Zeilen einer niederländischen Bürgerin jüdischer Herkunft hierzulande aufklärende Wirkung besitzen und Nachdenklichkeit erzeugen. „Halbjuden“ haben dank Ortmeyers Wirksamkeit und der Medienunterstützung, der er sicher sein kann, kaum eine Chance, im Kontext des Themas „Petersen und der Nationalsozialismus“ überhaupt gehört zu werden. Rolf Schrade, im NSJargon ebenfalls „Halbjude“, emeritierter Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, nahm den Leserbrief Torsten Schwans in der GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“ zur Kenntnis, in welchem geäußert wird, mein Buch instrumentalisiere „schamlos“ das Leid jüdischer Menschen. Rolf Schrade schrieb daraufhin einen Brief an die Redaktion der Ostthüringer Zeitung, die seiner Bitte um Veröffentlichung nicht entsprach. Auch die Redaktion der GEW-Zeitschrift „Er115 Ders.: Mythos (wie Anm. 17), S. 79f., Anm. 318. 116 http://www.luckenwalde.de/index.htm?stadt/ebfreud.htm, zuletzt abgerufen am 14.3.2012.

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ziehung und Wissenschaft“ wollte den Brief zunächst nicht abdrucken, wie eine Nachfrage ergab. Umso erfreulicher ist, dass die Veröffentlichung dann doch noch erfolgte. Der Originalbrief lautet: „Prof. Dr. phil. Dr. h.c. Rolf Schrade, Berliner Str. 25, 15831 Mahlow Offener Brief 20.2.2011 Ich habe mit großer Erschütterung in einer Leserzuschrift von Herrn Torsten Schwan in der Zeitschrift ‚Erziehung und Wissenschaft‘ Nr. 2/2011, S. 34 gelesen, dass jüdische Kinder an der Jenenser Petersenschule in dem Buch von Prof. Dr. Hein Retter ‚Die Universitätsschule Jena im NS‘ von dem Autor erfunden worden seien: ‚Um dem vorzubeugen, muss man neuerdings jüdische Kinder an der Petersenschule während der NS-Zeit erfinden, um damit eine scheinbare historische Legitimität herzustellen und Petersen zum Widerstandskämpfer zu stilisieren.‘ Ich weiß natürlich nicht, worum es dem Schreiber dieser Zeilen wirklich geht. Auf keinen Fall sind das jedoch Wahrheit und Historizität. Denn jüdische Kinder gab es in der Petersenschule durchaus. Ich bin eines von ihnen. Im Jahre 1934 geboren, galt ich in der Nazizeit als Halbjude und habe trotz dieses ‚Makels’ von 1940 bis Kriegsende 1945 eben jene Schule besuchen können. Jeder in Jena weiß, dass meine jüdische Mutter, Erna Schrade, in dieser Zeit in das Konzentrationslager Theresienstadt verbracht wurde. Mein Vater, damals Personal- und später Planungschef von Carl Zeiss Jena, der sich geweigert hatte sich von meiner Mutter scheiden zu lassen, wurde 1944 in ein Arbeitslager in Merseburg überstellt. Meine Eltern haben wie durch ein Wunder die Lager überlebt. Dass auch ich in Jena überlebt habe, verdanke ich mutigen Menschen wie Petersen, die mich durch ihr unkonventionelles Verhalten geschützt haben. Ich denke – und das möchte ich an die Adresse des Schreibers der Leserzuschrift richten –, dass zu einer historischen Betrachtung gehört, tatsächlich alle Seiten einer Person und eines Geschehens zu beachten. Eine polemische einseitige Darstellung, wie er sie gibt, beschädigt nicht nur das Ansehen des Reformpädagogen Petersen, sondern beleidigt auch diejenigen Personen, die das Leid und das Unrecht der Nazizeit ertragen mussten. Rolf Schrade“.

Den von mir kursiv gesetzten letzten Sätze der Originalleserzuschrift Schrades stelle ich die von der GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“ (2011/Hf. 5, S. 34) veränderte Fassung gegenüber. Dort heißt es: „Zu einer historischen Betrachtung gehört auch, tatsächlich alle Seiten einer Person und eines Geschehens zu beachten. Eine polemische einseitige Darstellung beleidigt auch die Menschen, die das Leid und die Verbrechen der Nazizeit ertragen mussten.“117

Redaktionen kürzen üblicherweise Leserbriefe. Bei derartigen Ungeheuerlichkeiten, wie Schwan sie von sich gab, sollte die GEW Rolf Schrade erlauben (was ihm verwehrt wurde), diesen „Fachmann“ persönlich darauf hinzuweisen, dass er Familie Schrade und andere Opfer des Nationalsozialismus ins Unrecht setzte. Es geht nicht um die Menschen als abstraktem Prinzip, sondern um lebende Personen, die Schwan trifft. Dass Schrade dann noch vom „Ansehen des Reformpädagogen“ Petersen spricht, war für die GEW schon zuviel. Das kann man verstehen. Jedenfalls hat die Frankfurter GEW-Redaktion mit dem Abdruck des Briefes richtig gehandelt. Sie hat völlig korrekt reagiert. Die Ostthüringer Zeitung, von Schrade um Abdruck gebeten, reagierte nicht einmal. Was geht die OTZ in Jena der offene Brief eines „Halbjuden“ an, dessen jüdisch geborene Mutter durch ihre Tätigkeit für das „Büro Grüber“ in Berlin jüdisch geborenen Mitbürgern das Leben rettete und dessen Vater, Hugo Schrade, zurückge117 Leserbrief Rolf Schrade: „Große Erschütterung“, in: Erziehung und Wissenschaft 63 (2011), Hf. 5, S. 43.

Zur Diskussion

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kehrt von Zwangsarbeit, nach dem Einzug der Amerikaner 1945 die Rückkehr von 30 Thüringer Frauen aus dem KZ Theresienstadt organisierte?118 An Hugo Schrade erinnert in Jena eine Straße, die seinen Namen trägt. Den offenen Brief seines Sohnes Rolf Schrade der Bevölkerung Jenas vorzuenthalten, bedeutet punktuell genau das, was in der Diktatur bis 1945 und dann wiederum bis 1990 dauerhaft geschah: etwas durch Negierung mit voller Absicht für die Welt als nicht existent auszuweisen. Denn was nicht in der Zeitung steht, existiert nicht. Im vorliegenden Fall ging es der OTZRedaktion wohl nicht nur darum, der Peinlichkeit zu entgehen, dass der „Fachmann“ Schwan, den der verantwortliche Redakteur hofiert hatte, im Zusammenhang meines Buches plötzlich von einer in Jena bekannten Persönlichkeit Kritik erhielt. Es ging um mehr. Schwan beschwörte in Jena den „Gattungsbruch“ des Holocaust.119 Doch als Gewährsmann der OTZ durfte er maßgeblich am „Gattungsbruch“ der Jenaer Erinnerung mitwirken. Ein offener Brief kann, muss aber nicht abgedruckt werden. Ein Brief Schrades in dieser Situation hätte bei Vorherrschen einer freien Presse in Jena auf jeden Fall die Chance vollständiger Veröffentlichung erhalten. Mit dem Verschweigen des offenen Briefes wurde ein zentraler Bestandteil der Erinnerungskultur Jenas getroffen: der christlich-jüdische Kontext, für den Hugo, Erna und Rolf Schrade120 stehen. Ehemalige Schüler der Universitätsschule, deren Eltern und Familienangehörige im NS-System litten, haben ein moralisches Recht, diese Schule als Ort des Schutzes im Nationalsozialismus in ihrer Erinnerung bewahren zu dürfen, ohne von dritter Seite diskreditiert oder aus der lokalen Erinnerungskultur ausgeschieden zu werden. Ihre Erinnerungen verdienen Beachtung durch die zeithistorische Forschung. Ich wiederhole: Mein Buch ist keine Bewertung Petersens (die hier nicht zur Diskussion steht). Die Behauptung von Gegnern, Petersen soll damit zu Jenas „Schindler“ erhoben werden, ist zwar absurd, hat jedoch Methode: Das Thema Universitätsschule soll der Lächerlichkeit preisgegeben und ideologisch korrumpiert werden. Dabei geht es um die schlichte Mitteilung, dass die Petersenschule zu einem erheblichen Teil von Kindern besucht wurde, die selbst oder deren Eltern das Regime zu fürchten hatten, und, soweit ich mit noch lebenden Zeitzeugen sprechen konnte, dieser Schule und ihrem Leiter dankbar sind, dass sie sich ihm anvertrauen konnten. Der Untertitel des Buches, an dem sich die Diskussion entzündete, kann wegfallen, muss jedenfalls kein Reizthema sein. Man kann zusätzliche Erläuterungen für die Wahl von Begriffen in einem sensiblen Sprachfeld geben, um Missverständnissen vorzubeugen; es ist möglich, nicht nur Material aus dem Projekt zu dokumentieren, sondern einmal mehr auch zur Rassen- und Schulgesetzgebung. „Verfolgung und Vernichtung“ (Eberhart Schulz) jüdischer Mitbürger in Jena wurden hinsichtlich der Gesetze und Erlasse 1933–45 von Jenaer Historikern gründlicher berücksichtigt, als Schwans oder Ortmeyers Belehrungsversuche dies wahrzunehmen bereit sind. Die Karikaturen, die 118 Arbeitskreis: Juden (wie Anm. 1), S. 165–167. 119 Schwan: Universitätsschule (wie Anm. 3), S. 115. 120 Prof. Dr. Dr. h.c. Rolf Schrade (*1934), emeritierter Professor für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin, ist einer der international bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der frühchristlichen Kunst Georgiens.

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Schwan aus jenen Menschen macht, über die ich in meinem Band berichte, sind eine Bestätigung dafür, dass es richtig war, ohne normierende Klassifizierung vorzugehen. Die Petersen-Kontroverse macht bewusst, dass der Umgang mit Schuld ein Erfahrungsfeld ist, auf dem ungewollt neue Schuld entstehen kann. Als jemand, der sich „Experten“ gegenüber sah, die dieses Vorhaben nur noch verächtlich zu machen suchten, erhielt die Diskussion auch von meiner Seite aus Züge, die stellenweise rationaler Kommunikation widersprachen. Gerechtigkeit für diejenigen einzufordern, deren Schicksale ich festhielt, erzeugte ungewollt Ungerechtigkeit gegenüber Dritten – das wurde mir schmerzhaft bewusst. Wenn es in meinem Buch nur um eine einzige Familie der Petersenschule gegangen wäre, die Opfer des Nationalsozialismus wurde, könnte man es bereits als nicht umsonst geschrieben betrachten. Aber es waren mehr. Wer immer diese Diskussion fortsetzt, sollte sich der Offenheit der Forschung und der liberalen Argumentationskultur verbunden fühlen. Mein Projekt zur Jenaer Universitätsschule führte zu neuen Erkenntnissen, aber auch zu weiteren Fragen, für die eine hinreichend befriedigende Antwort noch aussteht.121

121 Es ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis, denjenigen zu danken, die mir durch Auskünfte, Hilfe und Bereitstellung von Material bei der Abfassung dieses Beitrages zur Seite standen. Ein besonderer Dank gebührt Margit Hartleb (Universitätsarchiv Jena), Constanze Mann (Stadtarchiv Jena) und Vera Haney (Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen, Geschäftsstelle Jena).

Rüdiger Stutz „LEHRERBILDUNG IM IRRGARTEN DER POLITIK“ – DIE ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTLICHE ANSTALT PETER PETERSENS UND DER DAUERSTREIT UM DIE AKADEMISCHE AUSBILDUNG VON VOLKS- UND BERUFSSCHULLEHRERN IN DER NS-ZEIT Inhalt: „Die letzte Entscheidung steht noch aus“: Ein Netzwerk von Pädagogikprofessoren streitet für die universitätsnahe Lehrerbildung im Nationalsozialismus, 1933/34 (342) „Lehrerbildung und Universität“: Der NS-Lehrerbund und Petersens Denkschrift für den Ministerpräsidenten des Landes Thüringen, 1934 bis Frühjahr 1936 (352) „Der akademisch gebildete, wissenschaftliche Lehrertyp einer wurzellosen Übergangszeit ist verschwunden“: Der bruchstückhafte Umbau des PI Jena in eine „Hochschule für Lehrerbildung“ und Petersens Streichung aus dem Lehrangebot für die Lehramtsstudenten, 1938/39 (358) Ein Chamäleon im „Irrgarten der Politik“: Das Lebenslauf-Dokument von Ende 1941 und neue berufs- beziehungsweise sozialpädagogische Forschungsperspektiven, 1939 bis 1944/45 (366) . . . außen vor, „doch irgendwie mittendrin“: Eine universitäre Ausbildung von Volksschullehrern und die NS-Erziehungsdoktrin schlossen einander aus, nicht aber die Einbindung von Petersen in berufspädagogische Netzwerke der Kriegsjahre (376)

Um die Jahreswende 1935/36 verfasste Peter Petersen ein Manuskript, das er aus gutem Grund mit dem Untertitel „Ein schulpolitischer Beitrag“ überschrieb. Der kleine Text vermittelte dem Leser einen informativen Überblick zur Geschichte der Lehrerbildung an der Universität Jena. Seine eigentliche Botschaft bestand aber in der alten Forderung des Bundes der Bildungsreformer, die Lehrerbildung für alle Schultypen zu vereinheitlichen und vollständig in das Lehrangebot der Universitäten beziehungsweise Technischen Hochschulen zu integrieren. Denn der „Dualismus“ zwischen dem fachwissenschaftlichen Studium an der Universität und der pädagogisch-praktischen Ausbildung an einem von ihr abgelösten Institut müsse endlich aufgehoben werden.1 Nach Einschätzung von Gernot Paul habe Petersen mit diesem Artikel versucht, „noch einmal den Argumenten für die akademische Lehrerbildung eine möglichst weite Verbreitung zu verschaffen“.2 Andreas von Prondczynsky meinte hingegen, es habe sich um bloße Überlebensrhetorik gehandelt.3 1 2 3

Peter Petersen: Die Lehrerbildung an der Universität Jena. Ein schulpolitischer Beitrag, in: Deutsches Bildungswesen. Erziehungswissenschaftliche Monatsschrift des Nationalsozialistischen Lehrerbundes für das gesamte Reichsgebiet, 4 (1936), Hf. 4, S. 20–31, zit. n. S. 23. Gernot Paul: Lehrerbildung und Politik. Eine Analyse der Auseinandersetzungen während der Weimarer Republik (= Erziehungswissenschaftliche Dissertationen 1), Hamburg 1985, S. 116. Andreas von Prondczynsky: Universitätspädagogik und lokale pädagogische Kultur. Jena zwischen 1883 und 1933, in: Alfred Langewand/Andreas von Prondczynsky (Hg.): Lokale Wissenschaftskulturen in der Erziehungswissenschaft (= Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft 20), Weinheim 1999, S. 75–187, hier S. 179.

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Tatsächlich enthielt sich Petersen jeglicher Kritik am damaligen Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick. Obgleich letzterer als Thüringischer Volksbildungsminister 1930/31 die weitere Einschränkung der universitären Ausbildung von Volksschullehrern und sogar die Aufhebung der akademischen Berufsschullehrerausbildung verfügt hat. Außerdem wurde in seiner Amtszeit ein am Pädagogischen Institut Jena (PI Jena) vertretenes didaktisches Lehrgebiet zu einem obligatorischen Prüfungsfach aufgewertet und damit ein Element der preußischen Prüfungsordnung vom Land Thüringen übernommen.4 Vielmehr beklagte Petersen, dass die gesetzlichen Vorgaben für den Bildungsgang der Volksschullehrer in den Jahren bis 1933 fortlaufend geändert worden seien. Daher sei ihm die Lehrerbildung im parlamentarischen Regierungssystem wie ein „Irrgarten“ erschienen. Mehr noch, das Land Thüringen habe die „Leiden des Parteienstaates“ voll und ganz durchstehen müssen. Einen der Amtsnachfolger von Frick, Staatsminister Fritz Wächtler, nahm Petersen von dieser harschen Kritik allerdings aus. Er bezeichnete ihn als den „Wortführer“ der seinerzeitigen Landtagsfraktion der NSDAP in allen Fragen der Lehrerbildung. Nach dem Triumph des Nationalsozialismus habe Wächtler als zuständiger Thüringischer Minister für Volksbildung das dreijährige Lehrerstudium an der Universität Jena zum 4. April 1933 wieder eingeführt, einschließlich des schulpraktischen Ausbildungsteils am PI Jena.5 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des kleinen Artikels von Petersen hatte Wächtler Thüringen schon den Rücken gekehrt. Seit dem 5. Dezember 1935 fungierte er als Gauleiter der NSDAP in der Bayerischen Ostmark und Reichswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NS-Lehrerbundes) in Bayreuth, verlor aber durch diesen Amtswechsel seine regionale Machtposition im Staatsapparat. Diesen Umstand wusste der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, sogleich für seine Ziele auszunutzen. Denn Wächtler hatte am 31. Oktober 1935 den Plänen im Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung (REM) deutlich widersprochen. Er ließ ein vierseitiges Memorandum entwerfen, dessen Eckpunkte er dem zuständigen Schulreferenten seines Ministeriums, Richard Arnold, vorgab. Nach den in Thüringen gemachten Erfahrungen sei eine Verkürzung des Volksschullehrerstudiums nicht zu empfehlen, hieß es darin resümierend.6 Das REM in Berlin äußerte zwar sein Bedauern, wies jedoch das Thüringische Ministerium für Volksbildung am 10. Dezember 1935 an, die Ausbildung der Volksschullehrer in Thüringen wieder auf zwei Jahre zu beschränken. Es sei nicht möglich, dass sich Thüringen als einziges Land von der für das gesamte Deutsche Reich vorgesehenen Regelung ausschließe.7 Dem kam Weimar am 31. Januar 1936 nach und setzte die Anordnung bereits für die zu Ostern 1935 am PI Jena aufgenommenen Studierenden um.8 Petersen wollte seine eingangs referierte Kritik an der „Lehrerbildung im Irrgarten der Politik“9 noch auf die Jahre der Wei4 5 6 7 8 9

Paul: Lehrerbildung (wie Anm. 2), S. 114f.; vgl. auch den Artikel von Jürgen John in diesem Band. Petersen: Lehrerbildung (wie Anm. 1), S. 22 u. 23. ThHStAW, ThVM, A 281, Bl. 179r–180v. Ebd., Bl. 182r. Ebd., Bl. 184r+v. Das den Titel des vorliegenden Beitrages bildende Zitat stammt aus: Petersen: Lehrerbildung

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marer Republik beschränkt wissen. Indes offenbarte das taktierende Vorgehen von Reichsminister Rust, dass sich in der NS-Lehrerbildungspolitik Ende 1935/Anfang 1936 zwei „Lager“ gegenüberstanden. Die davon ausgelösten bildungspolitischen Cliquenkämpfe riefen ein Wirrwarr amtlicher Erlasse und Verordnungen hervor, das auch um die Thüringer Lehrerbildung keinen Bogen machte. Schon durch den administrativen Umbau, die großstadtfeindliche Ausrichtung und personelle „Säuberung“ der Pädagogischen Akademien war im Preußischen Kultusministerium die Frage aufgeworfen worden, inwieweit und in welchem Zeitrahmen sich dieser Berliner „Sonderweg“ in der akademischen Lehrerbildung auf Thüringen übertragen ließe. Musste das bis 1928 an der Universität Jena institutionalisierte Ausbildungskonzept einer „integrierten Lehrerbildung“10 nunmehr vollständig aufgegeben werden? Oder erschien es möglich, das „Thüringer Modell“ der Lehrerbildung in eingeschränkter und politisch angepasster Form auch unter den veränderten Herrschaftsbedingungen zu erhalten? Oder ließ es sich sogar auf andere gesellschaftliche Kernbereiche wie die Wirtschaft und das Sozialwesen übertragen beziehungsweise ausweiten, wo berufsspezifische Anforderungen an die Ausbildung der nachrückenden Generationen an Bedeutung gewannen? Zunächst versuchte Rust, die in Preußen eingerichteten Hochschulen für Lehrerbildung nach der Bildung des REM im Jahre 1934 im gesamten Reich einzuführen. Bis 1937 hatte er damit in fast allen Ländern Erfolg, selbst im Stammland der universitären Lehrerbildung, in Hamburg. Auch in Braunschweig und Sachsen wurden selbstständige Hochschulen für Lehrerbildung gegründet, das heißt von den Landesuniversitäten beziehungsweise Technischen Hochschulen separierte Einrichtungen.11 Nur das Land Thüringen bildete darin bis zum Beginn des Wintersemesters 1939 eine Ausnahme.12 Bis zu diesem Zeitpunkt blieb die Ausbildung von Volksschullehrern hochschulrechtlich und durch die Prüfungskommission auch institutionell mit der Jenaer Universitätsanstalt unter dem Direktorat von Petersen verbunden. Die Problemlagen in der Thüringer Lehrerbildung begannen sich Mitte der 1930er Jahre noch aus einem weiteren Grund zu verschärfen. Die sinkende Attraktivität der akademischen Volksschullehrerausbildung und schwindende Nachfrage dieses Studienganges sorgte unter Bildungsexperten und Volksbildungspolitikern für reichlich Kopfzerbrechen. Aus Sicht der leitenden Ministerialbürokratie und des NS-Lehrerbundes stellte der akute Mangel an Volksschullehrern und Lehrern an den höheren Schulen ein Kernproblem der nationalsozialistischen Schul- und Lehrerbil10 11

12

(wie Anm. 1), S. 20. Claudia Bei der Wieden: Vom Seminar zur NS-Lehrerbildungsanstalt. Die Braunschweiger Lehrerausbildung 1918 bis 1945 (= Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 16), Köln/Weimar/Wien 1996, S. 61. Manfred Heinemann (Hg.): Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 2: Hochschule, Erwachsenenbildung, Stuttgart 1980, S. 115–118; Ottwilm Ottweiler: Die Ausbildung der Volksschullehrer im Nationalsozialismus – Struktur, Inhalte und Zielsetzungen nationalsozialistischer Lehrerbildung, in: Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen Forschung, Hf. 20/21 (1983), S. 289–326, hier S. 291; Rainer Bölling: Sozialgeschichte der deutschen Lehrer. Ein Überblick von 1800 bis zur Gegenwart, Göttingen 1983, S. 149. Vgl. dagegen: Manfred Heinemann (Hg.): Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 1: Kindergarten, Schule, Jugend, Berufserziehung, Stuttgart 1980, S. 205; Ottweiler: Ausbildung (wie Anm. 11), S. 294.

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dungspolitik dar. Das führte zu Konflikten, die auch Petersen als Universitätsprofessor und Staatsbeamten tangierten. Er musste zu den aufgeworfenen Grundfragen der Lehrerbildung eine Position beziehen. Im Einzelnen betraf das die reichsweit ausstrahlenden Auseinandersetzungen um die Zukunft der akademischen Lehrerbildung innerhalb des NS-Lehrerbundes in den Jahren 1933/34, Petersens ablehnende Stellungnahmen zur Gründung einer Hochschule für Lehrerbildung in Jena und seinen auf den Ministerialreferenten Waldemar Döpel aus Weimar zurückgehenden Vorstoß von 1940, berufserfahrene Kindergärtnerinnen an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Universität Jena zu Grundschullehrerinnen ausbilden zu lassen. Dem Artikel liegen somit drei thematische Schwerpunkte zugrunde, die auf grundlegende Konflikt- und Politikfelder der Lehrerbildung in der NS-Zeit verweisen: a.) Die Handlungsorientierungen der von den neuen Machthabern und Ministerialbeamten als „liberalistisch“ verunglimpften alten Universitätselite Gezeigt wird, welchen fachwissenschaftlichen und politischen Rückhalt Petersen in und vor allem außerhalb der Universität suchte, um für die Reorganisation der Lehrerausbildung in der frühen NS-Zeit einzutreten. Zu untersuchen ist, mit welchen Organisationen und Einrichtungen er Zweckbündnisse oder sogar strategische Allianzen einging, um die Lehrerbildung an der Universität aufrechtzuerhalten. In diesem Zusammenhang werden die Besonderheiten des Volksbildungswesens in Thüringen angesprochen, die in der Ausbildung von Volksschullehrer/innen bis Anfang 1939 nachwirkten. Vermutlich hat das Petersen in den 1930er Jahren gewisse Handlungsspielräume eröffnet, die andernorts nicht mehr gegeben waren. Im Mittelpunkt der Darstellung steht aber die Frage, welche Hochschuleinrichtungen und Landesinstitutionen an der NS-Lehrerbildung in Jena beteiligt waren beziehungsweise informell auf sie Einfluss gewannen. Dabei gehen wir von der Hypothese aus, dass sich die lokale Kräftekonstellation und Wissenschaftskultur13 in Jena widersprüchlicher gestalteten als es die „Behördenwirklichkeit“ der Verwaltungsbeamten in Berlin und Weimar wahrzunehmen vermochte. Bürokratische Erlasse und Verordnungen „von oben“ erzwangen zwar die häufig beschriebenen Umstrukturierungen der einzelnen Bildungsträger. Doch besagt das mitunter wenig über die miteinander konkurrierenden Interessengruppen vor Ort, die das Profil und die Praxis der Lehrerausbildung tatsächlich geprägt haben. b.) Die institutionelle Absonderung der Hochschulen für Lehrerbildung von der Universität und der Aufstieg eines jüngeren, nationalsozialistischen Dozententyps Zweifellos unterlag die Lehrerbildung in der NS-Zeit einem fortwährenden, höchst widersprüchlichen Strukturwandel. Von Anfang an orientierte die NS-Erziehungspolitik jedoch darauf, an den neu eingerichteten Hochschulen für Lehrerbildung das fachliche Niveau in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft zu senken und von universitären Ausbildungsstandards abzurücken. Mit Claudia Bei der Wieden fassen wir diese Grundtendenz mit dem Begriff einer „stufenweise verlaufenden Entakademisierung“.14 In ihrem Verlauf sei dem schulischen Vorbildungsniveau immer weniger 13 14

Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 3), S. 75–185. Bei der Wieden: Seminar (wie Anm. 10), S. 383.

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Bedeutung beigemessen worden. Demgegenüber gewannen Kriterien wie „körperliche Leistungsfähigkeit“ und „politische Linientreue“ an Relevanz.15 Schließlich wurden nach entsprechenden Weisungen von Adolf Hitler und Martin Bormann zu Beginn der 1940er Jahre eine Vielzahl von so genannten Lehrerbildungsanstalten (LBA) eingerichtet. Diese Reseminarisierung der Lehrerbildung kam einem Rückgriff auf die Ausbildungspraxis im 19. Jahrhundert gleich. Am Beispiel der LBA Jena wird angedeutet, dass die Ausbildung von Volksschullehrer/innen in den Kriegsjahren de facto zum Erliegen kam. Vor diesem Hintergrund gehen wir auch der Frage nach, ob sich bei Petersen schon zu diesem Zeitpunkt lehrkonzeptionelle Überlegungen für die Zeit nach dem Ende der NS-Herrschaft nachweisen lassen. Schließlich entwickelte er nur kurz nach dem Einmarsch der US-amerikanischen Truppen in Thüringen das Konzept, die Lehrerbildung in eine selbstständige Sozial-Pädagogische Fakultät einzubinden, also ausschließlich an der Universität Jena zu verankern.16

c.) Die Interessengegensätze zwischen militärisch-industriellen Fach- und politischen Funktionseliten in der NS-Lehrerbildung auf der lokalen beziehungsweise regionalen Verwaltungsebene Die Volksschullehrer/innen verfügten traditionell über keine große Lobbymacht. Zudem hatten sie ihre Vereinsstrukturen besonders eilfertig und gründlich „gleichgeschaltet“, mithin ihre alten Interessenvertretungen verloren. Obwohl der NSLehrerbund seit seiner Gründung für eine akademische Lehrerbildung eingetreten war,17 konnte er sich mit dieser Forderung gegenüber der Behörde des Stellvertreters des Führers beziehungsweise der Parteikanzlei der NSDAP spätestens seit 1937 nicht mehr durchsetzen. Dagegen erwarteten Großwirtschaft und Wehrmacht von der Ministerialbürokratie beziehungsweise NS-Erziehungspolitik, dass sie weiterhin ein solides Ausbildungsniveau für die Lehrer an höheren und berufsbildenden Schulen gewährleisten.18 Solche gegensätzlichen Ausbildungsinteressen in der Lehrerbildungspolitik des NS-Regimes sind auch an unserem Fallbeispiel ablesbar. Sie beeinflussten die Lehre an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt selbst noch in den Jahren nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges: Einerseits konnte Petersen ohne viel Aufhebens im Februar 1939 aus der Volksschullehrerausbildung in Thüringen verdrängt werden. Andererseits eröffneten sich ihm zu Beginn der 1940er Jahre in der Kindergarten- und Vorschulpädagogik neue Ausbildungs- und Forschungsfelder. Denn hierin wurde er sowohl von der weltbekannten Carl-Zeiss-Stiftung beziehungsweise ihren Industrieunternehmen als auch vom Reichsministerium des Innern in Berlin unterstützt. 15 16 17 18

Ebd., S. 368–386, hier S. 382. Vgl. den Beitrag von Marc Bartuschka in diesem Band. K. Pfaff: Organisation und Bedeutung des NS-Lehrerbundes im ständisch gegliederten Staat, in: Otto Borst (Hg.): Schulung des Erziehers im nationalsozialistischen Staat, Stuttgart 1934, S. 60–71, hier S. 62. Robert Döpp: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit, Diss. phil., Hannover 2002, S. 420–434.

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„DIE LETZTE ENTSCHEIDUNG STEHT NOCH AUS“: EIN NETZWERK VON PÄDAGOGIKPROFESSOREN STREITET FÜR DIE UNIVERSITÄTSNAHE LEHRERBILDUNG IM NATIONALSOZIALISMUS, 1933/34 Petersen verfolgte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter vier verschiedenen politischen Regimen zwei grundlegende, miteinander verschränkte Reformvorhaben. Er verband mit dem Modell der Gemeinschaftsschule die Forderung, auch die zukünftigen Volksschullehrer an den höchsten Bildungsstätten des Deutschen Reiches ausbilden zu lassen. Seit den Jahren seiner Hamburger Privatdozentur trat er für eine Verwissenschaftlichung des Pädagogikstudiums ein. Nicht zuletzt die Studierenden des Bildungsganges Volksschullehrer sollten davon profitieren und mit den neuesten Erkenntnissen der empirischen Sozialwissenschaften vertraut gemacht werden. Für die Durchsetzung seiner Vorstellungen von einer universitären Volksschullehrerausbildung ist er zu unterschiedlichen Zeiten zugleich aktiv politisch handelnd hervorgetreten.19 Dabei ließ sich Petersen zunächst von den schulpolitischen Forderungen eines Karl Muthesius leiten, mit dessen Familie er befreundet war. Muthesius leitete vom 1. Oktober 1906 bis zum Herbst 1923 das Lehrerseminar in Weimar und gab 25 Jahre die wichtigste Zeitschrift für Lehrerbildung und Schulaufsicht heraus, die „Pädagogischen Blätter“. Nach Einschätzung des namhaften Berliner Erziehungswissenschaftlers Eduard Spranger bildeten „Volksverbundenheit und Persönlichkeitskultur“ die beiden Pole seines ethisch-sittlichen Credos. Von „epochemachender Bedeutung“ wäre seine Königsberger Rede auf der Deutschen Lehrerversammlung im Jahre 1904 gewesen. Muthesius sprach zum Thema „Universität und Volksschullehrerbildung“ und forderte perspektivisch, die Ausbildung der Volksschullehrer auf die Universität zu verlegen. Programmatisch bekannte er sich zu den drei Leitbegriffen Einheitsschule, Einheit des Lehrerstandes und volkstümlich-deutsche Bildung, die von den Verbänden der Volksschullehrer seit 1848 vertreten wurden.20 Diese Vorprägungen aus dem späten Deutschen Kaiserreich bildeten das geistig-kulturelle Fundament, auf dem Petersens Auffassungen zum Verhältnis von Universität und Lehrerbildung in der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus beruhten. An die Universität Jena berufen, sollte auch die Lehre neue Maßstäbe setzen, gerade auch in der Lehrerbildung. Außerdem offerierte der neue Ordinarius professionalisierte Angebote für die Lehrerfortbildung, die „Pädagogischen Wochen“. Zwischen 1926 und 1947 fanden immerhin 25 dieser Fortbildungskurse statt, zumeist in Jena und unter Beteiligung auswärtiger Referenten.21 Kurzum, Petersen wollte die 19

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Peter Kaßner: Peter Petersen und sein Bild vom Nationalsozialismus, in: Tobias Rülcker/Peter Kaßner (Hg.): Peter Petersen: Antimoderne als Fortschritt? Erziehungswissenschaftliche Theorie und pädagogische Praxis vor den Herausforderungen ihrer Zeit, Frankfurt a.M. u.a. 1992, S. 247– 284, hier S. 248. Eduard Spranger: Karl Muthesius 1859–1929, in: Günther Franz (Hg., unter Mitwirkung von Wilhelm Flitner): Thüringer Erzieher, Köln/Graz 1966, S. 343–353, hier: S. 349; Karl Muthesius: Die Lehrerbildung im Strome der Zeit. Rede, gehalten bei der Einführung als Seminardirektor zu Weimar am 9. Oktober 1906, Leipzig 1906; ders: Grundsätzliches zur Volksschullehrerbildung, Leipzig/Berlin 1911. Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur

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Erziehungswissenschaftliche Anstalt zu einem international ausstrahlenden Zentrum der Schul- und Unterrichtsforschung im Deutschen Reich profilieren. Generell bildete das außerordentlich hohe Berufsethos als Universitätsprofessor, Schulreformer und Lehrerbildner eine „zeitlose“ Handlungsorientierung von Petersen. Es prägte ihn zeitlebens, das heißt über alle politischen Umbrüche hinweg, die seine akademische Karriere durchschüttelten. Mit ihm korrespondierte aber auch eine Problem verengende, berufsständische Perspektive auf die Politik. Vom bildungsbürgerlichen Standpunkt der Hochschullehrerzunft ausgehend, glaubte er im Nationalsozialismus eine Parteibewegung wie jede andere erblicken zu können. Und wies die Hitler-Partei nicht sogar einen „gesunden“ nationalen Kern auf? Bestärkt wurde Petersen in dieser Auffassung durch die Wahlpropaganda des NS-Lehrerbundes in den Jahren vor 1933. Diese Organisation setzte zwar auf Sozialdemagogie, um unter den Volksschullehrern für die NSDAP zu werben. Auf diese Weise sollten in der Weltwirtschaftskrise und unter den Bedingungen eines Einstellungsstopps für Lehrer die verletzten Statusinteressen und die miserable soziale Lage vieler Volksschullehrer angeprangert werden. Doch der NS-Lehrerbund wurde ebenfalls nicht müde, die Akademisierung der Volksschullehrerausbildung einzuklagen.22 Auch in der NSDAP und im „Völkischen Beobachter“ fanden sich vor 1933 immer wieder Stimmen, die eine durchgreifende Verbesserung der Lehrerausbildung forderten. Von der Öffentlichkeit besonders beachtet wurden in diesem Zusammenhang die Denkschriften von Johannes Stark aus den Jahren 1930 beziehungsweise 1932, in denen er nichts Geringeres forderte, als die zukünftigen Volksschullehrer an neu einzurichtenden pädagogischen Fakultäten der Universitäten auszubilden.23 Stark war ein experimenteller Physiker von Rang, der 1919 für seine Forschungen den Nobelpreis erhalten hat. Er verband seine international ausstrahlende Reputation als Naturwissenschaftler mit einem frühen öffentlichen „Bekenntnis“ zu Hitler und gefiel sich schon zu Beginn der 1920er Jahre in antijüdischen Ausfällen gegen den theoretischen Physiker Albert Einstein. Stark veröffentlichte also keineswegs zufällig im nationalsozialistischen Verlag „Franz Eher und Nachfolger“, wo 1932 eine weitere Hassschrift von ihm erschien. Hierin forderte er, dass die Lehrer und Schulerzieher nicht nur „deutscher Gesinnung“ sein müssten, sondern auch „deutscher Abstammung“. Die Ursache für das „nationale Versagen der deutschen Hochschulprofessoren“ erblickte er in einer angeblichen Überrepräsentanz von jüdischen Wissenschaftlern und akademischen Lehrern. Sie würden „an zahlreichen Universitäten mehr als 20 v.H., an manchen Fakultäten mehr als 30 v.H.“ des gesamten Lehrkörpers ausmachen. Aber auch jene „deutschen“ Lehrer seien für ihren Beruf ungeeignet, die sich „vom Geist der Sozialdemokratie und des Zentrums“ beherrschen ließen. Demzufolge müssten sie aus ihrem Schulamt entfernt werden, sobald sie den Unterricht missbrauchen würden, um ihre Schüler „antinational“ zu beeinflussen. Stark forderte aber auch, „die Bildung und die staatliche Stellung der Lehrer an allen Schulen“ per Reichsgesetz einander anzugleichen, d.h. die Bildungshoheit der Länder

22 23

Pädagogik Peter Petersens (= Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte 1), Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 145. Bölling: Sozialgeschichte (wie Anm. 11), S. 153. Johannes Stark: Nationalsozialismus und Lehrerbildung. Denkschrift, 2 München 1932, S. 12f.

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im Deutschen Reich de facto aufzuheben. Unter dieser Voraussetzung war es nur konsequent, außerdem zu fordern: Alle Lehrer und somit auch die Volksschullehrer müssten ihre Vorbildung im ganzen Reich einheitlich an der Volksschule und ihre berufliche Ausbildung an den bestehenden Universitäten und Technischen Hochschulen erhalten.24 Stark offerierte der Volksschullehrerschaft die nationalsozialistische Schul- und Lehrerbildungspolitik der Zukunft als „Doppelpack“. Er kombinierte die Androhung von rassisch und politisch motivierten Entlassungen mit einem Reformversprechen für die nichtjüdischen und „national“ zuverlässig erscheinenden Lehrer! Zwischen 1933 und 1936 avancierte Stark zu einem der einflussreichsten Forschungsmanager des NS-Regimes. In ihm erblickte Petersen sogar „den Schulfachmann des Braunen Hauses“, was freilich nicht zutraf. Er stützte dieses Urteil auf einen Beitrag, der über einen Vortrag von Stark am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in der „Preußischen Lehrer-Zeitung“ veröffentlicht worden war. In der redaktionellen Zusammenfassung dieser Abendveranstaltung vom 27. März 1933 erschien die NSDAP als legitime Erbin der Schul- und Bildungspolitik des langjährigen Preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker. Der sei in den Jahren der Weimarer Republik daran gescheitert, die Ausbildung der Volksschullehrer an die Universitäten zu verlegen. „Die Hitler-Bewegung“ würde diese alte Forderung des Deutschen Lehrervereins und damit vieler Volksschullehrer indes ohne Wenn und Aber erfüllen. Stark habe sich schon seit 1919 für die universitäre Lehrerbildung eingesetzt. Nach den unübersehbaren Wahlerfolgen der NSDAP versuchte er, „die Parteileitung für diese und andere von ihm vertretene schulpolitische Forderungen zu gewinnen.“ Dabei habe er „immer auch die Zustimmung Adolf Hitlers gefunden.“ Ziel der NS-Lehrerbildungspolitik sei es, endlich auch die Schranken zu beseitigen, die zwischen den verschiedenen Gruppen der Lehrerschaft bestünden. Es müsse ein „einheitlicher Lehrerstand“ erkämpft werden. Kein Wunder, dass auch der Vorsitzende des Preußischen Lehrervereins den Ausführungen von Stark lebhaft zugestimmt haben soll.25 Allerdings wurden keine antijüdischen Aussagen von Stark kolportiert, auch die von ihm an anderer Stelle angekündigten Entlassungen missliebiger Lehrer sprach er nach dieser Überlieferung nicht explizit an. „Mit dem in diesem Artikel aufgezeichneten Programm könne man einverstanden sein“, kommentierte es Petersen am 3. April 1933. Laut dem Protokoll einer Mitgliederversammlung des „Freundeskreises der Universitätsschule“ Jena fügte er noch hinzu, es sei zu hoffen, „dass dieses Programm auch gehalten würde.“26 Weiterhin können wir dieser Niederschrift entnehmen, dass Petersen nunmehr forderte, sich quasi auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Nachdem die „nationale Bewegung“ die Macht übernommen habe, wird er weiter zitiert, müsse vor allem interessieren, welche Positionen die neue Reichsregierung zum Problemkreis Bildung und Schule vertreten würde. Petersen gab sich überzeugt, „dass in den Kreisen der nationalen Bewegung ein Teil 24 25 26

Ders.: Nationale Erziehung, München 1932, zit. n. S. 50 und 51. Professor Stark über nationale Erziehung, in: Preußische Lehrer-Zeitung, hg. v. Preußischen Lehrer-Verein, Nr. 38 v. 30.3.1933. UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 315, n.p. Vgl. auch für das Folgende Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 21), S. 339.

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Pädagogen führend tätig seien, die sich in Erziehungsfragen auf der gleichen Linie bewegten, wie er.“27 Demzufolge sah Petersen seine bildungs- und schulpolitischen Ziele durch den „30. Januar 1933“ keineswegs in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil, er verfolgte sie nach dem Sieg der Nationalsozialisten und Deutschnationalen bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 mit noch größerer Hingabe und Beharrlichkeit als vordem. Allerdings äußerte sich Petersen kurz nach dem Erlass des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ eher niedergeschlagen und über seine beruflichen Zukunftsaussichten in Thüringen ausgesprochen pessimistisch. Aus seinem Brief an einen Freund in Schleswig-Holstein vom 27. April 1933 sprach „einerseits Isoliertheit und die Sehnsucht nach Veränderung dieser Situation, andererseits Hoffnung auf die neuen politischen Entwicklungen in Deutschland nach Hitlers Machtergreifung.“28 Er gab gegenüber Karl Alnor deutlich zu erkennen, sich die Übernahme einer Professur für Erziehungswissenschaft oder Philosophie und Pädagogik in Kiel gut vorstellen zu können. Diese Aussage traf er unter dem Eindruck einer Zeitungsnotiz, wonach Reichsminister Rust die Universitäten „im Grenzland“ zukünftig stärker fördern wolle. Mit dieser Aufgabe könne er sich aufgrund seiner Herkunft und seines politischen Engagements für den Verbleib von ganz Schleswig beim Deutschen Reich in den ersten Nachkriegsjahren vollständig identifizieren. Und natürlich auch mit dem Ziel, die Lehrerbildung in die Universität Kiel „einzubauen“, nicht zuletzt, weil dies nur einen Bruchteil der ansonsten anfallenden Kosten erfordern würde. Schließlich habe er schon in Thüringen „einen scharfen Kampf für die Reinigung der Lehrerbildung führen müssen“. Mit dieser schlimmen Verdrehung der Tatsachen setzte Petersen gerade jene republikanisch-demokratischen Minister und Staatsbeamte herab, denen er seine Berufung an die Thüringische Landesuniversität zu verdanken hatte. So kehrte er auch ins Negative, dass ihn der Hamburger Erziehungswissenschaftler Gustaf Deuchler 1923 nach Jena „gebracht“ habe.29 Denn der müsse „unter dem SPD-Mann Greil“ ausnehmend „gute Beziehungen“ besessen haben. Zehn Jahre später trete Deuchler nun als Mitglied der NSDAP hervor, was seinen ehemaligen Kollegen und Förderer nicht gerade in ein günstiges Licht setzte. Petersen behauptete, niemals über solcherart von „Parteibeziehungen“ verfügt zu haben. Deshalb sei er nunmehr den Denunziationen seiner „Gegner“ in Thüringen schutzlos ausgeliefert, was Petersen nicht näher ausführte. Trotzdem werde er nicht der NSDAP beitreten, wozu ihn sein Briefpartner wenige Tage zuvor unmissverständlich aufgefordert hatte. Petersen ließ durchblicken, er wolle nicht als ein „Konjunkturritter“ der Wendezeit erscheinen. Wohl wissend, dass nur wenige Tage später ein Aufnahmestopp des Reichsschatzmeisters der NSDAP in Kraft treten 27 28 29

UAJ, Best. S, Abt. I, Nr. 315, n.p. Hein Retter (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe – Dokumente, Weinheim 1996, S. 79. Die seinem Lehrstuhl zugeordnete Stelle eines wissenschaftlichen Hilfsarbeiters besetzte Deuchler 1923 mit Peter Petersen, der jedoch noch im Sommer jenes Jahres einen Ruf nach Jena erhielt. Deuchler gehörte zu diesem Zeitpunkt der DDP an und seit dem 1.5.1932 der NSDAP. Vgl. Hans Scheuerl: Zur Geschichte des Seminars für Erziehungswissenschaft, in: Eckart Krause/Ludwig Huber/Holger Fischer (Hg.): Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945. Teil II, Berlin/Hamburg 1991, S. 519–535, hier S. 520.

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würde, fügte Petersen zur Begründung an, er sei viel zu ungelenk und habe nichts „Wendiges“ an sich.30 Das traf insofern zu, als er mit 49 Jahren nicht der großen Zahl von Hochschullehrern und Bildungsbürgern blindlings nacheiferte, die im März und April 1933 der NSDAP beziehungsweise SA beitraten oder sich aus Altersgründen als Förderndes Mitglied der SS eintrugen. Petersen bediente sich nach Hein Retter einer weniger leicht durchschaubaren, intellektuellen Methode. Sie bestand darin, so zu tun, als habe er schon immer dazu gehört. Demzufolge wurde er nicht müde zu betonen, er habe viel früher als andere Vertreter seines Faches Begriffe wie „Volk“, „Volkstum“ und „Gemeinschaft“ zur Grundlage seiner Pädagogik erhoben.31 In dem erwähnten Brief an Alnor betonte Petersen denn auch, ihm sei vor den neuen Machthabern nicht bang. Schließlich zählten zu seinem Freundeskreis sehr viele Angehörige der NSDAP, darunter manche, die schon lange vor 1933 Mitglied geworden seien. Unter den Genannten befanden sich mit Ernst Krieck und dem Direktor der Hochschule für Lehrerbildung Danzig, Franz Kade, aber nur zwei echte „Aufsteiger“ der frühen NS-Zeit. Immerhin verheißungsvoll klang das Vorhaben, im Herbst 1933 gemeinsam mit Krieck, dem namhaften Marburger Psychologieprofessor Erich Jaensch und „dem alten NSDAPer, Prof. Hans Volkelt-Leipzig“ eine wissenschaftliche Zeitschrift herausgeben zu wollen. Und auch an Kriecks neuer Zeitschrift „Volk im Werden“ könne er mitarbeiten. Dazu kam es freilich nicht. Krieck hielt lediglich am 8. Januar 1934 auf Einladung der Universität einen gut besuchten Vortrag über „Grundprobleme einer ganzheitlichen Wissenschaftslehre“ in Jena.32 Gleichwohl versicherte Petersen seinem Briefpartner in Kiel, noch weitere führende Männer der NSDAP „durch Vermittlung dieser meiner Freunde“ zu kennen. Zur Beglaubigung brachte er den Namen des damaligen Reichsministers des Innern, Wilhelm Frick, ins Spiel. Es klang nach dem sprichwörtlichen Pfeifen im Walde.33 Tatsächlich bestand im zweiten Halbjahr 1933 nur zu dem Leipziger Pädagogen und Entwicklungspsychologen Hans Volkelt ein enger, wechselseitiger Kontakt. Petersen informierte diesen Kollegen am 25. Oktober 1933 über die Vorschläge von Gustaf Deuchler, an den nichtpreußischen Universitäten eine „konzertierte Aktion“ unter den Lehrerbildnern zu initiieren. Deuchler arbeitete seit 1923 als Ordinarius für Erziehungswissenschaft an der Hamburgischen Universität. Petersens Brief ließ erkennen, dass er nun wieder mit Schwung und voller Tatendrang agierte. Zwei Faktoren dürften für die Aufhellung seines Gemütszustandes eine Rolle gespielt haben, die auch unseren thematischen Gesamtzusammenhang von „Universität und NS-Lehrerbildung“ berühren: Zum einen verhieß Deuchlers Plan eines abgestimmten Vorgehens der Lehrerbildner aus Braunschweig, Sachsen, Hamburg und Thüringen, die von Petersen so schmerzlich empfundene Isolation unter den deutschen Universitätspädagogen endlich überwinden zu können.34 Zum anderen ging der Anlass für Deuchlers Offerte auf einen Rundbrief von Professor Paul Brohmer zurück, der seit dem 1. Mai 1933 den Lehrstuhl für Vererbungslehre, Rassenkunde, Biologie und 30 31 32 33 34

Zit. n. Retter: Petersen (wie Anm. 28), S. 331. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 21), S. 336. Mitteilungen aus der „Erziehungswissenschaftlichen Universitäts-Anstalt“ zu Jena. Hg. v. Prof. Dr. Peter Petersen, 6. Hf. (1934), S. 24. Zit. n. Retter: Petersen (wie Anm. 28), S. 329. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 21), S. 335.

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Methodik des Naturkundeunterrichts an der Hochschule für Lehrerbildung in Kiel besetzte. Brohmer soll gemeinsam mit dem amtierenden Direktor dieser Einrichtung, Ulrich Peters, auf dem Hochschulgebäude die Hakenkreuzstandarte gehisst haben, nachdem Hitler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt worden war.35 Brohmer hatte im Verlaufe des Jahres 1933 alle Universitäten beziehungsweise Technischen Hochschulen außerhalb Preußens aufgefordert, einen Obmann für die noch gar nicht existierende Reichsfachschaft „Hochschulen für Lehrerbildung im NSLB“ zu benennen.36 Petersen erfuhr auf diese Weise, dass sich ausgerechnet zwei Kieler Kollegen dafür stark machten, die vom Preußischen Kultusminister zu „Hochschulen“ erhobenen neuen Lehrerbildungseinrichtungen im ganzen Reich durchzusetzen. Der Pädagoge Ulrich Peters und der Biowissenschaftler beziehungsweise Biologiedidaktiker Brohmer forderten, die Lehrerbildung von den Universitäten abzulösen. Aus der Sicht von Petersen standen beide im „gegnerischen Lager“ der NS-Lehrerbildung. Vor diesem Hintergrund sah er sich im Herbst 1933 in seiner Entscheidung bestätigt, wenige Monate zuvor der „Versuchung“37 widerstanden zu haben, an die Universität Kiel zu wechseln. Zumal Deuchler Anfang 1934 mit seinem Versuch scheiterte, den Rektor und führende Hochschulprofessoren der Universität Kiel in diesem „Lager“-Konflikt auf seine Seite zu ziehen. In seinem Schreiben an Rektor Georg Dahm pries Deuchler die Vorzüge einer Ausbildung von Volksschullehrern an den Universitäten und polemisierte gegen die Einrichtung von „abgesonderten Lehrerhochschulen“. Die befragten Kieler Professoren unterstützten indes das Preußische Modell der Hochschulen für Lehrerbildung.38 Petersen bezog in der Kontroverse um die zukünftige Lehrerbildung im „Dritten Reich“ zunächst eine abwartende Position.39 Vorerst konnte Petersen dem Dekan der Abt. Kulturwissenschaften an der Technischen Hochschule Braunschweig, Karl Hoppe, nur signalisieren, dass er dem Zwei-Punkte-Plan von Deuchler zustimme. Mit ihm habe er in Leipzig abgesprochen, Brohmer möglichst gleichzeitig mitzuteilen, dass die nichtpreußischen Institute keinen Obmann für eine Reichsfachschaft der Hochschulen für Lehrerbildung im NS-Lehrerbund ernennen würden. Außerdem vermittelte Petersen seinem Kollegen den Vorschlag Deuchlers, eine „ältere etwas eingeschlafene AG der Hochschuldozenten für Pädagogik und Hilfswissenschaften wieder aufleben zu lassen.“ Die Zusammenfassung der bisherigen Absprachen durch Petersen verhieß ein planvolles Vorgehen.40 Bereits am 17. Juni 1933 hatte Deuchler dem einflussreichen Bayerischen Kultusminister und Reichswalter des NS-Lehrerbundes, Hans Schemm, seinen Vorschlag übermittelt, „dass innerhalb des NS-Lehrerbundes bezw. innerhalb der Fachschaft Hochschullehrer und Wissenschaftler des NS-Lehrerbundes 35 36 37 38 39 40

Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch (= edition bildung und wissenschaft 10), Berlin 2006, S. 187. PPAV, Ordner: Zu Peter Petersen, Hoppe an Petersen v. 23.10.1933. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 21), S. 309. Ulrike Gutzmann: Von der Hochschule für Lehrerbildung zur Lehrerbildungsanstalt. Die Neuregelung der Volksschullehrerausbildung in der Zeit des Nationalsozialismus und ihre Umsetzung in Schleswig-Holstein und Hamburg (= Schriften des Bundesarchivs 55), Düsseldorf 2000, S. 57. PPAV, Ordner: Zu Peter Petersen, Petersen an Volkelt v. 25.10.1933. Ebd.

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eine Arbeitsgemeinschaft geschaffen wird, welche die Frage Lehrerbildung in Angriff nimmt, selbstverständlich von vornherein mit dem Programm: Eingliederung in die Universitäten.“41 Die von Deuchler angeregte „Arbeitsgemeinschaft“ sollte also innerhalb der späteren Reichsfachschaft der Hochschullehrer im NSLB gebildet werden. Sie darf daher nicht mit ihr gleichgesetzt werden. Am 8. Juli 1933 entstand aber zunächst nur die von Schemm gebildete Deutsche Erzieher-Gemeinschaft, die weitgehend einflusslos blieb. Unter der Schirmherrschaft von Reichsinnenminister Wilhelm Frick wurde wenig später noch eine Deutsche Erzieher-Gemeinschaft II ins Leben gerufen. Durch diesen Zusammenschluss erhielten die Verbände der Lehrer an höheren Schulen vorübergehend ein Forum, um Schemms Strategie zu unterlaufen, alle früheren Lehrerverbände im Rahmen seiner Deutschen Erzieher-Gemeinschaft I gleichzuschalten. Der Reichswalter des NS-Lehrerbundes wurde wiederum hauptsächlich von Verbandsvertretern des ehemaligen Deutschen Lehrervereins unterstützt, die das Ansehen und den Status der Volksschullehrer in den Augen der Lehrerschaft an den höheren Bildungseinrichtungen aufwerten wollten.42 Jedenfalls bildete Deuchler eine Art Scharnier zwischen der „Arbeitsgemeinschaft“ und dem Reichswalter des NS-Lehrerbundes. Er war mit Schemm gut bekannt. Deuchler übermittelte ihm seinen Grundsatzartikel „Die Lehrerbildung an der Hamburgischen Universität“ und versah das Exemplar mit einem „deutschen Gruße“.43 Es ist gut möglich, dass Petersen über diesen „heißen Draht“ zwischen der Hansestadt Hamburg und dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus im Bilde war. Deuchler ging zweifellos im Nationalsozialismus auf und provozierte seine Kollegen am Hamburger Seminar für Erziehungswissenschaft, indem er seit 1934 Vorlesungen in SA-Uniform hielt. Weniger bekannt ist, dass er sich schon in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre als ein hellsichtiger Lehrerbildner erwies, da er sich gegen die Ausgründung von Pädagogischen Instituten aus dem Verband der Universitäten aussprach. Er fertigte auf Bitten von Petersen im Jahre 1927 ein Gutachten für das Thüringische Ministerium für Volksbildung und Justiz an, in dem er vor der in Weimar geplanten „Neuordnung“ der Lehrerbildung an der Universität Jena warnte.44 Grundsätzlich argumentierte er, fruchtbar und sinnvoll sei eine solche Ausbildung nur, wenn sie sich in der inneren Einheit von Theorie und Praxis vollziehen würde. Die Studierenden müssten die grundlegenden pädagogischen Funktionen an der Universität einüben, einschließlich der Arbeitstechniken, um „die Wirklichkeit des pädagogischen Lebens“, die Praxis, in ihrer ganzen „Tiefe“ erfassen zu können. Deshalb forderte er, das einzurichtende Pädagogische Institut in die Erziehungswissenschaftliche Anstalt der Universität Jena einzugliedern und keinesfalls von ihr zu trennen. Er antizipierte die Tendenz zur Verselbstständigung und bürokratischen 41

42 43 44

BArch, NS 12/964, n.p.; Hein Retter: Peter Petersens Konzeption von Schule und Lehrerbildung im Wechsel der politischen Systeme, in: ders. (Hg.): Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Beiträge zur Pädagogik Peter Petersens, Weimheim 1996, S. 105–160, hier S. 120. Sebastian Müller-Rolli: Lehrer, in: Dieter Langewiesche/Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band V 1918–19454 . Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur, München 1989, S. 240–257, hier S. 255. BArch, NS 12/964, n.p. Vgl. den Beitrag von Jürgen John in diesem Band.

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Aufblähung dieser Institute. Am Ende ihres Ablösungsprozesses von der Universität stünden „geschlossene Lehrerbildungsanstalten“.45 So wird auch verständlich, warum Deuchler im Frühsommer 1933 im Namen des NS-Lehrerbundes bestimmte Lehrerverbände der Weimarer Zeit umstandslos auflöste und etwa mit dem Reichsverband der Erziehungswissenschaftlichen Fachschaften die Zusammenarbeit suchte. Deuchler versuchte die so genannte Gleichschaltung der alten Lehrerverbände zu instrumentalisieren, um eine universitäre Lehrerbildung im Reichsmaßstab durchzusetzen. Dabei musste er in den Umbruchwirren der Jahre 1933/34 über kurz oder lang mit den Befürwortern des Preußischen Modells der Lehrerbildung aneinander geraten. Dazu zählten der Kieler Pädagoge Ulrich Peters, Ernst Bargheer und die Reichsarbeitsgemeinschaft für akademische Lehrerbildung, die Deuchler Mitte Juni 1933 „ohne längere Diskussion“ auflösen ließ. „Das Manöver der Herren aus Preußen läuft nämlich darauf hinaus, die preußische Form der Pädagogischen Akademie oder – wie sie jetzt heisst – Hochschule für Lehrerbildung auch den übrigen Ländern aufzuzwingen.“46 Innerhalb der NS-Bürokratie bildete daher Bargheer den eigentlichen Gegenspieler von Deuchler und der von ihm inspirierten „Arbeitsgemeinschaft“ von Universitäts- und Hochschulprofessoren. Nachdem Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war, wirkte Bargheer als Volksschul-Referent im Amt Erziehung des REM und zugleich als Leiter der Fachschaft IV für Volks-, Mittel- und Sonderschulen im NS-Lehrerbund. Er schwang sich zum „Kopf“ des „Rust-Lagers“ im umkämpften Problemfeld der zukünftigen Volksschullehrerausbildung auf. Da es die NS-Führung mit einer zum größten Teil noch aus der Weimarer Republik stammenden Lehrerschaft zu tun hatte, musste bildungspolitisch entschieden werden, wie mit letzterer zu verfahren sei. Anders als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der sowjetischen Besatzungszone unternahm sie 1933/34 nicht den Versuch, an deren Stelle eine jüngere Generation von „Neulehrern“ zu setzen. Allerdings zog Bargheer in einem Artikel in der Zeitschrift „Volk im Werden“ eine Parallele zum Vorgehen des Mussolini-Faschismus. Die Faschisten in Italien hätten von Anfang an einer Volksschulreform und der Lehrerbildung für die Volksschulen große Aufmerksamkeit gewidmet. Selbstverständlich müsse ein Vergleich mit den Verhältnissen in Deutschland im Rahmen bleiben. Immerhin sei aber das Bestreben in Italien, die nicht-faschistischen Lehrkräfte abzubauen und regierungstreue, nach Möglichkeit junge Lehrkräfte in Volksschulen und Lehrerbildungseinrichtungen einzubauen, ein Umstand, der ohne Rücksicht auf die Vergleichsgrundlage beachtlich erscheine. In der Lehrerbildung habe Preußen seit 1926 Pädagogische Akademien eingerichtet, die in ihrer Art eine Zwischenlösung zwischen der Universität und dem alten Lehrerseminar verkörpern würden. Nunmehr wende sich die Preußische Lehrerbildung der „politischen Ausbildung“, „dem Lande“ und dem „bodenständigen Volkstum“ zu. Es werde keine „intellektualistische Universitätsbildung“ angestrebt, „sondern eine gediegene, vom Volksdenken her begründete, in der Volksgemeinschaft aufbauende, für die Praxis geeignete Vorbildung des künftigen Volkserziehers.“ In Petersens Ohren musste alarmierend klingen, wenn Bargheer anmerkte, eine angebliche Ruhelosigkeit in Wissenschaft und Methode habe in fast 45 46

PPAV, Ordner: Akademische Lehrerbildung 1923–1927 und ab 1946, Gutachten v. 20.9.1927. BArch, NS 12/964, n.p.

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allen Erziehungseinrichtungen nur zu Versuchen und zum ständigen Experimentieren geführt. Es wäre kein Zufall gewesen, dass in den 1920er Jahren Versuchsschulen wie Pilze aus dem Boden geschossen seien. Das Streben des Marxismus, in dieser Ratlosigkeit seine weltanschaulichen Ziele in der Lehrerbildung und Volksschule durchzusetzen, sei sattsam bekannt. Der kleine Ausschnitt der Lehrerbildung biete demzufolge ein getreues Abbild der „geistigen Zersetzung unseres Volkes im großen.“47 In einer späteren Studie fasste Bargheer den „wesentlichsten Unterschied“ zwischen dem neuen Preußischen Modell der Ausbildung an einer „Sonder- oder Fach-Hochschule“ und der universitären Lehrerbildung wie in Hamburg, Sachsen und Braunschweig folgendermaßen zusammen: Einerseits Lehrerbildung aus „Idee und Erziehungsziel“ und andererseits aus „Freiheit und persönlicher Leistung“. Letzteres wollte er ausgesprochen kritisch verstanden wissen.48 Die Referenten in den Volksbildungsministerien des Reiches und der Länder propagierten nach der Machtübernahme Hitlers ein anderes Lehrerbild: Volksschullehrer wurden nicht mehr zur geistigen Führerschaft des Volkes gezählt wie noch in den Wahlkämpfen des Jahres 1932. Nunmehr konkurrierte unter den NS-Bildungspolitikern das Bild vom „Volkslehrer“, die weitgehend akademisch ausgebildet werden sollten, mit den Leitbildern „pädagogischer Soldat“ beziehungsweise „Volkserzieher“ und der abgestuften Ablehnung einer hochschulgemäßen Ausbildung der Lehrer.49 Das Leitbild „Volkserzieher“ ließ zwar noch offen, welche Institution für diese Art von Ausbildung der Volksschullehrerstudenten die besten Voraussetzungen bieten würde, die überkommenen Lehrerseminare in Bayern und Württemberg, die seit 1933 eröffneten Hochschulen für Lehrerbildung in Preußen oder die lehrerbildenden Einrichtungen an einigen Universitäten und Technischen Hochschulen außerhalb des größten Landes im Reich. Doch wies es unüberhörbar eine Spitze gegen die Universitäten auf, die als „reine Stätten“ der Wissenschaft und Forschung angesehen wurden. Insbesondere die universitäre beziehungsweise akademische Lehrerbildung in den Jahren der Weimarer Republik wurde als volksfeindlich und „artfremd“ diffamiert. Sie habe versucht, den zukünftigen Lehrer durch eine systematische Vermittlung von bloßem Wissen „loszulösen von den Urkräften, aus denen ein völkischer Organismus sich aufbauen muss.“50 Gegenüber den Hochschullehrern an den Universitäten, die teilweise schon im Deutschen Kaiserreich berufen worden waren, hegte die Ministerialbürokratie in Berlin und Weimar große Vorbehalte. Nicht nur im Ministerbüro, auch auf der Referentenebene des neuen Reichsministeriums, wurde die Professorenelite der deutschen Hochschulpädagogik als ein Teil jener „Reaktion“ betrachtet, die 1933/34 in zahllosen Artikeln der NS-Presse scharf attackiert wurde. Vor diesem Hintergrund spitzten sich auch die Auseinandersetzungen um die akademische Lehrerbildung nach der Gründung des REM im Jahre 1934 zu. Indizien für die zunehmende Distanz der NS-Ministerialbürokratie auch gegenüber der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt 47 48 49 50

Ernst Bargheer: Lehrerbildung und Nationalsozialismus, in: Volk im Werden. Zeitschrift für Kulturpolitik, Bd. 5 (1933), S. 45–50. Zit. n. S. 46ff. Ernst Bargheer: Deutsche Lehrerbildung als Ausgangspunkt der Schulreform. Rechenschaft und Ausblick, Berlin 1936, S. 20. Bei der Wieden: Seminar (wie Anm. 10), S. 198. Ottweiler: Ausbildung (wie Anm. 11), S. 289.

