Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur: Beiträge zu Theorie und Praxis 9783110915433, 9783484350878

The volume addresses methodological questions raised by a sociological and socio-historical approach to literary history

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German Pages 184 [192] Year 2007

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Table of contents :
Vorwort
Vom gegenwärtigen Elend einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur
Sozialwissenschaftliche Kategorien und Theorien in der Germanistik 1970-1985
Zur Kategorie der Modernisierung in kultur- und literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen
Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive
Zur Definition und Analyse von Satire am Beispiel von Herbert Heckmanns »Lebenslauf eines Germanisten in aufsteigender Linie« (1969)
Wezels und Campes Bearbeitungen des »Robinson Crusoe«. Zur literarischen Durchsetzung des bürgerlichen Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts
Kriminalität und Devianz in den »Berliner Abendblättern«
Auerbachs ›Nordstetten‹, Kellers ›Seldwyla‹, Franzos’ ›Barnow‹: regionentypische Sozialmodelle im Zeichen von Erfahrungen gesellschaftlicher Modernisierung?
Tausch und Täuschung als Grundmuster gesellschaftlichen Handelns in »Der Marquis von Keith«
Professionalisierung der Schriftsteller? Zu Praxisformen und Reflexionstypen des Schriftstellerberufs zwischen 1850 und 1920
Nachweise
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Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur: Beiträge zu Theorie und Praxis
 9783110915433, 9783484350878

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 87

Jörg Schönert

Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur Beiträge zu Theorie und Praxis

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Redaktion des Bandes: Georg Jäger

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-35087-8

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter G m b H & Co. K G http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Verena Mogl, Hamburg Druck und Einband: A Z Druck und Datentechnik G m b H , Kempten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1

Vom gegenwärtigen Elend einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur

5

Sozialwissenschaftliche Kategorien und Theorien in der Germanistik 1970-1985

23

Zur Kategorie der Modernisierung in kultur- und literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen

43

Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Perspektive

63

Zur Definition und Analyse von Satire am Beispiel von Herbert Heckmanns »Lebenslauf eines Germanisten in aufsteigender Linie« (1969)

83

Wezeis und Campes Bearbeitungen des »Robinson Crusoe«. Zur literarischen Durchsetzung des bürgerlichen Wertkomplexes >Arbeit< in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts

97

Kriminalität und Devianz in den »Berliner Abendblättern«

113

Auerbachs >NordstettenSeldwylaEmpirischen LiteraturwissenschaftSozialsystems Literatur< 43 als kulturelles Teilsystem in der L-Subsystem-Funktion Vorteile. Für die mehrfache Interdependenz der intra- und intersystemischen Analyse-Ebenen haben sich die systemtheoretischen Vorgaben als fruchtbar erwiesen, während die Erweiterungen zu einem Prozeßmodell noch auszuarbeiten sind und sich dabei auf das neu erwachte sozialwissenschaftliche Interesse an den evolutionären Perspektiven strukturfunktionalistischer Systemtheorie stützen können. Ziel ist es, die Geschichte des > Sozialsystems Literatur< als Geschichte der Ausdifferenzierung eines relativ selbständigen und selbstreferentiellen Handlungssystems darzustellen. Dabei ist der intrasystemische Struktur- und Funktionswandel im Zusammenhang eines komplexen intersystemischen Wandels theoretisch zu entwickeln, wobei wiederum die Darstellungsprobleme in der Praxis der Literaturgeschichtsschreibung zunächst außer acht bleiben. Innerhalb eines solchen theoretischen Rahmens fur Analyse-Ebenen und Bezugswege könnten dann - unter

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42

43

Der zu beschreibende >Nutzen< von Parsons' Systemtheorie müßte mit den >Kosten< verrechnet werden, die man sich mit einer solchen Orientierung einhandelt. Vielen Kritikpunkten könnte durch (teilsystem-)spezifische Adaptionen (z.B. für die Konzepte von Handlungsrollen, Nonnen und Sanktionen) begegnet werden. Wir gehen davon aus, daß es sich für Beschreibungen und Analysen von Handlungen der literarischen Sinnverständigung und von literaturbezogenen Interaktionen als nützlich erweist, sie in einem strukturfunktionalen Systemzusammenhang zu denken, sie in der Organisationsform eines > Sozialsystems< zu untersuchen. Darin konkurriert unser Konzept mit anderen Untersuchungsmodellen - etwa mit dem akteurbezogenen Systemkonzept der >Empirischen Literaturwissenschaft S. J. Schmidts (1982) oder der subjektlosem Systemtheorie N. Luhmanns (1984a). Dieser Hinweis auf den Konstruktstatus von >Sozial- und Symbolsystemen< soll auch verhindern, daß an die Stelle >werkontologischer< Prämissen solche einer >System-Ontologie< treten. Vgl. Schönert (1983b), S. 103-109; in der literaturgeschichtlichen Anwendung v. Heydebrand (1984).

16 Bezeichnung des jeweiligen Stellenwertes und in Eingrenzung der Reichweite solcher Beispiele - exemplarische intrasystemische und intersystemische Konstellationen in der Synchronic oder abgrenzbare Teilgeschichten zu Systemelementen sowie intersystemische Prozesse in der Diachronie entwickelt und dargestellt werden. Entscheidungen dazu sind nach verfügbarem Material, Forschungslücken und Kompetenz des Bearbeiters zu treffen. Eine als Synthese angelegte literaturgeschichtliche Darstellung für einen bestimmten Zeitraum wäre dagegen ein Desiderat langfristiger Planung. Als Hypothese für solche Projekte wäre davon auszugehen, daß sich im Bereich deutschsprachiger Literatur die Ausdifferenzierung eines relativ selbständigen >Sozialsystems Literatun für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts (mit markanten Einschnitten etwa um 1770)44 ansetzten läßt45 und zunächst bis in den zeitlichen Umkreis des Ersten Weltkriegs zu verfolgen wäre. Fragen der Periodisierung ließen sich im Blick auf markante Schübe und Zäsuren in den Teilgeschichten zu verschiedenen Elementen des Literatursystems (auf der intermediären Ebene - etwa für Handlungsrollen, Normen, Institutionen - und auf der makrosoziologischen Ebene - etwa für die Literaturkomplexe bestimmter Trägergruppen oder Kommunikationsräume) und in den Prozessen der wechselnden Beziehungen zu weiteren kulturellen Teilsystemen und Sozialsystemen in anderen Subsystemfunktionen diskutieren.

Pragmatisches Vorgehen für den ersten Schritt? In Abgrenzung zu weitgehenden Forderungen der >Empirischen Literaturwissenschaft < im Entwurf Siegfried J. Schmidts von 1980/82 wäre bei solchen Unternehmungen davon auszugehen, daß die Konsequenzen aus seinen theoretischen Vorgaben für Gegenstandsbestimmung und Untersuchungsperspektiven weithin übernommen werden können, im literaturgeschichtlichen Verfahren jedoch - empi44

Der >crucial point< für die geschichtliche Ausdifferenzierung eines >Sozialsystems Kunst< als eines »autopoetisch reproduzierenden Funktionssystems« (Luhmann [1984b], S. 68) wäre für das Teilsystem >Literatur< dann zu sehen, wenn in verstärkter Selbstreferenz (z.B. im Zuge der Ästhetik-Programme) die Bedingungen, Abgrenzungen und Wirkungen der Handlungen literarischer Sinnverständigung reflektiert sowie in Komplementarität und Konkurrenz zu anderen sprachlichen oder zeichenhaften Kommunikationshandlungen für Erwartungshaltungen (>ErwartungserwartungenZeitlichkeit der Kunst< neue Bedingungen für die Intensität der Reproduktion des Systems schaffen. Die (relative) Autonomie des > Sozialsystems Literatur< in der Gesellschaft ist nicht als Ergebnis eines teleologischen Prozesses zu beschreiben, sondern als ultrastabiler Zustand, der in Teilbereichen und im Gesamtbereich des Systems Konstellationen der Integration sowie der Aufhebung von System-Umwelt-Abgrenzungen wie auch innerhalb des Systems Aspekte der Entdifferenzierung einschließt - vgl. etwa Konstellationen zur politischen Indienstname von Literatur oder Änderungen in den Verfahrensweisen zur Distribution von Literatur oder die Integration bis dahin ausgegrenzter Literatur-Rezipienten im Sinne der Prozesse literarischer >Volksbildungdezentrierte< Narration über geschichtliche Prozesse zu verstehen, sondern eher als Montage unterschiedlicher Teile mit einem kontrollierbaren Bauplan der systemtheoretisch entwickelten Bezugswege.47 Daß dabei nicht mehr linear erzählt und >Sinn der Geschichte gestiftet werden kann, liegt auf der Hand. Eine Montage von narrativen Einheiten48 in einer systematisch entwickelten Diachronologie signalisiert den Verzicht darauf, im Erzählen von >Geschichten< eine sinntragende Teleologie des Geschehenen zu konstruieren. Solche Vorschläge zu möglichen Therapien für das gegenwärtigen Elend in der Praxis einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur sind - sieht man einmal von den illusionären Vorstellungen über langfristige Planungen und Projektarbeiten ab - allerdings eher dazu angetan, durch die Hinweise auf Defizite und konkurrierende Entwürfe neue Wunden zu schlagen als zu heilen. Dennoch täte meines Erachtens eine Roßkur nach dem Muster der >Empirischen Literaturwissenschaft not, ohne diesem Verfahren in seinen inhaltlichen Voraussetzungen und Konsequenzen bedingungslos zu folgen. Wo dabei mit Theorie-Entwürfen - wie in einzelnen Aspekten meiner Skizze zunächst ohne Rücksicht auf die mögliche Praxis >vorausgedacht< wird, soll nicht der Zwang geschaffen sein, daß nur in einem solchen - mitunter hypertrophen Rahmen Literaturgeschichte zu schreiben sei. Aber wenn es Literaturgeschichte im Zeichen eines Paradigmawechsels oder gar ein >revolutionäres< Projekt sein soll, dann gilt es zu bedenken, unter welchen Bedingungen von Neuerung und Revolution zu sprechen ist. Literaturgeschichtsschreibung, die sich in der hermeneutischen Tradition begründet, bedarf aus ihrem Ansatz heraus ständiger Revision. An ihren spezifischen Leistungen und ihrer Bedeutung für den kulturellen Diskurs über Literatur soll hier nicht gezweifelt werden. Sie ist ihren Bedingungen nicht minder >theoriefähig< als das auf sozialwissenschaftlicher Basis entwickelte Konzept zur Sozialgeschichte der Literatur als einer Geschichte des Wandels im >Sozialsystem Literature Aber nur dann, wenn die theoretischen Implikate für die Gegenstandsbestimmung, die Kontexte und Korrelation von Wandlungsvorgängen

46 47 48

Vgl. dazu Schmidt (1984), S. 305. Zu vergleichbaren Problemen auch Link (1983). Vgl. dazu Gumbrecht (1984).

18 erkennbar sind, läßt sich über die Reichweite von Revisionen und die Notwendigkeit von >Revolutionen< entscheiden. Für die gegenwärtige Situation der Literaturgeschichtsschreibung wäre daraus zu folgern: die konkurrierenden Konzepte konsequent theoretisch auszuarbeiten bei gleichzeitiger Kontrolle in abgrenzbaren exemplarischen Projekten literarhistorischer Praxis.49 Das hieße aber auch: Verzicht auf vorschnelle Synthesen, dafür in der mittelfristigen Planung zur Literaturgeschichtsschreibung Darstellungen zu erreichen, die dem jeweiligen Stand von Theoriediskussion und historischem Wissen angemessen sind, die ihre Grundlagen und Interessen ausweisen, die Lücken und Inkonsistenzen nicht verbergen, sondern offenlegen und reflektieren - kurzum: etwas mehr Geduld im Warten auf >RevolutionenSozialsystem Literatur< (S. 251-264). Einzelbände, die wegen ihres Erscheinungsdatums für den 1985 publizierten Beitrag nicht eingesehen werden konnten, stehen in Kursivschrift.

19 Bd. 4 (1980): Vondung, Klaus u. Riha, Karl: Neunzehntes Jahrhundert; Bd. 5 (1981): Bollenbeck, Georg u.a.: Zwanzigstes Jahrhundert. Glaser, Horst Albert (Hrsg.) Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Reinbek. Bd. 1 (1988): Liebertz-Grün, Ursula (Hrsg.): Aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit. Höfische und andere Literatur. 750-1320; Bd. 2 (1991): Bennewitz, Ingrid u. Müller, Ulrich (Hrsg.): Von der Handschrift zum Buchdruck: Spätmittelalter - Reformation - Humanismus. 1320-1572; Bd. 3 (1985): Steinhagen, Harald (Hrsg.): Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1572-1740; Bd. 4 (1980): Wuthenow, Ralph-Rainer (Hrsg.): Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus - Empfindsamkeit - Sturm und Drang. 1740-1786; Bd. 5 (1980): Glaser, Horst Albert (Hrsg.): Zwischen Revolution und Restauration: Klassik-Romantik. 1786-1815; Bd. 6 (1980): Witte, Bernd (Hrsg.): Vormärz - Biedermeier - Junges Deutschland - Demokraten. 1815-1848; Bd. 7 (1981): Glaser, Horst Albert (Hrsg.): Vom Nachmärz zur Gründerzeit: Realismus. 1848-1880; Bd. 8 (1982): Trommler, Frank (Hrsg.): Jahrhundertwende: Vom Naturalismus zum Expressionismus. 1880-1918; Bd. 9 (1983): von Bormann, Alexander u. Glaser, Horst Albert (Hrsg.): Weimarer Republik - Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil. 1918-1945; [Bd. 10 (1997): Glaser, Horst Albert (Hrsg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Bern u.a.] Grimminger, Rolf (Hrsg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München. Bd. 1 (2004): Röcke, Werner u. Münkler, Marina (Hrsg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit; Bd. 2 (1999): Meier, Albert (Hrsg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts; Bd. 3 (1980): Grimminger, Rolf (Hrsg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680-1789; Bd. 4 (1987): Ueding, Gert: Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution. 1789-1815; Bd. 5 (1998): Sautermeister, Gert u. Schmid, Ulrich (Hrsg.): Zwischen Restauration und Revolution: Literatur des Vormärz. 1815-1848; Bd. 6 (1996): Mclnnes, Edward u. Plumpe, Gerhard (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit. 1848-1890; Bd. 7 (1995): Mix, York-Gothart (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siecle, Expressionismus. 1890-1918; Bd. 8(1995): Weyergraf, Bernd (Hrsg.): Literatur der Weimarer Republik. 1918-1933; Bd. 10 (1986): Fischer, Ludwig (Hrsg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Bd. 11 (1983): Schmitt, Hans-Jürgen (Hrsg.): Die Literatur der DDR. Bd. 12 (1992): Briegleb, Klaus u. Weigel, Sigrid (Hrsg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. Zmegac, Viktor (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Königstein/Ts. Bd. I, l u . 2(1978): 1700-1848; Bd. II, 1 u. 2(1980): 1848-1918; Bd. III, 1 u. 2 (1984): 1918-1980.

20 1.3. Rezensionen und Kritiken zu literaturgeschichtlichen Darstellungen Anz, Thomas: Auf der Suche nach dem ganzen Bild. Anmerkungen zu den neuen Sozialgeschichten der deutschen Literatur. In: Süddeutsche Zeitung, 4. 11.1980. Hinck, Walter: Das Verschweigen hat Methode. Vom Elend unserer Literaturgeschichten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.4.1980. Auch in: Ders.: Germanistik als Literaturkritik. Frankfurt/M. 1983, S. 272-277. - In jedem Buch steckt ein weiteres Buch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.2.1980. Auch in: Ders.: Germanistik als Literaturkritik. Frankfurt/M. 1983, S. 281-288. Kreutz, Wilhelm: Der lange Abschied von der Autonomie der Literatur. Zur >Renaissance der Literaturgeschichte als SozialgeschichteDer letzte Band< - Gegenwartsliteratur als Problem für die Literaturgeschichtsschreibung. In: Mittig. d. Dtsch. Germanistenverb. 31 (1984) Η. 1, S. 4-14. Söring, Jürgen: Literaturgeschichte und Theorie. Ein kategorialer Grundriß. Stuttgart 1976. Voßkamp, Wilhelm: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozialund funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Walter Hinck (Hrsg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977, S. 27—42. - Probleme und Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts. In: Bernd Fabian u. Wilhelm Schmidt-Biggemann (Hrsg.): Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche. Nendeln 1978, S. 53-69. - Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte der Literatur (am Beispiel der frühneuzeitlichen Utopie). In: Thomas Cramer (Hrsg.): Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages Aachen 1982. Bd. 1: Literatur. Tübingen 1983, S. 32-54. Wild, Reiner: Literatur im Prozeß der Zivilisation. Zur theoretischen Grundlegung der Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982. - Einige Überlegungen zum Zusammenhang von Literatur und Prozeß der Zivilisation, insbesondere zum Wandel literarischer Formen. In: Thomas Cramer (Hrsg.): Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Vorträge des Deutschen Germanistentages Aachen 1982. Bd. 1: Literatur. Tübingen 1983, S. 383-399. 2.2. Weitere Literaturhinweise Pfau, Dieter u. Schönert, Jörg: Probleme und Perspektiven einer theoretisch-systematischen Grundlegung für eine >Sozialgeschichte der Literature In: Renate v. Heydebrand u.a.

22 (Hrsg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Tübingen 1988, S. 1-26. Schönert, Jörg: Zu einem strukturfunktionalistischen Untersuchungsmodell für die Sozialgeschichte der Literatur. In: Ders. (Hrsg.): Literatur und Kriminalität. Tübingen 1983, S. 33^16. - Möglichkeiten und Probleme einer Integration von Literaturgeschichte in Gesellschaftsund Kulturgeschichte. In: Lutz Danneberg u. Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Stuttgart 1991, S. 337-348. - Mentalitäten, Wissensformationen, Diskurse und Medien als dritte Ebene einer Sozialgeschichte der Literatur. Zur Vermittlung zwischen Handlungen und symbolischen Formen. In: Martin Huber u. Gerhard Lauer (Hrsg.): Nach der Sozialgeschichte. Tübingen 2000, S. 95-103. - Sozialgeschichte. In: Jan-Dirk Müller u.a. (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Berlin u. New York 2003, S. 454-458.

Sozialwissenschaftliche Kategorien und Theorien in der Germanistik 1970-1985

In der Generation unserer akademischen Philologen-Väter gehörte es noch zum guten Brauch, den >Dr. phil.< nicht nur unter dem Dach der Philosophischen Fakultäten erworben, sondern auch Philosophie studiert zu haben. Literaturgeschichte war Geistes- und Ideengeschichte - und deren Verwalter saßen im Schloß der Philosophen. Wie man weiß, änderte sich in den 1960er Jahren in der akademischen Landschaft der Bundesrepublik manches. Wer (so wie ich) um 1960 sein GermanistikStudium aufnahm, saß in seinen Wahlveranstaltungen wohl auch (wie es Brauch gewesen) zu den Füßen der Philosophen, aber es waren eher die Wissenschaftstheoretiker als die Philosophiehistoriker. Wo der >alma mater< jedoch Innovatorisches abgewonnen werden sollte, galt es, die Politologen und Soziologen aufzusuchen. Für manch einen von uns verdrängten die Sozialwissenschaften die Philosophie als Leitdisziplin der Geisteswissenschaften - und fur die große Menge der Lehramtsstudenten wurde aus der Zusatzprüfung des >Philosophikums< zunächst ein >Pädagogikum< und dann ein >Erziehungsgesellschaftswissenschaftliches Studium (EGS)Modernisierung< in der Perspektive > Situation und Aktion des Menschen in der Gesellschaft unter vier Aspekten: (a) Im Blick auf den biologischen Status des Menschen: In seinem Verhältnis zum eigenen Körper und zur >Physis< des Erfahrungsraums >Natur< gilt Modernisierung als Domestizierung, das heißt als Beherrschung der Naturkräfte und als Ausbeutung der Ressourcen der Natur, also im Zeichen von Prozessen der Zivilisation (Norbert Elias), der Fremd- und Selbstdisziplinierung sowie der Industrialisierung und Technologisierung; (b) im Blick auf den psychischen Status des Menschen, in der Korrelation mit sozialen Konzepten wie >Persönlichkeit< und >IdentitätDifferenzierung< und >Entdifferenzierung< bzw. >Integration< gelten - so Lepsius 7 - als Grundfigur der Modernisierungsvorgänge. Differenzierungsvorgänge sind aber nicht nur zur Leitkategorie soziologischer Geschichtstheorien geworden; mit >Differenzierung< werden zudem unterschiedliche Gesellschaftstheorien begründet - von Weber über Parsons bis hin zu Luhmann; >Differenzierung< ist seit Adam Smith auch die theoretische Basis für Modelle zur Individualität des Menschen in der auf Erwerb und Kapitalvermehrung gestellten Gesellschaft. 8 Auf >Differenzierung< begründete Theorien können beispielsweise als Rollentheorie, als Schichtungs- und Klassentheorie, als strukturfunktionale Systemtheorie, als Theorie selbstorganisierender und selbstreflexiver Systeme entwickelt werden. Differenzierungen vollziehen sich dabei ebenso auf der Makro-Ebene der Konstitution und Entwicklung von Gesellschaften - in der sogenannten Ausdifferenzierung von Wertsphären oder von funktionalen Teilsystemen - wie auf der Mikro-Ebene gesellschaftlichen Handelns von Aktoren - etwa in der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Handlungsrollen. Diese Vielzahl der Perspektiven und Verwendungszusammenhänge mag höchst forderlich fur den munteren Umgang mit dem Begriff sein; der strenge terminologische Gebrauch ist freilich erheblich erschwert. Um es im Bild zu sagen: Mit >Differenzierung< kann man durch die sozialwissenschaftlichen Theorien und Theoreme >switchen< wie auf der Suche nach der Nachricht des Tages durch die Programme des Kabelfernsehens. Zu unterscheiden wären zunächst einmal unterschiedliche Typen von Differenzierungen: also die segmentären Differenzierungen (etwa in den Stammesgesellschaften), die stratifizierende Differenzierung der Ständegesellschaft und schließlich die funktionalen Differenzierungen, auf die sich die Modernisierungsfor7 8

Vgl. Lepsius (1977), S. 28. Vgl. Stichweh (1988a), S. 46-48.