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lieferten im Herbst 1933 ihre amtliche Umbenennung in „Erziehungswissenschaftliche Universitäts-Anstalt Jena“, was im skizzierten Kontext wie ein Makel klang, und der offensichtliche Boykott der Feier „zum Beginn des 2. Jahrzehnts ihres Bestehens und anlässlich der Eröffnung des Universitätskindergartens“ am 12. Juli 1934 durch den Thüringischen Volksbildungsminister und alle Sachbearbeiter seines Ministeriums. „Weimar“ ließ sich unter fadenscheinigen Vorwänden entschuldigen.51 In dieser Situation wandte sich Deuchler am 17. Juli 1934 an die Kultusministerien aller Länder und lud deren Referenten für Lehrerbildung zu einer Arbeitstagung ein. Diese sollte zwischen dem 28. und 30. Juli des Jahres in Bündheim bei Harzburg stattfinden. Auf der Tagesordnung stünde das Problem der Lehrerbildung an den Hochschulen.52 Aus der übersandten Anlage ging der vorläufige Tagungsplan hervor. Die Veranstaltung stand unter dem Thema „Die Neugestaltung der Lehrerbildung“. Es handele sich „um einen kleinen Kreis“ von etwa 25 Universitäts- und Hochschuldozenten, die über entsprechende Erfahrungen in der universitären Lehrerbildung verfügen würden. Alle Dozenten würden gemäß ihrer Gesinnung oder als Mitglieder „zur NSDAP gehören“. Sie erblickten in der einheitlichen Ausbildung der Lehrer aller Schulen eine wesentliche Zukunftsaufgabe, wollten sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschließen und eine Denkschrift mit den Richtlinien „der Neugestaltung“ ausarbeiten.53 Demnach sollten vierzehn Erziehungswissenschaftler und Didaktiker in sechs Gesprächsrunden Grundfragen der akademischen Lehrerbildung diskutieren. Es handelte sich um Hochschullehrer aus Hamburg, Braunschweig, Leipzig, Jena und Dresden. Angekündigt wurde auch Ernst Krieck aus Heidelberg, der mit Abstand bekannteste Name auf der Teilnehmerliste, gewissermaßen das „Zugpferd“ der Tagung. Gemeinsam mit Walter, Hoppe und Hans Kreß aus Hamburg sollte er die Diskussionsrunde über die fachliche Ausbildung bestreiten. Die Gesprächsangebote folgten Sachthemen und waren auf ein Fachpublikum zugeschnitten. Einzig die Diskussion über das Thema „Die nationalpolitische Erziehung“ fiel aus dem Rahmen. Für diese Runde wurde aber nicht Krieck angekündigt. Vielmehr standen Volkelt, Petersen und Hans Pesta aus Hamburg auf dem Programm. Zum Abschluss der Tagung war eine Aussprache über die „technisch-künstlerische Ausbildung“ vorgesehen worden. Neben Schreiber von der Technischen Hochschule Dresden listete das Programm noch „Weiss, Jena“ auf.54 Wir können nicht nachvollziehen, ob diese Tagung überhaupt stattgefunden hat. Aber der Thüringische Minister für Volksbildung, Staatsminister Wächtler, informierte unter dem 31. Juli 1934 den Reichsminister im REM über das geplante Treffen der Hochschulpädagogen. Wächtler argwöhnte, die „Arbeitsgemeinschaft dieser Dozenten“ verfolge mit der Abfassung einer Denkschrift offenbar das Ziel, die vom REM in Aussicht gestellte „Neuregelung der Volksschullehrerausbildung“ in ihrem Sinne zu beeinflussen. „Solche Bestrebungen“ könne er nicht unterstützen und habe deshalb dem Thüringischen Referenten für Lehrerbildung eine Teilnahme untersagt.55 Schemm erhielt eine Abschrift des Schreibens. Darin wurde mit drohendem 51 52 53 54 55

ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 23r. ThHStAW, ThVM, A 281, Bl. 158r. Ebd., Bl. 159r. Ebd., Bl. 160r. Ferner wurden angekündigt: Gustaf Deuchler, Friedrich Berger (Braunschweig), Karl Albrecht (Hamburg) und Willi Kückelhahn (Braunschweig). Ebd., Bl. 161r.

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Unterton von „Standesbestrebungen einzelner Gruppen“ gesprochen, die in Zukunft vom Reichswalter des NS-Lehrerbundes unterbunden werden müssten. Ein Vermerk auf dem Entwurf dieses Schreibens belegt, dass Georg Weiß über die Intervention des Ministeriums unterrichtet werden sollte, Petersen indessen nicht.56 Die Ministerialbürokratie in Weimar nahm Deuchler & Co. als elitäre „Standesvertreter“ wahr, die sich dem Zug der „neuen“ Zeit verweigern wollten. In ähnlicher Weise kritisierten zur gleichen Zeit Sprecher des NS-Lehrerbundes im Gau Württemberg „alte Kräfte“. Diese würden in den Reichsfachschaften versuchen, ihrem „Standesegoismus“ unter einem neuen Namen frühere Geltung zu verschaffen.57 „LEHRERBILDUNG UND UNIVERSITÄT“: DER NS-LEHRERBUND UND PETERSENS DENKSCHRIFT FÜR DEN MINISTERPRÄSIDENTEN DES LANDES THÜRINGEN, 1934 BIS FRÜHJAHR 1936 Petersen trat am 5. April 1934 dem NS-Lehrerbund bei. Laut seiner Mitgliedskarte gehörte er der „Reichsfachschaft Hochschullehrer“ an.58 Neben sechs weiteren war diese Reichsfachschaft I im Dezember 1933 im verwirrend untergliederten Organisationsbereich des NS-Lehrerbundes gebildet worden. Eine ihrer Aufgaben sollte zwar darin bestehen, „für eine Neuordnung der Ausbildung der künftigen Lehrer aller Schularten Pläne und Vorschläge auszuarbeiten“.59 Tatsächlich blieb ihr Spielraum jedoch eng begrenzt. Er reduzierte sich auf die Vermittlung der „nationalsozialistischen Weltanschauung“ an den einzelnen Hochschulen und das fortwährende Gerangel um den Stellenwert der eigenen Interessenvertretung innerhalb des NS-Erziehungssystems. Hinzu kam, dass am 24. Juli 1935 der Nationalsozialistische Deutsche Dozentenbund (NSDDB) aus dem NS-Lehrerbund ausgegliedert und praktisch neu gegründet wurde. Diese Organisation erfasste vornehmlich jüngere Professoren und Dozenten aus der so genannten Frontgeneration des Ersten Weltkriegs (Geburtsjahrgänge 1885 bis 1900),60 die im Schützengraben und in den krisenhaften Nachkriegsjahren politisch sozialisiert worden waren. Zu ihr ist Petersen nicht übergetreten. Der NSDDB erhielt den Status einer Gliederung der NSDAP, gleich der SA, SS und Hitlerjugend, was sie gegenüber dem NS-Lehrerbund politisch aufwertete. Letzterer verzeichnete bis Ende 1933 einen enormen Mitgliederzuwachs und erfasste zu diesem Zeitpunkt etwa 95 Prozent der Lehrerschaft des Deutschen Reiches. Durch die korporative Übernahme einer Vielzahl von regionalen Lehrervereinen entwickelte sich der NS-Lehrerbund zu einer Massenorganisation, in der die „Alten Kämpfer“ der NSDAP in zunehmendem Maße eine Minderheit bildeten. 56 57 58 59

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Ebd., Bl. 161v. Pfaff: Organisation (wie Anm. 17), S. 67. BArch, MF (ehem. BDC), B 0099, n.p. Willi Feiten: Der Nationalsozialistische Lehrerbund. Entwicklung und Organisation. Ein Beitrag zum Aufbau und zur Organisationsstruktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems (= Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte 19), Weinheim/Basel 1981, S. 84. Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987, S. 28f.

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Ende 1934 zählte diese Partei 84.092 Lehrer in ihren Reihen, der NS-Lehrerbund indes bis zu 250.000 Mitglieder.61 Angesichts dieser politischen Kräfteverschiebung zugunsten der im NSDDB organisierten Hochschullehrer konnte die nominell weiter bestehende Reichsfachschaft I des NS-Lehrerbundes „im Feld der Erziehungsmächte des Dritten Reiches wegen des sich ausweitenden Einflussbereiches der Partei keinerlei Bedeutung mehr haben.“62 Möglicherweise erhoffte sich Petersen von seinem vergleichsweise späten Entschluss, dem NS-Lehrerbund beizutreten, das von Deuchler inspirierte Netzwerk zwischen den nichtpreußischen Hochschulen noch fester knüpfen zu können. In dieser überregionalen Arbeitsgemeinschaft von Hochschulpädagogen fiel Petersen die Aufgabe zu, mit den Erziehungswissenschaftlern an der Technischen Hochschule Braunschweig zu verhandeln beziehungsweise diese über das Meinungsbild zur akademischen Lehrerbildung an den beiden Hochschulen in Sachsen zu informieren.63 Der Braunschweiger Erziehungswissenschaftler Hein Retter urteilte, Petersen habe mit seiner Mitgliedschaft „durchaus auch strategische Interessen“ verfolgt. Gestützt auf den NS-Lehrerbund beziehungsweise vermittelt über dessen Zeitschrift „Deutsches Bildungswesen“ sei es noch möglich gewesen, „den Gedanken der universitären Lehrerbildung im Deutschen Reich aktiv zu verteidigen“.64 Und nur durch diese von der NSDAP „betreute Organisation“ habe überhaupt eine Chance bestanden, die Jenaplan-Arbeit in Westfalen oder anderen Landesteilen fortzuführen. Deshalb ist es denkbar, uns aber nicht überliefert, dass Petersen seinen Beitritt zum NS-Lehrerbund mit einigen ihm besonders vertrauten Kollegen abgestimmt hat. Darunter könnten sich auch Hochschullehrer befunden haben, die in der von Deuchler aktivierten Arbeitsgemeinschaft mitwirkten. Fest steht, das neue Mitglied mit Wohnsitz Jena wurde dem Gau Thüringen des NS-Lehrerbundes zugeordnet. Und das rief Paul Papenbroock auf den Plan, seines Zeichens Oberregierungsrat im Thüringischen Volksbildungsministerium und Obmann des NS-Lehrerbundes im Gau Thüringen. Am 19. Mai 1934 arbeitete ihm der Kreisverband Jena im NS-Lehrerbund ein Gutachten zu, in dem die „politische Grundeinstellung des Herrn Prof. Petersen“ einer scharfen Kritik unterzogen wurde. Das Papier enthielt sich aber substanziellen Aussagen über die Ausbildung der Volksschullehrer in Thüringen. Die oftmals sehr befremdende und unerquickliche Auseinandersetzung sei zu undurchsichtig gewesen, als dass sie vom Berichterstatter im Einzelnen beurteilt werden könne.65 Nur vier Wochen, nachdem Papenbroock das vernichtende Gutachten über Petersens politische Grundeinstellung zugegangen war, fand der Gautag des NSLehrerbundes Thüringen in Jena statt. In einem vergleichsweise sachlich gehaltenen Artikel in der Gauzeitschrift des NS-Lehrerbundes Thüringen stimmte Walter Kramer die Verbandsmitglieder auf die Jenaer Traditionen in der Pädagogik ein. Er konstruierte problemlos eine Linie von Karl Volkmar Stoy über Wilhelm Rein bis zu Petersen. Wörtlich hieß es: „Die Erziehungswissenschaftliche Anstalt ist die Nachfolgerin des 61 62 63 64 65

Müller-Rolli: Lehrer (wie Anm. 42), S. 253. Feiten: Lehrerbund (wie Anm. 59), S. 86. PPAV, Ordner: Zu Peter Petersen (Brief an Hans Volkelt v. 25.10.1933, Durchschlag mit Anstreichungen u. kurzschriftlichen Randbemerkungen von Petersen). Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 21), S. 336. Zit. n. Retter: Petersen (wie Anm. 28), S. 157. Vgl. ebd., S. 157f.

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Pädagogischen Seminars; sie ist wissenschaftliches Universitätsinstitut. Die Übungsschule ist in der Form der Universitätsschule erhalten geblieben; in ihr wird der Jena-Plan Professor Petersens praktisch erprobt und durchgeführt, der kürzlich gelegentlich einer Pädagogischen Woche im Kreise Rahden i. W. wieder starke Beachtung gefunden hat.“66 Selbstverständlich äußerte sich darin eine gewisse Wertschätzung für den Erziehungswissenschaftler Petersen, aber zugleich eine unterschwellige Distanz gegenüber dem reformpädagogischen Ansatz. Die Petersen-Schule erschien als ein festes Glied in der einlinigen Tradition der Jenaer Lehrerbildung, was sowohl Berufs- als auch Landesidentität stiften sollte. Für seine Generation, meinte Kramer, sei Jena „der“ Ort der akademischen Lehrerbildung „für Thüringen“ geworden. Auch dieser Bewertung lag eine Akzentverschiebung zugrunde. Die alte Universitätsstadt an der Saale wurde von den Lehrerbildnern am Pädagogischen Institut nicht mehr als ein reichsweit ausstrahlendes „Mekka der Pädagogik“67 wahrgenommen, sondern als eine mit der „Heimat“ verwobene Ausbildungsstätte für die Thüringer Lehramtsstudenten. Der Verweis auf die beginnende Zusammenarbeit des PI Jena mit einer einklassigen Landschule in der Nähe Jenas und der Wilhelm-Frick-Schule in der Universitäts- und Industriestadt machte zugleich deutlich, dass Hospitationen und schulpraktische Übungen zukünftig an diesen „Anschauungsschulen“ außerhalb der Universität stattfinden würden. Während die Erziehungswissenschaftliche Anstalt in den Veröffentlichungen über den Gautag des NS-Lehrerbundes Thüringen in Jena nur eine ganz marginale Rolle spielte, gelang es Volkelt im November 1934, das Thema der universitären Lehrerbildung noch einmal im „Deutschen Bildungswesen“ prominent zu platzieren. Selbstverständlich war das nur mit Zustimmung von Hans Schemm oder der Reichswaltung in Bayreuth möglich gewesen, obwohl Volkelts Beitrag ausdrücklich nicht „als eine amtliche Stellungnahme“ des NS-Lehrerbundes ausgewiesen wurde. In einer Vorbemerkung der Schriftleitung hieß es, alle Pädagogen, die sich mit der Lehrerbildung befassen, würden ersucht, ihre Auffassungen in Kurzform an die Reichsamtsleitung in Bayreuth einzusenden. Die eingegangenen Papiere würden mit dem bereits vorliegenden Material vereinigt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Unter dem Leitthema „Lehrerbildung und Universität“ stellte Volkelt in seinem Pilotartikel dem Leser drei Grundstrukturen der akademischen Lehrerbildung vor: Den Typus der völlig selbstständigen „autarken“ Hochschule für Lehrerbildung in Preußen, einen Mischtypus ihrer losen Verbindung mit einer benachbarten Universität oder Technischen Hochschule wie in Leipzig und den Typus einer „Pädagogischen Fakultät“, das hieße eine in die Universität eingegliederte „Hochschule für Lehrerbildung“. Die dritte Variante sei zugleich die einzige, die es ermögliche, die allgemeine Ausbildung der Lehrer an höheren Schulen mit der der Volksschul-, Mittelschul- und Berufsschullehrer zu vereinigen. Volkelt ließ zwar erkennen, dass er mit der letzteren Variante sympathisiere. Sie bleibe aber das „Fernziel“, da sie zum 66 67

Walter Kramer: Jena als Stadt der Erziehung, in: Der Thüringer Erzieher. Päd. Monatszeitschrift des NSLB Gau Thüringen 2 (1934), Hf. 15/16, S. 454f., zit. n. S. 455. Zit. n. Matthias Steinbach: Kuckucksei im akademischen Nest? Zum Einfluss von Lehrerbildung und Pädagogik auf eine deutsche Traditionsuniversität im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Bd. 6, Stuttgart 2003, S. 139–160, hier S. 149.

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damaligen Zeitpunkt nicht zu verwirklichen sei. Ähnlich der suggestiven Publizistik von Petersen berief sich Volkelt auf Krieck, um seinen Argumenten ein größeres Gewicht zu verleihen.68 Doch wandte sich Krieck als Vorzeigepädagoge des Jahres 1934 schon bald von der Arbeitsgemeinschaft um Deuchler ab.69 Da Volkelt den Lesern suggerierte, eine Debatte in der Zeitschrift „Deutsches Bildungswesen“ anstoßen zu wollen, sorgte seine Veröffentlichung sogar unter Vertretern der Internationalen Vereinigung der Lehrerverbände für Aufsehen. Anfang 1935 informierte ein Dossier für den Bayerischen Kultusminister, wie die Diskussionen über die akademische Lehrerbildung in Deutschland durch diese Vereinigung im Pariser Exil aufgenommen wurden. Demnach würden die NS-Führer die unterschiedlichsten Auffassungen über das Problem der Lehrerbildung äußern, beispielsweise verdamme der Staatssekretär im Reichsinnenministerium, Wilhelm Stuckart, die akademische Lehrerbildung, wogegen Prof. Volkelt, der kommissarische Direktor des Pädagogischen Instituts an der Universität Leipzig, sie anpreisen würde.70 Aus der Perspektive des Exils stellte sich die Lehrerbildungspolitik im Deutschen Reich unter Hitler derart konfus dar, dass sogar ausgesprochen moderne Problemlösungen für möglich gehalten wurden. Denn angeblich würden sich alle Bemühungen der deutschen Führung darauf richten, an den Universitäten perspektivisch Pädagogische Fakultäten zu gründen. Tatsächlich musste sich die Pariser Vereinigung durch den Artikel von Volkelt im „Deutschen Bildungswesen“ in ihrer Außenwahrnehmung einer relativ offenen Entscheidungssituation bestärkt fühlen. Ein Schüler von Deuchler an der Hansischen Universität Hamburg, Karl Albrecht, publizierte in dieser „erziehungswissenschaftlichen Monatsschrift des NS-Lehrerbundes“ sogar eine Artikelserie zum Thema Volksschullehrerbildung. Er berief sich eingangs auf „unsere führenden Pädagogen“ und bezog sich im Einzelnen auf Schemm, Krieck, Deuchler und Volkelt, nicht aber auf Petersen. Über seinen Mentor schrieb der Autor, Deuchler setze sich seit Jahren für die Volksverbundenheit der Lehrerbildung ein und bemühe sich, „ihr gleichzeitig im Rahmen der Universität Heimatrecht zu verschaffen.“ Albrecht hoffte, „dass einseitige Stellungnahmen verschwinden“ und eine Lösung Platz greifen würde, die eine bestmögliche Ausbildung der Lehrer an „der deutschen, nationalsozialistischen Volksschule“ erwarten ließe. Seiner Einschätzung nach stünde die Entscheidung noch bevor.71 Da war freilich der Wunsch Vater des Gedankens. Zwei Jahre nach Hitlers Machtübernahme scharte sich Petersen um eine kleine Gruppe von Erziehungswissenschaftlern, die eine universitätsnahe oder sogar vollakademische 68 69

70 71

Hans Volkelt: Lehrerbildung und Universität, in: Deutsches Bildungswesen. Sonderbeilage zum Heft 11, November 1934, S. 1f., zit. n. S. 2. Volkelt übernahm die Führung der Reichsfachschaft VII im NS-Lehrerbund für sozialpädagogische Berufe und freie Erzieher. Vgl. die Denkschrift von Ernst Krieck „Zur Frage der künftigen deutschen Volksschullehrerbildung“, Anfang 1934, in: Barch, R 4901/11913, Bl. 262–278. In diesem Papier wies Krieck darauf hin, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck bestehen würde, der Nationalsozialismus wolle in der Frage der Lehrerausbildung zum alten Seminar des 19. Jahrhunderts zurückkehren. BArch, NS 12/964, n.p. Vgl. zu Volkelt als Direktor des Pädagogischen Instituts in Leipzig Carsten Heinze: Die Pädagogik an der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945, Bad Heilbrunn 2001, S. 59–61. Karl Albrecht: Volksschullehrerbildung, in: Deutsches Bildungswesen, Bd. 3 (1935), S. 346–364, hier S. 346.

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Ausbildung der Volksschullehrer befürworteten. Entgegen seiner Erwartung vom Herbst 1933 offenbarte sich im Jahre 1935, dass die Arbeitsgemeinschaft um Deuchler und Volkelt lediglich über eingegrenzte publizistische Möglichkeiten verfügte, um im bildungspolitischen „Lager“-Konflikt um die NS-Lehrerbildung Flagge zu zeigen. Besonders drastisch wurde das Petersen im Frühjahr 1936 vor Augen geführt. Nachdem das REM am 18. September 1935 das Thüringische Volksbildungsministerium darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass die Volksschullehrerausbildung zukünftig im gesamten Reich auf zwei Jahre zu begrenzen sei, kündigte es zugleich neue „Richtlinien für das Studium an den Hochschulen für Lehrerbildung“ an. Weimar wurde angewiesen, umgehend die erforderlichen Maßnahmen für eine „Neuordnung der Lehrerbildung in Thüringen“ zu ergreifen.72 Erst unter dem 18. März 1936 gingen diese „Richtlinien“ in Weimar ein. Sie seien den Dozenten bekanntzugeben, aber nicht zu veröffentlichen. Immerhin wurde dem PI Jena ein Druckstück zur Kenntnis und Beachtung übersandt.73 Wahrscheinlich erfuhr Petersen nur durch umlaufende Gerüchte oder Kollegen von dieser Neuregelung und der daraus ablesbaren Absicht, in Thüringen eine Hochschule für Lehrerbildung zu errichten. Er reagierte auf die bildungspolitische Zäsur der Jahre 1935/36 mit einer „Denkschrift betreffend den Ausbau der erziehungswissenschaftlichen Forschungsstätten und dem Neubau der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Friedrich-Schiller-Universität, Jena“.74 Das zehnseitige Papier reichte der Jenaer Rektor, Wolf Meyer-Erlach, am 2. April 1936 mit der Bitte um einen Besprechungstermin beim Thüringischen Ministerpräsidenten ein. Seine Magnifizenz wollte „über die ganze Frage der Lehrerbildung in Thüringen und über diese Denkschrift“ mit Fritz Marschler verhandeln, der nunmehr auch das Thüringische Volksbildungsministerium verwaltete.75 Allerdings mit der markanten Einschränkung, dass sich der Reichsstatthalter in Thüringen alle wesentlichen Personalentscheidungen vorbehielt. Zwischen dem fanatischen deutsch-christlichen Theologen Meyer-Erlach und Petersen herrschte zu diesem Zeitpunkt bestes Einvernehmen. So verfasste der Rektor „Geleitworte“76 für die gedruckte Dissertation von Hans Joachim Düning. Es handelte sich um die Arbeit „Der SA-Student im Kampf um die Hochschule“.77 Petersen hat in dem eingangs zitierten Artikel „Die Lehrerbildung an der Universität Jena“ in einer Fußnote auf Dünings Schrift verwiesen. Der kleine Text würde veranschaulichen, dass „alle neuen Arbeitsformen“ – offenbar der nationalsozialistischen „Formationserziehung“ und „Wehrertüchtigung“ – von der Universität übernommen und für die Lehrerbildung genutzt werden könnten. Denn Petersen hob die Vorreiterrolle der Studentenschaft bei der Entfaltung „des neuen Geistes“ hervor. An den Universitäten würden genau dieselben Bedingungen für Weltanschauung und Haltung im Sinne des neuen Reiches bestehen, wie sie an den Hochschulen für Lehrerbildung geschaffen worden seien.78 72 73 74 75 76 77 78

ThHStAW, ThVM, A 281, Bl. 178r. Ebd., Bl. 197r. Ebd., Bl. 186r–195v. und ebd. C 374, Bl. 37r–46r. ThHStAW, ThVM, A 281, Bl. 185r. Hans Joachim Düning: Der SA-Student im Kampf um die Hochschule (1925–1935). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Universität im 20. Jahrhundert, Weimar 1936, S. 7f. Retter: Petersen (wie Anm. 28), S. 108. Petersen: Lehrerbildung (wie Anm. 1), S. 23; vgl. auch Prondczynsky: Wissenschaftskulturen

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Den Ausgangspunkt der vorgelegten Denkschrift bildete die Feststellung, die Universität Jena gelte im Ausland als die „bekannteste Pflegestätte der Pädagogik“ unter den deutschen Universitäten. Sollten seine Vorschläge verwirklicht werden, resümierte Petersen, würde Jena sogar zum Mittelpunkt der erziehungswissenschaftlichen Forschung in Deutschland und in ganz Europa avancieren. Der entworfene Strukturplan sah im Einzelnen vor, die bisherige Erziehungswissenschaftliche Anstalt um ein schulpsychologisches Laboratorium zu erweitern. Das erfordere den Neubau eines großen Institutsgebäudes. Daneben sollte eine zweite, Heilpädagogische Abteilung der Anstalt entstehen. Vorgesehen war, das Karl Brauckmann-Institut, die Absehschule für In- und Ausländer, die Blindenanstalt, eine so genannte Taubstummenanstalt und eine Tagesschule für gehör- und sprachschwache Kinder aus Jena in dieser „Abt. B“ zusammenzufassen. Die Denkschrift skizzierte darüber hinaus eine Fülle von Möglichkeiten, um die vergrößerte und modernisierte Erziehungswissenschaftliche Anstalt innerhalb der Universität und interdisziplinär mit anderen Forschungseinrichtungen zu verknüpfen. Im zweiten Punkt der Denkschrift problematisierte Petersen das Verhältnis der akademischen Lehrerbildung zu den Hochschulen für Lehrerbildung. Aufgrund „reichster Erfahrungen“ plädierte er für die Rückkehr zu einem sechs Semester umfassenden Studiengang für die Ausbildung der Volksschullehrer. Aber selbst dann, wenn das Preußische Modell „im großen und ganzen die Form deutscher Lehrerbildung werden sollte“, würde „das Studium der Erziehungswissenschaft nach Theorie und Praxis“ keineswegs wegfallen. Ganz im Gegenteil, nur an der Universität könnten die späteren Dozenten der Hochschulen für Lehrerbildung ausgebildet und Lehrgänge für die erziehungswissenschaftliche Fortbildung angeboten werden. Das setze aber voraus, die Lehrerbildung in die dafür bestimmten Universitäten zu integrieren, um die Forschungs- und Beobachtungsunterlagen für die Lehre sicherzustellen.79 Abschließend betonte Petersen zu diesem Punkt, dass eine „vernünftige Arbeitsteilung“ zwischen den Arbeitsstätten für Erziehungswissenschaft in Jena und den Hochschulen für Lehrerbildung angestrebt werden müsse. Es gehe keineswegs um Konkurrenz.80 Petersen beanspruchte gemäß seiner Ausarbeitung allerdings einen kostenintensiven Sonderstatus für die Erziehungswissenschaftliche Anstalt in Thüringen. Die Volksbildungsministerien strebten jedoch nach einer „Vereinheitlichung“ der Ausbildung von Volksschullehrern im Deutschen Reich. Deren erklärtes Ziel bestand darin, die angeblich aus der Weimarer Republik überkommene „Zersplitterung“ der akademischen Lehrerbildung zu überwinden. Angesichts der Vorgaben aus Berlin überrascht es daher wenig, dass die zuständigen Sachreferenten im Thüringischen Volksbildungsministerium das Projekt im Mai 1936 übereinstimmend ablehnten. Die Eingabe entspräche nicht den „Bedürfnissen“ des Landes Thüringen.81 Der Ministerialrat Friedrich Stier erläuterte die Beweggründe des Ministeriums dem Jenaer Rektor. Marschler weigerte sich schlichtweg, Meyer-Erlach zu einer Aussprache zu empfangen. Die Verhandlungen mit dem Reichserziehungsministerium über die

79 80 81

(wie Anm. 3), S. 179. ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 38r (Hervorhebungen im Original). Ebd., Bl. 39r. ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 36r.

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Lehrerbildung in Thüringen seien noch im Fluss, hieß es zur Begründung.82 Die Tür zum Büro des Ministerpräsidenten schlug wieder zu, bevor sie richtig aufgegangen war. „DER AKADEMISCH GEBILDETE, WISSENSCHAFTLICHE LEHRERTYP EINER WURZELLOSEN ÜBERGANGSZEIT IST VERSCHWUNDEN“: DER BRUCHSTÜCKHAFTE UMBAU DES PI JENA IN EINE „HOCHSCHULE FÜR LEHRERBILDUNG“ UND PETERSENS STREICHUNG AUS DEM LEHRANGEBOT FÜR DIE LEHRAMTSSTUDENTEN, 1938/39 Ostern 1934 wurde der Universitätsschule an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt ein Fröbel-Kindergarten für drei- bis sechsjährige Kinder angeschlossen. Dieser Schritt ging auf eine Absprache zwischen Waldemar Döpel und Petersen vom 12. Februar 1932 zurück, die sie am Rande der „Friedrich-Fröbel-Gedächtnisfeier“ aus Anlass des 150. Geburtstages von Fröbel getroffen haben. Die neue Einrichtung wurde als eine ausgesprochene Forschungs- und Ausbildungsstätte für die Studierenden der Erziehungswissenschaft ins Auge gefasst. Sie sollte nach einer Niederschrift von Regierungsdirektor Dr. Schwalbe aus dem Jahre 1936 so schnell wie möglich verwirklicht werden, was aber zunächst an der fehlenden Finanzierung des Kindergartens scheiterte.83 Döpel war 1922 unter dem Sozialdemokraten August Frölich ins Thüringische Wirtschaftsministerium berufen worden und leitete dort in der Abteilung Wohlfahrt das Referat für Jugendwohlfahrt. Er gehörte zu diesem Zeitpunkt der SPD an. Vordem hatte er nach den Wahlen 1919 die Funktion des Dezernenten für Theater, Kunst und Wohlfahrtspflege der Stadt Jena übernommen. In dieser Funktion begleitete Döpel beispielsweise den Umbau des Jenaer Stadttheaters durch das Büro Gropius. Da dem Wirtschaftsministerium per Gesetz vom 20. Juni 1922 die Aufsicht über sämtliche Wohlfahrtseinrichtungen übertragen worden war, sollten nach Döpels Willen die Fröbel-Kindergärten mit „vorbildlichen Einrichtungen“ verbunden und die Kindergärten des Landes entsprechend der modernen Anforderungen umgestaltet werden. Dabei orientierte er sich am Arbeitsschul-Prinzip im Kindergarten. Er ging grundsätzlich davon aus, „dass der Arbeitsschulgedanke und die Montessorimethode bereits vor 100 Jahren bei Fröbel ihre Anfänge gehabt haben und die Schule durch Fröbel viel hätte lernen können, wenn Kindergärten und Schulen nicht wie feindliche Brüder nebeneinander hergegangen wären, [. . . ].“84 Hier waren übereinstimmende Grundauffassungen zu erkennen, die zwischen Petersen und Döpel beziehungsweise dem mit ihm eng verbundenen Thüringer Fröbelverein e.V. in Weimar eine strategische Allianz begründeten. Döpel hat Petersen wahrscheinlich auch in dem Gedanken einer „organischen Verbindung“ von Dorfkindergarten und Schule bestärkt.85 Zumal die akademische 82 83 84 85

ThHStAW, ThVM, A 281, Bl. 196r. ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 59r–60r, hier Bl. 59v. ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel, Nr. 14a, Bl. 11r–13v, zit. n. Bl. 12r. Peter Petersen: Die Knabenführung im Sinne Fröbels in Kindergarten und Schule nach ihrer besonderen pädagogischen Situation, in: Elisabeth Leutheußer/Waldemar Döpel (Hg.): Friedrich

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Lehrerbildung in Sachsen ein Praktikum im Kindergarten vorsah, daher als Vorbild dienen konnte. Döpel wollte Petersen dafür gewinnen, diese Regelung auch in Thüringen einzuführen. Während Volkelt diese Praktika an der Universität Leipzig in großstädtischen Kindergärten durchführen ließ, dachte Döpel für das kleinteilig strukturierte Thüringen an eine andere Lösung: „Könnte man in Thüringen das Kindergarten-Praktikum für Lehrer nicht so gestalten, das man für 8 oder 14 Tage oder länger in Gruppen abwechselnd die Lehrstudenten z.B. nach Schweina überweist, wo sie das ganze Problem der ländlichen Kindererziehung und Betreuung, Volkstum, Müttererziehung usw. also eine echte Heimatschule kennen lernen, dazu die Ausbildung der ländlichen Erzieherin/des Kleinkindes; ich mache besonders auf den Sonderkindergarten in Schweina von Neujahr bis Ostern aufmerksam, der alle Schulanfänger für zukünftiges Ostern erfasst!“86 In diese Zusammenarbeit ordneten sich auch die Vorlesungen der Leiterin der Fröbel-Einrichtungen in Schweina, Käte Heintze, im Wintersemester 1934/35 ein, die sie vor Lehramtsstudenten der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt hielt. Ein mehrtägiger Gegenbesuch dieser Studierenden im Fröbelhaus in Schweina schloss diese Veranstaltung ab.87 Nach dieser ersten Fühlungnahme entwickelte sich ein regelmäßiger Austausch zwischen den beiden Einrichtungen in Jena und Schweina. Im Frühjahr 1938 überraschte Petersen Friedrich Stier mit der Mitteilung, das Reich habe beschlossen, die Ausbildung für verschiedene sozialpädagogische Berufe an die Universitäten zu verlegen. Dazu sei ein dreijähriges Studium in den Hauptfächern Erziehungswissenschaft, Psychologe und Wirtschaftswissenschaft vorgesehen.88 Mit dieser Begründung gab er seine Versuche nicht auf, das Brauckmann’sche Institut in die Erziehungswissenschaftliche Anstalt einzugliedern, vor allem nachdem Karl Brauckmann im März 1938 verstorben war. Außerdem ergriff er in diesem Zusammenhang im März 1940 die Initiative und legte dem Thüringischen Volksbildungsminister ein Konzept vor, das die Fortbildung von Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen zu Grundschullehrerinnen vorsah. In seiner Begründung verwies Petersen wiederum auf Friedrich Fröbel, der die Ausbildung der Kindergärtnerinnen von Anfang an nicht auf die Kindergartenstufe beschränkt habe. Vielmehr umfasste sie bei ihm auch die ersten Schuljahre. Fröbel habe für die Zeit bis zum 9. Lebensjahr eine „Vermittlungsschule“ gefordert, die aber von der Vorschulpädagogik bestimmt werden müsste.89 Stier gab Petersen am 29. Juni 1940 zu verstehen, das Konzept sei „im Zuge der Vereinheitlichung der Lehrerbildung unerwünscht“.90 Am 4. Oktober 1940 wurde Petersens Eingabe durch das REM abgelehnt.91 Dieser Plan ließ aber

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90 91

Fröbel. Ein Gedenkbuch. Vorträge zum 150. Geburtstage von Friedrich Fröbel während der Blankenburger Gedächtniswoche 1932, Weimar 1937, S. 211–255. PPVA, Ordner: Fröbel-Bewegung, Döpel an Petersen v. 13.9.1933. Renate Westermann: Die Fröbel-Renaissance in Thüringen, Berlin 1943, S. 166. ThHStAW, ThVM, A 332, Bl. 162r. ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 84r–94r. Vgl. Peter Petersen: Von der Fröbelschen „Vermittlungsschule“ zur Deutschen Fröbel-Schule, in: Irene Knoch/Sonjamaria Mentz/Gertrud Stricker (Hg.): Kindergarten und Volksschule organisch verbunden (= Neue Forschungen zur Erziehungswissenschaft Bd. 2, Hf. 4), Weimar 1940, S. VII–XLV. ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 95r+v, zit. n. Bl. 95v. Ebd., Bl. 118r.

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Petersen nicht mehr los. Er versuchte weiter, in der Ministerialbürokratie für dessen Umsetzung zu werben. Noch am 17. Juni 1943 teilte er Döpp-Vorwald mit, er wolle nach Berlin fahren, „um die oft von der E.A. aus geplante Umschulung von Kindergärtnerinnen zu Lehrerinnen der Grundschule zu besprechen [. . . ].“92 Im Jahre 1938 traten eine ganze Reihe von neuen Verordnungen des REM in Kraft, die für die Lehrerbildung von großer Bedeutung waren. Nunmehr mussten auch die Studenten des höheren Lehramts ihr Studium an den Hochschulen für Lehrerbildung beginnen. Diese Regelung wertete das PI Jena ohne Zweifel auf, weil dort nunmehr die Lehramtsstudenten aller Schularten studierten. Das war von Bedeutung, weil auch in Jena die Zahl der Studenten für das Lehramt an Volksschulen seit 1933 rückläufig gewesen war, wie das folgende Diagramm93 veranschaulicht: Abbildung 1: Die Anzahl der Neuaufnahmen am PI Jena

Die Studenten von 1938 wiesen ein anderes geistiges und soziales Profil auf als jene von 1932, die Petersens fachliche Qualitäten schätzten und an der universitären Lehrerbildung festhalten wollten. Die folgenden Diagramme94 verdeutlichen das 92 93 94

PPVA, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald. Walter Lehmann: Zehn Jahre Pädagogisches Institut Jena, in: Der Thüringer Erzieher. Päd. Monatszeitschrift des NSLB Gau Thüringen 6 (1938), Hf. 17, S. 385–388, hier S. 388. Die Diagramme erstellte Frau Marlen Barten, Jena. Ebd., S. 387f.

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studentische Sozialprofil Ende der 1930er Jahre. Die Studenten für das Lehramt an Volksschulen wiesen zu knapp 40 Prozent einen bäuerlich-handwerklichen Familienhintergrund auf, während die Studenten für das höhere Lehramt aus größeren Städten und zu zwei Drittel aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern stammten. Abbildung 2: Die Lehramtsstudenten nach den Berufen ihrer Eltern

Der stellvertretende Direktor des PI Jena, Walter Lehmann, stellte diese Zahlen in einem Bilanzartikel „Zehn Jahre Pädagogisches Institut Jena“ für die Zeitschrift des NS-Lehrerbundes im Gau Thüringen zusammen. Er meinte aus ihnen ablesen zu können, dass das Studium in der großen Mittelstadt Jena keineswegs zur „Verstädterung“ und zur Ablösung der Studierenden „vom Volk“ geführte habe. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Vielmehr würde sich unter den zukünftigen Volksschullehrern ein „Wille zur einklassigen Landschule“ offenbaren. Das bildete für ihn die Hintergrundfolie, um gegen den „akademisch gebildeten Lehrertypus“ der Vergangenheit zu polemisieren. Lehmann forderte zwischen den Zeilen einen Generationswechsel unter den Instituts- und Hochschuldozenten. Der im Jahre 1900 geborene NSDDozentenbundführer am PI Jena verstand sich als „Gegentypus“ zu den Professoren Petersen und Weiß. Er kritisierte sowohl die alte Universitätselite als auch die Thüringische Landesverwaltung, die für „eine Fülle überkommener Mißstände und zum Teil unwürdiger und unhaltbarer Arbeitsbedingungen“ die Verantwortung tragen würde.95 Die von jungen Dozenten wie Lehmann erträumte „Einheit des Lehrerstandes“ blieb freilich eine Illusion, weil sich die soziale Situation der Volksschullehrer in der NS-Zeit nicht grundlegend verbesserte. Abiturienten erschien es daher immer weniger attraktiv, den Beruf eines Volksschullehrers zu ergreifen. Der Lehrermangel nahm Ende der 1930er Jahre dramatische Formen an.96 In Thüringen vertraten der Schulreferent im Volksbildungsministerium, Richard Arnold, flankiert vom Leiter 95 96

Lehmann: Jahre (wie Anm. 93), S. 385–388, zit. n. S. 388. BArch, R 4901/2503, Bl. 1–63, Denkschrift „Das Problem des Lehrermangels, seine Ursachen und seine Überwindung“ v. Heinrich Siekmeier, Oktober 1939.

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Abbildung 3: Die Studenten nach der Größe ihres Herkunftsortes

der Ministerialgeschäftsstelle an der Universität Jena, Friedrich Stier, die Auffassung, dem Problem des Lehrermangels könne nur durch die Einführung einer unentgeltlichen Lehrerausbildung durchschlagend begegnet werden. Die Universität wehrte sich gegen eine solche Regelung, weil sie in diesem Fall mit deutlich weniger Neueinschreibungen rechnete, da das Universitätsstudium natürlich gebührenpflichtig blieb. Stier ging von einem Rückgang um etwa 150 Studierenden aus. Er teilte dem Gaudozentenbundführer Heinrich Jörg am 25. März 1938 mit, dass nur noch in Thüringen eine Verbindung zwischen der Universität und der regionalen Ausbildungsstätte für Volksschullehrer bestehen würde. Er rechne aber damit, dass nunmehr auch in Thüringen eine Hochschule für Lehrerbildung errichtet werden würde. Zumal die Ausbildung an diesen Einrichtungen völlig unentgeltlich sei. Es müssten also Übergangsregelungen gefunden werden. So sei für eine begrenzte Zeit daran gedacht, „mit einzelnen Hochschullehrern Sonderverträge zu schließen, auf Grund deren sie

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neben ihren allgemeinen Vorlesungen Sondervorlesungen für Studierende der Hochschule für Lehrerbildung abhalten. Diese Lösung wird wahrscheinlich schon für den 1. Oktober 1938 in Frage kommen.“97 Diese Argumentation ließ erkennen, dass auch zukünftig Universitätsprofessoren am PI Jena lehren würden. Das missfiel der Abt. A im Thüringischen Volksbildungsministerium, die gemeinsam mit dem REM über Jahre versucht hatte, die Lehrerausbildung in Thüringen von der Universität Jena vollständig abzutrennen. Deshalb wurde Stier von diesen Beamten kritisiert. Er habe Jörg erläutern müssen, dass die Errichtung einer Hochschule für Lehrerbildung vom REM gefordert werde, eine unentgeltliche Ausbildung in Thüringen unumgänglich sei, wenn das Land nicht bald ohne Volksschullehrer dastehen wolle und die Anzahl der Vorlesungen und Übungen an der Universität wesentlich höher ausfalle als es der Reichslehrplan für die Volksschullehrerausbildung vorschreibe. Die bestehende Regelung einer Verbindung mit der Universität könne daher nicht fortbestehen.98 Doch darin sah sich das „Rust-Lager“ bald getäuscht. Der NSDDB intervenierte seit 1938 auf dem Feld der Jenaer Lehrerbildung. Einerseits wollte er die Ablösung von Weiß als Direktor des Pädagogischen Instituts im NS-Gau Thüringen ventilieren99 und andererseits auf das Vorlesungsangebot für die Lehramtsstudenten Einfluss gewinnen. Im Bunde mit dem Reichsstatthalter in Thüringen forderte der Gaudozentenbundführer nachdrücklich, alle Lehramtsstudenten müssten an den Vorlesungen und Übungen des Rassehygienikers Karl Astel in Vererbungslehre und Rassenkunde teilnehmen. Bei diesen beiden Fächern handelte es sich um ein verbindliches Lehrangebot für die Studierenden der ersten beiden Semester am PI Jena. Ein Erlass vom 9. Oktober 1936 schuf dafür die Grundlage.100 Außerdem hielt der Psychologe Friedrich Sander regelmäßig Lehrveranstaltungen im Rahmen der von Stier erwähnten Sonderlehrgänge, sehr zum Leidwesen von Weiß. Petersen übernahm indes keine Sondervorlesungen von Universitätsprofessoren am PI Jena, er blieb außen vor. Nachdem Preußen am 2. Dezember 1936 von Vorüberlegungen zurückgetreten war,101 gemeinsam mit dem Land Thüringen eine Hochschule für Lehrerbildung zu gründen, setzte der Reichsstatthalter in Thüringen zwischen Anfang Juli und Mitte August 1937 gegenüber dem Ministerpräsidenten des Landes durch, eine Hochschule für Thüringen am Standort Jena zu bauen.102 Marschler votierte vorübergehend für die Stadt Eisenach. An der neuen Einrichtung sollten die Lehramtsstudenten für alle Schularten in Thüringen ausgebildet werden. Der Neubau einer „Fachschule für Lehrerbildung“ – wie Arnold am 21. September 1937 wohl keineswegs irrtümlich vermerkte – war für etwa 400 Studierende ausgelegt, darunter 350 Studierende für das Lehramt an Volksschulen, 30 zukünftige Berufsschullehrer/innen und 20 Studierende für das höhere Lehramt.103 Nun nannte man das Kind beim Namen. Die endgültige Entscheidung über den Bau einer Hochschule für Lehrerbildung am Standort Jena erfolgte am 2. März 1938 während des Besuches von Reichsminister Rust in der 97 98 99 100 101 102 103

ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 69r+v, hier Bl. 69v. Ebd. Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 3), S. 178–182. ThHStAW, ThVM, A 355, Bl. 125r+v. ThHStAW, ThVM, A 354, Bl. 15v. Ebd., Bl. 29r. Ebd., Bl. 30r.

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Saalestadt.104 Dies geschah also nur vier Wochen, nachdem Hitler die bauliche Modernisierung der Friedrich-Schiller-Universität und ihrer Kliniken bewilligen ließ.105 Der Reichserziehungsminister beugte sich letztlich in dieser Frage dem Reichsstatthalter in Thüringen. Fritz Sauckel erläuterte ihm im Beisein von Marschler die Beweggründe der NS-Gaupolitiker, ohne dass darüber Einzelheiten bekannt wurden.106 Ende 1938 wurden die Diskussionen um die zukünftige Gestaltung der Lehrerbildung in den NS-Bürokratien aufs Neue entfacht. In zwei Telegrammen an Hermann Göring stellte der Reichsstatthalter in Thüringen die Hochschule für Lehrerbildung und das Abitur als Zugangsvoraussetzung grundsätzlich in Frage. Sauckel forderte auf Grund des großen Lehrerbedarfs, junge Menschen aus allen Schichten des Volkes für diesen Beruf zuzulassen. Deshalb brachte er den Gedanken ins Spiel, nach der Volksschule für die Lehramtsanwärter lediglich einen „Lehrerbildungsgang“ anzubieten. Für diese Ausbildungsform sei es ausreichend, die Grundfächer „Lesen, Rechnen, Deutsch, Nationalsozialistische Weltanschauung, Geschichte, Erdkunde, elementare Physik und Naturlehre“ zu unterrichten. „Fremdsprachen, Integralrechnung, ein Teil der Philosophie sowie die Geschichte der pädagogischen Wissenschaftssysteme“ seien dagegen völlig überflüssig. Sauckel kam zu dem Schluss, „es muß möglich sein und ist sogar wünschenswert, auch ohne Abitur Volksschullehrer werden zu können.“107 Vor Ort fanden die Pläne für einen neuen Gebäudekomplex der akademischen Lehrerbildung allerdings große Fürsprecher. Neben Weiß drängte vor allem der Direktor des Instituts beziehungsweise Hochschulinstituts für Leibesübungen, Karl Feige, auf einen Hochschulneubau, weil die Hörsäle und Seminarräume in der Landesturnanstalt seit Jahr und Tag nicht ausreichten. Dem PI Jena stand für seine Lehrveranstaltungen seit 1928 lediglich eine Behelfsbaracke mit wenigen Räumen zur Verfügung. Es herrschte akuter Raummangel, was die Durchführung der Seminare stark beeinträchtigte. Doch verfolgten Weiß und Feige auch divergente Interessen.108 So legte letzterer am 5. April 1939 das Konzept einer „Politischen Hochschule“ vor. In ihm suchte er Wege aufzuzeigen, wie der Hochschulstandort Jena in eine von Berlin geförderte „Luftfahrt-Universität“ umgewandelt werden könnte. Auch der Leiter der „Abt. Luftfahrt“ des Hochschulinstituts für Leibesübungen unterstützte die Berliner Pläne für einen Hochschulneubau in Jena, weil er sich davon eine Verbesserung der paramilitärischen Ausbildung von Segelfliegern auf dem Flugplatz der Friedrich-Schiller-Universität in Schöngleina erhoffte.109 Das Gesamtvorhaben eines Neubaus kam allerdings im Sommer 1939 über einige Ortstermine auf dem ins Auge gefassten Baugelände an der Landesturnanstalt nicht hinaus, obwohl sich 104 Vgl. den Artikel „Reichsminister Rust in Jena“, in: Jenaische Zeitung v. 3.3.1938. 105 Uwe Hoßfeld/Jürgen John/Rüdiger Stutz: „Kämpferische Wissenschaft“: Zum Profilwandel der Jenaer Universität im Nationalsozialismus, in: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 23–121, hier S. 73–76. 106 ThHStAW, ThVM, A 354, Bl. 42r. 107 Gutzmann: Hochschule (wie Anm. 38), S. 299f., zit. n. S. 300 (Hervorhebung im Original). 108 ThHStAW, ThVM, A 354, Bl. 37r–40r. 109 Jürgen John/Rüdiger Stutz: Die Jenaer Universität 1918–1945, in: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 270–587, hier S. 523.

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Reichsstatthalter Sauckel und in dessen Auftrag Baurat Rudolf Rogler weiterhin für das Projekt einsetzten.110 Wenige Monate zuvor war Petersen auf kaltem Wege aus der Lehrerbildung am PI Jena ausgeschlossen worden. Auf der Grundlage der „Ordnung der ersten Prüfung für das Lehramt an Volksschulen“ vom 12. Oktober 1937 und der „Studienordnung für das Lehramt an Volksschulen“ vom 26. Oktober 1938 wurden die Vorlesungen in den Kernfächern Allgemeine Erziehungswissenschaft und Allgemeine Unterrichtslehre mit Beginn des Wintersemesters 1939 ausschließlich dem Pädagogischen Institut unter Leitung von Georg Weiß übertragen. De jure wurde Petersen weder die Lehrberechtigung entzogen noch wurde er aus der Prüfungskommission für das Lehramt an Volksschulen entfernt. Die Entscheidung beruhte aber auf einer förmlichen Anordnung von Walter Voigtländer, dem Hauptreferenten im Sachgebiet Hochschulen für Lehrerbildung im REM. Vordem hat Petersen direkt in Berlin interveniert und Voigtländer mit großem Nachdruck um eine Erklärung gebeten, warum er keine Vorlesungen mehr vor den Studierenden des PI Jena halten könne. Voigtländer beantwortete die Schreiben von Petersen nicht und wies die Beamten im Thüringischen Volksbildungsministerium an, entsprechend zu verfahren.111 Am 6. Juni 1940 berichtete Petersen in einem Brief, alle von ihm angekündigten Vorlesungen und Übungen seien aus dem „Universitäts-Belegbuch“ gestrichen worden. Er wisse zur Stunde noch nicht, wie es zusammenhängen würde.112 Zwischenzeitlich haben 1940 nur noch zehn bis zwölf Studierende die Lehrveranstaltungen von Petersen besucht, etwa 20 in den folgenden Wochen des Semesters. Nachdem Petersen aus dem Lehrangebot für die Lehrerstudiengänge am PI Jena ausgegrenzt worden war, schrumpften natürlich auch seine Hörergelder empfindlich. Andreas von Prondczynsky sprach von einer „umfassenden Entmachtung Petersens“.113 Das PI Jena war zwar den Hochschulen für Lehrerbildung formell gleichgestellt worden. Aber seine vollständige Umwandlung in eine „geschlossene“ neue Hochschuleinrichtung blieb weitgehend ein Vorhaben, das bis zum Ausbruch des Krieges vom REM und Thüringischen Volksbildungsministerium nicht mehr in Angriff genommen werden konnte. Und dann wurden alle Hochschulen für Lehrerbildung im Reich auf Anweisung von Hitler wieder aufgelöst. Nach der „Neuordnung“ der Volksschullehrerbildung vom Frühjahr 1941 wurden alle Hochschulen für Lehrerbildung bis zum 1. April 1942 in Lehrerbildungsanstalten umgewandelt. Zum Leiter der neuen Jenaer Anstalt wurde mit Wirkung vom 1. April 1941 Georg Weiß im Rang eines Oberstudiendirektors bestellt.114 Er bekam ein dem entsprechend kleineres Gehalt, durfte aber seinen Professorentitel weiterführen. An diesen Nachfolgeeinrichtungen sank das fachliche Niveau ins Bodenlose. Am früheren PI Jena fanden nur noch einjährige Lehrgänge für Jugendliche mit Reifeprüfung statt, die für das Lehramt an Volksschulen ausgebildet wurden, daneben eineinhalbjährige Kurse für Hauswirtschafts- und Turnlehrerinnen. Im Mai 1944 belegten nur noch 34 Schü110 111 112 113

ThHStAW, ThVM, A 354, Bl. 48r–57r. ThHStAW, ThVM, A 332, Bl. 267r; vgl. auch ebd., Bl. 268r+v. PPVA, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald. Prondczynsky: Universitätspädagogik (wie Anm. 3), S. 184. Zum Gesamtvorgang vgl. ebd., S. 183–185. 114 ThHStAW, PBV Nr. 33305, Bl. 181r.

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ler/innen die einjährigen Ausbildungslehrgänge für das Lehramt an Volksschulen und etwa 50 andere Teilnehmer/innen weitere Kurse an der Anstalt.115 In den letzten Kriegsjahren kam die Ausbildung an der Lehrerbildungsanstalt Jena zum Erliegen. In den Gebäuden der Lehrerbildungsanstalten Thüringens wurden Lazarette eingerichtet. Deshalb mussten die Schüler und Lehrer der Lehrerbildungsanstalten in Ausweichquartiere verlegt werden, sehr häufig über mehrere benachbarte Orte verteilt. Wenn überhaupt, fand Unterricht nur noch in der Form des „Appellbetriebs“ statt. Selbst in Städten mittlerer Größe stand zumeist nur noch ein Schulgebäude zur Verfügung, das aber von sämtlichen Schulen in den betreffenden Ortschaften genutzt werden musste.116 Am Ende des Zweiten Weltkrieges war die NS-Lehrerbildung vollständig zusammengebrochen. Georg Weiß wurde durch den neuen Landesdirektor für Volksbildung, Walter Wolf, zum Ende des Monats September 1945 in den Wartestand versetzt.117 EIN CHAMÄLEON IM „IRRGARTEN DER POLITIK“: DAS LEBENSLAUF-DOKUMENT VON ENDE 1941 UND NEUE BERUFS- BEZIEHUNGSWEISE SOZIALPÄDAGOGISCHE FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN, 1939 BIS 1944/45 Nach seiner Ausbootung aus der akademischen Lehrerbildung in Thüringen kam Petersen sicher gelegen, dass sich zur gleichen Zeit seine Arbeitskontakte zu Waldemar Döpel und zur so genannten Fröbel-Bewegung in Thüringen verstetigten. Regierungsrat Döpel bekleidete seit 1932 den Vorsitz im Thüringer Fröbel-Verein e.V. Er wurde als dessen „Seele“ angesehen. Bereits am 31. Mai 1938 hatte er Petersen im Namen seines Vereins aufgefordert, noch im gleichen Jahr an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Universität Jena eine „besondere Lehrstätte für Kleinkinderpädagogik“ einzurichten. Sicherlich war diese Initiative zwischen den beiden Männern abgesprochen worden. Zur Begründung verwies Döpel auf den „Fröbelschen Kindergarten“, der 1934 der Universitätsanstalt angegliedert worden war, und auf das bevorstehende 100-jährige Jubiläum der Gründung des „Deutschen Kindergartens“ im Jahre 1840 in Bad Blankenburg.118 Ein dreiviertel Jahr später erneuerte Döpel diesen Vorschlag in einem langen Schreiben an Petersen,119 der große Teile daraus wörtlich übernahm und seiner Eingabe an den Rektor der Friedrich-Schiller-Universität vom 30. Juni 1939 einfügte. Deren erster Satz bildete beispielsweise die Formulierung von Döpel, das Kleinkind stehe „am Anfang des völkischen Lebens“.120 Petersen beantragte bei seiner Magnifizenz eine Assistentenstelle für Kleinkinderpädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt, die ab dem 1. September 1939 mit Käte Heintze besetzt wurde. Es handelte sich um die 115 116 117 118 119 120

Barch, R 4901/11307, n.p., Graichen an das REM v. 15.6.1944. Ebd., Graichen an das REM v. 2.2.1945. ThHStAW, PBV Nr. 33305, Bl. 213r. ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel, Nr. 14b, Vorgang 8, Bl. 1r. Ebd., Bl. 15r–16v. Ebd., Bl. 2r.

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langjährige Leiterin der Ausbildungsstätte für Kinderpflegerinnen des Landes Thüringen in Schweina. Diese Anstellung hatte Heintze zum 1. April 1939 gekündigt. Sie wollte einer Übernahme durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) in Thüringen und vor allem durch deren führende Funktionäre im Gau entgehen, obwohl sie seit 1937 der NSDAP angehörte. Petersen schätzte Käte Heintze als Sozial- und Kindergartenpädagogin seit ihrer Tätigkeit als Leiterin des Kriegskinderheimes von Carl Zeiss in den Jahren des Ersten Weltkriegs.121 Margarethe Unrein, eine Tochter von Ernst Abbe, wählte sie für diese Aufgabe aus. Vordem hat Käte Heintze am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin die Abteilung „Das Schulkind“ gegründet und geleitet. Petersen nahm sie vorübergehend in seine Privatwohnung auf, um ihr fürs Erste eine Bleibe zu verschaffen.122 Durch den Aufbau der neuen Abteilung „Das Kleinkind“ eröffnete Petersen ihr und drei weiteren Kolleginnen aus den Fröbel-Kindergärten des Landes eine Arbeitsperspektive. Selbstverständlich war das auch für die Erziehungswissenschaftliche Anstalt von Vorteil, wo nunmehr die Vorschul- und Sozialpädagogik mit ihren Nebenfächern einen weiteren Schwerpunkt in der Lehre und Forschung bildete. Dennoch verlief der Ausbau dieser Jenaer Universitätsanstalt in der Vorkriegszeit keineswegs so florierend und reibungslos, wie es auf dem ersten Blick erscheinen mag.123 Im Juni 1940 wurde der Thüringer Fröbel-Verein durch den NS-Lehrerbund und Karl Astel in dessen Funktion als leitender Beamter in der Abteilung Inneres der Behörde des Reichsstatthalters in Thüringen zur Selbstauflösung gezwungen.124 Die vom Verein in freier Trägerschaft verwalteten Fröbel-Kindergärten wurden von der NSV vereinnahmt und die frühere Arbeitsstätte von Heintze in Schweina noch im gleichen Jahr in die Gaufachschule der NSV Thüringen umgewandelt. Der langwierige Konflikt von Döpel und Heintze mit den führenden Politikern des NS-Lehrerbundes und der NSV in Thüringen bestärkte Petersen nicht nur in seiner Geringschätzung für diese „jämmerlich-erbärmliche Gesellschaft“.125 Der Gauamtsleiter des NS-Lehrerbundes, Paul Papenbroock, soll gegen Döpel und Petersen sogar ein Redeverbot in den Thüringer Lehrervereinen und vor Kindergärtnerinnen ausgesprochen haben. Diese Behauptung stellte Döpel erst am 26. Februar 1947 auf, als er sich vor einer „Spruchkammer zur Durchführung der Bereinigung der öffentlichen Verwaltung von Nazi-Elementen“ für seine Mitgliedschaft in der NSDAP verantworten musste.126 Ihr Aussagewert wird daher zu relativieren sein. Außerdem schrieb Petersen am 30. Juli 1941 an seinen engen Vertrauten, Heinrich Döpp-Vorwald, er habe wenige Tage zuvor eine Veranstaltungsserie in vier sächsischen Städten für den NS-Lehrerbund bestritten. Er habe vor etwa 500 Lehrern über die „Unterrichtsführung“ nach den „Richtlinien“ des REM von 1938 und 1939 gesprochen. Das Interesse sei groß gewesen. Er habe „viel Erschütterndes über die Jugendnot und 121 Vgl. ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 106r. 122 ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel, Nr. 20, Vorgang 3, Bl. 1r. 123 Barbara Kluge: Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte. Auf dem Weg zu einer Biographie, Heinsberg 1992, S. 174. 124 ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel Nr. 15, Vorgang 2, Bl. 168r+v. 125 PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald, Petersen an Döpp-Vorwald v. 22.9.1943. 126 ThHStAW, PBI Nr. 485, Bl. 164r–166v, hier Bl. 166r.

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allgemeine Schulnot“ gehört.127 Dennoch wird Petersen der ewigen Streitereien mit den NS-Organisationen in Thüringen überdrüssig gewesen sein. Das bildete den berufsbiografischen Hintergrund für Vorträge, die er für den 20. und 21. November 1941 in Dortmund und Bochum ankündigte. Es handele sich um eine Veranstaltungsreihe der „Volksbildungsstätte“, wie er sich gegenüber Döpp-Vorwald ausdrückte.128 Gemeint war das Deutsche Volksbildungswerk, das der Nationalsozialistischen Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ lose angeschlossen worden war. Eine Dachorganisation, in der nach 1933 alle Einrichtungen der Volksund Erwachsenenbildung aufgingen. Während des Krieges bot das Volksbildungswerk auch Kurse und Arbeitsgemeinschaften für die berufliche Weiterbildung und politisch-ideologische Schulung an. Wir vermuten, dass Petersen im Vorfeld seiner geplanten Vortragsreise durch das Ruhrgebiet dem Volksbildungswerk jenen Lebenslauf einreichte, der in der Petersen-Forschung bis dato breit ausgewertet wurde.129 Über den Entstehungszusammenhang dieses Dokuments ist bislang indes wenig bekannt geworden. Zunächst muss Petersen auf seiner Vortragstournee durch mehrere Städte des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen die Veranstalter des Deutschen Volksbildungswerks sichtlich beeindruckt haben. Denn dessen Gaudienststelle Westfalen-Süd bescheinigte Petersen, „revolutionäre Gedanken“ zu vertreten und sich „aus innerster Überzeugung“ zum Nationalsozialismus zu bekennen.130 Infolgedessen beabsichtigte das Deutsche Volksbildungswerk, Petersen zu weiteren Vorträgen einzuladen. Er sollte erziehungswissenschaftliche und sozialpädagogische Themen behandeln. Das federführende Amt Kulturpolitisches Archiv in der Dienststelle Rosenberg führte am 2. April 1943 zur Vorbereitung dieser Veranstaltungen aus, laut der von Petersen dem Volksbildungswerk vorgelegten Unterlagen habe er sich im Grenzlandkampf bewährt. Außerdem sei er als Wissenschaftler lange Zeit „im Auslandsdienst“ tätig gewesen.131 Diese Angaben stimmen auffallend mit der Schwerpunktsetzung in jenem Lebenslauf-Dokument überein, das Barbara Kluge ihrer Petersen-Biografie zugrunde legte und auf den 1. Januar 1942 datiert. Zu dem von Petersen entworfenen Lebensabriss merkte diese Autorin an, das Papier könnte als Unterlage für eine „Wegbewerbung von Jena nach Kiel“ gedient haben.132 Das Amt Kulturpolitisches Archiv in der Behörde des Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, Alfred Rosenberg, empfahl der Reichsdienststelle des Deutschen Volksbildungswerkes allerdings, von weiteren Veranstaltungen mit Petersen Abstand zu nehmen. Dieser würde als Pädagoge „einen liberal-demokratischen humanistischen Bildungsbegriff“ vertreten. Petersen habe sich in seinen letzten Veröffentlichungen zwar positiv mit den Grundforderungen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Gleichwohl könne keine Rede davon sein, dass er „im Ideengut der Bewegung“ verwurzelt sei. „Es lässt sich auch nicht der Eindruck abweisen, 127 128 129 130 131 132

PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald. Ebd., Petersen an Döpp-Vorwald v. 15.6.1941. Kluge: Petersen (wie Anm. 123), S. 12–23. BArch, NS 15/158b, Bl. 275. Ebd., Bl. 246. Kluge: Petersen (wie Anm. 123), S. 12.

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dass sein Verhalten mehr durch Taktik als durch Überzeugung bestimmt ist.“133 Das Deutsche Volksbildungswerk ließ aber nicht locker und wollte offenbar an Petersen als Referenten festhalten. So lenkte denn das Kulturpolitische Archiv in der „weltanschaulichen“ Überwachungszentrale der NSDAP am 5. August 1943 abschließend ein. Demnach bestünde kein Zweifel, dass Petersen eine „gutwillige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus“ beziehen würde und ein ausgezeichneter Kenner seines Faches sei. Er müsse jedoch als „ein reiner Vertreter der Rousseauschen Pädagogik“ angesehen werden. Indes wollte das angefragte Amt einen Einsatz von Petersen auch nicht „ganz unterbinden“. Es bat daher darum, ihn nicht ausdrücklich in der Öffentlichkeit „herauszustellen“. Außerdem seien von Petersen Vortragsmanuskripte anzufordern und der Dienststelle Rosenberg zu übermitteln, damit sie vor den Veranstaltungen geprüft werden könnten.134 Ob Petersen ahnte, dass NS-Dienststellen die von ihm angefertigten Papiere unter die Lupe nehmen würden, können wir nur vermuten. Dem 13 Seiten umfassenden Lebenslauf fügte Petersen eine Auswahl eigener Publikationen in der Form einer Literaturübersicht an. Diese Lebensbeschreibung enthält eine ganze Reihe nationalistischer Entgleisungen, aber auch zweifelsfrei falsche Behauptungen, die keiner Überprüfung standhalten. Wieder nahm Petersen eine Verdrehung nachweisbarer Zusammenhänge oder Handlungsabläufe aus den 1920er und frühen 1930er Jahren vor.135 Er stilisierte sich in einer ganzen Reihe von martialischen Selbstzuschreibungen zu einem Antibolschewisten der ersten Stunde und Aktivisten im „Grenzlandkampf“ um die Freiheit von Nord- und Mittelschleswig. Zum einen behauptete Petersen, sich in den ersten Tagen nach Ausbruch der Revolution in Hamburg „gemeinsam mit Gesinnungsgenossen in den Dienst der Bekämpfung der Meuterer, sowie ihrer kommunistischen Hintermänner“ gestellt zu haben. Er habe mithelfen können, „sie zurückzudrängen und einer ruhigeren Entwicklung die Bahn frei zumachen.“ Er habe der Freiwilligen Bürgerwehr von Anfang an bis zu ihrer Auflösung 1922 angehört.136 Zum anderen hob er sein Engagement als Redner und Publizist im Vorfeld der Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit von Nord- und Mittelschleswig zwischen Januar und Mai 1920 hervor. Petersen vermittelte den Eindruck, als sei er der Sprecher der „nationalen Kreise Hamburgs“ gewesen.137 Kein Wort, dass diese Kampagne von der Reichszentrale für Heimatschutz finanziert und organisiert worden war. Sie stand unter der Leitung des Sozialdemokraten Adolf Köster.138 Zunächst ist aufschlussreich, die beiden skizzierten Selbstbilder mit dem Fremdbild zu kontrastieren, das sich das REM von Petersen machte. Letzteres kann aus der Personalkartei dieses Reichsministeriums abgelesen werden.139 Die Berliner Ministerialbeamten stellten über alle beamteten und nicht beamteten Hochschullehrer des Deutschen Reiches solche berufsbiografischen Angaben zusammen. Die genormten 133 134 135 136 137 138 139

BArch, NS 15/33, Bl. 229. BArch, NS 15/34, n.p. Vgl. den Beitrag von Jürgen John in diesem Band. Zit. n. Kluge: Petersen (wie Anm. 123), S. 278. Zit. n. ebd., S. 281. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 21), S. 75–83. BArch, R 4901/13273, n.p.

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Karteikarten enthielten auch die Spalte „Mitgliedschaft in nationalen Verbänden“, die im Falle von Petersen ein blütenweißes Feld ausweist. Das bildete unter den deutschen Hochschullehrern jener Jahre ganz gewiss eine Ausnahme. Er dürfte zu den wenigen Angehörigen seines Jahrgangs gezählt haben, die an keinem einzigen Tag ihres Lebens eine Uniform getragen haben. In der Spalte „Militärverhältnisse“ fand sich demzufolge nur der kurze Eintrag, Petersen sei 1919 „zur Auflösung und Abgabe der Waffe Mitglied der Einwohnerwehr“ im Hamburger Stadtbezirk Eppendorf gewesen.140 Die von ihm aufgestellten Behauptungen wichen so gravierend von den relativ leicht überprüfbaren Tatsachen ab, dass Petersen im privaten Briefverkehr oder Austausch mit vertrauten Personen nicht umhin kam, das von ihm gestreute Selbstbild eines „nationalistischen Kämpfers“ wieder in Abrede zu stellen oder zumindest zu relativieren. Über den Entstehungszusammenhang dieses Lebenslaufs können wir einem Schreiben an Döpel entnehmen, das Dokument sei Ende 1941 entstanden. Petersen übermittelt ihn dem Regierungsrat in Weimar unter dem 18. Januar 1942. Er merkte nur lapidar an, es habe einen „Anlaß“ gegeben, ihn niederzuschreiben. Außerdem machte er Döpel ausdrücklich darauf aufmerksam, dass „Vieles darin ausgelassen“ sei. Dieser Lebenslauf könne nicht mehr sein, als „ein grob zugehauener erster Zugriff“.141 Döpel zeigte sich in seinem Dankschreiben vom 23. Januar 1942 höchst verwundert über Petersens „deutsch-nationale Wirksamkeit in und für die Nordmark“.142 Daher sah sich der Adressat zu einer Richtigstellung veranlasst. Es entspann sich ein Briefwechsel, in dem Petersen selbstverständlich den Zwängen der argumentativen Plausibilität unterlag. Diese ungeschriebenen Regeln musste er einhalten, wollte er beim Empfänger seines Schreibens nicht unglaubwürdig erscheinen. Petersen musste Döpel aber nicht nur als Mitwisser seines informellen Vorgehens in Rechnung stellen, sondern auch als einen tatkräftigen Unterstützer seiner Erziehungswissenschaftlichen Anstalt in der Innenbehörde des Reichsstatthalters in Thüringen. Doch darüber ließ Petersen in seinem Lebenslauf kein Wort verlauten. Darin erschien er als ein Wissenschaftler, der ausschließlich aus eigener Kraft zum Erfolg gelangt sei, im privaten Schriftwechsel mit einem alten Bekannten war er zu größerer Aufrichtigkeit gezwungen. Deshalb liest sich sein Schreiben wie eine Entschuldigung für die von ihm eingeräumten Auslassungen in der beigefügten Lebensbeschreibung. Petersen konnte in seinem Briefwechsel mit Döpel nicht mit mehr oder weniger freien Erfindungen operieren, so wie er es in dem mutmaßlich für eine politische Organisation der Erwachsenenbildung bestimmten Lebensabriss getan hat. In seinen Begleitschreiben relativierte Petersen diese Selbststilisierungen aus dem Lebenslauf von Ende 1941 wieder. Und nahm damit eine erneute Umdeutung oder Reversion vor. Denn er präsentierte seinen Zeitgenossen verschiedene „Gesichter“ seiner Selbst, je nach Kommunikationszusammenhang, Grad der Öffentlichkeit, Informationspartner und Interessenlage. Der Vergleich mit einem Chamäleon drängt sich in der Tat auf. In seinem Antwortschreiben vom 7. Februar 1942 dementierte Petersen, nach dem Ersten Weltkrieg deutsch-national eingestellt gewesen zu sein. Er habe nie140 Ebd. 141 ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel, Nr. 14a, Schreiben von Petersen an Döpel v. 18.1.1942. 142 Ebd., Bl. 399r.

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mals einer politischen Partei angehört.143 Daran schlossen sich kulturpessimistische Reflexionen über das parlamentarische Regierungssystem der Weimarer Republik an, so wie er es in der Übergangszeit von 1919 und in den folgenden zwölf Jahren erfahren habe. Petersen polemisierte gegen die aus seiner Sicht nur von materiellen Interessen getriebenen Parteiführer und den Parteienegoismus schlechthin. Alle Parteien der Weimarer Zeit hätten es deshalb nicht vermocht, das „Volksganze“ im Auge zu behalten.144 Das bewegte sich noch im Rahmen der in bildungsbürgerlichen Kreisen verbreiteten Parteienschelte. Aber der wachsenden Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus seiner Zeit – der nicht mit der heutigen repräsentativen Demokratie gleichgesetzt werden darf – entsprach die Befürwortung einer wechselseitigen Legitimation der politischen „Führung“ durch das „Volk“ und umgekehrt. Diese Art von Herrschaftsdiskurs assoziierte Petersen mit norddeutschen oder „nordischen“ Grundwerten in der Politik, nämlich Geradlinigkeit und Zielklarheit, die er den Regierungen der Weimarer Republik nach dem Systemwechsel von 1933 durchweg absprach.145 Demzufolge verwies Petersen als positives Gegenmodell auf eine „‚Demokratie‘ im nordischen Sinne“.146 Möglicherweise stand Petersen ein konstitutivmonarchisches „Volkskönigtum“ vor Augen. Hein Retter verweist in seinem Buch über die Universitätsschule Jena auf ein patriotisches Poem des Dänen N.F.S. Grundtvig aus dem Jahre 1848. Es sei in nuce das politische Programm für eine liberale, volksbezogene, das heißt die Staatsform der Monarchie einschließende Demokratie gewesen und wirke bis heute im Demokratieverständnis der skandinavischen Länder nach. „Grundtvig vertrat die von Petersen verblüffend genau adaptierte Auffassung, dass der Mensch erst dann sich voll in seinem Menschsein begreift, wenn er sich seines volklichen Zusammenhangs bewusst ist, das heißt, wenn er in der Begegnung mit der gemeinsamen Geschichte, Kultur und Sprache gemeinschaftsbildende Werte realisiert.“147 Außerdem charakterisierte Petersen in seinem Brief an Döpel die persönliche Freiheit als eine Grundbedingung „hoher“ politischer Kultur, die jedes Gemeinwesen gewährleisten müsse. Wenn in einem Land das „Recht auf persönliche Freiheit“ verletzt, eingeschränkt oder beschnitten werde, könne es von seinen Bürgern auch keine unverstellte Vaterlandsliebe verlangen.148 Im Lichte dieser Einschätzungen erscheint es auch denkbar, dass Petersen mit dem Ausdruck „Demokratie im nordischen Sinne“ auf die „Friesische Freiheit“ anspielte. Es handelte sich um ein Freiheitsprivileg, das wahrscheinlich der fränkische König Karl der Dicke den Friesen 885 nach ihrem Sieg über die Normannen verlieh. Im Zuge der Normanneneinfälle 143 Ebd., Bl. 406v. 144 Ebd. 145 PPAV, Petersen an Flitner v. 1.8.1934. Dort heißt es: „Es wird nicht ausbleiben, dass über kurz oder lang wieder angeknüpft werden muss bei der echten und rein pädagogischen Bewegung vor dem Kriege, die über ein volles Jahrzehnt in Hamburg damals zentriert war und von dort aus geleitet wurde. Der Jenaplan ist schliesslich direkt aus dieser Vorkriegsströmung herausgewachsen und hat sich so durch die wirren und ziellosen Jahre nach 1920 hindurchgewunden.“ 146 ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel, Nr. 14a, Bl. 406v. 147 Hein Retter: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus. Zugleich eine Kritik der Fragwürdigkeiten jüngster „Petersen-Forschung“ (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 13), Jena 2010, S. 63. 148 ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel, Nr. 14a, Bl. 406v.

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waren sie gezwungen gewesen, ihr Land gemeinsam gegen die Invasoren zu verteidigen. Das machte Stolz und rief ein Gefühl von Eigenständigkeit hervor. Die innere Kolonisation durch Deichschlag und Landesausbau bestärkten den friesischen Freiheitswillen und ließen genossenschaftlich organisierte Landesgemeinden entstehen. An deren Spitze standen Richter, die für ein Jahr frei gewählt wurden und ihre Gemeinden nach Außen vertraten. Unter diesen Voraussetzungen konnten sich im frühen Mittelalter keine feudalen Grundherrschaften in Friesland herausbilden. Die Friesen blieben allein dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation unterstellt, der lediglich einen Graf als seinen Vertreter in der Region einsetzte.149 Offenbar sehnte sich Petersen nach einer in der Tradition seiner nordfriesischen Heimat wurzelnden „Führerdemokratie“. Die moderne Bürgernation fasste Petersen also nur im Idealfall als eine „harmonische Ganzheit“ auf. In solchen „Sternstunden“ der deutschen Geschichte sei das Gemeinwohl, in Petersens Begrifflichkeit eben das „Volksganze“, durch „das Reich“ beziehungsweise seine jeweiligen historischen Führungspersönlichkeiten repräsentiert worden. Besonders im nordischen Kulturkreis hätten sich in Zeiten der Not die unmittelbar der Reichsgewalt unterstellten Gemeinschaften „freier“ Volksstämme bewährt. Von diesem diffusen Idealbild ausgehend, charakterisierte er den Wertewandel in der Moderne ausgesprochen gegensätzlich: Bestimmten historischen Perioden bescheinigte er eine grundlegende „Kulturidee“, beispielsweise im Jahre 1925 der frühen Moderne, in der wahre „sittliche Werte“ wie „Freiheit“ und „Völkerverständigung“ vertreten worden seien.150 Seine Gegenwart in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete Petersen hingegen in düsteren Farben. Er unterschied also zwischen dem Wertehimmel einer – positiv besetzten – freien Bauerngemeinde im Mittelalter beziehungsweise des um seine innere und äußere Freiheit kämpfenden deutschen Volkes Mitte des 19. Jahrhunderts einerseits und dem negativ wahrgenommenen Zeitalter der westlichen Parteiendemokratie und der Weltkriege andererseits, das Petersen als eine Epoche des allgemeinen Kulturverfalls charakterisierte. Am 2. Juli 1944 sprach er in einem Brief an Wilhelm Flitner von „apokalyptischen Zeiten“. Es sei nicht denkbar, dass „unser die ganze Kulturwelt seit 100 Jahren und mehr befruchtendes Volk in dieser kulturellen Tiefe, besonders seines Erziehungs- und Bildungswesens, verharren sollte!“151 In diesem Verständnis beklagte Petersen von einer allgemein-menschlichen Warte die Abkehr von den sittlichen Grundwerten einer als klassisch erachteten Hochkultur der „weißen Völker“, die er synonym auch als „weiße Rasse“ bezeichnete. Seine Kulturkritik verstand sich „funktional“152 und überzeitlich, das heißt keineswegs als politisch im engeren Sinne. Selbst dann nicht, wenn er mit Blick auf das REM in Berlin die „Korruption von oben bis unten, genau wie in Russland, also ,Verostung‘!!!“153 in der Politik anprangerte. In seiner breiten Korrespondenz sticht ferner ins Auge, dass Petersen ausgerechnet in den Kriegsjahren 1942/43 wieder neue Zuversicht schöpfte. Das geschah also 149 Carsten Roll: Vom „asega“ zum „redjeven“. Zur Verfassungsgeschichte Frieslands im Mittelalter, in: Concilium medii aevi 13 (2010), S. 187–221. 150 Peter Kaßner: Der Beitrag Peter Petersens zur neueuropäischen Erziehungsbewegung, in: Rülcker/Kaßner: Petersen (wie Anm. 19), S. 51–86, hier S. 67. 151 PPAV, Brief von Petersen an Flitner v. 2.7.1944. 152 Retter: Petersen (wie Anm. 28), S. 95. 153 PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald, Petersen an Döpp-Vorwald v. 4.5.1941.

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zu einem Zeitpunkt, als die Wehrmacht im Zuge der strategischen Kriegswende gezwungen war, sich an allen Fronten zurückzuziehen und die westlichen Alliierten den Bombenkrieg gegen das Reichsgebiet verschärften. Petersen sorgte sich um seine beiden Söhne, die in Russland und Südosteuropa ihren Kriegsdienst leisteten. Vor diesem dramatischen Hintergrund schrieb er am 15. Juli 1942 an Waldemar Döpel, trotz der beklagenswerten „Weltlage aufs Ganze gesehen“, sei er „doch wieder voll von einem Mut wie vor 20 Jahren“.154 Das bezeichnete einen Wandel seiner Grundstimmung, der nicht zuletzt auf den Hoffnungen beruhte, die er an die Lehr- und Forschungstätigkeit der jungen Kolleginnen um Käte Heintze an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt knüpfte. Deren Arbeit wurde zum größten Teil aus Mitteln der Carl-Zeiss-Stiftung finanziert. Anfang 1942 bewilligte das Reichsministerium des Innern der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt 3.500 RM. Petersen lenkte diese Mittel im Einvernehmen mit Döpel auf seine Anstalt um. Vordem waren sie Jahr für Jahr den Thüringer Fröbel-Kindergärten zur Verfügung gestellt worden. Nun erwog er im Briefwechsel mit Döpel die Frage, ob es zweckmäßig sei, bei Staatssekretär Leonardo Conti im Reichsinnenministerium vorzusprechen. Petersen wollte von ihm „eine gewisse Zusicherung“ erhalten, diese Summe alljährlich einplanen zu können. Dann könne tatsächlich daran gedacht werden, zum Ausbau der Abteilung „Das Kleinkind“ zu schreiten. Auch mit Ministerialrat Stier im Thüringischen Volksbildungsministerium wollte er sich beraten.155 Am 30. Dezember 1942 informierte Petersen auch seinen ehemaligen Habilitanden Döpp-Vorwald über die Gründung der Abteilung „Das Kleinkind“ und hob erneut Käte Heintze als Assistentin der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt und Leiterin des Tagesheims voller Anerkennung hervor. In diesem Zusammenhang änderte das REM am 28. Juli 1942 die amtliche Bezeichnung der Universitätsanstalt in: „Erziehungswissenschaftliche Anstalt mit Universitätsschule und Abteilung Das Kleinkind: Universitäts-Fröbel-Kindergarten mit Tagesheim für Kinder erwerbstätiger Frauen der Firma Carl Zeiss.“156 Petersen bekräftigte, die finanzielle Unterstützung der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt durch das Reichsministerium des Innern verdanke sich dem Sohn von Karl Muthesius. Er würde sich nicht nur gut mit diesem Berliner Ministerialbeamten verstehen, sondern auch „voll aussprechen können.“ In diesem Zusammenhang formulierte er etwas rätselhaft, die Universitätsanstalt brächte „von unten“ die Auswirkungen der „oben“ oft so kühn gegebenen Verordnungen!157 Worüber sich Petersen mit Hans Muthesius in Berlin so offen aussprach, ist uns nicht überliefert worden. Dieser Beamte arbeitete seit dem 20. Dezember 1939 in der Abteilung IV des Reichsministeriums des Innern als Referent für die Sachgebiete „Jugendwohlfahrt“ und „Besondere Fürsorgemaßnahmen aus Anlaß des Krieges“. In sein Ressort fielen auch die öffentlichen Kindergärten, so dass Petersen in ihm einen kompetenten Ansprechpartner in der Frage seines akademischen Ausbildungskonzepts für Kindergärtnerinnen fand. Hans Muthesius genoss das 154 ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpel, Nr. 14a, Bl. 408r; vgl. auch PPAV, Petersen an Wilhelm Flitner v. 2.7.1944. 155 ThHStAW, Nachlass Waldemar Döpp, Nr. 14a, Bl. 406r; vgl. auch ThHSTAW, ThVM, C 374, Bl. 122r. 156 ThHStAW, ThVM, C 374, Bl. 135r. 157 PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald.

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besondere Vertrauen des Innen- und Gesundheitspolitikers Leonardo Conti,158 der am 6. Oktober 1945 im Untersuchungsgefängnis des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg Selbstmord beging. Wahrscheinlich beteiligte sich Hans Muthesius im Auftrag der Behörde des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums in den Jahren 1941/42 an der Verschleppung und zwangsweisen „Eindeutschung“ polnischer Kinder.159 Nach Einschätzung von Robert Döpp erschloss sich Petersen zu Beginn der 1940er Jahre über berufspädagogische Netzwerke ein neues Betätigungsfeld, nachdem die Ausbreitung des Jena-Plans in den allgemein bildenden Schulen gescheitert war. Auf ihm habe er von Neuen gehofft, seine Reformideen verwirklichen zu können.160 Eine Berufsschulpflicht war schon im Artikel 145 der Weimarer Reichsverfassung verankert worden. In Jena begann die universitäre Ausbildung von Berufsschullehrern im Jahre 1925, vornehmlich für Handels- und landwirtschaftliche Schulen. Allerdings konnte erst seit dem 1. April 1928 ein reguläres sechssemestriges Studium gewährleistet werden. Seit dieser Zeit setzte sich Petersen mit Themen der Berufsschulpädagogik auseinander. Maßgeblich unterstützt wurde er in diesem Anliegen durch Simon Thyssen, der seit 1938 als Professor am Staatlichen Berufspädagogischen Institut Berlin lehrte und auch die Beziehungen zwischen der Berufsschulpädagogik und dem JenaPlan untersuchte. In den Jahren 1938/39 warb Thyssen beispielsweise auf einem dreisemestrigen Sonderlehrgang für die Ausbildung von Werkberufschullehrern für den Jena-Plan. Das Reichsinstitut für Berufsausbildung im Handel und Gewerbe führte diese Veranstaltungen durch. Thyssen regte Petersen zudem an, die 21. Pädagogische Woche an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt dem Thema „Jena-Plan und Berufsschule“ zu widmen. Diese Weiterbildungswoche fand im November 1942 statt. Sie löste dank einer kleinen Zeitschriftennotiz von Thyssen ein großes Interesse bei Industriemanagern und Ausbildungsleitern aus, namentlich in der mittelund norddeutschen Luftrüstungsindustrie. Wie Petersen in seinem Brief vom 30. Dezember 1942 an Döpp-Vorwald berichtete, habe der Flugzeugkonstrukteur und Chefmanager Ernst Heinkel angekündigt, mit ihm „über alle diese Sachen“ in einen Briefwechsel treten zu wollen. Begeistert schrieb Petersen, der Ausbildungsleiter der Mitteldeutschen Braunkohlenwerke Meuselwitz wolle in einer Fachzeitschrift aufzeigen, dass in zehn von elf Bergwerkschulen die Arbeitsleistungen bis September 1942 beständig gefallen seien, außer in der, die auf den Jenaplan umgestellt worden war.161 Zwei Berufsschullehrer planten demnach, Mitte Januar 1943 nach Jena zu kommen, um sich vor Ort ein Bild von der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt zu machen.162 Ohne Frage befriedigte Petersen mit solchen Veranstaltungen eine steigende Nachfrage der Berufsausbilder, die in ihren Unternehmensbereichen nach gehaltvollen Fortbildungsangeboten dürsteten. Der seit 1934 offenkundige Mangel an Berufsschullehrern verschärfte sich während des Krieges durch die Einberufungen 158 BArch, R 1501/9290, Bl. 61v. 159 Christian Schrapper: Hans Muthesius (1885–1977). Ein deutscher Fürsorgejurist und Sozialpolitiker zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Münster 1993, S. 143–156. 160 Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 18), S. 424. 161 PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald. 162 Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 18), S. 423–425.

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zur Wehrmacht dramatisch. Berufsschullehrer wurden als betriebliche Ausbilder und Lehrmeister in den Werkstätten aller Waffengattungen dringend benötigt. Bereits Ende 1939 wurde über die Schließung ganzer Berufsschulen berichtet. Im Jahre 1938 war zwar ein Reichsschulpflichtgesetz erlassen worden. Die darin festgelegte allgemeine Berufsschulpflicht bestand jedoch vielfach nur auf dem Papier. Daraus resultierte ein merklicher Rückgang des Leistungsvermögens der Berufsschüler, ja ein oftmals beklagter Leistungsverfall.163 Petersen wurde also in den Unternehmen mit offenen Armen empfangen, sah sich aber auch hier mit einem grundsätzlichen Dilemma konfrontiert. Wie ein „roter Faden“ durchzog die Berufsausbildung im Nationalsozialismus ein unlösbarer Widerspruch: Den Intentionen zur Modernisierung der Ausbildungspraxis und der didaktischen Modernität der Facharbeiterausbildung stand die politisch-ideologische Gesinnungsschulung der Lehrlinge und erwerbstätigen Jungfacharbeiter diametral entgegen.164 Diesem Dilemma glaubte Petersen indes begegnen zu können. Er bot an der Jenaer Universitätsanstalt im Oktober 1943 und zwischen dem 4. und 9. Juli 1944 zwei weitere Pädagogische Wochen zum Themenfeld „Jenaplan und Berufsschule“ an, die von 100 und mehr Interessenten wahrgenommen wurden. Darunter befand sich gewiss eine Reihe von Berufsschullehrern. In Anbetracht der Kriegswirren eine erstaunlich große Resonanz. Spöttisch und geschmeichelt zugleich kommentierte Petersen 1943 die erstmalige Teilnahme eines Beamten des REM aus Berlin, der es „wirklich“ eine Woche in Jena ausgehalten habe.165 Neben solchen Bezugnahmen auf tagesaktuelle Anforderungen versuchte Petersen in den letzten Kriegsjahren verschiedentlich, den Blick auf die Zukunft zu richten und Perspektiven für die Arbeit an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt anzudeuten. So würdigte er in seiner Ansprache aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Universitätsschule und des Pädagogischen Seminars Jena am 9. Dezember 1944 eine ganze Reihe von „Männern der pädagogischen Tat“. Zu ihnen zählte Petersen an erster Stelle „die Tatchristen“ Karl Volkmar Stoy und Wilhelm Rein. Diese hätten sich mit ihrem Werk „mitten hinein gestellt in und unter ihr Volk und wollten möglichst den Ärmsten der Armen dienen, den Gedrückten, denen, die es im Lebenskampf am schwersten hatten und es immer haben werden.“ Als Ziel und Zweck der Erziehung benannte er sicher schon mit Blick auf die Nachkriegszeit, „soziale Gefühle“ unter den Menschen zu wecken und in der Gesellschaft zu entfalten. Denn der Typus des „Leistungsmenschen“ müsse durch „Verstandes- und Charaktermenschen“ seine Ergänzung finden.166 Vier Jahre zuvor hatte Petersen noch gemutmaßt, nach dem Kriege würden wahrscheinlich die Fürsorge-, Behindertenund Geschädigtenpädagogik den „Mittelpunkt“ der Pädagogik bilden. Er leitete diese Schlussfolgerung aus seiner Beobachtung ab, wonach das deutsche Volk über 163 Martin Kipp/Gisela Miller-Kipp: Erkundungen im Halbdunkel. Einundzwanzig Studien zur Berufserziehung und Pädagogik im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1995, S. 299. 164 Manfred Wahle: Berufsausbildung – Zum Widerspruch zwischen nationalsozialistischer Gesinnungsschulung und moderner Ausbildungspraxis, in: Klaus-Peter Horn/Jörg-W. Link (Hg.): Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 231–250, hier S. 250. 165 Döpp: Jenaplan-Pädagogik (wie Anm. 18), S. 425. 166 UAJ, Bestand S, Abt. I, Nr. 315, n.p.

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mehrere Generationen körperlich und sittlich in seiner „völkischen Substanz“ geschwächt worden sei.167 In der letzten Kriegsphase erarbeitete sich Petersen also ein komplexeres Selbstverständnis von „Social-Pädagogik“. Der Begriff formulierte gleichsam einen Auftrag an die Erziehungswissenschaften, in der Nachkriegszeit für die gesamte Gesellschaft auszubilden. Seine Schreibweise deutete darauf hin, alle Formen der Lehrerbildung in die Universität zu integrieren, das heißt nicht nur die Lehramtsstudenten sämtlicher Schularten, sondern auch die Ausbildung der Lehrer für Berufs- und Sonderschulen zu übernehmen. Außerdem verwies der Begriff auf neue fachwissenschaftliche Arbeitsfelder, die auch in die universitäre Lehrerbildung einfließen sollten. Die Jugendkunde und „Socialwissenschaften“ waren neben die klassischen Disziplinen Erziehungswissenschaft und Psychologie getreten. Philosophie als Hauptfach sollte hingegen außen vor bleiben.168 Demgemäß informierte Petersen wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Döpp-Vorwald über seinen Plan, eine „Social-Pädagogische Fakultät“ an der Universität Jena zu gründen. Sie wurde am 9. Oktober 1945 unter dem Dekanat von Petersen eröffnet.169 . . . AUßEN VOR, „DOCH IRGENDWIE MITTENDRIN“:170 EINE UNIVERSITÄRE AUSBILDUNG VON VOLKSSCHULLEHRERN UND DIE NS-ERZIEHUNGSDOKTRIN SCHLOSSEN EINANDER AUS, NICHT ABER DIE EINBINDUNG VON PETERSEN IN BERUFSPÄDAGOGISCHE NETZWERKE DER KRIEGSJAHRE Petersen war kein „Konjunkturritter“ der NS-Zeit, sondern verstand sich auf lange Sicht – jenseits der aktuellen Tagesereignisse – als Streiter für eine „deutsche Volkskultur“. Gerade den Volksschullehrern ordnete er in diesem Zusammenhang eine besondere soziokulturelle Vermittlungsfunktion im gesellschaftlichen Beziehungsgefüge zu. Sie sollten nach seinem Verständnis zwischen den verschiedenen „Gemeinschaften“ des Volkes, beispielsweise Familien, Schulgemeinden oder Volksstämme, verbindende „Brücken“ bauen. Wie der Leipziger Erziehungswissenschaftler Johannes Richter begriff Petersen diese Berufsgruppe als basale „Kulturbildner“ und die Lehrerbildung als eine „deutsche Kulturfrage“ schlechthin.171 An die Ausbildung der Volksschullehrer seien daher höchste, das heißt universitäre Anforderungen zu stellen. Die Kontroversen um die akademische Lehrerbildung knüpften allerdings zu Beginn der 1930er Jahre kaum an diese bis Mitte des 19. Jahrhunderts zurückrei167 PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald, Petersen an Döpp-Vorwald v. 2.11.1940. 168 PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald, Petersen an Döpp-Vorwald v. 18.9.1945. 169 Hans-Karl Beckmann u.a. (Hg.): Zur Reform des pädagogischen Studiums und der Lehrerbildung. Modelle – Versuche – Erfahrungen, Weinheim/Berlin/Basel 1968, S. 21 u. den Beitrag von Marc Bartuschka in diesem Band. 170 Robert Döpp: „...doch irgendwie mittendrin...“: „Jena-Plan“ im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur „Alltagsgeschichte“ der NS-Zeit, in: Hoßfeld u.a.: „Wissenschaft“ (wie Anm. 105), S. 794– 821. 171 Johannes Richter: Lehrerbildung als deutsche Kulturfrage, Leipzig 1932, S. 18–21.

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chende kulturphilosophische Debatte an. Während der Weltwirtschaftskrise und in den Jahren danach traten vielmehr die sozialen Problemlagen der Volksschullehrer, das schlechte Image dieses Berufsstandes in der Öffentlichkeit und die zunehmende Verzögerung beim Berufseinstieg der so genannten Junglehrer in den Vordergrund der Auseinandersetzungen. Auf diese bildungspolitischen Herausforderungen gaben die Führungszirkel der NSDAP um Hitler, Reichsminister Rust und dessen erzkonservative Bündnispartner in den Preußischen Ministerien indes gegensätzliche Antworten: Die einen forderten nach der NS-Machtübernahme das Ende der akademischen Ausbildung von Volksschullehrern, die anderen ihren „hochschulgemäßen“ Ausbau. Demgegenüber besaßen die Befürworter einer universitären Lehrerbildung von vornherein schlechte Karten, weil das in beiden „Lagern“ der nationalsozialistischen Schulund Erziehungspolitik abgelehnt wurde. Deren fortwährende Konflikte ließen eine berechenbare und stetige Lehrerbildung in der NS-Zeit nicht zu. Das Regime strukturierte die Volksschullehrerausbildung bis 1941/42 mehrmals um. Diese Tatsache bezeichneten Sozialwissenschaftler bereits in den 1980er Jahren als einen Grundzug der NS-Lehrerbildung.172 Ottwilm Ottweiler unterstrich mit Nachdruck, in kaum einem anderen Bereich nationalsozialistischer Bildungspolitik sei das Geflecht von Widersprüchen in den politischen Entscheidungen, Zielentwürfen, Begründungs- und Beziehungszusammenhängen so offensichtlich zutage getreten wie in der Gestaltung der Volksschullehrerausbildung.173 Allerdings sollte dieser sich tatsächlich aufdrängende Eindruck nicht zu dem Schluss führen, die NS-Lehrerbildungspolitik sei völlig planlos betrieben worden, weil dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem keine geschlossene inhaltliche Konzeption zugrunde gelegen habe. So schätzte es der Bildungshistoriker Rainer Bölling im Jahre 1983 ein.174 Das REM unter Leitung von Bernhard Rust ließ vielmehr die Strategie erkennen, in allen Ländern Deutschlands die Ausbildung für Volksschullehrer und die der Lehrer an höheren Schulen einander angleichen zu wollen. Auf diese Weise sollten wissenschaftliche Grundstandards gesichert und untrennbar mit der weltanschaulichen Indoktrination der Lehramtsanwärter verknüpft werden, so wie es die Grundsätze „nationalsozialistischer Volkserziehung“ vorsahen. Diesem Verständnis von Lehrerbildung lag die entschiedene Ablehnung der alten Universität als Bildungsinstitution zugrunde. Es erhob die „Abseitsbildung“175 der zukünftigen Volksschullehrer an provinziell-ländlich gelegenen Sonderhochschulen zum eigentli172 Rolf Eilers: Die nationalsozialistische Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat, Köln/Opladen 1963, S. 6–9; Heinemann: Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 1 (wie Anm. 12), S. 204–208; ders.: Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 2 (wie Anm. 11), S. 115–124; Peter Lundgreen: Sozialgeschichte der deutschen Schule im Überblick. Teil II: 1918–1980, Göttingen 1981, S. 21–23. 173 Ottweiler: Ausbildung (wie Anm. 11), S. 289. 174 Bölling: Sozialgeschichte (wie Anm. 11), S. 147. 175 Dieser Begriff richtete sich gegen die Ausbildung der Volksschullehrer an den alten Lehrerseminaren. Er geht auf die Kontroversen um die Lehrerbildung im Deutschen Kaiserreich zurück. Das Argument lautete, die Lehrerausbildung dürfe nicht länger abseits von den höchsten Bildungsstätten des Landes erfolgen, d.h. den Universitäten. Vgl. Georg Geißler: Eingliederung der Lehrerbildung in die Universität. Das Hamburger Beispiel, Weinheim/Basel 1973, S. 113.

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chen Programm der NS-Lehrerbildung. Die Qualitätsstandards an den Hochschulen für Lehrerbildung entsprachen allerdings eher dem Niveau von Fachschulen.176 Bekanntlich vermochte die Berliner Ministerialbürokratie ihrem Ziel, die Ausbildung der Volksschullehrer im Reich institutionell, lehrplanseitig und studienorganisatorisch zu vereinheitlichen, nur bis 1937 näher zu kommen. Eine relevante Zahl von Machtträgern und NS-Institutionen begann auf diesem Politikfeld zu intervenieren. Denn in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zeichnete sich immer deutlicher ab, dass der zunehmende Lehrermangel ein ungelöstes und sich verschärfendes Grundproblem der NS-Bildungspolitik darstellte. Dieser mit wachsender Sorge beobachtete Trend mobilisierte kurzfristige Ausbildungsinteressen von verschiedenen staatsbürokratischen, parteipolitischen und kriegswirtschaftlichen Institutionen, die im Herrschaftsgefüge des Regimes um größeren Einfluss rangen. Deren Dienststellen versuchten nunmehr ebenfalls, der Lehrerbildungs- und Schulpolitik ihren Stempel aufzudrücken, um ihre Sonderinteressen bei der so genannten „Formationserziehung“177 des jeweiligen „Führernachwuchses“ durchzusetzen. Neben dem REM zählte Sebastian Müller-Rolli zu ihnen die Parteikanzlei der NSDAP, das Amt Rosenberg, die Reichsjugendführung, den NS-Lehrerbund, die SA, SS und das Hauptschulungsamt in der NSDAP-Reichsleitung.178 Petersen konnte auf das „politische Wechselbad“179 in der NS-Erziehungspolitik bestenfalls reagieren. Er unterlag dabei divergierenden Handlungsorientierungen und Stimmungslagen: Eine erste Phase zwischen Frühjahr 1933 und Anfang 1936 prägten euphorische Erwartungen an die nationalsozialistische Schul- und Lehrerbildungspolitik. Es schloss sich eine mehrjährige Zwischenphase der eher defensiven Reorientierung bis zum Kriegsausbruch an. Die Jahre 1939/41 brachten in seiner Selbstwahrnehmung eine Zeit der Zurücksetzung, Desillusionierung, ja apokalyptischer Ängste180 und ab 1942/43 folgte eine Phase großer Entbehrungen, aber auch der wieder gewonnenen Arbeitswut. Letzteres schloss Petersens vorübergehende Präsenz in berufspädagogischen Netzwerken großer Rüstungsunternehmen und seinen „Sonderauftrag“ für die SS im Konzentrationslager Buchenwald181 ein. Auf der einen Seite blieb Petersen in der NS-Lehrerbildungspolitik von Anfang an isoliert, selbst wenn er wiederholt das Gegenteil behauptete. Die Beamten im Reichserziehungsund Thüringischen Volksbildungsministerium lehnten ihn als Vertreter einer Pädagogik der „Systemzeit“ kategorisch ab. Auf der anderen Seite entwickelte er eine Art Kompensations- und Ausweichstrategie,182 sodass er sich seit der mittleren Kriegsphase zunehmend in der Berufsausbildung engagierte. Bereits zu Beginn des 176 Ebd., S. 137. 177 Hermann Röhrs: Reformpädagogik und innere Bildungsreform, Weinheim 1998, S. 70. Demnach sei der Reformpädagogik von der NS-Erziehung weder ein Platz noch eine Funktion zugesprochen worden. Die „eigentlichen Erziehungsgemeinschaften“ wären die Parteiorganisationen gewesen. 178 Müller-Rolli: Lehrer (wie Anm. 42), S. 243f. 179 Bölling: Sozialgeschichte (wie Anm. 11), S. 152. 180 Uwe-Karsten Petersen: Der Jena-Plan. Die integrative Schulwirklichkeit im Bilde von Briefen und Dokumenten aus dem Nachlaß Peter Petersens, Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 93–120; Kluge: Petersen (wie Anm. 123), S. 174; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 21), S. 452–460. 181 Vgl. den Artikel von Hans-Christian Harten in diesem Band. 182 Döpp: „Jena-Plan“ (wie Anm. 170), S. 806.

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Krieges eröffneten sich der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt am Rande des Militärisch-Industriellen-Komplexes neue sozialpädagogische Handlungsfelder, die hauptsächlich von ihrer seit 1939 aufgebauten Abteilung für Vorschul- und frühe Schulpädagogik getragen wurden. Beide Tendenzen prägten die akademische Karriere von Petersen in der NS-Zeit nachhaltig und durchdrangen einander wechselseitig, vor allem in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Einerseits setzte sich Georg Weiß gegenüber dem Thüringischen Volksbildungsministerium mit seiner Grundforderung durch, der „Dualismus“183 zwischen der praktisch-pädagogischen Lehrerbildung am PI Jena und der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt wurde 1939 endgültig aufgelöst; andererseits blieb die Großindustrie grundsätzlich an einer „die Leistung“ fördernden Berufs- und Lehrlingsausbildung interessiert. Die berufspädagogischen Wochenlehrgänge in Jena befriedigten eine akute Nachfrage in den Unternehmen, sodass sich selbst Ausbildungsleiter von großen Werkberufsschulen anmeldeten. Letztere wurden zwar von der Privatwirtschaft eingerichtet, unterstanden aber der staatlichen Schulaufsicht.184 Unbestritten bediente sich Petersen in der Öffentlichkeit und in seiner politischen Publizistik auch bestimmten kulturrassistischen Normsetzungen der NS-Zeit,185 die seinem schwer zugänglichen kulturanthropologischen Gedankengebäude entsprangen. Die Berufspraxis an der Jenaer Universitätsanstalt unterlag aber vornehmlich erziehungswissenschaftlichen beziehungsweise schulpädagogischen Denk- und Handlungsmustern. Die ihm verbliebenen oder während des Krieges neu erschlossenen Handlungsräume in der Lehrerbildung beruhten in erster Linie auf seit Langem bestehenden berufsständischen oder persönlichen Netzwerken. Freilich entsprach das nicht seinen ursprünglichen Ambitionen, da Petersen zu Beginn der NS-Zeit weit gefasste schul- und bildungspolitische Ziele verfolgte. Für den gesamten Betrachtungszeitraum soll die Untersuchung daher in folgenden drei Punkten zusammengefasst werden: 1. Während der NS-Zeit bediente sich Petersen durchgängig der Methode des Pervertierens von bis dahin als gültig erachteten Einordnungen seines liberalen erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Gesamtwerks. Ohne erkennbare moralische Skrupel deutete er seinen berufsbiografischen Werdegang in der Weimarer Republik um oder verkehrte weithin bekannte Tatsachen in ihr Gegenteil. Petersen suchte seine Begrifflichkeit und Wissenschaftssprache der völkischen Pädagogik anzuverwandeln. Er wollte sich gleichsam mit dem einflussreichen NS-Pädagogen Ernst Krieck auf eine Stufe stellen. Nicht nur der Jenaplan, sondern auch das von ihm seit 1924 praktizierte „Thüringer Modell“ der universitären Lehrerbildung sollte aus seiner Sicht zu einer „‚Ausgangsform‘ für volkhafte Bildungsvermittlung“186 im Nationalsozialismus erhoben werden. 183 ThHStAW, ThVM, A 281, Bl. 217v. 184 Kipp/Miller-Kipp: Erkundungen (wie Anm. 163), S. 288. 185 Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Hermann Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009, S. 290–303. 186 So Petersen in einem Brief an Karl Alnor v. 27.4.1933. Zit. n. Retter: Petersen (wie Anm. 28), S. 331.

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2. Petersens Strategie der „Selbstverstrickung“ (Hans-Christian Harten) mit dem NS-System scheiterte auf dem Feld der Lehrerbildung gänzlich. Die für diesen Bereich im Reich und in Thüringen zuständigen NS-Bürokratien schirmten sich trotz all seiner Reversionsanstrengungen gegenüber der Jenaplanpädagogik und dem Leitbild der universitären Lehrerbildung ab. Sie blockierten das auf einige Pädagogikprofessoren gestützte Netzwerk von Lehrerbildnern, das bis zum Sommer 1934 zwischen sechs Universitäten und Technischen Hochschulen geknüpft worden war. Das „Rust-Weimar-Weiß-Lager“ im jahrelangen Konflikt um das Verhältnis von Universität und Lehrerbildung nahm vielmehr frühzeitig darauf Kurs, das Pädagogische Institut Jena nach und nach von der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt abzusondern. Eine Aufwertung erfuhr Petersen dagegen in der Innenverwaltung des Reiches und – durch die Vorbereitung der Fröbel-Jubiläen von 1938 und 1940 in Thüringen vermittelt – auch im Reichsministerium für Propaganda und Volksaufklärung.187 3. Im Jahre 1939 wurde Petersen endgültig aus der gesamten Lehrerbildung in Jena ausgegrenzt. Er blieb vorrangig auf eine universitätsinterne Mobilisierung von Personal und Finanzmitteln angewiesen. Gestützt auf persönliche Netzwerke und die Carl-Zeiss-Stiftung188 konnte Petersen aber mit Kriegsbeginn seine Universitätsanstalt um ein kleines Tagesheim für Kinder von zum Arbeitsbeziehungsweise Industriedienst verpflichteten Müttern und zwei Kindergartengruppen erweitern. Durch Regierungsrat Döpel vermittelt, eröffnete sich ihm Anfang 1942 der Zugang zum Reichsministerium des Innern. Mit diesem Rückhalt gelang es Petersen, Ressourcen des Reiches von den Gauorganisationen des NS-Lehrerbundes und der NSV Thüringen auf die neu eingerichtete Abt. „Das Kleinkind“ der Jenaer Universitätsanstalt umzulenken. Diese Mittel wurden an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt auch dafür eingesetzt, um die universitäre Ausbildung von Kindergärtnerinnen zu Grundschullehrerinnen lehrkonzeptionell und forschungsseitig vorzubereiten. Obwohl Petersen bekanntlich zu keinem Zeitpunkt der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen NSDDB, SA und SS angehörte, bewegte er sich in den letzten Kriegsjahren im Dunstkreis von Schuld beladenen NS-Tätern wie Karl Astel, Hans Muthesius und möglicherweise sogar Leonardo Conti. Zur gleichen Zeit umgab er sich im Wochenkreis der Universitätsschule Jena ganz selbstverständlich mit Kindern, deren jüdische Mütter verfolgt, vertrieben und in den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka umkamen.189 Dieser scharfe Gegensatz blieb schon kritischen Zeitgenossen keineswegs verborgen und verfestigte die extrem polarisierte Wahrnehmungsweise von Petersen in den Nachkriegsjahren. Alle diese Petersen-Bilder lassen sich letztlich auf seine Arbeit an der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt zurückführen. Dort begegnet uns in der NS-Zeit aber ein Petersen „mit vielen Gesichtern“, etwa der 187 BArch, R 43 II/522, Bl. 90r. 188 Carl Zeiss Archiv, Bestand BACZ, Nr. 8443, n.p., Schriftwechsel zwischen Petersen und Schomerus v. 13. u. 18.9.1945. 189 Vgl. den Artikel von Hein Retter in diesem Band.

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völkisch-kulturrassistische Publizist, findig-windige Ressourcenbeschaffer und humane Schulpädagoge. Die hinter diesen „Masken“ verborgenen Wesenszüge bedürfen der weiteren historisch-kritischen Aufklärung und individuellen Erinnerung von Angehörigen der Erlebnisgeneration gleichermaßen. Die höchst widersprüchlichen Seiten der Berufsbiografie von Petersen zu erhellen und noch stärker aufeinander zu beziehen, ist uns angesichts des NS-Hintergrundes moralisch aufgegeben. Sie lassen sich allerdings mit unseren heutigen Bewertungsmaßstäben nur schwerlich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen. Der Eindruck von tief greifenden Ambivalenzen und unauflösbaren Dilemmata in den Handlungsorientierungen von Petersen dominiert allenthalben. Von solchen Irrungen und Wirrungen ausgehend, bleibt es der weiteren Forschung vorbehalten, die Persönlichkeit, Theorie und Schulpraxis dieses bedeutenden Jenaer Erziehungswissenschaftlers in der NS-Zeit konturenscharf und facettenreich zu erfassen.

Teil III: 1945–1991

Marc Bartuschka DIE „PETERSENPLÄNE“1 FÜR JENA, HALLE UND BREMEN – EINE ZEIT DER UNBEGRENZTEN HOFFNUNGEN NACH 1945 Peter Petersen gehört zu den Pädagogen, deren Person und Werk bis heute kontrovers diskutiert wird. Dies betrifft vor allem sein Verhalten während des „Dritten Reiches“. Über diese notwendigen Debatten gerät Petersens Tätigkeit nach 1945 mitunter in den Hintergrund. Seine letzten Lebensjahre werden zwar in einigen Veröffentlichungen beleuchtet, jedoch wurden dabei Aspekte wie die Tätigkeit in Halle oder Bemühungen um eine Internationale Universität oft nur beiläufig untersucht.2 Zudem bieten sich dank neuer Quellenbestände ergänzende Untersuchungen und Forschungsansätze an. Dies betrifft besonders die Quellen im Peter-Petersen-Archiv Vechta, wo Denkschriften und offizielle Schriftwechsel in einzigartiger Dichte liegen.3 Darüber hinaus finden sich dort zahlreiche Briefe an und von Petersen, die einen Innenblick auf die Art und Weise gewähren, wie er und seine Briefpartner die Nachkriegsentwicklung der deutschen Bildungs- und Hochschulpolitik bewerteten. Dies schließt die sich schrittweise, aber nicht gradlinig oder zielgerichtet verschärfende Vorgehensweise der ostdeutschen und sowjetischen politischen Akteure ein, wie auch die Art und Weise, wie sich die allmählich abzeichnende deutsche Teilung und der sich radikalisierende Systemkonflikt auswirkten. Zugleich machen die Briefe deutlich, wie wenig absehbar diese Entwicklung und ihr Endergebnis waren. Damit bieten die Quellen Ansätze für eine Untersuchung der ersten Nachkriegsjahre, welche diese nicht primär vom Ende her betrachtet.

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Nach einer Formulierung von Walter Wolf im Juli 1945; vgl. Jürgen John/Volker Wahl/Leni Arnold (Hg.): Die Wiedereröffnung der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1945. Dokumente und Festschrift, Jena/Rudolstadt 1998, S. 161f. Peter Dudek: Peter Petersen: Reformpädagogik in der SBZ und der DDR 1945–1950. Eine Fallstudie, Weinheim 1996; Barbara Kluge: Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte. Auf dem Weg zu einer Biographie, Heinsberg 1992, S. 306–352; Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens, Frankfurt a.M. 2007, S. 481–568; Dagmar Sommerfeld: Peter Petersen und „Der Kleine JenaPlan“ im Spannungsfeld der Schulreform in der SBZ/DDR 1945–1950, Frankfurt a.M. u.a. 1995. Zum Petersen-Archiv in Vechta siehe http://www.jenaplan-archiv.de/archiv.html, zuletzt abgerufen am 26.1.2012.

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„DIE ERNTE EINBRINGEN“4 – AUFBRUCH IN JENA Die Jenaer Universität befand sich im Moment der Befreiung im April 1945 für einen Neuanfang in denkbar desolatem Zustand. Große Teile von Lehrapparat und Studentenschaft hatten sich im Sinne der NS-Diktatur mobilisieren lassen oder Selbstmobilisierungspotentiale entfaltet.5 Nur acht Ordinarien waren nicht durch erhebliche politische Belastungen kompromittiert. Petersen gehörte zu den wenigen formell unbelasteten Professoren. Es fällt auf, wie schnell es ihm bereits in der amerikanischen Besatzungszeit gelang, sich mit den neuen Zuständen zu arrangieren. Anfang Mai 1945 setzte der kommissarisch amtierende Rektor Friedrich Zucker Petersen rückwirkend zum 1. Mai als Dekan der Philosophischen Fakultät ein. Offenbar schätzten ihn seine Kollegen in dieser kritischen Übergangsphase als politisch unbedenklich ein.6 Bereits zu diesem Zeitpunkt setzte er sich energisch für die Wiedereröffnung der nach dem Jena-Plan arbeitenden Universitätsschule ein.7 Offenbar brachten ihm sowohl die Amerikaner als auch die Eltern seiner Schüler ein beachtliches Vertrauen entgegen. Ab Anfang Juli übernahm die der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) unterstehende Sowjetische Militäradministration in Thüringen (SMATh) die Oberaufsicht über die Verwaltung in Thüringen, während zugleich neue deutsche Institutionen geschaffen wurden. Maßgebliche Akteure in Sachen Pädagogik und Universitätswesen waren auf sowjetischer Seite der Verwaltungschef, Generalmajor Iwan Kolesnitschenko, und der Leiter der Abteilung Volksbildung, Nikolai Bogatyrew. Auf deutscher Seite war vor allem der aus dem KZ Buchenwald befreite und bereits unter den Amerikanern eingesetzte Landesdirektor und spätere Minister für Volksbildung Walter Wolf tätig.8 4 5 6

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So Petersen in seinem Lebenslauf von 1949, eine Hoffnung, die er zweifelsfrei auch in den Vorjahren hegte, vgl. UAJ, Best. V Abt. II, Nr. 1, Bl. 3r–4r. Jürgen John: Die Jenaer Universität im Jahre 1945, in: ders./Wahl/Arnold: Wiedereröffnung (wie Anm. 1), S. 12–74, hier S. 51–55; ausführlich siehe: Uwe Hoßfeld u.a. (Hg.): „Kämpferische Wissenschaft“. Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln 2003. Vgl. zur Berufung Petersens das Schreiben Zuckers vom 9.5.1945: UAJ, Best. D, Nr. 3196, Bl. 107. Zur generellen Situation vgl. Retter: Reformpädagogik, S. 487–488 (wie Anm. 2); ders. (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan: Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe – Dokumente, Weinheim 1996, S. 47. Rückblickend behauptete Petersen, die Wiedereröffnung der Schule sei mit Hilfe der Firma Zeiss bereits im Mai vorbereitet worden, doch das Einschreiten „sog. Volksgenossen“ habe dies verhindert, vgl. dazu den undatierten Brief von Petersen, PPAV, Neuer Archivkasten: Schule 1945–50 n.p., ebenso Petersen an Döpp-Vorwald vom 18.9.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald; ähnlich Petersen an Thyssen vom 18.9.1945, Ordner: Briefwechsel PP Õ Thyssen, n.p. Michael Eckardt: „. . . sich in die wissenschaftliche Welt allerbestens einführen können.“ Max Bense, Walter Wolf und Georg Klaus zwischen Kooperation und Konflikt an der Universität Jena in den Jahren 1945 bis 1949, in: Uwe Hoßfeld/Tobias Kaiser/Heinz Mestrup (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), Bd. 2, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 1929–1970, vgl. dort auch die Verweise auf andere Akteure; Jürgen John: „Geistige Einheit Deutschlands“? Das Eisenacher Studentenreffen 1948 im zonen-, hochschul- und erinnerungspolitischen Kontext, in: Jürgen John/Christian Faludi (Hg.): „Stellt alles Trennende zurück!” Eine Quellenedition zum „Wartburgtreffen der Deutschen

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Bis heute wird das sowjetische und deutsch-kommunistische Vorgehen immer wieder als von Anfang an auf Machtsicherung und umfassende gesellschaftliche Umgestaltung ausgerichtet dargestellt.9 Eine solche Analyse lässt die deutsche Teilung und das Scheitern nichtkommunistischer Elemente in der SBZ zwangsläufig erscheinen. In Abgrenzung davon betonen neuere Forschungen den Umstand, dass es auf sowjetischer Seite keinen ausgearbeiteten „Masterplan“ gab. Das Vorgehen war vielmehr von situationsbezogenen Entscheidungen geprägt und das Ergebnis lange Zeit nicht festgeschrieben. Vielfach fehlten klare Direktiven für die Besatzungsorgane, so dass Handlungsspielräume bestanden. Kolesnitschenko setzte mindestens bis 1947 auf gute Kontakte zu lokalen Akteuren. Er agierte gelegentlich mit harten Maßnahmen, aber auch als verständnisvoller Protektor.10 Auch auf deutscher Seite bestanden Spielräume für die regionalen Akteure. Das Bild einer positiv oder negativ belegten planmäßigen Umgestaltung ist unzutreffend. Trotz wachsender Kontrollbemühungen der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung (DZVV) in Berlin unter Leitung von Paul Wandel, später Minister für Volksbildung, blieb das Thüringische Volksbildungsministerium lange Zeit für Bildungsfragen formell zuständig.11 Es war diese flexible Situation, die Petersen erhebliche Perspektiven zu bieten schien. Eine Zusammenarbeit zwischen ihm und den neuen Machthabern bot sich an, da Petersen formell nicht belastet war, internationales Ansehen genoss und nicht zur Mehrzahl der Abwartenden oder Resignierenden gehörte.12 Für einen Neuanfang oder zumindest ein dringend nötiges Weiterarbeiten in wissenschaftlich-pädagogischer Hinsicht unter Ausschaltung von schwer belasteten Kreisen stand eine „neue“ Intelligenz nicht zur Verfügung. Da ein staatssozialistischer Ostzonenstaat nicht einmal ansatzweise als Ziel feststand, war eine Verwendung von Personen wie Petersen aus Sicht der SMAD ein Gebot der Notwendigkeit. Bereits am 15. Juli wandte sich Petersen in Kooperation mit und offenbar auf Anstoß von Walter Wolf mit einer von Jena-Plan-Begriffen geprägten Denkschrift für die vollakademische Lehrerbildung an Kolesnitschenko. Die von Wolf und anderen Häftlingen noch im KZ formulierten Vorstellungen boten durchaus Schnittmengen mit den Ideen Petersens, besonders bei der Reetablierung der universitären Lehrerbildung. Petersen und Wolf begannen eine zunächst für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit.13 Petersens Vorschläge einer vollakademischen Lehrerbildung mit

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Studentenschaft Pfingsten 1948“ in Eisenach, Stuttgart 2010, S. 41–100, hier S. 80; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 486; Sebastian Schlegel: „Bildungseinheit“? Die Hochschulpolitik des Alliierten Kontrollrates und der sowjetischen Militäradministration in Deutschland 1945–1948, in: John/Faludi: Trennende, S. 23–40, hier S. 38–40. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 481f., 484f., 515, 534f. Bernd Stöver: Der Kalte Krieg 1947–1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S. 53f.; zur Bildungspolitik John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 53f.; Schlegel: „Bildungseinheit“ (wie Anm. 8), S. 31, S. 35–39; ausführlich in: Sebastian Schlegel: Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und die Friedrich-Schiller-Universität Jena, in: Hoßfeld/Kaiser/Mestrup (Hg.): Hochschule (wie Anm. 8), S. 96–118. ´ John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 73f. Zu Paul Wandel Jochen Cerný (Hg.): Wer war wer – DDR. Ein biographisches Lexikon. 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1992, S. 470. Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 29. Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 31f.; Retter, Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 487–489; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 46f.; zu den in Buchenwald ausgearbeiteten Vorstellungen

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stark sozialwissenschaftlicher und praxisorientierter Prägung in sechs Semestern orientierten sich an nur partiell überarbeiteten Plänen aus den 1920er und 1930er Jahren.14 Der „Petersenplan zur Neugestaltung der Lehrerausbildung“, zunächst durch Ausbau einer Erziehungs- beziehungsweise Sozialwissenschaftlichen Abteilung in der Philosophischen Fakultät, dann mit Gründung einer eigenständigen „Sozialpädagogischen Fakultät“, wurde grundsätzlich gutgeheißen – zweifelsohne in Folge der Unterstützung durch Wolf. Die Ausbildung der künftigen Volksschullehrer sollte ganz an die Universität Jena verlegt und auf „vollakademische Grundlage“ gestellt werden.15 Die bis dahin existierende Lehrerbildungsanstalt wurde aufgelöst und dem bisherigen Leiter die Besitzgewalt und die Rechte an der Anstalt entzogen, was einen klaren Bruch mit der in Jena nach der Ära Greil praktizierten Lehrerbildung darstellte.16 Die Idee der Gründung einer Sozialpädagogischen Fakultät ging offenbar in erster Linie auf Petersen zurück.17 Die thüringische Lehrerbildung wäre damit in Jena konzentriert worden. Anfang Oktober 1945, wesentlich früher als an irgendeiner anderen Universität, wurde in Jena die Sozialpädagogische Fakultät eröffnet, die zugleich Walter Wolf eine Ehrendoktorwürde zusprach, offenbar in voller Übereinstimmung zwischen diesem und Petersen, der den Posten des Dekans übernahm. Zwei Monate darauf begann der Lehrbetrieb.18 Die Philosophische und die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät leisteten von Anfang an Widerstand gegen das Vorhaben. Sie lehnten die Abgabe von Ausbildungskompetenzen ab, sahen die Aufnahme der Pädagogik in die Universität als „Opfer“ und wehrten sich gegen die Betonung der praktischen Ausbildung und den in ihren Augen zu geringen Anteil der Fachausbildung.19 Die neue Fakultät sollte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Jugendkunde lehren, auf diesen Gebieten forschen, Psychologen ausbilden, die theoretische und praktische Lehrerausbildung übernehmen und mittels einer „Vorschule der Studien“ Begabte auf ein Hochschulstudium vorbereiten.20

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Paul Mitzenheim (Hg.): Heute schon Geschichte. Dokumente und Skizzen zur Schulgeschichte Thüringens seit 1918, Suhl 1966, S. 95–97; Petersen an Wolf vom 8.4.1946, PPAV, Neuer Archivkasten: nach 1945, XIII, 6 Sammelmappe, n.p. Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 39–47. John/Wahl/Arnold: Wiedereröffnung (wie Anm. 1), S. 161f.; ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3410, Bl. 27r–29r; ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3411, Bl. 39r. Vgl. auch den Entwurf eines Schreibens von Wolf vom 25.7.1945, ThHStAW, ThVM C Nr. 221, Bl. 115r. Vgl. den Entwurf des Schreibens von Wolf vom 8.8.1945: ThHStAW, ThVM C Nr. 221, Bl. 113r; siehe auch UAJ, Best. D, Nr. 3199. Ich danke Jürgen John für den Hinweis auf diese Akte. Petersen an Döpp-Vorwald vom 18.9.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald. Zur Entstehungsgeschichte des Begriffs „Sozialpädagogik“ siehe den Beitrag von Jürgen John in diesem Buch. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 489f.; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 46f.; Petersen an Döpp-Vorwald vom 30.10.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald; ThHStAW, LTh-BMP Nr. 1746, Bl. 332r+v. ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3411, Bl. 20r–27r; ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3412, Bl. 19r. Die geäußerten Befürchtungen waren praktisch identisch mit der Kritik an der akademischen Lehrerbildung in den 20er Jahren. Vgl. dazu den Beitrag von Jürgen John in diesem Buch. ThHStAW, LTh-BMP Nr. 1746, Bl. 147r, Bl. 334r–336r.

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Petersen ging es vor allem darum, unter den neuen Bedingungen verwirklichen zu können, was schon in der Ära von Max Greil angedacht gewesen war. Eine Haltung, die nicht nur er vertrat. Zugleich befürchteten er und andere, die „Reaktion“, wie Petersen seine Gegner bezeichnete, könne sein Vorhaben erneut vereiteln.21 Verbal passte sich Petersen schnell an die neue Zeit an und trat mit marxistischen Ergebenheitsfloskeln auf. Sein Eintritt in die SPD Anfang 1946 und die baldige Übernahme in die SED ist wohl unter dem Gesichtspunkt der Positionssicherung zu sehen. Die antiliberalen Elemente im Weltbild der zu diesem Zeitpunkt noch nicht diktatorisch agierenden SED waren kein Hinderungsgrund, weil seine eigene Haltung zum liberalen Pluralismus distanziert war.22 Ergänzend bemühte er sich um die Wiedereröffnung der Universitätsschule. Mit Hilfe Walter Wolfs konnte er diese frühzeitig erfolgreich und unter minimalen Auflagen durchsetzen. Er sah die Schule als wesentlich für die praktische Ausbildung der Sozialpädagogischen Fakultät an.23 Wäre dies langfristig der Fall gewesen, wären die thüringischen Lehrer im erheblichen Ausmaß durch das von ihm entwickelte Schulmodell geprägt worden, was zu seiner Ausbreitung beigetragen hätte. Walter Wolf lehnte eine umfassende Einführung des Jena-Plans ab, sprach sich aber im Juli 1946 auf der breit kommunizierten Ersten Pädagogischen Konferenz in Weimar für eine umfangreichere versuchsweise Erprobung aus, was Petersen als Teilerfolg betrachten konnte. Petersen trat entschieden gegen das bisherige autoritäre Schulsystem ein und legte die Grundzüge für die „Neue Erziehung“ dar, stark beeinflusst durch Jena-Plan-Gedanken.24 Diese Haltung musste ihn in Konflikt mit der staatlichen Schulpolitik bringen, sollte sich diese für eine traditionellere Schulform unter staatlich-politischem Primat entscheiden, was zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht abzusehen war. Obwohl sich die Zusammenarbeit Petersens mit den deutschen und sowjetischen Dienststellen einvernehmlich entwickelte, gab es auch Konfliktfelder, selbst im Verhältnis zu Walter Wolf.25 Die DZVV war mit der Entwicklung in Jena unzufrieden, namentlich mit der mangelhaften Beeinflussung der Studenten „im demokratischen Sinne“.26 Zwischen der SMAD/ SMATh und der Fakultät gab es Auseinandersetzungen wegen organisatorischer Fragen. Zudem beurteilte man den Lehrplan und die politische Erziehung der Lehrer als zu neutral und unzureichend.27 Eine zentrale Fragestellung, mit der sich die Universitäten auseinandersetzen mussten, war der Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Dies betraf sowohl die Mit21 22 23 24 25 26 27

John/Wahl/Arnold: Wiedereröffnung (wie Anm. 1), S. 159f.; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 500f.; Petersen an Elchlepp, 27.12.1945, PPAV, Neuer Archivkasten: nach 1945, XIII, 6 Sammelmappe, n.p. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 496–503. Ebd., S. 488; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 56f.; siehe auch PPAV, Neuer Archivkasten: Schule 1945–50, n.p. Ausführlicher Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 54–60; Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 309f. (hier mit falschem Datum); Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 507–509; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 88–104; vgl. auch ThHStAW, LTh-BMP Nr. 1747, Bl. 359r. Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 180f. ThHStAW, LTh-BMP Nr. 1746, Bl. 95r–97r. ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3114, Bl. 37r, 40r, 46r.

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arbeiter, die sich durch ihre Arbeit für das NS-Regime kompromittiert hatten, wie die Studenten, die ihre Sozialisierung zum erheblichen Teil in NS-Jugendorganisationen oder Wehrmacht erhalten hatten. Die „Denazifizierung“ war integrales und übereinstimmend gefordertes Ziel der alliierten Mächte, obwohl sich Praxis und zu Grunde gelegte Ordnungsvorstellungen erheblich unterschieden. NS-Funktionen und Parteimitgliedschaft wurden dabei oft als nicht immer aussagekräftige, aber fassbare Indikatoren genutzt, denn eine ehrliche Selbstauskunft war nicht zu erwarten.28 Zweifelsfrei wurde die Entnazifizierung in der SBZ für eine beginnende gesellschaftliche Umgestaltung und die Ausschaltung als feindlich betrachteter politischer und gesellschaftlicher Gruppen und Personen instrumentalisiert.29 Dennoch sollten die Maßnahmen nicht nur vom Ergebnis her gesehen werden, sondern unter Berücksichtigung der Erfahrungen mit dem eben erst zerschlagenen NS-Regime, die für die Handelnden einen wesentlichen Handlungsrahmen darstellten. Die sowjetischen Offiziere wie ihre vielfach von Exil, Haft oder Untergrund geprägten deutschen Partner waren Zeugen der Kooperation der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit der NSDAP geworden, die praktisch bis zur militärischen Zerschlagung „funktioniert“ hatte. Vor diesem Hintergrund war der Wunsch nach konsequenter Verhinderung einer Wiederholung und Misstrauen gegenüber den altgedienten Instanzen im Bildungswesen wenig überraschend. Die Amerikaner führten in Jena erste, im Umfang begrenzte Entnazifizierungsmaßnahmen durch. Petersens Haltung zur Entnazifizierung war kritisch und kann nicht als ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bezeichnet werden. Er setzte vor allem auf eine „Selbstreinigung“ der Universität, die sich angeblich in der NS-Zeit relativ „sauber“ gehalten habe. Mit dieser beschönigenden Sichtweise stand er nicht allein.30 Petersen bescheinigte sich, die „Reinigung“ der Philosophischen Fakultät „glücklich vollendet und human gehandhabt“ zu haben.31 Die Wortwahl deutete an, dass er darin eher eine lästige Pflichtübung sah. Nach dem Besatzungswechsel wurde das Vorgehen schrittweise verschärft und gipfelte in Massenentlassungen besonders zum Jahreswechsel 1945/46. Trotz der oft als schmerzhaft empfundenen Einschnitte fand in West- wie Ostdeutschland jedoch kein wirklicher Elitenwechsel statt. In der SBZ/ DDR kam es erst einige Jahre später zu einem Austausch, dann im Sinne der SED.32 Für Petersen erfolgten die Entlassungen wegen „irgendwelcher Zugehörigkeit zur NSDAP“, was Unverständnis 28 29

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31 32

John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 53–57. Jürgen John/Gunther Mai: Thüringen 1918–1952. Ein Forschungsbericht, in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.): Thüringen auf dem Weg ins „Dritte Reich“, Erfurt 1996, S. 553–590, hier S. 576f.; Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005, S. 33ff. John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 56f.; Rüdiger Stutz: Hochschulerneuerung unter Besatzungsherrschaft. Der Landespräsident von Thüringen als „politischer Rektor“ der Universität Jena (Sommer 1945 bis Frühjahr 1946), in: John/Wahl/Arnold: Wiedereröffnung (wie Anm. 1), S. 75–102, hier S. 75f. Petersen an Döpp-Vorwald vom 18.9.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald. John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 59ff.; Stutz: Hochschulerneuerung (wie Anm. 30), S. 99f. Zur Entnazifizierung Jan Jeskow: Die Entnazifizierung des Lehrkörpers an der Universität Jena von 1945 bis 1948, in: Hoßfeld/Kaiser/Mestrup: Hochschule (wie Anm. 8), (Bd. 1), S. 71–95.