48 schung bezieht; also auf die Ausbildung und Abgrenzung bestimmter Handlungszusammenhänge, geprägt durch Interessen, Bedürfnisse und Problemlagen der Akteure - etwa im gesellschaftlichen Teilsystem >Wissenschaft< mit seinen spezifischen Institutionen, Handlungsabläufen und Rollenvorgaben.9 Solche Teilsysteme - als Ergebnis funktionaler Differenzierungen - sind in modernen Gesellschaften einander nicht hierarchisch zugeordnet; sie koexistieren, sie sind füreinander »Umwelt*; sie entwickeln zudem Tendenzen zur Korrelation und Entdifferenzierung bzw. Integration. Handlungen einer Person können mehreren Teilsystemen zugeordnet werden; sie sind nicht etwa durch die Zugehörigkeit des Akteurs zu einem Stand im voraus definiert. Schließlich: Nicht alle Teilsysteme einer Gesellschaft werden gleichzeitig ausdifferenziert. So können sich segmentäre und stratifizierende Differenzierungen durchaus neben funktionalen Differenzierungen erhalten. Und in einer zusätzlichen Perspektive: Differenzierungsvorgänge innerhalb eines Teilsystems können entdifferenzierende Prozesse in einem korrelierenden Teilsystem auslösen und umgekehrt.10 Doch damit sind die eigentlichen Probleme im terminologischen Umgang mit »Differenzierung* noch gar nicht angesprochen. Mit dem Begriff verbinden sich recht unterschiedliche Vorgänge: die Abgrenzung eines Systems zu seiner Umwelt ebenso wie die Ausbildung von kleineren Funktionseinheiten in übergreifenden Funktionszusammenhängen auf unterschiedlichen Systemebenen. Ausdifferenzierung der Wertsphären von Wissenschaft und Kunst, der Interessen am Wahren und Schönen, hieße also dann, daß in der Kunst kein geeignetes Mittel mehr gesehen wird, um die Bedürfnisse, die sich auf Erkenntnis, auf Organisation und Verteilung von Wissen richten, zu befriedigen. So weit, so gut. Doch ist die Perspektive »Differenzierung* sowohl als »Ausdifferenzierung* wie als »Binnendifferenzierung* in systemtheoretischer Sicht wiederum zu verbinden mit Konfigurationen des Austausches, der - schreckliches Wort — »Interpenetration* von Systemen, ihrer - in der Bildlichkeit des Handels - »Austauschbeziehungen*. »Austausch* setzt »Abgrenzungen* voraus; Abgrenzung und Austausch sind - ebenso wie Binnendifferenzierung - Reaktionen des Systems auf Impulse aus der Umwelt, sind Prozeduren zur Erhaltung des Systems. Mit »Abgrenzung und Austausch* ist schon eine erste Variante zum Grundmuster »Differenzierung und Entdifferenzierung* bzw. »Integration* beschrieben. Weitere Varianten oder Zuordnungen - auch auf der Basis assoziativer Verknüpfung - sind unschwer einzusammeln: Fragmentarisierung und Totalisierung, Spezialisierung und Generalisierung, Pluralismus und Universalismus, Distinktion und Nivellierung, Regionalisierung und Zentralisierung, Ausgrenzung und Inklusion,11 Individualisierung und Standardisierung, Diversifikation und Homogenisierung. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, noch weitere dieser Spielmarken zu »Differenzierung und Integration* auszugeben. Andere Anforderungen sind dann gestellt, wenn -

9 10 11

Vgl. z.B. Hahn (1981) und Willke (1987). Vgl. van der Loo u. van Reijen (1992), S. 33. Zu »Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft« vgl. Stichweh (1988b).

49 wie es für den kontrollierten terminologischen Gebrauch notwendig wäre - die jeweils relevanten theoretischen Bezüge expliziert werden sollten. Die Fluchtbewegung, die von denjenigen vollzogen wird, die sich auf einen solchen Rigorismus nicht einlassen wollen, nimmt oft die Richtung, daß mit solchen Formeln, wie auch immer sie gefüllt sind, doch nur die Abkehr vom >entweder-oder< zugunsten des >sowohl-als auch< signalisiert werden soll: Modernisierung eben als einen komplexen, widersprüchlichen, diskontinuierlichen Prozeß anzusehen. Doch ist mit solchen Überlegungen zu Tragfähigkeit und Reichweite der leitenden Vorgabe Differenzierung und Integration zunächst nur die erste Seite im Buch der möglichen Einwendungen aufgeschlagen. Beim Weiterblättern könnte man sich zum Beispiel leiten lassen von Feinabstimmungen, wie sie Soziologen für Offizial- und Untergrunddifferenzierungen, für sichtbare und verdeckte Strukturen vornehmen,12 könnte terminologische Bestimmungen einfordern für den Zustand vor der Differenzierung - etwa Indifferenziertheit oder Diffusität - und für den Zustand als Folge der Aufhebung von Differenzierungen - etwa Entdifferenziertheit? Ich will - und kann als gelernter Philologe - dieses Aufblättern nicht weiter betreiben. Stattdessen soll der Blick zurückgelenkt werden auf die Fragen, die aus der zentralen Rolle des >Sowohl-als-auch-Paares< Differenzierung und Integration für die konzeptuellen Vorgaben des Schwerpunktprogramms erwachsen. Dabei sind Konstellationen und Prozesse des gesamtkulturellen und im engeren Sinne sprachlichen und literarischen Wandels herausgestellt, deren Zurechnung auf die gesellschaftliche Modernisierung zumindest genauer betrachtet werden muß. Es versteht sich, daß wohlbekannte Abläufe wie Innovation und Traditionsbindung nicht ohne weiteres auf die Formel Differenzierung und Integration zu projizieren sind.13 Orientierung an kulturellen Traditionen, Kanonbildung und Kanonpflege könnten eher auf den - sozialwissenschaftlich explizierten - Begriff der Inklusion und ihrer unterschiedlichen Typen bezogen werden.14 Wäre >Inklusion< auch die erschließende Kategorie für das Programm einer staatenübergreifenden Nationalliteratur deutscher Sprache?15 Doch bleiben Folgeprobleme: Läßt sich die Ausdifferenzierung einer österreichischen Nationalliteratur mit der Ausdifferenzierung einer Schweizer Nationalliteratur deutscher Sprache (in einem dreisprachigen Staat) vergleichen? Und lassen sich beide Prozesse mit den Abgrenzungen zwischen den sogenannten spätbürgerlichen und humanistisch-sozialistischen Literaturen in Bundesrepublik und DDR unter dem Aspekt >Ausdifferenzierung< verbinden? Sind das nicht ganz unterschiedliche Ausdifferenzierungen, ja sind es überhaupt Ausdifferenzierungen im Sinne des Grundmusters gesellschaftlicher Modernisierung? Diese Vorgänge als bedingt durch den Prozeß gesellschaftlicher Modernisierung - wie auch immer begründet - zu beschreiben, müßte von dem vergleichenden Blick auf Vorgänge in anderen plurinationalen Sprachgemeinschaften (Angelsachsen, 12 13 14 15

Vgl. z.B. Hondrich( 1987), S.298f. Vgl. z.B. Barner (1989), Haug u. Wachinger (1991) und (1993). Vgl. Stichweh (1988b). Vgl. ebd., S. 286-290. Weiterreichende Inklusionsvorgänge ergeben sich heute durch die kulturprägenden Funktionen der sog. neuen Medien.

50 Hispania-Staaten in Mittel- und Südamerika) begleitet werden. Und allemal handelt es sich bei diesen Abgrenzungen von Nationalliteraturen um andere Ausdifferenzierungen oder Abgrenzungen von Funktionszusammenhängen, als sie Max Weber fur die Wertsphären des Guten, Wahren und Schönen beschrieben hat. Und noch eine skeptische Frage: Lassen sich kultureller Regionalismus und Plurizentrik des deutschsprachigen Kulturraums - versus sprachkulturellem Universalismus und Metropolenbildung - ohne weiteres mit den Abgrenzungen von Nationalliteraturen vergleichen? Und sind beide Vorgänge bedingt durch die Modernisierung der Gesellschaft? Sind es gleichzeitige Prozesse, oder sind sie typisch fur unterschiedliche Phasen und Verlaufsformen dieser Entwicklung? Sind die Regionalkulturen und Kulturräume des 16./17. Jahrhunderts im Sinne von segmentären Differenzierungen zu beschreiben, die Kulturräume des späten 18. Jahrhunderts oder gar erst der Zeit um 1900 (zum Beispiel das >Jugendstil-Zentrum< Darmstadt) als das Resultat funktionaler Differenzierungen? Solche Bedenken gegenüber unbedenklichen literaturgeschichtlichen Operationen im Banne der Adhäsionskraft der Modernisierungsformel Differenzierung und Integration< könnten in Fragen zur historischen Rekonstruktion geschärft werden. Dabei ist vor allem daran zu erinnern, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren - oder die Sozialsysteme als ausdifferenzierte Funktionszusammenhänge der Gesellschaft - in unterschiedlicher Weise von Modernisierungsprozessen erfaßt werden, daß dabei das Ergebnis von Modernisierungsvorgängen in einem korrelierenden Sozialsystem gegenläufige Prozesse (etwa >KompensationAusbildung von Nationalstaat e n ohne weitere Relativierungen mit >Ausbildung von Nationalliteraturen< gleichzusetzen? Wie erklärt sich die Konstellation, daß die Ausbildung einer deutschen Nationalliteratur gleichsam der Gründung des Nationalstaates vorausläuft und zur Stiftung dieses Nationalstaates, des Reiches von 1871, funktionalisiert wird?16

Modernisierung von Kultur und Literatur Zu fragen ist also einerseits - und damit komme ich zu Punkt 3 meiner Gliederung - nach den unterschiedlichen Verläufen von Modernisierung in den verschiedenen Sektoren der Gesellschaft, andererseits nach der Korrelation dieser Prozesse. Ich fasse diesen Problemzusammenhang in theoretisch entlasteten, wissenschaftsalltagssprachlichen Begriffen der strukturfunktionalen Systemtheorie.17 Also: Zu fragen wäre nach der Spezifik der Modernisierungsvorgänge in den Sozialsystemen

16 17

Vgl. dazu Köster (1991). Vgl. als Einführung in das - paradigmabildende - systemtheoretische Programm von Niklas Luhmann: Reese-Schäfer (1992). Den Diskussionsstand zur Übertragung und Ausarbeitung systemtheoretischer Konzepte in der Literaturwissenschaft zeigt Schmidt (1993).

51 »politisches Handeln*, »ökonomisches Handeln* oder »kulturstiftendes Handeln*.18 Koexistierende Teilsysteme für das kulturstiftende Handeln wären beispielsweise das >Sozialsystem Religion*, das »Sozialsystem Wissenschaft*, das >Sozialsystem Kunst* - und als ein Teilsystem dieses >Sozialsystems Kunst* ist der Erfahrungsund Handlungszusammenhang »Literatur* abzugrenzen. Nun hat sich die weitverzweigte Modernisierungsforschung zumindest in der deutschen Soziologie nur zögerlich auf den gesellschaftlichen Sektor »Kultur* eingelassen, sieht man einmal von den Monumentalwerken Luhmanns zu Recht, Religion und Wissenschaft und von Richard Münchs »Die Kultur der Moderae« ab. Nur ein Plenum der zehn Plena des 25. Deutschen Soziologentages 1990 befaßte sich zum Thema »Modernisierung der Moderne« mit Kulturtheorie - und dann im Zeichen der Postmoderne. Wir können uns dem Gegenstand »Literatur im Prozeß der Modernisierungen* also nicht erfahrungsgesättigt, in immer enger schließenden Kreisen von der Peripherie der gesellschaftlichen Moderne herkommend, nähern. Somit empfiehlt sich ein Blickwechsel, nämlich vom »Sozialsystem Literatur* auf die Umwelt dieses Systems zu blicken. Das Thema »Literatur im Prozeß der Modernisierung* wäre dann zu fassen als Frage nach Ausbildung und Wandel des »Sozialsystems Literatur* in der Umwelt der Modernisierung der Gesellschaft, also fur den Zeitraum seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Macht man einmal den Versuch, die vier Grundmuster gesellschaftlicher Modernisierung im Sinne von Parsons auf das »Literatursystem* zu übertragen, dann ergeben sich u.a. folgende Konstellationen: Inklusion immer größerer Bevölkerungsteile in die gesellschaftlichen Institutionen hieße, immer mehr Menschen zu Lesern zu machen (Leserevolutionen); Wertegeneralisierung ließe sich beschreiben im Werben für den »Wert von Literatur* (und im flexiblen Umgang damit); Differenzierung wäre vor allem die Ausbildung unterschiedlicher Sektoren im Umgang mit Literatur (Eliteliteratur, Trivialliteratur); Statusanhebung und Kompetenzerweiterung vollzögen sich über literarische Bildung im Blick auf das Prestige der Literatur. Sie haben es erkannt: »Literatursystem* heißt hier Handlungssystem, es schließt die Handlungen der Sinnverständigung mit Hilfe von Literatur und die literaturbezogenen Handlungen ein. Siegfried J. Schmidt hat ein solches ausdifferenziertes Sozialsystem für den Entwicklungsprozeß der deutschsprachigen Literatur im 18. Jahrhundert beschrieben als forschungsleitendes Konstrukt oder genauer gesagt als theoretisch begründetes Raster zur systematischen Organisation der vorliegenden Forschungsergebnisse. Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaftler, die sich nicht einem entschiedenen empirischen Programm zuordnen, ist jedoch weniger im »Sozialsystem Literatur* als im »Symbolsystem Literatur* zu lokalisieren. Solche Symbolsysteme sind Umwelten für die Handlungssysteme, stehen mit ihnen in Austauschbeziehungen. Umwelt für Symbolsysteme wären andere Symbolsysteme, aber eben auch Sozialsysteme. Unter diesen Bedingungen ist also die Doppelung von sozialer und semiotischer Systemreferenz des Objektbereiches

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Systemtheoretisch grundlegend zu »Kultur* ist Münch (1986).

52 >Literatur< zu sehen.19 Und zu erwägen ist, ob hier nicht eine >Trilaterialität< zu installieren wäre, nämlich in der Erweiterung der Referenzen auf den Systembereich des Psychischen.20 Zu untersuchen wäre also, wie das >Handlungssystem Literatur< von den Prozessen gesellschaftlicher Modernisierung erfaßt wird (ich habe dazu oben einen ersten Hinweis mit der Anwendung der Parsonsschen Kategorien gegeben), welche Leistungen es - gesamtgesellschaftlich gesehen - für diese Prozesse erbringt, welche systemspezifischen Strukturen und Funktionen dabei ausgebildet werden. Zu fragen ist zudem, ob und wie sich die Verfahren und Erträge der Modernisierungsforschung auf den Wandel von Symbolsystemen beziehen lassen. Dabei wären allerdings selbstkritische Einschätzungen eines soziologischen Großmeisters zu bedenken: Niklas Luhmann überraschte die Fachkollegen 1990 auf dem 25. Deutschen Soziologentag mit der Feststellung, Kunsttheoretiker und Kunstwissenschaftler - er nennt Peter Bürger und Siegfried J. Schmidt - wüßten mehr vom Status der Moderne als Soziologen.21 Sei es, wie es sei. Auf jeden Fall wird davon auszugehen sein, daß - ähnlich wie in psychischen Systemen22 - Systemzustände im Symbolsystem eine größere Dauerhaftigkeit haben, daß es zu Mixturen von Noch-nicht-Gewandeltem und BereitsGewandeltem kommt, daß >moderne< Problemlagen mit >traditionalen< Verfahren der Problembearbeitung aufgenommen werden. Zugleich ist denkbar, daß durch die systemspezifische Kombinatorik von Erfahrungen und Bearbeitungsformen Problemlagen erzeugt werden, für die es in den Handlungssystemen noch keine manifesten Korrelate gibt. Die hier gewählte problemgeschichtliche Beschreibungsweise mit sozialer und psychischer Systemreferenz für >Erfahrungen< und mit semiotischer Systemreferenz für >Bearbeitungsformen< kann für das Problem der Zurechnung von Handlung und Text in theoretischer und vor allem untersuchungspraktischer Sicht präzisiert werden, wenn ein >inter-systemischen Vermittlungsbereich entworfen wird.23 Er erfaßt für die Verbindung von Problemlagen (der Sozialsysteme) und Problembearbeitungen (der Symbolsysteme) die Regularitäten der Wahrnehmung und Formulierung der Probleme und kann in unterschiedlicher Weise mit Kategorien der Forschungen zu Mentalitäten, der Wissenssoziologie oder der Diskursanalyse erschlossen werden. Damit ist das oben angesprochene Verknüpfungsproblem der sozialen, psychischen und semiotischen Systemreferenzen nicht im Sinne einer theoretischen Ausarbeitung zu lösen, aber eben forschungspraktisch zu vermindern. Wir alle kennen die Gewaltsamkeiten, mit deren Hilfe Strukturen literari-

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Vgl. dazu Ort (1993). Vgl. dazu Luhmann (1988), S. 139: Unter vier Aspekten (Leben, Bewußtsein, Kommunikation und >Geistsystemtheoretisch gestützte< Modernisierungsdebatte einzubeziehen. Vgl. dazu Schönert (1992), S.338ff.

53 scher Texte beispielsweise mit Strukturen politischer Macht in Verbindung gebracht werden. Wenn solche reduktiven Zurechnungen aber in komplexe Zusammenhänge aufgelöst werden, wenn sie ergänzt werden durch Fragen nach den Organisationsformen gesellschaftlich relevanten Wissens oder nach den psychischen Dispositionen deqenigen, die mit Literatur in einer historischen Situation umgehen, oder nach Ordnungsmustern einer literarischen Semantik zu einem Problemfeld gesellschaftlicher Erfahrung24 - wenn so verfahren wird, dann lassen sich zumindest in kleinteiligeren Untersuchungsbereichen historische Rekonstruktionen zum >Sozialsystem Literatur* und zum >Symbolsystem Literatur* zusammenführen. Für diesen >intersystemischen Zusammenhang* sind durchaus Ergebnisse der Modernisierungsforschung fruchtbar zu machen: etwa die Akzeleration der Erfahrungen, die veränderten Wahrnehmungen von Zeit und Raum, die Preisgabe der Bedeutung von Gegenwart zugunsten der Aneignungen des Vergangenen oder der Projektionen des Zukünftigen, die Aktivierung des Möglichkeitssinns, die Intensivierung der Einbildungskraft, die Differenzierung der Subjekterfahrungen, die Wechselwirkungen von Selbst- und Fremdbildern, die Pluralität von Welt- und Gesellschaftsmodellen. Strukturen des Symbolsystems - wie Gattungs- und Genreformen, Stilprinzipien, Topik und Motivik, die spezifische Semantik eines Problemfeldes wie Liebe oder Arbeit - wären also zunächst mit Ordnungsmustern dieses intersystemischen Zusammenhangs in Verbindung zu setzen: etwa mit Typen von Mentalität oder mit Diskursen,25 mit mythologischen Konzepten und ideologischen Formeln, mit Bewertungsmustern und Stereotypen der Wahrnehmung, mit Wissens- und Deutungsformen im Sinne einer historischen Semantik, die für unterschiedliche Diskurse zu differenzieren wäre und damit auch zu wichtigen Untersuchungen »für die sozialhistorische Besonderheit jeweiliger Diskurse«26 führen sollte. Am besten ausgearbeitet sind für solche Bezugswege von Problemlagen der Sozialsysteme bis hin zu den literarischen Texten die wissenssoziologischen Optionen; die Frage nach den gesellschaftlichen Begründungen von Organisationsformen des Wissens kann über den Aspekt der >Problemlagen< und Bedürfnisse für Problembearbeitungen* mit der literarischen Organisation solcher Erfahrungen in den Mustern der Genres und Gattungen in Beziehung gesetzt werden. Veränderungen im System der Gattungen und Genres sind in der Regel wichtige Indikatoren für Reaktionen des >Symbolsystems Literatur* auf die Umwelt, auf die Entwicklungen in den Sozialsystemen, auf die Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung. Systemtheoretisch formuliert, markieren die literarischen Institutionalisierungen der Gattungen und Genres den Endpunkt von Differenzierungs- und

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Diese Perspektiven werden weithin bei den Vertretern einer >harten Systemtheorie* vernachlässigt; bei den Vertretern der Diskursanalyse im Anschluß an Foucault kommen sie aufgrund des theoretischen Konzepts nicht in den Blick oder werden nur gering gewichtet. Vgl. dazu Meyer (1991) und (1992). Gumbrecht u. Sanchez (1984), S. 17.

54 Entdifferenzierungsleistungen des >Symbolsystems LiteraturSozialsystem LiteraturSymbolsystem Literature Für die Zeitphase >Prozeß der Modernisierung< lassen sich wichtige Koordinaten fur einen solchen Standort anlegen. Sie fuhren erstens zu Aussagen über den funktionalen Status des > Sozialsystems Literatur< in der Gesellschaft; er ist bestimmt durch die Abgegrenztheit des Systems, seine relative Autonomie, seine Koexistenz zu anderen Sozialsystemen. Als Leistungen für diese koexistierenden Systeme werden zweitens Handlungen der Sinn Verständigung mit Hilfe der als literarisch ausgewiesenen Texte ermöglicht, Ordnungs- und Orientierungsmuster gesellschaftlichen Handelns reflektiert, stabilisiert oder in Frage gestellt - unter Bedingungen, die für den Prozeß der Modernisierung vielfach beschrieben worden sind; ich nenne als Schlagworte nur Säkularisation, Rationalisierung, Erfahrungsbeschleunigung, Vervielfältigung und schnellerer Umschlag des Wissens, Pluralität der Werte und Normen, Ausdifferenzierung der disziplinaren Diskurse. 28 Die Verarbeitungen solcher Erfahrungen zu Wirklichkeitsentwürfen und Wirklichkeitsdeutungen sind zunächst nur als Anschluß an typische Handlungen im > Sozialsystem Literatur< zu verstehen. Sie lassen sich zudem mit Konstellationen im >Symbolsystem Literatur< in Verbindung bringen (wenn man >Texte< als Ergebnis und als Ausgangspunkt von >Handlungen< versteht), und die Elemente dieses >Symbolsystems Literatun können als Umwelt der Sozialsysteme steuernd und koordinierend für gesellschaftliches Handeln wirken - selbst für Aktionen im Handlungszusammenhang >Recht< oder >PolitikSozialsystem Literatun wiederum lassen sich drittens auch Instanzen der Selbstreflexion in den Handlungszusammenhängen von Literaturkritik und Literaturwissenschaft beschreiben. 29 Innerhalb dieses Koordinatensystems zum funktionalen Status, zu den Leistungen in der Korrelation der Systeme und zur Selbstreflexion ergibt sich eine Beschreibungsperspektive für >Literatur im Prozeß der Modernisierung^ die sich 27

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Zu Gattungen (und Genres) als >Institutionen< erstmals Voßkamp (1977), vgl. auch Galle (1985). Die >schöne Literatun kompensiert dabei solche >Partialisierungen< durch Vermittlungen (Literatur als >Interdiskurs< im Sinne von Jürgen Link) oder - als eine von vielen Möglichkeiten des Fingierens - durch Fiktionen von ganzheitlicher Existenz oder Erfahrung, vgl. dazu Schmidt (1989), S. 397f. Vgl. ebd. S. 360-377.