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suggeriert.33 Offenbar erschien ihm die Entnazifizierung eher als Hindernis für seine in eigener Perspektive nach vorne gerichtete Arbeit, nicht als – in der Umsetzung problematische, aber in der Sache notwendige – Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, zumal „seine“ Fakultät von den Vorgängen direkt betroffen wurde.34 Petersen verfasste bereitwillig „Persilscheine“ für Mitarbeiter und Kollegen.35 Er versuchte zudem, für die Wiedereinstellung von Mitgliedern „seiner“ Fakultät seine neuen Kontakte zu aktivieren, was ihm ein Dienststrafverfahren einbrachte, in dem sich Walter Wolf vor ihn stellte.36 Weder die Entnazifizierungsfrage noch andere Konfliktfelder erschienen 1945 bis 1947 als gravierende Störungen in der Kooperation Petersens mit den deutschen und sowjetischen Dienststellen. Petersen geriet jedoch schon recht früh selbst in die Kritik. Ende 1945 äußerte sich Paul Oestreich, der anders als Petersen nach 1933 Opfer von Repressionen geworden war, in einem öffentlichen Brief sehr negativ zu dessen Befähigung, als Ausbilder künftiger Lehrergenerationen zu fungieren. Oestreich verwies auf das in seinen Augen moralisch fragwürdige Verhalten Petersens während des „Dritten Reiches“.37 Petersens Selbstrechtfertigung gegen die freilich wenig konkreten Vorwürfe war nicht überzeugend. Die Episode hatte dennoch vorerst keine negativen Folgen. Walter Wolf, selbst Opfer des Nationalsozialismus, sah offenbar keinen Grund, seine Zusammenarbeit mit Petersen zu beenden, vermutlich weil er die persönlichen Aspekte des Konfliktes kannte.38 Paul Oestreich wies Petersens Rechtfertigung verächtlich zurück und verurteilte erneut die Anbiederung an das NS-Regime scharf. Er betonte durchaus nachvollziehbar, nach 1933 sei mindestens Zurückhaltung angebracht gewesen, nicht aber Loyalitätsbekundungen, die möglicherweise andere in ihrer Haltung zum Regime beeinflusst hätten. Freilich waren die Vorwürfe zum Teil stark persönlich motiviert.39 Petersens Beurteilungen waren zu dieser Zeit abgesehen von dieser Kritik zumeist positiv oder neutral gehalten, eine Position, die von der SMATh geteilt wurde.40 Von einem entschieden negativen Urteil zu ihm, seinen Vorstellungen zur Lehrerausbildung oder dem Jena-Plan konnte keine Rede sein.

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Petersen an Thyssen vom 27.12.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel PP ÕThyssen, n.p. ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3281, Bl. 50r+v. Zu Petersens Haltung Petersen an Döpp-Vorwald vom 12.1.1946, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald; UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 65r. Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 34; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 37; ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3411, Bl. 32r–33r. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 510f.; ThHStAW, LTh-MfV Nr. 440, Bl. 4r–6v, 11r–15r; ThHStAW, OLGE Nr. 1227, Bl. 1r–7r. ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3411, Bl. 5r–8r. Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 82–84; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 492–496; zu Petersens Antwort Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 311–314. Petersen an Oestreich vom 26.3.1946, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Retter: Petersen (wie Anm. 6), S. 48; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 155; ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3111, Bl. 17r, 30r–31r, 264r, 268r.

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DAS PROJEKT DER PROVINZ SACHSEN – PETERSENS TÄTIGKEIT AN DER MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG Parallel zu seiner Tätigkeit in Jena war Petersen an anderen Projekten in der SBZ beteiligt.41 Sein Ehrgeiz ging weit über Thüringen hinaus. Von besonderer Bedeutung war die Beinahe-Berufung nach Halle. Die Initiative zur Gründung einer Pädagogischen Fakultät ging nicht von der Universität, sondern von staatlicher Seite aus.42 Wie in Jena begannen die Bemühungen lange vor dem SMAD-Befehl zur Gründung entsprechender Fakultäten.43 Der Kontakt mit Petersen kam offenbar im Oktober 1945 zustande, und dieser schrieb, zunächst noch als Berater, enthusiastisch von der Zusammenarbeit mit Halle. Er spekulierte darauf, den dort und in Jena verfolgten Weg bei der Gestaltung eines Schulplanes und der Lehrerausbildung als vorbildhaft auf einer Tagung mit Vertretern aller SBZ-Gebiete zu präsentieren. Die Perspektive, damit möglicherweise die ganze Ostzone zu prägen, war unübersehbar. In Halle ging es um die Organisation einer Vorbild-Einheitsschule in Abgrenzung vom bisherigen gegliederten Schulsystem, und um die Lehrerausbildung der Provinz Sachsen. Dafür sollten die Franckeschen Stiftungen Halles als Modell-Einheitsschule mit bis zu 2.000 Schülern dienen, die einer zu gründenden Pädagogischen Fakultät zur Seite stehen würde, für die Petersen mit bis zu 1.000 Studenten rechnete.44 Seine Mitwirkung war angesichts seiner Position zur akademischen Lehrerbildung und der Vorreiterrolle der Universität Jena nur folgerichtig. Ob er die Gefahr sah, durch ostzonale Sonderentwicklungen die Unterschiede zu den anderen Besatzungszonen zu verstärken, darf zu dieser Zeit bezweifelt werden. Das Projekt war in Halle nicht unumstritten. Vor allem die Philosophische und die Naturwissenschaftliche Fakultät widersetzen sich, wobei sie sich der Zustimmung anderer Universitäten sicher seien konnten. Besonders ein „Übermaß“ an praktischer Ausbildung wurde abgelehnt.45 Offenbar trieb einige Senatsmitglieder die Furcht vor einem „Absinken“ der Qualität der deutschen Universitäten um, die sie auch bei einem Frauenanteil von mehr als maximal 25 Prozent „bedroht“ sahen.46 Petersens Rolle wurde rasch aufgewertet, ein Zeichen dafür, wie hoch die Wertschätzung war, die er zu dieser Zeit genoss und wie wenige formell unbelastete Pädagogen von Rang und Ansehen zur Verfügung standen. Anfang Dezember legte er einen Bericht vor, der den Lehreinrichtungen der Franckeschen Stiftungen eine Funktion als Mittelpunkt der praktischen Lehrerausbildung der Universität Halle zudachte; dies waren vier Schulen, die um Unterstufe und Kindergärten erweitert werden sollten. Petersen stellte die Planungen zur neuen Einheitsschule in die Tradition seiner Arbeit an der Lichtwark-Schule in Hamburg und betonte, diesmal sei die Zeit reif. Einmal mehr behauptete er, umzusetzen, wofür er immer schon eingetreten sei, offenbar ohne irgendeinen Bruch in oder zu den vergangenen zwölf Jahren zu 41 42 43 44 45 46

Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 502f., 507ff. UAH, Rep. 4, Nr. 724, n.p. UAH, Rep. 4, Nr. 71, Bl. 4r+v. Petersen an Döpp-Vorwald vom 30.10.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald. UAH, Rep. 4, Nr. 724, n.p. Senatssitzung vom 27.9.1945, UAH, Rep. 4, Nr. 688, n.p.

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sehen. Die Aussage, sein Entwurf würde einen „bedeutenden Programmpunkt der zur politischen Macht aufstrebenden Arbeiterklasse“47 umsetzen, ist als Verbeugung an den Sprachduktus der SBZ zu deuten. Zugleich erhob er die Forderung, das Gelände der Franckeschen Stiftungen umgehend von allen schulfremden Einquartierungen zu räumen. Der Stiftungscharakter müsse unbedingt erhalten bleiben, quasi als Annex der Pädagogischen Fakultät. Das Ordinariat für Erziehungswissenschaften und Direktorat der Stiftungen müssten in einer Hand liegen. Darin äußerte sich ein erheblicher Gestaltungs- und Geltungsanspruch, nicht zuletzt in der Idee einer fast autonomen Einheit, die durch den Stiftungscharakter vor staatlichen Eingriffen abgesichert war. Petersen empfahl sich zwar nicht offen als geeigneten Kandidaten für den erwähnten Doppelposten, doch dürfte dieser Gedanke nicht nur für ihn nahe liegend gewesen sein. Die Verordnung zur Errichtung einer Pädagogischen Fakultät unter Eingliederung der Franckeschen Stiftungen datierte auf den 4. Dezember 1945.48 Petersens Berufung zum Professor für Erziehungswissenschaft der Pädagogischen Fakultät der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg bei gleichzeitiger Ernennung zum Direktor der Franckeschen Stiftungen folgte am 12. Dezember mit Wirkung vom 1. Januar 1946.49 Petersen schrieb, er könne in den Stiftungen wie beim Aufbau der Fakultät frei nach seinen Plänen handeln.50 In relativ kurzer Zeit entwarf er eine Organisationsstruktur, Satzungen, eine Promotions- und Habilitationsordnung für die künftige Fakultät. Die Entwürfe waren weitestgehend identisch mit dem Jenaer Vorbild.51 Damit wäre in Halle eine Fakultät entstanden, die sich zu erheblichen Teilen an den von Petersen in Jena umgesetzten Vorstellungen der akademischen Lehrerausbildung orientiert hätte. Die Tatsache seiner Berufung wurde in der Presse kommuniziert und als Meilenstein herausgestellt.52 Freilich dürfte es die Zusammenarbeit mit Teilen des Universitätsapparates nicht wenig belastet haben, dass sie mitunter erst in den Medien von wichtigen Entscheidungen erfuhren.53 Petersen skizzierte Anfang Januar 1946 in einer Rede in den Stiftungen die geplante Vorgehensweise beim Aufbau der Einheitsschule. Er sah keinen sofortigen Umbau zu einer Jena-Plan-Schule vor, beabsichtigte aber eine schrittweise Umgestaltung, etwa die Auflösung der strikten Stundentrennung. Wo möglich, sollte die Bildung von Schüler-Lehrer-Gruppen erfolgen und Studientage zumindest für höhere Jahrgänge eingeführt werden. Die Stiftungsschulen sollten Zentrum der Lehrerbildung und Vorbild für eine künftige Einheitsschule werden. Damit wurde zumindest für die Provinz Sachsen eine prägende Rolle in Anspruch genommen. Zugleich ging 47 48 49 50 51 52 53

UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 25r–30r. UAH, Rep. 4, Nr. 724, n.p. UAH, Rep. 6, Nr. 2968, n.p. Petersen an Döpp-Vorwald vom 12.1.1946, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald. UAH, Rep. 21B, Nr. 91, n.p.; UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 48r–59v, 62r. UAH, PA 12362, n.p. Artur Schellbach: Zur Gründung der Pädagogischen Fakultät an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, in: Jürgen Gebhardt (Hg.): Die Pädagogische Fakultät im Prozeß der revolutionären Umgestaltung im Bildungswesen. Zum 40. Jahrestag der Eröffnung der Pädagogischen Fakultät an der Martin-Luther-Universität am 1.10.1946, Halle 1988, S. 31–40, hier S. 32f.

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Petersen auf die besondere Situation Anfang 1946 ein. Die deutschen Verbrechen umschrieb er nur vage. Von seltener Deutlichkeit waren jedoch seine Worte, als er darauf hinwies, dass sich in den vergangenen Jahren erhebliche Teile der breiten Massen wie der „führenden Kreise“ Deutschlands nicht nur des Zuschauens und Duldens, sondern des aktiven Mitmachens schuldig gemacht hatten. Für die momentane Situation knüpfte er beim Bild der frühen Jahre der Franckeschen Stiftungen und bei Francke selber an, ebenso beim Dreißigjährigen Krieg als ähnliche Zäsur wie dem Zweiten Weltkrieg. In seinem Vortrag benutzte er auch Worte wie „völkisch“, sprach von „Zersetzung der Zellen völkischer Sitte und Kultur“, die das innerdeutsche und das Zusammenleben mit anderen Völkern vergiftet hätten. Dies war 1946 eine unglückliche Wortwahl, aber in diesem Kontext gegen den Nationalsozialismus gerichtet. Die Nutzung des Terminus des „Völkischen“ war wohl eher der breiteren Verwendung des Begriffs in allen politischen Lagern vor 1933, denn einer inneren Verbundenheit zum Nationalsozialismus geschuldet. Petersen sprach von Rückbesinnung auf „Ehrfurchtsbereiche“, von sittlicher Besinnung, dem Leben nach den Zehn Geboten.54 Die Beschwörung des „Geistes“ von August Herrmann Francke war eine Kontinuität in seiner Argumentation, denn diesen hatte er bereits Ende des Krieges als einen „Tatchristen“ gelobt.55 Was er nicht referierte, war die Tatsache, dass dieses Vermächtnis in Halle vor 1945 mit militaristischem Gedankengut kompatibel erklärt worden war, so wie auch die Stiftungen direkt von NS-Verbrechen profitierten, indem sie Zwangsarbeiter beschäftigten. Viele Schuldirektoren und Mitarbeiter waren in der NSDAP gewesen, etliche wurden deshalb nach dem Krieg entlassen.56 Vorbereitend für die ins Auge gefasste Umgestaltung wurde eine Jena-PlanAusstattung für die künftige Unterstufe bestellt, ein Umbau der Klassenräume war in Planung. Petersen sollte in möglichst großem Kreis über den Jena-Plan referieren.57 In seinem Tätigkeitsbericht über seine Arbeit in den Franckeschen Stiftungen vom April 1946 pries er die Jena-Plan-Schule als Lösung an.58 Wären Petersens Planungen umgesetzt worden, dann hätte die akademische Lehrerbildung in Thüringen wie in der Provinz Sachsen in längerer Perspektive an stark gesellschaftswissenschaftlich und praktisch-pädagogisch orientierten Fakultäten stattgefunden. Die praktische Ausbildung hätte sich auf Schulen konzentriert, an denen der Jena-Plan ganz oder größtenteils umgesetzt wurde. Die dort ausgebildeten Lehrer wären von diesem Schulmodell geprägt worden, was sie in Petersens Kalkül mit Sicherheit zu Impulsgebern für die Durchsetzung seiner pädagogischen Vorstellungen in der breiten Masse der Schulen in beiden Ländern gemacht hätte, möglicherweise auch darüber hinaus. Die angedachte Vorbildrolle der Stiftungsschulen für die künftige Einheitsschule hätte den Effekt noch verstärkt. 54 55 56 57 58

Petersens Rede in den Franckeschen Stiftung, UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 38r–44r, 60r. UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 17r–22r. AFSt/W/Neues Rep. VII/I/10, Bl. 12r, Bl. 96r, Bl. 101r–101v, 106r; AFSt/W/Neues Rep. VII/II/2, Bl. 59r, 66r, 75r, 77r, 96r, 99r–100r; AFSt/W/Neues Rep. VIII/I/1 (1), Bl. 97r; AFSt/W/Neues Rep. VIII/IV/1, Bl. 48r–49r, 51r, 54r. Jürgen Gebhardt: Die pädagogische Fakultät im Prozeß der revolutionären Umgestaltungen im Bildungswesen, in: Gebhardt: Fakultät (wie Anm. 53), S. 5–30, hier S. 15; AFSt/W/Neues Rep. V/5, Bl. 23r–24r. UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 33r–36r.

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Die Planungen stießen jedoch bald auf Schwierigkeiten, zu denen Petersen in erheblicher Weise beitrug. Er hatte sich vehement dafür stark gemacht, alles zu entfernen, was „sittlich wertvolles Heimleben, ein geordnetes Schulleben, eine echte Schulgemeinde“ stören könne. Damit waren alle Einquartierungen und Mitnutzer gemeint, darunter Lazaretteinrichtungen. Der Empörung Petersens über die mangelnde Kooperation der Mitnutzer lässt jede Empathie für die Notsituation kurz nach Kriegsende vermissen, in der es Dinge gab, die ähnlich wichtig oder wichtiger waren als seine Planungen. Mitunter schlich sich ein verdeckt kulturrassistischer Unterton in seine Wortwahl, wenn er die Entfernung der Kranken damit zu untermauern suchte, dass sich „selbst russische Besucher nicht genug wundern“ könnten über den Verbleib der Lazarettinsassen in so einer wichtigen Erziehungseinrichtung.59 Den freiwerdenden Wohnraum sollten zum Teil Mitarbeiter Petersens aus Jena und anderen Orten übernehmen.60 Seine Bemühungen, Personal aus Jena „abzuwerben“, stießen dort angesichts der Personalknappheit auf deutliche Kritik.61 Wie in Jena sah Petersen in der Entnazifizierung ein potentielles Hindernis, das es zu bewältigen galt, und war in der Bescheinigung möglicher Unbedenklichkeit nachlässig bis gleichgültig.62 Für ihn waren eher die externen Mieter und die Entnazifizierung Störfaktoren, als die ehemaligen Parteimitglieder. Nicht zuletzt diese Haltung ermöglichte es einigen Studenten, mit denen ein Streit um Wohnrecht in den Stiftungen schwelte, die Wiedereinstellung von belastetem Personal anzuprangern.63 Seine wirklichen Hauptgegner sah Petersen jedoch in der „Reaktion“, der Opposition gegen seine Pläne. Die Ereignisse der Ära Greil waren einmal mehr Hintergrund der Befürchtungen.64 Angesichts der ablehnenden Haltung einiger Universitätsfakultäten war diese Haltung nicht ohne Berechtigung. Das Scheitern der Berufung nach Halle kam relativ unvermittelt, die Angaben über die konkreten Gründe variieren. Zweifelhaft erscheint die Behauptung, man habe zunehmend Petersens konsequente antifaschistische Haltung oder die Eignung seiner pädagogischen Pläne in Zweifel gezogen.65 Die Beurteilung des Professors war im Februar 1946 noch durchweg positiv.66 Die Begründung, Petersen habe seine finanziellen Ansprüche hochgeschraubt und nach Verweigerung der Forderungen abgesagt, überzeugt nicht.67 Zwar spielten finanzielle Aspekte bei den Verhandlungen eine Rolle. Besonders Petersens Frau bemühte sich vergeblich, die großzügige Bezahlung weiter aufzubessern. Allerdings signalisierte Petersen ein gewisses Entgegenkommen.68 Bis zuletzt ging man in Halle fest von einer Zusage aus. Petersen 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 31r–33r; sowie diverse Kündigungsschreiben, AFSt/W/Neues Rep. XIV/II/11 (1). AFSt/W/Neues Rep. XIV/II/11 (1), Bl. 157r. UAJ, Best. D, Nr. 3196, Bl. 110r. UAH, Rep. 4, Nr. 724, n.p.; UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 31r; Petersen an Thyssen vom 27.12.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel PP ÕThyssen, n.p. Leserbrief, 3.4.1946, UAH, Rep. 21B, Nr. 129, n.p. Petersen an Elchlepp vom 27.12.1945, PPAV, Neuer Archivkasten: nach 1945, XIII, 6 Sammelmappe, n.p. Gebhardt: Fakultät (wie Anm. 53), S. 15, 27f. UAH, Rep. 21B, Nr. 90, n.p. Schellbach: Gründung (wie Anm. 53), S. 34. Petersen an Elchlepp vom 28.12.1945, Petersen an Wolf vom 8.4.1946, PPAV, Neuer Archivkas-

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bemühte sich bis April 1946 um eine Beurlaubung aus Jena, während Halle eine definitive Festlegung wünschte.69 Die Universität Jena wollte seine Besoldung ab April 1946 einstellen.70 Nichts deutete auf ein grundlegendes Zerwürfnis oder zunehmende Distanz zwischen der Universität Halle und Petersen hin. Es war vor allem die Sorge um „sein Lebenswerk“ in Jena, hervorgerufen durch die Entlassung zahlreicher belasteter Mitarbeiter, und private Gründe, die Petersen zu einer in Halle pikiert aufgenommenen Ablehnung einer definitiven Bindung Anfang April 1946 bewogen.71 Man orientierte sich notgedrungen schnell um und beschloss, weder Petersen wie bisher in allem nachzugeben, noch alle von ihm Vorgeschlagenen in den Stiftungen unterzubringen. Dies lag weniger am ideologisch-pädagogischen Dissens als vielmehr daran, dass man Petersens Ersatzmann Gestaltungsraum lassen wollte und mit Wohnraum haushalten musste.72 Der Lehrbetrieb der Pädagogischen Fakultät begann im Oktober 1946.73 Drei Jahre später wurde der Abschied der ersten Studenten feierlich begangen.74 Die Franckeschen Stiftungen und ihre Schulen wurden – wie von Petersen geplant – der Fakultät unterstellt, verloren jedoch ihren Stiftungscharakter. Über die genaue Rechtsform und das Unterstellungsverhältnis zur Universität herrschte jahrelang Unklarheit. Der erweiterte Sonderschulbezirk, welcher der Fakultät für die praktische Ausbildung unterstand, wurde bald auf die ehemaligen Stiftungsschulen verkleinert.75 Wäre Petersen dem Ruf nach Halle gefolgt, hätte sich die Konfliktlage in den kommenden Jahren vermutlich ähnlich wie in Jena entwickelt. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Großversuch nach dem Jena-Plan in der SBZ eine langfristige Zukunft gehabt hätte. Petersens wenig diplomatisches Auftreten in Halle und das Fehlen einer vergleichbar engen Arbeitsbeziehung wie zu Walter Wolf und zur SMATh hätte sich noch schneller als in Jena negativ auswirken können, zumal die Franckeschen Stiftungen keine Tradition als Jena-Plan-Schule hatten. Wie sehr sich die Dinge wenige Jahre später geändert hatten, bewies ein Bericht vom Mai 1949, der Relikte der von der offiziellen Linie abweichenden pädagogischen Strömungen auflistete, und dabei unter den Resten der Reformpädagogik vereinzelte Jena-Plan-Anhänger nannte.76 Das Modell, das noch drei Jahre zuvor als Großmodell akzeptabel schien, galt jetzt als reaktionärer Überrest, allerdings nicht als ernste Gefahr. Die Pädagogische Fakultät, aus der in den Jahren nach ihrer Gründung mehrere Mitarbeiter nach Westdeutschland 69 70 71

72 73 74 75 76

ten: nach 1945, XIII, 6 Sammelmappe, n.p.; UAH, Rep. 6, Nr. 2968, n.p. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 491; UAH, Rep. 6, Nr. 2968, n.p.; Petersen an Wolf vom 1.4.1946, PPAV, Neuer Archivkasten: nach 1945, XIII, 6 Sammelmappe, n.p. UAJ, Best. D, Nr. 3196, Bl. 115r–117r. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 491; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 186; Petersen an Wolf vom 8.8.1946, PPAV, Neuer Archivkasten: nach 1945, XIII, 6 Sammelmappe, n.p.; Petersen an Döpp-Vorwald vom 12.1.1946, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald; UAH, PA 12362, n.p.; UAH, Rep. 6, Nr. 2968, n.p.; UAJ, Best. D, Nr. 3196, Bl. 115r–120r; UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 64r–65r. UAH, Rep. 6, Nr. 2968, n.p. Gebhardt: Fakultät (wie Anm. 53), S. 5. UAH, Rep. 21B, Nr. 60, n.p. AFSt/W/Neues Rep. V/1; AFSt/W/Neues Rep. V/2; AFSt/W/Neues Rep. V/4; UAH, Rep. 4, Nr. 724; UAH, Rep. 21B, Nr. 116. UAH, Rep. 21B, Nr. 129, n.p.

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emigrierten, wurde am 1. September 1955 aufgelöst. Petersens Beteiligung sah man im Rückblick als Missgriff an.77 ÜBER ZONEN- UND LANDESGRENZEN HINAUS Die Tätigkeit Petersens nach 1945 nur auf die SBZ bezogen zu betrachten, hieße wesentliche Elemente auszublenden. Eine Zonenbegrenzung war ohnehin unplausibel, denn in den ersten Nachkriegsjahren ahnte kaum jemand, dass sich West und Ost schon bald in zwei immer mehr verfestigenden Blöcken gegenüberstehen würden.78 Auch in der Pädagogik wurden mindestens bis 1948 gesamtdeutsche Lösungsansätze diskutiert, auch als bewusste Bemühungen gegen die wachsende Auseinanderentwicklung der Zonen.79 Petersen knüpfte wenige Monate nach Kriegsende Kontakte in die Westzonen.80 Diese Kontakte pflegte er in den folgenden Jahren und bemühte sich, publizistisch präsent zu sein.81 Das Versenden des Statutes der Sozialpädagogischen Fakultät an Bekannte sollte dieses vermutlich als Impulsgeber und Vorbild präsentieren.82 Im Kontext von Petersens zonenübergreifender Tätigkeit ist besonders sein Eintreten für das Projekt einer Internationalen Universität hervorzuheben.83 Im Herbst 1947 erfuhr Petersen wahrscheinlich durch einen Freund von Plänen, in Bremen eine solche Universität zu errichten.84 Petersen selber betonte, er sei auf Initiative des Leiters der Education Division des Office of Military Government United States (OMGUS) in Berlin, Professor Thomas Alexander, nach Bremen gekommen.85 Petersen kannte diesen aus Vorkriegszeiten.86 Binnen weniger Wochen entwarf er eine Denkschrift über die künftige Hochschule, für die er den Namen „Leibniz-Universität“ vorschlug, und stellte sie am 1. Oktober vor.87 In der Senatssitzung, die das Projekt überwiegend positiv bewertete, wurde nicht nur die Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für 77 78 79 80 81 82 83 84

85 86 87

Gebhardt: Fakultät (wie Anm. 53), S. 8, 14, 22. Stöver: Krieg (wie Anm. 10), S. 28–106. John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 42–47; Schlegel: „Bildungseinheit“ (wie Anm. 8), S. 23f. Petersen an Thyssen vom 18.9.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel PP ÕThyssen, n.p. Petersen an Döpp-Vorwald vom 29.5.1947, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald; Petersen an Böttcher vom 12.5.1947, PPAV, Mappe: 7a, n.p.; sowie Briefwechsel mit Wolfgang Metzger, PPAV, Ordner: Briefwechsel, Bd. XI, n.p. Petersen an Döpp-Vorwald vom 30.10.1945, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald. Für eine relativ umfassende Darstellung der Ereignisse in Bremen mit zahlreichen zentralen Briefen und einer Charakterisierung wesentlicher Akteure Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 317– 331. Peter Kaßner: Peter Petersen: Politische und pädagogische Handlungsfelder, in: Tobias Rülcker/Peter Kaßner (Hg.): Peter Petersen: Antimoderne als Fortschritt? Erziehungswissenschaftliche Theorie und pädagogische Praxis vor den Herausforderungen ihrer Zeit, Frankfurt a.M. u.a. 1992, S. 11–50, hier S. 41. Auszug aus der Niederschrift über die Sonder-Senats-Sitzung vom 1.10.1947; Petersen an DöppVorwald vom 2.10.1947, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 203f., 209f., 236f. Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 317f.; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 542. Ausführliches Material der Denkschrift in Deutsch und Englisch in: PPAV, Mappe: 7a.

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Bremer Abiturienten als Argument ins Feld geführt. Als eigentliches Motiv wurde der ehrgeizige Anspruch erhoben, man wolle etwas vollkommen Neues versuchen, weil man mit der augenblicklichen Struktur der deutschen Hochschulen nicht einverstanden sei. Die Ära nationalstaatlichen Denkens sei vorbei und die Jugend müsse die beengenden Grenzen dieser überkommenden Vorstellungen hinter sich lassen. Die Welt wachse wirtschaftlich zu größeren Räumen zusammen. Bremen sei wegen seiner Stellung im Welthandel und seiner republikanisch-demokratischen Tradition der geeignete Boden für eine Neugründung. Besonderes Augenmerk sollte auf den Gesellschaftswissenschaften liegen, dem Recht, der Technologie und der Erziehung. Das wissenschaftliche Personal sollte auch im Ausland rekrutiert werden.88 Zweieinhalb Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren das zukunftsweisende Ideen, die über das kontinuitätsverhaftete Verhalten vieler etablierter Universitäten hinausgingen. Zum Teil wurden innovative Lösungen für die materiellen Probleme im wirtschaftlich angeschlagenen Deutschland angedacht, wie die wesentliche Beteiligung englischer Regierungsstellen, ausländischer Stiftungen oder die Einwerbung von Mitteln aus der Bremer Kaufmannschaft.89 Die besondere Wertschätzung der Gesellschaftswissenschaften war wahrscheinlich Ergebnis von Petersens Denkschrift. In dieser wurde der Entwurf der Internationalen Universität als Bruch mit der nationalistisch-politischwirtschaftlich ausgerichteten Wissenschaft dargestellt, aber auch als Absage an eine Nur-Wissenschaftsbeschränkung, die den Fragen der Zeit ausweiche. Gewissermaßen war dies ein Ausweichen vor den Problemen der Vergangenheit, eine Rehabilitierung des deutschen Wissenschaftsbetriebes. Die Universität sollte eine Internationale des universitären Nachwuchses schaffen, der seine Ideen völkerübergreifend austauschen würde. Der wissenschaftliche Blickwinkel sollte über Europa hinausgehen. Ins Zentrum der Universität stellte Petersen die Gesellschaftswissenschaftliche, die Religiöse und die Sozial-Pädagogische Fakultät, die als Vollbildungseinrichtung für alle Arten Lehrer geplant war. Die anderen, „älteren“ Fakultäten, die MathematischNaturwissenschaftliche, die Medizinische, Juristische und Philologisch-Historische/ Philosophische, sollten in „dienender“ Funktion arbeiten. Von Anfang an sollte Amerikakunde fester Bestandteil der Lehre sein. Das Personal sollte fester internationaler Gesinnung sein und zum Gutteil aus Emigranten rekrutiert werden. 20 bis 25 Prozent der Studenten sollten aus dem Ausland kommen. In Petersens pädagogischen Erörterungen stand im Mittelpunkt der Praxis der Jena-Plan, im Zentrum der empirischen Theorie die Pädagogische Tatsachenforschung.90 Das von Petersen skizzierte Projekt einer Internationalen Universität hätte die Verankerung seiner Vorstellungen von akademischer Lehrerbildung und indirekt des Jena-Plans über die SBZ hinaus bedeutet. Die Sozialpädagogische Fakultät wäre zum Herzstück der neuen Universität geworden und hätte eine Breitenwirkung entfalten können, die sich Petersen für Jena und Halle erhofft hatte.

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Auszug aus der Niederschrift über die Sonder-Senats-Sitzung vom 1.10.1947, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Senator für Schulen und Erziehung, 14.11.1947, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 542. Ausführlich PPAV, Mappe: 7a. Siehe auch: UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 71r–85r.

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Nicht an den Ideen, sondern an der Person Petersens begannen sich bald nach dem vermeintlich glatten Start des Vorhabens Widerstände zu entzünden. Mitte November 1947 setzte Senator Christian Paulmann, der die Verhandlungen mit Petersen führte, diesen in Kenntnis, dass besonders der hohe OMGUS-Mitarbeiter Fritz Karsen, ein vor der Verfolgung durch die Nazis emigrierter und inzwischen naturalisierter Deutschamerikaner, erhebliche Vorbehalte habe. Karsen machte vor allem Petersens Publizistik im „Dritten Reich“ gegen eine Berufung geltend. Paulmann bat Petersen ungeachtet dessen offiziell um Hilfe bei der Umsetzung des Projekts, und auch Professor Alexander sprach sich für eine Zusammenarbeit aus.91 Obwohl andere alliierte und deutsche Dienststellen durchaus die persönliche Note in den Konflikten erkannten, machten sich sowohl Alexander als auch einige deutsche Entscheidungsträger diese Kritik schließlich zu eigen, wahrscheinlich nach einer Konfrontation mit Petersens Veröffentlichungen. Als wesentlicher Kritikpunkt wurde zudem spätestens Ende Januar 1948 explizit der SED-Beitritt Petersens hervorgehoben. Petersen selbst fehlte jegliches Unrechtsempfinden für sein Verhalten im „Dritten Reich“. Er verteidigte sich mit der Behauptung, seine Universitätsschule habe als Zufluchtsort fungiert, er selber habe niemals dem Nationalsozialismus nahe gestanden und Kontakte zum Widerstand gehabt. Er sah erneut die „Reaktion“ am Werk und unterstellte, möglicherweise nicht ganz zu Unrecht, eine west-östliche Konspiration zwischen Karsen, der Thüringer Ministerin für Volksbildung Torhorst und Berliner Stellen, die ihn ablehnten.92 Besonders verwies er in diesem Zusammenhang auf Konflikte mit einigen Vertretern der DZVV, die für eine autoritäre „alte“ Schulform einträten, deren Antipode er sei und gegen welche die „Lebensgemeinschaftsschulen“ und die „Neue Erziehung“ in der ganzen Welt ankämpfen würden.93 Dass sein Verhalten und seine Person in der Situation 1947/48 für einen Neuanfang zu einer erheblichen Belastung werden könnten, wollte oder konnte er nicht erkennen. Es liegt nahe, nicht nur Petersens moralisch fragwürdige Haltung im „Dritten Reich“, sondern auch die wachsenden internationalen Spannungen als wesentlichen Grund für das Scheitern seiner Berufung zu nennen. Einem SED-Mitglied, das eng mit sowjetischen und ostdeutschen Stellen zusammenarbeitete, begegnete man in den westlichen Zonen Anfang 1948 mit erheblichem Misstrauen. Noch war die Spaltung Deutschlands weder unübersehbar noch zementiert, doch zonenübergreifende Projekte stießen zunehmend auf Hindernisse. Es erscheint plausibel, dass im Umkehrschluss Petersens Westkontakte in der SBZ zunehmend argwöhnisch registriert wurden.94 Ungeachtet der Kritik wurde im Januar 1948 ein Berufungsvertrag ausgearbeitet, der Petersen eine ordentliche Professur für Erziehungswissenschaften und die Leitung der pädagogischen Hochschule in Aussicht stellte. Die Verbindung der Hochschule mit einer Schule sowie einem Kindergarten war vorgesehen. Bei einer erfolgreichen Universitätsgründung sollte er das Ordinariat für Erziehungswissenschaften und das 91 92 93 94

Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 319–321. Ebd., S. 322–327; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 542f. Sowie ausführlich mit zahlreichen relevanten Schreiben PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 322–325. Paul Mitzenheim: Thüringer Pädagogen und bildungspolitische Bestrebungen der Arbeiterbewegung, Jena 2000, S. 134.

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Direktorat eines Universitätsinstituts für Pädagogik erhalten.95 Es war davon auszugehen, dass die mit der Hochschule verbundene Schule von Jena-Plan-Vorstellungen geprägt worden wäre, wie es mit der Universitätsschule der Fall und in Halle für die Franckeschen Stiftungen geplant war. Relativ überraschend scheiterte die Berufung Petersens nach Bremen an der inzwischen massiven Kritik an seiner Person. Petersen reagierte voller Uneinsichtigkeit und Erbitterung, mit geradezu hasserfüllten Worten gegenüber Karsen.96 Das Scheitern der Bremer Pläne bedeutete vor dem Hintergrund der zunehmend komplizierter werdenden Situation in der SBZ einen persönlichen und beruflichen Rückschlag. Gescheitert war er auch mit dem Versuch, sein Schul- und Lehrerausbildungskonzept in Westdeutschland zu verankern und mit einer Internationalen Universität länderübergreifend zu vertreten. In den Folgejahren gab Petersen die Bemühungen um eine Westorientierung nicht auf. Beharrlich suchte er neue Interessenten für seine Pläne einer Internationalen Universität. So schrieb er an den schwedischen König und legte ihm seine Bremer Denkschrift vor, gab aber die Vorgänge in Bremen sehr geschönt wieder.97 Ein Vorstoß beim luxemburgischen Erziehungsministerium wurde zwar positiv beurteilt, aber mit einer höflichen Absage und dem Hinweis quittiert, dass ein gesamteuropäisches Projekt stark vom Werdegang Europas abhängig sei, der im Moment zu unbeständig für große Zukunftsplanungen wäre.98 Petersen bemühte sich zudem erfolgreich um eine Veröffentlichung seiner Denkschrift in den Westzonen.99 Zusätzlich dazu stand er in Briefwechsel mit Kollegen in der Schweiz. Seine Denkschrift zur Internationalen Hochschule stieß dort auf gewisses Interesse.100 Petersen trat wiederholt in den Westzonen als Vortragsredner auf und blieb publizistisch in gewissem Umfang präsent. Sondierungen für einen Wechsel nach Hamburg oder Flensburg zerschlugen sich jedoch.101 Die Bemühungen einer Westorientierung standen freilich unter doppeltem Vorbehalt. Zum einen wurden immer wieder Bedenken wegen seiner Tätigkeit im „Dritten Reich“ geäußert.102 Vermutlich noch mehr ins Gewicht fiel der Umstand, dass man ihm Parteinahme für die SED vorwarf, und zwar seinen Parteieintritt, nicht aber den Austritt registrierte. Die „östliche Färbung“ seiner Vorträge wurde scharf kritisiert. Angesichts seiner verbalen Anpassungen war dies in dieser Zeit zu erwarten gewesen.103 Petersen selbst konstatierte, dass anscheinend alle Ostdeutschen 95 96 97 98 99 100 101 102 103

Vertragsentwurf, Bremen 24.1.1948, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Paulmann an Petersen vom 8.4.1948; Petersen an Paulmann vom 21.4.1948, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 188f.; UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 71r–85r. Petersen an das luxemburgische Erziehungsministerium vom 9.2.1950, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 542; Petersen an den Chief E&Cr Branch Office of the Land Commissioner München vom 1.11.1950, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p.; UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 71r. Briefwechsel mit Erzinger und Fischer, PPAV, Mappe: 13a, n.p. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 540, 548. Thyssen an Petersen vom 3.2.1951; Pädagogisches Institut Stuttgart an Petersen vom 8.11. und 6.12.1950, PPAV, Ordner: Briefwechsel, Bd. XI, n.p.; Petersen an Thyssen vom 20.12.1950, PPAV, Ordner: Briefwechsel PP ÕThyssen, n.p. Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 342; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 541.

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leichthin als Kommunisten diffamiert würden.104 Die frühzeitige und zunächst viel versprechende und produktive Zusammenarbeit mit der SMAD und KPD/ SED konnte im Zuge der wachsenden Spannungen zwischen Ost und West zu einer erheblichen „Vorbelastung“ werden. Es scheint nicht so, als ob Petersen zu der Einsicht fähig gewesen wäre, dass es sein eigenes Verhalten war, das ihn suspekt erscheinen ließ. Resignierend, aber auch mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, konstatierte er, es fände sich für ihn kein Platz in Westdeutschland, denn es sei schwer, ihn neben sich zu haben, weil er ein festes Programm wolle und mitbringe. Sein Lebenswerk sei der wesentliche Hinderungsgrund.105 Dies war angesichts seines vehementen Eintretens für alternative und innovative, aber umstrittene Formen der Lehrer- und Schülerbildung gewiss wahr, doch ignorierte er andere, mindestens ebenso wichtige Gründe für das reservierte Verhalten. Petersen war doppelt unbequem geworden, eine potentielle Belastung, doch warum, das konnte und wollte er nicht erkennen. Ein Wechsel nach Westdeutschland, wie er ihm in der DDR mit harten Worten nahe gelegt wurde, wäre nur als Privatmann oder in untergeordneter Stellung möglich gewesen. Dazu war er nicht bereit, selbst nachdem seine Wirkungsmöglichkeiten in der SBZ/ DDR praktisch nicht mehr existierten.106 Bis kurz vor seinem Tod tröstete er sich damit, dass sein Schulmodell in Westdeutschland und Finnland weiter praktiziert wurde, und äußerte die Hoffnung, dass eine deutsche Wiedervereinigung bald möglich sei.107 VOM BÜNDNISPARTNER ZUM AUßENSEITER – DAS SCHEITERN PETERSENS IN DER SBZ Das Scheitern Petersens war kein geradliniger Prozess. Die SMATh sah in ihm bis 1948 trotz einer gewissen Reserviertheit einen Ansprechpartner, mit dem eine Kooperation möglich und hilfreich sei.108 Dieses Verhalten korrespondierte mit dem generell relativ moderaten Verhalten der sowjetischen Organe, so lange gesamtdeutsche Optionen noch nicht ausgeschlossen wurden. Mit der Eskalation des Ost-West-Konflikts änderte sich dies zunehmend.109 Petersen erweckte nach außen bis 1948 den Eindruck, dass seine Vorstellungen zur akademischen Lehrerbildung weitestgehend zur Durchsetzung kamen.110 Die Konflikte, die zu seiner weitgehenden Ausgrenzung führten, entzündeten sich 1947 und verstärkt ab 1948 eher als innerdeutsche Entwicklungen. Die SED war bis zu diesem Zeitpunkt an den Hochschulen wenig verankert, bemühte sich jedoch, ihre Kontrolle auszubauen. Dies geschah unter anderem durch eine wachsende Zahl von Repressionsmaßnahmen. Auch Jena war betroffen, wo sich 104 Petersen an Döpp-Vorwald vom 9.11.1948, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald. 105 Petersen an Caselman vom 21.8.1951, PPAV, Ordner: Briefwechsel, Bd. XI, n.p. 106 Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 346–350. 107 Petersen an Thyssen vom 7.1.1952, PPAV, Ordner: Briefwechsel PP ÕThyssen, n.p. 108 Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 19f.; Retter, Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 541, 560. 109 John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 64, 83. 110 Petersen an Thyssen vom 26.5.1947 und 16.4.1948, PPAV, Ordner: Briefwechsel PP ÕThyssen, n.p.

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besonders die ideologischen, pädagogischen und persönlichen Konflikte zwischen Petersen und dem ehemaligen KZ-Häftling Hans Brumme, der der Sozialpädagogischen Fakultät als Lehrbeauftragter beigetreten war und die SED-Linie energisch vertrat, zuspitzten. Es war vor allem Brumme, der Petersens NS-konforme Schriften ins Feld führte und ab 1947 belastendes Material sammelte. Erstmals wurde überlegt, Petersen, den Brumme als „Faschist“ diffamierte, das Dekanat zu nehmen.111 Brumme und Oestreich waren jedoch nicht die einzigen, die Petersens Vergangenheit gegen ihn ins Feld führten.112 Sein undiplomatisches Verhalten gegenüber Professoren, die keine reguläre Karriere gemacht hatten, erleichterte die Situation nicht.113 Walter Wolf ging zunehmend auf Distanz, die ehemaligen Verbündeten zerstritten sich zudem während der gescheiterten Habilitationsbemühungen Wolfs.114 Der Parteiaustritt Petersens Mitte 1948 ist im Zusammenhang mit diesem Streit zu sehen. Nicht zu Unrecht beklagte er, er sei Ziel einer diffamierenden Kampagne einiger Genossen und bezeichnete sich als „Vorkämpfer für die soziale und bildungsmäßige Hebung der Volksschule und ihrer Lehrerschaft, für eine Neue Erziehung“. Dies war ohne Zweifel ernst gemeint und angesichts einiger seiner innovativen Ideen und Bemühungen um ein individualistisches Schulsystem nicht ohne Berechtigung. Dass er jedoch sein Schrifttum seit „über 30 Jahren“ ohne nennenswerten Bruch zwischen 1933 und 1945 als Beweis für dieses Selbstbild anführte, war angesichts etlicher Äußerungen im „Dritten Reich“ ein deutlicher Beleg für seine mangelnde Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion.115 Die SED wollte den Austritt nicht anerkennen und eröffnete ein Ausschlussverfahren.116 Verschärfend nicht nur für Petersens Position wirkte sich der Wechsel im thüringischen Volksbildungsministerium aus. Wolf wurden seine früheren Kontakte zu Petersen vorgeworfen, zugleich war sein Sturz Resultat der gelegentlich widerspenstigen Haltung gegenüber Zentralisierungsbemühungen der DZVV. Möglicherweise war Wolfs Absetzung auch Folge der zunehmenden Dominanz der Exilfraktion der SED gegenüber den Untergrundkommunisten, obwohl auch seine Nachfolgerin Marie Torhorst während des „Dritten Reiches“ im Untergrund gearbeitet hatte und Repressionen ausgesetzt gewesen war. Unter Marie Torhorst wurde die Vorgehensweise in der Hochschulpolitik zunehmend verschärft, die Parteivorgaben immer strikter umgesetzt. Die SED war nicht mehr bereit, ihre relative Schwäche hinzunehmen. Kampagnen gegen „bürgerliche“ oder oppositionelle Universitätsmitglieder und Studenten, ihre Absetzung, Verhaftung oder Flucht in die Westzonen waren sichtbares Zeugnis für die

111 John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 64f.; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 515–520; Retter: Petersen (wie Anm. 6), S. 54–63; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 313f. Vgl. auch das Schreiben Wandels an die Volksbildungsministerien der SBZ vom 9.1.1948 in: John/Faludi: „Trennende” (wie Anm. 8), S. 155f. 112 Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 190f. 113 ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3249, Bl. 419r. 114 Eckardt: „Welt“ (wie Anm. 8), S. 1940–1950; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 511– 514; ders.: Petersen (wie Anm. 6), S. 59f. 115 Petersen an den Landesvorstand der SED vom 4.5.1948, Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 332f. 116 Kreisvorstand der SED an Petersen vom 3.6.1948, PPAV, Ordner: Zu Peter Petersen, n.p.

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Eskalation. In Jena zeigte sich dies etwa in der Rektorenkrise und im Umgang mit dem prominenten Professor Hans Leisegang oder missliebigen Studentenvertretern.117 Petersen und „seine“ Fakultät waren von dieser Entwicklung ebenfalls betroffen. Auch er persönlich geriet ins Visier. Die Zurückverlegung der philosophischen und philologischen Lehrstühle in die Philosophie und die Übertragung der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen an die gleichnamige Fakultät wurden in interessanter Personalisierung als „Zerschlagung“ der Fakultät Petersens bezeichnet. Die Umstrukturierung wurde damit gerechtfertigt, dass die Fakultät sich so voll und ganz auf die Pädagogik konzentrieren könne.118 In Wahrheit hatte sie damit erheblich an Bedeutung verloren und entfernte sich von Petersens Entwürfen der ersten Nachkriegsjahre. Im Oktober 1948 verlor Petersen das Dekanat.119 Eine Entlassung wurde ins Auge gefasst, doch um einen „zweiten Fall Leisegang“ zu vermeiden sollte zuvor sein wissenschaftlicher Ruf erschüttert werden.120 Die Sorge vor propagandistischen Nachteilen war nicht grundlos. Die Ereignisse in Jena wurden polemisch aufgeladen und verbunden mit persönlichen Diffamierungen in Westdeutschland publiziert.121 Auch nach Petersens Absetzung als Dekan wurde er als Fremdkörper angesehen, wenngleich seine Position in der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt erst 1950 marginalisiert wurde.122 In der SED-Dozentenfraktion wurde das Ziel formuliert, den „Nimbus Petersens“ zu zerstören. Jedoch zögerte man weiterhin, ihn endgültig zu entfernen, weil propagandistische Nachteile durch eine erneute Professorenentlassung zu befürchten waren. Die Position der Partei erschien immer noch nicht gefestigt.123 Petersen wurde die Emeritierung nahe gelegt, was er jedoch ausschloss.124 Auch wenn es zur Entlassung nicht kam, wurde er zunehmend ins Abseits gedrängt. Seine Themenwahl für Vorlesungen wurde überwacht und beschnitten, seine Prüfungsbefugnisse eingeschränkt. Nur wenige Studenten kamen zu seinen Veranstaltungen. Die

117 Robert Gramsch: Vom Mut, „Dinge zu sagen, die unmöglich sind“. Studentenvertretungen an der Jenaer Universität 1945 bis 1949, in: Hoßfeld/Kaiser/Mestrup: Hochschule (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 152–171; John: „Einheit“ (wie Anm. 8), S. 66f., 73–76, 80–84, 93, 99f.; Tobias Kaiser: Universitätskrise und Hochschulreform. Konflikte an der Universität Jena um 1950, in: Hoßfeld/Kaiser/Mestrup: Hochschule (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 152–171, hier S. 153–158. Zu Leisegang siehe auch Klaus-M. Kodalle (Hg.): Philosophie eines Unangepassten. Hans Leisegang, Würzburg 2003; Eckardt Mesch: Hans Leisegang. Leben und Werk, Erlangen/Jena 1999, S. 146–206 – dort mit Vorwürfen gegen Petersen. Zu Torhorst Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 148; zum Lebenslauf Marie Torhorst: Pfarrerstochter – Pädagogin – Kommunistin. Aus dem Leben der Schwestern Adelheid und Marie Torhorst, Berlin 1986. 118 ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3412, Bl. 189r–190r. 119 UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 69r. 120 Retter: Petersen (wie Anm. 6), S. 315f. 121 ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3249, Bl. 354r–359r. 122 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 546f. 123 Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 45f.; Aktennotiz vom 1.2.1949 zur Sitzung der SEDDozentenfraktion der Pädagogischen Fakultät, PPAV, Mappe 1: Peter Petersen persönlich, n.p. (Reproduktion in: Ingeborg Maschmann: Hamburg – Jena – Lüneburg 1921 bis 1950. Meine pädagogische Lebensreise im „Zeitalter der Extreme“, Norderstedt 2010, S. 373). 124 Petersen an Döpp-Vorwald vom 31.5.1951, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald.

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meisten blieben – wahrscheinlich weil sie Nachteile fürchteten – fern.125 Dennoch blieb Petersen bis zu seinem Tod Professor mit Lehrstuhl.126 Vor diesem Hintergrund ist schwer verständlich, dass Petersen noch 1949 schrieb, er hoffe, die Ernte eines 30jährigen Schulkampfes einfahren zu können.127 Vielleicht meinte er den relativen Erfolg der Universitätsschule, lag aber wie so oft mit seiner Einschätzung falsch. Auch in diesem Falle verschärften sich die Differenzen schrittweise, jedoch keineswegs geradlinig. Im Zuge der Formierung des ostdeutschen Staates kam den Schulen eine wachsende Bedeutung zu. Wie die Universitäten wurden sie zunehmend in die Frontstellungen des Kalten Krieges und der gesellschaftlichen Umgestaltung einbezogen. Die Arbeit der SED-Jugendorganisationen, die Petersen seinen pädagogischen Vorstellungen folgend aus dem Schulalltag heraushalten wollte, wurde zunehmend als integraler Bestandteil der Bildungsarbeit betrachtet. Die Universitätsschule geriet zudem unter Rechtfertigungsdruck, weil sie in der Lehrerbildung nicht die zentrale Rolle spielte, die Petersen ihr zugedacht hatte. Der Jena-Plan wurde nicht mehr als breitenwirksame Handlungsoption betrachtet. So blieb die Universitätsschule eine Versuchseinrichtung für ein Modell, das wie die gesamte Reformpädagogik zunehmend als Relikt betrachtet wurde.128 Auch andere reformpädagogische Schulen wurden schrittweise aufgelöst. Zudem gab es in Jena wachsende Konflikte um knappe Ressourcen wie Lehrraum. Scheinbar im Widerspruch dazu wurde die Universitätsschule um eine Oberstufe erweitert.129 Der SED-Dozentenführer der Pädagogischen Fakultät forderte bereits Anfang 1949, die Universitätsschule zu „vernichten“. Ihre Pädagogik stamme aus einem liberalistischen Zeitalter, sie sei Hort der Reaktion.130 Eine Überprüfung der Schule kritisierte Ende 1949 die Effektivität des Lehrbetriebs, ausgehend von Vorstellungen einer eher traditionellen Form der Unterrichtsgestaltung. Bemängelt wurden in besonderem Maße das Fehlen von Wandzeitungen, modernem Bildschmuck und Parolen sowie das praktisch nicht vorhandene politische Leben. Man kritisierte das Fehlen von Gegenwartskunde und moderner Literatur. Es gäbe keine FDJ-Gruppe, weniger als ein Zehntel der Schüler seien Pioniere, und diese würden kaum eingesetzt. Gefordert wurde die Unterstellung der Schule unter das Volksbildungsministerium, eine Überprüfung der Lehrkräfte, die Reduzierung von Gruppenarbeit und Feiern, die Einführung von Gegenwartskunde sowie eine Überprüfung der Stoffverteilungspläne. Dies wäre eine tief greifende Umgestaltung gewesen. Dazu war Petersen nicht bereit, wie ein Bericht vom Juli 1950 belegt, der neben Defiziten bei der Unterrichtsgestaltung vor allem mangelhafte Kenntnisse in Gegenwartskunde im Sinne der SED

125 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 547f.; Petersen an Thyssen vom 7.1.1952, PPAV, Ordner: Briefwechsel PP Õ Thyssen, n.p.; Petersen an Döpp-Vorwald vom 4.5.1941, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald. 126 UAJ, Best. D, Nr. 3196, Bl. 144r. 127 UAJ, Best. V, Abt. II, Nr. 1, Bl. 3r–4r. 128 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 504, 558–561; Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 152f., 159–178. 129 Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 105–109, 112–118. 130 Aktennotiz vom 1.2.1949 zur Sitzung der SED-Dozentenfraktion der Pädagogischen Fakultät, PPAV, Mappe 1: Peter Petersen persönlich, n.p.

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konstatierte.131 Inzwischen war die Schule dem Ministerium unterstellt worden, was einen direkten Zugriff vereinfachte, doch noch Mitte 1950 machte sich Petersen Hoffnungen, den Schulbetrieb fortführen zu können. Die verbalen Anpassungsleistungen an den Sprachgebrauch der DDR waren wahrscheinlich in diesem Zusammenhang zu sehen.132 Am 8. August 1950 wurde die Schließung der Universitätsschule angeordnet.133 Drei Tage darauf rechtfertigte Ministerin Torhorst die Entscheidung gegenüber den Eltern der Schüler. Sie nannte die Schule ein „reaktionäres, politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik“, eine Insel in der antifaschistisch-demokratischen Ordnung, die die Pionierbewegung weitestgehend ausschließe, sich nicht an den politischen Auseinandersetzungen und dem Kampf um den Frieden beteiligen wolle. Ihre Neutralität sei Verrat. Petersen sei ein Mann der Experimente und Forschung, doch für praktische Schularbeit unter den neuen Bedingungen ungeeignet. Auch die Durchführung religiöser Feiern wurde kritisiert. Den Unmut vieler der anwesenden Eltern ignorierte man.134 Für die Schließung spielte eine Vielzahl von Motiven eine Rolle. Es wäre vereinfachend, die politisch-ideologischen Faktoren zu stark zurückzustellen, doch ebenso wenig kann man die Ereignisse in erster Linie im Kontext einer von Anfang an zielstrebigen Machtentfaltung der SED interpretieren.135 Petersens Weigerung, die Schule „auf Linie“ zu bringen, war zweifelsohne ein wesentlicher Grund, ebenso waren es Platzkonflikte mit anderen Schulen, die geltend machen konnten, dass sie die staatlichen Vorgaben besser erfüllten. Die Schule, wie Petersen sie verstand, widersprach didaktisch wie politisch-ideologisch den Vorstellungen der neuen Machthaber, und konnte im Sinne des beanspruchten Deutungs- und Gestaltungsmonopols nicht auf Tolerierung hoffen. Doch die Rede von Marie Torhorst enthüllte neben ideologischer Engstirnigkeit und Intoleranz ein wesentliches Kernelement der auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ praktizierten Denkart. Wer sich „neutral“ im totalen, wenngleich nicht direkt militärisch ausgetragenen Systemkonflikt verhielt, für den gab es weder Verständnis, noch einen Platz. Dies galt auch für eine individualistische und im Kern unpolitische Schule wie die Petersens, die in ihrem Tagesbetrieb Formen praktizierte, die mit dem politischen und gesellschaftlichen „Gegner“ assoziiert wurden. Als die Universitätsschule geschlossen wurde, war die Erste Berlinkrise erst seit einem Jahr vorüber und es standen sich atomar gerüstete Streitkräfte kampfbereit gegenüber. Nur zwei Monate zuvor hatte der Kalte Krieg durch den Beginn des Koreakrieges eine wachsende Eskalation erfahren. Petersens Verhalten im „Dritten Reich“ beziehungsweise die wie auch immer geartete Position seiner Schule im Nationalsozialismus spielten hingegen keine entscheidende Rolle, beeinflussten jedoch das negative Urteil über ihn und den Jena-Plan.136 131 132 133 134

ThHStAW, LTh-MfV Nr. 3249, Bl. 97r, 309r+v. Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 104; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 562f. ThHStAW, LTh-MfV, Nr. 3413, Bl. 78r. Elternversammlung der Universitätsschule in der Aula der Universität vom 11.8.1950, PPAV, Mappe: 15b, eingelegte Mappe 15a, n.p. 135 Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 11–13; Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 534f., 558ff. 136 Retter: Petersen (wie Anm. 6), S. 312–315.

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Innerlich hatte sich Petersen spätestens ab Ende 1948 von seinen zeitweiligen Bundesgenossen distanziert. Er beklagte die wachsende Dominanz der materialistischen Weltanschauung, die Verhaftungen und Bespitzelungen im Alltag, später, wieder mit kulturrassistischem Unterton, die „Angleichung an den Osten“ oder „Russifizierung“, gegen welche die Westmächte nichts täten. Seine Gleichsetzung mit den Zuständen vor 1945, das Bild von der „Kulturschande ohnegleichen“, eines nie da gewesenen schlechten Umgangs mit den Besiegten, war falsch, wenngleich in der deutschen Selbsteinschätzung verbreitet. Walter Wolf und Hans Brumme bedachte Petersen mit Hasstiraden, die angesichts der sehr unterschiedlichen Schicksale und Verhaltensweisen im „Dritten Reich“ mehr als ungerecht erschienen.137 Die Einschätzung, totalitäre Staaten würden ihn nicht lieben, war angesichts seines sehr ambivalenten Verhaltens eine Selbststilisierung als Opfer.138 Wie sehr der Ost-WestKonflikt die Sichtweise auf Petersen prägen konnte, bewies die propagandistische Instrumentalisierung der Schließung der Universitätsschule in Westdeutschland. Nun, angesichts der Auflösung durch die „fanatische und beschränkte sowjetische Agentin“ Torhorst, wurde an die internationale Beachtung einer der bedeutendsten pädagogischen Versuchsschulen Deutschlands erinnert.139 In dem Moment, wo man den Umgang mit Petersen oder der Universitätsschule nutzen konnte um den Gegner zu diffamieren, waren frühere negative Urteile vergessen. Als Petersen 1952 starb,140 war er mit seinen hochfliegenden Plänen vollkommen gescheitert. Bereits in seinem Todesjahr wurden an den meisten Pädagogischen Fakultäten keine Studenten mehr immatrikuliert, 1955 folgte ihre Auflösung.141 ZWISCHEN NEUBEGINN UND SCHEITERN, ANPASSUNG UND KONTINUITÄT – VERSUCH EINER EINORDNUNG Ein Versuch, Petersens Wirken nach 1945 zu beurteilen, erfordert eine Berücksichtigung der Situation. Es wäre falsch, Petersen zum „Volkserzieher in zwei Regimen“142 zu stempeln. Eine solche Formulierung birgt nicht nur die Gefahr, unbeabsichtigt eine Gleichartigkeit der SED- und der NS-Diktatur zu implizieren, was abwegig wäre. Die ersten Jahre der Nachkriegsära, in denen man von einer tragenden Mitwirkung oder zumindest Perspektive Petersens sprechen konnte, lagen vor der Verfestigung 137 Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 343; Petersen an Döpp-Vorwald vom 9.11.1948, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald; Petersen an Berger vom 2.4.1948 und 5.12.1951, PPAV, Ordner: IX Uni Bremen, n.p.; Petersen an Erzinger vom 24.4.1951, PPAV, Mappe: 13a, n.p. Für eher kulturell als im Sinne der NS-Rassehierarchie besetzte Vorurteile Petersens spricht, dass er schon 1941 die „Verostung“ in Deutschland beklagte, womit er die um sich greifende Korruption meinte. Dazu Petersen an Döpp-Vorwald vom 4.5.1941, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich Döpp-Vorwald. 138 Petersen an Döpp-Vorwald vom 31.5.1951, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald. 139 Sommerfeld: Petersen (wie Anm. 2), S. 295. 140 Kluge: Petersen (wie Anm. 2), S. 351. 141 Mitzenheim: Pädagogen (wie Anm. 94), S. 107. 142 Frank Döbert: Peter Petersen – “Volkserzieher“ in zwei Regimen, in: OTZ vom 24.1.2010.

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der SED-Herrschaft.1949 war Petersen weitestgehend gescheitert, obwohl er sich das nicht eingestehen wollte. „Volkserzieher“ konnte man ihn in seiner Position in der zunehmend mit Misstrauen betrachteten Universitätsschule oder im Universitätsbetrieb kaum nennen. Eine hypothetische Einschränkung ist jedoch notwendig. Geschichte ist keine Wissenschaft des was-wäre-wenn, allerdings ist nahe liegend, dass sich Petersen, wenn ihm Wirkungsmöglichkeiten geboten worden wären, über den zeitlich begrenzten „Flirt“ hinaus mit der DDR arrangiert hätte – wahrscheinlich jedoch nicht um jeden Preis. Kritik an Petersens Verhalten und Strategie nach 1945 ist dennoch gerechtfertigt. Ähnlich wie 1933143 war er bereit, für die Realisierung seiner Ziele rhetorisch Ergebenheit zu bekunden und über erste Einschränkungen anderer hinwegzusehen. Er war bereit, sich im Dienst seiner Ziele einer Ideologie anzudienen und als deren Fürsprecher aufzutreten, die eigentlich nicht die seine war und deren autoritären Elemente immer deutlicher wurden. Wie 1933 hatten „seine Pläne“ und „seine Schule“ für ihn Priorität. Sowohl die Entnazifizierung als auch die Reformen beurteilte er danach, wie sie seine Pläne beförderten oder hinderten. Eine Notwendigkeit, sein Verhalten und seine Tätigkeit vor 1945 in Frage zu stellen, sah er nicht. Er erkannte nicht, dass Entnazifizierung und staatliche Eingriffe in das Schulwesen der SBZ trotz ihres Missbrauches auch vor dem Hintergrund des eben erst beendeten Krieges und der NS-Diktatur zu sehen waren. Sein Feindbild blieb das alte. Es war die „Reaktion“, die schon zuvor seine Pläne durchkreuzt hatte. Unrechtsempfinden für sein Verhalten kannte er weder in Bezug auf die Vergangenheit noch in der Gegenwart. Mitunter fand er klare Worte über die Verantwortung der Eliten, die man beim Gros der 1933–1945 im Lande gebliebenen Professoren vermisste. Auf sich selbst bezog er diese Worte nicht. Seine NS-Analyse blieb Stückwerk, eine Auseinandersetzung mit dem Vergangenen erschien ihm nicht wesentlich. Immer wieder fiel er hinter seine eigenen Äußerungen zurück in Selbstmitleid oder in eine Unterteilung des Nationalsozialismus in „gute“ und „schlechte“ Elemente.144 Ob aber die Einschätzung seiner Haltung als „Kritik an Hitler von rechts“145 korrekt ist, bleibt höchst fraglich. Wenn Petersen von Veränderungen in der „weissen Rasse“ sprach, in der Tat ein sehr problematisches Verhalten, dann meinte er wohl unter anderem die hohe Zahl an Kriegstoten.146 Für Petersen bedeutete Neuanfang die Durchsetzung dessen, womit er zuvor gescheitert war, nicht aber den Bruch mit der Vergangenheit. Schließlich gab es aus seiner Sicht nichts, was er falsch gemacht haben könnte. Ihm ging es um Kontinuität. Einerseits war dies eine Stärke Petersens, ließ aber andererseits sein Handeln 143 Die Vergleichsperspektive wurde in Bezug auf das Verhaltensmuster Petersens gewählt. Es sei ausdrücklich betont, dass sich die NS- und die SED-Diktatur erheblich unterschieden. 144 Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 119–128; Benjamin Ortmeyer: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Hermann Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Basel/Weinheim 2009, S. 436ff. 145 So Benjamin Ortmeyer in: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Thüringen u.a. (Hg.): Dokumente der Auseinandersetzung zur Umbenennung des Peter-Petersen-Platzes in Jena. November 2010 – Dezember 2010, Jena 2011, S. 55. 146 Petersen an Döpp-Vorwald vom 11.2.1950, PPAV, Ordner: Briefwechsel mit Heinrich DöppVorwald.

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moralisch sehr problematisch erscheinen. Es war gerade seine Anpassungsfähigkeit, die ihn suspekt erscheinen ließ. In der SBZ erwies sich seine verbale Anbiederung bei Beharren auf seinen pädagogischen Vorstellungen von einer nichtstaatlichen unpolitischen und individualistischen Schule als nicht ausreichend, als sich die politische und pädagogische Gangart verschärfte. Was Petersen wollte, war mit der zunehmenden Ausrichtung nach sowjetischem Vorbild und der staatssozialistischen Umformung nicht kompatibel. Trotz Petersens Anpassungsbemühungen erscheint jedoch die Verwendung von Steigerungsformen wie „hochgradiger“ oder „OberOpportunist“147 für seine Charakterisierung zumindest nach 1945 als unzutreffend. Ein „Ober-Opportunist“ hätte nicht den „Fehler“ begangen, nach Möglichkeit Pioniere und FDJ aus der Universitätsschule herauszuhalten und den Unterricht nicht voll der dominierenden politischen Linie anzupassen. Petersens Opportunismus und Anbiederung nach 1945 hatten dort Grenzen, wo es um Kernelemente seiner Pädagogik ging. So war es fast unvermeidlich, dass das zeitweilige Bündnis beide Seiten nicht zufrieden stellte. Die Gründe dafür lagen auch in der Verschärfung des Kalten Krieges. Eine relativ „neutrale“ Position der Schule war im totalen Wettstreit der Systeme nicht mehr statthaft.148 Persönliche Faktoren trugen zu Petersens Scheitern bei. Im Wunsch die „Ernte einzubringen“, agierte er wiederholt undiplomatisch, machte sich Feinde, trat arrogant auf oder wurde so wahrgenommen. Einfühlungsvermögen in seine Kritiker oder situationsbedingte Probleme brachte er selten auf. So scheiterte er, nicht zwangsläufig, aber unter der sich vollziehenden Entwicklung schließlich folgerichtig. Man kondolierte nach seinem Tode, doch in der Wissenschaftslandschaft der DDR blieb Petersen ein Fremdkörper und wurde deshalb vielfach übergangen oder abgetan.149 Dies ging bis zu der Unterstellung, seine Pädagogik hätte geholfen, dem „Faschismus“ den Weg zu bereiten beziehungsweise habe mit diesem erhebliche Schnittmengen,150 ein Standpunkt, der auch in der modernen Petersen-Kritik mitunter vertreten wird.151

147 So Benjamin Ortmeyer und Gisela Horn: GEW Thüringen, Dokumente (wie Anm. 145), S. 253, 265. 148 Stöver: Krieg (wie Anm. 10), S. 21f. 149 Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2), S. 566f.; Dudek: Petersen (wie Anm. 2), S. 15; Paul Mitzenheim: Zur politischen und pädagogischen Funktion der ideologisch-theoretischen Konzeption von Peter Petersen bei der Verwirklichung des Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule vom 12.6.1946, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena/Thüringen 26 (1977), Hf. 2, S. 259–268. 150 Karl Heinz Günther u. a.: Geschichte der Erziehung, erweiterte und verbesserte Auflage, Berlin 1960, S. 455; vgl. auch Ausführungen zur Dissertation von Dorothea Dietrich, die fordert jede Spur des Jena-Plans auszumerzen, PPAV, Mappe: 15b, n.p. 151 Ortmeyer: Mythos (wie Anm. 144), S. 295–302.

Will Lütgert DIE REZEPTION DES JENAPLANS UND DER PETERSEN-PÄDAGOGIK IN DER BUNDESREPUBLIK ZWISCHEN 1952 UND 1990 EINLEITUNG Um die Bedeutung der Rezeption des Jenaplans und der Petersen-Pädagogik – man müsste im Sinne Petersens hinzufügen: auch seiner Erziehungswissenschaft – umfassend einschätzen zu können, dürfte man sich nicht – wie mit dem Thema dieses Aufsatzes vorgegeben – nur auf das Gebiet der Bundesrepublik und auch nicht nur auf die Zeit zwischen Petersens Tod und der Vereinigung beider deutscher Staaten beschränken. Man müsste auch die Rezeption in der SBZ/DDR, in den Niederlanden und – für die Zeit nach der Wende – in den östlichen und westlichen Bundesländern aufarbeiten. Das kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden. Ich werde mich deshalb beschränken und im Rahmen des Themas auch nur exemplarisch zeigen, wie die Rezeption des Jenaplans und des wissenschaftlichen Oeuvres von Petersen in der Bundesrepublik zwischen 1952 bis 1990/92 im Wesentlichen von zwei großen Intentionen getragen wurde. Die eine Intention geht auf die Bemühungen der Petersen-Schüler und deren Schüler zurück – ich übernehme im Folgenden für sie den von Torsten Schwan geprägten Begriff des Petersen-Kreises –, ihrem akademischen Lehrer den ihm aus ihrer Sicht gebührenden Platz in der deutschen Pädagogikgeschichte zu sichern. Die andere Intention ist von dem – im großen Stil erst seit den 1970er Jahren erkennbaren – Bemühen getragen, die Rollen und Funktionen kritisch aufzuklären, die führende Vertreter der deutschen Erziehungswissenschaft während der Zeit des Nationalsozialismus übernommen hatten. Die Rezeption des Werkes Petersens in der Bundesrepublik ist am gründlichsten von Torsten Schwan1 und von seinem akademischen Lehrer Hein Retter2 erforscht 1

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Torsten Schwan: Die Petersen-Rezeption 1948 bis 1984 in der Bundesrepublik. Vergessene Geschichte als Schlüssel zur sogenannten Petersen-Debatte in der bundesdeutschen Pädagogik, in: Andreas Pehnke/Gabriele Förster/Wolfgang Schneider (Hg.): Anregungen international verwirklichter Reformpädagogik. Traditionen, Bilanzen, Visionen, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S.656–684; ders.: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1960. Die Darstellung und Resonanz Peter Petersens und des Jenaplans im Spannungsfeld von Pädagogik und Schulreform (= Braunschweiger Arbeiten zur Schulpädagogik 17), Braunschweig 2000; ders: Die „Kernzeit“ der Petersen-Debatte in der bundesdeutschen Pädagogik 1989 bis 1992. Prolegomena zu einer historischen Verortung, in: Pädagogische Rundschau 54 (2000), S. 285–303; ders.: Petersens Entpolitisierung durch seine Schüler und Anhänger in der deutschen Nachkriegspädagogik, in: Hein Retter (Hg.): Reformpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn/Obb. 2004, S. 186–208; ders: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1984. Die Jenaplan-Pädagogik zwischen „defensiver Rezeption“ und einsetzender „Petersen-Kritik“, Frankfurt a.M. u.a. 2007. Hein Retter: Theologie, Pädagogik und Religionspädagogik bei Peter Petersen, Weinheim 1995;

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worden (siehe auch Ofenbach3 und Keim4 ). Ohne Schwans Arbeiten hätte dieser Text nicht geschrieben werden können. Schwan hat zur Rekonstruktion der PetersenRezeption eine Phasierung vorgeschlagen, die, seinem Forschungsinteresse folgend, sehr feinkörnig angelegt ist, um die Verästelungen dieser Rezeption möglichst vollständig aufzuzeigen. Meinem oben genannten Darstellungsinteresse folgend, wird meine Phasierung grobkörniger ausfallen. Ich unterscheide im Folgenden eine (Vor-)Phase der Rezeption, die Petersen selbst, in Passagen seines posthum veröffentlichten dritten Bandes der Erziehungswissenschaft, vorgenommen hat.5 Diese – der Rezeption durch Dritte vorauslaufende – Phase zu berücksichtigen, erscheint mir notwendig, weil Petersen in seinem letzten Buch nicht nur sein theoretisches Konzept der Erziehungswissenschaft neu justiert, sondern auch den Nationalsozialismus – und indirekt auch sein Wirken in ihm – bewertet hat. Die Publizistik der Petersen-Schüler in der Bundesrepublik ist durch die Interpretationen ihres Mentors stark bestimmt worden. Eine erste – in sich gegliederte – Phase der Rezeption durch Dritte setze ich zwischen Petersens Tod (1952) und dem Gedenken an seinen 80. Geburtstag 1964 an: Diese Phase – die zunächst vielstimmig verlief – wurde zu ihrem Ende hin fast ausschließlich von Petersens Schülern in dem Bemühen dominiert, ihrem akademischen Lehrer den ihm aus ihrer Sicht verweigerten Platz im wissenschaftlichen und schulpraktischen Diskurs der Bundesrepublik zu sichern. Eine zweite Phase setze ich zwischen dem Ende der 60er Jahre und dem 100. Geburtstag Petersens im Jahre 1984 an: Sie ist eine Übergangsphase. Die apologetischen Rezeptionsmuster der Petersen-Schüler bestimmten auch in dieser Phase die Publikationen. Der Diskurs öffnete sich jedoch. Wissenschaftler jenseits der Jenaer Schülerschaft interessierten sich für Teilaspekte der Erziehungstheorie Petersens, der Tatsachenforschung und des Jenaplans, um ihre eigenen Konzepte weiter zu entwickeln. Generell fragten die Autoren der 1970er Jahre aber noch nicht nach den biographischen und politischen Kontexten des Petersen-Oeuvres. Die dritte von mir gesetzte Phase reicht von 1984 bis zu einem „Höhepunkt“ der Petersen-Kontroverse in der Bundesrepublik in den Jahren 1989 bis 1992: Diese Phase ist einerseits gekennzeichnet durch eine sich ausdifferenzierende Biographieforschung zur Person Petersen, die für ihre Analysen neben den gedruckten Schriften

3 4 5

ders. (Hg.): Reformpädagogik zwischen Rekonstruktion, Kritik und Verständigung. Beiträge zur Pädagogik Peter Petersens, Weinheim 1996; ders. (Hg.): Peter Petersen und der Jenaplan. Von der Weimarer Republik bis zur Nachkriegszeit. Berichte – Briefe –Dokumente, Weinheim 1996; ders.: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens, Frankfurt a.M. u.a. 2007; ders.: Die Universitätsschule Jena. Zufluchtsort für bedrohte Kinder im Nationalsozialismus. Zugleich eine Kritik der Fragwürdigkeiten jüngster „Petersen-Forschung“ (= Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte 13), Jena 2010; ders./Alexandra Schotte (Hg.): Klassische Reformpädagogik im aktuellen Diskurs (= Pädagogische Reform 12), Jena 2010. Birgit Ofenbach: Petersen-Pädagogik im Streit der Meinungen. Eine fehlende Gesamtausgabe und die Folgen, in: Pädagogische Rundschau 44 (1990), S. 603–618. Wolfgang Keim: Zur Reformpädagogik-Rezeption in den alten Bundesländern. Phasen – Funktionen –Probleme, in: Pädagogik und Schulalltag 47 (1992), S. 124–138. Peter Petersen: Der Mensch in der Erziehungswirklichkeit. (= Allgemeine Erziehungswissenschaft 3), Mülheim/Ruhr 1954 (Repr. der Erstausg. Weinheim/Basel 1984).

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auch auf umfangreiches Archivmaterial zurückgegriffen hat. Sie ist anderseits eingebettet in eine Kontroverse der Zunft der Erziehungswissenschaftler zur Kontinuität und Diskontinuität ihrer Denkmuster vor, in und nach der NS-Zeit. Eine Analyse der Rezeptionslinien des Jenaplans darf diesen Plan nicht nur als Bestandteil einer theoretisch begründeten (Schul-)Pädagogik und Erziehungswissenschaft begreifen, sondern muss auch seine Rezeption als Konstruktion von Praxis einschließen. Beide Formen der Rezeption sind nicht unabhängig voneinander zu verstehen, aber Rezeption bedeutet in beiden Fällen etwas Unterschiedliches. Die Analyse der Rezeption des Jenaplans als Bestandteil eines umfassenden pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Konzepts versucht, die Spannungen und den Wandel von Interpretationen des wissenschaftlichen, bildungspolitischen und auch pädagogischen Gehalts des Jenaplans – und seiner begründenden Schriften – als Text und als Kontext in einem geschichtlichen Zeitabschnitt zu erfassen – diese Analyse bezieht sich auf Diskurse. Die Analyse der Rezeption des Jenaplans als Konstruktion von Praxis beschäftigt sich hingegen mit den Formen des schulischen Umgangs mit dem Jenaplan, die zwischen Werktreue und verschiedenen Arten der Weiterentwicklung schwanken können.6 Zu diesem Thema liegt für den in diesem Aufsatz vorgegebenen Zeitabschnitt leider nur wenig systematisch auswertbare Literatur vor. Da der Jenaplan als Konzept zur Konstruktion schulischer Praxis jedoch ebenso bedeutsam ist wie es die Diskurse sind, die Wissenschaftler und Praktiker über die Bedeutung und Begründung dieses Schulplans geführt haben, werden einige Hinweise zur Rezeption des Jenaplans als Konstruktion von Praxis diesen Aufsatz abschließen. VORPHASE Es gibt Hinweise darauf, dass sich Petersen vor Ende des Zweiten Weltkrieges der kulturellen, politischen und menschlichen Katastrophe des Nationalsozialismus bewusst war. Dies zeigt sich unter anderem an der teilweise schon vor 1945 vorgenommenen Revision seiner Anthropologie, die er endgültig im dritten Band der Allgemeinen Erziehungswissenschaft ausgearbeitet hat.7 Noch im zweiten Band dieser Reihe mit dem Titel „Der Ursprung der Pädagogik“8 war Petersen in seiner Erziehungsmetaphysik von dem Axiom ausgegangen, der Mensch sei „von Natur aus gut“.9 Diese Position gab er unter dem Eindruck der letzten Weltkriegsjahre auf, indem er das „Satanische“ als anthropologische Gegenkategorie zum Axiom des „von Natur aus gut“ einführte und den Dual des „homo religiosus“ und des „homo satanicus“ entwickelte.10 6 7 8 9 10

Will Lütgert: Die Permanenz des Jenaplans, in: Ralf Koerrenz/Will Lütgert (Hg.): Jena-Plan. Über die Schulpädagogik hinaus, Weinheim/Basel 2001, S. 145–158. Petersen: Mensch (wie Anm. 5). Peter Petersen: Der Ursprung der Pädagogik (= Allgemeine Erziehungswissenschaft 2), Berlin 1931 (Reprint der Erstausgabe Berlin 1964). Ebd., S. 100ff. Petersen: Mensch (wie Anm. 5), S. 147ff, insb. S. 188ff.

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Wie in früheren Publikationen versah Petersen auch im dritten Band der Allgemeinen Erziehungswissenschaft seine theoretischen Überlegungen mit Bemerkungen zur politischen Situation seiner Zeit. Zwei dieser Bemerkungen greife ich heraus, um zu prüfen, ob die anthropologische Revision auch eine Revision seiner politischen Einstellungen zur Folge hatte. Die erste Bemerkung bezieht sich auf die Einrichtung deutscher Konzentrationslager, die zweite Bemerkung trifft die folgenreiche Unterscheidung zwischen einem eher gutmütigen Nationalsozialismus und einem satanischen Nazismus. Als Beispiel für die „Rasereien eines ungebundenen und mit Macht ausgerüsteten Vernunftfanatismus“ beklagte Petersen die „erste Anwendung der Konzentrationslager im Burenkriege (um 1900)“ und die Errichtung von Konzentrationslagern in Deutschland in der ersten Hälfte der 1940er Jahre. Was – so insinuierte Petersen – uns am Geschehen in deutschen Konzentrationslagern an „Abgründen des Menschentums schaudern“ lässt, hat ein historisches Vorbild und ist die Folge eines Unrechts von welthistorischer Dimension am deutschen Volk: „Seit der Versailler Vertrag es der Welt zum ersten Male seit Karthagos Fall wieder vormachte, daß der Besiegte jenseits des internationalen Rechts wie der sittlichen Normen und der gesellschaftlich guten Sitte zu behandeln sei, daß man ihm außerdem kein Versprechen zu halten brauche, hat diese satanische Neuerung im Verkehr der Völker miteinander in erschreckendem Maße Schule gemacht.“

Petersen verurteilte die deutschen Konzentrationslager als „Schandfleck der Menschheit“, er begründete ihre Existenz aber in einem kausal-historischen Vergleich mit einer „satanische[n] Neuerung im Verkehr der Völker“, an der die Siegermächte des Ersten Weltkrieges eine wesentliche Schuld auf sich geladen hätten. Mit dieser Interpretation benannte und verurteilte Petersen die machtpolitisch motivierte „Satanie“ der Nationalsozialisten, aber er relativierte sie gleichzeitig.11 Der hier vorgenommenen Interpretation hätte Petersen widersprochen, denn in seiner Semantik muss man einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Nationalsozialismus machen, der „als Lockmittel und Aushängeschild“ diente, „um auch die besser Gesinnten und feinere Gemüter zu betören“ und dem „teuflischen Nazismus“, der das Gegenteil von dem bewirkte, „was sein kompiliertes Programm verhieß“. Historische Schuld an der Vernichtung „einer Kultur von tausend Jahren“, an der fundamentalen Erschütterung des Volkslebens „in seinen Grundlagen“ und an der Tatsache, dass „das deutsche Volk rassisch verunreinigt und aufgelöst (sic!)“ sei, trage eine Gruppe „satanischer Menschen, die sich im Führerkorps des Nationalsozialismus zusammenfanden [. . . ]. Unter ihnen wandelte sich der Nationalsozialismus zum teuflischen Nazismus.“12 Mit dieser begrifflichen Differenzierung wollte – und aus seiner Sicht: konnte – Petersen sich selbst freistellen von NS-Unterstützerschaft, weil er sich unschuldig fühlte, an der nazistischen Satanie mitgewirkt zu haben. Diese Form der Selbstrezeption übte auf die Rezeption der politischen Rolle Petersens zwischen 1933 und 1945 durch seine akademischen Schüler eine nachhaltige Wirkung aus. Sie erlaubte es, die Werke Petersens „immanent“ auszulegen und die politischen Bezüge seiner Schriften zu marginalisieren. 11 12

Ebd., S.177f. Ebd., S. 196.

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PHASE 1: 1952–1964 Nach dem Tode Petersens bildete der Kreis seiner Schüler und Schüler-Schüler einen relativ homogenen Verbund. Er war durch sein Bezugswissen und seine Motivationen geeint, muss aber in seiner Rezeption von Petersens Werk differenziert betrachtet werden.13 Das betrifft insbesondere das Rezeptionszentrum Lüneburg (Ingeborg Maschmann). Vom Petersenkreis sind die Wissenschaftler und Praktiker zu unterscheiden, die diesem Kreis wissenschaftlich und schulpraktisch ferner standen, sich aber mit unterschiedlichen Absichten und mit unterschiedlicher Intensität mit Petersen und dem Jenaplan auseinandersetzten.14 Das Bemühen der Mitglieder des Petersenkreises, die eigene Sicht von der Bedeutung ihres akademischen Lehrers durch Publikationen im Bereich der Erziehungswissenschaft und der Schulpraxis zur Geltung zu bringen, ist umso verständlicher, als die einflussreichen Universitäts-Kollegen Herman Nohl, Theodor Litt, Eduard Spranger, Erich Weniger und Wilhelm Flitner Petersens Werk nach dem Krieg durch weitgehende Nichtbeachtung „straften“. Petersen hatte in den 1930er Jahren deren erziehungswissenschaftliche Grundlegungen als „Bildungspädagogik“ und „pädagogischen Idealismus“ scharf kritisiert. Er grenzte davon seine eigene „Pädagogik der Erziehung“ und seinen „pädagogischen Realismus“ als einzig zukunftsfähige erziehungswissenschaftliche und schulpraktische Konzepte ab.15 Die „schweigende“ Haltung der geisteswissenschaftlichen Pädagogen übertrug sich weitgehend auch auf deren akademische Schüler, die meist schon in den 1950er Jahren die bedeutendsten Lehrstühle an den Universitäten der Bundesrepublik besetzten. Eine solche Kommunikationsverweigerung behinderte den akademischen Diskurs, aber sie verhinderte nicht die rege Auseinandersetzung mit dem Jenaplan und dem Lebenslauf Petersens in bildungspolitischen und schulreformerisch interessierten Kreisen. Bedrohlich für die Absichten des Petersen-Kreises wurde erst die bundesdeutsche Entwicklung der Jenaplan-Schulen. Helmut Chiout16 zählte Mitte der 1950er Jahre noch 64 Schulen, die nach dem Jenaplan arbeiteten beziehungsweise „Jenaplan-inspiriert“ waren. Diese Zahl sank im Laufe der zweiten Hälfte der 1950er und der frühen 1960er Jahre auf etwa ein halbes Dutzend. Strukturell war dies der zunehmenden Auflösung von kleinen Dorfschulen und der Gründung von Mittelpunktschulen auf dem Lande und später der Aufteilung der Volkschulen in Grund- und Hauptschulen geschuldet. Um das „Schweigen“ im vorherrschenden geisteswissenschaftlichen Diskurs der deutschen Erziehungswissenschaft zu durchbrechen und um die Abnahme der bildungspolitischen und schulpraktischen Bedeutung des Jenaplans zu Beginn der 1960er Jahre publizistisch zu überdecken, steigerten die Mitglieder des PetersenKreises die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, allerdings weitgehend 13 14 15 16

Ofenbach: Petersen-Pädagogik (wie Anm. 3) und Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm.1), S. 37–62. Schwan: Petersen-Rezeption 1948 bis 1984 (wie Anm. 1), S.659–665. Peter Petersen: Pädagogik (= Die philosophischen Hauptgebiete in Grundrissen 4), Berlin 1932, S. 42ff. Helmut Chiout: Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland. Neue Wege und Inhalte in der Volksschule, Dortmund 1955.

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für einen inneren Zirkel von Rezipienten, ohne große Resonanz nach außen. Symptomatisch ist der Band zu Petersens 80. Geburtstag, zu dem erst in der zweiten Auflage 24 Autoren aus dem Petersen-Kreis Beiträge lieferten.17 Eine Durchsicht zeigt, dass die Autoren ein allzu bruchloses Bild der Biographie Petersens während der NS-Zeit zeichneten sowie Petersens Einfluss auf die Erziehungswissenschaft und die Schulreform in der Bundesrepublik weit überschätzten. Eine distanzierte biographische oder schulpädagogische Forschung wurde nicht geleistet.18 PHASE 2: 1964–1984 Die zweite, wiederum in sich gegliederte Phase der Petersen-Rezeption zwischen 1964 und 1984 stellt einen Übergang dar. Es fand eine Öffnung der Rezeptionsmuster statt. Erziehungswissenschaftler und Schulpraktiker, die sich bisher nicht am Diskurs um die Pädagogik und Erziehungswissenschaft Petersens beteiligt hatten, interessierten sich für Teilaspekte des Jenaplans, der Tatsachenforschung und der Erziehungstheorie Petersens.19 Insbesondere Benners Verdienst besteht darin, mit einer höchst anspruchsvollen Analyse der Tatsachenforschung und des Konzepts der Pädagogischen Situation einen neuen unterrichtstheoretischen Rahmen für eine differenzierte Darstellung des Jenaplans als Konzept der Schulentwicklung und der Unterrichtsforschung entwickelt zu haben.20 Vom Kreis der Petersen-Schüler wurden insbesondere von den Rezeptionszentren Münster und Gießen die alten Positionen aufrecht erhalten. Das zeigen insbesondere vier Dissertationen, die in Münster bei Heinrich Döpp-Vorwald entstanden.21 Sie 17 18 19

20 21

Hans Mieskes/Helmut Möller/Albrecht Timm: Peter Petersen. Wirken und Werk, Bonn u.a 2 1966. Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S. 220–236. Für die Grundschulpädagogik Erwin Schwarz: Peter Petersen und sein Werk, in: Westermanns Pädagogische Beiträge 21 (1969), S. 175–176; für die Organisation der Stammgruppen im Vergleich zu Jahrgangsklassen Karlheinz Ingenkamp: Zur Problematik der Jahrgangsklasse, Weinheim u.a. 1969; für die Tatsachenforschung Dietrich Benner: Unterrichtstheoretische Pädagogik bei P. Petersen, in: ders.: Hauptströmungen der Erziehungswissenschaft, München 1973, S. 159–177; Horst Ruprecht: Peter Petersen, in: ders.: Einführung in die empirische pädagogische Forschung. Bad Heilbrunn/Obb. 1974, S. 59–72; Hans Merkens: Die pädagogische Tatsachenforschung Else und Peter Petersens als Beispiel empirischer Unterrichtsforschung, in: Zeitschrift für Pädagogik 21 (1975), S. 835–842. Vgl. hierzu die Hinweise bei Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S. 300– 303. Wilhelm Kosse: Erziehung als Sinnverwirklichung. Untersuchungen zur Erziehungsmetaphysik Peter Petersens, Oberursel/Taunus 1964; Theodor F. Klaßen: Die Bildungsgrundformen Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier im Jena-Plan Peter Petersens, Diss. Phil. Münster 1969; Dieter Höltershinken: Das personalistische Erziehungsverständnis im Werke Martin Bubers, Romano Guardinis und Peter Petersens. Eine vergleichende Untersuchung, Diss. Phil. Münster 1970; veröffentlicht als: Anthropologische Grundlagen personalistischer Erziehungslehren. M. Buber, R. Guardini, P. Petersen. Eine vergleichende Untersuchung, Weinheim/Basel 1971; Thea Gerlach: Zur Problemgeschichte des Einheitsschulgedankens in der deutschen Pädagogik seit der Jahrhundertwende. Seine wichtigsten Vertreter: Wilhelm Rein, Johannes Tews, Paul Oestreich, Heinrich Schulz, Peter Petersen (unter besonderer Berücksichtigung ihrer weltanschaulichen Grundpositionen), Diss. Phil. Münster 1973.

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gingen insgesamt von einer immanenten Werkbetrachtung der Erziehungstheorie Petersens und seines Jenaplans aus, obwohl Dieter Höltershinken in einer früheren Veröffentlichung22 zumindest als Aufgabe eine historische Erschließung des Werks Petersens eingefordert hatte. So blieben „politische Implikationen und der zeitgeschichtliche Hintergrund der Entstehung von Petersens Werk [. . . ] erneut außerhalb des Horizonts.“23 Einen völlig neuen Impuls für die Rezeption der Petersen-Pädagogik setzte Karl Christoph Lingelbach.24 Seine Dissertation ließ die in den 1960er und 1970er Jahren vorherrschende immanente Rekonstruktion des Petersen-Oeuvres zum ersten Mal in der erziehungswissenschaftlichen Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus hinter sich und stellte das Gesamtwerk in den umfassenden Kontext der Analyse von „Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland“. Auf dieser Grundlage entwickelte er das methodologische und methodische Instrumentarium für eine gesellschaftskritische Analyse der Biographie und des Werks Petersens. Der in späteren Diskussionen ausführlich begründete Gedanke der Antimoderne als Leitidee in Petersens Werk leuchtete zum ersten Mal auf. Lingelbachs kritischer Zugriff auf die Disziplin- und Professionsgeschichte blieb jedoch für lange Zeit eine Ausnahme. Die Zunft nahm diesen Ansatz erst in seiner umfassenden Bedeutung wahr, als der Autor in die kontroversen Diskussionen um Petersens NS-Vergangenheit Ende der 1980er Jahre eingriff. Historisch undifferenzierter, aber nach der Anzahl der Zitationen breitenwirksamer als Lingelbach, versuchte Heinz-Joachim Heydorn25 den politischen Hintergrund der Erziehungstheorie Petersens auszuleuchten.26 Für Heydorn war der Jenaer Erziehungswissenschaftler und Schulreformer der „Fabrikateur einer faschistischen Bildungsideologie“.27 Betrachtet man den Heydornschen Angriff auf Petersens Oeuvre im Ganzen, fällt auf, dass seine Rezeption strukturell Ähnlichkeiten mit der Rezeption der Petersen-Schüler aufweist – nur dass die Vorzeichen ausgewechselt waren: Petersen wurde von beiden Seiten mit der Metapher einer konsistent handelnden Persönlichkeit beschrieben, von der einen Seite als Schöpfer einer „Pädagogik der Mitmenschlichkeit“,28 von der anderen Seite als „spätkapitalistischer Rousseau“.29 22 23 24

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Dieter Höltershinken: Peter Petersen. Erziehungswissenschaft und pädagogische Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Pädagogik 15 (1969), S. 347–356. Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S.277; zum Kontext ebd., S.275ff. Karl-Christoph Lingelbach: Erziehung und Erziehungstheorien im nationalsozialistischen Deutschland. Ursprünge und Wandlungen der 1933–1945 in Deutschland vorherrschenden erziehungstheoretischen Strömungen. Ihre politischen Funktionen und ihr Verhältnis zur außerschulischen Erziehungspraxis des Dritten Reiches. Weinheim/Basel 1970 – Überarbeitete Zweitausgabe (= Band 6 der Sozialhistorischen Untersuchungen zur Reformpädagogik und Erwachsenenbildung), Frankfurt a.M. 1987. Heinz-Joachim Heydorn: Industrielle Revolution. Fluchtversuche, in: ders.: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, Frankfurt a.M. 1970, S. 218–271. Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S. 318ff. Heydorn: Revolution (wie Anm. 25), S.237. Theodor F. Klaßen/Ehrenhard Skiera (Hg.): Pädagogik der Mitmenschlichkeit. Beiträge zum Petersen-Jahr 1984, Heinsberg 1984. Heydorn: Revolution (wie Anm. 25), S. 236.

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In den beginnenden 1980er Jahren änderte sich das gesellschaftliche, wissenschaftliche und praktisch-pädagogische Interesse an der Reformpädagogik.30 Dieser Vorgang ist vielschichtig und muss in verschiedenen Dimensionen erklärt werden: Die ökonomischen Krisen der 1970er Jahre schlugen auf den Bildungssektor durch. Die allgemeine Politik wechselte im Bund von sozialliberal zu christlich-demokratischliberal. Die Bildungspolitik in wichtigen Bundesländern machte einen Schwenk: Die Reformen der 1970er Jahre, insbesondere die Entwicklungen der Gesamtschulpädagogik, stießen an ihre Grenzen, ohne dass breitenwirksam implementierbare Reformalternativen zur Verfügung gestanden hätten. In dieser Situation entwickelte sich „eine Tendenz zur Rückbesinnung auf pädagogische Traditionen und dabei insbesondere auf die Reformpädagogik, von der man sich [. . . ] in den 60er Jahren abkoppeln zu können glaubte.“31 Die Rezeption praktischer Konzepte schloss die Pädagogik der Jenaplan-Schulen mit ein, bezog sich aber auch auf andere Reformkonzepte wie die Waldorf-Pädagogik, die Freinet- und die Montessori-Pädagogik und auf die jüngeren Formen der „Alternativen Pädagogik“. Aus der Fülle der sich jetzt entwickelnden Ratgeberliteratur im Jenaplan-Kontext sei exemplarisch auf das Buch von Reinhard Stach, Werner G. Mayer und Peter Meyer32 verwiesen, die ein praxisbezogenes Lese- und Arbeitsbuch zur Pädagogik Peter Petersens veröffentlichten oder auf Karlheinz Willführ,33 der den Schulalltag der von ihm geleiteten Jenaplan-Schule in Steinau-Ulmbach skizzierte. Ganze Universitätsseminare pilgerten nach Holland, um die dortige breite Jenaplan-Praxis von mehr als 200 Schulen zu studieren.34 In diesem gegenüber der Reformpädagogik freundlichen Klima formierte sich auch der Petersen-Kreis neu. Eigene Institutionen wurden gegründet: im Oktober 1980 die Jenaplan-Forschungsstelle an der Universität Gießen, 1981 die Peter-PetersenNachlassgesellschaft mit Sitz in Vechta und im März 1982 der „Arbeitskreis Peter Petersen“. Folge war eine vermehrte Veröffentlichungstätigkeit und damit eine Vergrößerung der Rezeptionsangebote, und – wirkungsvoller noch als die Publizistik – die Unterstützung von Schulen, die sich zu Jenaplan-Schulen entwickeln wollten. PHASE 3: 1984–1990/92 Sieht man von der frühen Arbeit Lingelbachs ab, darf man das Petersen-Gedenkjahr 1984 als Beginn einer neuen – im engeren Sinn wissenschaftlichen – Beschäftigung mit dem Oeuvre Petersens bezeichnen. Die derart geprägte Petersen-Rezeption geht auf Studien aus drei Sammelbänden zurück.35 30 31 32 33 34 35

Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S. 338–350. Karl-Heinz Sander: Aspekte der inneren Schulreform. Das Modell Jenaplan-Schule, in: Pädagogische Welt 38 (1984), S. 299. Reinhard Stach/Werner G. Mayer/Peter Meyer (Hg.): Zusammen lernen – Zusammen leben. Eine praxisbezogene Einführung in die Pädagogik Peter Petersens, Heinsberg 1984. Karlheinz Willführ: Individualisierung und Differenzierung. Ein Beispiel aus der Jenaplanschule Steinau-Ulmbach, in: Grundschule 13 (1981), S. 202ff. Kurt Liebenberg: Unsere Schule ist für Kinder da. Eindrücke von einer Jena-Plan-Schule in den Niederlanden, in: betrifft:erziehung 16 (1983), S. 59–63. Klaßen/Skiera: Pädagogik (wie Anm. 28); Christian Salzmann (Hg.): Die Sprache der Reformpädagogik als Problem ihrer Reaktualisierung. Dargestellt am Beispiel von Peter Petersen und Adolf

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Ein erster für die Petersen-Rezeption in Deutschland, vor allem aber in den Niederlanden entscheidender Impuls ging von Suus Freudenthal-Lutter aus.36 Ihr Aufsatz in dem Sammelband von Theodor Klaßen und Ehrenhard Skiera wurde stark beachtet.37 Freudenthal-Lutter entwarf mit einer doppelten Stoßrichtung eine internationale Perspektive auf das Wirken Petersens. Die erste Stoßrichtung war für die damalige Rezeption erfrischend neu: Petersen wurde als offener Weltbürger dargestellt, der unverbrüchlich mit den Reformbewegungen in Europa und Nordamerika verbunden war. Damit erschloss Freudenthal-Lutter eine Dimension des Wirkens von Petersen, die die Forschung bis dahin vernachlässigt hatte. Die zweite Stoßrichtung kennen wir aus der Rezeptionsgeschichte des Petersen-Kreises: die Verharmlosung beziehungsweise Dethematisierung der Beziehungen Petersens zum Nationalsozialismus: Der Jenaer Erziehungswissenschaftler wurde von der Autorin als ein in Deutschland von den Nazis Gefangener stilisiert, der „als die Welt, dessen wissenschaftlicher Bürger er war, sich ab 1933 von Deutschland abwandte, [. . . ] seine internationalen Verbindungen verlor [. . . ].“38 Mit der Figur des Opfers konnte Freudenthal-Lutter alle unangenehmen Rückfragen zu Petersens Stellung im Nationalsozialismus abwehren. Gegen diese und andere Verdrängungsmechanismen, die 1984 noch virulent waren, wehrten sich die Autoren in dem Sammelband von Maschmann/Oelkers, insbesondere die Herausgeber selbst.39 Ingeborg Maschmann und Jürgen Oelkers öffneten eine bisher vom Petersen-Kreis fest verschlossene Tür der Rezeption: Sie bezeichneten klar die Verstrickungen Petersens in den Nationalsozialismus und erklärten diese mit einer antimodernen und nationalen Grundhaltung sowie mit politischer Naivität. Dieses Konstrukt entfaltete in der späteren Debatte einerseits eine umfassende kontroverse Wirksamkeit, andererseits wurde es, wegen fehlender Quellenbelege abgewiesen.40 Oelkers rekonstruierte in seinem „mit Abstand komplexesten Artikel des Sammelbandes“41 zusätzlich einen für Petersen möglicherweise kennzeichnenden institutionstheoretischen Gedanken, der Reformpädagogik und Staatsschule verbindet und als besondere Leistung des Jenaplans für die allgemeine Schulentwicklung gelten sollte. Dieser Gedanke vermag die uns heute irritierenden hartnäckigen Anstrengungen Petersens erklären, den Jenaplan sowohl im „Dritten Reich“ als auch in der SBZ/DDR in das schulische Normalsystem zu implementieren. Nach Oelkers erkannte Petersen, „daß alle Bemühung um Schulreform scheitern muß, wenn sie nicht wirksame Paradigmen für die Staatsschule bereitstellt.“ Darin „liegt eine Pointe der Jenaplan-Schule, denn Petersen begreift, daß alle ‚neueuropäische Erziehungsbewegung‘ vergeblich sein wird, wenn das staatliche Schulwesen nicht verändert wird.“42

36 37 38 39 40 41 42

Reichwein, Heinsberg 1987; Ingeborg Maschmann/Jürgen Oelkers (Hg.): Peter Petersen. Beiträge zur Schulpädagogik und Erziehungsphilosophie, Heinsberg 1985. Susan J. Freudenthal-Lutter: Peter Petersens Beziehungen zu ausländischen Reformpädagogen und Reformbewegungen, in: Klaßen/Skiera: Pädagogik (wie Anm. 28), S. 43–97. Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S. 359–362. Freudenthal-Lutter: Beziehungen (wie Anm. 36), S. 60. Maschmann/Oelkers (Hg.): Schulpädagogik (wie Anm. 35). Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S.363–378. Ebd., S.378. Jürgen Oelkers: Petersen und die Reformpädagogik, in: Maschmann/Oelkers: Petersen (wie Anm.

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Freudenthal-Lutter und Maschmann/Oelkers erschlossenen der Petersen-Forschung neue Fragestellungen, die aber weitgehend noch historisch belegt werden mussten. Einen weiteren Beitrag zum Gedenkjahr 1984 lieferten Peter Kaßner und Hans Scheuerl.43 Sie fügten ein eigentlich für historische Forschungen selbstverständliches, in der Petersen-Rezeption bis dahin aber nicht immer gewährleistetes methodisches Element in den Diskurs ein: Sie stellten für sich den Anspruch auf, „nur auf solche aktenkundigen und quellenmäßig belegten Fakten und Zusammenhänge“ in der Analyse von Petersens Handeln und Denken zurückzugehen, „die für unsere Fragestellung etwas herzugeben versprechen.“44 Mit ihrem Abriss von Petersens Biographie lieferten sie eine Grundlage für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die versucht, den Zirkel von unkritisch tradierten Rezeptionsmustern zu durchbrechen. In den anschließenden Jahren 1986 bis 1988 weitete sich die Beschäftigung mit einzelnen reformpädagogischen Positionen zu Grundsatzdebatten über die Inhalte und Methoden erziehungswissenschaftlicher Historiographie aus. Diese Debatten sind als Vorläufer zur großen Petersen-Kontroverse von 1989 bis 1992 zu verstehen. Ein wichtiger Debattenteil wurde zunächst auf der einen Seite von Hans-Jochen Gamm45 und auf der anderen Seite von Heinz-Elmar Tenorth46 geprägt. Die Kontrahenten beschäftigten sich mit der disziplingeschichtlichen Frage nach der Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität erziehungswissenschaftlicher Denkmuster vor und nach 1933 sowie vor und nach 1945. Tenorth hatte im Hinblick auf die besagten Denkmuster postuliert, „daß bei aller Kontinuität von Elementen doch Diskontinuität die Figuration im ganzen kennzeichnet.“47 Er belegte seine These unter anderem mit der großflächigen Auswechslung des pädagogischen Personals zwischen 1933 und 1940 und mit den damit verbundenen grundlegenden Transformationen pädagogischer Denkmuster. „Die Pädagogik von 1933 bis 1945 repräsentiert eine singuläre historische Figuration, bei Kontinuitäten in Elementen zeigt sie vor allem Diskontinuität der Ideen und Theorien über Erziehung im ganzen.“48 Als „kritischer“ Erziehungswissenschaftler bestand Gamm demgegenüber auf der Grundannahme der Kontinuität einer vor, im und nach dem Nationalsozialismus vom Grundsatz her gleichgearteten bürgerlich-konservativen „Kathederpädagogik“.49 Als weitere Zuspitzung der allgemeinen NS-Debatte sind zwei Sammelbände und ein Aufsatz zu verstehen, die 1988 erschienen.50 Wolfgang Keim entwickelte die

43 44 45 46 47 48 49 50

35), S. 84f. Eine kritische Position zu Oelkers formuliert Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S. 378–385. Peter Kaßner/Hans Scheuerl: Rückblick auf Peter Petersen, sein pädagogisches Denken und Handeln, in: Zeitschrift für Pädagogik 30 (1984), S. 647–661. Ebd., S. 648f. Hans-Jochen Gamm (Hg.): Führung und Verführung. Pädagogik des Nationalsozialismus. Eine Quellensammlung, Frankfurt a.M.; ders.: Kontinuität der Kathederpädagogik oder: Differenzen über faschistische Pädagogik, in: Demokratische Erziehung 13 (1987), S.14–18. Heinz-Elmar Tenorth: Deutsche Erziehungswissenschaft 1930 bis 1945. Aspekte ihres Strukturwandels, in: Zeitschrift für Pädagogik 32 (1986), S.299–321. Ebd., S. 299. Ebd., S. 316. Gamm: Kontinuität (wie Anm. 45). Ulrich Herrmann/Jürgen Oelkers (Hg.): Pädagogik und Nationalsozialismus (= 22. Beiheft der

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These, dass die Geisteswissenschaftliche Pädagogik und andere bürgerliche pädagogische Richtungen aufgrund nationalistischer und staatsautoritärer Denkkategorien anfällig für Programmpunkte des Faschismus gewesen seien. Weiter beklagte er sich über die erziehungswissenschaftliche Geschichtsschreibung, die sich mehr mit den Tätern und weniger mit den Opfern des Faschismus beschäftigt habe. Tenorth hingegen wendete sich gegen eine nicht nur bei Keim zu beobachtende moralisierende Geschichtsbetrachtung zum Nationalsozialismus, die „primär auf der Ebene von Ideologien Differenzen und Affinitäten“ erörtere, „aber die grundlegende und immanente Problematik pädagogischen Denkens“ übersehe, indem sie beispielsweise dem „nationalsozialistischen Erziehungsdenken nicht nur und zu Recht die pädagogische Legitimität, sondern auch die Theoriequalität und zumeist auch den Charakter der Systematik“ abspreche.51 Lingelbach griff solche und in einem früheren Forschungsprogramm formulierten methodologischen Prämissen des (damaligen) Frankfurter Bildungshistorikers an, indem er ihm vorwarf, durch seine von der Systemtheorie Luhmanns inspirierte Geschichtsschreibung nur die Argumentationskonfigurationen, aber keine konkreten Machtkonstellationen und Interessenwidersprüche des Nationalsozialismus in den Blick genommen zu haben. Ein solches Vorgehen rügte Lingelbach als „unkritische Bildungshistorie“.52 Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Kontroverse wendete sich 1989 die Grundsatzdebatte konkret der Petersen-Rezeption zu.53 Kaßner54 hatte seine Interpretation der Petersen-Biographie von 1984 erneut publiziert. Sie war durch jüngere Forschungsergebnisse zwar angereichert, entsprach jedoch vom Grundsatz her dem Tenor der früheren Arbeit. Diese Sichtweise griff Keim an und bezeichnete sie als „unkritische Paraphrasierung“.55 Keim stellte Kaßner mit dem Vorwurf der Hagiographie in die Tradition des Petersen-Kreises.56 Er verschärfte seine Position durch moralische Vorbehalte: „Können Theorien und Konzepte, die 1933 den Faschismus begrüßt und ihm zumindest wohlwollend gegenüber gestanden haben, auch eine demokratische Pädagogik anleiten, und sind diese Pädagogen selbst als Leitbilder der Erziehungswissenschaft wie der praktischen Pädagogik geeignet?“57

51 52 53 54 55 56 57

Zeitschrift für Pädagogik), Weinheim 1988; Wolfgang Keim (Hg.): Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft, Frankfurt a.M. 1988; Karl Christoph Lingelbach: Unkritische Bildungshistorie als sozialwissenschaftlicher Fortschritt?, in: Zeitschrift für Pädagogik 34 (1988), S. 519–534. Heinz-Elmar Tenorth: Wissenschaftliche Pädagogik im nationalsozialistischen Deutschland. Zum Stand ihrer Erforschung, in: Herrmann/Oelkers: Pädagogik (wie Anm. 50), S. 53–84, insb. S. 61. Karl Christoph Lingelbach: Unkritische Bildungshistorie als sozialwissenschaftlicher Fortschritt?, in: Zeitschrift für Pädagogik 34 (1988), S. 519–534. Schwan: „Kernzeit“ (wie Anm. 1), S. 291f. Peter Kaßner: Peter Petersen. Die Negierung der Vernunft?, in: Die Deutsche Schule 81 (1989), S. 117–132. Wolfgang Keim: Peter Petersens Rolle im Nationalsozialismus und die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft. Kritische Anmerkungen zu Peter Kaßners Beitrag in diesem Heft, in: Die Deutsche Schule 81 (1989a), S. 133–145, insb. S. 137. Ebd. S. 133–136. Wolfgang Keim: Noch einmal: Worum es eigentlich geht, in: Die Deutsche Schule 81 (1989b), S.373–376, insb. S. 373.

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Die aufgeheizte Debatte erreichte 1990 den 12. (Bielefelder) Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft mit dem Titel „Bilanz für die Zukunft“. Unter der Leitung von Wolfgang Klafki fand unter dem Titel „Pädagogik und Nationalsozialismus“ eine Podiumsdiskussion statt. Keim, Tenorth und Lingelbach trugen als Referenten ihre aus früheren Veröffentlichungen bekannten kontroversen Argumente vor. Ulrich Herrmann entwickelte in seinem Statement am Beispiel der Rezeption der Petersen-Pädagogik und des Jenaplans allgemeine Rezeptionsregeln, die – wie er hervorhob –, durch Unterscheidung der Bezugsebenen, dazu beitragen sollten, den ausufernden Konflikt innerhalb der Erziehungswissenschaft zu deeskalieren. 58 Er schlug vor, bei der Petersen-Rezeption zwischen den Bezugsebenen (1) der Weltanschauung, (2) der pädagogischen Programmatik und (3) der Unterrichts- und Erziehungspraxis zu unterscheiden. Zu klären sei, wie diese drei Dimensionen zueinander stünden. Herrmann bestritt, dass es methodologisch zulässig sei, einen kausalen Wirkungs- und Bedingungszusammenhang von weltanschaulichen Argumentationen auf die Praxis herzustellen. Aus seiner Sicht würden in der historiographischen Kontroverse der Erziehungswissenschaftler Wirkungszusammenhänge konstruiert, deren Existenz erst zu beweisen wäre. Gegenüber Weltanschauung und pädagogischer Programmatik – so postulierte Herrmann – würde Praxis immer eine Eigenlogik zur Geltung bringen. Insofern wies er insbesondere als Diffamierung zurück, „die heutigen ‚Petersen-Schulen‘ müssten irgendwem Rechenschaft darüber ablegen, durch ihre Unterrichtspraxis keine profaschistische Gesinnungsbildung zu betreiben.“59 Genau den Zusammenhang, den Herrmann in Abrede gestellt hatte, unterstützten tendenziell Dietrich Benner und Herwart Kemper60 in ihrem schon 1989 verfassten Vorwort zu einer geplanten quellenkritischen Neuausgabe des Kleinen Jenaplans – allerdings mit der Einführung einer neuen Bezugsebene. Die Autoren forderten, die Kontroverse über Petersens politische Gesinnungen und deren mögliche Auswirkungen auf die Praxis des Jenaplans zu verlassen und durch eine dritte Perspektive zu ersetzen: durch die kritische Rekonstruktion der Kontinuität und des Wandels der Erziehungstheorie Petersens und deren mögliche Wirkung auf die Praxis des Jenaplans. Dazu analysierten sie die theoretischen Prämissen, die zur Entwicklung des Kleinen Jenaplans geführt hatten, und die wissenschaftlichen Folgen der Umschreibungen, die Petersen während der Zeit des Nationalsozialismus und nach dem Weltkriegsende am Jenaplan vorgenommen hatte. Bei dieser Analyse identifizierten sie einen sogenannten Kategorienfehler in der Grundlegung der Erziehungstheorie. Petersen habe gesellschaftliche Verhältnisse in der Schülergruppe, in der Familie und in der sogenannten Volksgemeinschaft in ontologischen Naturkategorien formuliert und sie damit der Möglichkeit der Gestaltung eines „vernünftigen Zusammenlebens in Staat und Gesellschaft“61 entzogen. Auf eine Kurzformel gebracht: Nach Benner 58

59 60 61

Wolfgang Klafki: Bericht über das Podium „Pädagogik und Nationalsozialismus“, in: Dietrich Benner/Volker Lenhart/Hans-Uwe Otto (Hg.): Bilanz für die Zukunft. Aufgaben, Konzepte und Forschung in der Erziehungswissenschaft (= 25. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik), Weinheim u.a.1990, S.35–55, insb. S.44ff. Ebd., S. 46. Dietrich Benner/Herwart Kemper: Einführung zur Neuausgabe des Kleinen Jena-Plans, Weinheim u.a. 1991. Ebd. S.49.

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und Kemper stand Petersen zur Bewältigung der Komplexität des pädagogischen Geschehens in der Schule keine an Vernunftkategorien orientierte Gesellschaftstheorie zur Verfügung. Deshalb sei er gezwungen gewesen, in Konzeptbildungen auszuweichen, die Irrationalismus als Realismus und aufklärerische Vernunft als menschliche Überheblichkeit umdefinieren. Den Sammelband von Tobias Rülcker und Peter Kassner „Peter Petersen: Antimoderne als Fortschritt?“62 kann man als Abschluss der dritten Rezeptionsphase der Pädagogik Petersens bezeichnen. Er fasste die Kontroversen in den westlichen Ländern der Bundesrepublik zusammen, griff aber noch nicht in die Diskussionen der östlichen Bundesländer ein, die seit der Wende durch eine ReformpädagogikRenaissance geprägt waren. Der Band vereinigt Autoren, die zu Beginn der 1990er Jahre als Proponenten des Jenaplans und der Erziehungswissenschaft Petersens galten, mit Autoren, die zu den Kritikern Petersens gezählt wurden. Theodor Klaßen63 arbeitete in seinem Aufsatz den Beitrag Petersens zur neueuropäischen Erziehungsbewegung heraus, betonte also im Sinne von Suus FreudenthalLutter den internationalen Petersen. Harald Ludwig64 analysierte Petersens konstruktiven Umgang mit der pädagogischen Tradition am Beispiel der Rezeption Fröbels. Birgit Ofenbach65 lobte in einen historischen Vergleich der Schulkonzepte von Peter Petersen, Hermann Lietz und Berthold Otto die „kreative Entfaltung in der Lebensgemeinschaft“ und Rudolf Lassahn66 charakterisierte unter dem Titel „Tateinheiten bewegen den Geist“ die Bedeutung und Geschichte der Gemeinschaft als soziale Form bei Petersen. Insbesondere Lassahn und Ofenbach sprachen in ihren Werkanalysen Petersen frei von aller Nähe zum Nationalsozialismus: „In der Gemeinschaftsvorstellung Petersens gibt es kein ‚Aufgehen des Individuums‘ in der Gemeinschaft, kein Erlöschen oder eine Nivellierung der Persönlichkeit, keinen Grundsatz ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘.“67 Es gebe zwar in Petersens Schriften Zeittendenzen und politische Bezüge, aber – so urteilte Ofenbach – „[die] Kritik an Zeittendenzen und Politik berührt nicht die Grundlegung; wo zum Teil die Theorie kritisiert wurde, verfehlte diese Kritik im Kern das Denken von Petersen. Seine pädagogische Theorie kann in unserem Jahrhundert als ein Paradigma dafür angesehen werden, daß im guten aristotelischen Sinne in der Praxis nichts erfolgreicher sei als eine gute Theorie.“68 62 63 64 65 66 67 68

Tobias Rülcker/Peter Kassner (Hg.): Peter Petersen. Antimoderne als Fortschritt? Erziehungswissenschaftliche Theorie und pädagogische Praxis vor den Herausforderungen ihrer Zeit, Frankfurt a.M. u.a. 1992. Theodor F. Klaßen: Der Beitrag Peter Petersens zur neueuropäischen Erziehungsbewegung, in: Rülcker/Kaßner: Petersen (wie Anm. 62), S. 51–86. Harald Ludwig: Peter Petersen und Friedrich Fröbel. Aspekte zu Petersens Umgang mit der pädagogischen Tradition, in: Rülcker/Kassner: Petersen (wie Anm. 62), S. 87–123. Birgit Ofenbach: Kreative Entfaltung in der Lebensgemeinschaft. Theorien und Konzeptionen von Lebensgemeinschaftsschulen bei Petersen, Lietz und Otto, in: Rülcker/Kassner: Petersen (wie Anm. 62), S. 125–159. Rudolf Lassahn: Tateinheiten bewegen den Geist. Bedeutung und Geschichte der Gemeinschaft als soziale Form bei Petersen, in: Rülcker/Kaßner: Petersen (wie Anm. 62), S. 161–192. Ebd., S. 189. Ofenbach: Entfaltung (wie Anm. 65), S. 158.

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Eine solche Interpretation der Erziehungstheorie Petersens bestritten Lingelbach und Rülcker. In einer vergleichenden Analyse der Denk- und Handlungsmuster der nationalsozialistischen Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck und Alfred Baeumler, der geisteswissenschaftlichen Pädagogen Eduard Spranger und Wilhelm Flitner sowie des „pädagogischen Realisten“ Peter Petersen arbeitete Lingelbach69 einerseits Petersens theoretische Distanz zur Erziehungslehre Kriecks heraus. Lingelbach differenzierte zwischen der politisch argumentierenden NS-Pädagogik Kriecks und der auf erziehungswissenschaftlicher Begründung beharrenden Pädagogik Petersens: „Kriecks Politisierung der Erziehungswissenschaft beurteilt Petersen [. . . ] kühl als Fehlleistung“.70 Andererseits kritisierte Lingelbach aber Petersens Umdeutung der theologisch begründeten Ständelehre Luthers und Pestalozzis in eine Erziehungstheorie, die „die jeweils vorgefundene Sozial- und Herrschaftsordnung [des Nationalsozialismus,W.L.] hinnimmt, wie sie ist, d.h. unkritisiert läßt.“71 Dadurch wurden nach Lingelbach „die extrem inhumanen Tendenzen der Diktatur“ aus Petersens pädagogischem Denken noch zu einer Zeit verdrängt, „als ihre Auswirkungen im Erziehungswesen selbst bereits unübersehbar wurden.“72 Ähnlich wie Lingelbach warf auch Rülcker73 Petersen vor, dass er für sich und andere ein Bild des Nationalsozialismus entworfen habe, das diesen verharmlose. Dadurch sei Petersen für den Nationalsozialismus brauchbar geworden, weil er einer Lehrerschaft, die nicht völlig auf den Nationalsozialismus eingeschworen gewesen sei, „reformerische schulpädagogische Konzepte“ angeboten habe, „ohne sie in einen Konflikt mit dem NS-System zu bringen.“74 Gewissermaßen zwischen Proponenten und Kritikern stehend analysierte Kaßner „Peter Petersen und sein Bild vom Nationalsozialismus“.75 Zwar habe der Jenaer Pädagoge in den Jahren nach 1933 den Sieg des Nationalsozialismus begrüßt, weil dieser den „rücksichtslosen Intellektualismus“ der Aufklärung und des Idealismus zu durchbrechen versprach. Doch habe Petersen dem Nationalsozialismus durch seine Hervorhebung der Stärkung sittlicher Kräfte, der religiösen Unterweisung, der Tugenden des Dienens und des kindlichen Wachsens und Reifens erziehungswissenschaftlich begründete Konzepte entgegengesetzt, die ihn grundsätzlich von der NS-Weltanschauung unterschieden. Allerdings habe sich Petersen durch seine ideengeschichtliche Position, „die gesamte Geistesgeschichte der Moderne als Sackgasse zu erklären“, in die fatale Lage gebracht, „auch das Instrumentarium über Bord zu werfen, das er für die Analyse des Nationalsozialismus gebraucht hätte“.76 Ohne 69 70 71 72 73 74 75 76

Karl Christoph Lingelbach: Verdrängung politischer Wirklichkeit aus dem pädagogischen Denken. Peter Petersens „Pädagogischer Realismus“ in den erziehungstheoretischen Kontroversen unter der NS-Herrschaft, in: Rülcker/Kaßner: Petersen (wie Anm. 62), S. 285–317. Ebd., S. 301. Ebd., S. 303. Ebd., S. 315. Tobias Rülcker: Erziehung für die Volksgemeinschaft. Die Funktion von Petersens völkischrealistischer Erziehungswissenschaft in der NS-Zeit, in: Rülcker/Kassner: Petersen (wie Anm. 62), S. 193–246. Ebd., S. 241 Peter Kaßner: Peter Petersen und sein Bild vom Nationalsozialismus, in: Rülcker/Kaßner: Petersen (wie Anm. 62), S. 247–284. Ebd., S. 271.

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dieses Instrumentarium habe Petersen ein Bild vom Nationalsozialismus entworfen, „wie er ihn versteht, und beschreibt die Weltanschauung in der Form, wie er sie sieht und realisiert haben möchte“.77 Zieht man eine Summe der diskursiven Rezeption des Jenaplans und der PetersenPädagogik in der Bundesrepublik bis 1990/92, dann stößt man nach einer 40-jährigen Rezeptionsgeschichte immer noch auf zwei Diskurse, deren Teilnehmer sich wechselseitig nur verschwommen wahrnahmen. Mitglieder des Petersen-Kreises feierten den neueuropäischen Erziehungswissenschaftler und den Theoretiker der (Erziehungs-) Gemeinschaft, indem sie kritische Positionen pauschal abwiesen. Wissenschaftler, die Petersen distanzierter gegenüberstanden, beklagten sein Konzept des pädagogischen Realismus, das in seinem Kern, das heißt „in der illusionistischen, metaphysischen Ebene so wertkonservativ“ gewesen sei, „daß moderne Überlegungen in ihm nicht Platz greifen“ konnten78 und Petersen selbst in eine gefährliche Nähe zum Nationalsozialismus gebracht hatten. AUSBLICK – THESEN ZUR REZEPTION DES JENAPLANS ALS KONSTRUKTION VON PRAXIS: Der theoretische Diskurs, der in den vorangehenden Abschnitten rekonstruiert wurde, hat bis zur ersten Hälfte der 1990er Jahre und darüber hinaus einen breiten publizistischen Niederschlag gefunden. Mit dem großen Werk von Hein Retter „Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie“79 steht uns heute – neben vielfältiger Spezialliteratur – ein differenziertes Kompendium an einschlägigen Studien zur Verfügung. Gegenüber dieser Aufarbeitung fallen die Rezeptionslinien des Jenaplans als praktischem Schulkonzept eher dünn aus. Über die verschiedenen Formen der Konstruktion der Jenaplan-Praxis in der Zeit zwischen 1952 und 1990, die im Spannungsfeld von Werktreue einerseits und verschiedenartiger Weiterentwicklung andererseits stehen, verfügen wir nur über spärliche Informationen.80 Wir wissen, dass der Jenaplan in den 1960er und 1970er Jahren keine große Aufmerksamkeit in der bundesrepublikanischen Bildungslandschaft fand. Während in den 1960er Jahren viele Jenaplan-Schulen der allgemeinen Schulentwicklung zum Opfer fielen, waren die 1970er Jahre in der Bundesrepublik durch eine generelle Abstinenz gegenüber den bürgerlichen Traditionslinien der klassischen Reformpädagogik gekennzeichnet. Diese Abstinenz minimierte auch die Verbreitung von JenaplanSchulen. Die Aufmerksamkeit erheischenden Reformmodelle dieser Zeit – Hartmut von Hentigs Bielefelder Schulprojekte (Laborschule und Oberstufen-Kolleg), Oskar Negts Glocksee-Schule und Dietrich Benners Schulversuch in Münster-Gievenbeck (Wartburgschule) – speisten sich aus anderen Quellen: Von Hentigs Schulkonzept schloss an John Deweys „Lernen durch und für Erfahrung“ und an Ivan Illichs „Ent77 78 79 80

Ebd., S. 276. Ebd., S. 270. Retter: Reformpädagogik (wie Anm. 2). Eine wichtige Quelle für die 1980er Jahre ist: Theodor F. Klaßen u.a. (Hg.): Handbuch der reformpädagogischen und alternativen Schulen in Europa, Baltmannsweiler 1990.

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schulung der Schule“ an. In der Glocksee-Schule wurden sozialistische, marxistische und psychoanalytisch inspirierte Autoren wie Otto Rühle, Siegfried Bernfeld, Otto F. Kanitz und Edwin Hoernle gelesen. George Dennisons „First Street School“ und Alexander Neills „Summerhill“ waren die vorbildhaften Schulmodelle. In Dietrich Benners und Jörg Ramsegers Gievenbeck-Schule fanden die modernen AlternativSchulbewegungen Europas größere Resonanz als die deutsche Reformschulbewegung der 1920er und 1930er Jahre. Auch in das großflächige – von Herwig Blankertz inspirierte – Reformprojekt der nordrhein-westfälischen Kollegschulen zur Verknüpfung von allgemeiner und beruflicher Bildung in der Sekundarstufe II sind mehr Anregungen des Deutschen Bildungsrats eingegangen als Anregungen der Arbeitsschulbewegung. Insofern gab es in den 1970er Jahren einerseits ein Bedürfnis nach alternativen Schulmodellen, aber gleichzeitig einen Hang zum Abbruch klassischer reformpädagogischer Handlungsmuster.81 Diese Entwicklung änderte sich erst in den 1980er Jahren. Durch den PetersenKreis unterstützt entwickelte sich zunächst im Raum Köln – über die bekannte Schule in Höhenhaus hinaus, die einst die Jenaplan-Entwicklung in den Niederlanden inspiriert hatte und nun von den Niederlanden inspiriert wurde – eine viel beachtete neue Schulkultur.82 Grundschullehrerinnen und -lehrer entdeckten für sich den Jenaplan als ein pädagogisches Instrument zum – wie wir heute sagen würden – Umgang mit Heterogenität. Durch die Entwicklung der Kölner Industrie wuchs die Zahl der ausländischen (meist türkischen) Kinder in den Schulen, so dass einige Grundschulen in Brennpunktgebieten mit der Unterstützung der örtlichen und regionalen Schulaufsicht – längst bevor der Begriff in der Wissenschaft geprägt wurde – eine individualisierende „Pädagogik der Vielfalt“83 entwickelten. Dieser Reformimpuls wurde auch von anderen Jenaplan-Schulen aufgenommen. Er war inspiriert durch drei pädagogische Vorstrukturierungen, die der Jenaplan als praktisches Konzept anbietet:84 (1) Integration und Differenzierung – dieses schulpädagogische Doppelelement bildet das Fundament der Rezeption des Jenaplans als Praxis. Stammgruppen, Rhythmisierung des Tages, der Woche und des Jahres, Gestaltung des Klassenraums, Arbeit, Feier, Gespräch und Spiel sind die Ausdrucksformen, die den Raum und die Zeit, welche einer Schule als pädagogischer Einrichtung zur Verfügung stehen, in didaktischer Absicht vielfältig strukturieren. Stammgruppen und die vier Bildungsgrundformen sind im Jenaplan gegen einen undifferenzierten Frontalunterricht gerichtet, der nur eine Altersstruktur (die Jahrgangsklasse), nur eine Raumstruktur (die festen Bankreihen) und nur eine Zeitstruktur (die 45-Minutenstunde als Teil des „Fetzenstundenplans“) kennt. An der Jenaer Universitätsschule erlaubten die genannten Vorstrukturierungen die unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und -interessen von Kindern und Jugendlichen zum Lernprinzip zu machen – bei gleichzeitiger sozialer Integration in den altersheterogenen Stammgruppen. An kulturelle Heterogenität hatte Petersen nicht 81 82 83 84

Sander: Aspekte (wie Anm. 31). Will Lütgert/Karin Kleinespel: Petersen-Pädagogik. Feiern an der Grundschule Mülheimer Freiheit. Ein andauerndes Projekt, das das Schulleben verändert, in: Dagmar Hänsel (Hg.): Das Projektbuch Grundschule, Weinheim u.a. 1986, S. 73–84. Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik, Opladen 1993. Lütgert: Permanenz (wie Anm. 6), insb. S. 150ff.