55 ohne erhebliche theoretische Vorklärungen anlegen läßt: In den Handlungen der literarischen Sinnverständigung werden die Erfahrungen des Modernisierungsvorgangs (auf unterschiedliche Weise) verarbeitet,30 werden strukturelle Prozesse wie etwa Arbeitsteiligkeit - individualisiert, werden die Bedingungen und Folgen dieser Veränderungen reflektiert, werden die Wandlungsvorgänge begleitet und gefördert oder die Kosten und Lasten des Modernisierungsprozesses - auch im Vorauseilen der Imaginationskraft - dargestellt. Daß solche Aktionen der Verarbeitung von Erfahrungen und des Anschließens von Erfahrungen an die literarischen Verarbeitungen sich zugleich unter den Bedingungen der systemspezifischen Modernisierung des > Sozialsystems Literatur< vollziehen, wäre wichtig und in überschaubare Fallstudien einzuarbeiten. Ob sich darüber hinaus auch eine Modernisierung des Symbolsystems Literatur< beschreiben ließe, ob sich unter diesem Aspekt etwa Sichtweisen und Ergebnisse der Gattungs-, Stil- und Formgeschichte jenseits der analogischen Verwendung von Begriffen wie >DifferenzierungIndividualisierung< modernisierungstheoretisch aufnehmen ließen, bliebe im Zusammenhang der übergreifenden Fragen zu klären: nämlich in der Zuordnung der Modernisierungsvorgänge in den Sektoren gesellschaftlichen Handelns zu einem - zunächst hypothetischen - Konzept Modernisierung der Kulturmodern< oder als >die Moderne< sollten sowohl die leichter zu beschreibenden Modernisierungsvorgänge im > Sozialsystem Literatur< wie die Annahme einer Modernisierung des >Symbolsystems Literatur< berücksichtigt werden. Die Formulierung >Literatur im Prozeß der Modernisierung< zielt also - ich sagte es eingangs - auf die sozialgeschichtlich orientierten Rekonstruktionen von Konstellationen und Prozessen der >Literatur der Modernen

Literaturgeschichtliche Phasen im Modernisierungsprozeß Ich habe damit den Punkt 5, den letzten meiner Gliederung, erreicht und verspreche Ihnen, das terminologische Gespenst, das in Europa und Übersee umgeht,32 die Postmoderne, nicht zu beschwören. Und ich kann mich kurz fassen, denn die 30

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Vgl. dazu Köster (1988), S. 354f.: Erfahrungen von >Modernisierung< werden um 1900 in unterschiedlichen literarischen (Stil-)Programmen organisiert; als >modern< gelten dann die Konzeptionen, die sich an Traditionsbruch und künstlerischer Innovation orientieren. Vgl. Marschall (1993) zu einem erheblich weiteren Begriff von >Kultur< (in den auch die Abläufe und Zusammenhänge von Handlungen eingeschlossen sind). Wichtig für die Diskussion zur kultur- und medienwissenschaftlichen Orientierung der Neuphilologien ist Schmidt (1992). Vgl. Jauß(1983), S. 95.

56 epochen- und phasengeschichtlichen Festlegungen für >die Moderne< und für die unterschiedlichen Bewegungen eines intensivierten Modernismus sind in der Forschungsdiskussion wenig umstritten.33 Zunächst einmal stellt sich ein Grundproblem für begriffliche Fixierungen in den Geisteswissenschaften: die Konkurrenz zwischen den zeitgenössischen Selbstdefinitionen - mit allen ihren Zufälligkeiten und Widersprüchen - und die Notwendigkeit, aus der Perspektive der Rekonstruktion analytische Festlegungen zu entwickeln, die systematisch begründet und eindeutig expliziert werden können. Von einem Prozeßbegriff >Moderne< wäre unter diesen Aspekten zu unterscheiden die wiederkehrende Konstellation einer entschiedenen Orientierung auf Abkehr von Traditionsbindungen, auf Innovation, auf das Prinzip einer permanenten Avanciertheit der Kunst. Hier trägt - so meine ich - die Abgrenzung von Modernität und Traditionalität; hier steht Modernität als typologisierender Begriff. Literarische Bewegungen, die sich mit Nachdruck diesem Prinzip des Traditionsbruchs zuordnen, wären als unterschiedlich zu beschreibende Bewegungen eines >Modernismus< zu erfassen.34 Die sogenannte historische Avantgarde im Ausgang des 19. Jahrhunderts ist nur eine Realisierung wiederkehrender >ModernismusModernismus< angesehen werden wie die Kunst- und Literaturrevolutionen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Solche Bewegungen und Phasen des Modernismus wären denen des >Historismus< entgegenzustellen, wenn man Historismus versteht als entschiedene Einschränkung des Innovationspotentials und die Umwendung der reflexiven Energien von den Projektionen in die Zukunft auf die Rückversicherungen in der Vergangenheit. Wo nicht typische Konstellationen, Bewegungen oder kleinteiligere Phasen beschrieben werden sollen, sondern Prozesse größerer Dauer zu bezeichnen sind, haben sich für >Moderne< als Prozeßbegriff folgende Abgrenzungen eingebürgert: Die Zeit der Moderne beginnt in der Ideen- und Denkgeschichte mit dem frühen 16. Jahrhundert; in der Geschichte von Religion und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft mit den Säkularisierungsvorgängen des 18. Jahrhunderts, in der Geschichte der Literatur aber erst mit den 1880er Jahren, in denen die nachhaltige Erfahrung der gesellschaftlichen Modernisierung so mit den Modernisierungen des >Sozialsystems Literatur< in Beziehung zu setzen ist, daß das Diktum von der >selbstemannten ModerneMakroperiode< der Moderne35 sei mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert anzusetzen;36 sie sei durch die nachhaltige Geltung des Modernitätsprinzips bestimmt, durch die Bevorzugung der Prinzipien der literarischen Innovation, der Originalität, des künstlerischen Experiments, der Selbstreflexivität der Kunst und der verstärkten Konkurrenz der Künstler. Diese Erwartungen und Maßstäbe korrelieren vielfach - so könnte man erweitern - mit Figuren der Mentalitätsgeschichte des Modernisierungsprozesses. Für die deutschsprachige Literatur ergeben sich Modernisierungsschübe um 1800,37 um 1880 und noch einmal um 1910. Diese Beschleunigungsphasen, die im Zeichen des dominierenden Modernitätsprinzips stehen, wären also Bewegungen des Modernismus; die Gegenbewegungen des Traditionalismus und Historismus sind im Laufe des 19. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Intensität ausgebildet, sie verlieren aber selbst in der >Mikroperiode< der Moderne, der sogenannten klassischen Moderne um 1900, nicht an Geltung. Wenn man die Avantgarde-Bewegungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder den Futurismus des beginnenden 20. Jahrhunderts als historisch markante Realisierungen des Modernismus-Prinzips ansieht (sie radikalisieren und organisieren die ästhetischen Konsequenzen der geschichtlichen Erfahrung des Modernisierungsvorgangs),38 dann spräche auch einiges dafür, den Zeitraum von etwa 1880 bis 1930 als »historische Moderne< in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur zu betrachten.39 Die Modernisierung des > Sozialsystems Literatur^ die mit erheblichen Verzögerungen zum gesamtgesellschaftlich relevanten Prozeß im Ausgang des 18. Jahrhunderts einsetzt, ist um 1900 weit gediehen und für die Akteure sichtbar geworden;40 zugleich bilden die Erfahrungen der gesellschaftlichen Modernisierung und ihrer Folgen (u.a. in der Konkurrenz von Welt- und Gesellschaftsmodellen, im Verlust einer Zentralperspektive) eine bestimmende Problemlage der literarischen Sinnverständigung; sie aufzugreifen und zu gestalten, ist als umfassendes Bedürfnis anerkannt - das heißt im > Symbolsystem Literatur< (Gattungen, Stilprinzipien etc.) sind entsprechende Bearbeitungsstrategien und Bearbeitungsformen ausgebil35 36 37 38

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Vgl. Zmegac (1987), S. 250. Vgl. auch Richter u. Schönert (1983), S. VHIff. Vgl. etwa zur >Modernität< der Romantik: Bohrer (1989). Vgl. zur - vielfach im Zeichen der >Postmoderne< - neu belebten Avantgarde-Diskussion u.a. Schmidt-Bergmann (1991), Jäger (1991), Fischer-Lichte (1991). Mit Blick auf die anhaltenden Avantgarde-Entwicklungen in der Kunst der Gegenwart (vgl. etwa Spielmann [1991], S. 7-61) ließe sich für die Zeit um 1900 auch von »historischer Avantgarde< sprechen. Vgl. Sprengel (1991) zur >Institutionalisierung der Modeme< um 1900; Müller-Seidel (1987) zu den Konstellationen nach dem Ersten Weltkrieg. Vgl. dazu Werner (1985) und Köster (1988).

58 det worden; die ästhetischen Konzeptionen, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Modernismus-Bewegungen entwickelt wurden, prägen nun die Vorgaben zur Selbstreflexion im >Sozialsystem Literatur*. Im Blick auf die ausdifferenzierten Nationalliteraturen kommt der »literarischen Moderne< freilich eine entdifferenzierende Tendenz zu; vor allem die Sektoren avancierter, elitebezogener Kunst werden auf das Überschreiten der nationalliterarischen Grenzen angelegt. Am Ende der Phase von 1880 bis 1930 sind im >Sozial-< und im >Symbolsystem Literatur< alle wichtigen Strukturen ausgebildet, die als Resultate des Modernisierungsprozesses zu verstehen sind. Damit sind Variationen und Gegenbewegungen nicht ausgeschlossen; sie ordnen sich der Reflexion vollzogener Modernisierungen zu, die dann vielfach als »Selbstkritik der Moderne< wahrgenommen werden. 41 Zugleich verändert sich die Konstellation der kulturellen Teilsysteme. Die Symbolsysteme des Films und - später der elektronischen audiovisuellen Medien konkurrieren in ihren Leistungen für die Gesamtgesellschaft mit dem Literatursystem; diese >neuen Umwelten< bedingen zugleich Veränderungen im Literatursystem (sowohl im Symbol- wie im Sozialsystem). Es spricht einiges dafür, solche Veränderungen im Zuge der Selbstreflexion der Modernisierung als eine »zweite Modernisierung« 42 zu begreifen. Wurde der Modernisierungprozeß, den das Schwerpunktprogramm anspricht, vor allem von den Veränderungen im Wissen und in der Produktivität des Menschen, von den Wissenschaften und dem Wandel der Arbeit geprägt, so könnte diese zweite Modernisierung von den Veränderungen in der Zugänglichkeit und der Verteilung von Informationen und von dem lebensbestimmenden Gewicht der >FreizeitMakroperspektive< angelegt und Kategorien zur Darstellung von Entwicklungsabläufen bedenken wollen. Dem »Reichtum der Einzelfälle< (der Texte und Textgruppen) droht in dieser Makroperspektive freilich die »Verarmung*. Sie

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Vgl. dazu etwa Scheer( 1992), S. 64. Vgl. dazu die Eröffiiungsreferate von Wolfgang Zapf und Ulrich Beck auf dem 25. Deutschen Soziologentag 1990 in Zapf (1991).

59 ist jedoch Preis und Prämisse einer jeden historiographischen (Re-)Konstruktion. Das sozialwissenschaftliche Konzept der Modernisierung erachte ich dabei anderen Konzepten zur Darstellung gesellschaftsgeschichtlicher Prozesse als überlegen (auch wenn man - so die aktuellen Diskussionen der Soziologen und Sozialhistoriker - >skeptisch< damit umzugehen hat). Für sozialgeschichtlich fundierte literaturgeschichtliche Untersuchungen muß es freilich >gegenstandsspezifisch< erweitert und modifiziert werden. Für diesen Schritt sind Erfahrungen aus >Textanalyse< und >Textinterpretation< wichtig; aber deshalb müssen Lektüren und Auslegungen von Texten nicht von vornherein >modernisierungstheoretisch< ausgerüstet werden.43 Sie sind mit dem Problemkomplex hinreichend zu vermitteln, wenn sie im Sinne einer >Sozialtheorie der Literatur< begründet und organisiert werden. Eine solche >Sozialtheorie der Literatur< wäre - auf dem Stand der Diskussionen der zurückliegenden drei Jahrzehnte - allerdings erst einmal systematisch zu entwickeln und mit den entsprechend angelegten, aber konkurrierenden Konzepten - von materialistischen Literaturtheorien bis hin zu diskursanalytischen Konzepten - zu vermitteln. (2) Wenn ich der gegenwärtigen Tendenz zur kulturwissenschaftlichen Prägung der Geisteswissenschaften folge, dann wäre in die Vermittlung von Gesellschaftsgeschichte und Literaturgeschichte der Vermittlungsbereich der >Kulturgeschichte< einzuschalten. Wir hätten es als Literaturwissenschaftler um einiges leichter, wenn wir uns dadurch auf die Relationen zwischen Literatur- und Kulturgeschichte konzentrieren und den Sozialwissenschaftlern die Ausarbeitung der Relationen zwischen Gesellschaftsgeschichte und Kulturgeschichte überlassen könnten - wie etwa geschehen bei Friedrich Tenbruck in »Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne« (1989).44 Freilich müßten die Vorgehensweisen in den verschiedenen Disziplinen kompatibel und anschlußfahig sein - wie eben unter der Leitperspektive des Prozesses der Modernisierung. Allerdings brächte eine solche >Reduktion< der Sozialperspektive auf die >Kulturperspektive< auch neue Probleme und Begründungspflichten. Nicht nur wäre nach einer >Kulturtheorie der Literatur (nach ihren >kulturstiftenden Leistungen^ zu fragen, sondern auch zu klären, ob >Kultur< beispielsweise mit anthropologischen, gesellschaftlichen oder mediengeschichtlichen Konzeptionen entworfen werden soll. (3) Der - so Michael Böhler - mit >synkretistischer Tendenz< angelegte Theorie-Rahmen des Schwerpunktprogrammes erlaubt es, wegen dieser beweglichen Vermittlung unterschiedlicher, aber kompatibler Konzepte zum Prozeß der Modernisierung, auch unterschiedliche Forschungsinteressen und Projektplanungen einander zuzuordnen. Freilich wäre diese Ausgangskonstellation nicht bis in die einzelnen Projekte hinein zu verlängern; sondern die Projekte sollten bestimmen, welchen Perspektiven und Leitlinien sie folgen: Geht es um das >große Ganze< 43

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Zu Versuchen zur Vermittlung der Prozeßperspektive mit der Interpretationspraxis vgl. Werber (1992). Auch in den jüngsten Unternehmungen zur Geschichtsschreibung für den Zeitraum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hat die kulturgeschichtliche Perspektive erheblich an Bedeutung gewonnen.

60 oder um den Blick auf Konstellationen exemplarischer Texte, dominiert die Sozialperspektive oder die Kulturperspektive, orientiert man sich an Max Weber oder an Niklas Luhmann - und welche Entscheidungen noch immer zu treffen wären. Eine Explikation der theoretischen Begründungen eines Projektes wäre - so meine ich - nur in der Preisgabe des kooperationsstiftenden Synkretismus des Rahmenkonzeptes zu leisten. 45

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Ich danke Friedrich Vollhardt herzlich für Kritik und hilfreiche Hinweise.

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Schiller (o.J.), S. 285. Ebd. Auch im Darstellungsverfahren sieht Schiller wenig Unterschiede; das »Interesse der Handlung, an künstlicher Verwicklung und Mannigfaltigkeit der Gegenstände« erhebe Pitavals Fallgeschichten »bis zum Roman« - ebd., S. 284f. Ebd., S. 286. Moritz (1979); für die >Kriminalfalle< vgl. das Register in Bd. 10, S. 73; dazu auch Bennholdt-Thomsen u. Guzzoni (1979), S. 36-39. Schiller (1966), S. 566.

65 »Deutsches Museum« erschien, geht von diesem Umstand aus und bezeichnet zugleich die Distanz zwischen Literatur und Rechtspraxis: Es muß jedem Gelehrten erfreulich sein, ein Interesse für seine Wissenschaft in weiten Kreisen, über die Fachgenossen hinaus, zu finden. Diese Freude scheint ganz besonders der Criminalist zu genießen: denn mit der criminalistischen Literatur beschäftigt sich das eingebildete und das halbgebildete Publikum [...] So wenig [...] ein abgerissener und zerlesener Ritterroman einen Eifer seiner vielen Leser für die Geschichte des Mittelalters darthut, ebenso wenig die verbreitete Lecture von Criminalgeschichten ein tieferes Interesse für die ernsten Fragen des Criminalrechts.12 1855 veröffentlichten die »Blätter für literarische Unterhaltung« eine ausführliche Rezension von Adolf Zeising zu Hermann Kurz' Roman »Der Sonnenwirth«. Das 38. Kapitel des Romans wird hier als mißlungen kritisiert, weil sich der Autor darin zu sehr auf die Rechtsproblematik eingelassen habe; dabei sei ihm der richtige Takt in der Vermählung des Historischen mit dem Poetischen abhanden gekommen; denn statt ihn [den Protagonisten], wie die bis dahin reichende Entwicklung, in eine Reihe wirklich anschaulicher, lebendiger Bilder einzurahmen, verliert er sich in eine bloß referierende und reflectierende Darstellung, wie sie am Ende einer wirklich historischen oder biographischen Darstellung, nicht aber zum Beschluß einer die Geschichte wieder belebenden Dichtung am Platze ist. Alle die hier gemachten Mittheilungen und Betrachtungen sind dem Stoff nach von großem Interesse, aber in der Form gänzlich verfehlt.13 Der »referierende und reflectierende« Teil des Romans fände - so der Rezensent nur »in einer vom Roman selbst geschiedenen Einleitung oder einem Anhange« seinen Platz. Offensichtlich waren nach 1850 Rechtspraxis und literarische Darstellung weit voneinander entfernt. In einem begrenzten Bereich werden hier die Auswirkungen des sozialgeschichtlichen Prozesses deutlich, den Niklas Luhmann in seiner Aufsatzsammlung »Ausdifferenzierung des Rechts« in systemtheoretischer Betrachtung als charakteristisch für moderne Gesellschaften bezeichnet. 14 Er kann für die >schöne Literatur< in analoger Weise beschrieben werden, wenn man die Handlungen, die auf literarische Sinnverständigung bezogen sind, als soziales Handeln ansieht und in einem Systemzusammenhang faßt. Die Ausdifferenzierung eines relativ eigenständigen >Sozialsystems Literatur< wäre dann im deutschen Sprachraum für das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts anzusetzen. Dieses Sozialsystem kann als das der bürgerlichen Literatur< bezeichnet werden, wobei die Kennzeichnung als Abbreviatur für eine Reihe von Systemeigenschaften verwendet wird. Eine eingehendere Charakteristik ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. 15 12 13 14

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Osenbrüggen (1856), S. 127f. Zeising (1855), S.470f. Vgl. Luhmann (1981); der historische Prozeß wird vom Autor freilich weitgehend auf der Ebene theoretischer Reflexion dargestellt. Ohne hier auf Perspektiven, Verfahren und Ergebnisse der einzelnen Darstellungen genauer eingehen zu können, sei auf zwei neuere Sammelwerke zur Entstehungsphase des bürgerlichen Literatursystems< verwiesen: auf Bürger (1980) und (1982). In der gegenwärtigen Diskussion wird zunehmend die Ansicht vertreten, daß heute viele wichtige

66 In der systemtheoretischen Sicht versteht sich die Darstellung von literarhistorischen Entwicklungen als komplementäre Perspektive zu Verfahren der Literaturgeschichtsschreibung, die mehr daran orientiert sind, die Individualität von Werken und Personen sowie das Besondere von Ereignissen und Einflüssen zu verstehen. 16 Systemtheoretisch gesehen werden dagegen literarische Texte auf Regelzusammenhänge im >Sozialsystem Literatur< bezogen, die ihrerseits historischen Prozessen und sozialen Differenzierungen unterworfen sind.17 Die Untersuchungsmethode, die aus diesem Ansatz entwickelt und hier nicht im einzelnen vorgestellt werden kann,18 setzt voraus, daß dem > Sozialsystem Literatur< innerhalb des Gesamtsystems Gesellschaftliche Gemeinschaft im historischen Prozeß bestimmte Funktionen zugeschrieben werden können. In unserem Zusammenhang ist also zu fragen, wie in spezifisch literarischer Weise Handlungen im Bereich von Verbrechen und Strafrechtspflege dargestellt und gedeutet werden, wie solche Handlungen der Sinnverständigung zu den Erfahrungen im Alltag und zu den Abläufen der Rechtspraxis stehen und wie diese Konstellationen im Blick auf sozialgeschichtliche Prozesse zu bewerten sind. Dabei soll die Entstehung und Ausdifferenzierung des Genres >Kriminalgeschichte< in der deutschen Literatur dargestellt werden. 19 Ich gehe von der Hypothese aus, daß sich im Zeitraum von etwa 1770 bis etwa 1890 aus einer unspezifischen Praxis literarischer Verständigung über Kriminalität ein differenziertes Spektrum von Erwartungshaltungen herausbildete, das nicht nur

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Vorgaben des Sozialsystems bürgerliche Literatur< nicht mehr erhalten sind, erneuert werden müssen und unter dem Zeichen einer Erfahrung der >Postmoderne< zu diskutieren wären; vgl. dazu im Bereich der Ästhetik-Debatte Oelmüller (1981), hier S. 10: Man könne heute in »philosophischer Weise« kaum noch so über Kunst sprechen, wie es in der von Baumgarten begründeten »philosophischen Disziplin Ästhetik« bis hin zu Adorno und Gadamer geschah. Zur Sicht >von außen< vgl. Luhmann (1981), S. 7f. Das hier skizzierte Verfahren ist zu ergänzen mit Untersuchungen aus der Sicht >von innenSozialgeschichte der deutschen Literatur< nicht eigens ausgewiesen; vgl. auch den ersten Beitrag in diesem Band (S. 5-22). Die Überlegungen und Ergebnisse dieses Beitrags beruhen auf der Theorie-Diskussion in der Forschergruppe der DFG >Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900< am Institut für Deutsche Philologie der Universität München, auf der Arbeit in einem Teilprojekt >Kriminalität als Gegenstand der Erzählprosa zwischen 1849 und 1880< sowie insbesondere auf den Ergebnissen eines interdisziplinären Kolloquiums zu diesem Thema, das am 15./16.1.1981 in München stattgefunden hat - zur Dokumentation vgl. Schönert (1983a). Der wichtigste Forschungsbeitrag zu diesem Thema ist die Darstellung von Hügel (1978); vgl. auch Schönert (1983b) als Parallelveröffentlichung zu dem hier vorgelegten Aufriß. Der von mir verwendete Oberbegriff >Kriminalgeschichte< bezieht sich auf alle erzählenden Darstellungen, die das Thema >Verbrechen und Verbrechensbekämpfung< in den Mittelpunkt stellen. Die Detektiverzählung ist also nur ein Typus im Spektrum des Genres.