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gedacht. In dieser Hinsicht gehen moderne Formen der Jenaplan-Rezeption als Praxis kühn über das Originalkonzept hinaus. Aber Jenaplan-Schulen von heute können an ein Heterogenitätskonzept anschließen, das Petersen für seine Zeit aus dem Volksschulgedanken ableitete und praktizierte. Dies waren (a) eine Kinder und Jugendliche nicht-beschämende soziale Integration, (b) Anerkennung von Heterogenität sowie (c) eine Vielfalt der Lernwege und der Lernzeiten. Weil mit dem Jenaplan ein sehr viel breiterer Lern- und Erziehungsbegriff in die Schule einkehrt als er unter den didaktischen Bedingungen undifferenzierten Unterrichtens realisiert werden kann, weil Kinder im Wochenplan und in der Arbeit sehr viel Verschiedenes lernen, das sie allerdings in den Feiern, im Gespräch und im Spiel wieder zusammentragen – können sie als Individuen in einer Jenaplan-Schule sehr verschieden sein, ohne den Schulzweck, das systematische Lernen aller Kinder, zu gefährden. (2) Individualisierung und Vergemeinschaftung bilden das zweite Element, das moderne Schulen bei der Rezeption des Jenaplans als Praxis nutzen. Feiern und Gesprächskreise bieten zunächst Raum und Zeit zur Individualisierung. Dem einzelnen Kind geben sie die Möglichkeit, sich darzustellen: Ich oder wir (als kleine Gruppe) haben etwas innerhalb oder außerhalb der Schule in Erfahrung gebracht und wollen es euch, den anderen, die sich dafür interessieren, in der Feier zeigen. Oder: Ich darf als muslimischer Junge im geschützten Raum des Gesprächs meinem Glauben Ausdruck verleihen, auch wenn mein Vater mit mir den Ramadan feiert gegen die westliche Kultur, die in der Regel darauf keine Rücksicht nimmt.85 Gesprächskreise und Feiern dienen umgekehrt auch der Vergemeinschaftung. Sie fördern das Wir-Gefühl aller beteiligten Personen. Den Mitgliedern einer Schule bieten sie die Gelegenheit, sich im gemeinsamen Tun und in der gemeinsamen Verständigung über dieses Tun als Teile einer umfassenden Gemeinschaft zu begreifen, die Schutz und Geborgenheit vermittelt in einer im Übrigen häufig als brüchig erlebten sozialen und politischen Wirklichkeit. (3) Gestaltung des eigenen Schulprofils durch die Schulgemeinde ist das dritte Element der Jenaplan-Praxis, das moderne Schulen nutzen. Mit diesem Anspruch können sie sich insofern auf Petersen berufen, als er schon im ersten Band seiner Allgemeinen Erziehungswissenschaft86 forderte, die freien und allgemeinen Volksschulen seien durch die Familien und die Lehrer in Selbstverwaltung zu übernehmen. Teil des Jenaplans ist es, sich nicht nur in der pädagogischen Schulgestalt, sondern auch in den unterrichtlichen Inhalten so weit von staatlichen Reglementierungen frei zu machen, wie dies die pädagogische Verantwortung der Lehrer und Eltern gebietet. Heute zählt die Gesellschaft für Jenaplan-Pädagogik in Deutschland etwa 40 bis 50 Schulen, die nach den drei genannten Prinzipien des Jenaplans arbeiten. Diese Rezeption ist, je nachdem wie das eigene Schulprofil ausgestaltet ist, vermischt mit anderen klassischen und modernen reformpädagogischen Rezeptionslinien. Dies entspricht durchaus der Tradition des originalen Jenaplans, in den seinerzeit viele verschiedene Elemente der Reformschultradition der 1920er Jahre eingegangen sind. 85 86

Henning Schüler/Will Lütgert/Jürgen Halfar: Schulleben in einer Peter-Petersen-Schule, in: dies.: Reformschulen in der Bundesrepublik Deutschland. 6 Filmsequenzen und Begleithefte, Grünwald bei München 1983–87. Peter Petersen: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin 1924.

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Petersen berief sich ausdrücklich auf den Kapellengedanken und die Stufeneinteilung von Hermann Lietz, auf die Schulgemeinde, die Pädagogische Rückschau und das Kurssystem von Paul Geheeb und er erkannte die Autorschaft des schwierigen Philipp Hördt im Hinblick auf die Bildungsgrundformen an. Eine genauere Analyse des Plans verweist auf weitere Paten: den Lehrgang, die Sonderkurse, den Gesamtunterricht von Berthold Otto, den Schulrahmen und die Lernspiele von Ovide Decroly, die Projektmethode von John Dewey und William Kilpatrick und das arbeitsunterrichtliche Verfahren von Georg Kerschensteiner und Adolphe Ferrière hinsichtlich des gruppenunterrichtlichen Verfahrens.87 Es sind jedoch nicht diese Einzelelemente, die die Rezeption der JenaplanPraxis heute interessant machen. Interessant ist das Schulmodell Petersens in seiner Gesamtheit – wie Jürgen Oelkers es noch 1989 zugestehen konnte – da es „zugleich kind- und schulgerecht“ ist. Es „zeigt, wie der Gegensatz von Kind und Schule aufgelöst und Individuum und Institution in ein widerspruchsarmes Verhältnis gesetzt werden können. Zugleich ist das Modell übertragbar, also nicht an exzeptionelle Bedingungen gebunden.“88 Indem der Jenaplan eine Balance zwischen der Schule als – durch die Gemeinschaft von Schülern, Lehrern und Eltern geprägter – Lebens- und Erfahrungsraum und als Ort systematischen Lernens herstellt, kann seine Rezeption als Konstruktion von Praxis dazu genutzt werden, Schulen heute pädagogisch und institutionell zu modernisieren.

87 88

Hermann Röhrs: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt, Weinheim 3 1991. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim u.a. 1989, S. 120f.

Jürgen John/Michael Retzar/Rüdiger Stutz JENAPLAN-RENAISSANCE, PETERSEN-EHRUNG UND SCHULGRÜNDUNG 1990/91 IN JENA* DIE VORGESCHICHTE IN DER DDR Die Reformpädagogik gehörte – zurückhaltend formuliert – zu den „Stiefkindern“ des Bildungswesens und der pädagogischen Historiographie in der DDR.1 Sie galt als Ausdruck spätbürgerlicher Ideologie und als ungeeignet für das DDR-Bildungssystem. Zunächst sah das noch anders aus. 1945 erschien reformpädagogisches Gedankengut als fortschrittliche pädagogische Alternative zur NS-Vergangenheit. Im „pädagogischen Neubeginn“ der Sowjetischen Besatzungszone spielten Reformpädagogen eine recht beträchtliche Rolle. In Jena wurde Peter Petersen Dekan der neuen Sozialpädagogischen Fakultät, in Berlin Heinrich Deiters Lehrerbildungsreferent in der DZVV, Paul Oestreich Dezernent für höhere Bildung beim Magistrat. Die SBZSchulreformen 1946 schienen reformpädagogischem Gedankengut durchaus Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten. In der Öffentlichkeit deutete sich eine kritische Reformpädagogik-Debatte mit differenzierenden Urteilen an. Seit 1947/48 wendete sich jedoch das Blatt. Mit zunehmender Tendenz zur Zweistaatlichkeit, schwindender Aussicht auf gesamtdeutsche Lösungen und der Absage eines „besonderen deutschen Weges zum Sozialismus“ verengten sich die Handlungsräume in der SBZ. Die Pädagogen wurden angehalten, sich an der sowjetischen Pädagogik auszurichten und nicht etwa an der deutschen Reformpädagogik. Während der Jenaer Universitätskrise 1948 geriet Petersen als „bürgerlicher Professor“ in die Mühlen repressiver Politik und wurde zum Rücktritt als Dekan gezwungen. Seine Pädagogik beruhe auf einer Gesellschaftslehre, die „idealistisch, irrational, metaphysisch, unwissenschaftlich“ sei, hieß es nun.2 Der IV. Pädagogische Kongress grenzte 1949 die Reformpädagogik aus den Quellen „fortschrittlich-sozialistischer Pädagogik“ aus und verurteilte das „Liebäugeln mit der reaktionären bürgerlichen Reformpädagogik der Vergangenheit und ihrer pseudodemokratischen Neuauflage * 1

2

Entwurf Michael Retzar; Neubearbeitung Jürgen John und Rüdiger Stutz (Abschnitt „Die Namensgebung ‚Petersenplatz‘ 1991“). Andreas Pehnke: Reformpädagogik – ein Stiefkind der pädagogischen Historiographie in der DDR. Anmerkungen zum Umgang mit der Reformpädagogik vor der „Wende“, in: Jahrbuch für Pädagogik 1992, S. 233–246; bezogen auf Petersen Torsten Schwan: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1960 bis 1984. Die Jenaplan-Pädagogik zwischen „defensiver Rezeption” und einsetzender „Petersen-Kritik”, Frankfurt a.M. u.a. 2007, S. 303–318 (Exkurs: Die Petersen-Rezeption in der DDR und ihre Folgen). Die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen des Jenaplans (undatiertes 12seitiges Schriftstück aus marxistischer Perspektive), in: UAJ, Best. O, Nr. 73, Bl. 9r–14v, Zitat Bl. 13r; die ganze Akte ist als Dossier gegen Petersen angelegt; vgl. zu Petersen und den Jenaplan 1945–1952 den Beitrag von Marc Bartuschka in diesem Band.

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im Westen“.3 Die Thüringer Volksbildungsministerin ließ 1950 Petersens Jenaer Universitätsschule als „reaktionäres, politisch sehr gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik“4 schließen und seine Erziehungswissenschaftliche Anstalt 1951 in ein Institut für theoretische Pädagogik umwandeln. In den Folgejahren galt Petersens „Jena-Plan“ als eine Form „imperialistischer Pädagogik“5 und als eine „pädagogische Richtung der bürgerlichen Schulreformbewegung“, die mithalf, „dem Faschismus den Weg zu bereiten.“6 Ähnlich negativ fielen die Urteile über andere reformpädagogische Richtungen aus. In der Bundesrepublik und im westlichen Ausland fand alternatives reformpädagogisches Denken und Handeln trotz massiver Widerstände und zeitweiser Rückschläge erheblichen Zuspruch. Im „einheitlichen sozialistischen Bildungssystem“ der DDR7 und in der darauf ausgerichteten Erziehungswissenschaft gab es dafür keinen Platz. In den 1950er Jahren zeigten sich immerhin noch gegenläufige Tendenzen, Absagen an allzu „grobschlächtige Urteile“ und das Bemühen, wenigstens Teile des reformpädagogischen Erbes für die DDR-Schule zu nutzen.8 Das Ende der 1950er Jahre wieder verhärtete geistig-politische Klima und der neue Kurs auf die „sozialistische Schule“ entzogen ihnen aber weitgehend den Boden. Zwar wurde das Fehlen empirischer Forschungen zunehmend als Problem empfunden. So mahnte man in Jena zaghaft an, sich auch mit namhaften Pädagogen wie Anna Siemsen, Adolf Reichwein und Peter Petersen zu befassen,9 ohne dass dem nennenswert Taten folgten.10 Bis zum Ende der 1970er Jahre änderte sich wenig am rigiden, ausgrenzenden, zumindest stiefmütterlichen Umgang mit dem Thema „Reformpädagogik“. Erst 3 4 5 6 7 8 9 10

Der 4. Pädagogische Kongreß vom 23. bis 25. August 1949, Berlin/Leipzig 1949, S. 45 (im Rechenschaftsbericht des Leiters der DZVV-Schulabteilung Hans Siebert). Volksbildungsministerin Torhorst in der Elternversammlung v. 11.8.1950; Protokoll abgedr. bei Dagmar Sommerfeld: Peter Petersen und „Der Kleine Jena-Plan“ im Spannungsfeld der Schulreform in der SBZ/DDR 1945–1950, Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 298–306, Zitat S. 299. Dorothea Dietrich: Der Jena-Plan von Peter Petersen. Ein Beitrag zur Kritik imperialistischer Pädagogik, Diss. Paed. Berlin 1953 (MS). Geschichte der Erziehung (Bibliothek des Lehrers. Abteilung I: Grundfragen der sozialistischen Pädagogik), erw. Aufl., Berlin 1960, S. 454f., Zitat S. 455. Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, 2. Teilband: Deutsche Demokratische Republik und neue Bundesländer, München 1998, S. 182–192. Robert Alt: Über unsere Stellung zur Reformpädagogik, in: Pädagogik 11 (1956), S. 345–367. Paul Mitzenheim: Geschichte der Erziehung und des Schulwesens, in: Forschungen zur Geschichte Thüringens 1945–1965 (Literaturbericht) = WZUJ GSR 16 (1967), Hf. 2/3, S. 279–285, hier S. 284. Mit Ausnahme einiger auf die „Überwindung der Positionen Petersens” nach 1945 gerichteter Studien von Paul Mitzenheim: Kurzer Abriß der Lehrerausbildung an der Universität Jena (1945– 1965), in: Universität Jena und neue Lehrerbildung (= Jenaer Reden und Schriften 1967), Jena 1967, S. 60–80; ders.: Zur politischen und pädagogischen Funktion der ideologisch-theoretischen Konzeption von Peter Petersen bei der Verwirklichung des Gesetzes zur Demokratisierung der deutschen Schule vom 12. Juni 1946, in: WZUJ GSR 26 (1977), S. 259–268; ders.: Zur Geschichte der Pädagogischen Fakultät (1945–1955). Im Ringen um eine fortschrittliche Erziehungswissenschaft, in: Siegfried Schmidt (Hg.): Wissenschaft und Sozialismus. Beiträge zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 1945 bis 1981 (= Alma mater Jenensis. Studien zur Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte 1), Jena 1983, S. 102–121.

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mit dem offeneren Erbe- und Geschichtsdenken der 1980er Jahre begann in der DDR eine gewisse Reformpädagogik-Rezeption.11 Der IX. Pädagogische Kongress erteilte ihr im Juni 1989 allerdings bereits wieder eine Absage. Diese Öffnungstendenzen der 1980er Jahre wirkten sich nur begrenzt auf Jena aus. In den Konzepten und Beschlüssen zur „Erbe- und Traditionspflege an der FSU Jena“ kam die Reformpädagogik nicht vor. Im entsprechenden Maßnahmeplan für Gedenktage und Jubiläen 1984 bis 1990 fehlte das Petersen-Jubiläum 1984.12 Zwar veranstaltete die Sektion Erziehungswissenschaft 1984 ein Petersen-Kolloquium, auf dem der Didaktikprofessor Horst Wenge über den „Kleinen Jena-Plan“ und der Lektor Walter Wennrich über die „pädagogische Tatsachenforschung“ sprachen. Der Sektionsdirektor und Leiter des Bereiches „Geschichte der Erziehung“ Paul Mitzenheim erklärte einleitend, es sei im Sinne des neuen Geschichtsdenkens notwendig, die „spätbürgerliche Reformpädagogik“ um Petersen differenziert zu erforschen, um zu einer „umfassenden wissenschaftlichen Wertung“ zu kommen. Das bedeute aber – dämpfte er zugleich mögliche Erwartungen – keine „falsch verstandene positive Umdeutung bisheriger Wertungen“. „Wir haben als Marxisten keinen Grund“, betonte Mitzenheim mit Verweis auf bundesdeutsche Publikationen zum PetersenJubiläum, „hier in Jena, der wichtigsten Wirkungsstätte Petersens, in ähnlicher Weise eine Petersen-Renaissance in die Wege zu leiten.“ Und Wenge ergänzte, Petersens Unterrichtskonzepte stünden „den Grundauffassungen marxistisch-leninistischer Pädagogik diametral gegenüber“.13 Auch diesmal folgten der Ankündigung genauerer Forschungen allenfalls Pläne,14 keine Taten. Ein 1986 veröffentlichter Sammelband „Pädagogisches Erbe in Jena“ enthielt Beiträge zu Petersens Vorgängern Stoy und Rein und zu seinem Nachfolger Schrader, aber keinen zu Petersen.15 Dessen Wirken kam nur negativ als von Schrader überwundene beziehungsweise „von innen her“ veränderte Erblast ins Bild.16 Mitzenheim kündigte zwar erneut an, man wolle sich 11

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Pehnke: Reformpädagogik (wie Anm. 1), S. 240–243; Christa Uhlig: Zur Rezeption der Reformpädagogik in der DDR in den 70er und 80er Jahren vor dem Hintergrund der Diskussion um Erbe und Tradition, in: Ernst Cloer/Rolf Wernstedt (Hg.): Pädagogik in der DDR. Eröffnung einer notwendigen Bilanzierung, Weinheim 1994, S. 134–151; Uhlig gehörte zu den Akteuren dieser Rezeption; in der Diskussion zu ihrem Beitrag verwies sie auf entsprechende Forschungen in Leipzig, Berlin und Jena (ebd., S. 154); diese Aussage wird von den Befunden im Falle Jenas aber nicht gedeckt. Entwurf für einen Beschluss des Rektors und des Senats des WR zur „Erbe- und Traditionspflege an der FSU Jena“ 1983, in: UAJ, Best. WR, Nr. 43, n.p. Zitate nach W(alter) Wennrich: Kolloquium der Sektion Erziehungswissenschaft. Des 100. Geburtstages von Peter Petersen gedacht, in: SozU, Studienjahr 1984/85, Nr. 1, S. 7. Die Zuarbeit „Geschichte der Pädagogik“ (Mitzenheim) zu der am 8.7.1985 von der APW u. vom Prorektorat für Gesellschaftswissenschaften der FSU verlangten Forschungsplan für pädagogische Forschung 1986–1990 wies u.a. aus: einen Artikel zur marxistischen Wertung der Pädagogik Petersens; die differenzierte Untersuchung und Einschätzung der Wirksamkeit Petersens sowie die gezielte Auseinandersetzung mit entsprechenden bundesdeutschen Darstellungen zur Geschichte der Pädagogik an der Universität Jena – vgl. UAJ, Best. VA, Nr. 4838/2 (Forschungsprofile 1985–1987, Teil 2), n.p. Pädagogisches Erbe in Jena. Beiträge zur Entwicklung der Pädagogik und Lehrerbildung an der Universität Jena von den Anfängen bis zu den frühen 60er Jahren unseres Jahrhunderts (= Jenaer Erziehungsforschung der Sektion Erziehungswissenschaft, Sonderheft 1986), Jena 1986. Walter Wennrich: Karl Schraders Beitrag zur Begründung der marxistischen Pädagogik und

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künftig auch mit Petersen genauer befassen.17 Doch blieb das – von den sich anbahnenden Kontakten zur „Jenaplan-Forschungsstelle“ an der Universität Gießen abgesehen – wieder folgenlos.18 PÄDAGOGISCHER AUFBRUCH 1989/90 Der demokratische Aufbruch des Herbstes 1989 löste auch in Jena eine Basisbewegung aus, die weit reichende Reformen – nicht zuletzt im Bildungswesen – verlangte.19 Sie artikulierte sich zunächst vor allem im kirchlichen Raum20 und im „Neuen Forum“, das als „übergreifende Initiative“ den „demokratischen Dialog über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur“ ermöglichen wollte.21 Nach dem ersten Jenaer Friedensgebet am 8. Oktober stellten sich am 15. Oktober die neuen Bewegungen und Parteien in der Stadtkirche erstmals öffentlich vor. Am 25. Oktober fand die erste Jenaer Großdemonstration statt. Dabei übergab der Theologiestudent Hartmut Fichtmüller dem Oberbürgermeister Spahn einen vom „Neuen Forum Jena“ erarbeiteten Forderungskatalog, der dann vom „Vorbereitungskreis für ein Einwohnerforum“ überarbeitet und am 30. Oktober im Rathaus vorgetragen wurde.22 Aus der Jenaer Lehrerschaft unterschrieben Udo Haschke (Volks-Kunstschule) und Gisela John (POS „Grete Unrein“) diesen Forderungskatalog.23 Ersterer trug die Reformforderungen („Zehn Punkte“) zum Bildungswesen am 30. Oktober im Rathaus vor.24 Letztere verfasste zusammen mit Barbara Wrede (POS

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Lehrerbildung an der Universität Jena, ebd., S. 96–121, hier S. 102–109. Paul Mitzenheim: Zur Weiterführung der Forschung und Darstellung der Pädagogik und Lehrerbildung an der Universität Jena nach 1945, ebd., S. 135–138, hier S. 138. In den Jahresforschungsberichten 1987 u. 1988 der Sektion Erziehungswissenschaft (UAJ, Best. ZA, Nr. 60, n.p.) taucht das Thema nicht auf. Die Gießener „Jenaplan-Forschungsstelle“ wurde 1980 von Theodor Klaßen (Institut für Pädagogik des Primar- und Sekundarbereiches) eingerichtet; Geschäftsführer war Michael Seyfarth-Stubenrauch; die Kontakte zur Jenaer Sektion begannen 1988; die Stelle wurde kaum forschungswirksam und nach dem Tode ihres Gründers und des Geschäftsführers nicht weitergeführt. Die Friedliche Revolution in Jena. Gesichter des Herbstes 1989. Ausstellungsdokumentation, Jena 2010; aus Akteursperspektive auch Albrecht Schröter: Wende in Jena. Tagebuchnotizen. Dokumente. Fotos, Jena 2000; Eberhard Stein: Wechselnde Zeiten. Persönliche Erinnerungen an den Untergang der DDR, Jena 2004. Katharina Lenski: Lernen, ICH zu sagen. Die Friedensgebete in der Jenaer Stadtkirche vom 8. Oktober 1989 bis 1. März 1990, in: Revolution (wie Anm. 19), S. 49–51. „Aufbruch 89 – Neues Forum“ (Abschrift) mit Namen der Jenaer Erstunterzeichner, in: Privatsammlung Rüdiger Schütz (Jena), Ordner: Wende/UIV/GEW-Gründung; zu den zehn Jenaer Erstunterzeichnern gehörten der Student Hartmut Fichtmüller, der Pfarrer Gotthard Lemke und der Philosoph Eberhard Stein, der zum NF-Sprecher für Ostthüringen gewählt wurde. Problem- und Forderungskatalog für ein Einwohnerforum, abgedr. in: Jürgen John (Hg.): Quellen zur Geschichte Thüringens, Bd. 17: Thüringen 1989/90, Erfurt 2001, 1. Halbbd., Dok. Nr. 35a, S. 133–143; vgl. auch Matias Mieth: Die Forderungen der Demonstranten, in: Revolution (wie Anm. 19), S. 72–75. Reproduktion der Unterzeichnerliste in: Revolution (wie Anm. 19), S. 74. Teil VIII „Bildungswesen“ des „Problem- und Forderungskatalogs“ mit Vorbemerkung und 10 Forderungen, in: John: Quellen (wie Anm. 22), S. 141f.; Zeitungsbericht über das „Rat-

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„Grete Unrein“) am 27. Oktober einen Offenen Brief an die Stadtschulrätin.25 Im Namen der POS „Grete Unrein“ und „Erich Weinert“ verlangten sie im Sinne des Reform-Katalogs des „Neuen Forums“ rasche Maßnahmen für eine demokratische Schule mit „freier, lebendiger und schöpferischer Atmosphäre“. Man müsse jetzt energisch dem zu Leibe rücken, was die Schriftstellerin Christa Wolf als „grundlegende Deformation bei Zielen und Methoden der Erziehung junger Menschen in unseren Schulen“ bezeichnete. Die beiden Lehrerinnen forderten „Toleranz gegenüber Andersdenkenden“, das „Vorstellen alternativer Weltanschauungen im Unterricht“, „gleiche Bildungschancen“ für alle Schüler und Lehrer „unabhängig von sozialer, politischer und konfessioneller Herkunft“, Wahl-, Vertretungs- und Mitbestimmungsrechte, die Lösung der Bildungs- und Erziehungsarbeit vom „Programm einer Partei“ sowie zahlreiche Einzelmaßnahmen wie „Streichung des Faches Wehrunterricht“ oder „Trennung der Pionier- und FDJ-Arbeit vom Verantwortungsbereich der Schulen“. Die Stadtschulrätin reagierte zunächst einschüchternd auf solche Forderungen aus der Lehrerschaft. Nach dem „Rathausgespräch“ vom 30. Oktober und dem „Einwohnerforum“ vom 4. November signalisierte sie Gesprächsbereitschaft. Am 6./8. November stellte sie sich in der EOS „Johannes R. Becher“ einem „Öffentlichen Pädagogischen Rat“. Sie wurde dort zum Rücktritt aufgefordert, beugte sich aber erst Ende November dem öffentlichen Druck und legte ihr Amt nieder. Ihr Stellvertreter übernahm kommissarisch die Amtsgeschäfte.26 Bei der Stadtverordnetenversammlung wurde eine „Ständige Kommission (Volks)Bildung“ mit mehreren Arbeitsgruppen gebildet, die den Dialog mit den neuen Gruppen suchte, sich aber nach dem Rücktritt der meisten Stadträte (Februar 1990) wieder auflöste.27 Am 10. November 1989 stellte sich ein „Offenes Bürgerforum Bildungswesen“ mit 270 Teilnehmern hinter das Reformprogramm des „Neuen Forums“.28 Unter anderem forderte es die Schuldirektoren auf, in ihren Schulen die Vertrauensfrage zu stellen und beschloss einen „Runden Tisch Bildung/Schule“, der sich im Rahmen des „Runden Tisches“ der Stadt Jena29 als beratendes Organ des kommissarischen Stadtschulrates konstituierte.

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hausgespräch“ in: Nachlass Udo Haschke, im Besitz der Familie Haschke (Jena), Kiste 13: Bildung/Wende. Brief von Pädagogen (Gisela John/Barbara Wrede) an die Stadtschulrätin Schubert (27.10.1989), in: DJM (künftig im UAJ), Ordner 1 (1990/91); der Brief bezog sich auf den Artikel von Christa Wolf: „Das haben wir nicht gelernt“, in: Wochenpost, Nr. 43, v. 27.10.1989, S. 3. Eva Burmeister: Umbruch und Neubeginn. Schulentwicklung in Jena, Diss. Paed. Jena 1997 (MS), S. 58; der Abschnitt zur Bildungspolitik in Jena von Oktober 1989 bis März 1990 (S. 52– 72) gibt einen vorwiegend strukturellen und kaum Akteure ausweisenden Überblick; einen – allerdings lückenhaften – chronikalischen Überblick über die bildungspolitischen Jenaer Ereignisse 1989/90 gibt Barbara Mergner: Eine Schulgründung in Thüringen oder Auf dem Weg zu einem SCHULLEBEN, inspiriert von Peter Petersens Jena-Plan, erarbeitet zur Eröffnung der Jenaplan-Schule Jena am 12.10.1991, Teil 2: Kurze Dokumentation, S. 4f., in: DJM, Ordner 2 (1991/92). Burmeister: Umbruch (wie Anm. 26), S. 59, 64f., 72; Materialien der Kommission befinden sich im Nachlass Haschke (wie Anm. 24) u. in der Sammlung Schütz (wie Anm. 21). Schreiben der Gesprächsleiter Irene Misselwitz (Ärztin), Friedbert Dinda u. Udo Haschke mit den Forderungen des Bürgerforums an den Rat der Stadt Jena/Abt. Volksbildung u. die „Ständige Kommission Bildung“ sowie an die Volkskammer der DDR/Ausschuß für Volksbildung, in: Nachlass Haschke (wie Anm. 24). Sebastian Hollstein: Der Runde Tisch in Jena, in: Revolution (wie Anm. 19), S. 126–129; er

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Das „Neue Forum Jena“ richtete eine von Theologiestudenten (Ulrike Spengler, Martin Krautwurst) und Lehrern (Udo Haschke, Gisela John) angeregte „Arbeitsgruppe Bildungswesen“ mit Udo Haschke als Sprecher ein. Diese Arbeitsgruppe wandte sich nun auch Fragen innerer Schulreform und alternativer Schulmodelle zu und bildete dafür auf Initiative des Physikers Klaus Hattenbach (Zentralinstitut für Physik der Erde der AdW) einen Arbeitskreis „Alternative Pädagogik“. Am 5. Dezember entstand um die Lehrer Rüdiger Schütz (POS „Grete Unrein“) und Frank Schenker (POS „Johann Gottlieb Fichte“ I) ein „Unabhängiger Interessenverband ‚Demokratische Bildung und Erziehung‘“ (UIV), der Schenker zu den Dienstberatungen des kommissarischen Schulrates entsandte und für den 3. Februar 1990 zu einem zweiten „Öffentlichen Pädagogischen Rat der Stadt Jena“ einlud.30 Der Dialog zwischen den bildungspolitischen Basisgruppen einer- und der Abteilung Volksbildung/„Ständige Kommission Bildung“ andererseits lief über einen „Koordinierungsausschuss für die demokratische Erneuerung unserer Schulen (Koordinierungsgruppe Bildungswesen)“.31 Er traf sich am 25. Januar 1990 zu einer von Udo Haschke (NF) und Frank Schenker (UIV) organisierten Beratung zur „Demokratisierung der Schule“.32 Daran nahmen auch der kommissarische Stadtschulrat und die noch amtierenden Schuldirektoren teil, die freilich wenig Neigung zeigten, sich – wie seit November gefordert – der Vertrauensfrage zu stellen. Erst im März 1990 beugte sich die Abteilung Volksbildung dem Druck der Basisgruppen und forderte die Schuldirektoren auf, zurückzutreten oder sich der Vertrauensabstimmung in ihren Schulen zu stellen. Nur 30 Prozent von ihnen blieben nach diesem Verfahren im Amt.33 An der Universität beteiligten sich vor allem Studierende an der Umbruchs- und Reformbewegung des „Herbstes 1989“.34 Am 19. Oktober konstituierte sich eine

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war vom 1.12.1989 bis 8.3.1990 tätig; ein im StAJ überliefertes Protokollbuch des NF weist den 1.11.1989 als Beratungsbeginn aus. Sammlung Schütz (wie Anm. 21); hier auch Verzeichnis der Mitglieder der Kontaktgruppe, Grundsätze und Satzungen des UIV; Burmeister: Umbruch (wie Anm. 26), S. 61–63; der UIV ging später in der GEW auf. Dem Ausschuss gehörten der UIV, das NF/AG Bildungswesen, die „Ständige Kommission Bildung“ der Stvv sowie Vertreter der FSU und der Abteilung Volksbildung an; kritisch zu seiner Tätigkeit vgl. Udo Haschke: Immer langsam voran. . . Zum Erneuerungsprozeß im Bildungswesen, in: Nachlass Haschke (wie Anm. 21). Stichpunktartige Mitschrift der Beratung in: Nachlass Haschke (wie Anm. 24); Positionspapier „Demokratisierung der Schule/Entideologisierte Erziehungsziele“ v. 25.1.1990 abgedr. in: John: Quellen (wie Anm. 22), 2. Halbbd., Dok. Nr. 85a, S. 284–287. Burmeister: Umbruch (wie Anm. 26), S. 73f.; in Jena gab es 1989 28 allgemein bildende Schulen (26 POS, 1 EOS, 1 Spezialschule) und 4 Sonderschulen; nach den Kommunalwahlen vom Mai 1990 mussten sich die im Amt verbliebenen bzw. neu ernannten Direktoren dem Bildungsausschuss der Stvv vorstellen und von diesem bestätigt werden. Herbert Gottwald/Michael Ploenus (Hg.): Aufbruch – Umbruch – Neubeginn. Die Wende an der Friedrich-Schiller-Universität Jena 1988 bis 1991 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 5), Rudolstadt/Jena 2002; Michael Ploenus: Die „Wende“ an der FriedrichSchiller-Universität Jena 1988 bis 1991, in: Uwe Hoßfeld/Tobias Kaiser/Heinz Mestrup (Hg.): Hochschule im Sozialismus. Studien zur Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1945–1990), Bd. 1, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 445–473; ders.: Ankunft im vereinten Deutschland. Die Universität Jena zwischen 1989 und 1995, in: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, Köln/Weimar/Wien 2009, S. 842–877; Rüdiger Stutz: Jena im

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Studentenversammlung mit etwa 800 Teilnehmern als „Reformhaus“, aus dem im November nach entsprechenden Urwahlen ein frei gewählter Studentenrat hervorging.35 Unter den Professoren engagierte sich Ende Oktober nur ein kleiner Kreis um die Mediziner Ulrich Zwiener und Dietfried Jorke und den Mathematiker Gerd Wechsung in entschiedener Weise. Zwiener fand dabei auch unter Medizinstudenten Rückhalt. Dieser Kreis bildete am 7. Dezember eine „Aktionsgemeinschaft Demokratische Erneuerung der Hochschulen“ (ADEH),36 die 1990/91 eine maßgebliche Rolle bei der inneren Umgestaltung der Jenaer Universität spielte, während die Studentenvertreter an Einflussmöglichkeiten verloren. Die verunsicherten Hochschullehrer besonders „staats- und systemnaher“ Sektionen hielten sich entweder abwartend zurück oder suchten den Anschluss an Reformbewegung und Basisgruppen. Dabei folgten sie dem Aufruf des Rektors und Senats vom 21. November, sich mit Konzeptionen, Studien, Expertisen und Empfehlungen „in die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion einzubringen“, wobei die Gesellschaftswissenschaften besonders gefordert seien.37 In diesem Sinne bildeten sich an der Universität fünf – von Hochschullehrern der Sektion Erziehungswissenschaft geleitete – bildungspolitische Arbeitsgruppen und nahmen Kontakt zur „Ständigen Kommission Bildung“ und zur „Arbeitsgruppe Bildungswesen“ des „Neuen Forums“ auf.38 Damit gerieten die Erziehungswissenschaftler freilich in ein Dilemma und unter Rechtfertigungsdruck. Bis vor kurzem hatten sie die rigide SED-Bildungspolitik vertreten. Ihre Versuche, nun öffentlich ganz andere Positionen zu beziehen, wirkten deshalb wenig glaubhaft. Sie wurden

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„Aufbruch“. Basisdemokratische Aktionskreise an der Universität und betriebliche Belegschaftsinitiativen in den Jahren 1989/90, in: Revolution (wie Anm. 19), S. 151–162. Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok. Nr. 27 („Reformhaus“-Plenum, Tonbandmitschnitt), S. 75–92; Tom Bräuer: Das Netzwerk der Aktivisten. Der Zusammenschluss von Studenten im „Reformhaus“ 1989, in: Robert Gramsch/Tobias Kaiser (Hg.): Engagement und Ernüchterung. Jenaer Studenten 1988 bis 1995, Jena 2009, S. 77–103; Rayk Einax: Anlaufschwierigkeiten. Der StuRa der FSU Jena und seine überregionale Interessenvertretung in der Anfangsphase (1989–1991), ebd., S. 163–174. Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok. Nr. 100 (Gründungsaufruf ADEH), S. 184; mit neuen Dokumenten Gottfried Meinhold: Die Universität Jena im Umbruch 1989–1991, in: Helmut G. Walther (Hg.): Wendepunkte in viereinhalb Jahrhunderten Jenaer Universitätsgeschichte (= Texte zum Jenaer Universitätsjubiläum 6), Jena 2010, S. 159–251. Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok, Nr. 77 (Erklärung von Rektor und Senat zur aktuellen politischen Lage in der DDR v. 21.11.1989), S. 163–166, hier S. 164. Die bildungspolitischen Arbeitsgruppen an der FSU waren: Erzieherisches Grundkonzept einer erneuerten sozialistischen Schule (Leitung: Horst Wenge), Einheitlichkeit und notwendige Differenzierungen im Schulwesen (Leitung: Paul Mitzenheim), Neugestaltung des Unterrichts und Entwicklung der Subjektposition aller Schüler (Leitung: Christa Wenge), Bestimmung des Anspruchs und des Platzes der polytechnischen Bildung im Gesamtkonzept des Bildungswesens (Leitung: Horst Wiegand/Volker Gumpert), Neubestimmung der Ausbildungsinhalte und der Ausbildungsdauer im Lehrerstudium (Leitung: Herbert Gläser/Klaus Frotscher) – vgl. Burmeister: Umbruch (wie Anm. 26), S. 59; Nachlass Haschke (wie Anm. 24): Informationen der „Arbeitsgruppe Bildungswesen“ des NF v. 23.11.1989 über eine Koordinationsberatung mit dem Professor für Pädagogische Psychologie und Volkskammer-Abgeordneten Manfred Clauß (als FSU-Vertreter) und einem Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung; Gedächtnisprotokoll über die Beratung der Arbeitsgruppe „Erzieherisches Grundkonzept einer erneuerten sozialistischen Schule“ am 20.11.1989.

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vor allem von den Lehreraktivisten des „pädagogischen Aufbruchs“ abgelehnt.39 Anders sah das zunächst bei reformbemühten Arbeitsgruppen außerhalb Jenas aus. So wandten sich in Dresden wohnende ehemalige Schüler der Universitätsschule mit der Bitte an die Jenaer Sektion Erziehungswissenschaft, sie bei der „Erforschung, Ergruendung und zeitgemässen Aufarbeitung“ der Jenaplan-Pädagogik wissenschaftlich zu unterstützen und boten dafür Erinnerungsberichte an.40 Im Januar 1990 begann der Jenaer Arbeitskreis „Alternative Pädagogik“ des „Neuen Forums“ seine gleichnamige Vortragsreihe, die sich bis Juni 1990 mit alternativen Lehrinhalten, Pädagogik- und Schulmodellen befasste. Dabei spielte das Prinzip der „Verbindung von Theorie und Praxis“ mit entsprechenden Kontakten zu bundesdeutschen Erziehungswissenschaftlern und -praktikern eine maßgebliche Rolle. Die für die DDR-Pädagogik mitverantwortlichen Jenaer Erziehungswissenschaftler mied man. Den ersten Vortrag hielt Hans Rauschenberger (Kassel) über „Schulen als Ausdruck des gesellschaftlichen Willens“ am 5. Januar 1990 in der überfüllten Universitätsaula.41 Die weiteren Vorträge befassten sich bei anhaltend gutem Zuspruch unter anderem mit der Waldorf-, Freinet- und Jenaplan-Pädagogik, mit der Hamburger Integrationspädagogik, mit „Entschulung der Schule“ und „Geschichtsunterricht in einer pluralistischen Demokratie“. Zu den Vortragenden gehörten Theodor Klaßen („Jenaplan-Forschungsstelle“ Gießen) und Andreas Flitner (Tübingen), der über „Praktisches Lernen“ und „Demokratisches Handeln“ in Schulen sprach. Das bildungspolitische Konzept dieser Vortragsreihe umschrieben die Initiatoren wie folgt: „Die Revolution in der DDR hat eine Schulreform und moderne Schulmodelle nötig und möglich gemacht. Die Jenaer Initiative ‚Alternative Pädagogik’ möchte einer vielerorts vorhandenen Ratlosigkeit an den Schulen abhelfen und neue Ansätze für Bildung und Erziehung an freien Schulen vorschlagen, konzipieren und versuchen. Diese freien Schulen sollen nicht den Charakter von Privatschulen tragen, aber sich von einseitigen Lehrplanvorgaben und staatlicher Lenkung freimachen. Wir glauben, daß wir in Thüringen einer besonderen reformpädagogischen Tradition folgen können, die mit den Namen mutiger und ideenreicher Pädagogen wie Salzmann, Guths Muths, Rein, Wynecken oder Petersen verbunden ist. Reformpädagogische Projekte waren 39

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Burmeister: Umbruch (wie Anm. 26), S. 60; kritisch zur Reformpädagogik-Rezeption in der gewendeten DDR-Pädagogik Wolfgang Keim: Verunsicherung versus Wendehalsigkeit. „Reformpädagogik“ als Thema ostdeutscher Erziehungswissenschaft im Vereinigungsprozeß, in: Jahrbuch für Pädagogik 1992, S. 247–264; Gerhard Neuner: DDR-Pädagogik in der Wendezeit (1989–1990), in: Dietrich Hoffmann/Karl Neumann (Hg.): Erziehung und Erziehungswissenschaft in der BRD und der DDR, Bd. 3, Weinheim 1996, S. 95–126, hier S. 107–119; die Tendenzwende der DDR-Pädagogik unter demonstrativer Preisgabe bisher bezogener Positionen lässt sich an den Jahrgängen 1989/90 der DDR-Zeitschrift „Pädagogik” deutlich ablesen. Brief Ingetraut Michels v. 10.1.1990 an die Sektion (Abschrift), in: PPAV, Ordner: Universitätsschule-Ehemaligen-Treffen September 1990; im Namen der Sektion antwortete Mitzenheim am 22.1.1990 und griff das Angebot auf (ebd.); er erhielt in der Folgezeit mehrere Berichte, darunter am 23.3.1990 von Vera Lambova (Bulgarien), in: PPAV, Ordner: UKP Jena ab 1989. Abgedr. in: Klaus Hattenbach (Hg.): Alternative Pädagogik. Zukunft für die Schule oder Schule für die Zukunft? Beiträge aus einer Veranstaltungsreihe der AG Bildung des Neuen Forums Jena, (Jena 1990), S. 7–17; eine Übersicht über die Vorträge gibt Mergner: Schulgründung (wie Anm. 26), S. 6f.

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stets sozial orientiert. Wo herkömmliche Schulmodelle bestehende Gesellschaftsverhältnisse stabilisieren sollten, erstrebte Reformpädagogik neue gesellschaftliche Strukturen.“42 Dieser Wille, alternative Denk- und Schulmodelle für Schul- und Gesellschaftsreformen zu nutzen, prägte 1990 die pädagogische Aufbruchsstimmung der Jenaer Basis- und Reformgruppen.43 Bei allem Zuspruch erreichten sie allerdings nur kleinere Lehrergruppen. Offenkundig herrschte in der Lehrerschaft das Bedürfnis vor, anstelle der alten möglichst bald wieder neue klar gegliederte Strukturen und Anweisungsverhältnisse haben zu wollen. Nur wenige Schulen – vor allem die von Barbara Wrede geleitete „Lobdeburgschule“ – griffen damals reformpädagogische Elemente auf. Erst später fanden Montessori- (im staatlichen Bereich) und Waldorf-Pädagogik (als private Schule) in Jenas Schulwesen Eingang. Lediglich eine der bestehenden Jenaer Schulen – die „Grete-Unrein“-Schule – wählte als „Integrierte Gesamtschule“ einen Weg jenseits des dreigliederigen Schulsystems.44 So nahm im Umfeld des Arbeitskreises „Alternative Pädagogik“ der Gedanke Gestalt an, selbst eine neue Schule auf reformpädagogischer Grundlage zu gründen, um eigene Konzepte verwirklichen, die Reformkräfte bündeln und beispielgebend wirken zu können. Dabei zeichnete sich ein wachsendes Interesse an der Jenaplan-Pädagogik ab. Deren Prinzipien und Unterrichtsformen kamen den Vorstellungen dieses Kreises von einer kindgerechten freien Schule offenkundig besonders nahe. Zudem verband sich so die Suche nach alternativer Pädagogik mit der Rückbesinnung auf die lange verdrängten Jenaer Reformtraditionen. Parallel zum Arbeitskreis „Alternative Pädagogik“ rief Barbara Mergner (Auslandsgermanistik der FSU) im Januar 1990 dazu auf, eine „Initiativgruppe reformwilliger Lehrer“ zu bilden. Daraus erwuchs im Juni 1990 eine von ihr geleitete „Werkstatt für praktisches und ökologisches Lernen“ (seit November 1990 „[Reform-]Pädagogische Werkstatt“), die zunächst beim Jenaer Schulamt, dann beim Land (ThILLM) ihre Heimstatt fand.45 Einige Repräsentanten bildungspolitischer Basisgruppen des Jenaer „Herbstes 1989“ wurden nach den Kommunalwahlen vom Mai 1990 in verschiedenen Parteien kommunalpolitisch aktiv: Frank Schenker (parteilos, später CDU) als Bildungsdezernent und Schulamtsleiter, Klaus Hattenbach (SPD) als Kulturdezernent, Gisela John (SPD) als Leiterin des Bildungsausschusses der neuen 42 43

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Zukunft für Schule oder Schule für die Zukunft?, in: Hattenbach: Pädagogik (wie Anm. 41), S.3f.; verfasst von Klaus Hattenbach, Gisela John, Petra Achmedowa (beide POS „Grete Unrein“), Karin Lemke (EOS „Johannes R. Becher“) und Christine Seidemann (POS „Bertolt Brecht“). Als – in Details freilich oft fehlerhafte – Stimmungsberichte vgl. Mira Futász: Dieses neue Gefühl, Lehrer zu sein. DLZ bei Jenaer Pädagogen, in: DLZ 37 (1990), Nr. 16 (3. April-Ausgabe), S. 3; dies.: Von Pädagogischen Träumen und Räumen. Lehrer aus Jena entwickeln ein alternatives Gesamtschulkonzept, in: Pädagogik 42 (1990), Hf. 7–8, S. 85f.; „Wer leuchten will, muß brennen“. Im Süden der ehemaligen DDR kämpfen Pädagogen für eine Reform ihrer Schulen, in: Der Spiegel 44 (1990), Nr. 42 (15.10.1990), S. 131–143. Rüdiger Schütz: „Eine Schule macht sich auf den Weg“, in: Ein altes Haus lernt niemals aus. Aus den Erinnerungen einer 80-jährigen. Festschrift zum Jubiläum der Grete-Unrein-Schule Jena, Jena 1992, S. 73–89; die IGS wurde vom Thüringer Kultusministerium am 17.7.1991 mit Wirkung vom 1.8.1991 genehmigt. Mergner: Schulgründung (Anm. 26), S. 6–9; Rund- und Einladungsschreiben der Werkstatt auch in: DJM, Ordner 1 (1990/91).

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Stadtverordnetenversammlung. Udo Haschke (CDU) wählte als Volkskammer-, dann Bundestags-Abgeordneter den Weg in die Bundespolitik. Doch wirkte das Bedürfnis, parteiübergreifend gemeinsam gestalten und verändern zu wollen, weiterhin verbindend zwischen ihnen. Die „Petersen-Ehrung“ 1990 durch ehemalige Schüler und Mitarbeiter Der „pädagogische Aufbruch“ 1989/90, die Renaissance reformpädagogischer Ideen und die Rückbesinnung auf die Jenaer reformpädagogischen Traditionen kamen dem Bedürfnis ehemaliger Schüler und Mitarbeiter Petersens entgegen, ihn an der Stätte seines früheren Wirkens zu ehren und zu rehabilitieren. Nach Jahrzehnten eines ignorierenden oder diskreditierenden Umgangs empfanden die „Ehemaligen“ Petersens neue Wertschätzung als notwendige und längst überfällige Wiedergutmachung. Im Tenor trafen sich ihre in regionalen Tageszeitungen abgedruckten Leserbriefe mit dem bei öffentlichen Anlässen Geäußerten. Sie beschworen das gewichtige pädagogische Erbe Petersens, dem in der DDR die gebührende Anerkennung verwehrt worden war, vermieden aber den kritischen Blick auf Petersens Widersprüche und Ambivalenzen, vor allem auf sein Wirken und Verhalten in der NS-Zeit. Man müsse – so ein weit verbreiteter Trugschluss auch in diesem Falle – beim Ehren im öffentlichen Raum allein die großen Leistungen des zu Ehrenden herausstellen. Alles andere störe nur oder sei dazu angetan, den diskreditierenden Umgang mit Petersen fortzusetzen statt zu überwinden. Erinnerungskulturell überlagerte das DDR-Unrecht an Petersen seine zwiespältige Rolle in der NS-Zeit. Diese Sicht entsprach einem vor allem vom Schülerkreis Petersens getragenen Grundzug der bundesdeutschen Petersen-Rezeption46 und prägte die Jenaer „PetersenEhrung“ 1990 als einen Beitrag „auf der Suche nach bewährten Vorbildern“.47 Für einen wirklich souveränen Umgang mit Petersens Gesamtpersönlichkeit und -wirken fehlten damals freilich noch viele Voraussetzungen. Entsprechend empirisch gesicherte Petersen-Forschungen erfolgten erst seit den 1990er Jahren.48 Der Versuch, im Umfeld des „Petersen-Gedenkjahres“ 1984 „jüngere und nicht dem Schulkreis Petersens zugehörige Pädagogen“ zur kritischen Auseinandersetzung mit seinem Denken, Werk und Wirken anzuregen,49 wirkte zunächst kaum forschungsstimulierend. 46

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Torsten Schwan: Die Petersen-Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1960. Die Darstellung und Resonanz Peter Petersens und des Jenaplans im Spannungsfeld von Pädagogik und Schulreform (= Braunschweiger Arbeiten zur Schulpädagogik 17), Braunschweig 2000; ders.: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1); vgl. auch den Beitrag von Will Lütgert in diesem Band. (Walter) Jungstand: Petersen-Ehrung in Jena. Lehrkörper und Studierende herzlich eingeladen, in: AMJ 2 (Studienjahr1990/91), Nr. 1 (3.9.1990), S. 1. Hier ist neben der biographisch ausgerichteten Monographie von Barbara Kluge (wie Anm. 61) v.a. auf die Forschungen, Konferenzen, Studien und Publikationen von Hein Retter (Braunschweig) zu verweisen, die ihre voluminöse Synthese fanden in Hein Retter: Reformpädagogik und Protestantismus im Übergang zur Demokratie. Studien zur Pädagogik Peter Petersens (= Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte 1), Frankfurt a.M. u.a. 2007. Ingeborg Maschmann/Jürgen Oelkers (Hg.): Peter Petersen. Beiträge zur Schulpädagogik und Erziehungsphilosophie, Heinsberg 1985, S. 7 (Vorwort); vgl. zur Rezeption dieses Bandes auch

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Zudem waren die sich seit 1989 zuspitzende bundesdeutsche Petersen-Debatte und die völlig überzogenen Positionen des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Keim (Paderborn) nicht gerade dazu angetan, Vertrauen in eine kritische Petersen-Sicht zu wecken.50 Gelegenheit zur Jenaer „Petersen-Ehrung“ bot ein dreitägiges Schultreffen, das der Biologe Walter Jungstand als einstiger Lehrer an der Universitätsschule und die Keramikerin Ulli Wittich-Großkurth als ehemalige Schülerin (beide Jena) maßgeblich organisierten. Die Vorbereitungen begannen im Frühjahr 1990 mit einer Rundbriefaktion. Jungstand und Wittich-Großkurth brachten eine Namens- und Adressenliste unter den ihnen bekannten „Ehemaligen“ in Umlauf und baten sie, diese zu ergänzen und zu erweitern.51 Gleichzeitig sprachen sie auch die „Jenaplan-Forschungsstelle“ Gießen (Theodor Klaßen) und die Kinder Petersens an, vor allem dessen Tochter Elisabeth Remmert. Dabei machten sie kein Hehl daraus, dass ihnen das Eindringen der diskreditierten Jenaer Erziehungswissenschaftler in diese Vorbereitungen großes Unbehagen bereitete. „Die neue Demokratiebewegung“ – schrieb Wittich-Großkurth am 29. April 1990 an Klaßen – „müssen wir sinnvoll nutzen – dabei sollen alle alten Dogmen und Genosse[n], die alle Reformbewegungen in 40 J[ahren] (es war auch mein Leben) mit ihrem Parteiapparat unterdrückten, auf der Strecke bleiben“.52 Ebenso deutlich äußerte sich Walter Jungstand in seinem Schreiben vom 31. Mai 1990 an Elisabeth Remmert: „Hier entdeckt man plötzlich Sympathie für das, was Ihr Vater hier schuf. Man darf sich über das Auftreten geistiger Aasgeier nicht die Korrespondenzen Ingeborg Maschmanns in: UAJ, Best. V, Abt. XXX, Nr. 48 u. 50; mit ihrer kritischen – Petersen zwar würdigenden, seine Erziehungstheorien aber historisierenden – Sicht galt sie – wie sie am 24.3.1989 an Theo Dietrich und Elisabeth Remmert schrieb – der „PetersenJüngerschaft“ als „Häretikerin“; mit seiner „unkritischen Enge und Wandlungsunfähigkeit“ leiste – argumentierte sie – der Schüler- und Familienkreis Petersen und seiner Sache spätzeitlich einen schlechten Dienst. „Warum seid Ihr so defensiv, so kleinlaut, ja so bunkerbauend gegenüber dem breiter werdenden wissenschaftlichen Interesse am Leben und Werk Eures Vaters?“, schrieb sie am 24.9.1989 (abgeschickt am 11.11.1989) an Elisabeth Remmert (alle Briefe in Nr. 48); zu den Publikationen und Debatten im Umfeld des „Petersen-Jahres” 1984 vgl. auch Schwan: Petersen-Rezeption 1960 bis 1984 (wie Anm. 1), S. 355–438. 50 Keim ging es weniger um eine angemessen kritische Gesamtsicht auf Petersen als vielmehr um den Versuch, Petersen als einen „NS-affinen“ Pädagogen mit einer „vordemokratisch-ständischen Gemeinschaftsideologie“ zu kennzeichnen und die Jenaplan-Pädagogik als demokratieunfähiges „problematisches Erbe“ – vgl. Wolfgang Keim: Peter Petersens Rolle im Nationalsozialismus und die bundesdeutsche Erziehungswissenschaft. Kritische Anmerkungen zu Peter Kaßners Beitrag in diesem Heft, in: Die Deutsche Schule 81 (1989), Hf. 1, S. 133–145; ders.: Reformpädagogik und Faschismus. Anmerkungen zu einem doppelten Verdrängungsprozess, in: Pädagogik 41 (1989), Hf. 5, S. 23–28; ders.: Peter Petersen und sein Jena-Plan – wenig geeignet zur Demokratisierung von Schule und Unterricht. Kritische Anmerkungen zu einigen Petersen-Beiträgen aus dem Jahre 1990, in: Pädagogik und Schulalltag 45 (1991), S. 928–936; ders.: Die Jena-Plan-Pädagogik: Ein problematisches Erbe. Was folgt aus den Affinitäten Peter Petersens zum deutschen Faschismus?, in: Die Grundschul-Zeitschrift (1991), Hf. 47, S. 36–39; zu den Positionen Keims und zur bundesdeutschen Petersen-Debatte seit 1989 vgl. den Beitrag von Will Lütgert in diesem Band u. Torsten Schwan: Die „Kernzeit” der Petersen-Debatte in der bundesdeutschen Pädagogik 1989 bis 1992, in: Pädagogische Rundschau 54 (2000), S. 285–303. 51 Briefe und Listen sind überliefert in: PPAV, Ordner: Universitätsschule-Ehemaligen-Treffen September 1990. 52 Ebd.

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wundern.“53 Er hatte nicht nur wegen seiner Lehrer- und Assistententätigkeit bei Petersen, sondern auch durch seine eigene DDR-Biographie guten Grund zu solcher Distanz. Der vor 1933 in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend engagierte Jungstand war in der DDR aus politischen Gründen daran gehindert worden, seinen Beruf als Pädagoge auszuüben und hatte sich einen neuen Beruf als Biologe (zuletzt am Jenaer Institut für Mikrobiologie der AdW) suchen müssen. Jungstand lud Frau Remmert mit diesem Brief ein, zur „Petersen-Ehrung“ nach Jena zu kommen und bat sie um Vorschläge für Text und Gestaltung einer möglichen Gedenktafel. Sie und ihr Bruder Uwe Karsten Petersen stimmten das Treffen mit den Jenaer Organisatoren ab, unterbreiteten auch Vorschläge, bestanden aber darauf, dass die Ehrung Petersens eine von seinen ehemaligen Jenaer Kollegen und Schülern initiierte und zu verantwortende Jenaer Angelegenheit bleiben solle. Das „Schultreffen ehemaliger Lehrer und Schüler der Universitätsschule Jena, ‚Petersenschule‘“ vom 28. bis 30. September 1990 mit über 100 Teilnehmern fand teils auf der Leuchtenburg bei Kahla, teils in Jena statt.54 Im Mittelpunkt stand der Festakt zur Petersen-Ehrung am 29. September in der Jenaer Universitätsaula. Zuvor brachten die Teilnehmer eine Erinnerungstafel an Petersens Wirkungsstätte an. Am 30. September unternahmen sie eine Weimar-Fahrt ins Goethe-Haus. Es war das erste große – gleichsam „offizielle“ – Treffen „Ehemaliger“, an dem auch die Vertreter der Petersen-Familie teilnahmen und das beträchtliche öffentliche Resonanz fand. Für die Teilnehmer stellten Festakt, Gedenktafel, wohlwollende Presseberichte und persönliches Wiedersehen nicht nur eine Rehabilitierung Petersens und der JenaplanPädagogik dar. Sie empfanden das auch als öffentliche Wertschätzung ihrer persönlichen Schulbiographien, als späte Gerechtigkeit und Genugtuung. Erinnerungsund schulpolitisch beeinflusste das „Schultreffen“ vom September 1990 zweifellos spätere Entscheidungen über den Namen „Petersenplatz“ und die Gründung einer Jenaplan-Schule. „Mit dieser Veranstaltung“ – schrieb Jungstand im Oktober – „sollte der Boden für eine wieder zu errichtende Jena-Plan-Schule in der Stadt seines Wirkens vorbereitet werden.“55 Die Organisatoren erhofften sich die Unterstützung der Universität „für eine neue Universitätsschule, die wir unbedingt wieder in Jena eingeführt wissen möchten.“56 Als problematisch erwies sich der unkritische Grundton des Treffens, vor allem des Festaktes in der Universitätsaula und des Festvortrages des einstigen PetersenMitarbeiters Theo Dietrich (Bayreuth).57 Dietrich beschrieb die Jenaplan-Pädagogik 53 54 55 56 57

Ebd.; Jungstand hatte 1933/35 u. 1945/47 u.a. bei Petersen Erziehungswissenschaften studiert, war von 1948 bis 1950 Assistent bei Petersen und Lehrer an der Universitätsschule u. promovierte 1949 bei Petersen u. Mieskes zum Dr. paed. Einladung mit Programm, ebd.; Jungstand und Wittich-Großkurth schrieben mehrere Berichte über dieses Treffen in der Jenaer Lokalpresse. (Walter) Ju(ngstand): Rehabilitierung für Peter Petersen. Wieder eine „Jena-Plan-Schule“ in unserer Stadt?, in: OTN v. 24.10.1990, Lokalseite „Jenaer Nachrichten“. Wittich-Großkurth in ihrem Brief an Klaßen v. 29.4.1990, in: PPAV, Ordner: UniversitätsschuleEhemaligen-Treffen September 1990. Theo Dietrich: Die Jena-Plan-Pädagogik – ein Beitrag zur Humanisierung des Menschen in: Sammlung Gottfried Meinhold, künftig UAJ, Best. V, Abt. LI (Vorlass Meinhold); auch überliefert in: PPAV, Ordner: UKP Jena ab 1989, abgedr. in: Pädagogische Rundschau 45 (1991), S. 101–110;

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durchaus zutreffend als einen „Beitrag zur Humanisierung des Menschen“. Er stellte Petersens Leitmotiv „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“ in den Mittelpunkt seines Vortrages und hob dessen Leistungen als Erziehungstheoretiker, Schulpraktiker und Forscher hervor. Gleichzeitig versuchte er aber, ihn als Opfer und Spielball politischer Systeme darzustellen, dem vor allem „seit 1933 Unrecht widerfahren“ sei. Petersen anders, gar als Mitgestalter oder Nutznießer politischer Systeme zu schildern, sei „eine böswillige Unterstellung [. . . ] politischer Sittenrichter“.58 Das war keineswegs nur eine Absage an überzogene und grobschlächtige Urteile über Petersen, sondern im Grunde an jede kritische Petersen-Sicht. Und es stellte eine für die apologetische, Petersens Rolle „entpolitisierende“ Sicht der bundesdeutschen Petersen-Rezeption durchaus typische Position dar.59 Problematisch war Dietrichs Festvortrag aber auch in anderer Hinsicht. Er endete mit einem „politischen Nachwort“, das im Sinne Petersens zu einer „Pädagogik der Mitmenschlichkeit“ gegenüber denjenigen aufrief, die sich nach vierzig Jahren DDRIdeologie und -Vergangenheit in einer „Identitätskrise schwerster Art“ befänden. Das bezog Dietrich ausdrücklich auch auf diejenigen, die an der „Kommandopädagogik“ der DDR maßgeblich beteiligt gewesen waren und denen man einen Neuanfang nicht verwehren dürfe.60 Deshalb dankte er in der Vorbemerkung seines Vortragtextes neben Jungstand und Wittich-Großkurth auch Paul Mitzenheim von der Sektion Erziehungswissenschaft für die Vorbereitung des Festaktes. Ganz anders sah das der zur ADEH gehörende Sprachwissenschaftler Gottfried Meinhold, der seit dem 15. September als Prorektor für Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften amtierte. In seinem in Vertretung des Rektors gehaltenen Grußwort zum Festakt würdigte er Petersen als einen „Großen der Geschichte der Alma mater Jenensis“ und lobte ihn für die „Kühnheit“ und den „Wagemut“, mit dem er sich „gegen die verfestigte Institution Schule anstemmte, die innovatorische Kraft seines Menschenbildes, sein Vertrauen in die Lebenskraft geistiger Potenzen.“ Das stellte er in scharfen Kontrast zur „hiesigen Erziehungswissenschaft“ und zur „Mittäterschaft der Pädagogik bei der pseudotheoretischen Rechtfertigung von Feindbildern und bei der Erziehung zum Haß auf den Klassenfeind hierzulande.“ Petersen tauge nicht als „Helfer bei der hektischen Flucht nach vorn, die jetzt allenthalben bei uns um sich greift, um

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Dietrich war von 1940 bis zu seiner Flucht 1949 Assistent bei Petersen; in der Bundesrepublik war er Lehrer an der Odenwaldschule, dann am PI Stuttgart und an den Universitäten Bremen, Erlangen-Nürnberg und Bayreuth tätig; er nahm 1992 als Referent an der Tagung über DDRUnrecht an der Jenaer Universität teil – vgl. Vergangenheitsklärung an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Beiträge zur Tagung „Unrecht und Aufarbeitung“ am 19. und 20.6.1992, bearb. v. Hans Richard Böttcher, Leipzig 1994, S. 33–38. Dietrich: Jena-Plan-Pädagogik (wie Anm. 57). S. 9f. Torsten Schwan: Petersens Entpolitisierung durch seine Schüler und Anhänger in der deutschen Nachkriegspädagogik, in: Hein Retter (Hg.): Reformpädagogik. Neue Zugänge – Befunde – Kontroversen, Bad Heilbrunn 2004, S. 186–208, hier S. 191ff.; vgl. zur Jenaer Petersen- und Jenaplan-Rezeption 1990/91 auch – freilich oberflächlich und in der Absicht, allen damaligen Akteuren Petersen-apologetische Positionen zu unterstellen – ders.: „. . . um die aus der Weimarer Zeit übernommene Substanz zu sichern“? Peter Petersen, der Nationalsozialismus und die defensiven Traditionen aktueller Rezeptionsentwicklungen, Frankfurt a.M. 2011, S. 102–113. Dietrich: Jena-Plan-Pädagogik (wie Anm. 57), S. 10–13, Zitate S. 11.

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den Schatten der Vergangenheit zu entkommen“.61 Für den anwesenden Mitzenheim dürften diese Worte doppelt schmerzhaft gewesen sein. Denn er hatte dem Prorektor Tage zuvor einen Redetext als „Zuarbeit“ ins Sekretariat gegeben, den Meinhold aber nach flüchtiger Kenntnisnahme gar nicht benutzte, sondern „gleich in den Papierkorb warf“.62 Opportunistische Pirouetten? Die Jenaer Erziehungswissenschaftler 1990/91 Zum Zeitpunkt dieser Petersen-Ehrung befand sich die Universität in einer Übergangsphase strukturellen und personellen Umbaus. Alte Strukturen wurden aufgelöst oder umgebildet, neue eingeführt oder vorbereitet, Führungsposten neu besetzt, der Lehrkörper schrittweise personell verändert. Vieles war noch unklar und offen. Manche „Schritte auf dem Weg zur Demokratisierung“ der Universität63 spielten sich in der juristischen Grauzone eines „Interregnums“ ab – wie der im April gewählte neue Rektor Ernst Schmutzer (Physik) später schrieb.64 Seit dem Frühjahr 1990 entstanden – wenn auch juristisch noch nicht bindend – elf Fakultäten, die am 26. Juni 1990 mit einem Festakt vorgestellt wurden. Die im Rahmen der „Dritten Hochschulreform“ 1968/69 gebildeten Sektionen befanden sich in Auflösung oder Umbildung.65 Ihre Direktoren amtierten nur geschäftsführend. Nach der „Vorläufigen Hochschulordnung“ vom 18. September 1990 für die DDR-Länder und nach deren Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober wurden die Umgestaltungsprozesse juristisch beschleunigt. Laut „Einigungsvertrag“ vom August 1990 waren Angelegenheiten struktureller Auflösung („Abwicklung“) bis Jahresende zu regeln. Zu den von „totaler Abwicklung“ betroffenen „sensiblen Bereichen“66 gehörte die 1969 gebildete, 1984/87 von Paul Mitzenheim, 1987/90 von Horst Wenge und nun geschäftsführend von Matthias Trier

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Gottfried Meinhold: Grußwort anläßlich der Ehrung für Prof. Dr. Dr. h.c. Peter Petersen am 29. September 1990, in: Sammlung Meinhold (wie Anm. 57) u. PPAV, Ordner: UKP Jena ab 1989; abgedr. bei Barbara Kluge: Peter Petersen. Lebenslauf und Lebensgeschichte. Auf dem Weg zu einer Biographie. Heinsberg 1992. S. 354f., Zitate S. 355. Mündliche Auskunft Gottfried Meinholds v. 17.1.2012. Schritte auf dem Weg zur Demokratisierung, in: AMJ 2 (Studienjahr 1990/91), Nr. 1 (3.9.1990), S. 3. Ernst Schmutzer: Interregnum und „Jenaer Modell“. Die Friedrich-Schiller-Universität Jena in der politischen Wende 1989–1991, in: Herbert Hörig (Hg.): Überlast in Freiheit. Festschrift für Dietrich Grille, Mainz 1995, S. 131–142. Tobias Kaiser/Rüdiger Stutz/Uwe Hoßfeld: Modell- oder Sündenfall? Die Universität Jena und die „Dritte Hochschulreform“, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 8 (2005), S. 45–69; Rita Seifert: Strukturelle Veränderungen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena von 1968 bis 1990, in: Hoßfeld u.a.: Hochschule (wie Anm. 34), Bd. 1, S.320–338, hier S. 333f.; die 1968 gebildeten vier Fakultäten des WR – darunter die für die pädagogischen Wissenschaften zuständige „Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät“ – trugen anderen Charakter und wurden 1990 mit dem WR aufgelöst– vgl. auch UAJ, Best. WR 1968–1990. Rektor Schmutzer am 27.11.1990 vor dem Senat über sein Gespräch mit dem Thüringer Minister für Wissenschaft und Kunst, in: Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok. Nr. 210, S. 299–301, hier S. 300.