67 im Bereich der literarischen Produktion, sondern auch für die Distribution und Rezeption von Kriminalliteratur Bedeutung hatte.20 Am Beispiel dieses Gegenstandsbereichs lassen sich somit sowohl Aspekte im Funktionswandel literarischer Sinnverständigung wie Veränderungen im literarischen Normensystem beschreiben.

Zur Ausdifferenzierung des Rechtssystems In sozialwissenschaftlicher Perspektive stellt sich die Ausdifferenzierung des Rechtssystems als eine Folge der >vollen gedanklichen Trennung von Recht und Moral< dar, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der rechtstheoretischen Diskussion vollzog und auf der Ebene der Dogmatik durchgesetzt werden konnte. Sie führte zur Begründung eines positiven Rechts, das aus »einer breiter angelegten rechtlich-moralischen Normenordnung« herausgelöst wurde.21 Die moralisierende Auseinandersetzung mit dem individuellen Verbrechen wurde weitgehend aus dem Zuständigkeitsbereich der Rechtsprechung ausgeklammert und konnte damit zu einem spezifischen Thema der literarischen Sinnverständigung werden. Autoren wie Meißner oder Schiller wiesen auf die schmale Grenzlinie zwischen Tugend und Laster hin, so daß die juristische Entgegensetzung von Recht und Unrecht vielfach als fragwürdig erschien: Wie sehr würden wir erstaunen, wenn eben das, was uns glänzende Tugend zu seyn dünkte, der erste Schritt zum Laster ward, und wie zweifelhaft würden wir oft seyn, wenn wir entscheiden sollten, ob das, was menschliche Gesetze mit dem Tode bestraften, und bestrafen mußten, vor den Augen des Weltrichters Barbarey oder Edelmuth seyn werde 2 2

Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zeichnete sich dann die Tendenz ab, juristische und literarische Diskussionen über Verbrechen jeweils eigenständigen Handlungszusammenhängen zuzuordnen - mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Bezugspunkten in der Realität und mit differenzierten Zielvorstellungen. Zentrale Begriffe wie Schuld, Strafe oder Gerechtigkeit erhielten im Recht und in der Literatur voneinander abweichende Bedeutungen. Wolfgang Naucke hat aus der Sicht des Rechtshistorikers die Abgrenzung des Rechtssystems im gesellschaftlichen Kontext von Wissen und Entscheidungen über Kriminalität unter dem Aspekt der >Verfachlichung< beschrieben. Das Strafrecht wurde durch Übernahmen aus Wissenschafts-, Gesellschafts- und Staatstheorie in einem komplizierten Zusammenhang wissenschaftlich organisiert; es erschien als »unanschaulich, unzugänglich für denjenigen, der es nicht von innen her als Spezialist betreiben kann.«23 Zugleich

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Ich verfolge hier lediglich erzählende Darstellungen; für die Gattungsbereiche von Lyrik und Drama ergeben sich andere Konstellationen aufgrund der Vorgaben der gattungsspezifischen Traditionen und der Erwartungen der Literaturkritik. Luhmann(1981), S. 138. Meißner (1979), S. 30; vgl. auch in Schillers »Verbrecher aus verlorener Ehre« (1966), S. 565f. Naucke (1983), S. 60.

68 wurde die strafrechtliche Praxis in stabile staatliche Organisationsformen eingebunden. Dies verlangte Spezialisierung und Versachlichung des Handelns.24 Die Rechtstätigkeit, die sich im 18. Jahrhundert noch häufig in >dramatischen< öffentlichen Aktionen - beispielsweise bei Hinrichtungen - vollzog, wurde zunehmend >entdramatisiertabgekoppelten< Rechtspraxis auch apologetische, abschirmende oder ablenkende Aufgaben. Infolge der Verfachlichung des Rechtswesens konnten Außenstehende nur noch unter Schwierigkeiten die Zuordnung von kriminellen Sachverhalten und Gesetzesbestimmungen nachvollziehen. Vom Juristen wurde im verstärkten Maße eine exakte Klassifizierung des Tatbestandes erwartet, bei der aus der Biographie des Täters nur diejenigen Momente herangezogen werden sollten, die im unmittelbaren Zusammenhang mit der Tat standen.28 Angesichts einer abstrakten Gesetzgebungstechnik und einer komplizierten Fachpraxis im Strafrecht beschränkten sich literarische Darstellungen daher weithin auf elementare Straftaten wie Mord und Raub - auf Sachverhalte also, die effektvoll erzählt und von den Lesern leicht auf bekannte Tatbestände des Strafrechts bezogen werden konnten. Dieser knappe Überblick über die Auseinanderentwicklung der Sozialsysteme >Recht< und >Literatur< im 19. Jahrhundert kann nur mit Hilfe von Einzeluntersuchungen bestimmter Probleme verdeutlicht werden. Hierfür sind sowohl in der 24 25

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Vgl. ebd. Vgl. Horst Schüler-Springorum im »Fachgespräch« in Schönert (1983a), S. 51-55, hier S. 53. Naucke (1983), S. 61. Ebd. Vgl. ebd., S. 62.

69 Rechtsgeschichte wie in der Literaturgeschichte noch nicht genügend Vorarbeiten geleistet worden.29 Der nachfolgende Aufriß zur Ausdifferenzierung des Genres >Kriminalgeschichte< beschränkt sich auf das Literatursystem und kann die funktionalen Bezüge zur Evolution im Rechtssystem nur andeuten.

Die Ausdifferenzierung des Genres >Kriminalgeschichte< 1. Phase: 1770-1830 Für das Ende des 18. Jahrhunderts können drei Grundtypen von Kriminalgeschichten bestimmt werden: solche mit (a) sensationell-unterhaltenden, (b) erbaulichmoralisierenden und (c) räsonierend-informativen Funktionen. Die sensationelle und die erbauliche Darstellung übernahmen Verfahren, die bereits in der >vorbürgerlichen< Literatur geläufig waren, nun jedoch von der literarischen Elite geringgeschätzt und dem >gemeinen< Literaturinteresse zugewiesen wurden.30 Gesetzesbestimmungen und Strafrechtspraxis wurden hier noch nicht in Frage gestellt.31 Erbauliche Erzählungen verbanden den Bericht über kriminelle Karrieren mit der Warnung vor den Verlockungen des Lasters und der Gefahr des Bösen. Im subkulturellen Bereich waren sie einbezogen in die homiletische Praxis, in die Volkskalender und in das Gewerbe der Bänkelsänger und Urgichtweiber.32 Dabei sollten die Affekte von Spannung, Lust am Außergewöhnlichen sowie Angst erregt und die sensationellen Aspekte des Verbrechens verfolgt werden. Diese Darstellungsverfahren prägten den neuen Genretyp des Räuber- und Schauerromans, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit literarischem Ehrgeiz entwickelt wurde und in den 1840er Jahren durch den sozialkritischen >Geheimnisroman< von Eugene Sue neue Impulse erhielt.33 Die Autoren der Räuberromane griffen vielfach auf historische Personen und Ereignisse zurück (so beispielsweise Christian A. Vulpius im berühmten »Rinaldo Rinaldini« auf die Figur Angelo Ducas); sie verwendeten jedoch so viele Versatzstücke des romanhaften ErzählensHintertreppen-KolportageLesefutter< abgewertet wurden. Die Literaturkritik distanzierte sich von den Erzählverfahren der »fast immer fabelhaften Geschichten des Lips Tullian, Cartouche usw.«.34 In die Abwertung der abgeschmackten Romane< dieser >Vielschreiber< flöß aber auch die Besorgnis ein, daß sich bei den Lesern angesichts der glorifizierten Darstellung von >Selbsthilfe< die Begriffe von Recht und Unrecht verwirren könnten - selbst wenn die >Helden< der Räuberromane regelmäßig ihre verdiente Strafe fanden. Solche Befürchtungen wurden jedenfalls ausgesprochen,35 als die Romane um 1850 auch bei den unkritischen Lesern die Anziehungskraft verloren, die sie bei dem anspruchsvolleren Publikum bereits um 1815 eingebüßt hatten.36 Im Abstand zu den Räuberromanen, die im Urteil der Zeitgenossen als Paradigma der minderwertigen Leihbibliothekslektüre galten,37 begründete sich der Anspruch der >authentischen< Kriminalgeschichten, für die Meißners »Skizzen« die Vorbilder bereitstellten. Seine Kriminalgeschichten entsprachen den Erwartungen einer allgemein interessierten Leserschaft und fixierten sie so stark, daß in der »Pitaval«-Ausgabe von Friedrich I. Niethammer (1792-1795, nach der Übersetzung von Carl W. Franz) - in Rücksicht »auf das größere Publikum« - die juristischen Erörterungen zu den Kriminalfällen erheblich beschnitten wurden.38 Die justizkritischen Ansätze in diesem Genretyp, die Kritik an Verhörmethoden, an der Folter- und Todesstrafe, sind bereits durch den »Pitaval« vorgegeben, sie wurden jedoch von Meißner und noch mehr von Schiller in den Bereich der moralischen und milieubezogenen Diskussion über die Entstehung des Verbrechens verschoben. Damit entwickelte sich in der spezifisch literarischen Sinnverständigung eine Distanz zur Rechtspraxis, die auch zur Justizkritik genutzt werden konnte. Die Frage der moralischen Schuld erschien um 1800 als übergeordneter Aspekt. Dabei wurden die Zuständigkeit der Justiz und die Rechtmäßigkeit des strafrechtlichen Urteils prinzipiell nicht angezweifelt. Die literarische Darstellung sollte das Verbrechen nicht etwa rechtfertigen, sondern es in umfassender Perspektive und letzter Instanz der ethischen Beurteilungskompetenz jedes einzelen Lesers überantworten. Dennoch war im Bewußtsein der Autoren die >Abkoppelung< der literarischen von den juristischen Handlungszusammenhängen kein Thema. Die fehlende Vermittlung von formalem Recht und Moral, die moderne Gesellschaften kennzeichnet und Aspekte der >inneren Biographie< dem Bereich der Moral zuordnet,39 wurde nicht zum Problem. Das Beispiel der »Merkwürdigen Kriminalrechtsfalle« (1808-1811) des Juristen Paul J. A. Feuerbach belegt diese Behauptung. Seine Sammlung von Fallgeschichten, die im wesentlichen aus Vorträgen des Autors in Gnadensachen erwachsen sind, verweist auf >institutionelle Rückstände< im Prozeß 34 35 36

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Meißner (1979), S. 28. Vgl. Schaubach (1863), S. 21. Dazu Jäger (1982) mit neuen Auswertungen der Leihbibliothekskataloge; grundlegend für die historische Kritik ist Appell (1968). Vgl. Jäger u. Schönert (1980), S. 20-32. Schiller (o.J.), S. 286. Vgl. dazu Lüderssen (1981), S. 39f. u. 45.

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der Verfachlichung und Professionalisierung. Gnadengesuche wurden dem regierenden Fürsten oder Monarchen als einem juristischen Laien vorgelegt, so daß im Vortrag einer Strafsache auch moralische und allgemein-menschliche Probleme zu berücksichtigen waren. Feuerbach stellt die publizierten Fälle sowohl mit der Kompetenz des professionellen Juristen als auch mit dem Engagement des psychologisch interessierten und vielseitig gebildeten >Menschenforschers< dar. Er argumentiert in der Doppelperspektive von Tatschuld und Charakterschuld40 und vermittelt so einem Publikum der »eleganten Lesewelt«41 den Eindruck von einer Rechtspraxis, die de facto nur noch bei Entscheidungen auf Tod und Leben galt. Seine Verbindung von >Rechts- und Menschenkunde< begründete in der deutschen Literatur die Tradition der Fallgeschichte, die über die Sammlung des »Neuen Pitaval« und die Neuansätze in der Gerichtsreportage bis in die Sachbuchliteratur unserer Tage reicht.42 Sie interpretiert juristische Wirklichkeit für eine breite Leserschaft in einer spezifischen Perspektive, die es ermöglicht, Alltagswissen an Rechtsvorgänge anzuschließen. 2. Phase: 1830-1890 Die zweite Auflage von Feuerbachs erfolgreicher Sammlung, die 1828/29 mit dem präzisierenden Titel »Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen« erschien, bezeichnete einen Wendepunkt in der Entwicklung des Genres. Sie wurde in der Folgezeit bestimmt von der Konkurrenz zwischen >aktenmäßiger Behandlung< authentischer Fälle - mit Orientierungen an der realen Rechtspraxis und am aktuellen Erfahrungsstand der Rechtswissenschaft - und >Kriminalnovellen< im Sinne von freier literarischer Bearbeitung konkreter Fälle oder Fiktionen von Kriminalfällen und ihrer Strafverfolgung.43 Die Kriminalnovellen vernachlässigten die Wirklichkeit des Rechtswesens und bezogen dafür die moralische Diskussion des Verbrechens sowie psychische und soziale Umstände ein. Daß sich anspruchsvolle Kriminalgeschichten mit den Attributen >authentisch< und >aktenmäßig< tarnten, war ein Zeichen dafür, daß die romanhaft-sensationelle Darstellung und die erbaulichen Exempelgeschichten von der Literaturkritik nicht geschätzt wurden.

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Vgl. Schräge (1981), S. 385. v. Scholz (1912), S. VII. Daß die Fallgeschichten Feuerbachs in der Rezeption des 19. Jahrhunderts zumeist als >schöne Literatur< angesehen werden, verweist auf die fachlich >überholte< Perspektive des Autors. Vgl. u.a. die Gerichtsreportagen von Paul Schlesinger (Sling) aus den 1920er Jahren; Gerhard H. Mostar u. Robert A. Stemmle (Hg.): Der neue Pitaval, 6 Bde. München 1963f.; Jürgen Thorwald: Das Jahrhundert der Detektive. Weg und Abenteuer der Kriminalistik. 3 Bde. München 1968. Vgl. für den Zeitraum 1820-1830 beispielsweise von Laurids Kruse »Der krystallne Dolch« (1823), von Adolph Müllner »Der Kaliber« (1828); dazu Hügel (1978), S. 10329. Der Begriff >Kriminalnovelle< hat im Gebrauch der Zeitgenossen keine ausschließliche Geltung für fiktive Kriminalgeschichten; er konkurriert mit >Kriminalerzählung< und >Kriminalgeschichtekriminellen KarriereAlten Pitaval< und die Bestrebungen von Meißner, Schiller und Feuerbach wurden im »Neuen Pitaval« juristische Fragen mit Aspekten der Menschenkunde, Psychologie und Sittengeschichte verbunden und moralische Probleme in die Diskussion einbezogen.48 Die Fallgeschichten galten trotz der juristischen Kompetenz ihrer Autoren und des genauen Bezugs auf authentisches Material in der Perspektive des Rechtssystems weithin als >Literaturaktenmäßigen Darstellungen ihre Vorstellungen über die Tätigkeit der Justizorgane, die juristische Behandlung von Kriminalität und die typischen Aspekte krimineller Karrieren; diese Erfahrungen gingen in das Alltagswissen ein und wichen erheblich von den Ansprüchen professioneller Rechtspraxis ab. Die Erwartungshaltungen zu Kriminalität und Rechtspflege bestimmten bei einem breiten Publikum vor allem die Prozeßberichte der neuen Gerichtszeitungen (zum Beispiel der »Berliner Gerichts-Zeitung«, 1853 begründet). Sie wurden häufig ergänzt durch einen Feuilleton-Teil mit Kriminalnovellen in Fortsetzungen, die ein literarisch begründetes und moralisch akzentuiertes Bild vom Verbrechen entwarfen, das mit der zeitgenössischen Wirklichkeit kaum Gemeinsamkeiten hatte.50 Die Einfuhrung der Kriminalstatistiken (so 1833 in Preußen) hatte das Bewußtsein der Öffentlichkeit gegenüber dem Problem der Kriminalität zwar geschärft, in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen >Verbrechen< zeichnete sich jedoch eine besondere >Realität< ab. Sie war eingeschränkt auf elementare Vergehen am Leben und Eigentum sowie festgelegt auf die Einschätzung des Verbrechens als Folge >kranker Moralität< des Individuums oder der >Macht des Bösenauthentische< ausgaben, diente dieses Etikett vorwiegend dazu, die Aufnahme des >häßlichen< und >unpoetischen< Gegenstandes der Kriminalität zu rechtfertigen. Durch solche Versicherungen des Faktischen wurde die prinzipielle Differenz zwischen Rechtswirklichkeit und literarischem Entwurf verdeckt, so dass die > schöne Literatur< als Quelle zur Erweiterung des Alltagswissens über Kriminalität ausgewiesen werden konnte. Zugleich waren die literarischen Darstellungen von Erwartungen an konkrete Detailinformation entlastet durch die publizistischen Berichte und allgemeinbildenden Abhandlungen, die vielfach in ihrem medialen Umkreis vermittelt wurden. Damit konnte die literarische Sinnverständigung über Kriminalität der >autonomen< Kontrolle durch spezifische Normen des Systems unterstellt werden, so daß die Distanz zur Rechtspraxis festgeschrieben war. In der literaturkritischen Diskussion über den »unpoetischen, [...] grenzenlos prosaischen und philiströsen [...] Criminalroman« stand nach 1850 die Frage im Mittelpunkt, wie das Verbrechen überhaupt noch ästhetisch akzeptabel darzustellen sei.54 Eine Lösung dieses Problems ergab sich vorzugsweise in Fällen, in denen das kriminelle Geschehen moralisch eingeordnet war und die entwickelten sittlichen sowie sozialen Konflikte zugunsten der Sühne aller Vergehen in der »poetischen Gerechtigkeit aufgehoben werden konnten. So weist Adolf Zeising in der Rezension des »Sonnenwirth« den Autor darauf hin, daß sich bei einer möglichen zweiten Auflage die Gelegenheit biete, noch einem anderen von ihm nicht ganz befriedigten ästhetischen Bedürfnis Rechnung zu tragen, dem nämlich, daß das Walten einer rächenden Gerechtigkeit auch an denjenigen Elementen des Romans zur Anschauung gebracht werden möge, welche zur tragischen Entwicklung des Helden vorzugsweise die Veranlassung gegeben haben.55

Im Sinne der normativen ästhetischen Erwartungen wurden vielfach Verbrecherfiguren entworfen, die der moralischen Bewertung ihres Vergehens fähig waren. Zu 52

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Vgl. etwa die Sammlung von Temmes »Criminal-Novellen«, die in 10 Bänden von G. Behrend, dem Verleger der »Berliner Gerichts-Zeitung«, 1861 herausgegeben wurde. Diese Konstellation hat sich bis heute nicht wesentlich verändert; sie wurde durch die Wirksamkeit der Massenmedien noch verfestigt. Zur heutigen Situation vgl. Schneider (1980) sowie die Beiträge in: Kriminologisches Journal 3 (1978). Rutenberg (1874), S. 304; vgl. auch Anonym (1863), S. 396: Das Verbrecherische sei in der Regel »zu niedrig und gemein für eine poetische Verklärung«. Zeising (1855), S. 471.

75 ihnen gehörte das Gegenbild eines tüchtigen Untersuchungsrichters oder Polizisten, der freilich in der Detektionsarbeit nicht immer fehlerfrei und erfolgreich handelt. Der beamtete oder per Dienstvertrag verpflichtete Detektiv engagiert sich zumeist persönlich für die Sache der Gerechtigkeit und setzt dafür seine ganze Arbeitskraft ein. Diese Konstruktion entspricht in ihren Details zwar nicht der zeitgenössischen Realität des Rechtssystems, doch vermochte sie bei den Lesern den Eindruck zu erwecken, daß die staatlichen Organe der Rechtspflege für Rechtssicherheit garantieren. Dabei ergänzt das poetische Leitbild von sittlicher Selbstverantwortung als Kontrollinstanz menschlichen Handelns die literarisch vermittelte Erfahrung von der Effizienz der Rechtsbehörden und ihrer Vertreter.

Institutionalisierte Verfahren der Konfliktkonstruktion und Konfliktlösung in Kriminalerzählungen der Zeit von 1830 bis 1890 Am Beispiel von Texten, die - vernachlässigt man einzelne Einschränkungen - in der zeitgenössischen Literaturkritik geschätzt wurden und damit weithin den geltenden literarischen Normen entsprachen, kann die Konstruktion literarischer Sinnfiguren zum Rechtsproblem >Kriminalität< näher beschrieben werden. Ich wähle dafür solche Texte aus, in denen das Problem des Zusammenhangs von Schuld und Strafe im Mittelpunkt steht, und beziehe dies in der Diskussion der literarischen Darstellung auf die rechtspraktische Frage nach Ermittlung und Überführung des Täters. Dabei stütze ich mich auf »Die Judenbuche« (1842) von Annette v. DrosteHülshoff, Berthold Auerbachs »Diethelm von Buchenberg« (1854), 56 Carl v. Holteis »Mord in Riga« (1855),57 Otto Ludwigs »Zwischen Himmel und Erde« (1856), 58 Jodokus D. H. Temmes »Im Amtshause zu Sinningen« (1876) 59 und Theodor Fontanes »Unterm Birnbaum« (1885). Ich betrachte die Texte als einen zusammenhängenden Komplex im Hinblick auf funktionale Bezüge zwischen der literarischen Erzählung eines Kriminalfalls und der Rechtswirklichkeit. 60 Sieht man von Ludwigs Erzählung ab, die in dieser Reihe eine Sonderstellung einnimmt, handelt es sich in allen Geschichten um >MordtatenSchuld und Sühne< bzw. >Bußemodernes< Muster: Die Verfuhrbarkeit zum verbrecherischen Tun ist durch die wirtschaftliche und soziale Situation der Zeit begünstigt. Diethelm und Abel Hradscheck träumen vom Reichtum, der ohne entsprechende Arbeit spielend und spekulierend erworben werden kann; die Brüder Wilford (in Temmes Erzählung) betreiben betrügerische Spekulationsgeschäfte, und Holtei läßt Simon, dessen Mutter und ihren Freund Stefan vor allem vom Schmuggel profitieren. In allen Texten ist also der erbaulichen Funktion die kontextbezogene sozial- und moralreflexive Darstellung zugeordnet worden. Doch gelten die Probleme, die aus den ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit als Gefährdung für die Moralität des Einzelnen erwachsen, nicht als letzte Bezugsinstanz der literarischen Argumentation und der aus ihr resultierenden »poetischen Gerechtigkeit^ Entscheidend ist die individuelle Moralität, die in charakterologischer Analyse herausgestellt wird. Gesellschaftliche Konflikte und mißliche ökonomische Entwicklungen können durch moralisches Verhalten des Individuums bewältigt werden. Die Tatschuld ist Charakterschuld - das Resultat eines individual-pathologischen Vorgangs, der bis hin zur moralischen Verkommenheit führt. In der Frage, wie die Sanktion von Verbrechen durch Strafe zu begründen sei, setzt sich in der Literatur das Postulat einer selbstverantwortlichen Sittlichkeit durch.64 Das Selbstgericht ist daher ein zentrales Motiv in den literarischen Darstellungen von Kriminalität in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.65 Die tradi-

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Vgl. Temme (1981), S. 150. Vgl. v. Holtei (1979), S. 106: Aus Stefans Zügen spreche »eine ganze Hölle von Frechheit, Kraft, Grausamkeit und Haß«. Theodor Fontane an Georg Friedlaender (16.11.1885). In: Ders.: Briefe an Georg Friedlaender. Hrsg. von Kurt Schreinert. Heidelberg 1954, S. 25. Vgl. Ludwig (1977), S. 531: »Nicht der Himmel bringt das Glück; der Mensch bereitet sich sein Glück und spannt seinen Himmel selber in der eigenen Brust.« Vgl. zum Selbstgericht ebd., S. 508. Zu fragen wäre, ob diese >Verinnerlichung< der Rechtspraxis eine >Sonderentwicklung< in der deutschsprachigen Kriminalliteratur um

77 tionelle literarische Sinnfigur von Schuld und Sühne wird dabei als rational zu kontrollierende Gewissensverhandlung angelegt, die an Stelle der Motive von einer heidnisch-rächenden Nemesis, vom Gottesgericht oder vom geheimnisvollen Tod des Täters am Ort der Untat tritt. Bezüge zur Rationalität des Rechtssystems - zum Beispiel in den >planmäßigen< Arbeitsleistungen von Justiz und Polizei, in der technischen und organisatorischen Kompetenz dieser Institutionen - sind zwar in den Details der literarischen Darstellung aufgenommen, treten jedoch im Ganzen zugunsten des moralisch-charakterologischen Interesses am Verhalten des Täters zurück. Bei der versicherungsbetrügerischen Brandlegung seines eigenen Hofes tötet Diethelm von Buchenberg seinen Knecht Medardus. Doch weder die Brandstiftung noch der Mord können ihm nachgewiesen werden. Obwohl Diethelm in allen Ehren rehabilitiert ist, plagen ihn Gewissensängste und Wahnvorstellungen. Sie nehmen sichtbare Gestalt an, als ihm bei einer Gerichtsverhandlung über Brandstiftung, an der Diethelm als Geschworener teilnimmt, der Getötete vor Augen tritt. Es ist der Bruder Munde, der Medardus' Kleider trägt und so die Vergeltung an Diethelm auslöst, die ihm sein Vater aufgetragen hatte. Diethelm bricht zusammen, bekennt seine Tat, wird gefangengenommen und tötet sich in der Haft selbst. Das archaische Rechtsmittel der Privatrache und ein modernes Rechtsproblem (ein Krimineller kann nicht als Laienrichter Recht sprechen) verbinden sich im bestimmenden Motiv von der Kraft des Gewissens, die im Gerichtssaal Diethelm zur Selbstentlarvung fuhrt - ein Vorgang, der durchaus nicht als »göttliche Fügung< dargestellt wird, aber auch nicht mit den rechtspraktischen Erfahrungen und rechtstheoretischen Vorstellungen der Zeit verbunden werden kann. Doch kommen >poetische Gerechtigkeit und »juristische Gerechtigkeit nicht in Konflikt. Daß Diethelm sich selbst das Todesurteil gibt und es mit eigener Hand vollzieht, unterstreicht in der literarischen Sinngebung die Wiederherstellung seiner Moralität und der Ordnung menschlichen Zusammenlebens. Mit seinem Verbrechen hat Diethelm die Gemeinschaft gestört, in seinem Tod versöhnt er sich mit ihr. Wo in den hier ausgewählten Texten Vertreter der Rechtsbehörden ermittelnd tätig werden, geraten sie bei der Aufklärung des Verbrechens in Schwierigkeiten. Ob Patrimonialgerichtsbarkeit oder amtsgerichtliche Untersuchung: Es gibt Fehlschläge, Irrtümer und Mißgriffe. Dennoch bleibt keines der Verbrechen ungesühnt. Die Aktionen der Justiz werden durch Selbstanzeige, spontane Geständnisse, Maßnahmen der primären Verbrechenskontrolle im Kreise der Familie oder durch Selbstgericht korrigiert und vervollständigt. Diese Konstellation ist durchaus nicht als Kritik an der aktuellen Rechtspraxis zu werten. Die erzählten Ereignisse sind in der Regel einige Jahrzehnte vor dem Erscheinungsjahr der Texte angesiedelt; entscheidend ist jedoch, daß in der literarischen Sinnfigur auf die Priorität verwiesen wird, die der moralischen Selbstverantwortung des Individuums vor der gesell-

1850 kennzeichnet; vgl. dazu die Darstellungen von gleichzeitigen Entwicklungen in der englischen und französischen Literatur von Broich (1983) und Schulze-Witzenrath (1983).

78 schaftlich organisierten Rechtssicherheit zukommt. Die institutionalisierte Rechtspflege tritt dort ein, wo die Moralität des Einzelnen >erkrankt< ist, und beseitigt im Interesse aller den Herd der Krankheit. Auch wenn die Operation nicht immer gelingt oder durch die >Selbstheilung< des Betroffenen unnötig wird, ist der Anspruch der gesellschaftlichen Institutionen gerechtfertigt. Darüber hinaus sind mögliche >Funktionsstörungen< im Rechtssystem immer noch durch ein höheres Prinzip gedeckt, das in der literarischen Sinngebung sichtbar gemacht wird. >Poetische Gerechtigkeit reicht in ihrer Zuständigkeit über die Rechtspraxis hinaus: In der literarischen Konstruktion können die Vorgeschichte der Tat und die >innere Biographie< des Täters gewürdigt werden, ist restlose Aufklärung über Motivation und Tat möglich. Die literarische Behandlung ergänzt die rechtspraktischen Aktionen, sie stellt sie nicht in Frage. So entsteht in den fiktiven Kriminalerzählungen im Rahmen des >Poetischen Realismus< das Bild einer stabilen Gesellschaft, die nur in sozialen Randbezirken mit Kriminalität konfrontiert wird, diese Gefahr jedoch durch den entschiedenen Appell an die Moralität des Einzelnen sowie durch die engagierte Arbeit von Polizei und Gerichten bewältigen kann.

Z u r E n t w i c k l u n g n a c h 1890 Um 1880/90 wurde SinnVerständigung über Kriminalität durch ein breites Spektrum literarischer und paraliterarischer Kommunikationstypen in einem differenzierten Katalog medialer Möglichkeiten an ein vielfach gegliedertes und unterschiedlich interessiertes Lesepublikum vermittelt. Im Blick auf das Literatursystem mit seinen Teilsystemen erscheint die hier beschriebene Ausdifferenzierung des Genres als Vorgang, der sich durch die Abgrenzung >gebildeter< Literaturinteressen beschleunigt, in Komplementarität und Konkurrenz zu journalistischen, populär- und fachwissenschaftlichen Informationen abläuft und in unterschiedlichen Korrelationen auf Abkoppelung und Evolution des Rechtssystems reagiert. Der Dynamik des beschriebenen Prozesses stehen relativ stabile Erwartungen der Leser mit unspezifischen Lektürebedürfnissen gegenüber. Hier beherrschen die sensationellen und erbaulichen Darstellungen das Bild. Sie nehmen aktuelle juristische und soziale Probleme nur vereinzelt auf, so daß auch die Erzählverfahren kaum verändert wurden. In der Zuordnung der Genretypen an Autorenrollen, Distributionswege und Publikumserwartungen lassen sich Konturen einer Dreigliederung erkennen, die sich weitgehend bis in die Gegenwart erhalten hat. Neben der Serienliteratur, die von der Literaturkritik vernachlässigt wurde, war das Angebot im wesentlichen bestimmt durch (a) unterhaltende oder nur allgemein informierende Kriminalnovellen - ergänzt von der Gerichtsberichterstattung der Zeitungen und Zeitschriften. In dieser Konstellation erhielten die Detektiverzählungen nach 1890 eine Vorrangstellung gegenüber den Polizei- und Prozeßgeschichten, die von der Jagd nach einem bekannten Täter oder seiner Überführung erzählen. Anspruch und Wirksamkeit der institutionalisierten Strafrechtspflege werden hier gleichsam stillschweigend vorausgesetzt: Ermitteln und Ergreifen des

79 Täters erscheinen als wesentliches Ziel der Erzählung; ein gerechtes Verfahren und eine angemessene Strafe verstehen sich von selbst. Den zweiten Schwerpunkt bildeten - an der Grenze zur Sachliteratur - (b) die Fallgeschichten, die in der Regel gleichfalls von der Aufklärung der Tat und der Bestrafung des Täters ausgehen. Auch diesem Bereich, der durch die Funktionen >Unterhaltung< und >Information< gekennzeichnet ist, schenkte die Literaturkritik kein großes Interesse, doch bestimmten Serien- und Unterhaltungsliteratur quantitativ das Angebot der Kriminalerzählungen. Sie entwarfen eine eigenständige literarische Wirklichkeit* von Kriminalität und Strafrechtspflege.66 Dabei blieb - sozialpsychologisch gesehen >Kriminalität als Bedrohung im Gespräch; dieser Angsterfahrung wurde jedoch mit der literarischen Konstruktion einer erfolgreichen Verbrechensbekämpfung begegnet. Dem gegenüber stand (c) ein zahlenmäßig geringer Anteil der Kriminalerzählungen, die im wesentlichen die Vorgaben der kontextbezogenen Darstellungen einer kriminellen Karriere aufnehmen und die literarische Perspektive kritisch auf Erfahrungen mit der realen Rechtspraxis beziehen. Die Diskrepanz zwischen moralischer und formalrechtlicher Beurteilung wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr in der freien literarischen Konstruktion überspielt, sondern thematisiert. Die unterschiedliche Perspektivierung des Verbrechens in literarischer und juristischer Sicht galt als Problem;67 die Vorgehensweise von Polizei und Justiz war Ziel des zeitkritischen Engagements der Autoren.68 Der Status der autonomen Begründungs- und Entscheidungspraxis im modernen Rechtswesen erscheint dabei als konkrete Erfahrung und fordert den literarisch formulierten Einspruch heraus. Die faszinierende Reihe »Die Außenseiter der Gesellschaft« (1924 begonnen) bietet für diese neue Tendenz wichtige Beispiele. Um 1890 öffnete sich die Diskussion im Rechtssystem durch die fachliche Institutionalisierung von Kriminologie und Gerichtspsychiatrie auch Erfahrungsbereichen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts als, >vor-juristische< Probleme beispielsweise an die Literatur abgegeben worden waren. In einer ersten Orientierungsphase der Gegenstandskonstitution und Selbstreflexion der neuen Disziplinen wurden literarische Darstellungen zum Material begrenzter wissenschaftlicher Erkenntnis und zum Bezug kriminalpolitischer Argumentation.69

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69

Vgl. Linder u. Schönert (1983). Vgl. den »Epilog« in Alfred Döblins Erzählung »Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord« (1924), die auf einen authentischen Kriminalfall zurückgeht. Vgl. auch Ansätze zum >Eingriffsrecht< der Literatur in den kritischen Überlegungen zur Verbesserung des Kriminalromans bei Rutenberg (1874), S. 311. Das justiz- und rechtskritische Potential der Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wird besonders deutlich bei K. Kraus, H. Mann, A. Döblin, F. Kafka, J. Wassermann, Th. Lessing oder K. Tucholsky. Der Erfolg von E. Zola in der Affäre Dreyfiiss (1898) hatte für die neue Tendenz ein Signal gesetzt. Vgl. beispielsweise Kurella (1983); Näcke (1903); Stern (1906). Vgl. für das - anders gerichtete - gegenwärtige Interesse von Juristen an erzählenden Darstellungen zum Verbrechen: Lüderssen u. Seibert (1978) sowie Lüderssen (1981), Kap. IV (S. 419^180).

80

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81 Bennholdt-Thomsen, Anke u. Guzzoni, Alfredo: Der »Asoziale« in der Literatur um 1800. Königstein/Ts. 1979. Blasius, Dirk: Kriminalität und Alltag. Göttingen 1978. Broich, Ulrich: Von Inspektor Field zu Sherlock Holmes. Die englische Detektivliteratur nach 1850 und die historische Realität. In: Jörg Schönert (Hrsg.): Literatur und Kriminalität. Tübingen 1983, S. 135-154. Bürger, Christa (Hrsg.): Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Frankfurt/M. 1980. - (Hrsg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt/M. 1982. Dörner, Klaus: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt/M. 1975. Egloff, Gerd: Detektivroman und englisches Bürgertum. Konstruktionsschema und Gesellschaftsbild bei Agatha Christie. Düsseldorf 1974. Foltin, Hans-Friedrich: Nachwort zu: August G. Meißner: Kriminal-Geschichten. 10 Teile in einem Band. [Wien 1796], Neudr. Hildesheim 1977, S. 533-566. Freund, Winfried: Die deutsche Kriminalnovelle von Schiller bis Hauptmann. Paderborn 1975. Fuhrmann, Manfred u.a. (Hrsg.): Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. München 1981. Grubitzsch, Helga: Materialien zur Kritik des Feuilleton-Romans. »Die Geheimnisse von Paris« von Eugene Sue. Wiesbaden 1977. Hügel, Hans-Otto: Untersuchungsrichter, Diebsfanger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1978. Jäger, Georg: Die Bestände deutscher Leihbibliotheken zwischen 1815 und 1860. In: Reinhard Wittmann u. Bertold Hack (Hrsg.): Festschrift für Herbert G. Göpfert. Wiesbaden 1982, S. 247-313. Jäger, Georg u. Schönert, Jörg: Die Leihbibliothek als literarische Institution im 18. und 19. Jahrhundert - ein Problemaufriß. In: Dies.: Die Leihbibliothek als literarische Institution im 18. und 19. Jahrhundert. Hamburg 1980, S. 7-60. Klotz, Volker: Abenteuer-Romane. Sue - Dumas - Ferry - Retcliffe - May - Verne. München 1979. Kurella, Hans: Naturgeschichte des Verbrechers. Stuttgart 1893. Linder, Joachim: Der neue Pitaval. Magisterarbeit München 1982. Linder, Joachim u. Schönert, Jörg: Verständigung über Kriminalität in der deutschen Literatur 1850-1880. Vermittelnde Medien, leitende Normen, exemplarische Fälle. In: Jörg Schönert (Hrsg.): Literatur und Kriminalität. Tübingen 1983, S. 184-238. Lüderssen, Klaus: Recht, Strafrecht u. Sozialmoral. In: Ders.: Kriminalpolitik auf verschlungenen Wegen. Frankfurt/M. 1981, S. 39-79. Lüderssen, Klaus u. Seibert, Thomas-Michael (Hrsg.): Autor und Täter. Frankfurt/M. 1978. Luhmann, Niklas:, Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt/M. 1981 Müller-Seidel, Walter: Theodor Fontane. Stuttgart 1975. Näcke, Paul: Emile Zola. In memoriam. Seine Beziehung zur Kriminalanthropologie und Soziologie. In: Zs. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft 11 (1903), S. 80-99. Naucke, Wolfgang: >Verfachlichung< des Strafrechts im 19. Jahrhundert. In: Jörg Schönert (Hrsg.): Literatur und Kriminalität. Tübingen 1983, S. 55-67. Neue Juristische Wochenschrift 12 (1982) H. 35: Themenheft zu »Literatur und Recht« (anläßlich des 150. Todestages von Goethe). Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart 1980. Oelmüller, Willi: Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Kolloquium Kunst und Philosophie. Bd. 1: Ästhetische Erfahrung. Paderborn 1981, S. 7-12. Petzoldt, Leander: Bänkelsang. Stuttgart 1974. Rohner, Ludwig: Kalendergeschichten und Kalender. Wiesbaden 1978.

82 Schaubach, Friedrich: Zur Charakteristik der heutigen Volksliteratur. Gekrönte Preisschrift. Hamburg 1863. Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Frankfurt/M. 1970. Schneider, Hans-Joachim: Das Geschäft mit dem Verbrechen. Massenmedien und Kriminalität. München 1980. Schönert, Jörg: Ludwig, Otto: Zwischen Himmel u. Erde (1856). In: Horst Denkler (Hrsg.): Romane u. Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Stuttgart 1980, S. 153-172. - (Hrsg.): Literatur und Kriminalität. Die gesellschaftliche Erfahrung von Verbrechen und Strafverfolgung als Gegenstand des Erzählens. Deutschland, England und Frankreich 1850-1880. Tübingen 1983a. - Zur Ausdifferenzierung des Genres >Kriminalgeschichten< in der deutschen Literatur vom Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Ders.: Literatur und Kriminalität. Tübingen 1983b, S. 96-125. v. Scholz, Wilhelm: Einleitung. In: [Paul J.] A. v. Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen. In Auswahl hrsg. von Wilh[elm] von Scholz. Bd. 1. München u. Leipzig [1912], S. VIIXVI. Schräge, Rainer: Nachwort. In: Paul A. Feuerbach: Merkwürdige Verbrechen. Hrsg. von Rainer Schräge. Frankfurt/M. 1981, S. 371-397 Schulze-Witzenrath, Elisabeth: Emile Gaboriau und die Entstehung des roman policier. In: Schönert Jörg (Hrsg.): Literatur und Kriminalität. Tübingen 1983, S. 155-183. Siemann, Wolfram: Polizei in Deutschland im 19. Jahrhundert. Institutionen, Operationsebenen, Wirkungsmöglichkeiten. In: Jörg Schönert (Hrsg.): Literatur und Kriminalität. Tübingen 1983, S. 68-95. Thomas, Lionel: Der neue Pitaval. Allgemeine literarische Bedeutung, mit besonderer Berücksichtigung von Alexis' Dichtung. In: ZfdPh 75 (1956), S. 362-374. Weber, Hans-Dieter: Literaturgeschichte als Sozialgeschichte? In: Der Deutschunterricht 33 (1981), S. 56-78. 3. Weitere Literaturhinweise Linder, Joachim u. Ort, Claus-Michael (Hrsg.): Verbrechen - Justiz - Medien. Konstellationen in Deutschland von 1900 bis zur Gegenwart. Tübingen 1999. Schönert, Jörg: Behaglicher Schauer und domestizierter Schrecken. Zur Schauerliteratur der Biedermeierzeit. In: Alberto Martino (Hrsg.): Literatur in der sozialen Bewegung. Tübingen 1977, S. 28-92. - Die Begleitstimme der »schönen Literatur« zur Strafrechtsentwicklung. In: Dieter Simon (Hrsg.): Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt a.M., 22.-26.9.1986. Frankfurt/M. 1987, S. 211-230. - (Hrsg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1910. Tübingen 1990. - Kriminalgeschichten (1815-1830) im Spektrum von »Aktenmäßiger Darstellung« bis zur »Historisch-Romantischen Manier«. In: Rainer Schöwerling u. Hartmut Steinecke (Hrsg.): Die Fürstliche Bibliothek Corvey. Ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. München 1992, S. 147-162.

Zur Definition und Analyse von Satire am Beispiel von Herbert Heckmanns »Lebenslauf eines Germanisten in aufsteigender Linie« (1969)

Der satirewürdige Zustand der germanistischen Satire-Forschung ist hinreichend bekannt. Ihn zu beklagen, gehört zur Topik der einleitenden Überlegungen und der Forschungsbilanzen von neueren und neuesten Abhandlungen, die sich auf literarische Satire einlassen. So wagt auch Ludger Claßen in seiner Studie zum satirischen Erzählen im 20. Jahrhundert - 1985 erschienen - nur »Annäherungen an die Satire«;1 apodiktisch hält er fest: »Bislang gibt es keine umfassende und systematische Darstellung der Satire«.2 Die Ursachen für diesen viel beklagten Mangel zu erforschen, wäre eine wissenschaftsgeschichtliche und methodenkritische Untersuchung wert. Damit einst irgendwo im Fußnotendickicht einer solchen Publikation auch auf den Stellenwert von kommunikationssoziologischen Verfahren hingewiesen werden kann, wage ich rhapsodische Versuche innerhalb dieses theoretischen Rahmens. Daß dabei ab und an satirischer Aggression gegen den Wissenschaftsbetrieb der Germanistik die Schleusen geöffnet werden, muß uns nicht bekümmern, denn Herbert Heckmanns »Lebenslauf eines Germanisten« stammt aus jenen düsteren Vorzeiten bildungsbürgerlich-autoritärer Universitäten, die man heutzutage schon lange hinter sich gelassen hat. 1969 erschien in unruhigen, auch die Germanistik in Turbulenzen versetzenden Zeitläuften im Münchener Hanser-Verlag ein schmaler, aber heftig diskutierter Band mit dem anspruchsvollen Titel »Ansichten einer künftigen Germanistik«. In die kritischen, programmatischen und therapeutischen Überlegungen war auch ein Text mit der hippelianischen Überschrift »Lebenslauf eines Germanisten in aufsteigender Linie. Mit erklärenden Notizen« eingeschmuggelt worden.3 Er nahm sich sonderbar aus inmitten der Katastrophenberichte zum >Ende der GermanistikWissenschaft von 1 2 3

Claßen (1985), S. 7. Ebd. Vgl. den Roman von Gottlieb Th. v. Hippel »Lebensläufe nach aufsteigender Linie« (1778-1781).