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(Hochschulpädagogik) geleitete Sektion Erziehungswissenschaft.67 Eine – wie es in einer neueren Studie heißt – „bedauernswert schwache Disziplin“, die in der DDR „keine Stärke entfalten“ konnte – „weder im Lichte der großen Traditionen der Jenaer Pädagogik, wie sie beispielsweise durch die Namen von Wilhelm Rein, Herman Nohl, Eberhard Grisebach und Peter Petersen bestimmt wird, noch im Sinne einer neuen Disziplin, die den hohen Anspruch erhob, die Erziehung des sozialistischen Menschen in seinem ganzen Lebenslauf wissenschaftlich zu optimieren.“68 Seit dem Frühsommer 1990 gehörte sie zu der für die Fachgebiete Psychologie, Erziehungs- und Sportwissenschaft gebildeten „Psychologisch-Pädagogisch-Sportwissenschaftlichen Fakultät“ (PPSF). Die Jenaer Erziehungswissenschaftler blieben keineswegs untätig. Im Juni 1990 stellten sie beim Rektor den Antrag, zum 1. September 1990 im Rahmen dieser neuen Fakultät ein Institut für Pädagogik zu gründen; dafür wählten sie den Hochschulpädagogik-Dozenten Trier zum künftigen Institutsdirektor.69 Das blieb allerdings folgenlos. Die neue Universitätsleitung unterließ solche strukturbildenden Maßnahmen in den „sensiblen Bereichen“, um Künftigem nicht vorzugreifen. Da im neuen Studienjahr gravierende Veränderungen zu erwarten seien, forderte der Rektor die Dekane der lehrerbildenden Fakultäten auf, keinerlei Entscheidungen zu treffen, die später wieder zurückgenommen werden müssten.70 Gleichzeitig begannen vorbereitende und evaluierende Maßnahmen in den „abwicklungs-relevanten“ Bereichen. In diesem Kontext legte die Sektion Erziehungswissenschaft einen Entwicklungsplan für das beantragte Institut für Pädagogik vor und unterbreitete entsprechende Lehrvorschläge, Studien- und Prüfungsordnungen.71 Anfang Dezember wurde ihr jedoch die Absicht der Universitätsleitung mitgeteilt, die gesamte Sektion „abzuwickeln“. Dagegen protestierte sie am 3. Dezember 1990 in einem Brief an den Minister für Wissenschaft und Kunst, Ulrich Fickel (FDP), ohne sich der Verantwortung dafür entziehen zu wollen, „in der Vergangenheit [. . . ] eine politisch indoktrinierte, weltanschaulich einseitige und wissenschaftlich eingeengte Sichtweise der erziehungswissenschaftlichen Ausbildung und Forschung zugelassen und auch mitgetragen zu haben“.72 Die Erziehungswissenschaftler betonten ihre Reformbereitschaft, ihr 67

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Die Sektionsgeschichte ist bislang nicht untersucht worden; zur Gründung am 1.10.1969 vgl. UAJ, Best. VA, Nr. 5413; 1990 hatte die Sektion einen Personalbestand von 41 Personen, davon 2 ordentliche Professoren (Wenge, Mitzenheim), 1 a.o. Professor, 4 Dozenten, 4 Oberassistenten, 20 Assistenten und Mitarbeiter, 10 technische Mitarbeiter und Sekretärinnen – UAJ, Best. ZA, Nr. 58, n.p. Martha Friedenthal-Haase: Der Pädagoge Werner Dorst, seine Universitätskarriere und seine Auseinandersetzung mit der westdeutschen Pädagogik, in: Hoßfeld u.a.: Hochschule (wie Anm. 34), Bd. 2, S. 2071–2105, hier S. 2095f. UAJ, Best. ZA, Nr. 58, n.p. (Mitteilung des noch amtierenden Sektionsdirektors Horst Wenge v. 22.6.1990 an den Rektor über die Wahl Triers u. die vorgesehene Institutsgründung; nicht datierter Antrag der Sektion zur Institutsgründung mit Struktur- und Personalübersicht). Ebd. (Schreiben des Rektors v. 12.9.1990 an die Dekane). UAJ, Best. ZA, Nr. 60, n.p. (Schreiben des geschäftsführenden Direktors Trier v. 12.11.1990 an den Dekan der PPSF mit dem Entwicklungsplan als Anlage) u. Nr. 58, n.p. (Schreiben Triers v. 16. u. 19.10.1990 an den Prorektor GKS mit Lehrvorschlägen, Studien- und Prüfungsordnungen als Anlagen). Schreiben des geschäftsführenden Sektionsdirektors u. des Gewerkschaftssekretärs v. 3.12.1990

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Bemühen, der Lehre ein „neues Profil“ zu geben sowie ihre intensiven Kontakte in die „alten Bundesländer“ und ins Ausland, um sich für die „neuen Aufgaben“ zu qualifizieren“.73 Umso unverständlicher sei der „Abwicklungs-“Beschluss, zumal die Sektion bislang nicht einmal evaluiert worden sei. In ähnlicher Weise wandte sich der geschäftsführende Direktor tags darauf mit der Bitte an den Rektor, „eine notwendige und differenzierte Klärung der weiteren Tätigkeit der Mitarbeiter dieser Sektion an der FSU sowie der weiteren Gesamttätigkeit dieser Sektion bzw. eines künftigen Instituts für Pädagogik zu befördern.“ „Wir sind uns“ – schrieb Trier – „zutiefst bewußt, daß auch in der Pädagogik eine grundhafte Erneuerung in Lehre und Forschung erforderlich ist, um vor den Studenten und in der Öffentlichkeit wieder glaubwürdig zu werden. Dieser Verantwortung wollen und werden wir uns nicht entziehen, nicht zuletzt im Wissen darum, daß das für viele Kollegen sehr schmerzhaft, jedoch unumgänglich ist, um ehrlich und aufrecht in einer demokratischen Gesellschaft arbeiten zu können.“ Eine „Abwicklung“ entziehe dem aber den Boden, mache die „Initiative und Leistungsbereitschaft vieler Kollegen“ zunichte und käme einer „pauschalen Vorverurteilung“ gleich.74 Bei der Suche nach – inhaltlich möglichst weit von den bisherigen entfernten – „neuen Aufgaben“ lag das Thema „Reformpädagogik“ nahe. Der Ruf nach alternativem Lehren und Lernen ging zwar von pädagogischen Basisgruppen aus und nicht von den bisher etablierten Erziehungswissenschaftlern. Diese griffen das aber gerne auf, um so aus ihrer unsicher gewordenen Lage herauszukommen und neue Tätigkeitsfelder zu finden.75 Das befremdete freilich nicht nur Lehreraktivisten des „pädagogischen Aufbruchs“ sondern auch diejenigen – wenigen – Erziehungswissenschaftler, die sich in der DDR für das reformpädagogische Ideengut eingesetzt hatten und nun in mehrfacher Hinsicht desillusioniert wurden: durch dieses Verhalten ihrer ehemaligen Kollegen, bei denen sie früher kaum Rückhalt gefunden hatten; durch die rasche Übernahme des dreigliedrigen bundesdeutschen Schulsystems, das wenig Raum für reformpädagogische Initiativen ließ; durch die damit verbundene Aussichtslosigkeit reformpädagogischer Lehrinhalte an den Hochschulen und durch die allgemeine Unsicherheit, die auch vor ihnen nicht Halt machte.76

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im Namen der Mitarbeiter der Sektion an den Thüringer Minister für Wissenschaft und Kunst, abgedr. in: Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok. Nr. 216, S. 306f., Zitat S. 306. Ebd., S. 307; vgl. auch Paul Mitzenheim: Dokumentation zur Tätigkeit der Sektion Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena in den 1980er Jahren und darüber hinaus, in: Hoffnungen. Enttäuschungen. Neue Erfahrungen. Deutsche Hochschullandschaft in der „Wende“. Das Beispiel Friedrich-Schiller-Universität. Protokollband der gleichnamigen Tagung am 12. Mai 2007 in Jena, Jena 2007, S. 123–151. UAJ, Best. ZA, Nr. 58, n.p. (Schreiben Triers v. 4.12.1990 an den Rektor mit dem Brief v. 3.12.1990 als Anlage). Generell dazu Keim: Verunsicherung (wie Anm. 39). Als Beispielzitat für diese Stimmung: „Illusionen sind zerstört, Utopien stürzen ein, Realitätswahrnehmung erschüttert bisherige Denkmuster, Identitätsverluste, Sinnkrisen, Schuld und Irrtum prägen das Schicksal vieler Menschen.“– Christa Uhlig: Gab es eine Chance? Reformpädagogik in der DDR, in: Andreas Pehnke (Hg.): Ein Plädoyer für unser reformpädagogisches Erbe. Protokollband der internationalen Reformpädagogik-Konferenz am 24. September 1991 an der Pädagogischen Hochschule Halle-Köthen, Neuwied/Berlin 1992, S. 139–151, hier S. 141.

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Im Falle Jenas bot sich für diesen Zugriff auf das Thema „Reformpädagogik“ die „Jenaplan-Pädagogik“ an. Sie spielte in der Reformgruppe „Alternative Pädagogik“ bereits eine große Rolle, bewegte das Schultreffen der „Ehemaligen“ und war mit der Idee verbunden, in Jena wieder eine Jenaplan-Schule zu gründen. Der Kreis um Mitzenheim und Wenge konnte sich immerhin darauf berufen, 1984 ein PetersenKolloquium veranstaltet und seit 1988 Kontakte zur „Jenaplan-Forschungsstelle“ an der Universität Gießen aufgenommen zu haben. In großer Eile bereiteten die Jenaer Erziehungswissenschaftler einen 1991 im Universitätsverlag erscheinenden, vor allem auf Petersen ausgerichteten Sammelband „Reformpädagogik in Jena“ vor, an dem sich auch alt-bundesdeutsche und niederländische Kollegen beteiligten.77 Sie holten damit gleichsam das nach, was sie bis 1989 versäumt hatten. Freilich rächte sich nun der geringe Forschungsvorlauf. Unter den Jenaer Studien stach lediglich die über Jenaer Montessori-Einrichtungen der 1920er/30er Jahre mit einer breiten empirischen Basis hervor.78 Von den Jenaer Petersen-Studien befasste sich nur ein Beitrag mit einem Tätigkeitsfeld Petersens.79 Mitzenheims einführende biographische Skizze Petersens zeigte deutlich das Dilemma umwertender und „nachholender“ Beschäftigung mit diesem Thema.80 Er beschrieb Petersen – ganz anders als bei dem Petersen-Kolloquium 1984 – nun als progressiven Wissenschaftler, Pädagogen und Lehrerbildner, der „Menschen humaner Gesinnung“ wollte, der „eine führende Position bei der Demokratisierung der Lehrerbildung und des Bildungswesens“ nach 1945 einnahm, dessen Schule 1950 unberechtigterweise geschlossen wurde und dessen Werk in der DDR „einseitigen und weitgehend ungerechten“ Urteilen ausgesetzt war.81 Dabei machte Mitzenheim – anders als Dietrich in seinem Festvortrag 1990 – keinen Bogen um Petersens Rolle in der NS-Zeit und bemühte sich, sie differenziert zu beurteilen. Petersen sei nach 1933 nicht als „ausgesprochener Regimegegner hervorgetreten“. Er habe sich angepasst, „nicht entschieden von der Ideologie der Nazis abgegrenzt“ und so „objektiv das faschistische System mitgetragen und unterstützt“. Andererseits seien in der Universitätsschule und in der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt „durch die wachgehaltene Tradition im inneren Schulleben und im Umgang miteinander ein gewisses Maß an Freiheit und ein hilfreiches Zueinander gerettet“ worden. Es gäbe Anzeichen, dass Petersen „durch verbale Zugeständnisse die faschistischen Machthaber mehr getäuscht als unterstützt“ habe.82 Alles in allem lief Mitzenheims biographische Skizze auf eine – 1984 noch ausdrücklich verweigerte – „positive Umdeutung bisheriger Wer77

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Reformpädagogik in Jena. Peter Petersens Werk und andere reformpädagogische Bestrebungen damals und heute, Jena 1991 – mit Beiträgen u.a. von Theo Dietrich, Theodor F. Klaßen , Ralf Koerrenz, Will Lütgert u. Michael Seyfarth-Stubenrauch (alte Bundesrepublik), Kees Both u. Kees Vreugdenhil (Niederlande); bezeichnenderweise gehörte die in kritischer Distanz zu den Jenaer Erziehungswissenschaftlern stehende Barbara Kluge nicht zu den Beiträgern, obwohl sie gerade die bis dahin empirisch fundierteste Petersen-Biographie (wie Anm. 61) erarbeitete. Kurt Meinl: Montessori-Einrichtungen in Jena, in: Reformpädagogik (wie Anm. 77), S. 183–214. Walter Wennrich: Pädagogische Tatsachenforschung in Jena, ebd., S. 30–39 Paul Mitzenheim: Peter Petersen (1884–1952). Skizze seines Lebensweges und Wirkens, ebd., S. 6–24; mit ähnlicher Grundtendenz vgl. ders.: Der Jena-Plan von Peter Petersen, in: AMJ 1 (1990), Nr. 4, S. 4f. Mitzenheim: Petersen (wie Anm. 80), S. 12, 21. Ebd. S. 16, 18.

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tungen“83 hinaus. Sie stand freilich empirisch auf schwachen Füßen. Einige wenige, nun rasch ermittelte Archivbelege konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die in Jena und Weimar leicht verfügbaren Archivquellen zu Petersens Tätigkeitsfeldern jahrelang ignoriert und nicht systematisch ausgewertet worden waren. Glaubwürdig wirkte diese im Kontrast zur gleichzeitigen bundesdeutschen Petersen-Debatte stehende „umdeutende Wende“ ohnehin nicht. Das zeigte sich vor allem, als die Sektion Erziehungswissenschaft am 25. Oktober 1990 beim Rektor den Antrag auf „Gründung bzw. Wiedererrichtung einer Universitätsschule an der Friedrich-Schiller-Universität Jena“ zum 1. September 1991 stellte.84 Der Antrag berief sich auf die Arbeitskontakte zur „Jenaplan-Forschungsstelle“ Gießen und in die Niederlande. Es gäbe „international große Erwartungen an die Universität Jena zur Wiedererrichtung einer Universitätsschule [. . . ], die sich dem Jenaplan verpflichtet fühlt; denn Petersen hat die innere Schulreform schon zu seiner Zeit als erster konsequent als ein europäisches Phänomen begriffen und als europäische Aufgabe behandelt.“ Die Schule solle als Angebotsschule in der Trägerschaft des Landes Thüringen und gleichzeitig als wissenschaftliche Einrichtung der Universität eingerichtet werden. Damit werde auch „einer ethisch-moralischen Verpflichtung der Alma mater jensensis gegenüber dem in der pädagogischen Welt innerhalb und außerhalb Deutschlands geachteten Peter Petersen Genüge getan und eine Grundlage dafür geschaffen [. . . ], den Ruf Thüringens und Jenas als ein Zentrum pädagogischer Innovationen wieder herzustellen“.85 Das sollte sich auch in der künftigen Lehr- und Forschungstätigkeit des beantragten Instituts für Pädagogik niederschlagen. Der am 12. November von der Sektion vorgelegte „Entwicklungsplan für ein Institut für Pädagogik“ wies die Erforschung der reformpädagogischen Traditionen der Universität und der Region sowie ein Kooperationsabkommen mit Klaßen (Gießen) zum Thema „Jenaplan-Pädagogik. Historische Entwicklung und gegenwärtige Realisierung“ aus.86 Die Lehrvorschläge der Sektion sahen Lehraufträge für Klaßen („Jenaplan-Schulen. Pädagogische Konzeption und Realisierung“) und Flitner („Reformpädagogik gestern und heute“) vor.87 Dass ausgerechnet diejenigen, die den Jena-Plan und die Universitätsschule noch in den 1980er Jahren zum Negativerbe „spätbürgerlicher Reformpädagogik“ gezählt hatten, nun diesen Antrag stellten und solche Vorschläge unterbreiteten, ließ ihr Anliegen fragwürdig und seine Aussichten zweifelhaft erscheinen. Das setzte sie dem begründeten Verdacht aus, so lediglich der drohenden „Abwicklung“ entgehen zu wollen. Der Antrag vom 25. Oktober löste nicht nur in Jena, sondern auch bei 83 84

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Anm. 13. UAJ, Best. ZA, Nr. 58, n.p. (Kopie des Antrags, der offenbar auch dem Schreiben v. 4.2.1990 [Anm. 74] als Aktivitätsbeleg beigefügt wurde); eine Kopie des Antrages mit elfseitiger Begründung befindet sich in: DJM, Ordner 1 (1990/91); den Antrag unterschrieb der geschäftsführende Direktor Trier; die Begründung wurde von den Jenaer Erziehungswissenschaftlern und Fachdidaktikern gemeinsam mit dem Institut für die Ausbildung von Grundschullehrern Krossen/Gera erarbeitet. Ebd., Antrag, S. 1. UAJ, Best. ZA, Nr. 60, n.p. UAJ, Best. ZA, Nr. 58, n.p. (Schreiben des geschäftsführenden Direktors Trier an den Prorektor GKS v. 16.10. u. 12.12.1990).

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Jenaplan-Pädagogen in den „alten Bundesländern“ Befremden aus. Sein Konzept sei wenig durchdacht. Wenn es unmittelbar an 1950 anknüpfen wolle, blieben „die letzten 40 Jahre ungelebt und unverarbeitet“. Das Konzept gebe überhaupt keine Antwort auf die Frage, wie mit diesem Problem in der Schule umgegangen werden solle. Der ganze Antrag wirke – auch mit seiner Berufung auf Gießen – „manipuliert, alte Seilschaften lassen grüßen.“88 In Jena bot eine Initiative Barbara Mergners den Antragstellern kurzzeitig ein Forum. Mergner verstand ihre „Reformpädagogische Werkstatt“, wie sie seit November 1990 hieß, als „Vermittlungsinstanz zwischen Theorie und Praxis der Jenaplan-Pädagogik in Thüringen“.89 In diesem Sinne regte sie einen „Arbeitskreis ‚Jena-Plan-Pädagogik‘“ mit dem Ziel an, die 1950 geschlossene Schule wiederzueröffnen.90 Dieser Arbeitskreis konstituierte sich am 29. Oktober 1990 – wenige Tage nach dem Antrag der Erziehungswissenschaftler – in der EOS „Johannes R. Becher“ mit einem „Freundeskreis ‚Peter Petersen‘“ (Walter Jungstand, Ulli Wittich-Großkurth), einer Arbeitsgruppe „Fortbildung/Arbeit mit den Eltern“ und einer Arbeitsgruppe „Konzeption“, in der neben Lehrern auch Christa Wenge (Allgemeine Didaktik) und Paul Mitzenheim von der Sektion Erziehungswissenschaft saßen.91 Das konnte nicht gut gehen und beruhte auf einer völlig falschen Einschätzung der Lage. Zwar stellten Jungstand und Wittich-Großkurth anfangs ihre Bedenken gegen die Erziehungswissenschaftler wegen des verbindenden Anliegens der Schulgründung92 zurück. Bei den Lehrern des „pädagogischen Aufbruchs 1989“ schrillten aber die Alarmglocken. Viele von ihnen hatten ihre Ausbildung bei den Jenaer Erziehungswissenschaftlern durchlaufen und sie als überwiegend systemkonforme, Studenten politisch bedrängende Hochschullehrer in Erinnerung, die jegliche Beschäftigung mit reformpädagogischen Ideen zu unterbinden suchten.93 Deshalb wandten sie sich entschieden gegen deren Bestreben, nun eine Jenaplan-Schule gründen oder mitgestalten zu wollen. Das Problem beschäftigte auch die Stadtöffentlichkeit. Am 15. November 1990 verabschiedete der Bildungsausschuss für die nächste Stadtverordnetenversammlung zwei Beschlussvorlagen zur „Kompetenz des kommunalen Schulträgers“ und zur Gründung einer Jenaplan-Schule („Petersenschule“). Bei der Begründung beider Vorlagen betonte der Ausschuss die aus dem „Herbst 1989“ und dem „Neuen Forum“ hervorgegangene „reformpädagogische Bewegung in Jena“ und die Notwendigkeit einer reformpädagogischen Schule, die in der Tradition der 1950 geschlossenen 88 89 90 91

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Schreiben der Gemeinschaftsgrundschule („Peter-Petersen-Schule“) Köln-Mülheim v. 27.11.1990 an Gisela John, in: DJM, Ordner 1 (1990/91). Reformpädagogische Werkstatt. Angebote Januar/Februar 1991, in: DJM, Ordner 1 (1990/91). Werkstatt für praktisches und ökologisches Lernen. Angebote Oktober 1990, in: DJM, Ordner 1 (1990/91). Struktur- und Mitgliederliste in: DJM, Ordner 1 (1990/91); zu den Lehrern in der Arbeitsgruppe „Konzeption“ gehörten auch die später an der Jenaplan-Schule tätigen Lehrerinnen Dagmar Gottschall, Sylvia Hoke, Christine Seidemann u. Anne Ziebula; Barbara Mergner gehörte beiden Arbeitsgruppen an. Der Jenaer Schulplan 1924. Interview mit Dr. Dr. Jungstand, in: OTN v. 7.11.1990. Als Beispiel eines extrem negativen Mitzenheim-Bildes vgl. Lutz Rathenow: Ohne Kommentar, in: ders.: Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet. Erzählungen, München/Zürich 1989. S. 53–57.

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Schule Petersens stehe und zugleich die Erfahrungen der letzten vierzig Jahre berücksichtige. Doch müsse die Gründung dieser Schule – so der Dezernent Frank Schenker, die Ausschussvorsitzende Gisela John und der Abgeordnete Klaus-Jürgen Appenroth – von der Kommune ausgehen und dürfe nicht „Sache der Uni[versität] werden“. Das dort vorgelegte Konzept entspräche nicht einer Jenaplan-Schule; es benutze Petersen „als Alibi“. Sie verwiesen ausdrücklich darauf, dass Mitglieder der Sektion Erziehungswissenschaft im „Arbeitskreis ‚Jenaplan-Pädagogik‘“ vertreten seien. Das sei „unglaubwürdig“. Die Schule müsse in enger Zusammenarbeit von reformpädagogischer Basisbewegung und Schulamt entstehen.94 Das sah auch Walter Jungstand so. Am 10. November schrieb er der Ausschussvorsitzenden, er stimme mit ihr überein, dass man beim Umgang mit den Erziehungswissenschaftlern der Universität „sehr vorsichtig sein sollte“, zumal eine „irgendwie aufgewertete“ erziehungswissenschaftliche Sektion auch die Arbeit des Prorektors Meinhold erschwere. In diesem Punkte verstehe er Frau Mergner nicht.95 Nach den Beschlüssen des Bildungsausschusses stellte Jungstand seine Mitarbeit im „Arbeitskreis ‚Jenaplan-Pädagogik‘“ ein, weil er „die Vereinnahmung der Initiative durch die Jenaer Erziehungswissenschaft fürchtet und ablehnt.“96 Am 29. November vereinbarte daraufhin eine interne Beratung des Arbeitskreises, die beiden Projekte einer Universitäts-Übungsschule (als Angelegenheit der Erziehungswissenschaftler) und einer Jenaplan-Schule (als Angelegenheit der Kommune und des Arbeitskreises) zu trennen.97 Auf seiner zweiten Sitzung am 4. Dezember beschloss der Arbeitskreis, in diesem Sinne an die Öffentlichkeit zu gehen,98 spielte dann aber keine Rolle mehr. Hingegen beteiligte sich Mergners „Reformpädagogische Werkstatt“ aktiv am weiteren Prozess der kommunal initiierten Schulgründung. Unter anderem organisierte sie zwei „Reformpädagogische Wochenenden“ auf der Leuchtenburg am 7./8. Dezember 1990 und am 25./26. Januar 1991.99 Unterdes klärte sich die Lage an der Universität. Die nun forcierte „Abwicklung“ entzog dem Sektionsantrag vom 25. Oktober auch dort den Boden. Die ADEH und das Ministerium drängten darauf, belastete Bereiche aufzulösen und mit neuem inhaltlichen Profil wieder zu gründen.100 Vom 6. bis 11. Dezember 1990 fasste der Senat 94

„Nur in dieser Konstellation“ – so die letzten beiden Sätze der Begründung der Beschlussvorlage zur Schulgründung – „können tragfähige Grundlagen für eine solche Schule geschaffen werden. Dann werden auch die nötigen Beziehungen zur Universität herstellbar sein. Bisher waren und sind die pädagogischen Einrichtungen und Wissenschaftler der Universität dazu nicht in der Lage.“ Diese beiden Sätze wurden von der Stvv am 19.12.1990 gestrichen, die Vorlage ansonsten aber angenommen; Protokoll des Ausschuss-Sitzung v. 15.11.1990 in: StAJ, Protokolle des Bildungsausschusses 1990–1992; Beschlussvorlage Nr. 247/90 in: StAJ, 10. Tagung der Stvv am 19.12.1990; Kopien der Ausschuss-Sitzung u. der Beschluss-Vorlage in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 95 Brief Jungstands an Gisela John v. 10.11.1990, in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 96 Mergner: Schulgründung (wie Anm. 26), S. 10. 97 Ebd. 98 Ebd.; Neue Bemühungen um Jena-Plan-Schule. Arbeitskreis geht in die Öffentlichkeit, in: TLZ v. 5.12.1990. 99 Mergner: Schulgründung (wie Anm. 26), S. 10; Einladung zum 2. Wochenende in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 100 Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok. Nr. 221 (Protokoll der Senatssitzung v.

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entsprechend rigorose „Abwicklungs-“Beschlüsse, die auch die Sektion Erziehungswissenschaft betrafen.101 Nach Protesten setzte sich zwar der um Ausgleich bemühte Rektor Schmutzer für abschwächende Maßnahmen ein. Einige Einrichtungen wurden von der „Abwicklungs-“Liste wieder gestrichen. Das betraf aber nicht die Erziehungswissenschaft. Für sie galt die Konsens-Formel „Abwicklung und Neugründung im gleichen Atemzug“; gerade die Erziehungswissenschaft müsse „vollständig abgewickelt werden, um neu berufen zu können.“102 Die Sektion Erziehungswissenschaft stand nicht auf der „Positivliste“ der gemäß „Einigungsvertrag“ am 17. Dezember 1990 vom Land Thüringen übernommenen Hochschuleinrichtungen.103 Deshalb wurde sie zum 1. Januar 1991 aufgelöst. Dagegen protestierten Trier und Mitzenheim im Auftrag der Hochschullehrer und Mitarbeiter vergeblich beim Thüringer Landtagspräsidenten, Gottfried Müller: Das sei ein „beispielloser Rechtsbruch“, der Lehre und Neuansätze gefährde und von den Betroffenen nicht akzeptiert werde.104 Von der in den Protestschreiben am 3./4. Dezember 1990 geäußerten Bereitschaft, sich der Verantwortung für das eigene Verhalten bis 1989 zu stellen,105 war nun freilich nicht mehr die Rede. Nach diesen „Abwicklungs-“Beschlüssen trat ein im Aufbau befindliches, geschäftsführend von Günther Scholz (Pädagogische Psychologie) geleitetes Institut für Erziehungswissenschaften der Psychologisch-Pädagogisch-Sportwissenschaftlichen Fakultät (später Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften) an die Stelle der aufgelösten Sektion.106 Bis zu den bevorstehenden Struktur- und Berufungsmaßnahmen wurde die Lehrtätigkeit 1991/92 teils von Hochschullehrern und Mitarbeiter der aufgelösten Sektion, teils von auswärtigen Fachleuten – darunter Andreas Flitner (Tübingen), Peter Fauser (Tübingen), Manfred Heinemann (Hannover), Theo Dietrich (Bayreuth), Theodor F. Klaßen (Gießen) und Rolf Jäßl (Dornach/Schweiz) – über Lehraufträge oder Stellenvertretungen abgedeckt. Die nun auch evaluierten Hochschullehrer und Mitarbeiter der „abgewickelten“ Sektion saßen mit befristeten oder ruhenden Arbeitsverhältnissen in einer ungewissen „Warteschleife“. Nur wenige von ihnen – darunter der geschäftsführende Direktor Scholz – wurden schließlich in das neue Institut übernommen. Er habe – schrieb Theodor Klaßen (Gießen) am 27. Januar 1991 an die Bildungsausschuss-Vorsitzende Gisela John – Mitzenheim und dem Ehepaar Wenge klar machen müssen, „daß ihre Zeit vorbei ist, endgültig“; zugleich bat er aber um Verständnis dafür, dass das nicht das Ende seiner Solidarität mit Menschen

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4.12.1990), S. 311f.; vgl. zu den „Abwicklungs-“Vorgängen auch: Ploenus: „Wende“, S. 457– 462; ders.: Ankunft (beide wie Anm. 34), S. 859–865; Meinhold: Universität (wie Anm. 36), S. 194–200. Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok. Nr. 224, 225, 227, 228, S. 314–317, 319–324. So Prorektor Meinhold in einer Rektoratsberatung am 16.12.1990, in: Meinhold: Universität (wie Anm. 36), Dok. Nr. 17, S. 246–248, Zitate S. 246, 247. Gottwald/Ploenus: Aufbruch (wie Anm. 34), Dok. Nr. 239, S. 341–343. Schreiben v. 9.1.1991 an den Präsidenten des Thüringer Landtages, abgedr. in: Hoffnungen (wie Anm. 73), S. 149; zum Protestschreiben v. 3.12.1990 vgl. Anm. 64. Anm. 72, 74. Die Bezeichnungen wechselten anfangs zwischen „Psychologisch-PädagogischSozialwissenschaftliche Fakultät. Erziehungswissenschaften“ und „Institut für Erziehungswissenschaften i. E.“; zur Gründungsgeschichte des IfE 1991/92 vgl. UAJ, Best. ZA, Nr. 13, 18, 58, 59, 60.

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sein könne, die sich nun – ob zu Recht oder zu Unrecht – in einer verzweifelten Lage befänden.107 Am 14. März 1991 nahm die Hochschulstrukturkommission des Landes Thüringen ihre Tätigkeit mit dem Ziel auf, die Hochschulstrukturen des Landes denen der „alten Bundesländer“ anzugleichen, neue Profile in den „abgewickelten“ Bereichen zu schaffen, die Lehrstellen neu zu besetzen und in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Hochschulen entsprechende Berufungsverfahren durchzuführen.108 Das war an der Jenaer Universität bereits im September/Oktober 1990 vom ADEHUmfeld gefordert worden.109 Im April setzte die Kommission Unterkommissionen für Lehrerbildung/Erziehungswissenschaften ein, an denen auch Theodor Klaßen und Andreas Flitner mitwirkten und die Ende Mai/Anfang Juni 1991 ihre Struktur-, Ausstattungs- und Ausschreibungsempfehlungen für das neue Institut für Erziehungswissenschaften vorlegten.110 Die neu berufenen Professoren nahmen dort 1992/93 ihre Tätigkeit auf. Die Transformations- und „Abwicklungs-“Prozesse im Wissenschafts- und Hochschulsystem der „neuen Bundesländer“ stießen öffentlich freilich auf massive Sorgen, Einwände und Widerstände. Manche fürchteten oder behaupteten, die Hochschulen sollten geschlossen werden. Andere kritisierten diese Vorgänge als bloße Übernahme eines selbst bereits reformbedürftigen altbundesdeutschen Systems. Auch nährten die Vorgänge den Verdacht, damit sollten nur „alte Rechnungen beglichen“, die DDRWissenschaft liquidiert, marxistisches Denken ausgegrenzt und ein fadenscheinig begründeter Elitenwechsel durchgesetzt werden.111 Die davon Betroffenen haben das nachträglich 2007 auch so für die Jenaer Vorgänge 1990/91 dargelegt.112 In diesem Kontext distanzierte sich Mitzenheim ausdrücklich von der „Petersen-Euphorie 1990/91“.113 Dieser Text zeigt die Enttäuschung eines damals „nicht Gewollten“, 107 DJM, Ordner 1 (1990/91); „Ganz gleich, was diesen Menschen vorgeworfen wird, was sie vielleicht verschuldet haben“ – schrieb Klaßen – „ ich sehe, wie verstört sie sind, wie unsicher, wie verständnislos sie ihrer Situation gegenüber stehen, sie begreifen nicht, wie es dazu kommen konnte, jetzt fühlen sie sich ungerecht behandelt und vor allem gedemütigt. Niemand ist mehr da, dem sie sich öffnen können, alle sind gegen sie, [. . . ] sie tappen im Dunkeln, finden keine Wörter, um ihre Lage zu begreifen und zu beschreiben. So etwas auf dem Gesicht derjenigen zu sehen, die einmal die Macht hatten, ist außerordentlich schmerzlich, weil jede Art von Einsicht fehlt. [. . . ] Ich spüre doch die Feindseligkeit, mit der sie umgeben sind, wenn sie mit mir irgendwo in der Öffentlichkeit auftauchen. Egal, ob sie sie verdient haben, sie ist bitter für sie und raubt ihnen den Schlaf.“ 108 Protokolle der Hochschulstrukturkommission des Landes Thüringen (14.3.1991–10.12.1992) und ihrer Unterkommissionen, in: Privatsammlung Hans Triebel (Jena). 109 Meinhold: Universität (wie Anm. 36), Dok. Nr. 14 (Brief v. 18.9.1990 an den Leiter der Arbeitsgruppe Wissenschaft, Kunst und Kultur des Politisch-Beratenden Ausschusses zur Bildung des Landes Thüringen), S. 236f. u. Dok. Nr. 15 (Brief Triebels v. 15.10.1990 an den Rektor), S. 238f. 110 Protokolle (wie Anm. 108); UAJ, Best. ZA, Nr. 18, n.p. (Empfehlungen des Unterausschusses „Erziehungswissenschaft/Lehrerbildung“ v. 25.5./8.6.1991). 111 Für die Erziehungswissenschaften vgl. die Beiträge in: Jahrbuch für Pädagogik 1992 u. 1993, darunter – für Jena – Otto Köhler: Vom Abwickler, der kein Abwickler sein will – Ein Gespräch mit Prof. Dr. Manfred Heinemann, in: Jahrbuch für Pädagogik 1992, S. 59–72 sowie das Interview Wolfgang Steinhöfels (Chemnitz) mit Wolfgang Keim in: Pädagogik und Schulalltag 49 (1994), Hf. 4, S. 500–506. 112 Hoffnungen (wie Anm. 73). 113 Paul Mitzenheim: Zur Petersen-Euphorie 1990/91 – Erinnerungen an die Tätigkeit des Jenaer

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aber auch eine erneute Volte Mitzenheims vor dem Hintergrund sich abzeichnender Debatten über Petersens Rolle in der NS-Zeit. Von seiner eigenen „umdeutender Wende“ 1990/91 zugunsten eines überwiegend positiven Petersen-Bildes war nun nicht mehr die Rede. Stattdessen versuchte Mitzenheim den Eindruck zu erwecken, er habe schon immer vor Petersen gewarnt und der rigide DDR-Umgang mit Petersen sei vor allem auf dessen NS-Zeit zurückzuführen.114 Die Namensgebung „Petersenplatz“ 1991 Nicht unmittelbar, wohl aber erinnerungspolitisch verband sich die „Petersen-Ehrung“ der „Ehemaligen“ 1990 mit der städtischen Namensgebung „Petersenplatz“ 1991. Zu Beginn der 1990er Jahre wurden in vielen ostdeutschen Städten vorrangig solche Straßen und Plätze umbenannt, deren Namen der ritualisierten Feier- und Gedenkkultur der untergegangenen DDR entstammten. An die Stelle einer als aufgesetzt empfundenen und oft willkürlichen Namensvergabe „von oben“ trat die bewusste Wahl „beschreibender“ Straßen- oder Flurnamen, die auf die örtliche Umgebung verwiesen und für Bürger wie Besucher „Lokales“ einfingen. Diese kommunalpolitisch vermittelte Abkehr von den Vergabepraktiken im zentralistischen Herrschaftsgefüge der DDR verband sich mit der Wiederentdeckung lokaler Eigenarten. Zwar zeichnete sich auch schon in der späten DDR der 1970er/80er Jahre eine „Motivation durch Heimatbindung“ ab. Aber die blieb damals auf die „neuen Helden der Gegenwart“ bezogen. Nun kehrte in gewisser Weise die einstige bürgerlich-städtische Erinnerungskultur zurück. Auch unter den neu vergebenen Straßennamen überwogen die Personennamen. Es handelte sich aber in erster Linie um lokale „Pioniere“ der Stadterweiterung und Hochindustrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, um honorige Vereinsgründer oder um ortsbekannte Wissenschaftler, Techniker und Künstler. Auch die verschütteten Spuren jüdischer Kultur und Religion sollten durch Rück- oder Umbenennungen von Straßen wieder im städtischen Gedächtnis erinnert werden. Dagegen fanden sich unter den neuen Namenspatronen nur selten Politiker, Bürgerrechtler oder Künstler des Auslands, von den östlichen Stadtbezirken Berlins einmal abgesehen.115 Solchen auf Personen bezogenen neuen Straßennamen konnte durchaus eine beschreibende Tendenz innewohnen, die auf lokale Besonderheiten verwies. Diese „sprechende“ Wirkung verstärkte sich, wenn die Namensvergabe in ausgewählten Stadtvierteln im Sinne einer Clusterbildung gebündelt vorgenommen wurde. Die Jenaer Kommunalpolitik nutzte diese Möglichkeit 1990/91 im großen Stil. Im Nordgebiet der Stadt wurden Straßen nach Jenaer Künstlern, Kunst- beziehungsweise Heimathistorikern und nahe gelegenen Ortschaften umbenannt, in Winzerla nach überregional bekannten Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Managern der ZeissHochschullehrers, ebd., S. 243–249. 114 Ebd., S. 245–247. 115 Grundsätzlich zu Straßen- und Ehrennamen in und nach dem Ende der DDR Johanna Sänger: Heldenkult und Heimatliebe. Straßen- und Ehrennamen im offiziellen Gedächtnis der DDR, Berlin 2006.

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und Schottwerke und in den Stadtvierteln Lobeda-Ost, Lobeda-West und Göschwitz nach Frühromantikern, anderen Dichtern und Jenaer Universitätsprofessoren.116 Diese Verfahrensweise sollte im Stadtraum Jenas die „Individualität des Eigenen“ und das entstehende neue Selbstbild einer modernen, weltoffenen Universitäts- und Wissenschaftsstadt ausdrücken.117 Die Jenaer Debatte um die „Rück-, Um- und Neubenennung“ der mit dem politischen System der DDR verbundenen beziehungsweise daran erinnernden Straßenund Platznamen hatte im Spätherbst 1989 eingesetzt und verstärkte sich im Sommer 1990. Schließlich richtete die im Mai 1990 gewählte Jenaer Stadtverordnetenversammlung am 26. September 1990 einen von Albrecht Schröter (SPD) geleiteten Sonderausschuss „Straßennamen/Ehrenbürger“ ein, der in möglichst kurzer Zeit Klarheit schaffen sollte. Er trat am 6. Oktober zu seiner ersten Arbeitssitzung zusammen.118 Sein Anliegen war unter anderem, „sprachlich unschöne Namen (Genitivkonstruktionen) ebenso zu ersetzen wie die Namen von ,Vorkämpfern‘ des alten Systems, die meist völlig unbekannt waren und in vielen Fällen kaum einen Bezug zu Jena hatten“; wichtig war ihm „die Wiederverwendung alter Flur- und früherer Namen geographischer Bezeichnungen zur besseren Orientierung in der Stadt (Ausfallstraßen) und die Bevorzugung von Namen bedeutender Jenaer Bürger“.119 Auf seiner konstituierenden Sitzung lag dem Sonderausschuss eine Liste mit über 60 Änderungswünschen und mehr als 100 Vorschlägen für neue Straßennamen vor. Sie beruhte auf Zuschriften Jenaer Bürgerinnen und Bürger. Diese waren im März und August/September 1990 in den Lokalzeitungen aufgerufen worden, der Stadtverordnetenversammlung Vorschläge für die „Rück-, Um- und Neubenennung“ von Straßen und Plätzen zu unterbreiten. Aus dieser Liste erarbeitete der Sonderausschuss eine Beschlussvorlage, die vorsah, 57 Namen von Straßen und Plätzen im Stadtgebiet von Jena zu ändern.120 Im Auftrag des Ausschusses stellte eine Autorengruppe kurze biografische Informationen zu den Personen zusammen, nach denen Straßen und Plätze neu benannt werden sollten.121 Für den am Fuße der Kernberge an der Saale-„Oberaue“ gelegenen „Karl-MarxPlatz“ waren dem Sonderausschuss folgende Vorschläge zur Umbenennung eingereicht worden: „Martin-Luther-King-Platz“, „Wöllnitzer Platz“, „Schützenplatz“, „Platz an der Oberaue“, „Seidelplatz“, „Erna-Schrade-Platz“ und „Alfred-DienerPlatz“.122 Mitte September 1990 hatte Albrecht Schröter in einem Interview noch 116 Diese Kriterien sind in der Beschlussvorlage des Sonderausschusses „Straßennamen/Ehrenbürger“ zur Rück-, Um- und Neubenennung Jenaer Straßen v. 16.10.1990 dargelegt und begründet, in: StAJ, 9. Tagung der Stvv am 22.11.1990. 117 Zum Fallbeispiel Jena vgl. Sänger: Heldenkult (wie Anm. 115), S. 206–212, 216–230, Zitat S. 229. 118 Vgl. Sammlung Albrecht Schröter (Jena): Beschlussvorlagen und Sonderausschuss „Straßennamen/Ehrenbürger“, Anwesenheitsliste v. 6.10.1990. 119 Beschlussvorlage v. 16.10.1990 (wie Anm. 116). 120 Anm. 116. 121 Wer ist wer auf Jenas Straßenschildern. Erarbeitet von einer Autorengruppe im Auftrag des Sonderausschusses Straßennamen/Ehrenbürger der Stadt Jena, Redaktion: Jörg Valtin/Eberhard Stein, Jena 1991; zu Stein vgl. Anm. 19, 21. 122 Sammlung Schröter (wie Anm. 118), Protokoll der Sitzung vom 6.10.1990, S. 3; der Platz hatte 1946 den Namen „Karl-Marx-Platz“ erhalten; zuvor hieß er „Schützenplatz“, seit 1914 „Wöllnitzer Platz“, seit 1933 „Adolf-Hitler-Platz“.

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offen gelassen, ob der „Karl-Marx-Platz“ umbenannt werde.123 Man wollte ja keine Bilderstürmerei betreiben. Schließlich entstammte der Name dieses Platzes einer Zeit, als die Namen von NS-Repräsentanten und -Kriegsverbrechern durch Namen ersetzt wurden, die in der Tradition der Arbeiterbewegung für alternative Auswege aus der „deutschen Katastrophe“ standen. Der Name „Karl Marx“ erinnerte nicht nur allgemein an den Philosophen und Marxismus-Begründer, sondern auch lokalgeschichtlich an die externe Marx-Promotion 1841 an der Jenaer Universität.124 Zudem gab es in Jena bereits 1927 bis 1933 eine Karl-Marx-Straße in demokratischer Gedenktradition. Andererseits gehörte der Name spätestens seit dem „Karl-MarxJahr“ 1953 zum Gedenk- und Erinnerungskanon der SED-Diktatur. Seitdem stand eine monumentale Marx-Büste vor der Universität.125 Neben dem „Karl-Marx-Platz“ gab es seit 1953 eine „Karl-Marx-Straße“ in Jena-Göschwitz und seit 1973/75 eine „Karl-Marx-Allee“ in den Neubaugebieten Lobeda West und Ost.126 Das alles sprach dafür, diese überzogene Gedenktradition zu entspannen. Und so stand schließlich der „Karl-Marx-Platz“ als letzter Posten auf der 57 Namen umfassenden Änderungsliste der Beschlussvorlage des Sonderausschusses vom 16. Oktober 1990 für die Stadtverordnetenversammlung. Er solle künftig „Johann-Meyfart-Platz“ heißen, um so den 1590 in Jena geborenen Theologen zu würdigen, der später als Rektor in Coburg und Professor in Erfurt wirkte.127 Umbenannt werden sollten auch die „Karl-Marx-Straße“ in Jena-Göschwitz und der Ostteil der „Karl-Marx-Allee“. In Neulobeda-West blieb es bei diesem Namen. Nur wenige Tage später, am 27. Oktober 1990, ging der Stadtverordnetenversammlung ein weiterer Änderungsvorschlag zu. Walter Jungstand, der Organisator des „Schultreffens“ und der „Petersen-Ehrung“ Ende September 1990, schlug vor, in Jena eine Straße nach Petersen zu benennen. Er verwies auf dessen Rang als „wohl bedeutendster Pädagoge der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Unter Jenensern sei die Universitätsschule stets als „Petersen-Schule“ wahrgenommen worden. Seit die Universitätsschule 1950 geschlossen worden war, habe im „SED-Staat“ keine nach dem Jenaplan arbeitende Schule existiert, während in den westlichen Bundesländern und in den Niederlanden zahlreiche solcher Reformschulen bestünden.128 Jungstands Vorschlag hatte Gewicht. Vor 1933 stand er als Mitglied der Sozialistischen ArbeiterJugend der SPD nahe. In der DDR unterlag er zeitweisem Berufsverbot. Er musste seinen Beruf wechseln. Seit 1989 setzte er sich vehement für eine „pädagogische 123 Sammlung Schröter (wie Anm. 118), Zeitungsausschnitt v. 15.9.1990, S. 4. 124 Tobias Kaiser: „Die Universität Jena kann Karl Marx als einen der ihrigen bezeichnen.“ Eine Ikone der Arbeiterbewegung in der Erinnerungskultur der Salana nach 1945, in: Jürgen John/Justus H. Ulbricht (Hg.): Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 323–339. 125 Sie wurde 1992 nach einer heftigen, mitunter skurril anmutenden öffentlichen Debatte entfernt und in einem Depot eingelagert – vgl. Dokumente zur Erinnerung an den Jenaer Denkmalsturz 1991/92 anläßlich des 175. Geburtstages von Karl Marx am 5. Mai 1993, (Jena 1993); Kaiser: Universität (wie Anm. 124), S. 337f.; Marco Schrul: Jenseits der „via triumphalis“. Der Wandel der lokalen Erinnerungskultur in Jena seit 1989, in: John/Ulbricht: Jena (wie Anm. 124), S. 341– 356, hier S. 342f. 126 Jenaer Straßennamen von A–Z (= Schriftenreihe des Stadtarchivs Jena 8), bearb. v. Jürgen Jache, Jena 2001/02 Teil 1: A–K, S. 126. 127 Anm. 116. 128 Sammlung Schröter (wie Anm. 118), Briefsammlung, Dok. Nr. 89.

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Wende“ und für die Gründung einer Jenaplan-Schule in Jena ein. Er stand mit den neuen Basisgruppen in Kontakt. Sein Votum dürfte Eindruck auf die Stadtverordneten und Ausschussmitglieder gemacht haben. Der Ausschuss griff den Vorschlag auf. Ein Änderungs- und Ergänzungsvorschlag vom 7. November 1990 zu seiner Beschlussvorlage vom 16. Oktober sah unter Punkt 3 vor, den „Karl-Marx-Platz“ in „Petersenplatz“ umzubenennen. Der „Johann Meyfart betreffende Vorschlag“ – so die Begründung – werde „zeitweilig zugunsten des bedeutenden und in diesem Jahr besonders geehrten Pädagogen Peter Petersen zurückgestellt.“129 Der „pädagogische Aufbruch“ 1989/90, die Renaissance reformpädagogischer Ideen, die Rückbesinnung auf die Jenaplan-Pädagogik und die „Petersen-Ehrung“ vom September 1990 hatten dieser Entscheidung offenkundig vorgearbeitet. Sie ließen Petersen als einen zweifellos verdienstvollen Namensgeber erscheinen. Doch hing diese Entscheidung nicht nur mit dem Rang und Namen Petersens zusammen. Straßenumbenennungen sind immer auch als historische Zeugnisse ihrer Zeit zu verstehen. So zeigten die Jenaer Straßennamen-Debatten und -Maßnahmen 1990, welche bedeutenden bildungs- und schulhistorischen Traditionen der Stadt und Universität Jena in den vergangenen vier Jahrzehnten verschüttet oder nicht gebührend genutzt worden waren. Der politische Umbruch seit 1989 und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 boten die Möglichkeit, sie wieder mit dem nationalen Gedächtnis zu verknüpfen. Jena konnte nun deutschlandweit als ein frühes Zentrum der Heil-, Sonder- und Reformpädagogik erinnert werden. Spätestens seit Wilhelm Rein galt das „pädagogische Jena“ neben Leipzig und Göttingen als ein „Hauptort der wissenschaftlichen Pädagogik“.130 Der zu NS- und DDR-Zeiten verunglimpften beziehungsweise vernachlässigten Heil- und Sonderpädagogik setzte der Sonderausschuss ein Zeichen ehrenden Gedenkens im öffentlichen Raum, als er Johannes Trüper auf die Liste neuer Namenspatrone setzte.131 Von da war es nur ein kleiner Schritt zur öffentlichen Ehrung Petersens durch einen Straßennamen. Zumal 1990 die Auseinandersetzung mit dem untergegangenen SED-Regime im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand und Petersen als ein unter der Herrschaft der SED erst verteufelter, dann weitgehend vergessener beziehungsweise aus dem öffentlichen Gedächtnis verbannter Pädagoge zu rehabilitieren war. Allerdings verengte die Fixierung auf das an Petersen bei seinem Lebensende und danach verübte DDR-Unrecht den Blick auf seine Gesamtbiografie. Das Verdrängen und Beschweigen als „Negativseiten“ des kollektiven Gedächtnisses132 berührten eben auch Petersens Rolle in der NS-Zeit, die 1990/91 bei der Namensvergabe „Peter129 Änderungs- und Ergänzungsbeschlüsse v. 7.11.1990 zur Beschlussvorlage v. 16.10.1990 (wie Anm. 116), in: StAJ, 9. Tagung der Stvv am 22.11.1990; zurückgestellt wurde auch der Vorschlag, eine Straße nach dem zeitweise an der Jenaer Universität wirkenden Physiker Friedrich Hund zu benennen, weil man grundsätzlich keine Namen noch lebender Personen vergeben wolle. 130 Andreas Flitner: Das pädagogische Jena, in: John/Ulbricht: Jena (wie Anm. 124), S. 139–146, hier S. 140. 131 Nach der Beschlussvorlage v. 16.10.1990 sollte die „Bernhard-Kellermann-Straße“ in „Trüperstraße“ umbenannt werden; das wurde auf Antrag des Bürgermeisters Haroske von der Stvv am 22.11.1990 in „Trüperweg“ geändert – vgl. StAJ, 9. Tagung der Stvv am 22.11.1990; Jenaer Straßennamen (wie Anm. 126), Teil 2: L–Z, S. 84. 132 Sänger: Heldenkult (wie Anm. 115), S. 219.

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senplatz“ – anders als dann bei der Namenssuche für die neue Schule – ausgeblendet blieb. Am 22. November 1990 stimmte die Stadtverordnetenversammlung mehrheitlich den Beschlussvorlagen des Sonderausschusses „Straßennamen/Ehrenbürger“ einschließlich der Umbenennung des „Karl-Marx-Platzes“ in „Petersenplatz“ zu.133 Sie beschloss zugleich, dass die vom Sonderausschuss erarbeiteten und nun bestätigten „Rück-, Um- und Neubenennungen“ nicht – wie vom Sonderausschuss vorgeschlagen – zum 1. Juli, sondern bereits zum 1. April 1991 in Kraft treten sollten.134 DIE GRÜNDUNG DER „JENAPLAN-SCHULE“ 1991 Am 15. November 1990 stellte der städtische Bildungsausschuss mit zwei Beschlussvorlagen für das Stadtparlament die Weichen zur Gründung einer „Jenaplan-Schule“ als Schulversuch des Landes (seit 1993 Freistaats) Thüringen.135 Die Vorlagen bezweckten die Gründung einer Reformschule und eine möglichst eigenständige, plurale, für reformpädagogische Impulse offene kommunale Schullandschaft. Das Schulamt Jena – so die Beschlussvorlage „Gründung einer Petersenschule“ – solle zusammen mit dem „Arbeitskreis ‚Jenaplan-Pädagogik‘“ die „Eröffnung einer Jena-Plan-Schule zum 01.09.1991 vor[zu]bereiten und diese Schule beim Kultusministerium als staatlich anerkannte Schulform bis zur Klasse 6 [zu] beantragen.“136 Die Stadtverordnetenversammlung – so die von der Ausschuss-Vorsitzenden Gisela John und vom Bildungsdezernenten Frank Schenker begründete Beschlussvorlage zur „Kompetenz des kommunalen Schulträgers“ – solle dem Thüringer Landtag empfehlen, „in der vorläufigen Schulordnung und in der künftigen Schulgesetzgebung der Kommune die Möglichkeit des Aufbaus von Schulformen einzuräumen, die abschlußorientiert ihre Organisationsformen möglichst eigenständig regeln können.“ Die Begründung verwies auf den unterschiedlichen Stand des Demokratisierungsprozesses und der Organisationsformen der Jenaer Schulen, auf die Jenaer reformpädagogische Bewegung seit dem Herbst 1989 und auf die Notwendigkeit kommunalen

133 StAJ, 9. Tagung der Stvv am 22.11.1990, Protokoll zu Top 21; Jenaer Straßennamen (wie Anm. 126), Teil 2: L–Z, S. 41. 134 StAJ, 9. Tagung der Stvv am 22.11.1990, Beschluss Nr. 223/90. 135 Zu einzelnen Aspekten der Vor- und Gründungsgeschichte der Jenaplan-Schule vgl. auch Jens Lê (in Zusammenarbeit mit dem Team der Jenaplan-Schule): Darstellung des Gründungs- und Arbeitsprozesses der Jenaplan-Schule im Zeitraum November 1989 bis Oktober 1991. Einsendung zum Förderprogramm „Demokratisch Handeln“ (MS 30.11.1991), in: DJM, Ordner 2 (1991/92); Barbara Mergner: Schulgründung, in: Reformpädagogik (wie Anm. 77), S. 247–250 als Resümee ihrer Chronik (wie Anm. 26); Barbara Kluge: Verwirklichte Jenaplan-Pädagogik in Thüringen, in: Pädagogik und Schulalltag 50 (1995), Hf. 3, S. 347–361 u. Gisela John/Britta Müller/Wolfram Bindel: Verwirklichte Jenaplan-Pädagogik seit November 1989, in: Andreas Pehnke (Hg.): Einblicke in reformorientierte Schulpraxis der neuen Bundesländer. Anregungen einer Tagung (= Greifswalder Studien zur Erziehungswissenschaft 4), Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 103–121, hier S. 103–107. 136 Beschlussvorlage Nr. 247/90, in: StAJ, 10. Tagung der Stvv am 19.12.1990; Kopie in: DJM, Ordner 1 (1990/91); vgl. auch Anm. 94.

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Handlungsspielraumes, damit „die reformpädagogischen Elemente stärker in die Gestaltung aller Schulen einfließen können“.137 Im Vorfeld dieser beiden Beschlussvorlagen sprach sich der Schulamtsleiter Frank Schenker für eine baldige Schul-Verordnung der Landesregierung aus, um Klarheit und den nötigen bildungspolitischen Spielraum zu schaffen. Die Partei, die er vertrete (CDU), favorisiere zwar das dreigliederige Schulsystem; sie trete aber zugleich für „plurale Schulformen“ mit alternativen Konzepten ein.138 Die Lehrerin und Ausschuss-Vorsitzende Gisela John (SPD) lud zwei Tage zuvor mit einem „Offenen Brief“ zum „1. Jenaer Reformschulfest“ ein, um den Erfahrungsaustausch über eine „zeitgemäße Schule“ voranzubringen, „die das Denken lehrt, zur Konfliktbewältigung befähigt, Initiative, soziale Verantwortung, Weltoffenheit, Teamfähigkeit, schöpferische Phantasie und ganzheitliches Denken und Handeln“ hervorbringen sollte. Die zentrale Frage laute: „Haben wir es nötig, längst erstarrte Strukturen der westdeutschen Bildungslandschaft zu übernehmen oder können und wollen wir eigene Wege gehen?“.139 Dieses Reformschulfest fand am 9./10. November 1990 unter dem Motto statt: „Können wir – wollen wir – eigene Wege gehen?“140 Am 19. Dezember 1990 stimmte die Jenaer Stadtverordnetenversammlung mehrheitlich den beiden Vorlagen des Bildungsausschusses zu141 und bevollmächtigte dessen Vorsitzende John, sich im Sinne dieser Beschlüsse an die Thüringer Kultusministerin Christine Lieberknecht (CDU) zu wenden. Am 14. Januar 1991 informierte die Ausschuss-Vorsitzende die Ministerin über die Jenaer Vorhaben und bat, „der Kommune zur weiteren Gestaltung der Jenaer Schullandschaft den nötigen Spielraum einzuräumen.“142 Die Ministerin sagte zwei Tage später zu, selbst nach Jena zu kommen, um sich über die dortigen Vorhaben zu informieren.143 Das geschah im März 1991. Ihre kluge und abgewogene Schulpolitik gab den Jenaer Reformprojekten und dem Schulgründungsprozess fortan den nötigen Rückhalt. Im Februar/März 1991 begann eine Zeit intensiver Schulvorbereitungen mit Vorträgen, Lehrerauswahlgesprächen, Arbeitstreffen, Planungen und Beratungen zu Schulkonzept und Schulaufbau, Elterninformationsabenden, Hospitationen an anderen Schulen und mit der Suche nach einem geeigneten Schulstandort. Dabei arbeitete das sich formierende Lehrerteam eng mit dem Jenaer Schulamt und der dort angesiedelten „Reformpädagogischen Werkstatt“ Barbara Mergners zusammen. Dieser oblag die organisatorische, 137 Beschlussvorlage Nr. 246/90, in: StAJ, 10. Tagung der Stvv am 19.12.1990; Kopie in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 138 TLZ v. 8.11.1990. 139 Gisela John: Offener Brief an Jenas Lehrerinnen, in: TLZ v. 6.11.1990; vgl. auch das Porträt der Ausschuss-Vorsitzenden in: TLZ v. 23.6.1990 („Schule so weit auf den Weg bringen, daß nichts mehr kaputtzumachen ist“). 140 Veranstaltet wurde es von Unrein-Schule, Brecht-Schule, Weinert-Schule, Schule „An der Ringwiese“, 3. Oberschule Stadtroda u. dem GEW-Kreisverband Jena; mitwirkend beteiligt war Barbara Mergner („Reformpädagogische Werkstatt“); Veranstalter u. Programm in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 141 StAJ, 10. Tagung der Stvv am 19.12.1990; Kopie in: DJM, Ordner 1 (1990/91); zu den gestrichenen Sätzen der Vorlage zur Schulgründung vgl. Anm. 94. 142 Durchschlag des Schreibens v. 14.1.1991 in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 143 Ebd. (Kopie des Antwortschreibens v. 16.1.1991).

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dem Lehrerteam um die von der „Unrein-Schule“ dafür abgeordnete Gisela John die inhaltliche Planung für die künftige Schule.144 Vom 8. bis 12. April 1991 fand in Weilburg eine vom „Hessischen Institut für Lehrerfortbildung“, der „Jenaplan-Forschungsstelle“ Gießen und der Jenaer „Pädagogischen Werkstatt“ organisierte „Mitarbeitertagung“ des Lehrerteams unter dem Thema „Jena-Plan und die Pädagogik Peter Petersens. Als Anregung für eine menschenfreundliche Schule“ statt.145 An ihr nahm auch Ingeborg Maschmann (Lüneburg) teil, die von 1944 bis 1950 als Lehrerin an Petersens Jenaer Universitätsschule tätig gewesen war.146 Ab September 1991 übernahm sie – anfangs gemeinsam mit Michael Seyfarth-Stubenrauch (Gießen) und Kees Vreugdenhil (Niederlande) – die wissenschaftliche Begleitung der Aufbauphase des Schulversuchs. Am 25. April 1991 gründete sich auf Initiative Barbara Mergners im „Haus auf der Mauer“ ein neuer „Arbeitskreis ‚Jenaplan-Pädagogik’ e.V.“ als Förder- und künftiger Trägerverein der Schule unter Vorsitz der Lehrerin Monika Notni („Magnus-Poser-Schule“).147 Dabei befasste sich die Versammlung auch mit dem aktuellen Stand der Schulgründung, mit dem möglichen Schulstandort und mit dem Schulnamen. Versammlung und Lehrerteam entschieden sich für den von Mergner und Maschmann begründeten Namen „Jenaplan-Schule“ statt „Petersen-Schule“. Mit dieser Namenswahl signalisierten sie ihr Bekenntnis zum schulpraktischen Potenzial der Jenaplan-Pädagogik und zugleich ihre – auch in Kenntnis der (alt)bundesdeutschen Petersen-Debatten bezogene – kritische Distanz zu jeglicher Petersen-Orthodoxie und zur Rolle Petersens in der NS-Zeit.148 144 Ein großer Teil der entsprechenden Unterlagen befindet sich in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 145 Ebd. (Programm der Weilburger Tagung). 146 Ingeborg Maschmann: Hamburg – Jena – Lüneburg 1921 bis 1950. Meine pädagogische Lebensreise im „Zeitalter der Extreme“, Norderstedt 2010, S. 227–386; zum Weilburger Zusammentreffen vgl. den Brief Ingeborg Maschmanns v. 16.4.1991 an Gisela John, in: DJM, Ordner 1 (1990/91). 147 Gründungsprotokoll, Satzung und Ziele des Arbeitskreises in: DJM, Ordner 1 (1990/91); als Gründungsmitglieder nahmen 27 Personen teil, als Gäste Wittich-Großkurth und zwei ehemalige „Petersen-Schüler“, Seyfarth-Stubenrauch (Gießen), Flitner (Tübingen) und Maschmann (Lüneburg); zu den Gründungs-Zielen gehörten die Förderung der Jenaer Schulgründung und der Gründung weiterer Jenaplan-Schulen in Thüringen, den „neuen Bundesländern“ und – gegebenenfalls – in Osteuropa, die Auseinandersetzung mit der Theorie und Praxis der Jenaplan-Pädagogik sowie Kontakte zur „Gesellschaft für Jenaplan-Pädagogik in Deutschland e.V.“, zur niederländischen Jenaplan-Vereinigung und zum „Freundeskreis ‚Peter Petersen’“ (als Vereinigung ehemaliger Petersen-Schüler und -Mitarbeiter); unter dem späteren Vorsitz von Britta Müller („Jenaplan-Schule“) wurde der Verein 1996 als „freier Träger der Jugendhilfe“ anerkannt und übernahm den Vorschulteil der „Jenaplan-Schule“ in freier Trägerschaft; 2007 hatte er 255 Mitglieder – vgl. Britta Müller: Arbeitskreis Jenaplanpädagogik e.V., in: Gisela John/Helmut Frommer/Peter Fauser (Hg.): Ein neuer Jenaplan. Befreiung zum Lernen. Die Jenaplan-Schule 1991–2007, Seelze-Velber 2008, S. 180. 148 Gründungsprotokoll, S. 2; John u.a.: Jenaplan (beide wie Anm. 147), S. 31; schon in ihrer Einladung zum „2. Reformpädagogischen Wochen-Ende auf der Leuchtenburg“ v. 3.1.1991 hatte Mergner auf die Schriften Keims (wie Anm. 50) und auf die Notwendigkeit einer entsprechend „gründlichen und behutsamen Vorbereitung“ der geplanten Jenaplan-Schulgründungen in Jena und Suhl aufmerksam gemacht; Einladung in: DJM, Ordner 1 (1990/91); Maschmann setzte sich seit Mitte der 1980er Jahre – v.a. seit dem „Petersenjahr“ 1984 – für eine – Petersens Erziehungstheorien historisierende und seine NS-Zeit stärker berücksichtigende – kritische

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Im Mai/Juni 1991 begann das letzte Stadium der Vorbereitungsarbeiten. Auf der Grundlage des Vorläufigen Bildungsgesetzes vom 25. März 1991 regelte das Kultusministerium im Mai die Verfahrensweise für neue Schulversuche und für die Überleitung Jenaer Schulen einschließlich der beiden angemeldeten Schulversuche.149 Am 27. Mai bestätigte das Stadtparlament im Rahmen der Schulnetzplanung den Standort „Talschule“ (Ziegenhainer Straße) für die Jenaplan-Schule.150 Am 28. Mai besprachen Gisela John und Barbara Mergner mit dem Schul-Staatssekretär Hermann Ströbel im Ministerium die weiteren Schritte.151 Es wurde festgelegt, bis Mitte Juni gemeinsam mit dem Schulamtsleiter Schenker einen präzisierten Antrag für den Schulversuch zu erarbeiten, der am 25. Juni 1991 an das Ministerium ging.152 Anfang Juni begannen Lehrer und Eltern der künftigen Schule mit der Renovierung und dem Ausbau des für die Schule vorgesehenen Nebengebäudes der „Talschule“.153 Parallel dazu erfolgten die Anmeldungen der Kinder. Am 19. Juni fand der „Schnuppertag“ für die angemeldeten Kinder und ihre Eltern statt.154 Am 1. August bestellte der Jenaer Schulamtsleiter Gisela John zur Schulleiterin der „Jenaplan-Schule“155 und Jens Lê zum Stellvertreter. Am 2. September 1991 nahm die Schule den Schulbetrieb auf.156 „Es ist besser“ – zitierte die DLZ in ihrer Juli-Ausgabe über „schulgestalterischen Pluralismus in Deutschland“ die designierte Schulleiterin John mit Blick auf die beiden Jenaer Schulversuche („Grete-Unrein-Schule“ und „Jenaplan-Schule“) – „zu Hause ein Licht anzuzünden als auf die große Finsternis zu schimpfen (chin[esisches] Sprichwort).“157 Hämische Stimmen meinten zwar unter Verweis auf die westdeutsche Petersen-Kritik und die Schriften Keims, in Jena suche eine kleine Gruppe verunsicherter und ahnungsloser Lehrer mit einer diskreditierten Pädagogik falsche Auswege aus dem gescheiterten DDR-Schulwesen.158 Doch das ging an den Inten-

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Petersen-Forschung ein (vgl. Anm. 49); die Schulgründer suchten zwar “Jenaplan”-erfahrene Verbündete, mieden dabei aber diejenigen Petersen-Schüler, die – wie Mieskes und Dietrich – offenkundig apologetische Positionen bezogen. Schreiben des Thüringer Kultusministeriums v. 10.5.1991 an die Thüringer Schulämter zu Schulversuchen, Kopie in: DJM, Ordner 1 (1990/91); Schreiben (Organisationsverfügung) der Kultusministerin v. 22.5.1991 an den Magistrat der Stadt Jena zur Überleitung von 14 Grundschulen, 8 Regelschulen, 7 Gymnasien, 4 Sonderschulen und der angemeldeten Schulversuche (IGS „Grete Unrein“; Jenaplan-Schule) der Stadt Jena, Entwurf in: ThMBWK, Referat 3B 5. Mergner: Schulgründung (wie Anm. 26), S. 11. Protokoll in: DJM, Ordner 1 (1990/91). Schreiben Gisela Johns (Jenaplan-Schule in Gründung) v. 25.6.1991 im Auftrag des Jenaer Schulamtes und des zukünftigen Lehrerkollegiums der Jenaplan-Schule, Kopie in: DJM, Arbeitsbericht des Schulversuchs „Jenaplan-Schule“ Jena. Schuljahr 1991/92. Protokoll der Ortsbegehung Talschule/Jenaplanschule am 20.6.1991 mit Festlegung der weiteren Maßnahmen in: DJM, Ordner 1 (1990/91). Ebd. (Einladungen, Fotos und Berichte v. „Schnupperfest“). Ebd. (Schreiben v. 1.8.1991 an Gisela John). Materialien der 1. Schulwoche in: DJM, Ordner 2 (1991/92). DLZ 38 (1991), Nr. 27 (1. Juli-Ausgabe), S. 1. Als Beispiel: Hannegret Biesenbaum: Jena erinnert sich an „seinen“ Pädagogen. Aber: Ist Peter Petersen wirklich ein Vorbild für ein demokratisches Erziehungswesen?, in: FR, Nr. 182 v. 8.8.1991, S. 15; zu Keims Schriften vgl. Anm. 50; eine protestierende Zuschrift zum PetersenBild dieses Artikels verfasste Theo Dietrich am 17.9.1991, in: Sammlung Meinhold (wie Anm. 57).