84 der Literatur< zu meistern, mutet wie Ironie ihres germanistischen Schicksals an. Denn solange sich die Literaturwissenschaft vorzugsweise mit >Dichtung< beschäftigte, war satirischen Texten die Existenzform einer literarischen Randgruppe zugewiesen. Wolfgang Kayser hatte im »Sprachlichen Kunstwerk« die Essenz der lange Zeit gültigen Lehrmeinung folgendermaßen formuliert: Satire ist Anwendungsgebiet des Komischen unter dem Aspekt einer »absichtlich feindlichen Tendenz«: Und je mehr die Satire als Sinn-Aussprache gemeint ist - durch gleichsam negierende Darstellung eines Negativen - desto weiter entfernt sie sich aus der Literatur und begibt sich auf jenes Feld, das als didaktische Literatur bezeichnet wird.4

Nun ist die Germanistik der Bundesrepublik durchaus nicht bei den Einsichten und Argumenten Wolfgang Kaysers stehen geblieben. Doch wurde - im Gegensatz etwa zur angelsächsischen Literaturwissenschaft - Satire vielfach nur behandelt, um dagegen andere bevorzugte Darstellungsweisen abzugrenzen. Der einzige umfassendere theoretische Versuch - ein Aufsatz von Georg Lukäcs aus dem Jahre 19325 - blieb nahezu unbeachtet, und das lag nicht nur am politischen Standpunkt des Autors. Mit der Erweiterung des Gegenstandsbereiches der Literaturwissenschaft und dem wachsenden methodischen Interesse der deutschen Germanistik an Entwicklungen außerhalb ihrer nationalen Grenzen geriet jedoch in den 1960er Jahren die Diskussion zugunsten der Satire in Bewegung. Die umfangreiche angelsächsische Forschung wurde rezipiert. In den Abhandlungen von Lazarowicz, Arntzen und Gaier, die von geschichtlichen Konstellationen der Satire ausgehen, wurden Wertungen und Theoriebildungen zur Satire im Erfahrungsbereich der deutschen Literatur überprüft und neue Aspekte hinzugewonnen.6 Der vorzügliche Forschungsbericht von Jürgen Brummack bildete 1971 einen ersten Abschluß dieser Bemühungen, die in der Folgezeit durch historische Forschungen fortgeführt und vertieft7 oder in der Anwendung für den Schulunterricht popularisiert wurden.8 Die erste Phase des Nachholbedarfs im wissenschaftlichen Umgang mit Satire war vor allem von Überlegungen zu den charakteristischen Verfahren und den möglichen Funktionen der Satire gekennzeichnet. Die definitorischen Bemühungen reichen von Arntzens >Satire ist Utopie ex negativo< bis hin zu Brummacks »Satire ist ästhetisch sozialisierte Aggression«.9 Zumeist sind sie jedoch eher aphoristisch pointiert als systematisch begründet. Als wichtigstes theoretisches Ergebnis dieser Phase bleibt festzuhalten, daß der Begriff >Satire< nur dann der Literaturpraxis von 4 5 6 7

8

9

Kayser (1961), S. 381f. »Zur Frage der Satire«, in: Lukäcs (1971), S. 83-107. Vgl. Lazarowicz (1953), Arntzen (1960), Gaier (1967) sowie Schönert (1969). Vgl. im Literaturverzeichnis die Studien von J. N. Schmidt (1977), Brummack (1979), Schönert (1981) sowie die Edition »Satiren der Aufklärung« (Stuttgart 1975), für die Gunter Grimm ein ausfuhrliches Nachwort geschrieben hat. Vgl. beispielsweise das Themenheft »Satire« der Zeitschrift »Praxis Deutsch« vom März 1977. Brummack (1971), S. 333*.

85 der Antike bis heute gerecht werden kann, wenn er - im Gegensatz zur lateinischen Schulpoetik oder zur deutschen Regelpoetik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts nicht an die Genrebereiche von Epigramm, Verssatire und Prosasatire (im Stile der Menippea) gebunden wird, sondern man davon ausgeht, daß sich >das Satirische< als Strukturelement, als Schreibweise oder Erfahrungshaltung in den meisten Gattungen und Genres findet. Vom satirischen Roman, der satirischen Komödie usf. wäre dann zu sprechen, wenn die satirische Absicht durchgängig die Textkonstruktion bestimmt, wenn das Satirische - um eine Metapher der Linguistik zu gebrauchen - als Tiefenstruktur die Oberflächenstruktur prägt.10 Für die im Textumfang begrenzten Vers- und Prosagenres, die ausschließlich vom >Satirischen< getragen werden, ließe sich dagegen der Begriff der >satyra< einsetzen, der aus der lateinischen Poetik stammt.11 Damit ist freilich noch nicht geklärt, welcher Ort dem so bestimmten Satirischem in einem theoretisch begründeten System literarischer Verfahren zuzuweisen ist, für die neuerdings die Kategorien >Schreibweise< und > Schreibart verwendet werden.12 Für eine solche literatursystematische Festlegung des Satirischen kann man auf neuere Ansätze zu einer theoretischen Diskussion der Satire unter strukturalistischer, semiotischer, kommunikationstheoretischer und handlungstheoretischer Perspektive zurückgreifen, insbesondere auf die Arbeiten des Romanisten Klaus W. Hempfer 13 und den perspektivenreichen Band »Poetik und Hermeneutik VII«, der dem Komischen gewidmet ist und 1976 erschien, sowie schließlich auf die >Ortsbestimmung< des »Satirischen Sprechens« in Ulrich Gaiers »System des Handelns« (Kap. V, § 2) von 1986. Ich gebrauche für die weitere Argumentation den Begriff des Satirischen im Sinne eines neueren »kommunikativen Gattungsverständnisses«,14 das heißt im Hinblick auf die jeweils besonderen Wechselwirkungen zwischen der Haltung des Autors, den Verfahren der Textkonstruktion, den soziohistorischen Bedingungen für literarische Sinnverständigung und den Erwartungen der Rezipienten. Die Tradition des Satirischen erscheint damit als Geschichte einer literarisch-sozialen Institution, innerhalb derer - bezogen auf die Bedürfnisse von Autoren, Distribuenten und Rezipienten - bestimmte Verfahren literarischer Verständigung entwickelt, stabilisiert und weitergegeben wurden.15 Ich belasse es bei diesen wenigen (und systematisch unzulänglichen) theoretischen Vorgaben und erläutere mein Beschreibungs- und Analyse-Modell zum >Satirischen< am Beispiel der eingangs angespro-

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11 12 13

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Vgl. Gaier (1986), S. 460f.: Das »satirische Sprechen« kann verschiedene Textsorten generieren. Dazu Hess (1971), S. 17-29. Vgl. Hempfer (1973). Vgl. u.a. die im Literaturverzeichnis aufgeführten Schriften von Hempfer (1972) und (1973), Hantsch (1975) und J. Schmidt (1977), der »Kommunikationsstudien« zur Satire der Reformationszeit vorgelegt hat. Hempfer (1973), S. 223. Vgl. zu dieser >schreibart- und gattungstheoretischem Perspektive die - unterschiedlich akzentuierten - theoretischen Konzepte von Voßkamp (1977) und Warning (1976).

86 chenen Germanisten-Satire von Herbert Heckmann. Dieser Text gliedert sich vom Druckbild her gesehen in zwei Bereiche. Da ist zunächst die normal gesetzte Erzählung des fiktiven germanistischen Lebenslaufes von Peter Wind: »Beruf kommt von Berufung.« sagte der Direktor bei der Abiturfeier, und Peter Wind wußte noch immer nicht, was er werden wollte. Er war 9 Jahre auf die höhere Schule gegangen und hatte in seiner Pubertät gelegentlich Gedichte geschrieben, die von Benn, Trakl, Rilke und sehr vielen andern Dichtern beeinflußt waren. Er fühlte sich zu Höherem berufen, zuweilen auch zu Tieferem. Auch hatte er sich angewöhnt, die Hauptwörter klein zu schreiben. [...] Peter Winds größter Triumph in der Schule war ein mit dem Herzblut der Begeisterung geschriebener Aufsatz über die Architektonik des Traums bei Trakl. Sein Deutschlehrer bescheinigte ihm hierauf, daß er ein tiefes Wissen um die Dichtung habe. Sein Vater riet ihm, etwas Vernünftiges zu werden. Dann war es soweit: Peter Wind entschloß sich, Germanistik zu studieren [...] Als er seinem Vater den Entschluß mitteilte, Germanistik zu studieren, konnte dieser seine Enttäuschung nicht verhehlen. »Du wirst dir schon die Hörner abstoßen.« [...] Die erste Vorlesung, die er hörte, hatte das Alterswerk Goethes zum Thema. Der betreffende Professor jedoch war mit seiner Schillervorlesung des vorhergehenden Semesters nicht ganz zum Abschluß gekommen und holte seine Versäumnisse ausschweifend nach. Peter Wind schrieb eifrig mit. Seine Hand schmerzte ihn nach kurzer Zeit. Bald wußte er nicht mehr, was er schrieb. Er schrieb in der Hoffnung, daß das Geschriebene sich später ihm erschließen würde. Auch nahm er sich vor, Schiller selbst zu lesen, gab jedoch den Vorsatz bald auf, weil er herausfand, daß es besser sei, die Forschung über Schiller zu kennen als Schiller selbst. (S. 72f.) Den Abriß der Lebensgeschichte Peter Winds unterbrechen wiederholt kursiv gesetzte »erklärende Notizen«, die mit polemischem Kommentar den Verlauf seiner akademischen Karriere begleiten und die satirische Absicht des Autors verdeutlichen: Die Germanistik ist die Kunst, den Studenten glauben zu machen, was der Dichter wirklich gemeint hat, selbst dann, wenn er nichts gemeint hat. Sie rückt vor den Text einen Drahtverhau von Meinungen, Ideen und Aspekten, daß niemand mehr zum Text selbst vorstoßen kann. Der Text darf nur in einer kritischen Ausgabe gelesen werden. Der Student verzagt und beginnt mit der Anschaffung von Sekundärliteratur. (S. 73f.) Im Vergleich von Lebenslauf-Erzählung und »erklärenden Notizen« läßt sich der erste systematisierende Befund festmachen: Die satirische Schreibweise literarischer Sinnverständigung entwirft poetische Texte mit fiktiven Aussagesituationen und textinternen Bezugssystemen; die poetische Abweichung von alltagsweltlicher Kommunikation ist signalisiert. Peter Winds Lebenslauf ist anders angelegt als der Lebenslauf eines Bewerbungsschreibens oder einer Laudatio. Die »erklärenden Notizen« sind hingegen als expositorischer Text einzuordnen und durch ihre polemische Tendenz bestimmt. Ungeachtet der Darstellungsmittel der Verzerrung und Übertreibung, die sie mit der Satire teilen, explizieren sie einen vorgegebenen Gegenstand - hier Germanistik - und sind daran zu überprüfen. >Satire< wäre also dem Bereich poetischer Texte, >Polemik< dem Bereich expositorischer Texte zuzuordnen. Die Lebensgeschichte Peter Winds ist auch ohne die sie begleitenden Kommentare zu verstehen und in ihrem satirischen Angriff zu erschließen. Doch unterstützt

87 und begründet der Kursivtext die Aggression und verdeutlicht den Standpunkt des Autors; er erweitert die satirische Information und sichert die beabsichtigte Wirkung. An diese Beobachtungen lassen sich erste verallgemeinernde Feststellungen zum besonderen Verfahren satirischer Sinnverständigung im Spektrum der literarischen Kommunikation anschließen. Sie betreffen den Wirklichkeitsbezug satirischer Texte. Er besteht darin, daß die literarische Darstellung zwar als eine Fiktionswelt mit eigenen Gesetzen erscheint, in den Details jedoch immer wieder der Vergleich mit den Bezugsobjekten der Wirklichkeit nahegelegt wird. Selbst in der verzerrenden Manipulation bleibt das satirische Bild »transparent« für die >abgebildeten< Elemente der Erfahrungswelt. 16 So verschaffen die erklärenden Notizen in unserer Satire auch dem Außenstehenden das nötige Kontextwissen und helfen dazu, Informationen und Aggressionen zu erschließen, die im satirisch konstruierten Lebenslauf vermittelt werden. Satirische Texte sind vielfach mit >präsupponierten< Elementen an ihren kulturellen Entstehungszusammenhang gebunden. So gelingt satirische Kommunikation nur dann, wenn ein Großteil dieser >Präsuppositionen< beim Rezipienten abrufbar ist. Und ein zweiter Aspekt: Die »erklärenden Notizen« stellen den Einzelfall des Germanisten Peter Wind in den Gesamtzusammenhang >Germanistikpars-pro-totoObjektnorm< - werden im Verfahren der literarischen Konstitution in Frage gestellt und mit den impliziten oder expliziten Ansprüchen einer >Gegennorm< konfrontiert. Diese Korrelation von Abweichung in Darstellung und Bewertung charakterisiert die satirische Abweichung als einen Sonderfall des literarisch-entautomatisierenden Verfahrens, wie es beispielsweise die russischen Formalisten als Bedingung ästhetischer Wahrnehmung formuliert haben. Die satirische Sinnverständigung ist also bestimmt durch die literarisch entfaltete Aggression gegenüber dem Anspruch der Objektnorm; sie baut eine >Normenkonkurrenz< auf, sie ist angelegt auf Ablehnung der Objektnorm und auf Erweis der Überlegenheit der Gegennorm. In unserem Beispiel: Germanistik soll sich mit den Texten, nicht mit den Meinungen über Texte auseinandersetzen. Das Studium der Literatur dient zur Erkenntnis geschichtlicher Prozesse, sein Ziel ist nicht die Selbstdarstellung ihrer Interpreten. Bei Heckmann wird in der polemischen Rede des Kursivtextes die fragwürdige Normativität des germanistischen Wissenschaftsbetriebs jener fernen Jahre so herausgestellt, daß im komischen Erscheinungsbild von Winds Universitätserfahrungen die Konturen der eigentlichen Aufgaben der Literaturwissenschaft deutlich werden. Germanistik ist die Fähigkeit, Literatur aus dem Zusammenhang zu reißen, dem sie ihre Einsicht verdankt, nämlich der historischen Aktualität. Sie siedelt sie im geschichtsfernen Raum des Geschwätzes an, wo sie zum irrationalen Puzzlespiel herunterkommt. Der Humor ist ihr sehr fremd; sie taucht alles in die Einheitssauce des Ernstes, die die Studenten auszulöffeln haben. Den Zugang zur Literatur verbaut sie mit Wichtigtuerei und zuweilen gar mit einer gewissen Geheimniskrämerei. Sie erinnert an eine übereifrige Hebamme, die ihre Arbeit für einen Zeugungsakt hält. (S. 78)

Selbst dort, wo die Objektnorm auf den ersten Blick bestätigt wird, ist sie durch den narrativen Kontext in Frage gestellt: Als Peter Wind stolzer Vater von zwei Kindern und weniger stolzer Inhaber eines Magengeschwürs war, habilitierte er sich mit einer Arbeit über das Prophetische bei Kafka, die die übrige Kafkaforschung grundsätzlich in Frage stellte. In der Einleitung sagte er: »Der Literaturwissenschaftler setzt dort ein, wo der Dichter sich selbst nicht mehr verstehen kann.« Es dauerte nicht lange, bis man Peter Wind auf einen Lehrstuhl berief. [...] Die Beschäftigung mit dem Dichterischen hatte ihn emporgehoben. In seinem akademischen Olymp herrschte er wie ein Monarch. (S. 78)

Die Mühe der Abweichung von der gewohnten Wahrnehmung des Gegenstandes und seiner Bewertung wird für den Leser ausgeglichen durch die neu gewonnene Distanz oder die bestätigte Überlegenheit gegenüber dem Gegenstand. Sie kann sich sowohl intellektuell wie emotional akzentuieren und geht vielfach aus von der 19

Diese Festlegung ersetzt die - zu allgemein gehaltene - Kategorie >Indirektheitsprachmächtigen< Beschreibung des Gegenstandes; Anspruch und Autorität der damit verbundenen Wertsetzungen werden erschüttert. In Herbert Heckmanns Schilderung einer längst vergangenen Germanistik stellen sich Aggression gegenüber dem Objekt und zugleich Lust an den Formulierungen ein, wenn der Autor den pseudosakralen Gestus germanistischer Vorlesungen als Negation der geläufigen Vorstellungen von geeigneten Wegen zur wissenschaftlichen Erkenntnis beschreibt. Peter Wind hörte außerdem eine Vorlesung über Stefan George. Nach der dritten Stunde gab er das Mitschreiben auf und ließ sich von den in weihevollem Ton vorgetragenen, ja fast gesungenen Sätzen in einen Zustand geistiger Entrücktheit treiben, in dem er das Gefühl hatte, alles zu verstehen, ohne etwas Genaues zu wissen. Er lernte das Schaudern der Eigentlichkeit kennen. Das Dichterische erschloß sich ihm, während er mit halboffenem Mund zuhörte. (S. 74)

Im Gegensatz etwa zu Entstellungen und Abweichungen, die im Überschreiten einer Grenze der Normalität von phantastischer und utopischer Literatur vollzogen werden, sind - vor allem in der Satire der Gegenwartsliteratur - Wahrnehmung und Bewertung unter den konkurrierenden Perspektiven von Objektnorm und Gegennorm ständig aufeinander bezogen. Das Verständnis des oft mehrfach gebrochenen satirischen Sprechens und Schreibens wird durch konventionalisierte Signale und Vorgaben erleichtert, beispielsweise durch ein Emblem oder eine Vignette auf dem Titelblatt, durch ein vorangestelltes Motto aus der Geschichte der satirischen Literatur wie >difficile est, satiram non scribere< oder >ridendo dicere verum< oder >die Zeit schreit nach Satire< oder durch die markierte Sprecherrolle als Lehrer, Arzt oder Richter. Auch Herbert Heckmann benutzt Signale der Gattungskonvention mit seinem Motto »Die Übertreibung der Satire ist die doppelte Wahrheit«; zudem bezieht er sich in den einleitenden Notizen auf Formeln aus der Satire-Tradition. Sich theoretisch mit der Krise der Germanistik zu beschäftigen, gehört heute nachgerade zu dem Repertoire der Festreden. [...] In Deutschland liebt man die Diskussion der Krise, nicht jedoch deren Beseitigung. Was bleibt einem da anders übrig als eine Satire zu schreiben. (S. 72)

Solche Hinweise bereiten die satirische Abweichung von der weithin geltenden Behandlung eines Gegenstandes vor: Heckmann verweigert sich dem folgenlosen Ernst der Krisendiskussionen. Halten wir also fest: Die satirische Sinnverständigung ist darauf angelegt, den Rezipienten für die - von geltenden Einstellungen - abweichende Wahrnehmung und Beurteilung eines Objektbereiches zu gewinnen oder die bereits vollzogene Abweichung zu rechtfertigen. Die artistische Leistung satirischer Verfahren liegt in der >transparenten Entstellung< des Objektes der Satire begründet; >transparententstelltGegennorm< in einer tatsächlichen oder hypothetischen Normenkonkurrenz. Dazu stellt der Autor gegenüber dem Objekt Distanz her, um eine bewegliche Argumentation und entsprechende Erkenntniswege zu sichern. Beim Rezipienten setzt er ein besonderes Engagement als Reaktion auf den Geltungsanspruch der Objektnorm voraus und verstärkt es gegebenenfalls. Aber auch im Rezeptionsbereich muß Distanz zum Gegenstand entwickelt werden, um die Absichten des Autors zu erkennen, die über den Gegenstand hinausweisen und auf die Normenkonkurrenz zielen. Die auf Abweichung angelegte Einstellung des Satirikers muß ihre Urteile verdeutlichen und ihre Wirkung sichern, auch wenn sie unter taktischem Aspekt zunächst verschleiert wird. Schließlich muß auch die satirische Aggression des Autors gegenüber dem Rezipienten gerechtfertigt werden. Das kann infolge seiner besonderen Autorität geschehen, seiner tieferen Einsicht und besseren Beobachtung, die sich auch durch die sprachlich-artistische Kompetenz äußert. Obwaltendes Ziel des satirischen Verständigungsvorganges ist es, zwischen Autor und Rezipienten mit Hilfe der spezifischen Verfahren in der Darstellung des Gegenstandes den Konsens bezüglich der Höherwertigkeit der Gegennorm gegenüber der Objektnorm herzustellen.21

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21

Zum Grundelement der Aggressivität »satirischen Sprechens« vgl. auch Gaier (1986), S. 445. Vgl. ebd., S. 460: In der »bis ins Unbewußte reichenden Solidarisierung des Partners mit dem Sprecher ist das Ziel satirischen Sprechens erreicht.«

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OBJEKTNORM OBJEKT

Λ

Legitimation Autorität Autor Aggression

ί Selbstdarstellung Informiertheit (I) ablehende Einstellung zum Objektbereich (E)

| >persuasio
Montage< der vorgefertigten Polizei-Nachrichten erinnert auch deshalb an die Struktur expressionistischer Lyrik, weil nur Tatbestände festgehalten werden, die persönlichen Umstände und die Motivation der Handelnden jedoch keine Rolle 27 28

Die ironisch pointierte und wohl frei erfundene Erzählung wird Kleist zugeschrieben. Vgl. auch BA I, S. 26 oder I, S. 86. Kleist entnimmt die Nachrichten den PolizeiRapporten vom 17. und (für die letzte Meldung) vom 18.10.1810; die Namen werden anonymisiert. Über die inhaltliche Heterogenität der Polizei-Rapporte hinaus ist auch die exemplarische Heterogenität der einzelnen Ausgaben der »Berliner Abendblätter« zu beachten. Sie wird in der Erscheinungsfolge jedoch durch Wiederkehr der Rubriken, Themen, Motiven und Personen bzw. Personentypen in ein (wenn auch lose geknüpftes) Netzwerk überführt; vgl. dazu Staengle (2001), der auf den Unterschied zwischen Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen der zeitgenössischen (Zeitungs-)Leser der »Berliner Abendblätter« und der literaturwissenschaftlichen Sicht auf die »Berliner Abendblätter« als >Großtext< hinweist.

123 spielen; hierfür ist die Polizei nicht zuständig. Nur bei den wiederholt berichteten Selbstmorden wird lakonisch mitgeteilt, was die Ursache solcher >Devianz< gewesen sein könnte (beispielsweise Melancholie und Depression oder finanzielle Not). Nur in wenigen Fällen führt Kleist die berichteten Kriminalfälle weiter bis zur gerichtlichen Verhandlung und Bestrafung, um damit dem Muster der Fallgeschichten zu folgen, die in den Sammlungen für Juristen und Laien seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein starkes Publikumsinteresse fanden. Zu solchen Ausnahmen gehört die Meldung über den Ulan, der den Soldaten, der ihn arretieren sollte, durch Schüsse aus seiner Pistole tötete. Der nüchternen Meldung im Extrablatt Nr. 14 der »Berliner Abendblätter« folgt im 33. Blatt am 7. 11. 1810 - also drei Wochen später - der dramatische Bericht über den Vorfall in Verbindung mit der Nachricht über die Hinrichtung (vgl. BA I, S. 133f.). Auf die Anweisung des Königs wurde mit dem Urteil nicht gesäumt und die Tat wider Recht und militärische Ordnung mit dem grausamen Tod auf dem Rad gesühnt.29 Einen anderen Typus der Bearbeitung von Mitteilungen der Polizei-Rapporte stellt die Erweiterung der Meldung zur pointierenden Erzählung der Anekdote dar. Charakteristisch für dieses Verfahren ist die kurze Erzählung, die sich unter der Rubrik »Tagesbegebenheiten« bereits im 2. Blatt vom 2. 10. 1810 findet. Der Polizei-Rapport vom 30. 9. 1810 hatte gemeldet, daß der Arbeitsmann Brietz, der beim Gewitter unter einem Baum Schutz gesucht hatte, von einem Blitz erschlagen wurde. Kleist ergänzt - aus welcher Quelle auch immer informiert - , daß das impertinente Auftreten des Arbeiters gegenüber einem Offizier, dem Captain ν. Bürger, jenem das Leben rettete, weil Brietz ihn aus dem Schutz des Baumes, den er sich gewählt hatte, verwies (vgl. BA I, S. 10).30 Solchen pointierten Berichten stehen am Ende des Jahres 1810 »Polizeiliche Tagesmittheilungen« gegenüber, die sich auf die amtlichen Aufzeichnungen beziehen, indem sie einem Vorfall unverhältnismäßig viel Raum geben (vgl. beispielsweise BAI, S. 198; I, S. 222 - fortgesetzt I, S. 238; I, S. 270). Es handelt sich hierbei um ein bloßes Erweitem der Information, nicht jedoch um eine besondere formale Organisation oder thematische Akzentuierung der Nachricht. Insgesamt gesehen finden sich Kriminalität und Devianz in den unterschiedlichen Rubriken und Zuordnungen von Polizei-Rapport und Polizeilichen Tagesmitteilungen, Tragischen Vorfallen, Tagesbegebenheiten, Gerüchten, Stadt-Gerüchten, Miszellen, Anekdoten, Geschichten und - selten - im »Bulletin öffentlicher Blätter«. Am 25. 1. 1811 erschienen die letzten Veröffentlichungen aus den Mitteilungen der Polizei; sie waren im 2. Quartal der »Berliner Abendblätter« vom Ende des Blattes an seine Spitze gerückt. Damit war Kleists Projekt einer Berichterstattung, 29

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Vgl. dazu Reuß (1997). Beim Textvergleich zwischen Vorlage und »Berliner Abendblättern« zeigt sich, daß Kleist den Soldaten nicht nur >in seinem Blute liegenkleistisch< liest: »und zerschmetterte ihm durch einen zweiten Schuß den ganzen Kopf, daß das Gehirn an die Decke spritzte.« Vgl. Schuller (2001), ferner Aretz (1983), S. 264ff. Ein weiteres Beispiel ist »Böses Gewissen«, BA II, S. 228.

124 die sich zeitlich und räumlich nahe zum Berichteten bewegt, war sein Versuch einer >modernaufklärend-wissensvermittelnden< Projekten formiert haben, wie es etwa das »Museum des Wundervollen oder Magazin des Außerordentlichen in der Natur, der Kunst und im Menschenleben« darstellt,31 das Kleist unter anderen Quellenwerken benutzte. Bei der Bearbeitung von Vorlagen aus dem Publikationen, die im 2. Quartal der »Berliner Abendblätter« hauptsächlich für den Gegenstandsbereich >Kriminalität und Devianz< herangezogen werden, kommt es noch zu bemerkenswerten Entscheidungen und Gestaltungen Kleists - beispielsweise in der kurzen Erzählung zu außergewöhnlicher »Mutterliebe« (BA II, S. 27), die zu einem >Zweikampf< von Mensch und Tier führt: Eine Mutter, der ein toller Hund ihre Kinder getötet hatte, rächt sich an dem Tier, indem sie es umklammert und erdrosselt, dabei aber selbst von den Bissen des Tieres zerfleischt - zusammenbricht und an Tollwut stirbt. Als literarisch-journalistisches Experiment im Vorgriff auf eigene Handlungen ließe sich auch Kleists wiederholtes Interesse an der Darstellung der Selbsttötung zweier Liebender verstehen (vgl. BA I, S. 154 unter »Miscellen«, II, S. 18 unter »Mord aus Liebe«). Andere Bearbeitungen fremder Vorlagen unter den Gesichtspunkten von Merkwürdigem, Unerhörtem und Wunderbarem32 folgen tradierten Organisationsformen - wie etwa »Das weibliche Ungeheuer« (BA II S. 130-132), »Gaunerstreich« (BA II, S. 179f., ferner »Gaunerei«, II, S. 208 u. 212) oder »Räubergeschichte« (BA II, S. 96). Als weitere Option im Spektrum der publikumswirksamen Genres werden die Gespenstergeschichten bzw. die Erzählungen einer Geistererscheinung genutzt (vgl. beispielsweise BA II, S. 250-252, 259f. u. 264).33 Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Im Sinne versäumter oder vereitelter Möglichkeiten zu einer frühen >Modernisierung< publizistischer Konstruktion von >Öffentlichkeit< im Umgang mit Kriminalität mag man es bedauern, daß sich Kleists Projekt der »Berliner Abendblätter« um 1810 nicht durchzusetzen vermochte. Erst gut dreißig Jahre später (1842ff.) konnten Eduard Hitzig und Wilhelm Häring mit ihrem »Neuen Pitaval« ein anders angelegtes Unternehmen als höchst erfolgreiche Publikation etablieren. Als Ironie des literarischen Schicksals< erscheint, daß Hitzig, der sich Ende 1810 mit Kleist wegen der »Berliner Abendblätter« überworfen hatte, mit einem Konzept des Erzählens von abgeschlossenen Kriminalfällen (vielfach aus zeitlicher und räumlicher Distanz) erfolgreich war,34 das Kleist mit seinen Vorgaben für die »Berliner Abendblätter« zunächst verworfen und durch >Aktualität< und >Präsenz am Ort des Geschehens< ersetzt hatte.

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Johann A. Bergk und Friedrich G. Baumgärtner gaben es 1803-1815 heraus. Vgl. dazu Aretz (1983), S. 285. Vgl. zu den Spuk- und Gruselgeschichten ebd. S. 284. Vgl. Dorsch (1994) für die Zusammenarbeit von Kleist und Hitzig.

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126 Scheerer, Sebastian: Vorwort. In: Stefan Andriopoulos: Unfall und Verbrechen. Konfigurationen zwischen juristischem und literarischem Diskurs um 1900. Pfaffenweiler 1996, S. III-V. Schönert, Jörg (Hrsg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991. - Kriminalgeschichten (1815-1830) im Spektrum von der »aktenmäßigen Darstellung« bis zur »historisch-romantischen Manier«. In: Rainer Schöwerling u. Hartmut Steinecke (Hrsg.): Die Fürstliche Bibliothek Corvey. Ihre Bedeutung für eine neue Sicht der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. München 1992, S. 147-162. Schuller, Marianne: Un aneddoto di Kleist pubblicato nel suo giornale. In: Fausto Cercignani u.a. (Hrsg.): Studia theodisca. Dal giornale al testo poetico. I »Berliner Abendblätter« di Heinrich von Kleist. Mailand 2001, S. 215-228. Staengle, Peter: »Una specie di precursore di giornali«. Sul resoconto politico nei »Berliner Abendblätter« di Kleist. In: Fausto Cercignani u.a. (Hrsg.): Studia theodisca. Dal giornale al testo poetico. I »Berliner Abendblätter« di Heinrich von Kleist. Mailand 2001, S. 55-68.

Auerbachs >NordstettenSeldwylaneuen Zeit< sein können. Franzos hingegen entwirft ein Bild des ostgalizischen Shtetls, in dem >das Alte< bedingungslos >dem Neuen< (in der Aneignung westlicher BildungNordstetten< Auerbachs »Schwarzwälder Dorfgeschichten« erscheinen von 1842 (mit den ersten Veröffentlichungen in Zeitschriften)17 bis 1876 mit der letzten Sammelausgabe neuer Texte - also in dem Jahr, das auch zum Erscheinungsdatum für die ersten Bucherfolge von Franzos wird (»Aus Halb-Asien«, »Die Juden von Barnow« mit dem Verlagsjahr 1877). Friedrich Th. Vischer charakterisiert die Dorfgeschichten 1857 in seiner »Aesthetik« (1857) als >modernisierte IdylleModernisierung< vollzieht sich bei Auerbach - jenseits des Detailrealismus der Informationen zu Topographie, Brauchtum und Dialekt - vor allem unter zwei Aspekten: zum einen in einer Reihe von Texten (vgl. etwa »Befehleries«) in der Verstärkung der sozialpolitischen Konflikte,19 zum anderen in der vertiefenden Charakterisierung und Individualisierung der Protagonisten (insbesondere in »Diethelm von Buchenberg«).20 Doch für alle Texte gilt, daß die sozialen Konflikte und die Probleme fur ein individuell zu verantwortendes ethisches Handeln >poetisch< so ausgearbeitet werden, daß sie im überschaubaren Sozialmodell der traditionalen dörflichen Gemeinschaft als lösbar erscheinen.21 Der Konfliktreichtum der >realen Verhältnisse< soll nicht ignoriert, sondern literarisch so stilisiert werden, daß die Konflikte »zu einem ästhetischen und sittlich befriedigenden Abschluß« gebracht werden können.22 Der Fluchtpunkt dieser Lösungen ist das Wunschbild einer tragfahigen Sozialethik und Sozialharmonie.23 Es wird jenseits der konkreten Erfahrungen von Staat und Gesellschaft angelegt; es nährt sich - wie Werner Hahl dargestellt hat - aus der »modellhaften 17

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Als erste Dorfgeschichte wird veröffentlicht »Des Schloßbauers Vefele. Eine Schwarzwälder Dorfgeschichte« in der »Zeitung für die elegante Welt« (15.-22.4.1842), als zweite »Der Tolpatsch« in der Zeitschrift »Europa« (Sept. 1842) - vgl. Marbacher Magazin (1985), S. 47. Vgl. bei Bücher u.a. (1975), S. 189f. Vgl. Pazi (1982), S. 97. Vgl. Hahl (1976), S.52f. Die konkreten Aspekte der Modernisierungsprozesse hinterlassen auch in den letzten Dorfgeschichten nur erste Spuren - wie etwa mit der Präsenz der Eisenbahn >auf dem Landesein Dorf< von den Veränderungen der Moderne erfaßt wird, belegen Briefe von Besuchen in Nordstetten an den Bruder Jakob, etwa am 5.8., 10.8. und 21.8.1873 vgl. Marbacher Magazin (1985), S. 88f. Hahl (1976), S. 49. Dabei ordnen sich Auerbachs Dorfgeschichten dem zeittypischen wirkungsästhetischen Postulat nach >Behaglichkeit< zu, vgl. etwa die Rezension zu »Barfüßele« in der (Augsburger) »Allgemeinen Zeitung« vom 15.11.1856 - abgedruckt in: Marbacher Magazin (1985), S. 68.

132 Bedeutung der >organischen Landwirtschaft« für das Verfassungsdenken des Liberalismus24 und setzt den »bäuerlichen Eigentümer« als Projektionsfigur für das »Modell einer deutschen Sozialverfassung« ein.25 Die >poetische Leistung< der »Schwarzwälder Dorfgeschichten« besteht darin, die erzählerische Vermittlung von Spezifika des Fiktionsraumes (seiner lokalen und regionalen Eigenart, die über die Nennung des Namens Nordstetten abgerufen wird26) mit dem Anspruch auf generalisierende literarische Repräsentation des >Bauernlebens< (als eines geeigneten Ortes für die Begrenzbarkeit und Bewältigung sozialer Konflikte) zu verbinden. So schreibt Auerbach am 25. 9. 1842 an den Verleger Cotta, um ihn zur Übernahme der »Schwarzwälder Dorfgeschichten« zu bewegen: Die »Novellen [...], die innerhalb derselben Region gehalten« sind, bringen »das ganze häusliche, bürgerliche und politische Leben der Bauern in bestimmten Gestaltungen zur Anschauung.«27 Adressaten dieser Verständigung über das >Leben im Dorf< sind freilich nicht die Angehörigen der Landbevölkerung, sondern diejenigen, die - wie Auerbach - die dörfliche Welt hinter sich gelassen haben oder die ihr > sozial fremd< sind. Die >Dörfler< in Auerbachs Dorfgeschichten sind als >Kunstfiguren< so entworfen, daß sie vermitteln zwischen der (von Auerbach erfahrenen) Realität des Lebens auf dem Lande, in »Stetten auf der rauhen Alb«,28 und dem Erfahrungshorizont der städtischen Leser durch Verpflichtung auf die Primärtugenden der bürgerlichen Gesellschaftc Auerbachs Bauern bewähren sich durch Arbeitslust, Fleiß, Selbstdisziplin, Ordnung und Sauberkeit.29 Die literarisch stilisierte Sozialharmonie des Dorfes wird zwar durch die Konfliktgestaltung der Erzählungen vielfach herausgefordert oder gefährdet, aber in ihrer Ordnungskraft letztlich nie in Frage gestellt; sie erfüllt für die zeitgenössischen Leser sozialtherapeutische Funktionen: Vom Dorf soll die Erneuerung des StadtmenschenKunstwelt< des Dorfes ist zur sozialen Mitte der erst noch zu formierenden Nation erhoben.31 Diese Stilisierung resultiert aus der 24 25 26

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Hahl (1976), S. 80. Ebd., S. 65. Vgl. (als Einleitung zur ersten Buchpublikation der »Schwaizwälder Dorfgeschichten«) Auerbachs »Vorreden spart Nachreden«, in: Auerbach (1984), hier S. 4f. In seiner Rezension »Gottfried Keller's Neue Schweizergestalten« (1875) charakterisiert Auerbach die Leistungen des literarischen Verfahrens, das er für >NordstettenSeldwyla< einsetzt: »Hat der Dichter eine bestimmte Localität gewählt, so gewinnt seine Darstellung sinnliche Anschaulichkeit und Bestimmtheit, die auch auf den Leser übergeht« - Auerbach (1875), S. 38. Marbacher Magazin (1985), S. 47. Ebd., S. 104f.: Auerbach im Zusammenhang seiner Briefe aus Nordstetten. Vgl. etwa in »Der Tolpatsch«: Aloys erscheint als >Saubermann< im Kuhstall - Auerbach (1984), S. 9. Vgl. dazu die Rezension von Karl Hagen (1844) in: Bucher u.a. (1975), S. 152-154. Im >Literaturerlebnis< der Schwarzwälder Dorfgeschichten werden die Leserschaften der fürstlichen und königlichen Residenzen, der Bildungsbürger und der Honoratioren im Dorf zusammengeführt.

133 Kritik am dynamisierten Entwicklungsgang der modernen Gesellschaft. Die besondere Zeitlichkeit in Veränderungen der Sozialstrukturen des Dorfes ist durch die Nähe der Menschen zur Natur bestimmt, in der sich Entwicklungen in einer eigenen und - so Auerbach - nachahmenswerten Dynamik zum Bewahren des Überkommenen vollziehen. Es sind aber nicht nur diese Implikationen zur Affinität des Sozialen zum >NatürlichenGesellschaft< und soziale Institutionen sind personal repräsentiert; sie entfalten ihre Wirkungen nicht anonym und bürokratisch, sondern im Engagement der Personen, des Pfarrers, des Schultheißen, des Lehrers. Die zeittypischen ökonomischen und politischen Kämpfe werden in persönliche Konflikte und Rivalitäten überfuhrt; sie werden in individueller Verantwortlichkeit (und auch mit Strategien der Nachbarschaftshilfe oder in der Solidarität des >ganzen Hausesder Anderen und Fremdem eröffnen sich auch die Bezüge der »Schwarzwälder Dorfgeschichten« zur verdeckten jüdischen Problematik. Moses Baruch Berthold Auerbacher, der sich später Berthold Auerbach nennt, hat seine Kindheit im »Judendorf Nordstetten«32 im Zeichen der Verpflichtung auf seine >Jüdischkeit< erfahren; die jüdische Minderheit ist im Dorf gelitten.33 Doch werden - als Reaktion auf die antisemitischen Kampagnen des >neuen Reiches< im Herbst 1881 - in den autobiographischen Aufzeichnungen Auerbachs zu den Kinder- und Jugendjahren in Nordstetten die Erfahrungen des Fremdseins verstärkt. Mit der Kutschfahrt zur Aufnahme in die Talmudschule in Hechingen >beschließt< der Autor diese Lebensphase im Zeichen der Angefochtenheit des Judentums: »Wir fuhren an der Friedrichstadt vorüber, ich hörte, daß da nur Juden wohnen. Das erschien mir als ein wahres Paradies. Keinem Spott und keinem Haß ausgesetzt, unter lauter Juden wohnen, wie herrlich muß das sein.«34 Auerbachs Erfolg mit den »Schwarzwälder Dorfgeschichten« wird von dem Autor als >Heimfinden< in das Deutschtum erfahren: In den Dorfgeschichten sei es ihm, »einem Juden, gelungen [...], etwas aus dem Innersten des deutschen Volksgeistes zu offenbaren. [...] Ich glaube, ich bin ein Deutscher, ich glaube es bewie-

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So Christian Märklin 1848 an David F. Strauß, in: Marbacher Magazin (1985), S. 57; etwa ein Drittel der Nordstettener bekannten sich in den 1810er Jahren zur Religionsgemeinschaft der Juden. Dazu - einigermaßen optimistisch - Schmalzriedt (1982), S. 649, zur »friedlichen Symbiose des Nordstettener Alltags.« Marbacher Magazin (1985), S. 21.

134 sen zu haben, wer mich einen Fremden heißt, mordet mich zehnfach.«35 Auerbach will sich einen Traum erfüllen, den seit Moses Mendelssohn so viele jüdische Schriftsteller der deutschen Literatur geträumt haben: mit literarischen Leistungen fur die deutsche Kultur nicht länger >Fremder in Deutschland< zu bleiben, sondern >daheim zu sein< in der deutschen Kultur und in der deutschen Nation. In seiner Abhandlung »Das Judenthum und die neueste Literatur« von 1863 appelliert er: Ja! Wir achten und lieben deutsche Sitte und deutsches Herz, denn es ist unsere Sitte und unser Herz. [...] Vergesset und lasset uns vergessen der finsteren Scheidewand, die uns trennte, und ersparet uns die schmerzliche Mühe, gegen euch in Schranken zu treten, weil ihr so oft euren vaterländischen Bestrebungen den Dämon des Judenhasses beigesellt.36

Mit der Anerkennungen der deutschen Literaturkritik verbinden sich auch abweisenden Implikationen - in der Verwunderung, daß >der Jude< >das Eigene< der Deutschen so gut erfaßt habe. So schreibt David F. Strauß an Christian Märklin: »Ich habe mich gewundert, wie es Auerbach als Juden möglich war, so in das Wesen und Leben unsres Landvolks einzudringen«:37 Der jüdische Autor als >Eindringling in die deutsche Kultur< - solche Aneignungen des Eigenen durch >Fremde< ziehen Ausgrenzungen nach sich. Bis zur Gründung des deutschen Kaiserreiches jedoch kann sich Auerbach als »angekommen und aufgenommen in der deutschen Kultur fühlen. Der >kleine Jud< - so sieht sich Auerbach, die Ausgrenzungen durch andere ironisierend - aus dem Dorf Nordstetten geht ein und aus in der >großen Gesellschaft; er nimmt seinen Wohnsitz in den Zentren der deutschen Kultur dieser Jahrzehnte, in Dresden, in Wien und schließlich (ab 1862) in Berlin, wo er am preußischen Königshaus als Gesellschafter und Vorleser geschätzt wird. Nach der Reichsgründung registriert er verstört die sich verstärkende antisemitische Hetze; der Traum von der Integration der Juden in der deutschen Kultur und Nation ist ausgeträumt: »Vergebens gelebt und gearbeitet«, so bilanziert Auerbach im Brief an seinen Bruder Jakob vom 23. 11. 1880.38 Die erste der »Schwarzwälder Dorfgeschichten«, »Der Tolpatsch« (in der Niederschrift am 1. 12. 1841 beendet), schließt in die Erzählung der Geschichte eines Außenseiters, seiner Preisgabe der Heimat und ihrer Wiedergewinnung in der Imagination, das Problem eines jüdischen Autors in der deutschen Kultur ein.39 Der Ich-Erzähler spricht seinen Protagonisten zum Eingang der Geschichte an: Wie Aloys - der um einige Jahre Ältere - ist er im Dorf Nordstetten groß geworden. Die Erinnerung an die Geschicke des >Tolpatsch< bedeutet auch die Rückbesinnung auf die Bedingungen der eigenen Lebensgeschichte. Der schwäbische Jude aus Nordstetten bleibt der »gebildeten Welt< - trotz aller Anerkennung - ein >Tol35 36

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Ebd., S. 49: Brief an Ferdinand Freiligrath vom 24.11.1843. Zitiert bei Hieber (1994), S. 33; vgl. auch S. 29: »Kein zweiter Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts verkörpert >die Liebesaffare der Juden mit den Deutschem, von der Gershom Scholem sprach, auf eine so idealtypische, bis heute bewegende und verstörende Weise wie [...] Berthold Auerbach.« Brief vom 29.1.1849, in: Marbacher Magazin (1985), S. 58. Ebd., S. 97. Vgl. ebd., S. 45.

135 patschProzeß der Modernisierung^ in den Erfahrungen erhöhter sozialer und ökonomischer Mobilität, der lebensgeschichtlichen Auf- und Abstiege sowie der Wanderungsbewegungen zum Zweck von Bildung und beruflicher Qualifikation ausgeprägt wird und die fur Verunsicherungen und Orientierungskrisen sorgt. Berthold Auerbach begegnet den Infragestellungen der Identität eines Autors der deutschen Literatur mit jüdischem Glaubensbekenntnis durch die Aufzeichnungen zur jüdischen Prägung seiner Kindheit und Jugend in Nordstetten, während in den Dorfgeschichten jüdische Figuren nicht im Vordergrund stehen. 1873 beginnt er mit den autobiographischen Notizen, die ihr besonderes Gewicht mit den Ausarbeitungen vom Herbst 1881 erhalten.42 Am 15. 2. 1882 wird der Leichnam Berthold Auerbachs - dem Wunsch des Schriftstellers folgend - auf dem Judenfriedhof von Nordstetten bestattet: Der >kleine Jud< ist heimgekehrt.

Gottfried Kellers >Seldwyla< Die wechselseitigen Bezugnahmen von Keller und Auerbach sind Fixpunkte in der Literaturgeschichte zum Realismus in der deutschsprachigen Literatur. Herausgestellt sei hier nur die Rezension von Berthold Auerbach zum ersten Teil der »Leute 40 41

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Auerbach (1984), S. 32. Ein wichtiges auslösendes Moment für das Konzept der »Schwarzwälder Dorfgeschichten« sieht Bettelheim (1907), S. 135, im Tod von Auerbachs Vater im Jahr 1840 und im Heimweh des Autors, das Auerbach auch in »Vorreden spart Nachreden« anspricht - bezeichnenderweise, indem er seine Erinnerungen an die schwäbische Heimat »vom mächtigen Rhein, dieser Pulsader Deutschlands« hin zum Neckar, der Wasserader der Heimatregion, tragen läßt - Auerbach (1984), S. 5. Marbacher Magazin (1985), S. 4-27.