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tionen der Schulgründer vorbei. Hier waren selbstbewusste Lehrerinnen und Lehrer entschlossen, in Kenntnis der Petersen-Kritik und im produktiv-kritischen Rückgriff auf eine anregende Pädagogik eigene Wege zu gehen und eine kreative „neue Schule“ zu schaffen. Am 24. September 1991 genehmigte das Thüringer Kultusministerium den Schulversuch „Jenaplan-Schule Jena“ rückwirkend zum 1. August.159 Am 12. Oktober 1991 fand in der Universitätsaula der Festakt zu ihrer Eröffnung statt.160 Den Festvortrag hielt der Kasseler Erziehungswissenschaftler Hans Rauschenberger über „Schulreform als Zukunftsarbeit“. Mit Referent und Thema schlug der Festakt den Bogen zum Beginn der Vortragsreihe „Alternative Pädagogik“ am 5. Januar 1990 an gleicher Stätte161 und zugleich in die Zukunft der Thüringer Schulentwicklung. Mit der „Jenaplan-Schule Jena“ war nicht nur die erste Jenaplan-Schule Thüringens entstanden. Als staatlicher Schulversuch hatte sie von Anfang an die Aufgabe, Impuls gebend in die Thüringer Schullandschaft zu wirken. Die Kultusministerin Christine Lieberknecht sprach auf dem Festakt deshalb von einem Traum, der in Erfüllung gegangen sei und fügte hinzu: „Von Jena sind richtungsweisende Impulse für die Erneuerung des Thüringer Schulwesens ausgegangen und gehen weiterhin aus.“162 Der Bürgermeister Dietmar Haroske (CDU) erinnerte an die Wurzeln, die Geschichte und das Ende der Universitätsschule und rehabilitierte in diesem Zusammenhang den am Festakt teilnehmenden Petersen-Mitarbeiter Hans Mieskes als denjenigen, der gegen seinen Willen 1950 die angeordnete Auflösung der Universitätsschule durchführen musste.163 Das war von Horst Emden (Weilburg) angeregt und vom 159 Genehmigungserlass der Thüringer Kultusministerin v. 24.9.1991, Durchschrift in: ThMBWK, Referat 3A 2, Ordner „Schulversuch Jenaplan-Schule Jena“, Kopie des eingegangenen Schreibens in: DJM, Ordner 2 (1991/92). 160 Programm, Mitschnitte und Presseberichte in: DJM, Ordner 2 (1991/92); auf die Begrüßung durch die Schulleiterin Gisela John folgten Ansprachen der Ministerin Christine Lieberknecht, des Bürgermeisters Dietmar Haroske, des Bildungsdezernenten und Schulamtsleiters Frank Schenker und der Theologin Ulrike Spengler im Namen der Jenaer „Initiative ‚Alternative Pädagogik‘“; nach dem Festvortrag von Hans Rauschenberger (Kassel) zeichneten Gisela John und Barbara Mergner den Weg zur Schulgründung nach; Grußworte sprachen u.a. Monika Notni („Arbeitskreis Jenaplan-Pädagogik“), Walter Jungstand und Ulli Wittich-Großkurth („Freundeskreis Peter Petersen“), Engelbert Groß („Gesellschaft für Jenaplanpädagogik in Deutschland“), Huub van der Zanden (niederländische Jenaplan-Bewegung), Andreas Flitner („Akademie für Bildungsreform“ Tübingen), Theodor Klaßen („Jenaplan-Forschungsstelle“ Gießen), Barbara Kluge (Lich), Ingeborg Maschmann (Lüneburg) u. Will Lütgert (Laborschule Bielefeld), die Schlussworte Gisela John und Jens Lê; dem Festakt folgte ein Schulfest in der neuen „Jenaplan-Schule“. 161 Anm. 41. 162 Zit. nach dem TLZ-Bericht v. 14.10.1991 „Lernen mit Kopf, Herz und Hand“. 163 Johann Mieskes (1915–2006) kam nach seiner Volksschullehrerzeit in Alzen 1938 nach Jena, promovierte 1941 bei Petersen, war bis 1943 Assistent u. Lehrer an der EA/Universitätsschule; seit April 1943 Assistent bei Rudolf Hippius am „Institut für europäische Völkerkunde und Völkerpsychologie“ der 1942 für „Ost- und Volkstumsforschung“ errichteten „Reinhard-Heydrich-Stiftung“ an der „Deutschen Karls-Universität“ Prag; im November 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, blieb aber in Prag stationiert u. konnte zeitweise weiter am Institut arbeiten; seit Oktober 1945 wieder Assistent an der Jenaer EA; dort habilitierte er sich 1946 u. wurde zum a.o. Professor für angewandte Erziehungswissenschaft ernannt; seit 1948 baute Mieskes an der EA eine Erziehungswissenschaftliche Beratungsstelle auf u. führte im Auftrag Petersens die Amtsgeschäfte

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Kultusministerium veranlasst worden.164 Über Mieskes NS-Zeit und seine Tätigkeit an der Heydrich-Stiftung der „Deutschen Karls-Universität Prag“ 1943 war damals kaum etwas bekannt.165 Die Gründung der neuen Jenaplan-Schule – so Haroske – „nahm durch den in der Wende 1989 artikulierten Willen verantwortungsbewußter Bürger dieser Stadt ihren Anfang und wird durch den politischen Willen aller im Stadtparlament vertretenen Parteien getragen. In diesem Sinne sehen wir in dem heutigen Festakt auch eine Verurteilung des damals [1950] vollzogenen Unrechtes.“166 Mit dem Schulbeginn am 2. September, dem Festakt am 12. Oktober und der ersten Schulkonzeption 1991/92167 machte sich eine Schule auf den Weg, die in ihrer nun 20jährigen Schulentwicklung neue pädagogische Bahnen beschritt, weit über Thüringen hinaus ausstrahlte und dabei auch erneuernd auf die Jenaplan-Pädagogik wirkte.168 Der demokratische Aufbruch 1989/90, reformpädagogischer Gestaltungswille, bürgerschaftliches Engagement und parteiübergreifender Gestaltungskonsens hatten die Reformschulgründung ermöglicht.169 Das parteiübergreifende bürger-

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des Leiters der Universitätsschule; nach Vorwürfen, NS-belastet zu sein, strengte Mieskes im Oktober 1948 ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst an; im April 1949 wurde er für Forschungsaufträge von der Lehre suspendiert, 1950 wieder zur Lehrtätigkeit zugelassen, 1952 zum Professor mit vollem Lehrauftrag u. 1952 zum Direktor des Instituts für theoretische Pädagogik (der Nachfolgeeinrichtung der EA) ernannt; die von der Fakultät 1954 beantragte Ernennung zum ordentlichen Professor mit Lehrstuhl scheiterte am Einspruch der Kaderabteilung; 1956 floh Mieskes in die Bundesrepublik – Angaben zur Jenaer Zeit nach UAJ, Best. D, Nr. 2040 (PA Mieskes); nach Medizinstudium in München u. der Tätigkeit als Leiter des Studienbüros für Jugendfragen Bonn war Mieskes von 1961 bis zu seiner Emeritierung 1981 Ordinarius für Erziehungswissenschaft an der Universität Gießen; 1992 beteiligte er sich mit zwei Beiträgen an der Tagung über DDR-Unrecht an der Jenaer Universität – vgl. Vergangenheitsbewältigung (wie Anm. 57), S. 71–76, 288–291. Kopien des entsprechenden Schriftwechsels in: StAJ, Nr. 30681 (Schulverwaltungsamt. Allgemeiner Schriftverkehr. Dezernat Bildung 1990–1993) u. DJM, Ordner 2 (1991/92). Sie wurde erst nach der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an Mieskes 2001 öffentlich bekannt und debattiert; zur Heydrich-Stiftung vgl. Andreas Wiedemann: Die Reinhard-HeydrichStiftung in Prag (1942–1945) (= Berichte und Studien 28), Dresden 2000; Ingo Haar/Michael Fahlbusch (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 584–588; Mieskes wird bei Wiedemann und bei Uwe Hoßfeld/Michael Šim˚unek: Die Kooperation der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Deutschen Karls-Universität Prag im Bereich der „Rassenlehre“ 1933–1945, Erfurt 2008 nicht erwähnt, aber bei Alena Misková: Die deutsche Universität Prag im Vergleich mit anderen deutschen Universitäten in der Kriegszeit, in: Hans Lemberg (Hg.): Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Collegium Caroninum 86), München 2003, S. 167–175, hier S. 170 (Tabelle); seine dortige Tätigkeit 1943 liegt noch weitgehend im Dunkeln; vgl. zu Mieskes NS-Zeit auch den Beitrag von Hans-Christian Harten in diesem Band sowie – freilich tendenziös – Schwan: Peter Petersen (wie Anm. 59), S. 113–119. StAJ, Nr. 30681 (wie Anm. 164). Jenaplan-Schule Jena: Konzeption zum Schulversuch, Eigendruck Jena 1992; die erste Konzeption ist auch überliefert in: StAJ, Nr. 30681. John u.a.: Jenaplan (wie Anm. 147), S. 162: Übersicht über die Schulpreise 1991–2007 im Rahmen der Programme „Demokratisch handeln“ (1991 u. 1992 für Gründung u. Gründungsgeschichte, dann 1993, 2000 u. 2007) u. „Baut auf uns!“ (2004); weiterhin Theodor-Heuss-Medaille (2003), „Deutscher Schulpreis“ (2006). Vgl. auch Peter Fauser: Droht ein Schulnotstand? Brennpunkte der Schulentwicklung nach der

Jenaplan-Renaissance

459

schaftliche Engagement begleitete auch die weitere Entwicklung dieser Schule, die 2012 als staatlicher Schulversuch ausläuft und dann ihren Standort in der pluralen Jenaer und Thüringer Schullandschaft der Gegenwart neu zu bestimmen hat.

deutsch-deutschen Vereinigung, in: Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Antrittsvorlesungen I (= Jenaer Universitätsreden 6), Jena 1999, S. 13–46, hier S. 40; Will Lütgert: Braucht die Schulreform Reformschulen? Reformpädagogische Impulse zur Schulautonomie und zur Professionalisierung der Lehrerinnen und Lehrer, ebd., S. 127–150.

BILDTAFELN

Peter Petersen (2. von links) mit Kommilitonen in Kopenhangen (1906) Quelle: PPAV

Familie Petersen, Peter Petersen in vorderster Reihe mittig sitzend (1935) Quelle: PPAV

462

Bildtafeln

Peter Petersen Quelle: PPAV

Georg Weiß Quelle: ThHStAW

Hermann Johannsen Quelle: UAJ

Heinrich Döpp-Vorwald Quelle: UAJ

463

Bildtafeln

Max Greil Quelle: Mitzenheim 1965

Bruno Bauch Quelle: UAJ

Julius Schaxel Quelle: UAJ

Friedrich Stier Quelle: ThHStAW

464

Bildtafeln

Berufungsschreiben Julius Schaxels an Peter Petersen (1923) Quelle: PPAV

Bildtafeln

465

Entwurf des Schreibens des Ministeriums für Volksbildung zur Genehmigung des Namens „Erziehungswissenschaftliche Anstalt“ durch Julius Schaxel (1924) Quelle: ThHStAW

466

Antrag Peter Petersens an das Ministerium für Volksbildung zur Umbenennung der „Universitäts-Übungsschule“ in „Universitätsschule“ (1926) Quelle: ThHStAW

Schreiben Friedrich Stiers zur Umsetzung des Antrages durch die Fakultät (1926) Quelle: ThHStAW

Bildtafeln

467

Bildtafeln

Titel des ersten Schulbeschreibungsbandes Titel des Sammelbandes mit (1925) Schulreform-Schriften Peter Petersens (1925)

Einladung des Freundeskreises der Universitätsschule zu einer Mitgliederversammlung (1926) Quelle: UAJ

Titelseite der „Jena-Plan“-Schrift Peter Petersens (1927)

468

Bildtafeln

Auszug aus dem Entwurf zum Schreiben Peter Petersens an Thomas Alexander (1930) Quelle: PPAV

Bildtafeln

469

Auszug aus einem Lebenslauf Peter Petersens (1941) mit der Umdeutung der Haltung der Universitätsleitung im „Fall Günther“ 1930 Quelle: PPAV

470

Bildtafeln

Seminarübung in der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt (1927) Quelle: PPAV

Die Lehrer der Universitätsschule Hans Wolff (stehend) und Arno Förtsch (sitzend) mit der Instrumentalgruppe (1927) Quelle: PPAV

Bildtafeln

471

Kreissituation in der Obergruppe der Universitätsschule, mittig sitzend Robert Reigbert (o.D.)1 Quelle: PPAV

Biologieunterricht an der Universitätsschule mit Hans Wolff (1927) Quelle: PPAV 1

Die übrigen Personen auf dem Bild sind (von links) Berta Müller, Hildegard Rechewski, Gerhard Reichelt, Walter Nicolai, Konrad Buchwald, Robert Reigbert, eine Mutter (Nählehrerin), Vera Schneider, Uwe-Karsten Petersen, Hans Bruns, Gertrud Wandersleb, Hilka Schomerus, Katharina Weinel, Sonja Mentz, Eveline Theil, Hilde Petersen, Agnete Eppenstein und Lotte Rößler.

472

Bildtafeln

Freie Werkarbeit im Sonnabendkurs der Mittel- und Obergruppe der Universitätsschule, im Hintergrund Arno Förtsch (1929) Quelle: PPAV

Schulgarten der Universitätsschule, im Hintergrund mittig Arno Förtsch (o.D.) Quelle: PPAV

Bildtafeln

Käthe Homack im Unterricht der Mittelgruppe der Universitätsschule (1933) Quelle: Tilmann Petersen

Morgenfeier an der Universitätsschule mit Peter Petersen (1935) Quelle: Tilmann Petersen

473

474

Bildtafeln

Kinderspiel „Dritten abschlagen“ während des Sommerfestes auf dem Schulhof der Universitätsschule, rechts das Schulgebäude Grietgasse 17a (1927) Quelle: PPAV

Aufführung zum Sommerfest der Universitätsschule (1941) Quelle: PPAV

Bildtafeln

475

Schulausflug der Universitätsschule, im Hintergrund rechts Hans Wolff (1927) Quelle: PPAV

„Alle Kinder lassen grüßen“ Postkarte vom Ausflug der Universitätsschule nach Sellin, Rügen (1926)2 Quelle: PPAV 2

Rückseite: „Frau Professor Petersen – z.Z. Bansin – Haus ‚Rosenthal‘ – Misdroy, 12.8.26 – Sehr geehrte Frau Petersen! Aus Misdroy senden Ihnen frdl. Gruß Max, Malle + Frau. bisher ist alles gut gegangen, wir haben herrliches Wetter und gehen fleißig ins Bad, sodaß schon alles tüchtig gebräunt wurde. Haben Sie nicht Lust uns einmal zu besuchen? Für uns wird es zu umständlich mit den vielen Kindern. Am Mittwoch voriger Woche waren wir in Swinemünde + hatten See[krankheit] – Fr. Liebeskind – Schönen Gruss E. Theil – Herzl. Gruß Utt.“

476

Bildtafeln

„Bilder aus dem Schulleben“ der Universitätsschule, Schülerzeichnungen (o.D.) Quelle: UAJ

Bildtafeln

477

Subjektiver Bericht (1927) Quelle: PPAV

Linoleumdruck „Überseedampfer“ von Karli Theil, Obergruppe der Universitätsschule (o.D.) Quelle: UAJ

478

Bildtafeln

Gruppenbericht der Obergruppe der Universitätsschule (1928/29) Quelle: UAJ

Bildtafeln

479

Präsentation der Gruppenarbeit „Australien-Afrika“ (1931) Quelle: PPAV

Einladung zur Faschingsfeier der Universitätsschule (1931) Quelle: UAJ

Die Schüler Otto, Horst und Hans Reimer mit selbst gefertigtem Indianerschmuck (1929) Quelle: UAJ

480

Bildtafeln

Auszug aus dem Gruppen-Tagebuch der Gruppe III der Universitätsschule (1927/28) Quelle: UAJ

Bildtafeln

481

Karte von Margret Scholz an Peter Petersen (o.D.) Quelle: UAJ

Peter Petersen (1942) Quelle: UAJ

Erste Seite der Gruppenarbeit „Herrn Professor zum 60. Geburtstag“ (1944) Quelle: UAJ

482

Bildtafeln

Vorder- und Rückseite eines Kurzberichts der Pädagogischen Tatsachenforschung an der Universitätsschule (1946) Quelle: UAJ

Bildtafeln

Subjektiver Bericht (1950) Quelle: Privatsammlung Michael Oettel (Jena)

483

484

Bildtafeln

Propagandaspruch des Thüringischen Volksbildungsministers Fritz Wächtler, gewidmet dem bevorstehenden Thüringer Gautag des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (1934) Quelle: Der Thüringer Erzieher, Hf. 15/16 vom 16.9.1934

Bildtafeln

Titelblatt der von Peter Petersen begutachteten Dissertations-Schrift „Der SA-Student im Kampf um die Hochschule“ (1936) Quelle: ThHStAW

Schreiben des Thüringischen Schulrats für Jena Otto Preiß an Fritz Wächtler vom 5. November 1935; darunter handschriftliche Notizen des Juristen Erich Buchmann (Sachgebietsleiter Kultur in der Behörde des Reichsstatthalters in Thüringen) Quelle: ThHStAW

485

486

Bildtafeln

Erste Seite von Peter Petersen: Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jenaplans im Lichte des Nationalsozialismus, in: Die Schule im nationalsozialistischen Staat. Ein Volk. Ein Reich. Eine Schule. Für Volksgemeinschaft und Führertum, 11. Jg. (1935) Hf. 6, S.1–5

Bildtafeln

Erste Seite von Peter Petersen: Rassische Geschichtsbetrachtung, in: Heimat und Arbeit. Monatshefte für pädagogische Politik, 13. Jg. (1940), Hf. 8, S. 218–221

Titel eines Vortrages, den Peter Petersen am 25. April 1944 auch vor internierten norwegischen Studenten im Konzentrationslager Buchenwald hielt. Abdruck in: Veröffentlichungen des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Bukarest, Vorträge (1943), Hf. 3

487

488

Bildtafeln

Erste Seite des Antwort-Schreibens Paul Oestreichs an Peter Petersen (1946) Quelle: PPAV

Bildtafeln

489

Erste Seite der Rede Petersens vor den Mitarbeitern der Franckeschen Stiftungen Halle (1946) Quelle: UAJ

490

Bildtafeln

Aktennotiz Ingeborg Maschmanns von der Sitzung der SED-Dozentenfraktion der Pädagogischen Fakultät (1949) Quelle: UAJ

491

Bildtafeln

Hans Mieskes Quelle: PPAV

Marie Torhorst Quelle: ThHStAW

Auszug aus dem Schreiben Peter Petersens an Prinz Wilhelm von Schweden zur Errichtung einer „Internationalen Universität“ (1949) Quelle: UAJ

492

Offener Brief Gisela Johns zum 1. Jenaer Reformschulfest (1990) Quelle: TLZ vom 6. November 1990/DJM

Bildtafeln

Bildtafeln

493

Aus dem Programm des 1. Jenaer Reformschulfestes (1990) Quelle: DJM

Alternative Pädagogik der AG Bildung des Neuen Forums Jena (1990) Quelle: DJM

494

Beschluss der Stadtverordnetenversammlung Jena zur Gründung einer Petersenschule (1990) Quelle: StAJ

Beschlussvorlage des Bildungsausschusses der Stvv Jena mit den auf Antrag eines Abgeordneten gestrichenen Sätzen (1990) Quelle: StAJ

Bildtafeln

Bildtafeln

495

Genehmigung des Schulversuchs Jenaplan-Schule durch die Thüringer Kultusministerin Christine Lieberknecht (1991) Quelle: ThMBWK

496

Bildtafeln

Programm der Eröffnungsfeier der „Jenaplan-Schule“ in der Universitätsaula (1991) Quelle: DJM

Foto(s) vom „Schnuppertag“ vor Gründung der Jenaplan-Schule (1991) Quelle: DJM

Bildtafeln

497

1927 als „Südschule“ errichtetes, 2002/03 bezogenes Gebäude der „Jenaplan-Schule“ in der Tatzendpromenade (2009)

Gruppenarbeit in der Untergruppe der „Jenaplan-Schule“ (2006/07) Quelle: Staatliche Jenaplan-Schule Jena

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS VORBEMERKUNG Allgemein geläufige, rein technische und in bibliographischen Angaben übliche Abkürzungen sind nicht erfasst. a.o.

außerordentlich

Abl ThMfV

Amtsblatt des Thüringischen Ministeriums für Volksbildung

ADEH

Aktionsgemeinschaft Demokratische Erneuerung der Hochschulen

AdW

Akademie der Wissenschaften (der DDR)

AFLD

Allgemeine Freie Lehrergewerkschaft Deutschlands

AFSt

Archiv Franckesche Stiftungen

AG

Arbeitsgemeinschaft

AMJ

Alma Mater Jenensis (Universitätszeitung)

APW

Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR

ARD

Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands

AStA

Allgemeiner Studentenausschuss

BArch

Bundesarchiv

BeS

Bund entschiedener Schulreformer

BFSD

Bund der Freien Schulgesellschaften Deutschlands

BLK

Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BVThG

Blätter des Vereins für Thüringische Geschichte

CDU

Christlich-Demokratische Union (Deutschlands)

CSVD

Christlich-Sozialer Volksdienst

DDP

Deutsche Demokratische Partei

500

Abkürzungsverzeichnis

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DeGeDe

Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik

DH

Förderprogramm Wettbewerb Demokratisch Handeln

DJM

Dokumentation Gisela John/Britta Müller zur Gründungsgeschichte der Jenaplan-Schule (künftig im UAJ)

DJT-SchGE

Entwurf für ein Musterschulgesetz des Deutschen Juristentages

DLZ

Deutsche Lehrerzeitung

DNVP

Deutschnationale Volkspartei

DPhG

Deutsche Philosophische Gesellschaft

DVP

Deutsche Volkspartei

D(Z)VV

Deutsche (Zentral)Verwaltung für Volksbildung

E.U.LE.

Entwicklungsprogramm für Unterricht und Lernqualität

EA

Erziehungswissenschaftliche Anstalt

EOS

Erweiterte Oberschule

ER

Elternrat (der Universitätsschule)

EuW

Erziehung und Wissenschaft

EVD

Evangelischer Volksdienst

EW

Erziehung und Wissenschaft (Zeitschrift der GEW)

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FDJ

Freie Deutsche Jugend

FK

Freundeskreis (der Universitätsschule)

FR

Frankfurter Rundschau

FSU

Friedrich-Schiller-Universität Jena

FWE

Forschungen und Werke zur Erziehungswissenschaft

GbR

Gesellschaft bürgerlichen Rechts

GEW

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

GKS

(Prorektor für) Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften

Abkürzungsverzeichnis

501

GTh

Gesetzsammlung für Thüringen

HfL

Hochschule für Lehrerbildung

HJ

Hitlerjugend

HZ

Historische Zeitschrift

i.V.

in Vertretung

IfE

Institut für Erziehungswissenschaften

IGS

Integrierte Gesamtschule

ISK

Internationaler Sozialistischer Kampfbund

IWK

Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung

JAR

Jenaer Akademische Reden

JbUG

Jahrbuch für Universitätsgeschichte

Jg.

Jahrgang

JUZ

Jenaer Universitätszeitung

JZ

Jenaische Zeitung

KPD

Kommunistische Partei Deutschland

KZ

Konzentrationslager

LBA

Lehrerbildungsanstalten

Lk.

Lukas-Evangelium

LTh-BMP

Land Thüringen - Büro des Ministerpräsidenten

LTh-MfV

Land Thüringen - Ministerium für Volksbildung

MEA

Mitteilungen der Erziehungswissenschaftlichen Anstalt der Thüringischen Landesuniversität Jena

MF

Medizinische Fakultät

MNF

Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät

MS

Manuskript

ms

maschinenschriftlich

MVDH

Mitteilungen des Verbandes der Deutschen Hochschulen

502

Abkürzungsverzeichnis

NF

Neues Forum

NL

Nachlass

NS

Nationalsozialismus, nationalsozialistisch

NSDAP

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSDDB

Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund

NSLB

Nationalsozialistischer Lehrerbund

NSV

Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

OLG

Oberlandesgericht

OLGE

Oberlandesgericht Erfurt

OMGUS

Office of Military Government of the United States

OTN

Ostthüringer Nachrichten

OTZ

Ostthüringer Zeitung

PA

Personalakte(n)

PABI

Personalakten aus dem Bereich Inneres

PABV

Personalakten aus dem Bereich Volksbildung

PädA

Pädagogischer Ausschuss

PhF

Philosophische Fakultät

PI

Pädagogisches Institut (Jena)

PISA

Programme for International Student Assessment

POS

Polytechnische Oberschule

PPAV

Peter Petersen Archiv Vechta

PPNG

Peter-Petersen-Nachlass-Gesellschaft

PPSF

Psychologisch-Pädagogisch-Sportwissenschaftliche Fakultät

PS

Pädagogisches Seminar

REM

Reichserziehungsminister(ium) (Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung)

Abkürzungsverzeichnis

503

RGBl

Reichsgesetzblatt

RLS

Rosa-Luxemburg-Stiftung

RMdI

Reichsminister(ium) des Innern

RuSHA

Rasse- und Siedlungshauptamt

SA

Sturmabteilung (der NSDAP)

SBZ

Sowjetische Besatzungszone (Deutschlands)

SED

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SMAD

Sowjetische Militäradministration in Deutschland

SMATh

Sowjetische Militäradministration in Thüringen

SozU

Sozialistische Universität (Organ der SED-Parteileitung der Friedrich-Schiller-Universität Jena)

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SS

Schutzstaffel (der NSDAP)

SS

Sommersemester

StAJ

Stadtarchiv Jena

StuRa

Studentenrat/Studierendenrat

Stvv

Stadtverordnetenversammlung

ThAZ

Thüringer Allgemeine Zeitung

ThHStAW

Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar

ThILLM

Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien

ThLB

Thüringer Landbund

ThLZ

Thüringer Lehrerzeitung

ThMBWK

Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur

ThMfV/ThVM Thüringisches Ministerium für Volksbildung/Thüringisches Volksbildungsministerium ThULB, HSA

Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Handschriftenabteilung

TLZ

Thüringische Landeszeitung

504

Abkürzungsverzeichnis

Top

Tagesordnungspunkt

UAH

Universitätsarchiv Halle

UAJ

Universitätsarchiv Jena

UIV

Unabhängiger Interessenverband (Demokratische Bildung und Erziehung)

USA

United States of America

USPD

Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

v.H.

von Hundert

VA

Verwaltungsarchiv

VDH

Verband der Deutschen Hochschulen

VjZ

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

WE

Weltanschauliche Erziehung (SS-Amt für)

WP

Wirtschaftspartei

WR

Wissenschaftlicher Rat

WRVf

Weimarer Reichsverfassung

WS

Wintersemester

WZUJ GSR

Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe)

ZA

Zwischenarchiv

ZDF

Zweites Deutsches Fernsehen

ZfP

Zeitschrift für Pädagogik (und Jugendkunde/jugendkundliche Forschung) USA

PERSONENVERZEICHNIS Das Personenregister enthält die in Texten, Bildunterschriften und Fußnoten außerhalb bibliographischer Angaben genannten Namen. Nur attributiv verwendete Namen und Personen, die in abgebildeten Dokumenten genannt werden, sind im Register nicht erfasst. Abweichende und alternative Schreibweisen werden ausgewiesen. Die Umlaute ä, ö und ü werden wie „ae“, „oe“ und „ue“ behandelt. Aufgrund der Fülle an Einträgen ist der Name Peter Petersen nicht in das Register aufgenommen worden. Abbe, Ernst, 144, 159, 367 Abel, Rudolf, 143, 149 Adam, Ernst, 274 Adorno, Theodor W., 331 Albert, Hans, 296 Albrecht, Karl, 351, 355 Alexander, Thomas, 56, 116, 122, 134, 154, 156, 397, 399, 468 Alnor, Karl, 259, 288, 345, 346, 379 Aly, Wolfgang, 267 Amberger, Ludwig, 279 Ankele, Hans, 328 Ankele, Heinrich, 328 Anna, 179, 185 Apelt, Johanna, 114 Appenroth, Klaus-Jürgen, 446 Argelander, Annelies, 88, 130, 135, 144 Arndt, Ernst Moritz, 73, 274 Arnold, Richard, 338, 361, 363 Assheuer, Thomas, 221 Astel, Karl, 19, 72, 260, 261, 264, 265, 267, 268, 270–274, 276, 318, 363, 367, 380 Balca, Nicolae, 300, 301, 306 Bargheer, Ernst, 349, 350 Bartels, Adolf, 131, 133, 134 Bartuschka, Marc, 12, 22–24 Bauch, Bruno, 83–86, 88, 101, 129, 132, 134, 135, 137, 140, 144, 145, 148, 157, 463 Baum, Erwin, 131 Baur, Erwin, 253 Becker, Carl Heinrich, 230, 237, 238, 344 Becker, Friedrich, 277 Behrens, Peter, 230 Benner, Dietrich, 299, 414, 420, 423, 424 Bennewitz, Kurt, 268 Berger, Friedrich, 278, 279, 351, 406 Berger, Gottlob, 267, 278 Bergmann, Ernst, 233 Bernfeld, Siegfried, 68, 259, 424 Bernhard, Ludwig, 145 Beutel, Wolfgang, 161

Beyer, Hans-Joachim, 281–284 Beyer, Karl, 262, 263, 282–284 Blankertz, Herwig, 424 Böhm, Max Hildebert, 110, 113, 130 Bogatyrew, Nikolai, 386 Bollenbeck, Georg, 228 Bondy, Curt, 68 Bonsels, Waldemar, 183 Boon, Gerard, 55, 74 Bormann, Martin, 341 Bosch, Robert (jr.), 168 Bouchet, Henri, 74 Bourdieu, Pierre, 169 Brandenstein, Carl Freiherr v., 80 Brauckmann, Karl, 359 Brendel, Alfons, 285 Breuer, Stefan, 243 Brill, Ernst, 143 Brill, Hermann, 94 Brohmer, Paul, 346, 347 Brumme, Hans, 402, 406 Bruns, Hans, 471 Brzoska, Heinrich Gustav, 46 Buchmann, Erich, 478 Buchwald, Konrad, 471 Buchwald, Reinhard, 83, 87, 94, 123, 156 Büchsel, Bertha (geb. Voigt), 293 Bühler, Charlotte, 74 Burdach, Konrad, 238 Burgdörfer, Friedrich, 253 Carspecken, Ferdinand, 278, 280, 281 Carstensen, Christoph, 271–273, 302 Cartellieri, Alexander, 86, 89 Chiout, Helmut, 413 Cizek, Franz, 191 Clauß, Manfred, 433 Clauss, Ludwig Ferdinand, 253, 255, 285 Conti, Leonardo, 373, 374, 380 Cotton, Cornelia (geb. Grebe), 304, 329, 330 Cousinet, Roger, 74 Crouch, Colin, 167, 222

506

Personenverzeichnis

Czekalla, Lilo, 293, 326, 327 Dambach, Karl, 278, 279 Dannemann, Uli (Ulrich), 318 Darré, Richard Walther, 19, 73, 253, 257, 262, 274 Daum, Janusch, 323 Debrunner, Albert, 129, 137 Décroly, Ovide, 55, 74, 191, 262, 426 Deiters, Heinrich, 95, 427 Delekat, Friedrich, 301 Dennison, George, 424 Deuchler, Gustav(f), 128, 345–349, 351–353, 355, 356 Devi, Prashila, 273, 306 Dewey, John, 21, 56–58, 61, 172, 223, 225, 423, 426 Dexel, Walter, 122, 156 Dicke, Klaus, 8 Diederichs, Eugen, 156, 230, 235, 244 Dietrich, Theo, 162, 195, 312, 437–439, 443, 447, 456 Dilthey, Wilhelm, 209 Dinda, Friedbert, 431 Döbert, Frank, 313, 314, 318 Döpel, Waldemar, 157, 340, 358, 359, 366, 367, 370, 371, 373, 380 Döpp, Robert, 102, 152, 215, 218–220, 229, 374 Döpp-Vorwald, Heinrich, 72, 114, 270, 300, 302, 303, 312, 360, 367, 368, 373, 374, 376, 414, 462 Doerk, Steffen, 266 Dörpfeld, Friedrich Wilhelm, 51, 52, 209, 217 Dorothee, 186 Dreeben, Robert, 169 Düning, Hans Joachim, 356 Durkheim, Emile, 71 Ebert, Dietmar, 295 Eckle, Christian, 278, 281 Eckstein, Ludwig, 278 Edelstein, Wolfgang, 214 Edler, Wilhelm, 86 Edschmid, Kasimir, 230 Eierdanz, Jürgen, 65, 297, 298, 307, 308, 323 Eikermann, Reinhard, 274 Einstein, Albert, 343 Emden, Horst, 457 Emge, Karl August, 143 Enderlin, Max, 217 Eppenstein, Agnete, 471 Eppenstein, Ellen (geb. Hoffmeyer), 122, 166, 184, 186, 188, 194, 195, 318, 319 Eppenstein, Gertrud, 166 Eppenstein, Otto, 166

Erich, 182, 183, 185 Esau, Abraham, 138, 145 Eucken, Rudolf, 83, 84, 88, 92, 109, 145, 154, 157, 308 Ewald, 185 Fahr, Wolfgang, 280, 281 Fahrenkrog, Rolf L., 256, 258 Faludi, Christian, 8 Fauser, Peter, 11, 13, 168, 214, 229, 447 Feige, Karl, 364 Feine, Ulrike, 161 Fend, Helmut, 169 Ferrière, Adolphe, 55, 191, 426 Feurich, Arila, 161 Feyl, Othmar, 282 Fichte, Johann Gottlieb, 233, 245 Fichtmüller, Hartmut, 430 Fischer, Aloys, 284–286 Fischer, Eugen, 253 Fischer, Gert-Heinz, 279–281 Flitner, Andreas, 171, 434, 444, 447, 448, 455, 457 Flitner, Elisabeth (geb. Czapski), 318 Flitner, Wilhelm, 44, 74, 103, 104, 114, 151, 154, 156, 208, 222, 223, 232, 302, 318, 372, 413, 422 Förster, Herbert, 278, 281 Förster-Nietzsche, Elisabeth, 84, 159 Förtsch, Arno, 114, 118, 273, 302, 470, 472 Francke, August Herrmann, 394 Franz, Günther, 276 Franz, Katharina, 166, 184–186, 189, 195, 220 Franz, Victor, 143 Frege, Gottlob, 149 Freinet, Célestin, 21 Freudenthal(-Lutter), Susan, 332, 333 Freudenthal, Hans, 332, 333 Freudenthal, Mirjam, 333 Freudenthal-Lutter, Suus, 417, 418, 421 Freytag, 110 Frick, Wilhelm, 73, 82, 83, 131–135, 138, 143, 144, 147, 150, 159, 338, 346, 348 Frieda, 185 Friedmann, Carl H. (Friedman, Charles H.), 331 Frischeisen-Köhler, Max, 209 Fröbel, Friedrich, 66, 156, 157, 308, 358, 359, 421 Frölich, August, 81, 86, 104, 110, 157, 177, 311, 358 Frommer, Helmut, 161 Frotscher, Klaus, 433 Furtwängler, Wilhelm, 193 Gabriel, Siegfried, 268

Personenverzeichnis Gamm, Hans-Jochen, 418 Gaudig, Hugo, 91 Gebhard, Julius, 63 Geheeb, Paul, 21, 426 Gerland, Heinrich, 144–146 Gläser, Herbert, 433 Gläss, Theodor, 69 Göring, Hermann, 364 Goethe, Johann Wolfgang von, 48, 238, 244, 261 Gogarten, Friedrich, 150, 301, 308 Gottschall, Dagmar, 445 Grüber, Heinrich, 334 Grün, Heinz, 314, 327, 328 Grebe, Fritz (Friedrich), 316 Grebe, Hildegard, 316, 329 Grebe, Lolo, 319 Grebha(h)n, Fritz, 328 Greil, Max, 7, 12, 14, 62, 81–83, 85–92, 94–96, 99–108, 110, 112, 119, 126, 127, 139, 144, 147, 148, 153, 155, 157, 177, 197, 311, 345, 388, 389, 395, 463 Grimme, Adolf, 125, 159, 296 Grisebach, Eberhard, 88, 89, 441 Groß, Engelbert, 457 Groß, Walter, 256, 257 Großkurth, Johanne, 293 Grundmann, Herbert, 260 Grundtvig, Nikolai F. S., 230, 235, 236, 371 Gruner, Rolf, 330 Günther, 185 Günther, Hans F(riedrich) K(arl), 131–134, 143, 150, 157–159, 253–255, 257, 264, 267, 273, 276, 279, 285, 303, 329 Gütt, Artur, 276 Gumpert, Volker, 433 Gustav, 186 Gutbier, Alexander, 145 Guths Muths, Johann Christoph, 434 Haan, Gerhard de, 214 Habermas, Jürgen, 167, 190 Haeckel, Ernst, 82, 84, 109 Haenisch, Konrad, 95, 143, 148, 230, 237, 238 Hagener, Caesar, 302 Hahne, Hans, 158, 159 Hamm-Brücher, Hildegard, 171 Haney, Vera, 336 Hansen, Holger, 319, 324, 325 Harms, Bernhard, 160 Haroske, Dietmar, 452, 457, 458 Harten, Hans-Christian, 9, 16–19, 380 Hartleb, Margit, 8, 336 Hartnacke, Wilhelm, 37, 66, 97, 254 Haschke, Rosa Marie, 8 Haschke, Udo, 430–432, 436

507

Hattenbach, Klaus, 432, 435 Hauß(ss)ner, Robert, 86, 115, 129, 132, 137, 145 Heberer, Günther, 265, 268, 270, 276 Hedemann, Justus Wilhelm, 86, 149, 150 Heinemann, Karl-Heinz, 298 Heinemann, Manfred, 447 Heinen, Anton, 239 Heinkel, Ernst, 374 Heintze, Käte, 359, 366, 367, 373 Heller, Hermann, 310 Henkel, Max, 86, 87 Hentig, Hartmut von, 423 Herbart, Johann Friedrich, 48, 49, 51, 53, 110, 191, 192, 199 Herbert, 185 Herder, Johann Gottfried, 233, 278, 308 Hermberg, Edzard und Siebwende, 327 Hermberg, Paul von, 327 Herrmann, Ulrich, 420 Herrmann, Walther, 68 Herschkowitz, Anna, 330 Heumann, Hans, 271, 272 Heussi, Karl, 132, 133 Heydorn, Heinz-Joachim, 68, 415 Hilde, 185 Hildebrand(t), Rudolf, 234, 238 Hildebrandt, Richard, 156, 281 Himmelmann, Gerhard, 214 Himmler, Heinrich, 257, 264, 265, 267, 279, 281 Hindenburg, Paul von, 36, 144, 159, 259, 347 Hindrichs, Emil, 51 Hippius, Rudolf, 281, 283, 284, 457 Hirt, August, 267 Hitler, Adolf, 68, 133, 144, 150, 159, 253, 254, 259, 275, 288, 298, 299, 318, 323, 325, 333, 341, 343–345, 347, 349, 350, 355, 364, 365, 377, 407 Höffe, Otfried, 167, 221 Hölters(c)hinken, Dieter, 415 Hördt, Philipp, 158, 168, 287, 426 Hoernle, Edwin, 424 Höß, Rudolf, 257 Hössrich, Rudi, 274 Hofmann, Walter, 227 Hoke, Sylvia, 445 Hollmann, Anton Heinrich, 230, 231, 244 Homack, Käthe, 473 Honigsheim, Paul, 236 Honneth, Axel, 167 Hoppe, Karl, 347, 351 Horn, Gisela, 329 Hotzel, Rudolf, 274, 275 Huch, Ricarda, 327 Huck, Wolfgang, 278 Hübner, Rudolf, 87, 104, 132, 144, 145, 148

508

Personenverzeichnis

Hüttig, Werner, 256 Humboldt, Wilhelm von, 51, 52, 141, 206 Hund, Friedrich, 133, 452 Huth, Albert, 285

Koellreutter, Otto, 143, 145, 148 König, Felix, 330 Köster, Adolf , 369 Kolb, Eduard, 285 Kolesnitschenko, Iwan, 386, 387 Ibrahim, Jussuf, 35, 325 Konrad, Franz-Michael, 11, 13, 93, 161, 176 Illich, Ivan, 423 Korsch, Karl, 86, 89, 144, 230 Koskenniemi, Matti, 324 Jacobsen, Rudolf, 266 Krüger, Felix, 279 Jaensch, Erich, 253, 277–281, 286, 288, 346 Kramer, Walter, 353, 354 Jäßl, Rolf, 447 Krause, Andreas, 8 Jaques-Dalcroze, Emile, 55 Krautwurst, Martin, 432 Jaspers, Karl, 274, 284 Kreß, Hans, 351 Jedrychowska, Jadwiga, 322, 323 Krieck, Ernst, 14, 68, 158, 241, 242, 263, 264, Jerusalem, Franz, 89, 143, 144 287, 301, 303, 346, 351, 355, 379, 422 Jörg, Heinrich, 362, 363 Kroh, Oswald, 74, 253, 277–279, 281–283, 286 Johannsen, Hermann, 113, 114, 134, 137, 144, Kückelhahn, Willi, 351 462 Kühnert, Herbert, 81, 82, 86, 94, 101, 115, 130, John, Gisela, 161, 430, 432, 435, 446, 447, 453– 135 457, 492 Kummer, Bernhard, 268 John, Jürgen, 11–15, 24–26, 161, 229 Kurella, Alfred, 229 Jonas, Hans, 331 Lämmel, 103 Jorke, Dietfried, 433 Lagarde, Paul de (eigentlich Paul Bötticher), 156, Josephy, Berthold, 144 260–263, 298, 307, 308, 323 Judeich, Heinrich Walther, 78, 86, 103, 132 Lambova, Vera, 434 Jungstand, Walter, 437–439, 445, 446, 451, 457 Lamprecht, Karl, 67 Kade, Franz, 158, 346 Lamszus, Wilhelm, 68, 69 Kandel, Isaac L., 287, 288 Langbehn, Julius, 156, 260–262, 298, 307, 308, Kanitz, Otto F., 424 323 Kant, Immanuel, 238 Lange, Richard, 268 Karl, 185 Langer, 319 Karl der Dicke, 371 Langer, Helene Wally, 325 Karsen, Fritz, 62, 95, 121, 159, 175, 308, 399, 400 Langer, Herta, 325, 326 Kaßner, Peter, 29, 418, 419, 422, 437 Lanzmann, Claude, 332 Katzenellenbogen, 289 Lassahn, Rudolf, 421 Keim, Wolfgang, 30, 152, 410, 418–420, 437, 456 Lê, Jens, 456, 457 Keiter, Friedrich, 254, 255, 258 Le Bon, Gustav, 74 Kemper, Herwart, 420, 421 Leers, Johannes von, 270, 276 Kenstler, August Georg, 257, 258 Legien, Karl, 238 Kerschensteiner, Georg, 53, 426 Lehmann, Walter, 361 Kertész, Imre, 331 Leibholz, Gerhard, 310 Kessler, Gerhard, 145 Leisegang, Hans, 23, 129, 144, 264, 288, 289, 403 Kilpatrick, William Heard, 21, 56–58, 61, 74, 223, Lemke, Gotthard, 430 426 Lemke, Karin, 435 Klaß(ss)en, Theodor F., 29, 417, 421, 430, 434, Lenhardt, Gero, 169 437, 444, 447, 448, 457 Lenz, Fritz, 253, 278 Klein, Emil, 88, 144, 148, 149 Leutheuß(ss)er, Richard, 82, 86, 87, 94, 104, 105, Kleist, Heinrich von, 268 115, 126, 145, 177 Klüger, Ruth, 331 Lieberknecht, Christine, 454, 457, 495 Kluge, Barbara, 30, 77, 319, 368, 443, 457 Lietz, Hermann, 50, 65, 274, 308, 421, 426 Knoop, Karl, 270–272 Linck, Gottlob, 97, 103, 125 Koch (-Weser), Erich, 98 Lingelbach, Christoph, 415, 416, 419, 420, 422 Koch, Georg, 235 Linke, Paul Ferdinand, 103, 104, 144 Litt, Theodor, 69, 97, 208, 303, 413 Köhler, Elsa, 121, 303

Personenverzeichnis Lotz, Franz, 278 Lotze, Rudolf Hermann, 308 Ludwig, Harald, 421 Lüdemann, Hans, 267 Lueger, Karl, 36 Lütgert, Will, 24, 25, 179, 436, 443, 457 Luther, Martin, 36, 422 Lutosch, Gerhard, 269 Lyon, Otto, 238 Macholz, Waldemar, 129, 137 Mann, Alfred, 235 Mann, Constanze, 336 Marschler, Fritz, 356, 357, 363, 364 Martin, 186 Maschmann, Ingeborg, 29, 69, 312, 413, 417, 418, 455, 457, 490 Matthews, Dorothy, 44, 163 Max, 181 Mayer, Werner G., 416 Meinhold, Gottfried, 439, 440, 446, 447 Meister, Hans Christian, 36 Mengele, Josef, 253 Mentz, Georg, 129, 132, 134, 137 Mentz, Sonja, 471 Mergner, Barbara Metz (Windorf/Malich), 435, 445, 446, 454–457 Meumann, Ernst, 46, 49 Meyer, Peter, 416 Meyer-Erlach, Wolf, 329, 356, 357 Meyfart, Johann, 452 Michel, Hans, 325 Michels, Victor, 97, 104, 115, 129, 145 Mieskes, Hans (Johann), 29, 283, 284, 302, 312, 438, 456–458, 491 Misselwitz, Irene, 431 Mitzenheim, Paul, 429, 433, 434, 439–441, 443, 445, 447–449 Moellendorf, Wichard von, 229 Montessori, Maria, 54, 55, 66, 74, 191, 262 Morse-Mann, Rowena, 154 Muckermann, Heinrich, 285 Müller, Berta, 471 Müller, Britta, 455 Müller, Else (Müller-Petersen), 120, 121, 308 Müller, Gottfried, 447 Müller, Melitta, 114 Müller-Rolli, Sebastian, 378 Muthesius, Hans, 373, 374, 380 Muthesius, Karl, 342, 373 Nedden, Otto zur, 268 Negt, Oskar, 423 Neill, Alexander Sutherland, 191, 262, 424 Nelis, Heinrich-Josef, 285, 286

509

Nelson, Leonard, 259 Nero, 184 Neuendorff, Edmund, 234 Neuner, Gerhard, 30 Nicolai, Karl, 328 Nicolai, Walter, 471 Niederstraßer, Mike, 293, 308–310, 313, 314, 316, 320–322, 324 Nietzsche, Arndt, 156, 261, 272, 298, 307, 308 Nietzsche, Friedrich, 73 Nohl, Herman(n), 11, 32, 43, 52, 208, 230, 269, 413, 441 Nolte, Paul, 221 Notni, Monika, 455, 457 Oelkers, Jürgen, 29, 417, 418, 426 Oertzmann, Heinz, 267 Oesterle, Friedrich, 278, 279 Oestreich, Paul, 62, 107, 108, 391, 402, 414, 427, 488 Oettel, Michael, 483 Ofenbach, Birgit, 410, 421 Opitz, Ernst, 123 Opitz, Jörg, 243 Oppermann, Hans, 267 Ortmeyer, Benjamin, 8, 32–34, 65, 72, 162, 215, 229, 291, 292, 294, 295, 298, 300, 301, 307– 309, 313–324, 326, 331–333, 335 Osbahr, Wilhelm, 63 Ostermeyer, Gerda, 278 Otto, Berthold, 54, 55, 178, 191, 421, 426 Ottweiler, Ottwilm, 377 Pampel, Margot (geb. Reinhardt), 295, 317, 318, 320, 321 Panzer, Friedrich, 238 Pape, Ernst, 103, 144 Papenbroock, Paul, 353, 367 Parkhurst, Helen, 44, 59 Parsons, Talcott, 169 Paul, Gernot, 337 Paul, Jean, 308 Paulmann, Christian, 399 Paulsen, Peter, 266 Paulsen, Wilhelm, 95, 245 Paulssen, Arnold, 81, 87, 89 Perger, Werner A., 221 Pesta, Hans, 351 Pestalozzi, Johann Heinrich, 51, 156, 308, 422 Peters, Ulrich, 347, 349 Peters, Wilhelm, 88, 90, 91, 96, 102–106, 115, 127, 129, 130, 132, 135, 137, 143, 144, 148, 149 Petersen, Asmus, 19, 20, 265, 275, 276 Petersen, Hilde, 471

510

Personenverzeichnis

Petersen, Tilmann, 473 Petersen, Uwe-Karsten, 471 Pfahler, Gerhard, 253, 277, 279, 281, 286 Philippson, Julius, 316 Plate, Ludwig, 84, 105, 112, 115, 132, 144, 145, 148, 149 Platon, 232 Plessner, Helmuth, 240, 247 Pohl, Werner, 272, 278 Popper, Karl R., 296 Poser, Magnus, 326, 328 Preiser, Erich, 268 Preiß, Otto, 485 Preuss-Lausitz, Ulf, 169 Prondczynsky, Andreas von, 12, 109, 337, 365 Puschner, Uwe, 243 Quiehl, Karl, 278 Radbruch, Gustav, 230 Rade, Martin, 230 Ramseger, Jörg, 424 Rascher, Fritz, 274 Rathenau, Walther, 81 Rau, Kurt, 278, 281 Rauschenberger, Hans, 434, 457 Rechewski, Hildegard, 471 Redeker, Martin, 160 Reichelt, Gerhard, 471 Reichert, Walter, 134 Reichwein, Adolf, 144, 168, 428 Reigbert, Robert, 114, 118, 158, 184, 273, 302, 471 Reimer, Hans, 479 Reimer, Horst, 479 Reimer, Otto, 479 Rein, Wilhelm, 11, 12, 46–51, 53, 62, 78, 90, 93, 96, 97, 100, 101, 105, 108–113, 117, 121, 127, 168, 177, 191, 196–198, 353, 375, 429, 434, 441, 452 Reinhardt, Gitta (Gitty), 317, 321 Reitmeier, Franz, 316, 319, 320 Remmert, Elisabeth, 29, 437, 438 Remmert, Peter, 8, 29, 77 Renner, Otto, 132, 137 Retter, Hein, 16, 18, 30, 33, 65, 77, 109, 161–164, 203, 208, 209, 219, 224, 229, 261, 273, 293, 295, 312–314, 320, 327, 330, 334, 346, 353, 371, 409, 423, 436 Retzar, Michael, 24–26 Reuschel, Karl, 234 Richter, Johannes, 376 Röhrs, Hermann, 58 Rößler, Lotte, 471 Rogler, Rudolf, 365

Rorty, Richard, 167 Rosenberg, Alfred, 253, 268, 279, 368, 369, 378 Rosenthal, Eduard, 145 Rousseau, Jean-Jacques, 415 Rudi („Herr“), 272 Rüdin, Ernst, 276 Rühle, Otto, 424 Rülcker, Tobias, 421, 422 Ruge, Arnold, 131–133 Ruppert, Herbert, 114, 271, 272, 274 Rust, Bernhard, 338, 339, 345, 363, 377 Ruttke, Falk, 276 Sailer, Herbert, 299 Salomon, Alice, 229 Salzmann, Christian Gotthilf, 434 Sander, Friedrich, 268, 270, 279, 289, 363 Sarrazin, Thilo, 37 Sauckel, Fritz, 19, 138, 313, 364, 365 Schaxel, Julius, 77, 82, 86–88, 91, 94, 110, 111, 144, 148, 149, 156, 177, 463–465 Schede, Franz, 306 Scheffer, Theodor, 14, 156, 158, 159, 258, 262, 271, 303 Scheibner, Otto, 91, 103, 104, 106, 113–116, 126, 127, 129–131, 134, 136, 199 Scheidt, Walter, 254, 255 Scheinok, Anna, 295, 317, 319 Scheinok, Aron, 295, 317, 319 Scheinok, Elisabeth, 295, 317, 318 Scheler, Max, 229 Schemm, Hans, 73, 347, 348, 351, 354, 355 Schenker, Frank, 8, 432, 435, 446, 453, 454, 456, 457 Scheuerl, Hans, 29, 418 Schiller, Friedrich, 261 Schlegel, Friedrich, 279 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, 156 Schmidt-Kehl, 254 Schmitz, Hugo, 324 Schmotz, Alexander, 222 Schmutzer, Ernst, 440, 447 Schneider, Friedrich, 44 Schneider, Vera, 471 Schneider, Wilhelm, 132 Schnobel, Carl, 82, 115, 116, 126, 129, 130, 135 Schöll, Friedrich, 244 Schöppe, Herbert, 328 Schöppe, Lina, 328 Scholz, Günther, 447 Scholz, Margret, 481 Schomerus, Hilka, 471 Schott, Otto, 144 Schrade, Erna, 319, 334, 335 Schrade, Hugo, 319, 334, 335

Personenverzeichnis Schrade, Rolf, 319–321, 330, 333–335 Schrader, Karl, 429 Schreiber, 351 Schreiner, Helmuth, 301 Schröder, Hans-Peter, 312 Schröder, Heinz, 127, 269 Schröder, Hermann, 269 Schröer, Heinrich, 234 Schröteler, Josef, 44 Schröter, Albrecht, 8, 301, 450 Schubert, Sieglinde, 431 Schütz, Rüdiger, 8, 432 Schuh, Willy, 285 Schultze, Joachim Heinrich, 268 Schultze-Naumburg, Paul, 131, 159 Schulz, Eberhart, 295, 318, 335 Schwalbe, 358 Schwalm, Hans, 269 Schwan, Torsten, 34, 72, 258, 291–296, 299–306, 313–317, 319–322, 326, 330–336, 409, 410 Schwaner, Wilhelm, 258, 271 Schweden, Prinz Wilhelm von, 491 Seidemann, Christine, 435, 445 Severing, Carl, 145 Sewera, Joseph, 266 Seyfarth-Stubenrach, Michael, 29, 430, 443, 455 Shirley, Dennis, 21 Siemens, Werner von, 238, 253 Siemsen, Anna, 91, 103, 104, 106, 114, 144, 148, 428 Sieveking, Gerhart, 114 Sieverts, Adolf, 132, 133 Skiera, Ehrenhard, 417 Smend, Rudolf, 310 Sontheimer, Kurt, 224 Soper, Clare, 44, 163 Spaarmann, Erich, 267 Spahn, Hans, 430 Spengler, Ulrike, 432, 457 Spiethoff, Bodo, 143 Spranger, Eduard, 32, 96, 128, 208, 229, 232, 342, 413, 422 Sprengel, Johann Georg, 238 Stach, Reinhard, 416 Staedel, Wilhelm, 283 Staemmler, Martin, 253 Stammler, Georg, 244 Stapel, Wilhelm, 240, 241, 245 Stark, Johannes, 135, 343, 344 Stegmann v. Pritzwalk, Persival Friedrich, 132, 143 Stein, Eberhard, 430 Steiner, Gerhard, 129, 135, 272–274 Stengel- von Rutkowski, Lothar, 19, 254, 265, 272, 273, 276, 284, 329

511

Stier, Friedrich, 82, 112, 119, 120, 134, 135, 357, 359, 362, 363, 373, 463, 466 Stirk, Samuel Dickinson, 140 Stoppenbrink-Buchholz, Frieda, 73 Stoy, Karl-Volkmar, 7, 46, 48, 49, 90, 108, 109, 112, 196, 197, 353, 375, 429 Strantz, Kurd von, 242 Strasser, Otto, 281 Strecker, Richard, 91, 101, 103, 104, 106 Ströbel, Hermann, 456 Stroux, Johannes, 104 Stuckart, Wilhelm, 355 Stutz, Rüdiger, 16–19, 24–26 Süvern, Johann Wilhelm, 51 Tack, Rudolf, 280 Tanzmann, Bruno, 243 Tenorth, Heinz-Elmar, 418–420 Theil, Carl, 107, 123, 124, 127, 146, 195 Theil, Eveline, 471 Theil, Karli, 477 Theo, 182 Thümmel, Wilhelm, 145 Thyssen, Simon, 374 Tolstoj, Lew Nikolajewitsch, 262 Torhorst, Marie, 7, 119, 124, 399, 402, 405, 406, 491 Treitschke, Heinrich von, 36 Trier, Matthias, 440–442, 444, 447 Troeltsch, Ernst, 142 Trüper, Johannes, 50, 52, 452 Uhlig, Christa, 429 Ulbricht, Justus H., 14 Unrein, Margarethe, 367 Vaaben, Ejnar, 256 Vaerting, Mathilde, 78, 102, 103, 105, 106, 108, 111, 113, 114, 130, 144, 148 Vasterling, Christian, 273 Verschuer, Otmar Freiherr von, 253 Vilsmeier, Franz Xaver, 285 Voigtländer, Walter, 299, 365 Volkelt, Hans, 66, 288, 289, 346, 351, 354–356, 359 Vreugdenhil, Kees, 443, 455 Wächtler, Fritz, 104, 138, 148, 159, 323, 338, 351, 484–485 Walter, 185, 187 Walter, Christoph, 168, 351 Walther, Kurt, 274 Wandersleb, Emmy (geb. Eppenstein), 319 Wandersleb, Ernst, 318 Wandersleb, Gertrud, 471

512

Personenverzeichnis

Washburnes, Charleton, 44 Webendörfer, Horst, 278 Weber, 320 Weber, Max, 71, 142, 236, 310 Wechsung, Gerd, 433 Weimer, Joachim, 278 Weinel, Ada, 122, 166, 184, 195, 220 Weinel, Heinrich, 86, 122, 144, 145, 156, 159 Weinel, Katharina (Franz), 166, 184, 195, 220, 471 Weiss(ß), Georg, 19, 47, 48, 90, 93, 103, 105, 110, 116, 129–131, 134–137, 144, 145, 155, 159, 351, 352, 361, 363–366, 379, 462 Weißköppel, Alfred, 328 Welzer, Harald, 162 Wenge, Christa, 433, 445, 447 Wenge, Horst, 429, 433, 440, 441, 443, 447 Weniger, Erich, 32, 153, 413 Wennrich, Walter, 429 Wesle, Karl, 268 Weyermann, Moritz, 144 Wezel, Emil, 278, 279 Wieden, Claudia Bei der, 340 Wiegand, Horst, 433 Wien, Max, 145, 148 Wiese, Helmut, 114 Wildt, Michael, 14 Wilker, Karl, 68 Willführ, Karlheinz, 416

Willi, 179, 185, 186 Wimmer, Wolfgang, 324 Wirth, Hermann, 280 Wirts, William A., 44 Witte, Arthur, 268 Wittich-Großkurth, Ulli, 437–439, 445, 455, 457 Witzmann, Georg, 101, 119 Wolf, Christa, 431 Wolf, Walter, 107, 366, 386–389, 391, 395, 396, 402, 406 Wolff, Hans, 13, 55, 60, 110, 114, 117, 118, 121, 161–163, 165–167, 173–183, 185–190, 192– 196, 200, 214, 226, 470, 471, 475 Wrede, Barbara, 430, 435 Wundt, Max, 83–85, 88, 115, 126, 129, 140, 145, 148, 157, 263, 264, 288 Wundt, Wilhelm, 83, 91, 92, 106, 157, 253, 263 Wuttig, Ernst, 82, 111 Wyne(c)ken, Gustav, 70, 434 Zahn, Gustav v., 132, 137 Zanden, Huub van der, 457 Ziebula, Anne, 445 Ziegler, Hans-Willi, 278, 279 Ziller, Tuiskon, 191, 215 Zinnecker, Jürgen, 169 Zucker, Friedrich, 107, 132, 134, 137, 145, 386 Zwalf, Felicity, 321 Zweig, Arnold, 230 Zwiener, Ulrich, 433

Peter Petersen gehört zu den wichtigsten und umstrittensten Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts. An seiner Universitätsschule entstand jenes Schulmodell, das seit der „New Education Fellowship“Konferenz 1927 in Locarno als „Jenaplan“ weltbekannt wurde. Mit seiner Schule und mit seinem Einsatz für eine vollakademische Lehrerbildung stand Petersen mitten im „pädagogischen Aufbruch“ der Weimarer Zeit. In der NS-Zeit verfolgte er eine illusionäre Doppelstrategie systembezogener Selbstmobilisierung einerseits und vermeintlich politikferner pädagogisch-

praktischer Kontinuität andererseits. Nach 1945 versuchte er als Dekan der Jenaer Sozialpädagogischen Fakultät und mit seinen Hallenser und Bremer Plänen einen „pädagogischen Neubeginn“, scheiterte aber damit schon nach wenigen Jahren. Der aus einer Tagung hervorgegangene Band bündelt bisherige Erkenntnisse, stellt quellenbasierte neue Forschungsergebnisse vor und bietet pädagogische Analysen zur Aktualität des Jenaplanes. Er soll so die Grundlagen historisch-kritischer Petersen- und Jenaplan-Forschungen sichern und erweitern.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10208-7