136 von Seldwyla« in der (Augsburger) »Allgemeinen Zeitung« (Beilage, 17.4. 1856).43 Auerbach lobt den »gesunden Realismus« in Kellers Erzählungen, seine »Freude an der Welt«. Er sieht den Fiktionsraum >Seldwyla< bestimmt durch die Erfahrungen des »Schweizerlebens«, stellt aber unter diesem Aspekt des Regionalismus keine Verbindungen zur Dorfgeschichte her, sondern rückt »Die Leute von Seldwyla« in die Tradition der Novelle. Vor allem aber gelten ihm die Erzählungen als Paradigma für die Innovationen des literarischen Realismus, weil hier dem Programm gefolgt wird, daß die Dichter »die Welt erklären und verklären.«44 Die Charaktere der Novellen seien in überzeugender Weise aus den Schweizer Verhältnissen entwickelt 45 und am Beispiel der Erzählung »Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« rühmt Auerbach: »lebenswarme Wirklichkeit und doch so künstlerisch stylisiert.«46 Diese prinzipiellen Einschätzungen zur Realitätsreferenz und zu den poetischen Stilisierungen der »Leute von Seldwyla« stellen - ohne daß die Verbindungen explizit werden - die Zuordnung von Kellers > Seidwyler Geschichten< zu den Dorfgeschichten im Zeichen der exemplarischen Umsetzung des Literaturprogramms >Poetischer Realismus< her. Der erste Teil von »Die Leute aus Seldwyla« erschien 1856; die Erzählungen des zweiten Teils wurden - nach einer längeren Phase vorbereitender Planungen und Ausarbeitungen - 1873/74 veröffentlicht. Der erste Teil bezieht die Fiktion eines »wonnigen und sonnigen Orts« abseits von der Handelsstraße des »schiffbaren Flusses«47 vor allem auf die literarisch vollzogenen Verschiebungen realer Verhältnisse im Zeichen der Sonderlinge und Außenseiter - derjenigen also, die sich die Freiheit nehmen, >die Zeichen der Zeit< nach ihrem Gusto aufzunehmen und auszulegen. Das Vorwort zum zweiten Teil signalisiert dann, daß solche >Freiheiten< der Macht der (zeitgenössischen) Verhältnisse nicht mehr standhalten können, daß die seldwylischen Abweichungen so entwickelt werden, daß sie mit dem >Standard< des Verhaltens in der modernisierten Gesellschaft übereinstimmen. Die Konzeption des ersten Teils - 1855 in Berlin ausgearbeitet - geht auf einen Impuls zurück, der mit Auerbachs Autorschaft für die Dorfgeschichten in Beziehung zu setzen ist: Aus der Ferne zur Heimat erwächst die - bei Keller ironisch gebrochene - Selbstversicherung der angestammten Identität 48 Der zweite Teil 43

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Vgl. darüber hinaus etwa Kellers Essay »Jeremias Gotthelf« mit seinen Ausführungen zu Auerbachs Dorfgeschichten sowie die Korrespondenz der beiden Autoren im Zuge der Drucklegung des »Fähnlein der sieben Aufrechten« in Auerbachs »Volkskalender auf die Jahre 1860 und 1861«. Alle Zitate in Bucher u.a. (1975), S. 106. Auerbach rezensiert auch den zweiten Teil der »Leute von Seldwyla«, vgl. Anm. 8 in diesem Beitrag. Die Protagonisten der »Charakter-Erzählungen« (so G. Keller an den Verleger Vieweg am 15.6.1855) sind »von allgemein menschlichem Inhalte« und - wie Auerbachs Nordstettener Bauern - auf einem »lokalen Hintergrunde« entwickelt. Vieweg erhofft sich von der »Schweizernovelle« ähnlichen Erfolg, wie ihn Auerbachs Dorfgeschichten hatten-vgl. Böning (1989), S. 615 u. 611. Bücher u.a. (1975), S. 106. Keller (1989), S. 11. Vgl. Neumann (1982), S. 118.

137 wird dann aus den persönlichen Erfahrungen des Autors in der Heimat entwickelt, die seit Mitte der 1860er Jahre von den nachhaltigen Folgen der Veränderungen ökonomischer, politischer und sozialer Strukturen in der Schweiz bestimmt sind.49 Die literarische Gestaltung solcher Erfahrungen gilt vor allem der Verdrängung des >vormodemen< Prinzips des Lebensgenusses durch die >Maximen der ModerneSeldwyla< ist im ersten wie im zweiten Teil der Sammlung, »individuelles menschliches Verhalten im Verhältnis zu den sozialen Gegebenheiten und Forderungen in immer neuen prägnanten Konstellationen gleichsam experimentell zu erproben.«50 Für solche Erprobungen werden die Konflikte in den einzelnen Erzählungen oft so verschärft, daß die >Bewältigungen< nicht nur im Sinne von (sozialethisch relevanten) Bewährungsgeschichten, sondern auch von märchenhaften Erlösungsgeschichten ausgeführt werden. Als dritte Variante erscheinen zudem die dissonanten >Lösungen< mit schlimmer Ehe oder Tod - wie etwa in den Erzählungen »Die drei gerechten Kammacher« und »Romeo und Julia auf dem Dorfe«.51 Die Vorgaben des literarischen Experimentierfeldes >Seldwyla< werden bestimmt durch die Frage, wie unter den entlastenden und Konflikte reduzierenden Bedingungen eines kleinstädtischen Gemeinwesens an der Peripherie der dominierenden gesellschaftlichen Prozesse die zeittypischen politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen in den Verhaltensweisen der Figuren, in ihrer ethischen und psychischen Orientierung verarbeitet werden können (vgl. etwa die Internalisierung sozialdisziplinierender Programme durch Pankraz, den Schmoller, der lernt, »sich einzuknöpfen und steif aufrecht zu halten«52). Dabei wird der komplexe Zusammenhang von Problemen des Gemeinwesens wiederholt reduziert auf den überschaubaren und personalisierten Bereich familiärer Erfahrungen und Verhaltensweisen. Es gilt, daß geordnete oder zur Ordnung fähige Familien auch die Ordnung von Gemeinwesen abbilden oder ermöglichen. Solche Ordnungen verstehen sich bei Keller - im Gegensatz zu Auerbach - nicht von selbst. Wo sie erreicht werden, sind sie das Ergebnis besonderer Leistungen des sozialen Engagements Einzelner. Die Beschreibung des >glücklichen< Gemeinwesens von Seldwyla steht dagegen unter dem Aspekt der Verweigerung von Arbeit und Leistung zugunsten von >GeschäftenDas Moderne< wird in Seldwyla »auf kindische Weise betrieben«.

138 zudem der Ausweis der Vollmitgliedschaft in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, der Besitz;54 und Politik betreiben sie als ein kindliches Spiel.55 Wenn Keller am 25. 2. 1860 an Auerbach mit Bezug auf die Intention der »Leute von Seldwyla« schreibt, daß sich die »Freude am Lande [der Eidgenossenschaft] mit einer heilsamen Kritik [...] verbinden« sollte, dann wird damit die Relevanz der Erzählungen für die zeitgenössischen Verhältnisse verdeutlicht.56 Soziologen würden für das Gemeinwesen von Seldwyla die Zeichen einer partiellen oder gehemmten >Modernisierung< erkennen. Hingegen mustert der Erzähler die Seidwyler mit einem Blick, der prüft, ob sie bestehen könnten, wenn die Dynamik der (Gesellschafts-)Geschichte die Stadt und ihre Bewohner erst richtig erfaßt. Dabei wird deutlich, daß die Prozesse des Werte- und Gesellschaftswandels nicht auf selbstverständliche Weise durch Aktionen der familiären Erziehung aufgenommen und bewältigt werden können. Die Umsetzung der >alten Tugenden« der stetigen Arbeit, der Einschränkung des Genusses (im Sinne von Mäßigkeit) und der Sparsamkeit, wie sie etwa Frau Regel Amrain praktiziert, führen nicht von selbst zum (Erziehungs-)Erfolg. Darüber hinaus läßt sich am Beispiel der »Drei gerechten Kammacher« ablesen, wie solche Tugenden durch Übertreibung und Verzerrung ihrer ursprünglichen Leistungen in Frage gestellt werden. Die poetische Imagination des Autors überzieht die mannigfachen Realitätsbezüge Seldwylas so, daß der epische Raum als »Kellers subjektive Fabelwelt« erscheint und zugleich die absonderlichen Geschichten« mit »der objektiv-ökonomischen Geschichte [...] reich« zusammenspielen.57 So wird das >Sich-Absondern< ebenso in Frage gestellt wie das >Sich-Einlassen< auf das Fortschreiten der Geschichte. Das Experimentierfeld >Seldwyla< wird zum Freiraum fur den Entwurf vielfaltig-individueller, gelingender und mißlingender Lebensgeschichten. Im Roman »Martin Salander« (1886) ist dann das »Experiment Seldwyla< beendet; hier wird das abgesondert-absonderliche Gemeinwesen zum zeittypischen >MünsterburgAusbildungen< beispielsweise in »Frau Regel Amrain und ihr Jüngster« oder in »Pankraz, der Schmoller«). Verstärkt wird die Skepsis gegenüber der sozialen Ordnungskraft der Familie. Aufgegeben ist das liberalistische Dogma von der offenen Gesellschaft, dem notwendigen Abstieg der Schwachen und der gelingenden Ausgrenzung der Unehrenhaften auf dem Prüfstand harter, aber honoriger Konkurrenz im Erwerb. 54 55 56 57 58

Vgl. Keller (1989), S. 11. Vgl. ebd., S. 13. Keller (1953), S. 189. Muschg (1980), S. 122. Ebd., S. 123.

139 Verblaßt ist zudem das Wunschbild von einer vitalen und prosperierenden Gemeinschaft der Staatsbürger - schon in Seldwyla war diese Gemeinschaftlichkeit nur ein Schaubild zu Festtagen, durchlöchert von den Differenzierungsenergien der Privatinteressen. Und schließlich erscheint >die Natur< in »Martin Salander« nicht mehr als ein selbstbestimmter Erfahrungsraum, der sich in erhellende Korrespondenz und Opposition zur Sozialwelt setzen läßt (vgl. etwa »Romeo und Julia auf dem Dorfe«), sondern als Objekt von ökonomischen Interessen und der Zerstörung durch den Menschen.

Karl Emil Franzos' >Barnow< Maria KMska, Expertin fur das »Problemfeld Galizien« in der deutschsprachigen Prosa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, stellt die Erzählungen und »Culturbilder«, die sich auf das fiktive Shtetl >Barnow< beziehen, in die Tradition der »gesellschaftskritischen Dorfgeschichte«;59 sie sieht in Franzos, dem jüdisch-deutschen Autor, den Repräsentanten der »galizischen Dorfgeschichte«.60 Solche Zuordnungen liegen nahe, wenn man bedenkt, wie Franzos Berthold Auerbach »als Schriftsteller und väterlichen Freund« verehrte,61 daß die beiden Autoren im Briefwechsel standen und daß Auerbach die literarische Arbeit von Franzos schätzte.62 Dennoch gilt es vor den möglichen Gemeinsamkeiten die Differenzen zu bedenken. Das Konfliktpotential, das in Mittel- und Westeuropa in den Erfahrungen der Modernisierung mit einer diachronen Struktur, also auf der Zeitschiene gebildet wird (etwa in der Spannung zwischen Traditionalität und Modernität), organisiert Franzos mit synchroner Struktur in der Opposition von Kulturräumen - im Gegensatz des aufgeklärten, »gebildeten Europa« zum »barbarischen Asien«.63 Im Übergangsbereich zwischen Europa und Asien - so in Galizien, in »Halb-Asien« stoßen diese Gegenwelten aufeinander, bauen sich die Konflikte zwischen rückständigen und fortgeschrittenen Kulturen auf. Durch die räumliche Antithetik, die das Shtetl der Vor- bzw. Gegenmoderne zuweist, wird die Möglichkeit ausgeschlossen, in diesen Fiktionsraum - wie etwa im Falle von Seldwyla - schon erste Spuren der ausgreifenden Modernisierungsprozesse einzuzeichnen.64 59

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Vgl. bei Kladska (1991), S. 118-132, das Kapitel »Die gesellschaftskritische Dorfgeschichte bei Karl Emil Franzos«. Ebd., S. 131: Die »galizische Dorfgeschichte« habe bei Franzos nie »den Charakter eines idyllischen Genrebildes«; vgl. dazu auch die Selbsterklärung von Franzos, der sich in die Tradition der Dorfgeschichte stellt; als seine Vorbilder nennt er Berthold Auerbach, Melchior Meyr, Josef Rank und Ludwig Anzengruber - so Hubach (1986), S. 45. Vgl. Pazi (1989), S. 221; ferner Kinder (1973), S. 135. Zu Auszügen aus dem Briefwechsel Auerbach / Franzos vgl. u.a. Bettelheim (1907), S. 401. Vgl. Pazi (1989), S. 219. Franzos (1889), »Die Cultur-Entwicklung in Halb-Asien«, S. 271-293, hier S. 278. Barnow erscheint (anders als Seldwyla) nicht als Idyll; es ist Arena der Kulturkonflikte. Erst in »Leib Weihnachtskuchen und sein Kind« (1896) erwähnt Franzos den Eisenbahnbau, der Spuren im Erscheinungsbild des Dorfes und in der Dorfgemeinschaft hinterläßt.

140 >Modern< erhält in der Opposition der Räume eine Überlegenheit, die nie in Frage gestellt wird. Der >moderne Westen< gilt dem »rückständigen Osten< als Fluchtpunkt für Aufklärung und Aufbruch: Im Westen leuchte der helle Tag, im Osten herrsche die Finsternis - und erst langsam beginne es dort zu tagen. Die orthodoxen Juden - so die Sicht von Franzos - verweigern sich diesem Vorgang des >LichtwerdensAufklärersBarnow< repräsentiert »Halb-Asien«; Dunkelheit, Schmutz, Unordnung sind die Signifikanten für das aufzuklärende, zu reinigende und zu ordnende Shtetl. Die antithetische Ausarbeitung des Kulturkonflikts schließt die Möglichkeit zur >interkulturellen Vermittlung< der Lebenswelten in Ostgalizien aus.67 Franzos bedient sich nationalkultureller Stereotypen, um den Machtanspruch der polnischen Bürokratie und Gutsherrschaft zurückzuweisen.68 Stereotypen werden aber in gleicher Weise auch auf die Opfer solcher Herrschaftsverhältnisse bezogen - auf die Juden und die Ruthenen. >Barnow< ist also nicht nur ein >epischer Raum< zur Repräsentation des ostgalizischen Shtetls, sondern auch ein ideologisch besetzter Raum zur Aufnahme und Verteilung der kontrastierenden ethnokulturellen Stereotypen.69 Im Sinne eines realitätsreferentiellen Raums sind Bezüge zu Czortkow (dem Erfahrungsbereich von Franzos' Kindheit) und Sadagora (dem Zentrum orthodoxen jüdischen Lebens) angelegt. Als kulturelle Größe steht >Bamow< - in den >Diskursen< zu Heimat und Identität der Ostjuden sowie zu Regionalität und Provinzialität in der k. u. k. Monarchie - in Spannung zu den regionalen und zentralen Metropolen (Lemberg oder Czernowitz und Wien). Wer durch das Kothmeer des Städtchens watet, an den schmutzigen, dumpfen Häusern vorüber und mitten unter den kaftanbekleideten, schmutzstarrenden Bewohnern, in deren bleichen, scharf gezeichneten Gesichtern sich seltsam, fast typisch ascetische Schwärmerei malt oder listige Habgier, wer ihre Sprache hört, welche freilich die deutsche ist, aber fast unverständlich wird durch die eigenthümliche Aussprache, durch Einmengung zahlreicher mittelhochdeutscher, slavischer und hebräischer Wörter, [der befindet sich in einem der] Judenstädtchen in Galizien, Rumänien und Russisch-Polen. 70

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Vgl. Franzos (1990), S. 236. Franzos (1878), »Jüdische Polen«, S. 227-242, hier S. 227. Ich beziehe mich hier nur auf die »ideologische Position< der Erzählerfigur in »Die Juden von Barnow«. Für das Gesamtwerk von Franzos wäre ein differenziertes Spektrum zwischen den Postulaten von »kultureller Hegemonie< bis hin zu programmatischer >Multiund Interkulturalität< zu beschreiben - vgl. dazu Mecklenburg (1993). Etwa 30 Jahre später werden in der Wahrnehmung des Ostjudentums in der deutschsprachigen Publizistik und Belletristik die Negativ-Stereotype gegen stereotype Positivierungen des Vitalen und Menschlichen ausgetauscht - vgl. dazu Mattenklott (1987). Vgl. zur Relevanz der Nationalstereotypen bei Franzos vor allem »Markttag in Barnow« in Franzos (1889), S. 1-117. Franzos (1878), »Ein jüdisches Volksgericht«, S. 345-250, hier S. 245.

141 >Barnow< ist Modell fur diese »Judenstädtchen«.71 Wo im Shtetl Quartier und Lebenswelt der Juden wahrgenommen werden, sind es in Sicht von Franzos »von außen gesehene Lebensformen«,72 denen der Autor auch nur begrenzte Kenntnisse aus eigener Anschauung dieser Welt des Ostjudentums zuordnen kann. Dessenungeachtet wird die Wirkungsabsicht des Autors entwickelt: Für die ehemaligen Landsleute im Osten soll mit einem provokativen Gestus der Darstellung signalisiert werden, daß die notwendige Orientierung nach Westen ausgeblieben ist; bei den Lesern im Westen soll um Verständnis für die besondere kulturelle und zivilisatorische Situation des Shtetls geworben werden.73 Wenn >das Dorf< in Auerbachs »Schwarzwälder Dorfgeschichten« als Modell steht für eine mögliche sozialharmonische Ordnung der Nation, so gilt >Barnow< als Modell fur einen Lebensbereich an der Peripherie der Gesellschaft, den es anzugleichen und anzueignen gilt. Möglichkeiten zum Einbeziehen in den übernationalen Ordnungszusammenhang der >westlichen Zivilisation können - so Franzos - nur >von außen< eröffnet werden; >Barnow< vermag aus sich selbst heraus keine sozialen Energien zu mobilisieren. Aufbruch und Aufgeklärtheit sind der Entschlußkraft des Einzelnen aufgegeben. Anders als bei Auerbach und Keller wird der Familie keine ordnungsstiftende Kraft zuerkannt. Auch Jüdischkeit und Menschlichkeit - als mögliche Charakteristika der Gemeinschaft der Juden - haben in der Darstellung von >Barnow< kein Gewicht; sie werden erst in Texten wie »Der Pojaz« und »Leib Weihnachtskuchen und sein Kind« zum Thema.74 Daß Franzos in »Die Juden von Barnow« Konflikte als Kulturkonflikte - in der Opposition von >aufgeklärt vs. nicht aufgeklärt oder >humanistisch gebildet vs. unzivilisiert< - gestaltet, daß das Entstehen und Aufheben von Konflikten primär nicht an die Geltung moralischer Prinzipien, an das ethische Verhalten gebunden ist, markiert nicht nur Differenzen zur Tradition der Dorfgeschichte, sondern auch zu den >prototypischen< Ghettogeschichten Leopold Komperts (vgl. »Aus dem Ghetto«, 1848). Die Erzählungen der Sammlung »Die Juden von Bamow« entstanden im Zeitraum 1868-1872 und wurden zumeist als Beiträge für Zeitschriften erstmals veröffentlicht.75 Nach dem Erfolg der (1876 begonnenen) Buchpublikation »Aus HalbAsien«, der »Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien« (in der Abteilung »Galizien« findet sich auch das Konstrukt >BarnowLiteratur des Westens< genau in den Darstellungen finden, die Räumen gelten, die von dem Phänomen der Moderne, die Franzos fur Galizien ersehnt, bis in den letzten Winkel besetzt sind: in den Schilderungen der Großstädte.

Literaturverzeichnis 1. Quellen Auerbach, Berthold: Gottfried Keller's Neue Schweizergestalten. In: Deutsche Rundschau 4 (1875) H. 3, S. 33—47. - Schwarzwälder Dorfgeschichten. Neue Volksausgabe. Hrsg. von Egidius Schmalzriedt. Stuttgart 1982. - Schwarzwälder Dorfgeschichten. Stuttgart 1984.

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Vgl. dazu auch K ^ s k a (1991), S. 126-130, die den Text in das Zentrum des gesellschaftskritischen Engagements von Franzos stellt. Franzos (1889), »Markttag in Barnow«, S. 1-117, hier S. 29. Ebd., S. 117 (Hervorhebung im Original).

144 Franzos, Karl Ε.: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien 1. Bd., 2. rev. Aufl. Leipzig 1878. - Vom Don zur Donau. Neue Kulturbilder aus Halb-Asien. 2. Bd., 2. Aufl. Berlin 1889. - Die Juden von Barnow. Reinbek 1990. Keller, Gottfried: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Carl Helbing, 3. Bd., 2. Hälfte. Bern 1953. - Die Leute von Seldwyla. In: Ders.: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Thomas Böning u.a., Bd. 4, hrsg. von Thomas Böning. Frankfurt/M. 1989, S. 9-595; Kommentar, S. 605-864. 2. Forschungsliteratur Bettelheim, Anton: Berthold Auerbach. Der Mann. Sein Werk - sein Nachlaß. Stuttgart u. Berlin 1907 Bickel, Martha: Zum Werk von Karl Emil Franzos. In: Stephane Moses u. Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur. Frankfurt/M. 1986, S. 152-161. Bücher, Max u.a. (Hrsg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. Bd. 1. Stuttgart 1976; Bd. 2 [Quellenteil]. Stuttgart 1975. Hahl, Werner: Gesellschaftlicher Konservatismus und literarischer Realismus. Das Modell einer deutschen Sozialverfassung in den Dorfgeschichten. In: Bucher, Max u.a. (Hrsg.): Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 18481880. Bd. 1. Stuttgart 1976, S. 48-93. Herf, Jeffrey: Reactionary Modernism. Cambridge 1984. Hieber, Jochen: Deutscher, Schwabe, Jude. Der gescheiterte Erfolgsautor Berthold Auerbach. In: Ders.: Wörterhelden, Landvermesser. Aufsätze und Kritiken. Frankfurt/M. 1994, S. 29-38 Hubach, Sybille: Galizische Träume. Die jüdischen Erzählungen des Karl E. Franzos. Stuttgart 1986. Kinder, Hermann: Poesie als Synthese. Ausbreitung eines deutschen RealismusVerständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1973. Klahska, Maria: Problemfeld Galizien in deutschsprachiger Prosa 1846-1914. Wien u.a. 1991. Marbacher Magazin 38 (1985): Berthold Auerbach. 1812-1882. Bearbeitet von Thomas Scheufeien. Mattenklott, Gert: Ostjudentum und Exotismus. In: Thomas Koebner u. Gerhart Pickerodt (Hrsg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt/M. 1987, S. 291-306. Maushagen, Andrea: Text und Vorstellung. Eine erzähltheoretische Untersuchung des epischen Raumes am Beispiel des Dorfes. Frankfurt/M. u.a. 1990. Mecklenburg, Norbert: Literaturräume. Thesen zur regionalen Dimension deutscher Literaturgeschichte. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik. München 1985, S. 197-211. - Menschen in >Halb-Asienliterarischen Wandels